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EUGEN ROSENSTOCK

DIE EUROPÄISCHEN
REVOLUTIONEN

VOLKSCHARAKTERE
UND STAATENBILDUNG

EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN J E N A


ERSTES BIS DRITTES TAUSEND
EINBANDZEICH NUNG VON MAX THALMANN

P rin ted in G erm any


Alle R ech te, insbesondere das der Ü bersetzung Vorbehalten
C opyright 1931 by Eugen Diederichs V erlag in Je n a
VORW ORT

Kriege.
D
ies B u ch entstammt dem D am als revoltierte der K riegsteil­
nehm er in m ir gegen das eigene Geschichtsbild und gegen die Ge­
schichtsbilder der verschiedenen Kriegsparteien.
U nd das ist nicht verwunderlich. Im Frieden schlafen die politischen
Gedanken der Völker. Sich selbst überlassen treiben alte vererbte Vorstel­
lungen fort, ohne a u f ihre T ragk raft, ihre Lebensfrische gep rü ft zu wer­
den. D er K rie g schüttelt den B aum der Träum e, und alles W elke fä llt ab.
E u ropa erwirbt durch diesen K rie g E in Schicksal und E inen Glauben. D ie
ersten K riegsjah re haben die alten Gedankengänge, die erblichen K riegs­
vorstellungen erschöpft. Seitdem tritt eine Entw icklungsreihe die F ü h ru n g
an, die hinter den V ölkerriß von i 648 , hinter den Souveränitätsrausch des
einzelnen „S ta a ts“ , ja hinter die Glaubensspaltung zurückgreift. D iese
S p altu n g E uropas ist heute sinnlos geworden. D ie Reiche, Staaten und
Völker Europas lassen sich nich t m eh r durch den G lauben spalten. U m
vorwärts zu leben, müssen w ir hinter die S p altu n g zurückgreifen. W ir
haben uns freilich diesen R ü c k g r iff im Kriege noch n ich t durch unser
eigenes deutsches Geschichtsbild verdient. Sondern jede geistige Schicht
bei uns b eh a lf sich m it einer anderen D e u tu n g dieses K rieges. A u s dem
Schrecken über diese geistige Zerrissenheit erw uchs der erste E n tw u rf, der
A n fa n g 1 9 1 7 beendet war und dann durch eine neue K riegsbeorderung
liegenblieb.
Seitdem m u ß te die A u sfü h ru n g noch m ehrm als vertagt werden. Ebenso
o ft aber fü h rten m ich L eh rau fgaben a u f sie zurück, weil sie m ich zw an­
gen, an das Geschichtserlebnis des K riegsteilnehm ers anzuknüpfen.
D ie A rb eit erwies sich d am it als eine V erpflich tu n g, von deren E in ­
lösung ich m ich nicht freisprechen konnte. E h e n i c h t d e r W e l t k r i e g d i e
L e h r e d e r V ö lk e r e r n e u e r t h a t , e h e r d ü r fe n d ie G e le h r te n n ic h t d e m o b il
m achen .
W e n n m an sich aber m ehr als fü n fzeh n Jahre m it einem Gegenstände
beschäftigt, w ächst der Abstand zwischen W o llen und Vollbringen in den
eigenen A u gen ins R iesengroße. Ich bitte daher den Leser, über der Lö­
sung, zu d er ich im stande war, n ich t die W ich tig k e it der S tellu n g dieser
A u fg a b e zu vergessen.
Ich habe m ir zu h elfen gesucht, indem ich, je länger die A rbeit fo rt­
g in g , d esto m eh r den N ationen und Zeiten selbst das W o r t gab und die
Vokabulare d er g r o ß e n Geisteswelten E u ropas selbst gegeneinander an­
rücken und käm pfen ließ, so wie sie im D asein jedes Einzelnen von uns,
III
n

er m ag nun wollen oder nicht, sich widerspruchsvoll gen ug zur G eltung


bringen.
D er U m fa n g eines solchen W erkes ist schwer bestimmbar. Ich schulde
Rechenschaft, nach welchen Merkmalen ich das M aß zu treffen versucht
habe. D en einen Gedanken, den das B u ch ausspricht, kann es nur ver­
mitteln als lesbares, übersichtliches Ganzes. D ies M erkm al m u ß te das
Oberste bleiben. Ganze K apitel m ußten diesem Streben geopfert werden
(vgl. S. 254)* D ie B elege konnten nur sparsam und im T e x t gegeben wer­
den. E in gesonderter Dokum entenband verbot sich einstweilen aus w irt­
schaftlichen Gründen.
Eine Reihe eigener neuer Forschungen m ußten deshalb ohne weiteres
in die D arstellung verwoben werden. D ie Auslese aus dem in unabsehbarer
F ü lle quellenden S to ff schließt sich nach K räften an die gro ß artige F o r ­
schungsarbeit des letzten Jahrhunderts an. Aber noch vor dieser verlang­
ten die gro ß en N ationalüberlieferungen selbst Gehör. D er H istoriker darf
ja nicht vergessen, d aß sich die Völker ihre Geschichte zuerst und vor
allem selber schreiben. In ihren Gedenktagen, ihren Vorurteilen, ihren
Ausdrücken und Äm tern wird den w ichtigen Ereignissen D auer verliehen
und die ursprüngliche Q uelle sprudelt so ew ig fo rt als wahrste geschicht­
liche Quelle.
D ah er w ird der Leser die .Erzählung — an die er auch unter Z u ­
rückstellung des b egrifflichen Teiles sofort herantreten kann — an vielen
Stellen selbst zu ergänzen verm ögen, weil er m erken wird, wie viele D in g e,
die er w eiß, den R a n g historischer D aten haben.
Einen solchen A usbau des Inhalts durch die eigenen B eobachtungen
und Kenntnisse der Leser m öchte ich m ir wünschen.
D enn nicht zum wenigsten in der H o ffn u n g au f solche tätige W eiter­
fü h ru n g habe ich den R eichtu m von neunhundert Jahren zwischen diese
zwei B uchdeckel zu pressen gew agt.
BRESLAU, Pfingsten 1931 EUGEN ROSENSTOCK

IV
A. THEORIE DER REVOLUTIONEN

3
Seite
I. T o ta lr e v o lu tio n ............................................................................
II. Der R h yth m u s der Revolution.............................................. 16
III. D er politische H orizont: D as Abendland oder E u ropa . 32
IV . D er Spielraum der Nationen und der B e g r iff N ation . . 54
V. Soziale V orgeschichte der R e vo lu tio n : D ie Klassenziele . 66
V I. D ie H errschaftsform und die O p p o s i t i o n ........................ 89
77
I. TOTALREVOLUTION

er W eltkrieg hat die W e lt revolutioniert. Bolschewism us, F ascism us

D und W eltw irtschaftskrisis sind ihm gefo lgt. K riege wirken wie
volutionen. U nd Revolutionen äußern sich in Kriegen. F rü h er hieß die R e­
R e­

volution Bürgerkrieg. U nd der „B ü rgerk rie g“ schien früher ein wider­


sinniger U nterfall des Krieges. Aher wir ziehen es heut vor, auch im K rie g
das Revolutionäre zu erkennen. D enn die Revolution ist m ehr als ein
B ü rger-K rieg. Sie ist ein Gärungszustand der ganzen W e lt, der unter an­
derem auch K riege gebiert. W ir sind zu dieser U m w ertung gezwungen,
sobald wir W eltgeschichte oder auch nur europäische Geschichte treiben
wollen. D enn K riege werden von den zw anzig oder fü n fz ig verschiedenen
Staaten in unabsehbarer Z ah l erklärt und gefü hrt. „R evolution“ aber ist
sparsam er; viele K riege können aus einer einzigen Revolution wie der
französischen entspringen. Revolution deutet also a u f eine Art Geschichts­
ökonom ie und au f einen Sinn in allem Blutvergießen. D ie R evolution
fü h rt die ermüdende Z ahl der F e ld zü ge a u f ein geordnetes W eltgeschehen
im Ganzen zurück.
K ein W u n d er daher, d aß sich das W o r t bei den Vätern des m odernen Kosmische
W eltbildes, bei K opernikus und G alilei findet. Ihnen, d. h. der H errschaft Polltlk
der Astronom ie über unsere W eltanschauu ng, verdanken w ir es, d aß w ir
zunehm end unsere politischen Schicksale als Revolutionen erleben. In des
K opernikus H auptw erk von i 543 , aber auch schon bei D ante h eiß t R e­
volution die U m d reh u n g der H im m elskörper und Him m elswelten. Sie ge­
schieht nach ehernem Sphärengesetz.
D ies Gesetz der Sternenwelt da droben w ird bis zu den gro ß en E n t­
deckungen der Astronom ie außer Zusam m enhang gesehen m it den G e­
setzen des sozialen Kosm os. K aiser und R eich, P ap st und Kirche haben
ihre Jahre scheinbar außerhalb des g ro ß en W eltenjahres. U nd doch kün­
det sich dieser G edanke einer den politischen K osm os m it um schlingen­
den W eltb ew egu n g bereits in den letzten Versen des D anteschen W e lt­
gedichts an: „ D ie Liebe bew egt die Sonne und die anderen Sterne.“ D ie
L ie b e ? D ie Liebe als ordnendes Prinzip h at aber gerade nach Dantes
Glauben C h ristus auch der M enschheit neu eingepflanzt. S o m u ß das poli­
tisch-soziale Leben offen b ar seitdem a u f E in beziehu n g in jenes feste
W andelgesetz der Sterne hindrängen. H im m el und E rde sind ja Eines.
D e r Gedanke der „R evolu tion “ wird dadurch die Einbruchsstelle fü r die
Anerkennung einer überm enschlichen W elto rd n u n g in der Politik der
Völker.

i* 3
Schon das erste Geschlecht nach D ante hat die Vorstellung vom G e-
stim um lau f auf die Glückswechsel der kleinen italischen Stadtstaaten an­
gewendet. D ie ewigen Verfassungsänderungen dieser Kleinstaaten konnte
m an wie ein W eltschauspiel ansehen. A ls dann G alilei und seine Zeit­
genossen, als R ohan und Hobbes den Erdbewohner M ensch als Staubkorn
au f dem Planeten aus dem Zentrum rückten, da w agte m an die verhängten
Um wälzungen der großen Reiche m it dem Stichw orte Revolution zu be­
legen. Seit 16 0 0 sieht m an auch die großen Länder Europas als b lo ß e
Teile des G lobus an und redet infolgedessen von Revolutionen in E n glan d
oder in Frankreich. Unter dem E in flu ß der „Konjunkturen“ am gestirn­
ten H im m el passieren die politischen U m wälzungen a u f Erden.
H eut ist dies W o r t K onjunktur, ein B ild aus der Astrologie, das Aller­
weltswort der W irtsch aft. Neben ihm steht „Weltrevolution“ .
D as m oderne W eltb ild hat alle Kaiserreiche und alle K irchen so ge­
m ein gem acht, d aß sie alle wie b lo ß e W eltteile wirken, die der W eltrevo­
lution und der W eltko nju n ktu r im Ganzen ausgesetzt sind. K ein poli­
tischer K örper steht m ehr im M ittelpunkt 1
Revolution- E rst nachdem die W eltgesch ich te so alles nivelliert und einbezogen hat,
statt8Kriegs- was nur im m er a u f Erden geschieht, beginnt m an die Kriegsgeschichte
geschichte zu vernachlässigen und bevorzugt die der Revolutionen.
E ine V o rbedingung d afü r m a g auch das Seltnerwerden der K riege sein.
D enn lange Friedensepochen durch ganz E u ropa kennt m an erst seit
kurzen hundert Jahren. Von den 1 15 Jahren vor dem Jahre i 8 i 5, also
5
von 1 7 0 0 bis 1 8 1 , sind n ich t m ehr als die H älfte Friedensjahre gewesen.
E n glan d und Frankreich lagen von 1688 bis 18 15 etwa die H älfte der
Z eit im K r ie g m iteinander.
D em gegen ü ber sind sowohl der Krimkrieg 18 5 3 — 18 56 w ie der
deutsch-französische Krieg von 1 8 7 0 / 7 1 oder der B alkankrieg von 1 8 7 6
bis 1 8 7 8 , erst recht aber die kurzen F e ld z ü g e i 8 6 4 und 1 8 6 6 keine den
ganzen E rd teil ergreifenden V erw icklungen geworden. A ller E ife r hat
sich — anders als früher — von vornherein darau f gerichtet, den K riegs­
schauplatz zu begrenzen und die Brandstelle abzusperren. Sobald die
K rieg e seltener werden, tritt der G edanke an Revolution (und G egenrevo­
lution) m äch tig hervor. D ie meisten V ölker haben daher erst seit i 8i 5
und die R egieru n gen g a r erst seit i 848 , seit dem E nde der R estaurations­
zeit gew agt, dem G o rgon en h au pt der R evolution b ew u ß t ins A n tlitz zu
sehen. E r st seit 19 0 0 nehm en bew ußte Revolutionäre (die Sozialisten!)
an der R egieru n g der Staaten teil, M änner, die zw ar je tzt als M inister a u f
der anderen Seite der Barrikade stehen, die aber n ich t verleugnen können
oder wollen, d a ß R e ch t und H eiligkeit der Staatsordnung reichlich rela­
tive D in g e sind. D en n sie haben das E igen rech t der R evolution zu lange
gepredigt. Sie haben die R evolution nicht als ein U n glü ck angesehen,
sondern als eine N aturtatsache. U nd so leitet am E n d e der nicht m ehr

4
lokalisierte W eltk rieg m it seinen Erdausm aßen folgerichtig die von den
Regierungen stets zitternd erwartete Revolution der W e lt ein.
Bis dahin passierte die Revolution, aber indem sie einem Volke wider­
fuhr, war es auch schon bem üht, sie m it einem anderen W o rte zu ver­
hüllen und zu heiligen. Bis dahin galten Revolutionen als entsetzliche
Katastrophe und als immoralisch.
D ie Völker Europas haben ein jedes seine Revolution hinter sich. Aber
der freim ütige Gebrauch des W ortes Revolution drückt einen bestim m ­
ten R eifegrad in der G eschichte des Geistes aus, den R eifegrad, in dem
die Europäer wagen, das was sie tu n und was ihnen w iderfährt, b ew ußt
zu benennen.Vorher passieren Revolutionen, ja, werden Revolutionen be­
wußt unternommen, ohne Revolutionen zu heißen.
D aher kom m t es, d aß es noch keine Geschichte der europäischen Revo­
lutionen gibt. D enn die H istorie hat sich o ft nur an die Nam en der Revo­
lutionen gehalten. Sie hat um deswillen nur das als Revolution behandelt,
was sich selbst so genannt hat. U nd sie h at vieles w illig als Revolution be­
zeichnet, nur weil es sich selbst als Revolution ausgegeben hat.
W en n w ir aber hier in diesem B u ch e von Revolution reden, so meinen Die „echte“
w ir nur eine solche, die ein fü r allem al ein neues Lebensprinzip in die evo u I0n
W eltgeschichte hat einführen wollen, also eine Totalum w älzung. Darnach
scheiden Revolten und Putsche aus, auch wenn sie Revolutionen heißen.
D ie G ew alttat ist uninteressant, wenn sie nur isoliert und w illkürlich a u f-
t r it t; die i o o Revolutionen in M exiko bis zu P o rfirio D iaz scheiden aus
und Thronkäm pfe in A fghanistan gleichfalls. D enn diese Länder wollen
bestenfalls — wenn n ich t sogar jedes überpersönliche Ziel feh lt und ein
General oder H äu p tlin g nur an die M ach t w ill — zu sich selbst kom m en.
D ie Revolution aber, die diesen N am en verdient, w ill zur W e lt kom m en
und der ganzen W e lt einen neuen A n stoß und eine neue O rd n u n g m itteilen.
D ie Revolutionen, von denen die W eltgesch ich te allein handeln kann, sind
die U m w älzungen, die sich der W e lt m itteilen wollen. A lle echten Revo­
lutionen sind W eltrevolutionen. „ D ie H errschaft der K ategorie der T o ­
talität ist der T räger des revolutionären Prinzips in der W issen sch aft“
(Lukacs).
F reilich g e lin g t es keiner einzigen, sich überall durchzusetzen. D ie
F u nksprüche der B olschew iki „an A lle “ , die B an n flü ch e der Päpste an
die V ö lk er haben n ich t zur W eltrevolution gefü hrt. D ie französische R e­
volution h at zw ar — gem äß einer berühm ten Prophezeiu n g — ihre Reise
fast um die ganze W e lt gem acht, aber sie hat im m erhin i 3o Jahre dazu
gebraucht. A ber der Wille m u ß da sein, sich allenthalben m itzuteilen,
aus dem G e fü h l des R ech ts und des A u ftr a g s heraus, der an das Volk er­
gangen ist, diese R evolution ins W e r k zu setzen.
D arnach scheiden auch alle A bleger und N achahm ungen echter R evolu­
tionen fü r uns aus. In die Schule der französischen und indirekt der en g-

5
lischen Revolution sind fast alle anderen Staaten Europas und der übrigen
W e lt gegangen.
W ir finden „Revolution“ seither in Polen, Spanien, Schweden, G rie­
chenland, in M exiko und allen südamerikanischen Staaten, in Belgien, in
der Schweiz, in der Türkei, in R u ßlan d und China, in P ortu gal und in den
einzelnen Staaten Italiens am W erke. Im L au fe eines Jahrhunderts ist so
die R t,~ I . - ii von allen Nationen im portiert worden. D ie meisten eben
angeführten Länder haben sogar m ehr als eine Revolution hinter sich,
so wie ja Frankreich selbst noch zwei nationale ( i 83 o und i 848 ) und
eine örtliche (die Pariser K om m une 1 8 7 1 ) erlebt hat.
D ie Julirevolution in Frankreich hat z. B. die Funktion gehabt, die
Ideen von 1 7 8 9 w ieder flottzum achen. D er Revolutionsbazillus wurde
sozusagen i 83 o w ieder virulent, und nun erst erlagen ihm m anche vorher
im m une Gebiete Europas. F ü r uns Heutige ist es sogar fast rätselhaft,
weshalb die kurze Julirevolution von i 83 o E u ropa so tie f erschüttert
hat, d aß H egel und N iebuhr an der A u fre g u n g gestorben sind. D ie Juli­
revolution hatte aber im A b lau f der französischen Revolution die gleiche
F u nktion w ie in E n glan d die glorreiche von 16 8 8 . Beide beenden die
E p oche der Restauration und bringen dadurch den E rtra g der H au p t­
revolution en d gü ltig in die Scheu em . S o ist die Revolution von i 83 o nicht
selbständig. U nd erst recht bleiben alle jen e anderen Revolutionen im
Schatten der einen großen europäischen, deren N am en sie teilen. N u r
die große ist selbständig und ursprünglich. T ro tz des gewöhnlichen
Sprachgebrauchs ist es also berechtigt, streng zu scheiden zwischen einer
fü r E u ro pa und die W e lt gem achten und den von ih r angeregten ab­
h än gigen in einer N ation oder in einem einzelnen S taa t geschehenden
U m w älzungen. Sow eit diese Einzelkatastrophen geistige Ziele verfolgen,
handelt es sich um ausgeborgten, entliehenen Geist! Von diesen Lehn­
revolutionen handeln w ir nicht. D as ist von außerordentlicher Tragw eite.
D enn erst dann w ird der A u fstie g der „R e vo lu tio n “ zu ihrem eigentüm ­
lichen Selbstbewußtsein übersehbar.
N u r dann g e lin g t es, der „ g r o ß e n “ R evolution voü 1 7 8 9 statt b lo ß er
Trabanten und Satelliten die selbständigen und echten Revolutionen als
ebenbürtige Schwestern zuzuordnen, die älter sind als sie, aber ebenso
unab hängig und ursprünglich.
Freilich , die M enschen nennen diese Geschw ister der französischen R e­
volution meistens n ich t Revolutionen.
»stbewußt- A ber diese Tatsache ist selbst — so sagten w ir schon — ein w ichtiger
der Revo­
lution U m stand in der G eschichte der R evolutionen! D a s Selbstbew ußtsein der
Revolution entwickelt sich allm ählich. Sie w eiß nicht gleich, was sie
ist. D iese Tatsache ist n ich t überraschend. S ie fü h rt aber zur Erkenntnis
eines w ich tigen G esetzes: D a m it ein V o rg a n g zu verschiedenen Zeiten
dasselbe bedeute in der G eschichte der M enschheit, darf er n ich t in

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allen Zeiten denselben Nam en tragen! D ie Auchrevolutionen des 19. Jahr­
hunderts können ru hig Revolutionen heißen wie die gro ß e von 1 7 8 9 .
E s ist keine G efahr, daß sie m it ih r verwechselt werden könnten. Sie be­
deuten eben w egen des geborgten Nam ens nicht entfernt dasselbe ur-
m enschliche Ereignis. Sie sind N achbilder eines Vorbildes.
H ingegen gab es Prozesse, die dasselbe bedeuten, und die es deshalb
bedeuten können, weil sie sich nicht denselben Nam en gaben! Sie be­
deuten dieselbe ursprüngliche, originelle Leistung, weil sie den gleichen
Gesetzen unterliegen, die gleich e W irkungsw eise durch die W e lt ent­
falten und weil sie in einem festen eindeutigen R ichtungsablau f auf die
französische — und heute die russische — Revolution Zuströmen, weil
sie deren Vorstufen sind. D er französischen Revolution blieb sozusagen
nichts anderes übrig, als sich die gro ß e Revolution zu nennen. Sie steht
im Zenith der europäischen Revolutionen, weil sie sich selbst erkennt
und um den eigenen Charakter w eiß. D araus ergibt sich schon, d aß die
russische R evolution bereits jenseits der Scheitelhöhe des Revolutions-
nameris abläu ft! D er M ittag ist 1 7 8 9 . A n ih m sind V o rgan g und Nam e
eins, deckt der Nam e innere und äußere V orgänge beide, das was ge­
schieht und das was sich die M enschen dabei denken.
1 7 8 8 erschien in Paris und W arsch au ein B u ch : Les revolutions de la
P ologne. In ihm werden noch die Teilu n gen Polens — also äußere K ata­
strophen — als Revolution bezeichnet. L u d w ig X V I. hat dann am T a g e
des Bastillesturm es das bew ußte H andeln der A u frü h rer als eine „ R e ­
volte“ abzutun versucht. „N ein, S ire,“ erwiderte ihm da G r a f Liancourt,
„das ist die R evolu tion “ . In diesem A ugenblick zuerst w ird das willent­
liche H andeln von Personen im S taatsinnem in E in s gesetzt m it dem Na­
turereignis einer politischen Totalkatastrophe. In der französischen R e­
volution — und n ur in ih r — sind die äußere N atur des Ereignisses und
der innere Ideenzug der Menschen, die beide au f eine G esam tum w älzung
gerichtet sind, zusam m en „die gro ß e R evolu tion“ . D eshalb nennen sich
die Jakobiner rich tig von ihren Gedanken her m it dem N am en R evolu­
tionäre, der auch ihrer T a t von außen gesehen zukom m t. D as a lio ist das
N eue an der französischen Revolution, d aß es Revolutionäre gibt.
B is dahin ist R evolution ein der äußeren N aturgeschichte entlehntes
W o rt. W e it über D enken und W o llen der handelnden M enschen hinaus
von oben her und von außen her war die „R e vo lu tio n “ eine objektive«
Naturtatsache der H im m elsastronom ie.
D eshalb h eiß t gerade der A bschlu ß des englischen Revolutionszeitalters
in E n glan d glorious revolution. D ie geschichtliche Legende gib t näm lich
den V orgän gen des Jahres 16 8 8 , Jakobs II. F lu c h t und W ilhelm s III.
Th ron besteigu n g — den N am en der gloriou s revolution. Ganz im G egen ­
satz zur grande revolution der Franzosen legen d ie Engländer a u f das
W u n d e r Gew icht, d aß 16 8 8 eine R evolution ohne Revolutionäre, näm lich

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eine Umwälzung aber kein Unrecht geschehen sei. Dieses Wunder der
Moralität wird durch Zusätze wie glorious, happy und legal angedeutet1.
Man preist, wie ohne persönliche Tätigkeit „Personen und Dinge schnell
und ohne Blutvergießen sich geändert haben in dieser glücklichen Revolu­
tio n ".
Hier soll also das menschliche Bewußtsein der Handelnden gerade aus
der Revolution, aus dem objektiven U m schw ung ausgeschaltet werden.
E s ist der astronom isch-astrologische B e g r iff der NaturUm wälzung, der
hier fruchtbar gem acht wird, um ein objektives F ak tu m scharf abzuheben
von m oralischen Bedenklichkeiten. D ie T räger des U m schw ungs treten
daher alle in ihren Ä u ß eru n gen 1 6 8 8 und 1 6 8 9 a u f als R estau rierer2.
D a ß es m ehr war, was sie erreicht, lehrt einzig und allein ih r G ebrauch
des W ortes Revolution. 1 7 0 2 sprich t m an von dem eigenen Zeitalter, als
einem, „ in dem eine Revolution notw endig gew orden sei, bei der die
G ru ndlagen der Erde aus ihrem L a u f gew ichen seien, um eine Reforma­
tion durchzusetzen" 8. D iese Stelle w ahrt den gedanklichen F o r tg a n g von
der deutschen „R e fo rm atio n " zur englischen R evolution und zeigt, daß
der F o r tg a n g eben in dem H inblick a u f das kosm ische Erdbeben zu suchen
ist. W a s äußerlich unstreitig eine Staatsum w älzung war, das konnte a u f
diese W eise fü r das innere B ew u ßtsein der H andelnden als ein D ü rsten
nach G esetzlichkeit gelten. M an sieht, fü r 1 6 8 8 ist noch m it keinem vollen
Selbstbew ußtsein der Revolutionäre zu rechnen. D ies w ird aber noch
deutlicher, wenn m an die A kte der englischen U m w älzu n g hinzunim m t,
die fü r den „glo rreich en " A u sg a n g von 1 6 8 8 die V orbedin gu n g darge­
stellt h a b e n : die Zeiten der Parlam entskriege und Crom wells. D ie absicht­
lichen und selbstbew ußten Streiter fü r das K om m en des „ K in g d o m o f
G o d " der Jahre i 64 o — 1 6 6 0 m üssen ih r T u n in der englischen Über­
lieferu n g bezeichnen lassen a ls : — great rebellion 4 oder klassisch er: The
Civil War. D a s subjektive M om ent überw iegt hier in beiden Ausdrücken
sichtlich. D en eigentlich revolutionären Ereignissen haben also gerade

1 Sehr lehrreich ist gleich der Buchtitel: „State Tracts from the year of 1689 . Now
published in a Body to show the Necessity and clear the Legality of the Late Revo­
lution . . . In this Volume you have a full account of our late happy revolution” .
London by Richard Boldwine 1692 .
Das W ort Revolution wird bereits 1688 selbst im rein objektiven Sinne zur Wider­
legung des Rebellionscharakters gebraucht: In a word, if the Hand of God is to be seen
in Human affairs and his voice to be heard upon E arth ; we cannot anywhere find a
clearer and more remarkable Instance, than is to be observed in the present Revo­
lution . . . I f one considershow
happily and wonderfully
both Persons and things are
changed in a little Time and without Blood, it looks like so many marks of Gods
Favour, by which he thinks fit, to point him out to us in this extraordinary Coniunc-
tu re. ebd. S. 4 57 aus Proposals humbly offered to the Convention for settling the
Government 1688 / 89 . 2 Belege in „Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit“.
Breslau 1981 . 8 Anonyme Vorrede zur Erstausgabe von Clarendons History of the
Rebellion. Oxford 1702 I, p. X sq. 4 Schon bei Clarendon i6 5 8 .

8
noch unobjektive N a m en : A uflehnung und Bürgerkrieg, Pate gestanden
an Stelle der objektiven Um wälzung.
G reat rebellion 1 6 4 2 — 1 6 6 0 (Restoration o f Freedom )
Glorious revolution 16 8 8
bilden, wie sich noch zeigen wird, in W ah rh eit eine gesetzm äßige Einheit.
D a ß sie sprachlich auseinandergehalten werden, ist fü r die S tu fe des euro­
päischen Selbstbewußtseins bedeutsam, au f der sie sich ereignet haben.
D as W esen des Geschehnisses ist erst, indem es geschah, allm ählich klar
geworden. E i n B r u c h i m B e w u ß t s e i n geschieht während des Ablaufes. D ie
noch heute zwiespältige H altu n g der Engländer zu 1 6 4 9 und 1 6 8 8 beruht
hierauf. Sie sehen ihre beiden R evolutionshälften nach K räften auseinan­
der, dort w o die Franzosen etwa den Bastillesturm und N apoleon nach
K räften zusam m ensehen müssen. N och heute ist fü r den E ngländer die
R evolution nicht dasselbe wie etwa fü r uns Deutsche. W ir haben den
französischen Sinn des W o rtes R evolution übersteigert und beziehen die
Revolution heute ausschließlich auf solche a b s i c h t l i c h e p o l i t i s c h e U m w äl­
zungen, die sachlichen ideologisch geschauten Zielen zugew andt sind.
D ie Franzosen hingegen verm ögen auch h eu t noch einen weiteren und
einen engeren Sprachgebrauch des W ortes auseinanderzuhalten. So gib t
es etwa ein französisches B u ch m it der Ü berschrift „H istoire des R evo­
lutions de F E sp rit Frangais du moyen ä g e “ (von Baucel 1 8 7 8 ) .
W ied er anders lie g t es noch heute in E n glan d. H ier h at das W o r t in industrial
der eigenen Geschichtsschreibung bis h eu t überwiegend den objektiven Revolutlon
Sinn behalten. E in Beispiel verm ag das vielleicht am besten klarzum a­
ch en : W ir sprechen in D eutschland von der E n tsteh u n g des K apitalism us
in der W irtschaftsgeschichte. D ie englischen V orlesungen und B ücher
sprechen durchw eg statt dessen und zwar von jeh er von t h e i n d u s t r i a l R e -
v b l u t i o n . E s ist dies eines der beliebtesten T hem en fü r den U nterricht in
der bei den E ngländern so ungeheuer populären Volksw irtschaftslehre.
W ir können von „Industrierevolution** nur in einem übertragenen Sinne
reden. Als Ü berschrift fü r einen alltäglichen K u rsu s über die Entstehung
der m odernen W irtschaft wäre es sogar heute noch ein viel zu kühnes
übersteigertes B ild. D ie En glän der hin gegen halten noch h eu t fest an dem
objektiven C harakter der „U m w älzu n g“ . D enn ihre Geschichtslegende
beruht ja darauf. Crom w ell ist darum als Rebell unpopulär, aber W il­
helm III. ist kein ausländischer E in d rin glin g, sondern ein „Restaurator**
der Gesetze E n glan d s! S o nennt er sein T u n bei seiner L a n d u n g in Eng­
land. E r restauriert die Errungenschaften der englischen Revolutionäre
zwischen i 64 o und 16 6 0 , ähnlich wie die Julirevolution von i 83 o die
Errungenschaften der Bourgeoisie „restauriert“ hat.
D ie g ro ß e R ebellion Crom w ells ist zw eifellos Revolution wie die fran­
zösische. A ber ihre Ideologie ist noch in die theologische Sprache der
B ibel eingebaut. Z w ar trä gt ein Z u ku n ftsglau be wie in der französischen

9
Revolution die englischen Revolutionäre — aber er gründet sich auf die
Zukunftsverheißungen der H eiligen Schrift. D as K in gd om o f G od ist es,
das zwischen i 64 o und 1 6 6 0 um fochten wird. Und diese theologische
Ideologie der englischen Revolution kleidet ihr Selbstbewußtsein in die
Sprache des Alten Testaments. Aber diese Sprache ist deshalb nicht minder
revolutionär als die eines M arxisten von heute. Als K arl I. durch London
fuhr, trat einer aus dem V o lk an die Karosse und r i e f : „ Z u deinen G e­
zeiten, Israel!“ , d. h. die W orte, welche den A u fru h r der Israeliten gegen
Rehabeam eingeleitet haben. U nd die W irk u n g des Zitats war die gleiche
wie in der Ursprache! Denn die Revolution brach aus. „C rpm w ell hat durch
das ganze A lte Testam ent seine T rom m el gerührt.“ Seine „H eiligen “ le g ­
ten ihre einheim ischen Nam en ah und m an kann daher „das Geschlechts­
register unseres Erlösers aus den N am en der Regim entskam eraden C rom ­
wells lernen“ . So stellt die englische Revolution ein K o m pro m iß dar:
D ie Revolutionäre sprechen alttestam entlich. N ur der letzte A ugenblick
von 16 8 8 h e iß t Revolution, während um gekehrt in Frankreich gerade
der erste Augenblick, der i 4. Ju li 1 7 8 9 , so h ieß ! Gehen w ir einen Schritt
weiter in die V ergangenheit zurück, so tritt an die Stelle dieses K o m pro­
misses zwischen Zukunftsglauben an das K in gd o m o f G od und alttesta-
m entbchem V okabular ein reiner W iedergeburtsglaube. D ie Silbe re —
die in Revolution und Rebellion n ur das „ a u f “ des A u fru h rs und das
„ E m p o r“ der E m p ö ru n g und die kopernikanische U m kehru ng bezeich­
net — wird au f diesen älteren S tu fen ernster genom m en. Sie bedeutet
näm lich, d aß der A u fru h r und die E m p ö ru n g dadurch geh eilig t werden,
daß sie ein geheiligtes „ Z u r ü c k “ bedeuten wollen. V o r Crom w ell steht
Luther, der H eld der Reform ation, der Schicksalsträger Deutschlands. D ie
Lutheraner haben freilich m it besonderer V erach tu n g die englischen R e­
bellen betrachtet: zwischen der Sehnsucht nach dem alten Bunde und der
Sehnsucht nach dem R eiche G ottes liegt eine gew altige Stufe. A ber woher
die einzelnen Revolutionsträger sich ihr gutes Gewissen fü r ihre Revolu­
tion holen, ob aus der V orw elt oder aus der N ach w elt — das m acht zwar
viel aus dafür, ob sie sich untereinander verständigen können, aber w enig
fü r das, was sie w irklich vollbracht haben. D e r B ru ch Luthers m it dem
kanonischen R e ch t und m it der A utorität von P ap st und K onzilien ist eine
jener prinzipiellen U m w älzungen, ganz w ie der B ru ch m it dem H erkom ­
m en des christlichen K önigsrechts im Jahre 1 6 4 9 ° ^ er n iit allem adligen
H erkom m en des ancien régim e 1 7 8 9 .
D ie R efo rm ation ist die von der deutschen N ation vollbrachte europä­
ische Revolution. Sie spricht aber die Sprache des Neuen Testam ents, d a ß
der Christenm ensch gerecht werde allein d urch den Glauben.
A ber w ir gelangen noch eine S tu fe weiter zurück, wenn w ir n ur die
Selbstrechtfertigung der Revolutionäre, ihren Gewissenstrost, n ich t fü r
w ich tiger nehm en als ihre Tat D er älteste Revolutionär in E u ro p a is t der

10
w

Papst. Genau wie Deutsche, Engländer und Franzosen haben die Italiener Papstrevolution
eine europäische U m w älzung vollbracht. Genau wie Luther, Crom w ell
und Mirabeau ist der Papst zum Exponenten eines W eltprinzips und zu­
gleich der Idee Italiens geworden. A u ch der Papst fü h rt ein W o rt, — das
die Silbe re einschließt — im M unde: U m „Recuperationen“ handelt es
sich fü r die Papstrevolution, der wir die H errlichkeit der italienischen
Freistaaten verdanken. N ich t innere W iederbekehrung der Kirche, son­
dern äußere W iedererlangungen vom Kaiser und den Nordländern soll
das W o r t Recuperation ausdrücken. Aber deshalb ist es kein w eniger
revolutionäres W ort. W en n Luther die innere „ W ie d e r“ bekehrung der
K irch e den weltlichen Fürsten au fträgt statt dem Papst und den K o n ­
zilien, so steckt die Revolution dieser „R efo rm atio n “ in der R eru fu n g der
weltlichen O b rigkeit fü r die reinsten Seelenfragen. B ei der Papstrevolu­
tion steckt um gekehrt das Revolutionäre der Recuperationen in dem E in ­
greifen des geistlichen Seelenhirten in die rein territorialen F ragen der
Apenninischen Halbinsel. Das geistige Vor-wort aber fü r die m aterielle
Recuperation ist schon in der Geburtsstunde des Abendlandes au fgeklu n ­
gen. E s steht an der Spitze aller Revolutionen und lautet „re'nom tio.
W iedererneuerung — das ist das Stichw ort der ersten gro ß en Geistes­
gestalt Europas, des Kaisertum s. Aber es ertönt auch in dem M unde des
geistlichen Revolutionärs, der sich gegen dies scheinbar wiedererneuernde
Kaisertum erfolgreich em pört hat — des Papstes. D ie Päpste haben die
geistige Erneuerung, die Renovatio der W e lt durch ein Jahrhundert ver­
fochten. An der Schw elle unseres Jahrtausends ist das Ziel Eines: Erneue­
rung. Revolutionär und Konterrevolutionär, P apst und K aiser müssen da­
her ihren Streit um dies Ziel anders nennen. Streit h eiß t nicht K rieg,
auch nicht B ürgerkrieg, noch nicht Revolution, sondern Discordia, Zwie­
tra ch t. D ie Z w ietracht in einer gegebenen E in h eit der W e lt — das ist die
R evolution gleich au f ihrer ersten S tu fe. T e ilu n g und Spaltung einer
Ganzheit, einer „ W e lt “ ist die R evolution seit der Zw ietracht zwischen
P ap st und K aiser bis zur W eltrevolution geblieben.
D ie Revolutionäre und der P ap st haben sich allzulange als absolute Unecht
W idersacher angesehen, um ihrer Ideologie willen. Aber beide sind aus
dem Geiste geboren und beider Schicksal ist ein revolutionäres. A u ch
lebt noch in der russischen Revolution ein R est von jener Silbe „ R e “ , die
uns in allen echten Revolutionen begegnet ist. U nd das kann nicht anders
sein. E m p örungen sind sie alle zur W iedergew in n u n g eines Urrechtes,
eines natürlichen W eltzustandes. D er Urzustand der N atur kehrt w ied er:
das ist das L osungsw ort der echten Schöpfungsakte. D ie jü ngsten Nam en
fü r diesen V o rga n g unterstreichen das R e ch t au f U m w älzung. Aber sie
%ollen deshalb den In h alt eines Urrechts und eines naturgesetzlichen E n d ­
zustandes keineswegs verleugnen. Der arbeitende M ensch benutze alle D in ­
ge, denn die A rbeit allein sch a fft W e r te : das ist bolschewistisches Gesetz,

II
U rrecht und D ogm a, obwohl sich die Bolschewiki ungern zu D o g m a und
Gesetz bekennen. Umgekehrt war es am Anfang des Jahrtausends. Die
ältesten Namen fü r den S chöpfu n gsakt wollen gern den Inhalt selber an­
geben, weil sie sich gern zu D o gm a und Gesetz, aber ungern zu dem ge­
waltsamen Verfahren der Revolution bekennen. „R ecuperation“ und „R e ­
form ation“ ist Revolution. D ie Revolutionen aber sind Recuperationen
und Reform ationen! E s wechselt nur die Betonung. D er Papst m acht eine
Revolution, bei der im Vordergrund seines Bewußtseins sein Recht steht.
D ie Bolschewiki m achen eine Revolution, bei der im Vordergrund ihres
Bewußtseins die Umwälzung steht. In der Reihe der

Um w älzungen Renovatio und Revolution


K aisertum und Papsttum D iscordia
Italien R ecuperation
Deutschland R eform ation
E n glan d G reat rebellion and glorious
revolution
Frankreich G rande Revolution
R u ß lan d W eltrevolution

Name und verschiebt sich also die N am engebu ng fortschreitend vom In h alt fo rt a u f
Kehrseite Zuerst scheint das einzig objektiv Feststehende der er­
strebte Inhalt. Später sucht m an gerade durch den naturwissenschaftlichen
B e g r iff der R evolution das soziale E reignis zu einem objektiven N atur­
schauspiel und N aturgesetz au fzu steigem . D iese verschiedenen Nam en
verhüllen aber jedesm al einen T eil des G esam tvorganges, und zwar tun sie
das am E n d e gerade so g u t wie am Anfang. D ie N am en werden — wie
stets die N am en — a potiori verliehen, a u f d e u tsc h : von der wichtigsten
Seite der Sache her, von dem, was den Zeitgenossen die H auptsache daran
ist. D ie N am en bezeichnen immer nur 5i v. H. des ganzen Ereignisses,
die 5i v. H., die m an heruorkehren will. D ie Kehrseite der M edaille bleibt
ohne S c h r ift und Nam en. A ber in der R ecuperation ist die Revolution, in
der R evolution ist die R eform ation m it enthalten. Von hier aus gesehen,
em p fieh lt es sich nochm als, zu jenem Stam m baum der Revolutionen zu­
rückzublicken. D enn der H auptstam m h at n ich t etwa nur viele A b leger
der französischen R evolution unter dem N am en „R evo lu tio n “ entsendet,
sondern ebensosehr g ib t es Abarten der „R e fo rm atio n “ in allen Ländern,
A barten der Adelsrebellion d urch ganz Eu ropa, und Bischofssouveränität
ist nicht n u r in Italien, K om m unism us n ich t nur in R u ß la n d erkäm p ft
worden. A u ch der P ap st hat eine E u ro pa durcheilende Weltrevolution
gem acht. S ta tt einer b loß en Liste der Revolutionen werden w ir dah er
besser einen H au ptstran g der w eltgeschichtlichen Revolutionen und viele
A bzw eigungen unterscheiden. *

12
Papstrevolution in Italien K ä m p fe der Bischöfe um ihre F ü r­
stenm acht in England, D eutsch­
land, Spanien usw.

R eform ation in D eutschland Reform ationen in England, Schwe­


den, U ngarn, Polen, Frankreich

Great Rebellion und Glorious R e­ Adelsaufstände in Schweden, U n­


volution in England garn, Dänem ark, Toskana usw.

Französische Revolution Revolutionen von i 83 o, i 848 ,


i 863 , 1 8 8 7 usw.
Russische Revolution Revolutionäre G ärungen in China,
Indien usw.

Von der Papstrevolution in Italien bis zur bolschewistischen Recuperation


der russischen E rd e durch die Bauern flie ß t ein einheitlicher Geistes­
strom. E r m u ß a u f jeder G efällstu fe einen anderen Nam en tragen, um
dasselbe bedeuten zu können.
D e r W e g bis zu r selbstbewußten Scheitelhöhe der Revolution in der
französischen ist nun angedeutet.

Renovatio
Recuperation
R eform ation
Restoration o f Freedom
G loriou s R evolution
Grande Revolution

W ir m üssen nun dieser Liste die russische R evolution zufügen. A u ch ih r Die „gemachte“
N am e hat einen etwas anderen Sinn als der N am e der früheren U m w äl­
zungen. D as m u ß so sein, denn die russische R evolution ist bereits in
einer anderen L a g e als alle vorhergehenden. Ihre T räge r haben ja die
französische R evolution bew u ß t und eingehend studiert. D ies g in g bis ins
Kopieren. So wie die Jakobiner von L u d w ig G apet sprechen, sö hat B a­
kunin 1 8 6 1 den Zaren stets „R o m an o w “ genannt. Sie nannten sich auch
selbst, längst bevor die R evolution hereinbrach, Revolutionäre. H in gegen
die M änner von 1 7 8 9 sind dadurch zu Revolutionären geworden, d a ß
die R evolution über sie hereinbrach und sie bereit fand. „ W ir haben n ich t
die R evolution gem acht, die R evolution hat uns g e m a ch t“ , sagt D anton bei
Büchner. U n d C ond orcet hat das neue A u fkom m en des paradoxen W o r ­
tes R evolutionär ausführlich begründet. M irabeau h a t erst nach dem Ba­
stillesturm vom i 4. J u li die R egeneration, die er F rankreich wünschte,
als R evolution bezeichnen m ögen. E s ist eine späte L e g e n d e 1, d aß schon

1 Und zwar eine typisch parlamentarisch-konstitutionelle Legende, z. B. bei dem deut­


schen Dahlmann. Näheres in meiner S. 8 Anm. 2 zitierten Untersuchung.

i3
der Ballhausschwur (,W ir weichen nur der G ew alt der Bajonette*) als
Revolution gebucht worden sei. 1 7 8 9 schirm t der Revolutionär die Revo­
lution. 1917 m acht er sie. D ie Sozialen Revolutionäre R u ßlands und
Europas sind längst vor dem Ereignis durch ihren eigenen W illen und ihr
Bew ußtsein T räger einer — zukünftigen — Revolution. Sie sind Revolu­
tionäre auch fü r den F all, daß keine Revolution passiert wäre oder sich
ereignen konnte. D as Ereignis und das Bew ußtsein fallen also hier nicht
zusammen. 1 7 8 9 scheinen nach einem W o r t H egels H im m el und Erde
ausgesöhnt, weil das Ereignis der objektiven Katastrophe im G estirnlauf
und die subjektiven Ideen der M enschen einen A ugenblick zeitlich und
räum lich zusam m enfallen. Aber 1 9 1 7 m u ß die Revolution aus dem K o p fe
gem acht werden, weil m an schon vorher w eiß, was eine Revolution ist
und wie sie abzulaufen pflegt.
D ie russische Revolution, weil sie jenseits der Scheitelhöhe, des M it­
tags sozusagen der Revolution ausbricht, ist die erste Revolution, die von
ihrer Vorgängerin gedanklich abhängt. D ie russische Revolution erkennt
als erste einen Zusam m enhang zwischen den Revolutionen an! Sie w ill
näm lich die Antithese zu der Revolution von 1 7 8 9 sein. A u f die R evolu­
tion des dritten Standes fo lge die Revolution des vierten Standes. A lle vor­
hergehenden Revolutionen brechen naiv, näm lich nach ihrem Selbstbe-
w ußtsein unabhängig voneinander auf. Sie müssen sich deshalb a u f irra­
tionale Grundsätze stützen, au f kirchliche (P apst), dogm atische (L u th er),
biblische (Crom w ell) oder m etaphysische (Robespierre). D ie Russen kön­
nen eine logische Revolution versuchen. Sie verwerfen D o g m a und M eta­
physik. Sie w ollen rein lo gisch der Revolution der Bourgeoisie die A nti­
these, die Revolution des Proletariats fo lgen lassen.
Deshalb ist die russische Revolution eine R evolution des N achm ittags.
W en n es einen europäischen G eschichtstag gibt, fü r den 10 0 0 Jahre sind
wie ein T a g , so ist es am N ach m ittag dieses T age s leichter, Zusam m enhänge
zu sehen, aber auch schwerer, naiv und ursprünglich zu handeln, als vor­
her. D ie russische W eltrevolution ist daher n ich t die „g ra n d e “ revolution
von 1 7 8 9 ; sie ist nur eine weitere, die logisch konsequent aus der gro ß en
Revolution entspringende Revolution m it entgegengesetzten Vorzeichen.
A us einem einm aligen Namen „R evo lu tio n “ ist durch die Revolutionäre
des 19. Jahrhunderts also ein Gattungsbegriff geworden. D em O ber­
b e g r iff der Revolution untersteht die russische als eine unter vielen. Ihre
T räger konnten sich, wie erwähnt, schon Revolutionäre nennen, ehe sie
ausbrach. D as aber bedroht ihre E ch th eit und Einzigkeit. W ill sie daher
ihre U rsp rünglichkeit und E igenständigkeit bewahren, so bleibt der russi­
schen Revolution nur der Ausw eg, den sie auch beschritten h a t: sie m u ß
sich zur letzten Revolution ausrufen. Ihre G ü ltigk eit m u ß au f ihrer E n d ­
gü ltigk eit beruhen. D ie russische R evolution n im m t daher nicht Abschied
von sich selbst, sondern richtet sich als R evolution fü r die D au er ein.
Die Revolution in Permanenz, das ist das einzige M ittel fü r den Bolsche- Die^Revoii
wiken, seinen Anspruch auf m ehr „als-b lo ß -ein e“ -Revolution festzuhalten.
A uch in dem gern von ihr gebrauchten Nam en „ W elR evolution *‘ ist das
Zeitm om ent m itgem eint, sie solle eben die letzte, wahre und wirkliche
Revolution der W e lt sein und bleiben. D ie russische Revolution m u ß also
ihre revolutionäre Phraseologie und Ideologie seihst verewigen, weil sie
ja in ihrer b lo ß logisch-antithetischen H erleitung sonst keinen Ew igkeits­
wert besäße. Sie weist nirgends und a u f keine W eise über sich hinaus, auf
keine Kirche, keine Bibel, kein R eich Gottes und keine Philosophie. So hat
sie ihre E w igk eit nur in sich selbst, in dem Revolutionären selbst. Sie ist die
ewige bew ußte Antithese gegen den gesam ten vorhergehenden W eltzustand.
Deshalb spielt das Bewußtsein im M arxism us die geradezu entscheidende
Rolle. D as Selbstbewußtsein der Klasse ist das D ogm a, Bibel, K irche und
M etaphysik der sozialistischen Revolution. U n d dieses kritische Selbst-
bewußtsein der Klasse verhindert, d a ß sie je sich zufrieden geben könnte.
W ir m u ß ten diese eigenartige Schw ierigkeit andeuten, in die jene R e­
volution geraten ist, die zum ersten M ale den Nam en Revolution gleichsam
fix und fertig vorfand. Sie hat die grö ß te Schw ierigkeit, ihre w eltge­
schichtliche Einzigkeit trotzdem zu bewahren. Sie kann es nur, indem sie
sich als ewige Antithese aufpflanzt. D ie Revolution in Perm anenz zieht
nun alle k ü n ftige Geschichte in sich und unter sich, es g ib t nach dieser
D oktrin nur E rdteile vor und Erdteile in der Revolution.
D ie Ausnahm e ist dam it zur R egel geworden.
Aber nach rückwärts wird eben dadurch der W e g hell. D ie Nationen
Europas haben von Anbeginn die K ü h n h eit besessen, ihre Lebenswelten
durch Totalüm W älzungen unablässig von G rund a u f zu erneuern.

Religiöse R e n o v a t i o n des Imperiums, w irkt als U rbild auf :

Renovatio der Kirche


des Abendlandes
Recuperation und Re­
novation in Italien
Reformation
in Deutschland

Great Rebellion
in England
Glorious Revolution
in England
Grande Revolution
in Frankreich
Revolution in Permanenz
in Rußland

Kosmische R e v o l u t i o n der Sternenwelt w irkt als U rbild auf

i5
II. DER RHYTHMUS DER REVOLUTION

uns,
W
ir sehen nun einen A b la u f von revolutionären Ereignissen vor
die über Europa dahinbrausen in der Art, daß jedes in einem an­
deren Lande aufbricht. Sie stehen — bis au f das letzte E reign is der rus­
sischen R evolution — in keinem bew ußten Zusam m enhang zueinander.
Gem einsam ist ihnen aber dies: Sie prägen dauernd das Schicksal eines
einzelnen europäischen Landes und sie teilen sich doch auch dem ganzen
Erdteile m it. D er zeitliche A b la u f zeigt nun eine innere F o lgerich tigk eit
nach m ehreren R ichtungen.
Indem die Revolutionen sich seihst von M al zu M al deutlicher erkennen,
beschleunigt sich ih r G an g. D er zeitliche A b la u f der Revolutionen ist in
der zweiten H älfte des Jahrtausends schneller als in der ersten. N ich t nur
das ; die erste R evolution h at einen doppelten A n la u f nehm en müssen.
Der doppelte D er Geistesschwung eines G rego r V I I. ist nicht sofort in die irdische
Anfang G estaltu ng eingedrungen. Das Abendland ist vor der Entscheidung, die
er fü r das ganze Abendland forderte, zurückgebebt. E rst Innozenz III. hat
der Papstrevolution jenen eigentüm lichen C harakter gegeben, der auch
fü r alle späteren die V orbedin gu n g des E rfo lg e s geworden is t: die V er­
w urzelung in einem einzigen Lande. E rst der K a m p f der G u elfen und
Ghihellinen verlief a u f der E rde Italiens. G erade diese Erkenntnis aber
war fü r die erste R evolution besonders schwer zu fassen. D enn sie m u ß te
natürlich um gekehrt das H eil der W e lt gerade in der G esam tum w älzung
sehen und daher die W e lt erst um zuwälzen versuchen, bevor sie sich m it
Italien begnügte.
A u ch die deutsche R efo rm ation trä g t noch den unbewußten Charakter.
Sie ist ganz in die G estalt (R e-fo rm ) verloren und kennt darüber das
eigene V erfahren bei dieser U m gestaltu n g, bei der R e-fo rm atio n zunächst
nicht, noch versteht sie sich seihst; L u th er w ird von den Ereignissen über­
fallen. D en n er blickt ja a u f die Seele und ihre A nliegen allein. D ie F o lg e
ist, d aß auch die R efo rm ation zw eim al d u rch ge fü h rt worden ist, einmal
von L u ther, als Theologen, m it F o lg e n fü r die weltliche O b rigkeit, und
einm al von dieser w eltlichen O b rigk e it selber, ohne theologische Verbrä­
m ung. D ieser zweite A k t der deutschen R evolution war aber natürlich
erst m öglich , als die M ethode der Umwälzung hinter der U m gestaltu n g
als Ziel brutal zu tage getreten war. N ach der glorious revolution haben
^ Österreich unter M aria Theresia und F ried rich II. von P re u ß e n beide
„R evolu tion “ gem acht, zu r R ealisierun g des Ergebnisses der R efo rm a­
tion. D ie E n glän der nennen den U m schw u ng, der zum Siebenjährigen

16
K rieg gefü h rt hat, daher m it R echt the diplomatic Revolution. D as heißt,
sie teilen diesem nur rein praktischen, ohne „Id eo lo gie“ geführten K a m p f
der katholischen und protestantischen V orm acht im Lande der R eform a­
tion m it R echt den Nam en „R evolution“ zu.
D ie englische Revolution zerfällt also nicht zu fällig m die zwei von uns
schon bezeichneten Abschnitte Crom w ell (Civil W ar) und W ilh elm III.
(Glorious Revolution). Sondern darin ist gerade ihre Verwandtschaft m it
den Taten der Päpste und Luthers ausgedrückt. Allen ist erst im Geiste,
dann in der Materie der U m schw ung widerfahren. In der ganzen R eihe
bleibt es aber gerade die L eistu ng der englischen Revolution, ihre beiden
Unterabschnitte bereits zeitlich so zusam m enzudrängen, d aß die Zwischen­
zeit fast vernachlässigt werden kann und man von 1 6 4 9 ^ 1 6 8 9 e*ne
E poche bilden darf.
D ie französische Revolution hingegen vollendet sich in einem gro ß en
Atem zuge. So entspricht es ihrem Bewußtseinsgrad. U nd die russische
m u ß sie darin übertrum pfen, indem sie den revolutionären Zustand ein­
fach festhält, so d aß grundsätzlich die Revolution selbst von 1 9 1 7 an be­
ständig währen m u ß . Trotzdem ist selbst in Frankreich und R u ß lan d das
Gesetz des doppelten A n fan gs oder A nlaufs noch erkennbar geblieben.
D ie Bourgeoisie Frankreichs hat erst i 83 o durch den B ü rgerkön ig m it
dem R egenschirm und dem berüchtigten A u sru f „Enrichissez-vous“ , B e­
reichert E uch, die A lleinherrschaft erlangt. E in kurzes N achspiel war
also erforderlich, um die R eaktion der Restauration wegzublasen. D ie
Russen haben o ft gedacht, auch sie würden durch eine solche Reaktion
des W e iß en Schreckens hindurchm üssen. U nd die m eisten Europäer haben
auch m it einer solchen russischen „R estauration“ noch nicht aufgehört,
in Gedanken zu spielen. D ie Zeitungen deuten dergleichen o ft gen u g an.
O ffe n sich tlich ganz ohne G rund, rein aus der französischen Perspektive,
spukt dieser Restaurationsgedanke. Aber das Gesetz des doppelten A n ­
fan gs hat in R u ß lan d sich in F o rm eines Vorspiels entladen, nicht eines
Nachspiels. D as entspricht dem vorausbewußten logischen Charakter der
russischen Revolution, ihrem NachmittagsdaXum. D ie B ew u ßtheit dreht
die Z eitfolge um ! D as Vorspiel ist die sogenannte erste russische R evolu­
tion von 19 0 5 . Ih r fo lg t die wirksam e als zweite. A lso die K larheit w ächst
in F o rm folgender R eihe von Doppelakten:

1 0 7 5 — 1 1 2 2 | Investiturstreit
12 0 0 — 1 2 6 8 1 A u sro ttu n g der Stau fer

i 5 i 7— 1555 f Lutherische R efo rm ation


1756— 1763 1 Preu ßen s Siebenjähriger K rie g
1 6 4 9 — 1 6 6 0 f G reat R ebellion (Restoration o f Freedom )
I 1 6 8 8 — 1 6 8 9 I G lorious Revolution

2 Hosenstock
*7
1 789— 1 8 1 5 I G ro ß e Revolution
1 83 o l Julirevolution

1905 f Erste russische Revolution


1917 1 Zweite russische Revolution

D er Kalender der Revolution


Schon die französische Revolution wollte k ra ft ihres Selbstbewußtseins
aus der bisherigen Zeitrechnung herausspringen und eine eigene begin­
nen. E in solches Heraustreten aus der Zeitrechnung hätte natürlich die
europäische Geschichte vernichtet, wenn es geglü ck t wäre. U nd in W a h r­
heit ist der Durchschnittsfranzose bekanntlich überzeugt, d aß es vor 1 7 8 9
keine Geschichte, die diesen Nam en verdient, in E u ropa gegeben habe.
D as g ilt aber fü r jeden Durchschnittsprotestanten ebenso. A u ch er beginnt
die W eltgeschichte, die ihn wieder anfängt zu interessieren, m it der N eu­
zeit, d. h. m it Luther. Vorher verm utet er finstere Nacht, die N ach t des
Mittelalters. A lso auch er beginnt eine neue Z eit 1 6 1 7 . D ie Geschichte
nach R ückw ärts ändert eben ihren Inhalt m it jedem neuen revolutionären
U rsprung des Völkerlebens nach Vorwärts. N och in den W ehen der R efo r­
m ation, seit i 5 Ö2, bezahlen die Fürsten der A ugsburgischen R eligio n das
gro ß e Geschichtsw erk der M agdeburger Zenturiatoren, das die gesam te
K irchengeschichte bis zu Huss hin als Vorgeschichte des Antichrists um ­
schreibt. Von 6 0 0 — i 5o o herrsche „dichteste Finsternis“ . D a m it wird
zuerst der R au m gesch affen fü r die B e g r iffe M ittelalter und Neuzeit,
die ein Protestant, G e o rg Horn, nach der Leidensschule des D r e iß ig jä h ­
rigen K rieges dann ausdrücklich gep rägt hat. Neuzeit ist also ein pro­
testantischer K a m p f r u f , der die babylonische Z eit der Päpste abtrennt vom
Zeitalter des befreiten Christenm enschen. Ä h n lich hat schon C o la di R i-
enzi als Volkstribun dem italienischen Stadtstaat R o m vom 1. J u li i 347 2111
ein Jahr E in s „liberate R ei pubiicae“ aufoktroyieren wollen. Dieser Versuch
Rienzis der eigenen Ä ra ist übrigens fast gleich zeitig dem ersten G ebrauch
des W o rtes „R evo lu tio n “ fü r politische U m w älzungen. Astronom ie und
Kalender stehen eben im B u nde und sind wie Theorie und P raxis fü r die
W eltanschauung jeder Revolution. R ienzo selbst w ählt fü r sein T u n den
stärksten P salm vers: „E rneu ern w irst du das A ntlitz der E rd e“ und sagt:
„ R o m bleibt auch nachdem die E rde ihr A n tlitz erneuert h a t !“
Jede R evolution b rin gt also die einheitliche Zeitrechnung der euro­
päischen V ö lker in G e fa h r und dam it ihre geistige V erw andtschaft und
Gem einschaft.
U nd diese G e fa h r steigert sich von M al zu M al. D en n auch die stolze
geistige Selbstgenügsam keit der Engländer, ihr R ü ck zu g aus Eu ropa,
geh t a u f das Selbstgefü h l zurück, das sie ihrer glorious revolution ent-

18
nommen haben. Auc h die splendid isolation hat zu einer A rt eigener
englischer Zeitrechnung geführt, die sich vor allem in der ihnen eigen­
tüm lichen Periodisierung der Geschichte ausdrückt. Jene erwähnte Epoche
der „Industrial Revolution“ näm lich teilen sie m it keinem Geschichts­
bilde der Festlandsschulbücher! D ie Siegelum schrift des Parlam ents der
„R ebellen“ zählt in der uns nun schon vertrauten W eise die Jahre ab
1649 neue „ o f freedom restored“ . „Ä gyp tisch e Finsternis“ nen­
nen die Engländer dieselben Zeiten i 4o o — 1600, in denen nach prote­
stantisch-deutscher Lesart gerade die „densissimae tenebrae“ aufgehört
hatten. So vernichten die Engländer die Ä ra der deutschen R eform ation.
Ebenso also wäre ein S ie g des Bolschewistischen Kalenders die end­
gü ltige V ernichtung Europas, und er ist auch so gem eint und ge­
wollt. D ie E in fü h ru n g des Sechs-W ochen-M onats zu f ü n f T agen ist den
Russen ein heiliges revolutionäres Anliegen, das Juden und Christen
ihren K u ltu s unm öglich m achen soll. Aber noch m ehr ändert die rus­
sische Revolution den K alender: Sie betrachtet alle bisherige Geschichte
nach dem berühm ten W o r t nur „als Vorgeschichte der m enschlichen
G esellschaft“ . „D a s R eich der F re ih e it“ bricht erst an m it der proleta­
rischen W eltrevolution. D ann hört die Vorgeschichte, d. h. alles, was
heute Geschichte heiß t, auf. Infolgedessen rechnen die Russen vom jüng­
sten Tag nach rückwärts. A lle Geschichte ist provisorisch; sie unterliegt
einem U rteil, das aus der E n d gü ltigk e it des Reiches der F reiheit stammt.
D ie neue russische Zeitrechnung feiert deshalb den 1. M ai als den T a g
der endgültigen Freih eit und die Oktoberrevolution als den T a g , von dem
an diese E n d gü ltigk e it sichtbar geworden ist. D avor ist N acht schlechthin.
D araus ergibt sich nun: D ie Zeitrechnung, die von vielen nur fü r ein
Instrum ent der H andelskam m ern und Kalenderfabrikanten angesehen
wird, ist unendlich viel mehr.
O b die V ölker w irklich 1 9 2 9 , 1 9 8 0 , 1 9 3 1 von C h risti G eburt an rech­
nen, oder ob sie von sich selbst und au f sich selbst allein rechnen, das
ist und bleibt der ganze Unterschied zwischen der N atur der Tiervölker
und der Geschichte des M enschengeschlechts. D enn in dem einen F a ll
„m ach t“ ein V olk seine Revolution und le g t sie bestenfalls den anderen
Völkern als seinen Sklaven auf.
D as L ich t geh t m it der Revolution au f und in die W e lt.
In dem anderen Fall der durchlaufenden Ära aber erschafft die Revolu­
tion sich ihr Volk und beru ft sie es an seine besondere A u fg a b e im Haus­
halt des M enschengeschlechtes. D ann aber flu tet die einzelne Revolution
als Welle in einem Strom 1
Von diesem Strom im ganzen sagt ein politischer Seher schon zu Zei­
ten der ersten Umwälzung, er ändere den C harakter der Zeit. D enn nun­
m ehr m üsse a u f die Geschichte der K irche eine neue veränderte G e­
schichte der m enschlichen G em einschaft als etwas qualitativ Neues fo l-

2* 19
gen! D am it ist die W ahrheit bereits klar ausgesprochen: Schon 1 2 0 0 ist
unser Jahrtausend a u f seine politischen Revolutionen getau ft worden 1
H eut nim m t man derlei nur „historisch“ . A ls K uriosität registriert man
jo a ch im v .F io re diese K ühnheit des Joachim de Fiore, vom Jahre 1 2 6 0 sein neues W e lt­
alter, das nachkirchliche beginnen zu lassen. U nd doch ist hier der g r o ß ­
artigste Versuch gem acht worden, für das Zeitalter der Revolutionen
eine Selbständigkeit gegenüber der altchristlichen Kirchenzeit zu erringen.
Joachim de F io re hat dam it als erster den neuen Charakter dieser Vor­
gänge erfaßt. Seine neue Zeitrechnung und Periodisierung verdient es,
in ihrem Zusam m enhang m it allen großen Revolutionen bis zur russischen
erkannt zu werden. Joachim v. Fiore hat m it seiner Lehre vom W eltalter
nachkirchlicher E rfü llu n g einfach recht. E r hat das neue Gesetz, dessen
letzter Vollstrecker Lenin hat werden müssen, erkannt. E r hat dabei die
erste Revolution notw endig m it dem ganzen Jahrtausend revolutionärer
D ialektik identifiziert. Aber er hat an der ersten rich tig die neue auf
geistige Stichworte aufgebaute D ialektik der Verw irklichung erfaß t. Ne­
ben dieser großen Geistestat verblaßt der moderne Streit über den B eginn
der Renaissance. D ennoch ist auch dieser nicht unfruchtbar. E r ist na­
türlich unlösbar. G em eint ist aber in diesem Streit die F ra g e nach der
Periodisierung der ersten nationalen Revolution des Abendlandes. W o be­
ginnt die italienische W iedergebu rt hinter der „B arb arei“ ? D as ist in der
T a t bereits im D ucento m it dem K a m p fr u f Hie W e lf hie W aiblin gen
der F all. Deshalb geh ö rt Fran z von Assisi, der jü n gere Zeitgenosse Jo­
achims de Fiore, fü r die Italiener in ihre „N eu ze it“ , weil er ihre R e ­
naissance oder Revolution einleitet. F ü r die Protestanten des Nordens aber
gehört derselbe Fran z ins M ittelalter. D enn erst 1 5 1 7 „nahet es hier gen
den T a g “ dank der wittenbergischen N ach tig all! F ü r die D eutschen be­
ginnt 1 6 1 7 die „N eu zeit“ .
Schulbücher- N euerdings unter englischem und französischem E in flu ß tauchen auch
epochen ^ unseren Schulbüchern Versuche auf, die N euzeit doch erst 1 b e­ 648
ginnen zu lassen und L u th er als m ittelalterlichen M enschen vor die T ore
der Neuzeit zu verweisen. Eine deutsche Periodisierung wird das niem als
sein, sondern eine englische.
F ü r E n gla n d ist sie richtig. Sie is t in das deutsche Denken zusam m en
m it den w issenschaftlichen Studien über den E in flu ß des Calvinism us
(Troeltsch, M ax W eber) eingedrungen.
M an hat dam it eine Ü berw indung der deutschen Ä ra der „N eu ze it“ an­
gebahnt, w ollte aber andererseits doch auch nich t vor der A n m a ß u n g der
„französischen“ Ideen von 1 7 8 9 kapitulieren. D araus hat sich dann das
englische 1 6 48 als K o m p ro m iß ergeben. D ies Jah r ist natürlich an sich
selbst in keiner W eise epochem achend. D enn fü r die E n glän der ko m m t
nur das Jah r 1 6 8 8 (oder 1 6 4 9 , was i^nen selbst aber unangenehm ist)
in Frage. Seine W a h l durch unsere geschichtlichen Schulbücher z e ig t nur,

20
wie unsicher und unordentlich die Periodisierung in ihnen zur Zeit ist.
M it gutem Grund. D enn alle die hier aufgezeigten Zeitrechnungen jeder
europäischen G ro ßm ach t fü r sich gehören in ein großes, von der R evolu­
tion einer G ro ßm ach t zur Revolution der nächsten fortrollendes F ilm ­
band als Teilrechnungen hinein. U nd um die ganze Zeitrechnung über
den Teilen geh t es uns hier.
Noch nach einer zweiten Seite ist aber der Gedanke der eigenen Z eit­
rechnung jeder Revolution ernst zu nehmen. E r drückt einen Notstand
aller Revolutionäre aus. Sie müssen, weil sie Europa in ein Zeitalter der
Revolution stürzen, diesen Absturz in jahrzehntelange Unruhe begrün­
den. Sie müssen Zeit gewinnen. D ie Revolutionen dauern näm lich lange.
1792 glauben die Franzosen schon zählen zu k ö n n en : Jahr I der R epu­
blik. D as m achte Mut. In W ah rh eit gab es dam als noch nichts dergleichen,
und eben deshalb haben die Franzosen diese Zeitrechnung wieder auf­
geben müssen, so wie C ola d i R ienzi i 347 die seinige. V ictor Cousin hat
näm lich von diesem angeblich republikanischen Zustand der Jahre 1792
bis i 8 o 4 treffen d g e sag t: Die erste Republik war keine Staatsform, son­
dern eine Krisis. U nd dieser Satz g ilt nicht nur von der französischen
Revolution.
D ie Revolutionen unterscheiden sich vom Staatsstreich dadurch, d aß sie
nicht T a g e oder W ochen, sondern viele Jahre dauern. Sie sind eine Krise,
ein Einschm elzungsvorgang, der alle Anschauungen, Einzelzüge und Sit­
ten des Volkes in W e iß g lu t versetzt. Einen Volkscharakter p rägt nicht ein
Staatsstreich um, sondern nur eine Leidenszeit, durch die alle Zeitgenos­
sen in die H ohe Schule genom m en werden. E s ist die totale, das V o lk m it
W ahnsinn bedrohende vaterländische U m kehr, von der H ölderlin spricht
Deshalb ist z. B. eine kurze Revolution wie die von 1 8 4 8 in D eutschland
weder m it der französischen Revolution noch m it der deutschen R efo rm a­
tion zu vergleichen. D ie M enschen eines Volkes bestehen j a aus vielen
Jahrgängen. E in V o lk im ganzen kann daher in seiner Substanz nur um ­
gebildet werden, wenn mindestens d reiß ig Jahrgänge, eine ganze Gene­
ration in eine solche U m w älzung verstrickt werden. K eine solche R evo­
lution ist vollendet, ehe nicht die Jahrgänge, die sie angehoben haben, und
die Jahrgänge, die nichts m ehr von dem wissen, was vor ihr gewesen ist,
sich begegn et sind und diese von jenen den Sinn des Unternehm ens über­
liefert erhalten haben. M ehr als d re iß ig Jah rgän ge der europäischen V ö l­
ker — mindestens die 1869— 1899 geborenen M änner — standen unter
W a ffe n und lagen in den Schützengräben Eu ropas, als die W eltrevolution
des Bolschewism us ausbrach. E rst diesem U m stand verdankt die russische
Revolution ihren umwälzenden Charakter. i 848 ist eben deshalb keine
wirkliche Revolution.
Dia Zeiträum e der älteren Revolutionen sind ähnlich umfassend. W ir
können nun die Zahlen einsetzen:
R u ß lan d (W eltkrieg 191/ 1— 1 9 1 7 ) 1917-
Frankreich 1789— 1792; 1792— 1815
England 1 6 4 9 — 1 660. 1688
f 1 7 6 6 — 1 7 6 3 P reu ßen
Deutschland 1517— i 555
1 1 7 4 0 — 1 7 4 5 Österreich
Italien 1200— 1268
Papsttum 107h— 1122

Diese Epochen sind die Zeiten der Krise. Es ist in ihnen noch nichts end­
g ü ltig ausgemacht. Sie sind die Zeiten des Em porschneilens der neuen
Volksart, der E m pörung. A ber die Ausgew ogenheit, die B ekleidung des
alten Volkes m it der neuen T rach t ist noch nicht eingetreten.
Ausbruch Diese Epochen der E m p ö ru n g sind aber ungeachtet ihrer langen Dauer,
un n e trotzdem scharf begrenzt am A n fa n g wie am Ende. D ie Revolution bricht
aus, und die Revolution ist zu Ende. D e r 2 1 . Januar 1 6 4 9 , der I - Juli 4
1 7 8 9 , der 3 i. O ktober 1 5 1 7 , an dem L uth er seine Thesen anschlug, sind
wirkliche Einschnitte. D as berühm te W o r t Goethes von der K anonade
von V alm y hat seine R ichtigkeit. D ie W eltgeschichte ist an jenem T age in
eine neue E poche eingetreten. D enn m it V alm y g in g die französische R e ­
volution über in die europäischen Revolutionskriege. 1 7 9 2 ist der E in ­
schnitt fü r die französische Revolution, weil sie heraus tritt aus Paris und
Frankreich in den Erdteil, der sich ihr entgegenstem m t und dem sie sich
nun m itteilen m u ß , soll sie nicht auch in Frankreich vernichtet werden.
1 7 9 2 ist daher ein Einschnitt wie 1 9 1 7 , nur m it um gekehrtem Vorzei­
chen! 1 9 1 7 bei der russischen R evolution gehen drei Jahre europäischen
K rieges der R evolution des Landes voraus. B ei der französischen gingen
drei Jahre R evolution in Frankreich den dreiundzw anzig Jahren K rie g in
E u ropa vorher. D ie russische R evolution erweist sich auch hierin als die
R evolution der Antithese, des logischen Gegensatzes. In Frankreich erst
Revolution, dann K rieg, R u ß lan d hingegen steuert aus dem K r ie g dreier
Jahre m it der W e lt in seine innere R evolution hinein. D ie französische
R evolution ist seit 1 7 9 2 m ehr und m ehr ein europäisches Ereign is g e ­
worden. D ie russische hingegen seit 1 9 1 7 von Jahr zu Jahr ausschließ­
licher eine russische A ngelegenheit. M an denke nur an 1 9 1 8 , 1 9 1 9 , 1 9 2 0
in E u ro p a und m an sieht sofort, d aß der P fe il der russischen R evolution
aus der W e lt nach R u ß lan d w e ist; der französische P feil zeigte aus Paris
in die W e lt.
D ie Revolutionen brechen in sehr verschiedener F o rm aus, aber: sie
brechen aus. D ie englische m it dem B ü rgerkrieg, die deutsche m it dem
B a u ern k rie g; der Papst, einzelner K irchenfü rst, vollzieht die entschei­
dende Revolution in der Zw iesprache m it sich selbst. U nd d o ch ist sie
eine ebenso unwiderrufliche. P ap st G regors V I I . D ictatus Papae von 1 0 7 6

22
und die D eliberatio de statu im perii von 1 2 0 0 sind W illensdokum ente,
hinter die es ein Zurück nicht gab,
A ls die Bolschewisten sich aus der Entente, die sich fü r R u ßlan d in den
K rie g gestürzt hatte, durch ihr selbständiges Friedensangebot an die
M ittelm ächte herausgerissen, als das V olk von Paris die Bastille dem E rd ­
boden gleichm achte, schufen sie Tatsachen, die jedes Anknüpfen an das
Vorher unm öglich machten.
D er B ruch m it einem Rechtszustand, die L eu gn u n g der G rundlagen
dieses Rechtszustandes ist das Kennzeichen der Revolution. D enn das
R echt ist ja nichts Äußerliches. D as R ech t ist der vernünftige Ausdruck
des Gem einschaftslebens und seiner Funktionen oder Machtverhältnisse.
E s le g t aber dam it zugleich den W e g zur kü n ftigen Ä n deru n g dieser
M achtverhältnisse in die H ände bestim m ter M achthaber und Gruppen.
R echt ist also A usdruck der O rd n u n g und W e g zur Änderung. Deshalb ist
Revolution durchaus nicht etwa b lo ß Änderung. Au ch nicht nur gew alt­
same Änderung. D as ist jeder Staatsstreich auch. D er einfache Rechts­
bruch leugnet die O rdnung. D er Staatsstreich verschm äht das in der O rd ­
n ung bereit gehaltene Stichw ort zur Ä nderung der O rdnung. Revolutionen
sind beide nicht, sie verändern nicht das Antlitz der Erde.
Sondern Revolution ist noch etwas D rittes dazu! Sprechen einer neuen
Sprache haben w ir es genannt. Sprechen einer bis dahin unerhörten
Sprache, m it anderen W o rten A uftau chen einer anderen L o gik, Operieren
m it anderen Beweisen. Deshalb lassen auch wir in jeder Revolution den
S til zu W o r t kom m en, den sie selbst erwählt h at; in Thesen, Stam m ­
bäumen, Schauspielen, Zahlen — die E rzäh lu n g erzählt in jedem K apitel
verschieden. D ie R evolution spricht eben nicht nur deutsch oder italie­
nisch, oder russisch, sondern da spricht die eine nationalökonom isch, die
andere philosophisch, die dritte ju ristisch ; diese redet konfessionell, jene
diplom atisch, und die liturgische Sprache geh t allen voraus. A u f der O rgel
der W eltgeschichte stellt jed e R evolution sozusagen eine O ktave dar, eine
in sich vollständige, gegen alle anderen D enkarten abgesetztp Tastatur.
U nd der B eginn jeder R evolution besteht im Lautw erden, im Ü berlaut­
werden dieser neuen Stim m lage. Jede Revolution h at eben einen anderen
T o n der B ew eisführung angewendet, eine Denkweise, die der vorrevolu­
tionäre M ensch einfach nicht b e g r iff noch vernahm. E r hörte sie w ohl m it
dem O hr, aber vernehmen m it der V ern u n ft kann weder Poincare einen
Lenin, noch Burke einen Robespierre, noch Karl V. einen Luther. W enn
die neue Syntax jed er R evolution einm al gesprochen wird, so liegt ein
Sinnbrach vor; und der alte und der neue M ensch erscheinen einander
wahnsinnig. E in e dritte M öglich keit besteht nicht.
D eshalb ist die Z eit in jenen E pochen w ah rh aft aus den F u gen . B rü ­ Gewesene
Menschen
der, Freunde, K o llegen , m iteinander erzogen, stehen plötzlich gegenein­
ander au f und verstehen sich nicht. Sie sind sich gegenseitig nicht M ensch

s3
und Mensch, sondern der alte ist dem neuen ein Leichnam , verwesungs­
re if; der neue ist dem alten ein W ahnsinniger. Beide sind empört. D er
alte A dam ist im Geiste außer sich über den W ahnsinn. D er Revolutionär
hebt das Schwert, weil er außer der alten toten W e lt lebt und es um sie
also nicht schade ist.
Diese Doppelseitigkeit des Zeitalters der E m p ö ru n g ist w ich tig zu er­
kennen. Röm ische und Protestanten sind in der R eform ation gleich erbit­
tert und der G egner ist dem einen und dem anderen gleicherweise unver­
ständlich. L u th er verbrennt des Papstes Bannbulle ebenso leichtherzig
wie der L eipziger H erzog G e o rg bei der E ntlarvung Luthers als H ussit
ab b rich t: „D a s w alt die S u ch t.“ D ie letzte Instanz des röm ischen K ath o ­
liken; der absolute W e r t der Konkordanz und E inheit in der Christenheit
hat aufgehört, der letzte W e r t und Bezugspunkt zu sein seit Luthers Ver­
kündigung. U nd nun purzelt die gesam te Syntax der katholischen V or­
stellungswelt durcheinander. U m der E inheit willen hatte m an geduldet,
geschwiegen, gesteuert, gebetet. P lötzlich wird diese letzte B eziehung al­
len Glaubenslebens a u f die sichtbare E inheit durch die entgegengesetzte
a u f die eigene Seele ganz allein abgelöst. Eine U m w ertung aller W erte
ist die F o lg e. D ie N ichtum gew älzten und die Revolutionierten leben in
entgegengesetzten W ertw elten und sind einander eben deshalb nicht
Mensch. D ie Russen nennen die Em igran ten „Gewesene M enschen“ . D ie
G u elfen und Ghibellinen, Legitim isten und Jakobiner hassen einander
m it gleicher G lu t, H einrich IV . setzt G re go r V II. - ab, und G rego r V II.
setzt H einrich IV . ab.
D ie Pam phlete der Kaiserlichen gegen die H eiligsprechung von „S ilb e-
rich “ und „ G o ld lic h “ durch die Päpste sind das U rbild aller Gottseibei­
unspam phlete, etwa der L ig a gegen den Bolschewism us, der Päpstlichen
gegen L u th er, der L egitim ität gegen die Jakobiner.
Unser Zu- U nser Zusam m enbruch vom 9. Novem ber 1 9 1 8 m a g als ein m arkantes
sammenbruch Q e^enj^ .gp .e| ^|enen j f i er w ar näm lich keine Parteiung. V ielm ehr war
der G lau be in allen H erzen erloschen. E s hat am 9. N ovem ber so w enig
Parteien wie am 4- A u gu st 1 9 1 4 gegeben. Selbst die düm m sten K ö p fe
und härtesten Herzen w ußten, daß es zu E n d e war. E ine E m p ö ru n g gab
es nicht. W a s an sie gem ahnte, w ar höchstens eine N achahm u n g der rus­
sischen R evolution und wurde daher h e ftig und schnell abgeschüttelt wie
eine ekle E n tstellu n g der w irklichen L age, eben des Zusam m enbrechens.
S o gar der deutsche K om m unism us bleibt 1 9 1 8 hinter dem w irklichen
E reign is dieses deutschen Zusam m enbruches zurück. E r ist daher unge­
schichtlich fü r unsere deutsche, über ihn im Zusam m enbruch schon hin­
w eggeschrittene Geschichte. A lle ohne Unterschied m ußten sich in die
neue W e lt finden und eine neue Sprache stam m eln. E s gab keine G u elfen
und Ghibellinen. E rst später, je weiter w ir uns von dem T ie fg a n g des E r ­
eignisses entfernt haben, sind Versuche a u f getaucht, politische G e gen -

a4
sätze aus älteren Revolutionen zu beleben. Aber ob m an die sozialen
Gegensätze der russischen oder die nationalen der französischen oder die
staatlichen der englischen oder die konfessionellen der deutschen Revolu­
tion betrachtet, sie alle vermögen die Deutschen, die den Zusam m enbruch
gem einsam erlebt haben, eigentlich nicht m ehr in der T iefe zu spalten,
die zu einer echten Revolution gehört.
Dieser Unterschied ist w ich tig fü r die Feststellung, wann denn die
echte Revolution zu Ende ist und zu E nde sein kann. Jede Revolution be­
droht ihr V olk m it Verwilderung, Selbstzerfleischung, Blutvergießen.
D ie Unterw elt des W ahnsinns und des Hasses wird aufgerissen. Aber
diese Unterw elt d arf ihre Tore schließen, sobald A lte und Neue das erste
gemeinsame W o r t sprechen. W en n also die Alten ein T röpfchen des neuen
Geistes in sich — so oder so — hineingelassen haben, die Revolutionäre
aber die leibliche Fortdauer der Reste des A lten genehm igen. Beide ge­
währen sich also durchaus nicht dasselbe. Sie vergelten nicht Gleiches m it
Gleichem . Sondern der Revolutionär geduldet sich, der alte A dam aber
öf fnet sich. Jener, der H im m elsstürm er, nim m t also a u f die E rde R ü ck­
sicht, so wie sie nun m al ist; dieser aber, der Verwurzelte, horcht au f
Geister, die er bisher in die unterste H ölle verbannt hatte und die er nun
als K inder des Lich ts und der O berw elt respektieren, m it denen er teilen
lernt.
D as Zeitalter der R evolution sch ließt niemals m it einer vollständigen Das Ende der
Revolution
Rasur des alten Menschen, sondern m it einem neuen Bund. D ie erste R e­
volution hat m it einem „K o n k o rd a t“ ( 1 1 2 2 in W o rm s) geendet, einer
W iederherstellung des „ E in Herz und eine Seele sein“ . A ber jede R e­
volution nennt ihren Friedensschluß anders. K onkordat des Papstes, R e­
ligionsfriede der Deutschen, Revolution der Engländer, Restauration der
Franzosen. D as R em is besteht aber auch nicht etwa in einem K o m pro m iß
zweier Prinzipien. D as ist unm öglich. Sondern in einem Zusam m enleben
des alten, natürlichen Volkstum s m it den vergeistigten T r ä g e m der Revo­
lution. An die Stelle des gegenseitigen V ernichtungskam pfes tritt m it dem
E nde der Revolution die Erziehungsarbeit. M an kann sogar sagen: E rst
m it diesem A ugenblick beginnt der wirkliche E rn st fü r die revolutionären
Prinzipien. D er A llta g allein kann sie ja erhärten.
A ls i8i5 trotz der völligen N iederlage Frankreichs die Bourbonen die
„C h a r te “ , d. h. eine geschriebene V erfassung gewähren m u ß ten und den
Verkauf der A delsgü ter nicht rü ck gän g ig m achten, da votierten sie fü r
10 v. H. der Revolution. D enn die Infektion durch das „S tü c k P ap ier“
war erfolgt. D ie französische Revolution w ar dam it zu Ende, d aß auch der
(Vorrevolutionär ihre W irk lich k eit zugeben m ußte.
A ls die R eich sregieru n g i 5Ö2 und i 555 dem Passauer und A ugsburger
ileligionsfrieden zustim m te, da stim m te sie Luthers Lehre von der w elt-
ichen O b rigk eit zu. D as war gen ug, um zum Frieden zu kom m en. N ich t


um den W ahrheitsgehalt der neuen Lehre geh t es am Ende der Revolu­
tion, sondern darum, sie in die Wirklichkeit hineinzulassen und ihr das
ständige Hineinwirken in die W irklichkeit zu erlauben! U m ihre Bewäh­
ru n g geh t es fortan. A ls die Deutschen Konradins H inrichtung in Neapel
1 2 6 8 ungerächt ließen, d a sanktionierten sie m it dieser A usrottung der
Stau fer die A btrennung der K önigsherrschaft in Deutschland von der
über R om und Italien, sie sanktionierten also den Ü bergang des „w ahren“
Kaisertum s au f den Papst, wenn auch nur fü r R o m und Italien.
1 6 6 0 m u ß te K a rl II. die K ä u fer der Revolutionsländereien in ihrem
Besitze lassen, so wie R u d o lf von H absburg d ie sämtlichen Gerechtsame
des Papstes und der K irchenfürsten anerkennen m ußte, ehe er das deut­
sche Kaisertum erneuern durfte. D ie B esitzfrage sehen wir als die ent­
scheidende fü r das Ende der Revolutionen hervortreten. W ährend der
Revolution g ilt der S a tz : L a possession vaut titre, der Besitz ersetzt den
Rechtstitel. D as Ende der Revolution ist die S c h a ffu n g eines Rechtstitels
fü r die neuen Besitzer. Unbeschadet aller D ifferenzen in D o gm a, W e lt­
anschauung und Prinzipien gew innt m an einen gemeinsamen Rechtsbo­
den.
U nd als 1 6 8 8 Jakob II. das G ro ß e Siegel von E n glan d bei seiner F lu c h t
außer Landes in die Them se w a rf und dam it eingestandenerm aßen alles
R egim en t im Lande stillegen wollte, da trat er genau in den gleichen
Streik, m it dem die englischen Steuerverweigerer den B ü rgerkrieg b e­
gonnen hatten, und erkannte dadurch selbst an, d aß der alte Rechtszustand
vergangen w ar und die Selbsthilfe eines „C o n ven ts“ des Volkes nun zu
R ech t geschah.
Ebenso 1 1 2 2 : D as W orm ser K o n kordat erkannte die neue Stellu n g
des Papstes neben dem K aiser an, indem sie ih m in Italien bei der Be­
setzung der B istü m er den V o rtritt ließ.
W o rin bestehen nun diese ersten gem einschaftlichen W o r te ?
Jedesm al ist das erste m enschliche W o rt, das der alte A dam und der
ju gend liche R evolutionär m iteinander sprechen, w irklich und in der T a t
ein — m enschliches ! D enn niem als einigt m an sich über die D o gm en der
Revolution, über ihre materiellen Inhalte oder ihre geistigen Program m e
und Theorien. Sondern über Den einigt m an sich, der k ü n ftig diese gei­
stigen Gebilde auslegeu und deuten soll. M an n im m t einen neuen M en­
schen in den alten Lebenskreis hinein, m an rechnet m it einem Träger, den
m an bisher aus dem K reis des R ech ts ausgeschlossen hatte. H ingegen
m acht m an kein Zugeständnis in ideeller H insicht. Im H im m el einigt m an
sich nicht, aber m an einigt sich a u f Personen als T rä g e r der irdischen
R e ch tso rd n u n g! M an vertraut neuen Personen die E n tscheidu n g an fü r
die Z u k u n ft. H in gegen wie und was. sie entscheiden, ist nicht Gegenstand
des Kom prom isses.
D ie Revolutionen enden durch Zulassung einer neuen Personengruppe

26
zur Entscheidung. Es ist ein Vertrauen auf neue Personen und kein Kauf­
vertrag, wenn dem Papst oder den F ürsten oder dem Parlament oder den
Volksvertretern oder den Räten die Entscheidung über Steuern, Bischofs­
ernennung, Kirchenreform eingeräumt wird. Besonders deutlich ist ja
der Unterschied i 5 5 5 . Nicht etwa, daß in Deutschland reformiert werden
soll, wird beschlossen, sondern daß die Fürsten es sind neben dem Papst
und dem Konzil, die reformieren dürfen. Ähnlich liegt es in allen an­
deren Fällen. Nicht die Simonie bei der Bischofswahl ist im Wormser
Konkordat abgeschafft, sondern die Päpste sind eingeschaltet und können
fortan so simonistisch oder so wenig simonistisch schalten wie bisher der
Kaiser. Nicht was das englische Parlament beschließt, ist von Jakob II.
zugestanden worden. Aber daß es aus eigener Machtvollkommenheit be­
schließen müsse, lag in Jakobs Preisgabe des großen Siegels. Denn unter
dem großen Siegel von England mußte der König von England das Par­
lament berufen! Die Glorious Revolution bestand daher in dem Zu­
sammentritt eines Parlaments ohne königliches Ausschreiben!
Bei Nachahmungen der großen Revolutionen durch andere Länder wird
das Unnachahmliche dieser Gewaltübergänge meist übersehen. Man schafft
neue Rechtssätze und kann doch die originale Personengruppe nicht schaf­
fen, auf die es ankäme.
Wie will man auch die Huldigung der französischen Verfassung vor
Paris und doch auch die Angst vor ihm — der Präsident der Republik
wird in Versailles gewählt! — in Prag oder Belgrad nachahmen? Oder
wie kann der deutsche Staatsgerichtshof, der Parlamente auflösen kann,
den englischen Staatsgerichtshof darstellen? Die deutsche Einrichtung
besteht aus Beamten des Staats. Der englische Staatsgerichtshof hingegen
ist das Parlament selbst, vor allem aber das Oberhaus, also reiche un­
abhängige Vermögens- und Grundbesitzer. Die revolutionären Träger der
Gewalt — dort Paris, hier das Parlament — sind sowohl in der K raft
ihres Rechts wie in seiner Beschränkung durch eine vorrevolutionäre
Macht, durch Versailles dort, durch das Oberhaus hier unnachahmlich.
Das Ende der Revolution muß eben ein Stück des Alten weiterleben las­
sen und dafür muß durch das Ende die Personengruppe, die das Neue
emporgetragen hat, legitimiert werden. Personen und Rechte tauschen
sich also aus und durchdringen einander, nicht Rechte und Rechte.
Die Empörung ist gerade deshalb in geistiger Hinsicht nicht zu Ende
mit dem Ende der Revolution. Aber sie ist es in personeller und mensch­
licher Hinsicht. Und mit dem Menschen in Europa haben wir es ja zu tun.
Aber die Revolutionäre selbst sehen in dieses Ende der Revolution mehr
hinein als wir Nachgeborenen. Und daraus entwickelt sich eine zweite
Periode jeder Revolution. Diese zweite Periode, die wir hier aufdecken,
hat nicht etwa mit der sogenannten „Restauration“ oder „Reaktion“ etwas
zu tun. Von dieser haben wir schon kurz anläßlich der Vor- und Nach-

27
spiele von i 8 3 o und 1 9 0 5 gesprochen. W ir m einen etwas anderes. Die­
ses zweite Gesetz ergänzt erst die Leh re von den Revolutionen zu einer
vollständigen E in sich t in den seelischen G ehalt d er V ölkerkatastrophen.
Denn es zeigt, daß nich ts verloren geht, was die Revolution in die Seele
eingräbt. Die überpersönliche Gewalt zur U m bildung aller kom m enden
G eschlechter dürfen w ir den Revolutionen n u r beimessen, wenn ihre R u ­
nen eingeritzt bleiben und M acht behalten über die T aten d er Söhne und
Enkel der Revolution. Dies ist nun in der seltsam sten W eise d er Fall.
Verblendung Die R evolutionäre täuschen sich alle über den U m fan g des E rreich ten .
Demütigung Und so folgt jed er Revolution zunächst ein Zeitalter der V erblendung und
darnach ein Z eita lter der D em ü tig u n g . Je d e r D eutsche verbindet m it der
R efo rm atio n den D reiß ig jäh rig en K rieg. Und er tu t re ch t daran. Sie g e ­
hören zusam m en wie E m p ö ru n g und D em ütigung. E s ist, wie wenn die
über das N orm alm aß des M enschlichen em porgeschnellte G ewalt d er R e­
volution wieder eingeebnet werden m ü ß te d u rch eine zweite ebenso lange
E p och e d er D äm p fu n g und des Hinabsinkens. D er D re iß ig jäh rig e K rieg
ist n äm lich du rch au s kein Unikum .
Im m er tre te n Ep och en d er D em ütigung hervor, die eine erhebliche
Ausdehnung haben, ganz wie die E p och e d er Revolution selbst. Sie w er­
den heraufbeschw oren d u rch eine Zeit des Ü berm uts. Die einzelnen E r ­
scheinungen dieses Ü b erm uts sind in dem G eschichtsbild d e r einzelnen R e­
volutionen darzustellen. H ier sei n u r an die gröbsten T atsach en e rin n e rt:
die deutschen R eligionsparteien haben am A usgang des 1 6 . Ja h rh u n d e rts
den R eich stag zeitweise einfach lahm gelegt. D em Ü berm ut der protestan ­
tischen Päpstiein und ih rem inneren H ad er ist die S ch lach t am W eiß en
B erg e und d er D re iß ig jä h rig e K rieg gefolg t. D em Ü b erm u t Bonifaz* V III.,
d er in seiner B ulle U nam S an ctam die T heorie von der päpstlichen W e lt­
h errsch aft verkündet, fo lg t seine G efangennahm e und das babylonische
E x il d er P äp ste in Avignon bekanntlich a u f dem F u ß . D em Ü berm ut
der Bourgeoisie von i 8 3 o , d er in die Feb ru arrevo lu tio n von i 8 4 8 aus-
läuft, fo lg t die tiefe D em ütigung d er F ran zo sen d u rch den Staatsstreich
des 2 . D ezem ber m it allen seinen F o lg e n bis zu Sedan und der K om m une.
Diese E rfa h ru n g e n des sinnlosen C äsarism u s und des sinnlosen B a rri­
kadenkam pfes erst haben die d ritte R epublik erm öglicht.
Je n a und A u erstäd t und der T ilsiter F rie d e und eine Leidenszeit von
sieben Ja h re n haben dazu g eh ö rt, die p reu ß isch e Überheblichkeit, die auf
der g ro ß a rtig e n E rh eb u n g des Siebenjährigen K rieges beruh te, zu ku­
rieren .
E in w eniger bekanntes Beispiel ist das E n glan ds. Und doch ist es so
um fassend wie irgendeines d e r anderen. Und d er B riten V erach tu n g
F ran k reich s, die herau sford ern d e H altu n g, m it der sie W ilh elm s I I I . T rotz
gegen Ludw ig X IV . nach ahm en w ollten, h a t En glan d seine g ro ß a rtig ste n
K olonien gekostet und d am it die erste H e rrsch a ft über eine Wélt. Von

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ihrem Ü berm ut m u ß Burke seinen Landsleuten 1 7 8 0 sa g e n : „ W ir haben
so viel M acht und so viel Glück gehabt, daß seihst d er Bescheidenste unter
uns in die L aster und Torheiten von K önigen ausgeartet ist.“ In diesem
Ja h r e w aren aber auch F ran k reich , Spanien, H olland und Am erika im
K riege gegen En glan d. A n griff in Indien. Irland in vollster Erhebung.
R ußland, Schweden, D änem ark, P reu ß en , Ö sterreich, P o rtu g al stehen in
der „bewaffneten N eutralität“ gegen den Seeräuber. „ Je d e N ation wünschte
B ritannien gedem ütigt zu sehen“ (F ra n k lin ). D er am erikanische Un­
abhängigkeitskrieg w ar in W irklichk eit ein europäisches E re ig n is! Die
g ro ß en M ächte E u ro p as w aren es, die d arau f aus sein m u ß ten , die K olo­
nien von England loszureißen. „T h is is the essence of the whole struggle
extending over eight years and fo u g h t in all the seas o f the fo u r conti-
nents“ (R eich ).
N icht W ash in gto n und G ates haben bekanntlich die E n glän d er in
Am erika überw ältigt, sondern ihre ständige H erausford eru ng der F r a n ­
zosen und deren Seesiege bei Gap H enry. Die A m erikaner haben ein Ge­
fühl fü r ih re Dankesschuld gegen F ran k reich , die sich in ih re r V erehrung
fü r L afayettes P erso n zusam m enfaßt. Als G eneral P ersh in g 1 9 1 8 die
ersten Truppen in F ran k reich landete, da sp rach er n u r die drei W o r t e :
Lafayette, nous voilä. N icht um En glands, sondern um F ran k reich s willen
ist dah er schließlich Am erika 1 9 1 7 in den W eltk rieg gezogen. Aber ge­
rad e diese V erknotung des am erikanischen U rsp ru n gs m it der D em üti­
gung Englands d u rch F ra n k re ich w ar uns D eutschen n ich t gegenw ärtig
genug.
D ie Zeittafel der Revolutionen b ed arf dah er der E rg än zu n g d u rch eine Die
solche der D em ütigungszeiten des E m p ö re rs. In diesen Zeiten scheinen die PrüfungM61t
E rru n g en sch aften der Revolution sinnlos gew orden zu sein. Beginnen wir
die Ü bersicht gerade m it dem eben erw ähnten Zustande Englands in seiner
D em ütigung. Denn gerade deren U m fan g ist uns D eutschen zu wenig ge­
läufig.
D as E n g lan d von 1 7 7 6 bis i 8 i 5 schien um sonst die F re ih e it der
M eere, um sonst den F ried en daheim au f seinen Inseln in seiner Revolu­
tion eingeheim st zu haben.
G erade so scheinen im 1 2 . Ja h rh u n d e rt des P ap sttu m s E rfo lg e sinnlos
gew orden, als M ailand von Barbarossa zerstö rt w urde, ein Gegenpapst
d u rch den K aiser eingesetzt w urde, d er nun die B isch öfe von K aisers Gna­
den weihte, 1 1 6 6 der K aiser K a rl den G roß en in A achen heilig sprechen
ließ und seinen Sohn zum H errn Süditaliens m ach te und dam it den P ap st
auch in Italien um zingelte und als 1 1 8 7 Jeru salem verloren ging, das
1 0 0 jäh rig e Ziel des P ap sttu m s und des Abendlandes.
Ü ber das Sinnlosw erden der E rru n g en sch aften der R efo rm atio n in den
Greueln des D reiß ig jäh rig en K rieges b rau ch t m an kaum etwas zu sagen.
Im m er rich tet sich die D em ütigung au f den K ern d er Revolution. G erade

29
das Kleinod der R eform ation , L u th ers D eutsche Sprache, h at der D reiß ig ­
jäh rig e K rieg in G efahr gebracht durch die Auslieferung des Landes an
Spanier, Schweden und Franzosen und den E in b ru ch der welschen Sp ra­
che an allen deutschen H öfen.
W enn die Päpste 1 2 0 0 — 1 2 6 8 Italien gesäubert hatten von den F re m ­
den, so saßen sie i 3 o g seihst au f frem dem Boden, fern von R om , und alle
unerm eßlichen O pfer schienen um sonst gebracht.
Aber es scheint n u r so. Je n e D em ütigung geht nich t bis ans Leben bei
diesen G roßm ächten. W ir werden aber noch sehen, daß eben gerade an
dieser Zeit der D äm pfung zwei Län d er, näm lich Spanien und Schweden,
gescheitert sind! D as Leben ih rer Revolutionen ist an der D em ütigung er­
loschen. Allerdings eben doch wohl deshalb, weil es kein echtes Leben ge­
wesen ist. Die Zeit der D em ütigung aber gewinnt durch das Gegenbeispiel
Schwedens und Spaniens ein neues Gesicht. Sie erscheint als P rä fu n g szeit.

Z eitta fel der R evolutionen


A u sb ru ch : D ictatus Papae. En de W o rm se r K onkordat
{
1 0 7 5 — 1 1 2 2
1 1 54— 1 1 9 8 P rü fu n gszeit d u rch F rie d rich I. und H einrich VI.

1 2 0 0 — A u sb ru ch : D eliberatio de statu im perii. E n d e : H inrichtun g


1 2 6 8
K onradins
1 8 0 9 — I ^ l l P rü fu n g sz e it: Avignon, die Päp ste im E x il

1 7 8 9 — i 8 i 5 A u sb ru ch : 1 4. Ju li B astillesturm . E n d e : Die C h arte


1 7 8 9 — 1 7 9 2 Die Revolution
1 7 9 2 — i 8 i 5 D ie Revolutionskriege
1 848 — 1874 P rü fu n g sz e it: Napoleon III. und die K om m une. Annahm e
d e r Republik m it 1 Stim m e M ehrheit

1 9 1 4 — 1 9 1 7 D e r W eltk rieg . D er A usbruch des W eltkrieges wird von


* allen Russen als der W e g zur Revolution angesehen. Son-
d er-F ried en san g eb o t der Bolschew isten

1 9 1 7 — . . . Die W eltrevolution

D er H istoriker wird niem als zum A strologen w erden wollen und scheut
dah er alle Zahlenspielerei. Und d och dü rfen w ir n ich t aus F e ig h e it u n ter­
lassen, die L än gen d er Revolutionszeit und d er P rü fu n gszeit ausdrücklich
in V ergleich zu setzen. E in B lick au f die vorstehende Tabelle zeigt n äm ­
lich, d aß die E n tsp rech u n g en in d er D au er auffallend genau sind. D iese
E n tsp rech u n gen ließen sich noch viel genauer stim m en m achen, wenn
w ir aus diesen Zahlen etwas beweisen m ü ß ten . D as wollen w ir aber nicht.
Denn die P ed an terie von Zahlenm ystikern, der nur die Zahlen etwas sa­
gen, ist so verkehrt wie die F lü ch tig k eit dessen, d er die Zahlen nich t auch
reden läß t. In die beiden entgegengesetzten F e h le r m öchten w ir nich t

3o
verfallen. Die Zeitlängen haben bestim m t auch etwas zu sagen. Gewiß, sie
m achen nicht die Geschichte. Aber die Zeitlängen gehören offenbar zur
Gestaltwerdung der Revolution gesetzm äßig hinzu. Die siebzig Ja h r e in
Avignon entsprechen zu deutlich dem K am p f zweier M enschenalter gegen
die S tau fer und sie heben sich zu deutlich ab von dem einen M enschen­
alter, das R eform ation und D reiß ig jäh rig er K rieg beanspruchen, als daß
sich nich t hier eine wirkliche R egel uns entgegentrüge, die w ir zu be­
achten haben. Die Gezeiten der Revolutionsabläufe sind nicht belanglos,
sondern rhythm isch. Ereignisse, die den C harakter der M enschen u m for­
m en, lassen sich n ich t in M om enten zusam m endrängen. Sie wollen lange
durchlitten werden. Sie rufen aber über weite, d u rch Jah rh u n d erte ge­
trennte En tfernun gen nach einer rhythm ischen E n tsprechun g. In der Ge­
schichte der Revolutionen entsprechen sich Strophe (E m p ö ru n g ) und
A ntistrophe (D em ütigung) d u rch ihre F risten . Sie vollziehen sich also,
soviel ist aus dieser E n tsp rech u n g zu folgern, innerhalb eines Ganzen, in­
nerhalb eines K räftehaush alts, der die scheinbar getrennten Jah rh u n d erte
gebietend üb ergreift. N ur wenn es eine solche T otalität gibt, ein solches
K raftfeld , in das hinein alle K rä fte wirken, ist diese Feststellung sinnvoll.
Die künftige F o rsch u n g wird d arau f zu achten haben, den R hythm us der
Totalum w älzungen zu prüfen. W ah rsch ein lich n u r weil und nur sow eit
sie Totalum w älzungen sind, rücken sie an das G esetzliche d er W eltto tali­
tä t nahe heran. D er D urchb ru ch von qualitativ Neuem , der Schöpfungsakt,
ist uns d u rch die P lan ck - und B oorschen Fo rsch u n gen faß lich als gesetz­
m äß ig und revolutionär zugleich. A tom und W eltall verwandeln und er­
halten sich von K atastro p h e zu K atastrop h e, aber keineswegs gesetzlos.
So h at sich E u ro p as W eltzustan d o ffen b art als der eines Jah rtau sen d s der
Revolutionen, die in fortlau fen d er Steigerung sich ablösen. Jed e S tro m -
* stufe dieses Ablaufes weist in sich eine rhythm ische G liederung auf.
B etrach ten w ir nun den E rd ra u m , den dieser G eistesstrom heim sucht
und kultiviert. F ra g e n w ir n ach E u ro p a.
III. DER POLITISCHE HORIZONT: DAS ABEND­
LAND ODER EUROPA

1 . D as A bendland oder E u ro p a
uropa ist g ram m atisch ein W iderw ort. Denn es ist „zugleich M ehr­
E zahl und Ein zah l“ . Zum Beispiel schreibt Nelson 1 7 9 6 : „E n glan d wird
bei Kriegsende fast ganz E u ro p a zu seinen F ein d en haben.“ O der Peel
sagt, daß 1 6 4 8 zuerst die Staaten E u ro p as eine wirkliche Republik g ro ß e r
M ächte zu bilden schienen.
Die M ehrzahl ist jedem , der von E u ro p a h ö rt, so fort gegenw ärtig. Aber
eine Einzahl, eben E u ro p a , w ird dabei stillschweigend vorausgesetzt.
Genau um gekehrt ist es m it dem durch Spengler neu betonten W o rte
Abendland. H ier scheint alles Einheit. D as Abendland h at ein Schicksal,
einen Lenz und einen „ U n te rg a n g “ . Aber diese Einh eit ist genau solch
ein K u n stg riff wie die Vielheit bei E u ro p a. Auch im Abendland werden
stillschweigend K aiser und P ap st, Nationen und K önigreiche m it voraus­
gesetzt.
Das W o r t Abendland weist also au f die ausdrückliche, der Nam e E u ­
ropa au f die stillschweigende Einh eit unserer G eschichte. Diese These h a ­
ben wir in ih rer T ragw eite zu erfassen und zu begründen, ehe die D ia­
lektik der europäischen Revolutionen und der abendländischen R e fo rm a ­
tionen du rch sichtig werden kann.
Novalis h at um 1 8 0 0 in seiner berühm ten — erst 1 8 2 6 gedruckten —
S ch rift „D ie C hristenheit oder E u ro p a “ die Gleichsetzung dieser beiden
M enschheitskreise „C hristen h eit“ und „ E u ro p a “ ausdrücken wollen. Sein
geistvollster Gesinnungsgenosse aus der R om antik, F rie d rich Schlegel, be­
gründete im J a h r e i 8 o 3 die Z eitsch rift „ E u ro p a “ . Auch sie versuchten
den christlichen C harakter E u ro p as festzuhalten. D ieser V ersuch ent­
sprich t etwa dem der heiligen Allianz, der ja unm ittelbar aus diesen Ge­
dankengängen erw achsen ist. E in bestim m tes E rd geb iet, der E rd teil E u ­
rop a, sollte die christliche W e lt sein und bleiben. M ochte auch schon die
neue W e lt Am erikas dam als hereinblicken in die alte, so schien es doch
noch m öglich, eine geschichtliche M acht „die C hristenheit“ , und eine geo­
graphisch e Länderm asse „ E u ro p a “ zu r D eckung zu b rin g e n : Die heilige
Allianz sollte offen stehen den ch ristlich en Souveränen E u ro p as. D er Sul­
tan w ar dah er ausgenom m en. Aber schon dieser D eckungsversuch der
C hristenheit m it E u ro p a wies eine bezeichnende L ü cke a u f : D er P a p st
w urde schon dam als n ich t zum B e itritt au fg eford ert. Die K önige und
K aiser haben also dam als genau so gehandelt wie die Staatsm än n er und
Präsidenten bei d er G ründung des Völkerbundes 1 9 1 9 .
In dieser W eglassu n g des Pap stes zeigt sich d er wahre C h arak ter die-

3a
ses Deckungsversuches der R om antik. Die beiden B eg riffe der Christen­
heit und E u ro p as sind von ganz verschiedener Gewalt.
D er leibhaftige von beiden ist dam als, um 1 8 0 0 , aber schon m itnich­
ten m ehr die C hristenheit, sondern E u ro p a. Das beweisen viele V or­
gänge.
Schon F rie d rich W ilhelm I I I . hatte in seiner Verkündigung vom
1 8 . März i 8 i 3, die der Staatsrat v. Hippel verfaß t hatte, sich nicht nur
an sein Volk gewendet, sondern auch h in zu g efü gt: „Meine Sache ist die
aller Gutgesinnten in E u ro p a .“ D ann hatten die Verbündeten in C hau-
m ont 1 8 1 4 das E uropäische K o n zert aufgerich tet als die R echtsgem ein­
sch aft der europäischen Völker. D as Europäische K onzert hat im P a rise r
Fried en i 8 5 6 auch den Schützling F ran k reich s, Englands und Öster­
reichs im K rim kriege gegen R ußland , eben die aus der heiligen Allianz
ausgeschlossene Türkei, in seinen K reis aufgenom m en.
D as Eu rop äisch e K onzert trä g t also keinerlei nam entlich-christliche
Züge m ehr. Dasselbe gilt von der dem okratischen Gegenbewegung in
E u ro p a seit den d reißiger Ja h re n , die m eist n u r als „das Ju n g e D eutsch­
land“ , „das Ju n g e Italien“ usw. bekannt gew orden ist. Als V orgängerin
der späteren sozialistischen Internationale wollte aber diese Bew egung
schon die „ju n g en “ Völker zusam m enfassen in einem Bunde, genannt
t,das Ju n g e E uropa \
Auch hier dient also E u ro p a , der rein geographische B e g riff, zur B e­
zeichnung eines bestim m ten Geistes, der tro tz seiner B estim m theit keine
ausgesprochen christlichen Züge trä g t. Im G egenteil: dieser europäische
Geist ist m indestens gleichgültig gegen die K irch e und das C hristentum .
Heine drückte witzelnd die T aufe zum E n treebillett in die europäische
K u ltu r herab, und das ist sie dann auch fü r die Judenem an zipation des
1 9 . Jah rh u n d erts überwiegend n u r noch gewesen. Man sieht, das W o r t
E u ro p a fü h rt und h at das Ü bergew icht erlangt über die ch ristlich -germ a­
nische W e lt schon seit 1 8 0 0 , auch wenn die R estauration sich des W o r ­
tes E u ro p a n och so zu bedienen versuchte, als sei es auch ih r, der ch rist­
lichen R estaurationsbew egung, zu eigen.
B ei Nietzsche h a t dann der „g u te E u ro p ä e r“ die letzte Verbindung m it
christlich er Ü berlieferung abgeschüttelt. Die europäische K u ltu r steht
selbständig, als etwas F re ie s, G ottloses, A u ßerchristliches in den J a h r ­
zehnten von 1 8 7 1 — 1 9 1 4 au frech t, um dann im W eltk rieg um käm pft,
verhöhnt, verteidigt, bewiesen und zu grund egerich tet zu werden.
Zwischen Nietzsche und uns ist dah er das W o r t m ehrere R angstufen
hinabgesunken.
H eute ist E u ro p a schon fast n u r noch ein rein geographischer B e­
g r if f ; z. B . in C oudenhove-K alergis B e g riff P an eu rop a wird dam it aus­
drücklich ein E rd teil unter den anderen bezeichnet. Die g rö ß e re Einheit
der anderen E rd teile, A m erika, Asien usw., wird so g a r dem kleinen E u ro p a
3 Rosenstock 33
drohend vorgehalten, eben dam it P an E u ro p a sich desto schneller bilde.
Nach Disraelis V orhersage im L o th a ir : The change o f nam e fro m
Christendom to E u ro p e had proved a failure and a disastrous one. And
what w onder? E u rop e is not even a quarter o f the globe! M it anderen
W o r te n : E u ro p a wird hier bereits von außen und oben auf der Landkarte
als ein Erd teil wie alle anderen angesehen. D agegen käm pfen andere
Gruppen noch um den R an g der europäischen K u ltu r. Z eitschriften wie
die „Eu ropäische Revue“ appellieren an die Pflege des europäischen Ge­
schm acks des 1 9 . Jah rh u n d erts. Die europäische Union des Prinzen R o -
han versucht eine W iederbelebung der aristokratischen A ufklärung aus
dem E u ro p a des 1 8 . Jah rh u n d erts. Aber m eh r noch helfen uns die B e­
wohner der frem den Erdteile, einen besonderen europäischen G 6 ist und
nich t bloß eine geographische Einh eit „ E u ro p a “ trotz der E rsch ü tteru n g
des W eltkrieges w ahrzunehm en. A m erikaner und Ja p a n e r sprechen und
schreiben fast durchw eg von E u ro p a als einer Einheit. D er „ trip to E u ­
ro p e“ des A m erikaners erin n ert an die Eu rop areise, die der junge Adlige
m it seinem H ofm eister im 1 6 ., 1 7 . und 1 8 . Ja h rh u n d e rt zu absolvieren
hatte. R avages, eines A m erikaners, B u ch „T h e M alady of E u ro p e “ 1 ist
nu r einer von den vielen Versuchen Am erikas, die geliebte und bewunderte
Quelle aller ih rer eigenen Lebensw erte, die europäische K u ltu r, zu ver­
stehen und zu retten.
W en n der A m erikaner von E u ro p a sprich t, so schreibt er allen E u ro ­
päern besonders eine E ig en sch aft zu, die er daheim in diesem A usm aße
nich t kennt und nich t erkennt, j a vor der er erschrickt. Diese E ig en sch aft
ist zw ar etwas rein Negatives, aber auf ih r beruht sicher ein g ro ß Teil
der europäischen G roß taten . E s ist das die S ch ärfe der K ritik — 1 „Y o u
are m o st critica l.“ Andere E rd teile, d e r O rient, A m erika, ertrag en die
rücksichtslose K ritik nich t, weder an sich noch gegen andere geübt, auf
der E u ro p as F o rtsch ritte begründet worden sin d : K ritik am Bestehenden,
am S taat, an der leiblichen N atu r, K ritik an V orurteilen, K ritik am Men­
schen, K ritik an G ott, als ernstgem einte, bohrende, zweifelnde, forschende
K ritik — das ist ein Elem en t europäischen Lebens, ohne das es undenk­
bar ist.
W ie ist nun in das W o r t E u ro p a jene eigentüm liche M ischbedeutung
von G eographie und G eist hineingefahren ? Sehen wir heut ein E n tb lät­
tern der einheitlichen B lüte der europäischen K u ltu r, eine A bschüttlung
zuerst des christlichen, dann des kulturellen Beisatzes überhaupt, so daß
nu r die europäische Landkarteneinheit übrigbleibt, so ist dies doch eine
letzte Verfallserscheinung am E n d e der Neuzeit,
der Antike ^ as Eigen tü m lich e an dem N am en E u ro p a ist nicht diese Auslaugung
des B eg riffs, sondern um gek eh rt die einstige Z usam m enpressung eines
geistigen G ehaltes in einen rein geograph ischen N am en. D arin o ffen b art
1 Vgl. auch den englischen Buchtitel „The European anarchy“ von G. Lowes Diekinson.

34
sich ein eigenartiger Glaube. In das Vorgebirge von Asien, das die P h ö ­
nizier des A ltertum s deshalb das W estland (E reb ) nannten und das fü r
sie in K reta anfing, E u ro p a, wird ein geistiges Privileg hineingesehen.
K ra ft dieses geistigen Privilegs gebührt E u ro p a die kulturelle V o rh err­
sch aft über alle Erdteile und Völker. D ieser R aum glaube m u ß bem erkt
und begriffen werden, dam it die Tragw eite des W o rte s E u ro p a sich er­
schließt. E s ist ein Glaube, der sich a u f das Sichtbare, im R aum e sich
D arstellende rich tet. Dieser Glaube ist der Glaube der Neuzeit. E r konnte
erst entstehen im Zeitalter der g roß en Entdeckungen im H im m el und
au f der E rd e. E u ro p a ist ein B e g riff, der erst n ach d er En td eck u n g
Am erikas und m it der hum anistischen R enaissance sich durchsetzen
kann.
D er Nam e E u ro p a in dem pathetischen Sinn der europäischen K u ltu r Europa Karls
h at nichts zu tun m it der antiken M ythologie von E u ro p a. Denn er füllt
die Län d er E u ro p as m it dem H ochgefühl selbstverständlicher V orherr­
sch aft. E in solches B ild der K önigsj u n gfrau E u ro p a hatte der G eograph
W ech el K arl V. überreicht. D a w ar E u ro p a nach A rt einer F r a u dar­
gestellt, und zw ar von Spanien her, näm lich m it Spanien als H aupt,
F ran k reich als der linken Schulter, D eutschland als d er B ru st, Italien
als dem rechten A rm , die türkischen und russischen L än d er als untere
Glieder, usw. U nd die G estalt tru g die K aiserkrone. D er G eograph Postei
kritisiert i 5 6 i W ech els persönliche Schm eichelei vor dem K aiser, fü g t
aber seinerseits die bezeichnende W en d u n g h in zu : „Abgesehen davon ist
die E rfin d u n g W ech els sinnreich. Denn m an kann dies Bild E u ro p as fü g ­
lich auch au f die E in tra ch t der Christenheit und au f die w ah r- und w ahr­
h aftige V o rh errsch aft Jap h ets beziehen/* So ist also der M ythus E u ro p a
Heu entdeckt und neu gegeben worden in einer Z eit, in der E u ro p a und die
W e lt n ich t von C reta und Athen h er (wie im A ltertu m ) angesehen w ur­
den, sondern von P a ris und Mainz und B ologn a her. In den K reuzzügen
kom m t es auf fü r den fränkischen W esten , der den Osten erobert. Die
Italiener des 1 4. Jah rh u n d erts, die Väter der weltlichen politischen V or­
stellungen, verwenden es zuerst. „ F ra n k re ich liegt im Z en tru m von E u ­
ro p a“ , konnte ein M inister 1 7 7 7 an Ludw ig X V I. schreiben. Die erste
G roß m ach t, die das W o r t in diesem neuen Sinne geb rau ch t h at, ist das
Pap sttu m . D er P ap st, in dessen Leben sich die W end e von der konziliaren
und christlichen zur hum anen und heidnischen Renaissance vollzogen h a t:
Aeneas Sylvius P iccolom ini, aus Siena, als P a p st P i u s I I . ( i 4 5 8 — i 4 6 o ) ,
hat eine S ch rift, „ E u ro p a “ , verfaß t. U nd e r ist selbst — B esteiger des
H ochgebirges! — der erste „g u te E u ro p ä e r“ in Nietzsches Sinn gew or­
den. B ei ihm schon bedeutet E u ro p a , m it der C hristenheit gleichgesetzt,
keinen bloß geographischen B e g riff, sondern einen G egenstand religiös-
patriotischer V erehrung m it hohen Gefühlswerten1. Sein nich t m inder
R. Wallach, Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter. 1928. S. 67.

35
geistvoller A rt- und Zeitgenosse Lorenzo Valla hat es ausgesprochen, daß
er das fü r ihn selber unbestim m te und verschwom mene W o rt Abendland
verwerfe und dafür „ E u ro p a “ wähle.
Das T heatrum Eu rop eu m ist eine g roß e Z eitsch rift des 1 7 . Ja h rh u n ­
derts, die politische N achrichten bringt von dem Schauplatz (T h eatru m )
der dam aligen groß en W e lt. E s ist die weltlich gewordene g ro ß e Politik,
die sich in E u ro p a in der europäischen Staatenw elt zu H ause weiß. E u ­
ropa ist das Becken, in dem sich die weltlichen groß en M ächte vorfinden.
N ur was zu E u ro p a geh ö rt, hat m itzureden. N ur fü r E u ro p a ist sozu­
sagen der K om m ent und Ehrenkodex dieser weltlichen Staaten gefunden
worden und gültig. D er klarste- Ausdruck dieser Vorstellung ist die L eh re
vom europäischen Gleichgewicht. Diese englische L eh re des 1 7 . Ja h rh u n ­
derts setzt ja voraus, daß es n u r auf E u ro p a ank om m e1. Innerhalb dieses
E u ro p a soll dann die eigenartige stillschweigende Einheit in der ausge­
sprochenen Vielheit d u rch den m echanischen B e g riff des G leichgew ichts
ausgedrückt w erden2. E in Gesam tzustand ist zw ar da, aber e r kann sich
nur in dem Gegeneinander der g ro ß en M ächte darstellen. D ie E in h eit ist
bloßer H intergru nd fü r die Gegensätze. Dasselbe h at schon der erste Ab­
schnitt von den groß en europäischen Revolutionen bis au f die russische
hin g ezeig t: Sie hingen m iteinander zusam m en und bildeten nacheinan­
der das W esen d er Revolution aus, ohne doch voneinander wissen oder
abhängen zu wollen. — D ieser Unabhängigkeit voneinander trotz Z usam ­
m engehörigkeit entspricht die Vorstellung vom europäischen Gleichge­
w icht und später des Europäischen K o n z e rts: Die Einh eit wird still­
schweigend vorausgesetzt, die Vielheit wird betont. Alle A ussprüche über
die europäische K u ltu r pflegen dah er eine seltsam unsystem atische A uf­
zählung darzubieten. Als das einzige G em einsam e aber der verschiedenen
europäischen K u ltu räu ßerungen lä ß t sich n u r ihre Unabhängigkeit und
ihre Freiheit angeben. W ir werden diesen beiden W o rte n U nabhängig­
keit und F re ih e it im m er wieder als den S ch lach tru fen aller K u ltu rk äm p fe
und Revolutionen in E u ro p a begegnen.
Gerade das b estü rzt die N ichteuropäer, daß sie deutlich eine eu ro -

1 Beispiel: 1690 heißt es: The Monarchy o f Spain is just upon the brink of falling
to the ground . . . Whorefore all the rest o f the Forces o f Europe stand at gaye, ex-
pecking the result of what England doth determine herein, considering us the counter­
balance which time out o f mind hath held the scales even between those two great Mon­
archies, for the Safety o f all the rest. State Tracts 169a, 8. 2 Bericht über eine
englische Debatte von 1690: „Our Redecessors ever held this to be a fundamental
Maxime of their Conduct, to hold the Balance equal between these two great Mon­
archies . . . in Europe . . . By which means in some sort they made them selves the
arbitrators o f Christendom . . . By remaining neutral we . . . cannot eschew being exposed
friendles . . . to the . . . Reproaches of all the rest of Christendom, . . . whereby the
name of Englishmen will remain so much in the Oblivion of Europe that nobody will
scarce remember there is such a Nation in the World.“ 1692 State Tracts. S. 11.

36
päische Gemeinsamkeit w ahrnehm en, schm ecken, fühlen und ertasten,
daß sie aber von den E u ropäern nu r Gegensätze genannt und gezeigt be­
kom m en, wenn sie einzelnes sehen und hören m öchten, und daß die E u ro ­
päer einander unerbittlich kritisieren. Die Bew ohner der neuen W e lt stau­
nen über diese E ig en sch aft „ to be critica l“ , m it der sie die alte W e lt e r­
schreckt.
W a s aber die Vielfältigkeit dessen b etrifft, was die „europäische K u l­
tu r “ ausm acht, so sei hier am E in g an g unsrer D arstellung n u r ein glän­
zendes W o r t von M aurice B a rre s aus d er Vorkriegszeit a n g e fü h rt: Vier
Einrich tungen seien es, die E u ro p a vor dem Ein b ru ch der B arb arei be­
schützten : die Sorbonne in P a ris, das englische P arlam en t, die röm ische
K urie und der preußische G eneralstab. Aussichtslos w äre es, zwischen
diesen vier Gebilden eine Abhängigkeit oder ein System aufzufinden. Und
doch konnte B a rre s in so zusam m enhanglosen Gewalten die Bollwerke
einer einheitlichen K u ltu r erblicken. U nd jedermann versteht gefühls­
m äß ig ganz g u t, was er dam it hat sagen wollen.
Der geistige Sinn Europas beruht also auf der ausgesprochenen Mehr­
zahl im Rahmen einer stillschweigenden Einheit.
Dies V erhältnis von Ausdrücklichkeit und Stillschweigen wurde am
besten durch das W o r t E u ro p a angedeutet. Denn E u ro p a weist auf eine
stum m e, sprachlose, rein erdräum liche E in h eit hin. E u ro p a ist daher ein
übertreibender G renzbegriff, der etwas verschweigt. „Europa“ sagt weni­
ger, als es meint. D as liegt daran, daß E u ro p a eine Antithese und ein P ro ­
test ist gegen ein W o r t, in dem A usdrücklichkeit und Stillschweigen an­
dersherum g elag ert gewesen sind.
Dies W o r t, das von E u ro p a überwunden worden ist, h eißt „Abend­
land“ .
. N ur das A usdrückliche kann sich w ehren. D er M angel einer ausd rü ck- Spengler
liehen E in h eit m ach t also das Dasein der Ein h eit zw eifelhaft. Deshalb h a t
z. B . Spengler dem B e g riff E u ro p a den K rieg erklärt. E u ro p a gebe es
nicht. E s gebe n u r die E in h eit des Abendlandes. D as Abendland — das
habe E in Schicksal, E in e Seele, E in e m ütterliche L an d sch aft als B oden,
aus dem es erw achsen sei. E u ro p a sei eine Fiktion. Spengler will dah er
den lange verschollenen Nam en des Abendlandes neu beleben und herüber­
erstrecken über die europäischen Ja h rh u n d e rte bis heran an die Gegenwart
und hinein in die Zukunft.
D as was Novalis m it der Christenheit ausdrücken wollte, das nennt
Spengler „A bendland“ und beschreibt seinen A u fgang und U n tergang.
Spenglers Abneigung gegen den leichtfertigen G ebrauch des Wortes
E u ro p a ist sehr angeb rach t. G erade wie w ir im ersten K apitel die ersten
Revolutionen E u ro p as dadurch einbeziehen konnten in die Revolutionsge­
schichte, daß w ir uns frei m achten von der Vokabel Revolution, gerade so
gelangt m an zu den Quellen aller europäischen F re ih e it und K u ltu r, wenn

37
m an vor die Vokabel E u ro p a zurückgeht. Alles ist angelegt, ausgesät und
verheißen, bevor das 1 6 . und 1 7 . Jah rh u n d ert der also gestalteten W e lt
den Namen E u ro p as beizulegen beginnen.
Die Taufe der K u ltu r der Neuzeit als der europäischen folgt der G eburt
dieser K u ltu r n aturgem äß in weitem Abstand.
D er ältere N am e dieses K ulturbereiches ist allerdings der des Okzi­
dentes, des Abendlandes. Aber auch ein zweiter Akt, näm lich der des
Namenwechsels von Abendland zu E u ro p a ist dieser K u ltu r wesentlich.
Und deshalb können wir uns weder a u f den einen noch au f den anderen
Nam en einseitig festlegen.
a Zunächst sind die U nterschiede zwischen E u ro p a und Abendland be­
achtlich : Von i 4 5 3 bis i 8 5 6 ist es frag lich gewesen, ob die „ e u ro ­
päische“ Türkei und der Balkan zur europäischen K u ltu r gehören. Aber
in E u ro p a standen die Türken eben seit i 4 5 3 , und m it ihrem Dasein in
E u ro p a m u ß te m an seit 1 6 2 9 m indestens, wo sie das erstem al vor W ien
rückten, m an m ochte wollen oder nicht, rechnen. Die Reichsgesetze tun
das denn au ch seit i 4 9 5 . Und ebenso näherte sich seit dem 1 6 . J a h r ­
hundert R ußlan d m eh r und m eh r der abendländischen W e lt. Schon um
i 5 o o haben Bologneser und M ailänder K ünstler K irchen im K rem l von
Moskau erbaut. U nd zum späteren europäischen G leichgew ichtssystem wie
zum E u ropäischen K onzert hat R ußland im m er g eh ört. D e M aistre h at
geradezu R ußlan d als die Leiche em pfunden, die E u rq p a unfähig m ache,
das lebendige Abendland wieder zu werden. D am it haben wir eine erste
Erkenntnis gew onnen: „ E u ro p a “ bildet den U m fan g des Abendlandes um .
Denn es erw eitert ihn um R u ß lan d und den B alkan, um die gesam ten
slaw isch-orthodoxen Völker, d. h. um einen Teil des O rients und der m o r­
genländischen K irch e. E u ro p a belastet die abendländische M enschheit
m it einer räum lichen V erantw ortung, die dem Abendland bis dahin fe rn -
gelegen h atte, näm lich fü r die geschichtslosen Lande jenseits der W e ich ­
sel, d o rt wo östlich d er Linie D anzig— T riest die reiche G liederung der
Halbinsel E u ro p a a u fh ö rt und die zun ächst unorganisierbar dünkende
Lan d fläch e des reinen K ontinentalklim as beginnt.
„ E u ro p a “ sch ließt also kulturell und politisch ein eigentüm liches Mis­
sionsgebiet ein. E s zielt „ E u ro p a “ freilich n u r a u f eine Mission des K ul­
turgeistes, also der natürlichen G eistesgüter. Denn C hristen brauchen die
Russen und die Balkanslawen n ich t erst zu werden. Aber politisch und
kulturell w artet und v ertrau t das übrige E u ro p a auf ihre E u ro p ä isie ru n g !
Sie gehören zunächst erst geograph isch zu E u ro p a . A ber indem sie in
diesem Sinne zu E u ro p a gerech n et w erden, ist darin zugleich der G laube
enthalten, daß sie unw iderstehlich der E u ro p äisieru n g erliegen w erd en !
In R ußlands F e n ste r n ach E u ro p a , in P etersb u rg , erschien noch im Aus­
gang des 1 9 . Ja h rh u n d e rts eine Zeitung m it Nam en „D er E u ro p äisch e
B o te“ als Ausdruck dieser selbstverständlichen M issionsaufgabe.

38
W ir finden hier O steuropa gegenüber jene eigenartige Verselbständi­
gung des kulturellen und politischen Geistes des „W esten s“ von allen
christlich-religiösen F o rm en bestätigt, die fü r den neuzeitlichen B eg riff
E u ro p a so charakteristisch ist.
W a s hat es nun dem gegenüber m it dem „Abendland“ au f sich ? D er Das
Okzident oder das Abendland h at einen Gegensatz, der dem Namen E u ­
ropa unbekannt ist, aber in dessen Beziehung zu O steuropa ein Gegen­
stück h a t : den Gegensatz des M orgenlandes. E u ro p a schließt seinen geisti­
gen Gegensatz, das „unkultivierte“ O steuropa, in seinen N am en, aber
nich t in den Sinn dieses Nam ens als einer K u ltu rm ach t ein. D as „Abend­
land“ stellt sich um gekehrt seinem östlichen Gegensatz gegenüber und
schließt ihn von vornherein aus seinem Namen aus. Aber nicht etwa aus
G leichgültigkeit! E u ro p a sieht in O steuropa eine kulturelle Zukunftsauf­
gabe. Das Abendland aber h at im M orgenland weitgehend seine kultu­
relle P flich t gegenüber der V ergangenheit zu erfüllen gesucht. Im m er
wieder h at das Abendland seine R ich tu n g gen Südosten g en o m m en : die
Zeit des Abendlandes, von der z. B. Spengler ausgeht und in der die Quel­
len E u ro p as au f rauschen, ist j a die Zeit der Kreuzzüge. Vom ersten
Kreuzzug des Ja h re s 1 0 9 9 bis zu den Zügen K arls V. gegen die M auren
und Türken, ja bis zur Sch lach t bei Lepanto, in der Ju a n d ’A ustria die
Türken unter dem Segen der röm ischen K irch e i 5 j 2 sch lägt — der
Sch lach ttag steht als M arientag seitdem im K irchenkalender — , reich t
auch die Zeit des abendländischen R itte rtu m s; die Zeit der K reuzzüge ist
die Zeit des Abendlandes.
D as Abendland rich te t sich in diesen Kreuzzügen a u f das Gelobte
Lan d. E s glaubt, ohne den Besitz des Heiligen G rabes nich t F ried en zu
finden. E s d rän g t in den R au m der Antike hinein, der ihm verloren­
gegangen ist, in den R au m , der die Antike gestaltet h a t: an die Küsten
des M ittelländischen M eeres. Aber gerade hier liegt die Schw ierigkeit.
„ E u ro p a “ h at sein Schw ergew icht um so viele B reitengrad e n ördlicher
als P aris und London und Berlin nörd lich er liegen als R om und Athen.
D er B e g riff E u ro p a ist also zu allen schon genannten U nterschieden hin­
zu auch eine V erlagerung des Abendlandes hinüber über die Alpen und
K arpath en gen Norden.

2. D ie zwei O kzidente u n d d ie Ü bertragung d er E in h eit von dem


antiken a u f den frä n k isch en O kzident
A ber auch das „A bendland“ , aus dem E u ro p a hervorgegangen ist, ist
n u r eine Sehnsucht nach dem Sü d rau m des Mittelmeers gew esen; es liegt
n ich t selbst in diesem S ü draum d arin n en ! D as ist das Entscheidende. So
wenig wie das antike E u ro p a , das in K re ta und Attika seinen Schw er­
punkt hatte, m it dem neuzeitlichen E u ro p a verwechselt werden d arf, das

39
von W esteu rop a aus au fg efaß t worden ist — gerade so wenig ist das
Abendland d er Kreuzzüge der Okzident der antiken W e lt!
Reich Karls Das Abendland der K reuzzüge ist das R eich K arls des G roßen. Und
des Großen ^ag K arls des G roßen ist ein B innenreich. P aris, A achen, F ra n k ­
fu rt sind die Säulen des K arolingischen Reiches. E s dringt nu r ängstlich
und fast widerwillig an die Küsten. Sarazenen und N orm annen können
vom M eer her eindringen. Denn die Franken haben keine F lo tte . D as rö ­
m ische R eich w ar die O rdnung des M ittelmeers. D as Frankenreicb ist die
Ordnung der ins europäische Festland vorgeschobenen röm ischen Grenz­
provinzen. N ordafrika und Ägypten — fü r R om geistig und finanziell
Hauptquellen des Lebens — , sie existieren nicht fü r den H orizont d es­
jen ig en „Okzidents“ , dessen ^Herrscher K arl der G roß e ist. D araus erklärt
sich, daß m an bereits an K arls H o f zeitweilig als Nam en seines R eiches
„ E u ro p a “ aufzubringen versucht hatte. Denn als R eich entsprach es nich t
dem Okzident der Antike. Die H errsch aft R om s hatte aus den drei dam als
bekannten Erdteilen fast gleichm äßig bestan den: E u ro p a , A frika, Asien
bauten das im perium aus ihren Küstengebieten um das M ittelm eer auf.
K arls R eich ab er lag nu r in E u ro p a. Und so h at m an sich u n ter den K a ro ­
lingern korrekt ausgedrückt, wenn m an einige Jah rzeh n te lang schon da­
m als (zuerst belegt um 7 8 0 ) vom R egn um E u ro p ae sprach . Aber als
R egnum E u ro p ae w äre die Festlandsm asse in jenen verkehrslosen Zeiten
nich t regierb ar gewesen. Solche R eiche ließen sich wohl erobern, aber
nich t halten. E in regierendes Prinzip, ein organisierender Gedanke m u ß
hinzutreten. K arl kann den ungeheuren P lan fassen, ein Festlan d zu o rg a­
nisieren, so wie die Antike n u r Küsten organ isiert hat. K arls R eich über­
trä g t den Gedanken der Antike a u f die riesigen ungegliederten R äu m e des
Binnenlandes. Alle Leistungen und Schw ierigkeiten d er abendländischen
und europäischen G eschichte seit K a rl dem G roßen beruhen a u f dieser
Ü bertragung. W a s in der Antike fü r den S tad tstaat rechtens w ar, das
sollte nun fü r den F läch en staat billig w erd en ! Die G eschichte des letzten
Jah rtau sen d s ist die W ied erg eb u rt der antiken Polis als m o d ern er F lä ­
chenstaat. Politik, D em okratie, Republik sind in der Antike B e g riffe des
städtischen Lebens, im zweiten Jah rtau sen d unserer Z eitrechnu ng aber
bezeichnen sie Lebensform en g ro ß e r Staatsgebiete von H underttausenden
von Q uadratkilom etern. A uf diese W eise bezeichnen alle diese „politi­
sch en“ W o rte heut ganz andere G rößenverhältnisse als in d er Antike.
Denn in der Antike w ar das M ittelm eer die V erkehrsader, und die K üsten
der Halbinsel waren die B ü rg ersteige des politischen Verkehrs.
Der Kaiser Den M ut zu dieser Ü b ertrag u n g des R eichsgedankens vom M ittelm eer-
der »re e rau m a u £ den Festlandsraum h at K arl aus seiner Stellung in d e r antiken
K irch e geschöp ft. Die fränkischen E ro b e re r hatten an der Spitze ih rer
H eere die L ä n d e r vom E b ro bis zur O der und Save erobert. A ber Ähnliches
w ar anderen H äuptlingen der G erm anen und ist auch einem A ttila g e-

4o
langen. Diese R eiche alle haben keine D auer gehabt. Auch das R eich K arls
hätte als dynastische H errsch aft keinen Bestand gehabt. (Schon in der
R eichsteilung von 8 0 6 drohte es so zu zerfallen, wie es dann 8 4 3 und
8 7 0 geteilt worden ist.) Aber dennoch ist es zusammengeblieben als
Abendland und als E u ro p a. D as letzte auf den T rüm m ern der Antike zu­
sam m eneroberte W eltreich faß te den Gedanken der translatio, der Ü ber­
tragu n g des R eichs und hielt ihn fest als organisierendes Prinzip. Die
protestantische G eschichtsschreibung hat sich weidlich über diese Legende
von der translatio im perii an K arl im Ja h re 8 0 0 zu R om in der P eters­
kirche als über eine Fabel des M ittelalters lustig gem acht. U nd doch liegt
die T atsach e heut offen vor Augen. Allerdings m u ß m an sich klar m a­
chen, was übertragen worden ist! Und das ist etwas überraschend. W ir
m üssen es kurz charakterisieren. K arls F ran k en h eer beh errsch te ein rie ­
siges europäisches R eich von Spanien bis M ecklenburg. Dies R eich
brauch te ihm also nich t „ü b ertrag en “ zu werden. A uf K a rl sind d ah er
keine kaiserlichen G ebietsansprüche übergegangen, nich t Gäsars noch T ra -
jan s oder Konstantins. Aber auf seine n ach Norden verlagerte L ä n d e r­
h errsch aft ging über die V erantw ortung fü r den Geist d er Antike, fü r
ihre K irch e. Die röm ische K irch e ist j a der E x tra k t d er Antike, ihre im
Absterben des gewaltigen Baum es übriggebliebene Quintessenz oder wie
F allm eray er es schön genannt h a t: ih re zum Überw intern bestim m te
F ru c h t. D er P ap st ist z. B . der letzte E u ro p ä e r, der noch gegenw ärtig
die antike T ra ch t trä g t, Latein ist auch in unseren Tagen die Sprache d er
K irc h e ; S ch rift, L ite ra tu r, K alender und A ckerbau d er Antike h at die
K irch e g erettet. Als das letzte weltliche Bankhaus Italiens in den Stü rm en
der Völkerw anderung verging, m achte d er P a p st G reg o r I. in R o m not­
gedrungen auch den Bankier.
Das organisierende Prinzip dieser Kirche war seit Konstantins Vorsitz
auf dem berühmten Konzil von Nicaea 3 2 5 der Kaiser gewesen. E r , der
K osm okrator, w ar „apostelgleich“ , weil er die Saaten, die überall in sei­
nem R eich die Sendboten des Glaubens ausgesät hatten, im R au m seines
Im perium s „o rg a n isie rte “ . Die K irch e w ar zw ar g estiftet w orden, G rab
um G rab, Gem einde um Gem einde, K irch e um K irch e, d u rch einen langen
Heilsweg d u rch die Zeit. A ber den so gewonnenen Raum d er K irche band
erst die Gewalt des K aisers über die bewohnte E rd e zusam m en zu einer
übersehbaren O rdnung aller K irch en , aller B isch öfe. D am it erst konnten
diese nun ih re r G leichzeitigkeit in ein und dem selben W e ltra u m , in der
Ökum ene, fro h w erden. A uf G oldgrund glänzte deshalb des jeweils regie­
renden byzantinischen K aisers Bildnis in den K irchen neben den Bildern
der Heiligen. D ie Heiligen hatten die Zeit d u rch die Ew igkeit b esieg t D er
jeweilige H errsch er aber w ar der B esieger der R au m g efah ren , d u rch das
Reich. G hronos w ird überw ältigt d u rch die H eiligen, Ökumene durch den
K aiser. N ur der K aiser von R om konnte die m achtlose geistliche Kirchp
Zusamm enhalten, konnte der Zerspaltung d u rch K etzer und Schism atiker
wehren, konnte den P atriarch en und Konzilien durch seine Beam ten Auto­
rität verleihen. Diese Rolle des Zusammenhalters der Kirche m u ß te in
den zweiten, den germ anischen Abschnitt unserer Zeitrechnung hinüber­
g esch afft werden. Und deshalb h at der vornehm ste unter den Bischöfen
der K irch e, h at der apostolische Vater in R om W eihnachten 8 0 0 auf den
nordischen K önig K arl das A m t des Konzilkaisers übertragen. D as H err­
scheram t d er K önige vom N orden der Alpen ist seitdem ein Kirchenamtl
D as A m t des Z usam m enhalters der ökum enischen, katholischen, rö m i­
schen K irch e w anderte dam it gen Norden und b rachte nun dem F e st­
landsreich den revolutionären Gedanken einer festen O rganisation.
Die M ittel dieser O rganisation konnten n u r kirchliche sein. K arl und
sein erster N achfolger haben sich eben deshalb ausdrücklich n ich t rö m i­
sche K aiser genann t — dieser Titel blieb den Byzantinern — , sondern
„all er christlich ste“ K aiser. B ald w ar dieser rein kirchliche Nam e nicht
m ehr n ö tig ; denn die bis dahin von dem kirchlichen R echtstitel n u r un­
terstützte m ilitärisch-dynastische E in h eit des Frankenreiches w ar schon
8 8 7 endgültig und eigentlich schon 8 4 3 zu Ende. N unm ehr blieb ohne­
hin einzig und allein die christlich-kirchliche E in h eit als der Sinn auch
des W o rte s „rö m isch e“ übrig. A uf einen rom an isch-kirchlichen, oder
anders ausgedrückt, auf einen Ausbau des antik-kirchlichen Z usam m en­
halts der F estlän d er, die d u rch das fränkische R eich erobert worden wa­
ren, m u ß te sich nun alle einheitliche O rganisation des Abendlandes grü n ­
den. E in e andere E in h eit gab es n ich t. Alles N ichtröm ische und N icht­
kirchliche, z. B . eine K etzerei wie die später der H ussiten, ließ also jedes­
m al A useinanderfallen ins Ungem essene fü rch ten . N ur K aiser und K irch e
verhießen d er W e lt die B ew ahrun g vor dem Chaos.
D as, was w ir seit dem 1 o. Ja h rh u n d e rt Abendland nennen, ist der V er­
such und die Aufgabe, eine solche k irchlich e-röm isch e O rganisation d er
vom K aiser b eh errsch ten Gebiete zu verwirklichen.
Alle gem einsam en U nternehm ungen dieser Gebiete konnten m ithin seit­
dem nu r u n ter dem kirchlichen und christlichen Zeichen gelingen. D es­
halb m u ß ten so g ar alle H eere des Abendlandes K reu zritter, alle K riege
des Abendlandes K reuzzüge w erd en ! Selbst die weltlichen O rdnungen wa­
ren also n u r dann haltbar, wenn sie sich herleiteten aus d er kirchlichen
O rdnung. Denn n u r dann konnten sie g rö ß e r werden als H äuptlings­
h errsch aften über Glane und L an d sch aften .
Das Abendland dürstete nach Einheit, so wie später Europa nach Viel­
heit. Denn die E in h eit fehlte dem Abendland. D eshalb m u ß te seine E in ­
heit erst heraufbeschw oren werden und deshalb m u ß te sie eine ausd rü ck­
liche sein. D ie Vielheit und die V erschiedenheit hingegen verstand sich
von selbst und blieb deshalb unausgesprochen wie alles Selbstverständ­
liche.

4a
W ir haben fü r E u ro p a die entgegengesetzte F o rm e l in Ansatz gebracht.
Die europäische K u ltu r rü h m t sich ja , daß sich „das M oralische bei ih r
von seihst verstehe“ . Sie ist daher ausdrückliche Vielheit, stillschweigende
Einheit. Das Abendland hingegen is t: stillschweigende Vielheit, ausdrück­
liche E in h eit! U nd diesen K lan g der Einh eit h at es noch heut gegenüber
E u ro p a. Und deshalb h at Spengler begreiflicherweise den Namen E u ro ­
pas verächtlich beiseite gew orfen, um die ausdrückliche Einheit seiner
Kulturseele „Abendland“ hervorzuheben.
Diese sauberen F o rm eln könnten genügen, wenn Abendland und E u ro p a
säuberlich auseinandergetrennt auf verschiedenen Planeten oder in un­
verbundenen W eltaltern lägen.

3 . D er W ettkam pf E u ro p a s m it dem A bendland


Aber es ist ja dieselbe eine Völkerwelt, um die sich — wie w ir gesehen
haben, schon zur Z eit K arls des G ro ß e n ! — die Namen Abendland und
E u ro p a streiten. W o m an die Glaubenseinheit der E u ro p ä e r herauskehren
will, nennt m an sie so gar heut noch Abendländer. E r s t re ch t natürlich
m uß m an also diesen Nam en fü r die Zeit bis i 5 o o bevorzugen, wo die
ausdrückliche E in h eit du rch die K irch e noch unbestritten vor aller Augen
als Ziel stand. G eographisch ausgehöhlt wurde diese V orstellung vom
„Abendland“ langsam schon seit d er Entd ecku ng einer neuen W e lt in
den neuen „okzidentalen“ Ländern Am erikas. D o rt w ar j a nun der W e ­
sten! Aber von 1 4 9 2 h a t es noch dreihundertzw anzig Ja h r e gedauert, bis
der g ro ß e G eograph R itte r als rückw ärts gew andter P ro p h e t ausrufen
k o n n te: „A ls A m erika entdeckt w ar, da w urde der europäische Okzident
ein M orgenland.“ Und als er das 1 8 1 7 au ssprach, da w ar es p raktisch
im m er noch ein „S eh erw o rt“ , der Z ukunft zugewendet. Und R itte r selbst
hat diese Um w andlung des Abendlandes in ein M orgenland als P rop h etie
em pfunden und noch i 8 5 o erst fü r spätere Jah rh u n d e rte A m erika, m it
Mexiko als Z en tru m , zum Schauplatze der höchsten R eife unseres Ge­
schlechtes vorherbestim m t. E r s t hundert Ja h re n ach R itte r h a t d er W e lt­
krieg die A m erikaner in die R olle der neuen R ö m e r und Okzidentalen
gegenüber den europäischen E ifersüch teleien einrücken lassen. „ E u ro p a “
ist m ithin von 1 4 9 2 bis 1 9 1 8 ein m ittle re r B e g riff zwischen dem Abend­
land des M ittelalters und dem d e r „A lten W e lt“ , d e r künftig a u f E u ro p a
lasten wird. 1

1 . Abendland bis i 5 o o ;
2 . E u ro p a bis 1 9 1 8 ;
3 . E u ro p a als M orgenland = A lte W e lt.

V ierhundert J a h r e also h a t diese neue V orstellung von unserer Alten W e lt


alä dem neuen O rien t geb rau ch t, um p raktisch zu w erden. Und w ir heut
Lebenden fassen ihn n o ch kaum . D ah er dü rfen w ir uns nich t w undern,

43
daß auch „ E u ro p a “ nich t an einem Tage den Christen des Abendlandes
faßlich w urde, sondern daß E u ro p a langsam entdeckt worden ist. E u rop a
wurde entdeckt als weltlicher Rivale zu Abendland in langen Jah rh u n d er­
ten des Abendlandes selbst.
U m seine Unabhängigkeit von dem theokratischen K aisertum der B y­
zantiner zu benennen, hieß so g ar schon K arls R eich regnum Eu rop ae.
E r s t re ch t seit dem 1 5. Ja h rh u n d e rt drückt der Nam e E u ro p a F re ih e it
von jed er T heokratie, von jeder despotischen U n iform ierun g aus. D er
„gu te E u ro p ä e r“ ist bestim m t weder ein bew ußter K irch en ch rist noch
ein un iform er M assenmensch.
Die W o rte Abendland und E u ro p a stehen also in einer inneren W ech sel­
wirkung. Sie beziehen sich aufeinander. Und diese Beziehung m u ß nun
n o ch erläu tert werden.
zwei D as W o r t Abendland ist ein W o r t der W iedergeburt. Die antike K irch e
enai anc n soll wiedergeboren werden in neuen Grenzen. Von den M itteln, n ach denen
diese W ied erg eb u rt der antiken K irch e g reift, haben wir schon die K reuz­
züge genannt. Andere werden wir noch kennenlem en. Zweierlei aber wird
schon d u rch das Beispiel der K reuzzüge d eu tlich : E s sind neue W e g e , der
Antike unbekannte W eg e, a u f denen m an die Antike zurückzugew innen
und zu erneuern h o fft. Die christliche Antike sollte von 1 0 0 0 bis gegen
i 5 o o wiederbelebt werden m it neuen, originalen M itteln. N ur die christ­
liche Antike sollte ursprünglich wiederbelebt werden. Von d er Antike
schien näm lich n u r ih re christliche E p och e w iedergeburtsw ürdig. Denn
n u r diese verbürgte j a die ersehnte E in h eit des Festlandes. M an wollte
also den S ch lu ß ak t der Antike noch einm al spielen, die Zeit von K onstan­
tin bis Ju stin ian und G rego r, die Zeit der vollzogenen Einh eit des E rd ­
kreises. Dies ist also das ein e: Okzident, Abendland ist ein R enaissance­
begriff, d er die letzte, an die eigene Zeit relativ n ah heranstehende Antike,
die christlich -kirchliche und die vereinheitlichte Antike, erneuert.
D as zweite is t: Diese R enaissance ist geograph isch zu einer A rt Ver­
renkung genötigt. D as Abendland, das die W ied ergeb u rt betreibt, und die
abendländische Antike, die w iedergeboren werden soll, haben ganz ver­
schiedene D aseinsbedingungen. D er antike Okzident h atte m eistens aus
Poleis, aus Stadtstaaten , R om , H ippo, K a rth a g o , aus dem gleichfalls
stren g zentralistisch verwalteten N iltal usw. bestanden. D er m ittelalter­
liche Okzident hingegen bau t seine neuen Städte j a n u r n ach träg lich hin­
ein in das von vornherein als E in h eit au fg efaß te g ro ß e , m eeren trü ck te
Binnenland. Man denke an die Städte, die dem g ro ß e n Festlan d szu g des
Abendlandes ih re B lü te verdanken, B ologn a und F loren z etwa, ohne die
das Abendland des M ittelalters undenkbar ist. Sie liegen an d e r S tra ß e
der deu tsch-fränkisch en K aiser n ach R o m . N ürnberg, A ugsburg, P ra g ,
M agdeburg sind Fern h an d elsstäd te des Landw eges. A u ßerdem aber
drängte m an noch nach Je ru sa le m zurück. Denn hier waren die W u rzeln

44
fü r den Glauben des Abendlandes an seine gottgew ollte Einheit. Und die
Raum hindernisse a u f dem K ontinent sind ja so ungeheure gewesen, daß
die E in h eit im m er wieder zu scheitern drohte und es d er verwegensten
H ilfsm ittel bedurfte, um sie zu retten. D aher dürfen w ir sa g e n : Die Züge
der Zeit von n o o — i 5 o o nach dem M orgenland verkörpern je n e erd­
kundliche Verrenkung, die d u rch die G leichsetzung zweier „O kzidente“ ,
des antiken und des m ittelalterlichen, hervorgerufen worden ist.
Diese H altung kann w örtlich und buchstäblich eine unirdische heißen.
Denn sie vergew altigt die Erdverhältnisse. D as U nirdische an ih r h at ih r
denn auch ein En de bereitet. Als K aiser K arl V. am Ausgang des M ittel­
alters, schon m itten in dar R eform ation , nach N ordafrika seinen K reuz­
zug unternah m , da verbündete sich F ra n z I. von F ran k reich m it den
Türken gegen den K aiser — dies B ündnis m it den Ungläubigen w urde als
das En d e der christlichen Solidarität des Abendlandes dam als allgemein
em pfunden. Die Gewalt der E rd e und die wirkliche L a g e des E rd teils
hatte dam it die j ahrhundertlange Aufgabe überw ältigt, die gelautet h a tte :
W ied ergeb u rt der kirchlich -christlichen Antike. D er Glaube an diese A uf­
gabe hatte dem W o r t Abendland K ra ft gegeben bis dahin.
Auch E u ro p a ist ein W o r t der W ied ergeb u rt. J a die m eisten Men­
schen, die nichts von der W ied ergeb u rt der christlichen Antike von 1 0 0 0
bis i 5 o o in F o rm des „Abendlandes“ wissen, kennen genau die R enais­
sance der heidnischen und vorchristlichen Antike, der das W o r t „ E u ro p a “
entstam m t. E u ro p a ist ja ein H um anisten w o rt; dem R ü ck g riff auf die
antiken S ch riftsteller und a u f die „klassische“ Ü berlieferung verdankt
auch der N am e E u ro p a seinen Siegeszug seit i 4 5 o . W ie alle H um anisten -
w orte h at es eine Spitze gegen die christliche R enaissance des M ittel­
alters. Europa ist ein Konkurrenzbegriff gegen Abendlandl Man lehnt es
als H um anist ab, noch län ger kirchlich -ch ristlich zu bezeichnen, was sich
so viel humaner m it E u ro p a ausdrücken lä ß t. H um an u m sch ließt eben
beides: die heidnische und weltliche A rt. U nd d er hum ane A usdruck
kann d ah er die heidnische Antike im weltlichen Staate der Neuzeit w ieder­
gebären helfen,
E u ro p a und Abendland sind also verstrickt in den W ettk am p f der bei­
den groß en R en aissan cen : die W ied erg eb u rt der christlichen Vorw elt
einerseits, der heidnischen Antike andererseits. Je n e Renovation des „Ok­
zidents“ h errsch t bis i 5 o o und tritt seitdem in den zweiten R an g als n u r
geduldet. Diese W ied erg eb u rt des klassischen A ltertum s, bis i 5 o o n u r
geduldet, selbst in F lo ren z d u rch Savonarola noch einm al vor i 5 o o (n äm ­
lich i 4 9 4 — 1 4 9 8 ) besiegt, triu m p h iert seitdem als H um anism us und
Klassik bis zum W eltk rieg . H ier erlisch t es unter dem E inb ru ch d e r
auß ereu ropäischen W e lt 1 9 1 7 .
B ei „A bendland“ w ar d u rch den unw irklichen aber unverm eidlichen
D ran g nach Jeru salem eine geograp h isch e V errenkung zustande gekom m en.

45
Diese geographische Verrenkung fällt bei E u ro p a m it einem Schlage fo rt.
E u ro p äer w erden, h eißt fü r K reuzzüge nichts m ehr übrig haben I D as M or­
genland g eh ö rt nich t m eh r als Aufgabe vor das Gewissen des Abendlan­
des, wenn doch die irdischen Erdteile E u ro p a, Asien, A frika natürlich
auseinanderfallen. D er Nam e E u ro p a w ar identisch m it den wirklichen
W ohnsitzen der „ E u ro p ä e r“ , er p aß te besser als Abendland. D ah er er­
leichterte d er neue Nam e die L ag e. D as W o r t „A bendland“ w ar seit dem
ganzYidüen ^ d aeitern der "Kreuzzüge und der E ro b e ru n g von K o n stan ti­
nopel d u rch die Türken ein lästiges und m ahnendes Gespenst. „ E u ro p a “
hatte den V orteil, unbelastet zu sein von diesen deprim ierenden E rin n e­
rungen. Aber zwei N achteile m ußten d afü r in K a u f genom m en w erd en :
D as Abendland hatte die unzweideutigen Grenzen der rö m isch -k ath oli­
schen K irch e. Davon w ar in „ E u ro p a “ nichts m eh r enthalten. R ußland
und die Türkei gehörten also wohl oder übel hinein n ach E u ro p a . Im m er
em pfand m an bei diesen groben Bissen Beschw erden. Selbst die heilige
Allianz ließ d ah er die Türkei noch draußen. Und R ußland s b arbarisch er
Zustand h at wie n ich ts anderes au f den übrigen Völkern E u ro p as gelastet
und besonders die Geschicke D eutschlands und Ö sterreichs geläh m t und
verw irrt. Aber derselbe de M aistre, der vor R u ß lan d als d er gefrorenen
Leich e gew arnt h at, die fü rch terlich stinken w erde, wenn sie einm al au f­
taue, h at doch die F re u n d sch a ft aller R eaktionäre m it ihm gepflegt. B e ­
sonders aber die protestantischen Staaten und G eister hatten keine innere
H andhabe, den Z aren anders zu behandeln wie die übrigen europäischen
Poten taten . B ism arck und die P reu ß en z. B. sind sich da keines U n ter­
schiedes bew ußt gew orden. W esh alb n ic h t? Dazu hätte es in ih rem In ter­
esse liegen m üssen zu betonen, daß E u ro p a n u r die U m keh ru ng des
Abendlandes darstellen könne und solle, also die stillschw eigende E in h eit
derselben Gebiete, die vorh er a u sd rü ck lich als Abendland zusam m enge­
halten h a tte n ! Dieses Eingeständnis aber w ar einem P ro testan ten un m ög­
lich. Denn das h ätte einen unlöslichen und sinnvollen Z usam m enh ang
zwischen M ittelalter und Neuzeit aufgedeck t, d er in dem W eltbild der
reinen „N euzeitler“ . der E u ro p ä e r, P ro testan ten und H um anisten ver­
pön t w ar. D ah er h at dieselbe heilige Allianz, die das osteuropäische R u ß ­
land in sich b eg riff, den P a p st, den T rä g e r der abendländischen E in ­
heitsidee, d rau ß en gelassen I S o seh r w ar m an in E u ro p a befangen.
Die Atomisie- U nd dam it kom m en w ir zu dem zweiten N achteil, d er sich bei d er W a h l
«m g der W eit von einsteilen m u ß te.
Jed es rein irdisch e Prin zip fü h rt stets zu r T eilung in im m e r kleinere
Bestandteile. Denn reine Geopolitik kann keinen A nspruch aus irgend
einem W etterw inkel abweisen. Istrien und E ls a ß , F iu m e und D anzig ha­
ben in d er reinen Erdk unde gerade so viel o d er so wenig E ig e n re ch t wie
die iberische oder die Balkanhalbinsel. E in m al das Ziel der E in h e it fallen
gelassen, konnte das Ziel n ich t die bloße Vielheit bleiben, sondern m u ß te

46
vielmehr den C harak ter einer Bew egung au f eine stets wachsende V er­
vielfältigung hin annehm en. Alle reinen W eltdinge führen zu einer A to­
m istik, in der jede Partikel gleichberechtigt neben hundert anderen steht.
J e m ehr daher die rein „natü rlich en “ Grenzen in und um E u ro p a anfin­
gen, gesuch t zu werden, desto m eh r geriet die G leichrangigkeit des K ul­
turbegriffes von E u ro p a zu dem K u ltu rb eg riff Abendland ins W anken.
Denn der M aßstab fü r g ro ß und klein, hoch und niedrig, wertvoll und
gleichgültig, den alle K u ltu r b rau ch t, wird in der rein geographischen
Betrachtungsw eise unaufhaltsam zersetzt.
So kam , was kom m en m u ß te : D er seelisch-kulturelle Inhalt E u ro p as,
bei N ietzsche n och einm al h erau f beschwor en, ist im W eltk rieg ver-
d am p ft _ ■ ; ! _■ _ if!
In „P an eu ro p a “ ist weder ein christliches noch ein heidnisches R e­
naissancepathos m e h r zu spüren. W e d e r Jeru sa le m und N icäa, noch
Hellas und R om leben da auf, wo m an geograph isch aus k o europäischen
Staaten ein P an eu rop a zusam m enzählt. D as P ath o s des H um anisten-
Nam ens E u ro p a ist heute verbraucht so wie das P ath o s des „Abendlan­
des“ . B au ern und A rbeiter der W e lt werden von diesen N am en nich t m eh r
beschworen oder begeistert. Konservative G eister des 1 9 . Ja h rh u n d e rts
haben dies Verblassen des K ulturleitsterns wohl bem erkt, aber dann in
ih rer N ot nu r rü ckw ärts zum Abendland hin gedacht.
D as haben beide, Abendländer und E u ro p ä e r, K atholiken und P ro te ­
stanten, M ittelaltler und Neuzeitler o ft übersehen, d aß ihre beiden
S ch lach tru fe sich ergänzen und daß sie dah er n u r so lange die Leiden­
sch aften erregen konnten, als beides gem einsam und w etteifernd wirk­
sam w a r : die M acht des abendländischen und die M acht des europäischen
Ü b ertragu n gs- und N achfolgegedankens. Zwei Antiken w etteifernd wie­
der zu beleben, ist die abendländisch-europäische A ufgabe gewesen, die
Ein h eit der K aiserkirch e und die F ü lle der Poleis.
Ob w ir dah er vom Abendland oder von E u ro p a sprechen — das ist
zwar eine V eränderung in der R an gord n u n g, aber keine V eränderung im
K ulturbestand. E s kann n u r E u ro p a geben, solange es auch zugleich
R este des Abendlandes gibt, denn E u ro p a verkörp ert einen K u ltu r­
anspruch, der n ich t in der L an d k arte steckt, sondern in d er einheitlichen
H erkunft E u ro p a s aus dem A bendland! Und um gek eh rt ist es eb en so ;
sobald die W ied ergeb u rtsau fgab e fü r das Abendland gestellt w ar, be­
gann au ch die ird isch e O rdnung eines E u ro p a s sich anzubahnen, weil
E u ro p a als Binnenlandw elt sich notw endig gegen den antiken Okzident
der Küstenw elt in der irdischen W irk lich k eit absetzen m u ß te. W i r werden
daher fo rtan die W o rte E u ro p a und Abendland unterschiedslos, d u rch ­
einander gebrauchen. Denn es g ilt, n o ch in d er russischen Revolution
einen Abglanz des abendländischen P a th o s zu w ürdigen (m an denke an
die öffen tlich e V erehrun g von Lenins Leiche und an den versuchten
„P ro letk u lt“ ), und in der abendländischen Revolution des P ap sttum s
bereits nüchterne geopolitische K räfte wie heut am W e rk e zu sehen.
Und w äre es n u r Napoleons K aisertum im W esten und sein rätselh after
und m ystischer K riegszug in den Osten nach M oskau, so w ürde schon er
die seltsam e Verwebung der rein weltlichen europäischen Revolutionen
m it dem christlich-abendländischen K aiser- und Reichsgedanken erwei­
sen.
Rezeichnenderweise nennen die Schulbücher diesen französisch-russi­
schen K rieg von 1 8 1 2 fa st nie so, sondern d o rt h eiß t er durchw eg „N a­
poleons Z ug gegen R u ß lan d “ . D arin steckt ein g u ter Sinn. Denn dieser
Feldzug h at offen bar etwas von dem Z ug, der au ch den Kreuzzügen inne­
wohnt.

4 . D as pluralistische W eltbild
Die W o rte „A bendland“ und „ E u ro p a “ m u ß ten in e rste r Linie nach
dem Stand des heutigen gebildeten Sp rach gebrauchs geklärt w erden. An
sich aber steh t es bei diesen Erdteilvokabeln ähnlich wie bei der Zeit­
rechnu ng. So wie jede Revolution von sich aus am liebsten eine neue Zeit­
rechnu ng anhehen m öchte, so sieht jedes revolutionierte Volk sich von
seiner K irch e, seinem Staat, seiner N ation und seinem Lande her die Län d er
der W e lt überhaupt an. W ir haben die V ersuche eigner Z eitrechnungen im
vorigen K apitel kennengelernt. W ir m üssen jetzt ähnlich die E rd an sich ­
ten der g roß en M ächte uns vergegenw ärtigen. Sogleich b ereich ert sich das
Vokabular.
Christiich-ger- Die K irch e h at vom Abendland gesprochen, die E n glän d er und F r a n -
staaten w eit zosen sprechen von E u ro p a. D er Protestantism us h at aber w eder den einen
noch den anderen S p rach geb rau ch geteilt. E r h at vielm ehr den ganzen
E rd teil n och bis in die Zeit unm ittelbar vor dem W eltk rieg gern als die
ch ristlich -germ an isch e Staatenw elt ansehen m ögen. M an rü ck te sich dann
die G eschichte so zurecht, daß n u r P fa ffe n tru g in Italien die F ü rste n aus
langobardischem und frän kisch em G eschlecht zurück gedrängt habe
(W o ltm a n n ), daß die Lilien d er germ an ischen R ourbons d u rch einen
bloßen Pöbelhaufen vertilgt w orden seien (G o h in eau !), d aß R u rik der
W a rä g e r im m erh in — ebenso wie die Z aren aus dem H ause H oistein -
G ottorp — auch in R u ß lan d das ch ristlich e G erm anentum rep räsen ­
tierte. B ei Stahl und G erlach h at der B e g riff d e r ch ristlich -germ an isch en
Staatenw elt auch politische Entscheidungen h ervorgerufen. D asselbe hat
der blinde K önig von H annover au sgesp roch en, als er B ism arck s R evolu­
tion von 1 8 6 6 m itzum achen d re ifa c h : „als C hrist, als K ö n ig und als
W e lfe “ ahlehnte. A u ch die heilige Allianz schw ankte zwischen dem B e ­
g riff der ch ristlich -germ an isch en und d e r europäischen Staatenw elt m it
einem B eisch u ß („ h e ilig “ ) von abendländischer W eih e. D er A usdruck
„C h ristlich -g erm an isch e Staaten weit“ lä ß t das organisierende Prinzip in

48
der K irche, sei’s K aiser, sei’s P ap st, beiseite, hält aber — ganz wie L u th er
— an dem G eistesgehalt in diesen G efäßen des Lebens, an der C hrist­
lichkeit fest. D iese protestantische Redeweise ist aber viel älter. Sie be­
h errsch t das 1 6 . und 1 7 . Jah rh u n d ert. L u th e r und die Landesfürsten
reden im m er von den Interessen der C hristenheit, der christlichen Völker,
der deutschen N ation und gem einer C hristenheit. Im En glan d des 1 7 . J a h r ­
hunderts g eh t d er Sprach gebrauch Christenheit und E u ro p a fortgesetzt
ineinander über. In der Thronrede von 1 6 6 0 zu r R estauration K arls II.
von En glan d k om m t nebeneinander v o r: „K ein anderer F ü r s t in der
C hristenheit“ und „kein anderer F ü r s t in E u ro p a “ . Die A u frech terhaltu ng
des G leichgew ichts in „ E u ro p a “ , h eiß t es 1 6 9 0 , m ache En glan d zum
S ch iedsrichter der „C hristenheit“ . A ufgekom m en ist diese B enennung
des K ulturkreises als C hristenheit im Z eitalter d er Konzilien.
E in Ü bergangsw ort — wie j a die ganze englische Revolution im Ü ber­
gan g steht zwischen R eform ationstheologie und Revolutionsphilosophie
— ist der englische B e g riff der „W estlich en W e lt“ . E in B u ch wie Speng­
lers U n tergan g des A bendlandes m u ß englisch h e iß e n : T he D ecline o f
the W est. (W eitere Belege auf S. 6 1 .)
A uch dieser B e g riff des „ W e ste n s“ ist in D eutschland zu g ro ß e m poli­
tischem E in flu ß gekom m en. Die „w estliche“ Staatslehre, die „w estliche“
D em okratie, der „ W e ste n “ , das w ar fü r die E n glan dfreu nde das Ideal,
um gekehrt ist W e stle r fü r die preu ß isch en Konservativen d er Popanz d er
Ü b erfrem dung im ganzen 1 9 . Ja h rh u n d e rt gewesen. M an h a t so g ar n ach
dem W eltk rieg n o ch eine „östlich e“ S taatsleh re dagegen aufbauen wol­
len, ohne doch w ohlgem erkt dam it die Bolschew iki zu m einen, sondern
eher A ltpreuß en! A ber die Liste
Abendland fü r den röm isch en K aiser
christlich -germ an isch e fü r die deutschen
Staatenw elt P ro testan ten
W estern World fü r E n g lan d
E u ro p e fü r P a ris
fü r R u ß lan d
erw eist sich als eine R eihenfolge verschiedener H orizonte, zugeordnet
den verschiedenen „Gesichts* ‘punkten des Zeitgeistes.
Diese Tabelle en th ält n o ch zwei Lü cken. Die R au m an sich t R om s und
R uß lan d s fehlen.
A uch die P ap strevolution ist von d er V orstellung des „Abendlandes“
abgewichen. Sie hat sie d u rch den B e g riff der R öm ischen K irch e ersetzt.
Im J a h r e 1 0 0 0 w ar die K irch e des apostolischen B isch ofs von R om die
erste K irch e im ganzen R öm ischen R eich und besonders im Abendland.
Seit der Papstrevolution v erd rän g t die R öm isch e K irch e überall wo sie
kann diese lokale V orstellung von einer stad tröm isch en Gewalt d u rch die
d er W eltk irch e. Die R öm ische K irch e von 1 2 6 0 , die E cclesia R om an a d e r

4 Rosenstock
49
Papstrevolution, will nich t m eh r die K irche der Stadt R om sein, sondern
ist die kirchlich geordnete W elt, die das Abendland in den K reuzzügen
erobert hat. Sie u m faß t also den W esten und den Osten. D er P a p st will
urbi et orbi das Gesetz geben. Seine g ro ß e R undfunkansprache 1 9 3 1 ist
n u r ein letzter Ausdruck dessen, was seit neunhundert Ja h re n sein V er­
langen is t: den Orbis als seine Urbs anreden zu können, die K irch e a ls
die eine einzige W eltstad t. Von G regor V II. bis zur R eform ation lebt das
Abendland als röm ische K irch e. R öm isch sein h eiß t eiJ^n deshalb noch
h eu te: nich t kaiserlich sein, sondern päpstlich sein. Die „R öm ische K ir­
che“ als O rganisation der W e lt w ar schon dam als — wie noch im einzel­
nen zu zeigen sein w ird — an die Stelle der vom K aiser zusam m engehal­
tenen abendländischen W e lt getreten. Auch im M ittelalter ist also der B e­
g riff des Abendlandes bereits zersetzt worden. Zwischen diesen verschie­
denen politischen H orizonten wechselt das W eltbild unserer G eschichte.
D er H orizon t der E cclesia R om an a ist du rch die H inzunahm e der
Kreuzzugsgebiete erheblich g rö ß e r als der des Abendlandes. E r ist zeit­
weise d u rch den Besitz Jeru salem s und K onstantinopels um das Doppelte
— bis tief nach Asien hinein — erw eitert. D em gegenüber springt C hri­
stenheit und gem eine C hristenheit (C hretiente, Ghristianity) dialektisch
nach W esten zurück. An die Stelle der K reuzzugsexpansion tr itt im R ück­
stoß seit 1 4 o o die T ü rken gefahr. Von ih r her sam m elt sich die Staaten­
welt. Denn der T ürke ist „gem einer C hristenheit E rb fe in d “ . „Innerhalb
dieser C h ristenheit gibt es zwei M ächte (F ra n k re ich und H ab sb u rg), die
gleichsam die beiden Pole sind, von welchen die K rie g s- und Fried ensein­
flüsse auf die anderen Staaten hinabsteigen.“ Man sieht, die C hristenheit
ist die K irch e ohne P a p st und K leriker in diesem berühm ten B ild, das d er
H ugenotte H erzog R oh an entw irft.
Die englische Revolution rü ck t die britische Insel aus dieser gem einen
C hristenheit in die W e lt der Ozeane hinaus. F ü r E n glan d tritt die W e lt
der M eere je tz t zu „gem ein er C h risten h eit“ hinzu. F ra n k re ich setzt die­
sem W e ltb e g riff fü r sein politisches System den B e g riff E u ro p a s ent­
gegen. E u ro p a sind die Staaten der C hristenheit, verm eh rt um ih re K o ­
lonialreiche, aber ohne das britische C om m onw ealth in Übersee. E u ro p a
ist also ein im perialistisch angereichertes B ild gegenüber Abendland oder
C hristenheit. H ingegen ist es gegenüber dem englischen W e ltb e g riff wie­
der stärk er auf dem K ontin ent selbst verankert.
Aber d u rch den Einbezug der kolonialen Besitzungen ist das E u ro p a
der F ran zo sen bereits ein klar im perialistisch-kap italistischer B e g riff.
W äh ren d E n glan d s W o rld anfangs n och den prädestinierten C h arak ter
einer V ervielfältigung des M utterlandes annehm en kann, ist die K olonie
fü r die „ E u ro p ä e r“ im französischen Sinne m inderen R ech ts und zur
A usbeutung d u rch den Stam m erd teil bestim m t.
Also Abendland und E u ro p a sind zu prim itiv gew ählte G egensätze.

5o
Sie haben zwar im geistigen B ereich durch das ganze Jah rtau sen d dank
der antiken Literaturvorbilder existiert, aber in der Politik werden sie ein­
geschaltet in einen bestim m ten P rozeß
Abendland

R öm ische K irch e („u rb s et orbis“ )

C hristenheit

westliche W e lt E u ro p a

Sow jets
An dem E n d e dieses Prozesses steht das russische W eltbild. F ü r R u ß ­
land ist E u ro p a draußen, ist das bedrängende, in P etersb u rg und den
R andstaaten au f R ußland ein wirkende Elem ent, ist weitgehend m it „ W e ­
sten“ gleichbedeutend. Ü ber die Fragw ü rd ig k eit des B eg riffs E u ro p a,
gegen seine geographische und fü r seine kulturhistorische D eutung h at
sich deshalb der Russe Danilewsky schon i 8 6 5 — 1 8 6 7 eingehend erklärt.
Sein B uch „R u ß lan d in E u ro p a “ w urde wegen der S ch ärfe und K larheit,
m it der es den B e g riff „ E u ro p a “ zersetzte, „die Bibel d er Panslaw isten“ .
R u ß lan d findet sich selbst heute von der Turksib, vom K aukasus und
dem U ral h e r ; von d o rt, wo es seine G etreidefabriken errich tet, ro llt es
auch seine europäischen Besitzungen organ isatorisch auf. Ob der Aus­
druck „ E u ra sie n “ sich einbürgern w ird, steh t dahin. Jedenfalls ist d er po­
litische H orizon t des neuen R u ßland s etwa von d er europäisch-asiatischen
Grenze h er zu bestim m en. Die „ W e lt“ der Russen em p fän g t von d o rth er
ihre Grenzen. S o ist es n ich t gekom m en, wie es im R ussisch -Jap an isch en
K rieg schien, daß R u ß lan d sich m it dem G esicht n ach dem Stillen Ozean
um wendete und nun der Stille Ozean seine ausgesp roch ene W eltan sich t
würde. D ie Binnen weit R uß lan d s ist doch stärker. G egenüber d er euro­
päischen und pazifischen M öglichkeit w ählt R u ß lan d anscheinend als
politischen H orizont E u rasien und von E urasien her die W e lt im ganzen.
Die „ W e lt“ ist fü r diese W eltrevolution unentbehrlich. Deshalb h at m an
das W o r t „ R u ssija “ im S taatstitel d er Sow jetunion gestrichen. Daff^feue
dieses H orizontes lieg t in dem A ufstieg d er R oh stoffgebiete fü r P e tro ­
leum , W eizen , Baum w olle, P latin usw. zum R an ge der G leichberechti­
gung. Von dem alten B e g riff E u ro p a gesehen sind das bloß „ R o h “ stoff~
gebiete. In E u rasien bestim m en diese R o h sto ff gebiete die radikale U m ­
organisation des „M utterlandes“ . „M ütterchen R u ß la n d “ wird von die­
sen asiatischen Gebieten h er wie von einem H ebelpunkt aus planm äßig re ­
volutioniert und rek on stru iert. D ie Sow jetm ach t erzielt von dort h er n ach
Moskau hinein ih re W irk u n gen .

4* 5 i
Im einzelnen werden diese H orizonte bei jeder Revolution noch einm al
auftauchen. H ier halten w ir ihren dialektischen P ro zeß fest.
Die politischen Alle diese H orizonte drücken W ertu rteile aus. W enn d er W esten
Tonarten D eu^scy an(j s sich über den Osten erhebt als der kultiviertere Teil, wenn
das Heilige R eich der D eutschen erdichtet und erphilosophiert w ird, wenn
fü r E u ro p a und fü r die W e lt Interesse erweckt werden soll, so kann jedes
dieser W o rte im m er nu r in einer ganz bestim m ten Oktave der europä­
ischen K laviatur anklingen und Schw ingungen e rre g e n ! M an appelliert
also an m ich in einer anderen Sp rach e, wenn m an m ich auf „ R e ich “ , auf
„ E u ro p a “ , au f „ W e lt“ , au f „ W estlich e Zivilisation“ , auf „ S ta a t“ hin in
A nspruch nim m t. Und es reag iert jedesm al ein an d erer M ensch in m ir,
wenn ich au f eine dieser Losungen anspreche. Alle Sprachen der europä­
ischen Revolutionen lassen sich so in einen Sprachleib, den deutschen, hin­
ein übersetzen, ohne d am it ih re verschiedenen geistigen W ellenlängen zu
verlieren. „ R e ich “ sp rich t d e r w urzelechte Abendländer in m ir, „ S ta a t“
der O rdnung und M acht des Einzelstaats in d er christlich -germ anisch en
Staatenw elt verantw ortende Staatsm ann, „ W e lt“ d er in der Zukunft le­
bende R evolutionär, „ E u ro p a “ d er „ K u ltu rträ g e r“ und Zivilisierte, „ W e ­
sten“ sag t d e r G eopolitiker, „ K irch e “ glaubt d er an seine Seele denkende
C hrist.
D as U n erh örte, was die G eschichtsbücher der europäischen Völker n u r
ungern eingestehen, ist nun das Ineinanderklingen dieser T öne. Denn
durch jede europäische Revolution ist fü r den ganzen K u ltu rk reis die
neue T o n a rt angeschlagen w orden. N icht n u r fü r das L an d , in dem die
Revolution zu H ause ist, sondern fü r alle wird die neue D im ension des
Lebenswillens geschaffen, der die eigene S p rach e entsp richt. D ie Völker
haben also zw ar ih re eigene L ieblin gston art, aber daneben m üssen auch
die anderen Sprechw eisen in ihren R eihen gesprochen w erden, gerade
wenn sie n ich t sich selbst untreu werden wollen. Diese Sp rach e der fre m ­
den Revolutionen in sich hineinzunehm en v eru rsach t der N ation in ih rer
W eise ebensoviel Schm erzen wie die Ausbildung des eigenen W eltbildes.
Denn das Neue hineinnehm en in sein geschlossenes B ild kann n u r, wer
Geistige Platz sch a fft in seinem Inneren. D azu b ed arf es also einer geistigen G e-
Annexionen 6 je£sa b£r e £u/lg Je d e neue Revolution erzw ingt eine Revision d er vorh er­
gehenden G eschichtsbilder. Sie vernichtet einen Teil der alten Ü berliefe­
rungen, weil diese ih re G eschlossenheit einbüßen und aus „ d e r“ G e­
schichte zu einem Teil der G eschichte w erden. M an h at von d er R ech ts­
w issenschaft g e sa g t: E in F e d e rstrich des G esetzgebers und ganze Biblio­
theken werden zu M akulatur. A uch von den G eschichtsbilderbüchern der
Völker w erden ganze S tö ß e zu M akulatur, einzig und allein d u rch den
H inzutritt einer neuen M enschenart, d u rch das E reig n is einer R evolution.
Diese geistige G ebietsabtretung d u rch jede R evolution ist w ohl keinem
Volke heute so stark w iderfahren wie dem deutschen d u rch die russische

52
Revolution in der F o rm des W eltkrieges und unseres Zusam m enbruches.
W ir haben unsere G eschichte weitgehend im Frieden von Versailles und
in der W eim are r V erfassung m it abgetreten. Und die K riegsschuldthese
des V ertrages von 1 9 1 9 hatte gerade die Funktion, uns zu den räum lichen
G ebietsabtretungen hinzu diese geistig-geschichtliche A btretung unserer
eigenen W eltgeschichtsvorzeit aufzuerlegen.
W ir erleben so diesmal besonders sch m erzhaft, was allen Völkern bei
jeder Revolution w iderfahren is t: einen Gebietsverlust an eigener Ge­
schichte. Sieht m an au f die B edrängnis etwa der En glän d er d u rch den
Geist der französischen Revolution, so sieht m an d o rt keine b ru tal-rü ck -
haltlose Entkleidung von der eigenen G eschichte- wie bei uns, ja so g ar
eine fast vollkommene Im m u n ität gegen die Sansculotten bis zur franzö­
sischen Julirevolution von i 8 3 o . A ber dann drin gt der S tro m au ch in
das englische L a n d : Seitdem werden unaufhaltsam Liberale und K onser­
vative, also französische P artein am en , im p o rtiert und verdrängen W h ig s
und Tories. W a s als G reat Rebellion von i 6 4 o bis 1 6 6 0 im offiziellen
Staatsgebetbuch steht, das w ird d u rch französische H istoriker zur eng­
lischen Revolution. Aus dem E rsten L o rd des Schatzam tes wird der P re ­
m ierm inister erst nach 1 9 0 0 . Aber schon B urke m u ß die Revolution von
1 6 8 8 verteidigen, und eben dad urch ist er gezwungen gewesen, die eigene
englische G eschichte dialektisch zu r französischen um zuschreiben! B urke
schreibt unter dem D ruck der französischen Revolution. D as Geschichtsbild
dieses Stockengländers ist d ah er viel bew uß ter abgesetzt gegen das N icht­
englische als etwa in d er älteren englischen G eschichte bei David H um e.
D araus ergib t sich, daß d u rch jede neue Revolution die S p rach e der
vollblütigen Altrevolutionäre bew ußter, sch ä rfe r, h ä rte r gesprochen w er­
den m u ß , aber von einer zusam m enschrum pfenden Z ahl. D enn n u r so
wird die Besetzung aller Töne der T abu latu r gesichert.
Diese T ab u latu r ist auch in der russischen Revolution ergänzt und eben
dadurch rückw irkend ern eu ert w orden. Die sogenannten ,,unhistorischen
Bevölkerungsschichten der anderen europäischen L ä n d e r sind dazu über­
gegangen, russisch zu sprechen, indem sie von W eltrevolution reden.
M it diesem B e g riff der W eltrevolution scheint die T ab u latu r nun end­
gültig zu enden, denn d am it scheint sie vollständig zu sein. V ielleicht
ist das n u r Schein und es bleiben n och Oktaven ungespielt und unange­
tastet, und das Völkerleben wendet sich voraussichtlich kü nftig dieser noch
freien T astatu r zu.
A ber die abendländisch-europäische T a sta tu r ist allerdings beendet. W ie
gliedert sich nun jede dieser „ W e lte n “ und „O ktaven“ im In n eren ? W e l­
che Teile haben A nspruch a u f selbständiges L e b e n ? D enn E u ro p a ist j a
eben nie ein Ganzes, sondern im m er ein verw irrendes Vielerlei u n erh örter
G egensätze gewesen. Die L e h re von d er N ation gibt darüber B escheid.
Sie ist das G egenstück zu der L eh re von E u ro p a und vom Abendland.

53
IV. DER SPIELRAUM DER NATIONEN UND DER
BEGRIFF NATION

er geographische H orizont, der einer Revolution ih re W eltan sich t


D oder W eltan sch au u n g vorschreibt, ist auch w irksam bei der Auf­
teilung dieser W e lt nach innen. Aus der W a h l des G esichtspunktes er­
geben sich zugleich die Abschnitte, in die d er E rd k reis zerfällt oder zer­
fallen soll. Diese einzelnen Sektoren stellen ja gerade den Teil der K u ltu r­
welt dar, auf den die Revolution ih re W eltan sch au u n g projizieren kann.
D er verschiedene H orizont g eh ö rt zu Italien oder R ußland oder En glan d,
weil er in Italien und R ußland und En glan d d u rch das W eiterdenken der
L age dieses bestim m ten Landes entsteht. E r ist n u r die zu E n d e gedachte
geopolitische L ag e des einzelnen Landes.
Die Normal­ D as von d e r Revolution erw ählte Sondergebiet liefert G rundsätze fü r
nation
die R egelu ng aller anderen Gebiete. E s gibt fü r jeden G esichtspunkt daher
ein N orm algebiet, n ach dem sich die übrigen Gebiete richten sollen. Und
gerade das versucht jede R evolution, diese N orm u n g überall durchzuset­
zen. Jed e Revolution h a t ein N orm algebiet, näm lich ih r eigenes, von dem
aus gesehen die übrigen Gebiete feh lerh aft eingerichtet und abgegrenzt
zu sein scheinen. G erade das aber ist das R evolutionäre. Denn keine der
geographischen Einheiten, die jeweils u n ter dem D ru ck einer d er Revolu­
tionen ausgesondert w urden, h atte vorh er bestan den! D ie territo riale
G rundlage einer R evolution steh t näm lich keineswegs f e s t; vielm ehr ist
gerade die Revolution die M acht, n ach der sich fo rta n die G röß e des L a n ­
des bem ißt, in dem diese Revolution zu H ause bleibt und sich einrijchtet.
D ie R evo lu tio n erg reift eine R e ih e von L a n d sch a ften und m acht sie zu m
S ch em el ihrer F ü ß e . Sie tre n n t und verbindet! K ein Lan d h a t vor d er R e­
volution den gleichen U m fan g wie n ach h er. Und n u r L an d es- und Volks­
teile, die von d er Revolution e rg riffe n und um gew älzt w orden sind, ge­
h ören zum eisernen R estande des betreffenden europäischen G liedes! Auch
noch fü r R u ß lan d gilt dies Gesetz.
D as R u ß lan d , das 1 9 1 7 m die R evolution gegangen ist, g leich t wenig
dem R u ß lan d d er Z aren. Denn die R an d staaten sind alle vorh er au*s dem
Länderverbande ausgeschieden! D ie deutschen Siege im O stkrieg haben
also weit ü b er ih re m ilitärische G renzsetzung B edeu tung erlangt. D eutsch­
land h at vielm ehr die eroberten L än d er d er Z arenkrone aus den F ä n g e n
der russischen Revolution herausgerissen und d am it fü r alle Z ukunft
von R u ß lan d s Schicksal abgetrennt. Selbst F in n lan d h a t nich t m e h r bol­
schew istisch w erden können. P o len , L itau en , das B altikum sind n ich t m eh r
russisch. D ie russische R evolution verläu ft östlich von B rest-L ito w sk und

54
Baranow itschi. Petersburg, das dem V ordringen der Russen an die Ostsee
sein Dasein verdankt, sinkt auch trotz des neuen Nam ens Leningrad von
seiner Bedeutung herab. H ingegen werden Län d er wie die M andschurei
und China von den Stürm en d er Um w älzung m it ergriffen. D er ch rist­
liche General F en g , der fleißige B au er, holt, gerade weil er europäisiert
ist, in Moskau m it R ech t W affen . Und hier im Osten ist das geistige
R eich des Bolschew ism us g rö ß e r, als das des Z aren gewesen w ar, und
nach den E rfah ru n g en der älteren Revolutionen wird es hier auch poli­
tisch g rö ß e r bleiben! „S tu rm über Asien“ bedeutet der Bolschew ism us.
Aber er bedeutet nicht m inder E n tru ssu n g der R andstaaten I E r s t die drei
J a h re K rieg haben m ithin die „ re in “ russische Revolution erm öglicht.
Crom w ell h at an der Stelle der R eiche England und W ales, Schottland
und Irlan d und des kleinen P u ffe rsta a ts zwischen En glan d und Sch ott­
land, d er bis 1 8 2 9 im Titel des K önigs genannt w u rd e : D u rh am , das neue
R eich geschaffen, das in d e r R u le B ritan n ia verherrlich t wird. G ro ß ­
britannien und Irlan d hieß bis zum W eltk rieg und seinen F o lg e n das
R eich tro tz aller irischen Aufstände und trotz des W ach stu m s der D om ini­
ons. Die neuerliche Ä nderung dieses Titels ist bereits eines der vielen Auf­
lösungszeichen E u ro p as.
Die deutschen R eform ation sparteien haben weder die N iederlande noch
die Schweiz beim R eiche halten können, weil beide schon vor d er R e­
fo rm ation eigene W e g e gingen. Die Eidgenossen haben schon seit 1 4 9 9
den R eich stag n ich t m e h r besucht. Belgien und Holland u m gekehrt lie­
ferte die N ation d er spanisch-österreichischen H au sm ach t aus und so
brachen diese selbständig auf. U m gek eh rt ist das E lsa ß d u rch die R e­ Elsaß-
Lothringen
form ation d er deutschen N ation verbunden gewesen, und zwar beiden R e­
ligionsparteien, P ro testan ten wie K atholiken. E s hätte dah er seit 1 8 7 1
dem R eiche innerlich wiedergewonnen werden können, wenn die D eut­
schen es n ich t künstlich 1 8 7 1 m it Metz und L o th rin g en verkoppelt h ät­
ten. Nun erst kam das Ü bergew icht a u f F ra n k re ich . Denn Metz und L o ­
thringen haben ih re P rä g u n g ausschließlich d u rch die französische Revolu­
tion em pfangen.
M an kann allerdings geltend m achen, d aß au ch das E lsa ß d u rch die fra n ­
zösische R evolution hind urchgegangen sei. D arin liegt zweifellos eine
w ichtige Ü b erschichtu ng des R eform ationserlebnisses. A ber sie w äre n ich t
un ab tragb ar gewesen. U n ab tragb ar aber w ar die Prägung „französische
R evolution“ f ü r L o th rin g en . K ein Gebiet kann näm lich seine R evolutio-
nierung im R ah m en einer Hauptumwälzung vergessen. E s w ar B ism arcks
Irrtu m , die A nnexion von H annover, F ra n k fu rt oder G ersfeld fü r das­
selbe zu halten wie die L o th rin g en s. E r h a t die E rlebnisgem einschaft der
hohen Zeiten der G eschichte un terschätzt. N u r au f die Zugehörigkeit
w ährend der R evolution k o m m t es an. D eshalb sch a fft die Teilung Ober­ Oberschlesien
schlesiens von 1 9 2 1 einen F a ll, d er L oth rin g en s T eilung 1 8 7 1 ähnelt.

55
„Schlesien und Lothringen sind zwei Schw estern, von denen P reu ß en die
ältere und F ran k reich die jü n g ere geheiratet h a t“ (F rie d rich der G roß e,
Testam ent von 1 7 5 2 ). O berschlesien h at 1 7 5 6 — 176 3 und 1806 — 1 8 1 3
zu P reu ß en und während d er R eform ation zum R eiche geh ört. An ihm
m u ß sich d ah er die W illk ü r d er Franzosen rächen. H ingegen haben die
Län d er d er polnischen K rone, die bei P reu ß en w aren, nich t einm al P re u ­
ßens Leidenszeit 1806 — i 8 i 3 geteilt. Ih re Eind eutsch ung ist d ah er ge­
sch eitert und m u ß te scheitern. B ism arck h at bekanntlich besonders we­
gen d er P o len frage den K u ltu rk am p f eröffnet. Und e r h a t dam it d er deut­
schen N ation, die au f dem R eform ationserlebnis d er R eligionsparteien
aufgebaut ist, etwas ih r nich t A ngehöriges zugem utet, n u r wegen d er
Teile P reu ß en s, die doch nich t in diese deutsche N ation eingeschm olzen
waren. D er F e h le r des Bism arckschen K u ltu rk am p fes b eru h t also au f
dieser V erm ischung zweier Sphären, die gegeneinander un durchd rin g­
lich sind.
O berschlesien hingegen g e h ö rt sehr wohl zu der deutschen N ation, de­
ren R eligionsparteien die R efo rm atio n durchlebt haben. D ie S p rach e
Südtirol m ach t n ich t die N ation 1 Deshalb h a t auch das stets italienisch sprechende
T rien t bis 1 9 1 4 m it R e ch t zum „ R e ich “ und n ich t zu Italien g eh ö rt. Denn
die Pap strevolution hatte es nich t erg riffen . V or d er Papstrevolution aber
h atte es den B e g riff Italiens als M acht n ich t gegeben. Die Papstrevolu­
tion h at ihn geschaffen. Als die w eltlichen und geistlichen T ru p p en des
Pap stes, näm lich das M ilitär und die B ettelm ön ch e n ach K o n rad s IV . Tod
in das K önigreich Sizilien einrückten, w ar es entschieden, d aß d er Süden
der Halbinsel fo rta n — was so noch nie geschehen w ar — sich dem N or­
den zuwenden w erde. Als Pap stland ist Italien ein Lan d gew orden. Und
deshalb b rau ch te M ussolini fü r die L ö su n g der seit 6 0 Ja h re n brennen­
den sizilisch-süditalienischen F r a g e den F ried en m it dem P ap ste. Denn
n u r d u rch die rö m isch e K irch e h atte d u rch sechs Ja h rh u n d e rte d e r Süden
m it dem N orden Italiens b lu th aft zu sam m en geh an gen ! D ie L o sreiß u n g
Südtirols hingegen w ar fü r Italien überflüssig und ist in d er G eschichte
der K u ltu rw elt sinnlos. D enn das S ch loß T iro l, das dem L an d T iro l den
N am en gegeben h a t, lieg t in diesem südlichen Gebiet. Und T iro l ist d er
In b eg riff des ö sterreich isch en und katholischen Reichslebens innerhalb
der deutschen N ation seit O tto dem G roß en und erst re ch t seit der habs­
burgischen H e rrsch a ft.
Die Schw ierigkeit fü r das V erständnis dieser L eb ensfragen E u ro p a s —
L eb ensfragen weil sie E rleb n isfragen des M enschen und des Volkes in
E u ro p a sind — liegt in d er N am ensgleichheit fü r den Sek tor, den die
R evolution au ssch n eid et M erkw ürdig g e n u g : D ie Revolution selbst h eiß t
im m er anders, der A u ssch nitt aus d er V ölkerw elt trä g t im m er denselben
N am en, ob ihn Abendländer, P ro testan ten , W e stle r, E u ro p ä e r und R ussen
Nation im Munde führen. D er N am e la u t e t : N ation. So m erk t m an m eist nich t,

56
wie mehrdeutige er ist. Schon das m ü ß te zu denken geben, daß die An­
gehörigen der G roß m ächte, wie E n glän der, Franzosen und D eutsche sich
von innen h er genau so bezeichnen wie H olländer oder D än en ; das W o r t
N ation ist der gem einsam e Ausdruck des Selbstgefühls der G roß m ach t
und des K leinstaats. O ffenbar wird das d u rch eine g ro ß e B edeutungs-
breite dieses W o rte s erreicht. Die gew issenhaften D enker aber, die es
m erken, wie knetbar dies W o r t N ation ist, haben versucht, d u rch theo­
retische U nterteilung die Staatsnation, die Sprachnation, die K ulturnation
zu unterscheiden. D arn ach gehören etwa die B an ater Schwaben zur K ul­
tu rn atio n , die D eutschen in N ordam erika zur Sprachnation und derglei­
chen m eh r. Gegenüber der W elle des N ationalism us kom m en aber solche
E in - und Abteilungen, so rich tig sie sind, niem als zu G ehör. D enn der
nationale Schw ung n im m t stets alles in die eigene N ation hinein, was n u r
irgend zu r Nation gezählt w erden kann, und wird also stets n u r den wei­
testen U m kreis wählen. K eine th eoretische U nterscheidung w ird ihm da­
bei Schranken setzen.
Anders steh t es m it den historischen K ategorien d er N ation. Sie ent­
halten deutliche L eh ren d er G eschichte. Sie zeigen die Grenzen des B e­
g riffs vom N ationalen, das jeweils gerade in Mode ist. Jed em R evolutions-
horizont ist näm lich ein anderer B e g riff der N ation zugeordnet! U nd des­
halb h at jed er dieser B eg riffe seinen H öhepunkt, seine B lütezeit und
seinen H erbst!
D ie K larstellun g beginnt am besten bei unserer eigenen N ation, der
deutschen. Die deutsche N ation glaubt je d e r S ch üler b egriffen zu haben, Legende vom
Römischen
wenn er die un ausrottb are Legend e des 1 9 . Ja h rh u n d e rts vom „H eiligen Reich Deutscher
Nation
B öm ischen R eich D eu tsch er N ation“ in sich aufgenom m en h at. E s h at
nie ein solches R eich gegeben. E s h a t bis 1 8 0 6 ein Heiliges R öm isches
R eich gegeben und seit dem 1 5. Ja h rh u n d e rt dem R eich zum T ro tz eine
D eutsche N ation. A ber d er In h alt d er D eutschen G eschichte ist ge­
rad e die Ablösung des Heiligen R öm ischen R eiches d u rch die D eutsche
N ation in der Seele des D eutschen. Und es w urde die T a t der R»e fo rm a -
tion, diese W e rte so auszuw echseln, d aß die D eutsche N ation erst gleich­
b erech tig t neben das R öm isch e R eich tr a t und dann die N ation über das
R eich rü ck te.
D ie N ation ist jü n g e r als das R eich und ein K o n k u rren t des R eich s.
D er A usdruck H eiliges R öm isches R eich D eutscher N ation, d e r am tlich
und rech tlich zwischen i 4 8 6 und i 5 5 5 existiert, steht im m er neben dem
anderen D op p elgesp an n : R öm isches R eich und D eutsche N ation. W ird
er von S ch riftstellern des 5. Ja h rh u n d e rts g eb rau ch t, dann wollen sie
1
dam it n u r den T e il des R eichs angeben, den die deutsche Nation ein-
nimmt. Denn auß erd em gab es auch ein R öm isches R eich italischer oder
burgundischer N ation, näm lich das R öm isch e R eich, insofern es von die­
ser o d er jen er Nation bew ohnt w ird. H eiliges R öm isches R eich D eutscher

57
N ation ist aufzufassen als geographischer Genetivus partitivus. E s ist aber
gerade an der U n m öglichk eit: das alte heilige röm ische K aiserreich ernst­
haft m it der jungen deutschen N ation, wie sie sich neu bildete, zu ver­
koppeln oder zu identifizieren, die R eform ation ausgebrochen. Und noch
unsere A ufopferung fü r Ö sterreich im W eltk rieg beruht auf einem D u­
alism us zwischen R eich und N ation.
Natio als Die D eutsche N ation gibt es ernsthaft erst, seitdem es in P ra g , W ien ,
Kirchenkörper ß eid elb erg und Leipzig deutsche Universitäten gibt! Die D eutsche N ation
ist ein Teil der katholischen Christenheit, der nich t n u r d u rch B isch öfe
und Äbte, sondern auch d u rch P rofessoren , näm lich Ju riste n und T heo­
logen, eine eigene L eh re von K irchensachen aufstellen und verteidigen,
kann. Die S p rech er dieser N ation innerhalb der K irch e unterscheiden die
Nation von den K irchenprovinzen der alten K irch e. D ie S p rech er einer
Kirchenprovinz sind in der alten K irch e der Antike die B ischöfe. D ie
Sp rech er der N atio G allica, der französischen N ation au f den R e fo rm ­
konzilien, w aren hingegen neben den B isch öfen F ran k reich s der K önig
von F ran k reich und die berühm ten D oktoren d er ersten und g rö ß te n
scholastischen H ochschule d er W e lt, der zu P a ris. Die deutsche N ation
in der K irch e hatte bis i 3 5 o keine solchen Sp rech er. Ih r K aiser stand
näm lich an sich ü ber den S p rech ern einer einzelnen N a tio n ; denn er w ar,
und so auch noch zuletzt K a rl V., d er S ch irm h e rr der gesam ten K irch e
und der S ch ützer des gesam ten Konzils. E r s t m u ß ten auch in D eutsch­
land U niversitäten entstehen, dam it eine geistige V ertretu n g m öglich w ur­
de. U m die Konzile m it theologischen D oktoren beschicken zu können,
grü n d et m an um i 4 o o w etteifernd U niversitäten in M ittel- und O st­
europa, w ährend bis dahin P a ris eine A rt M onopol besessen h atte. Die
Prag älteste deutsche U niversität, in P r a g i 3 4 6 gegrü ndet, h offte eine W eile
so gar P a ris den R an g abzulaufen (näm lich n ach i 3 8 i ). Sie enthielt die
vier Lan dsm annschaften d er T schechen, Polen , O berdeutschen (B av ari)
und N iederdeutschen (S axo n es). Die g ro ß e n Lan dsm annschaften der K on­
zilien w aren aber anders. D enn au f dem Konzil von K onstanz rech n ete
sich der B is c h o f von P rag zu r N atio G erm an ica! Die Natio G erm an ica au f
diesem K onzil u m faß te alle F e stlä n d e r östlich des R heins. Sie rü h m te
sich, ach t K önigreiche (P o len , U n garn , Schw eden, D alm atien, B öhm en
usw.) zu um fassen. D aneben standen n u r die vier N ationen d er F ran zo sen ,
Italiener, E n glän d er und Spanier. Diese fü n f N ationen bildeten m it dem
P ap st und den K ardinälen zusam m en das K onzil.
Seit d e r K onzilzeit kann auch d er K aiser in die N atio G erm an ica hinein­
gerech n et w erden, wenn und sow eit e r L an d esfü rst ist, also Siegism und
in K onstanz fü r B öhm en und U n garn , F rie d ric h III . bei A bschluß des
K onk ordats i 4 4 8 fü r seine ö sterreich isch e H ausm ach t. Neben dem K aiser
als Lan d esfü rsten stehen n a tu rg e m ä ß auch die anderen L an d esfü rsten in­
nerhalb der deutschen N ation. D er P fa lz g ra f bei R hein m it seinen R a t-

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gebern, den D oktoren von H eidelberg, steht also neben dem K önig von
Böhm en und seinen P ra g e r D oktoren, neben dem E rzh erzo g von Ö ster­
reich und seinen W ien er H ochschullehrern, und als W itten b erg i 5 o 2
gegründet ist, kann auch das K u rfü rsten tu m Sachsen in Angelegenheiten
der N ation seinen K u rfü rsten m itsam t L u th e r und M elanchthon und
H ieronym us S ch ü rff präsentieren.
D u rch die Hussitenkriege und das Aussterben des Luxem burgischen
Hauses in Böhm en und U n garn tr itt zum ersten M ale an der O stflanke der
Natio G erm anica an die Stelle eines grenzenlosen Glacis eine sch arfe G ren­
ze. Z uerst 1 / 4 0 9 verwandelt d er böhm ische K önig, d er K aiserkrone be­
raubt, die drei nichttschechischen Landsm annschaften der P ra g e r Uni­
versität du rch Ukas gegen ihren P ro te st in die einzige „D eutsche N ation“ .
Diese „D eutsche N ation“ in ih re r B egrenzung des 1 5. Ja h rh u n d e rts wird
also den D eutschen von Osten h e r aufgezw ungen! D eutsche N ation h a t
seitdem von W esteu ro p a h e r gesehen einen anderen U m fan g als von Osten
au s! Am R hein h ä lt m an die Ö sterreicher fü r „D eu tsch e“ . Im O sten die
F lam en und die D eutschschw eizer. D ie Z erreiß u n g d u rch die zwei U r­
teilsform en belastet alle deutsche N ationalpolitik.
Den A nspruch der D oktoren der Landesuniversität, seit dem Konzil von
Konstanz als die geistlichen R äte ih re r L an desfürsten in K irchen sachen
zu wirken, m u ß m an erm essen, um den C h arak ter d er deutschen N ation
zu verstehen, wie sie in die R efo rm atio n ein trat.
W äh ren d n u r der eine K ön ig von F ra n k re ich fü r die N atio G allica ins
Gewicht fiel, w ar die N atio G erm an ica von vornherein d u rch eine gleich­
berechtigte M ehrzahl von L an desherren und ihren U niversitätslehrern —
neben der Geistlichkeit — verkörpert. Schon im 1 5. Ja h rh u n d e rt h a t m an
versucht angesichts der kirchlichen M ißstände und Beschw erden den
R eichstag d ad u rch auch zur E rled ig u n g von K irchensachen geschickt zu
m achen, d aß m an die V ertreter d er U niversitäten au f den R eich stag lud.
D er F ü h re r im K a m p f gegen R om , D ieth er von Mainz, ließ schon i 4 6 o
eine solche E inlad ung ergehen. A ber d er R eich stag in seiner* rein lehns­
rechtlichen O rdnung der H eerschilde ließ sich n ich t um bilden zu einem
fü r geistliche F r a g e n geschickten konzilähnlichen K ö rp er. Also m u ß te
m an au f die V erkörperung d er deutschen N ation d u rch andere T rä g e r ne­
ben und abgesehen von dem R öm ischen R eich stage sinnen.
Als nun L u th e r und sein K u rfü rst w eder den B an n des P ap stes noch
das W o rm se r E d ik t anerkannten, d a haben die katholischen Stände 1 6 2 4
auf eine V ersam m lung T eu tsch er N ation angetragen . Sie zielten au f eine
V ertretu n g und V erkörperung D eutschlands d u rch F ü rste n und P ro fes­
soren.
Die Obrigkeiten und vor allem die, so hohe Schulen hätten, sollten ein
„ P ro fesso ren p arlam en t“ n ach Speyer entsenden. Seitdem haben die F ü r ­
sten stets d arau f bestanden, in K irch en frag en m it dem K aiser au f glei-

59
eher Ebene als „Partner“ zu verhandeln und so als Parteien die Religions­
sachen deutscher Nation zu erledigen.
Und das haben sie erreicht. D as K irch en a m t des römischen Kaisers
und der Papst waren beide aus dieser Konzeption der Teutschen Nation
draußen gelassen. Aber auch Kaiser und Reich auf dem Reichstag in ihrer
hierarchischen Ordnung Kaiser, Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Prälaten
und Städte waren nicht die Nation. Die kirchliche Nation ist demokrati­
scher, denn sie ist ja auch in der Kirche unterhalb von Papst und Kar-
dinälen der dritte demokratische Teil.
W o der Reichstag besteht aus da besteht die Nation aus
Kaiser den weltlichen Obrigkeiten
Kurfürsten mitsamt ihren gelehrten Doktoren.
Fürsten
Grafen und Freie Herren
Städte
Die Deutsche Nation ist also von ihrer Geburtsstunde her ohne monarchi­
sche Spitze. Das nationale Deutsche Reich Bismarcks war eben deshalb
keine Monarchie, sondern eine Republik von Fürsten. Die Deutsche Nation
hat man deshalb wohl als Kultumation untergebracht. Entscheidend ist
aber, daß niemals ein einziger Staat bei der Vorstellung: Deutsche Nation
gesehen worden ist. Die Nation ist die Gesamtheit deutscher Fürsten und
Professoren, immer als Mehrzahl gleichstehender Einzelstaaten und ge­
lehrter Geister innerhalb der Nation!
Auf der anderen Seite zeigt gleich dies erste Beispiel, daß Nation ein
Strukturverhältnis geistiger A rt enthält. Nation ist ein mit einem inneren
Gerüst — Fürsten und Universitäten — ausgerüsteter Verband, kein
formloses oder bloß natürliches Etwas. Die europäische Nation ist eine
aus der Kirche entsprungene und eine in sich rechtlich durchgebildete
Größe, ein Körper des Konzils. Fürsten und Universitäten konstituieren
die Nation, und zwar als Mehrzahl von F ürsten und als Mehrzahl von
Universitäten! Das ist die deutsche Ansicht.
Genau umgekehrt faßt der Engländer die Nation. Sie ist für ihn immer
die staatliche Einheit. Man kann deshalb auf Englisch wie jüngst der
amerikanische Staatssekretär Kellogg von dem „people of this nation“
reden als von der „Bevölkerung dieser Nation“ , wo wir vom „Volk die­
ses Staates“ reden müssen. Verstaatlichung heißt englisch „Nationali-
sation“ . Aber England ist anders wie die „deutsche Nation“ seinen Glie­
dern selbst nicht in erster Linie eine „Nation“ . Alle pathetischen Worte
mit „Nation“ sind in England Importartikel vom Festlande, auch z. B.
der Zeitschriftentitel: „The Nation“ . England ist dem Engländer vielmehr
die country. Das wird besonders durch den Gegensatz klar. Nicht andere
Nationen stehen der Countiy gegenüber, sondern eine andere Einheit:

ßo
Kontinent. Alle außerenglischen Teile Europas aber sind für den
Engländer der Kontinent. Er redet nicht vom Franzosen und Deutschen
und Polen, sondern von Continental people, von dem Festland und dem
Festlandmenschen im Gegensatz zu England. Er kann nur indirekt the
nations of the continent alle zusammen dem englischen Gemeinwesen ge­
genüberstellen. Die Folge ist, daß er die politisch organisierten Teile
seines Weltreichs den Nationen Europas gleichstellt und auf diese Weise
in der Societe des Nations in Genf jedes Dominion die Ver einsmitglied-
schaft besitzt I Vom englischen Standpunkt aus mit Recht.
Eine 1927 in Oxford erschienene History of Europe and the modern
World von Mowat zeigt, wie weit man diese Zäsur zwischen England und
dem europäischen Festland treiben kann, selbst wenn man betont ein
guter Europäer sein will. Dieses Buch reicht von der italienischen Re­
naissance und der deutschen Reformation über das Jahrhundert Lud­
wigs XIV. zu der Gründung der Vereinigten Staaten und zum „Europä­
ischen Kriege“ von 1 9 1 4 — 1918. Der Beitrag Englands zu dieser „G e­
schichte Europas und der modernen W elt“ kommt nicht darin vor. Vom
englischen Parlament, von Elisabeth, Gromwell und Pitt ist nicht die
Rede. Und Mowat empfindet vom englischen Standpunkt aus diese bloße
G egenüberstellung einer europäischen Geschichte als einer zweiten von
der englischen Geschichte säuberlich abgeschnittenen Hälfte, die den eng­
lischen Beitrag ohne Schaden weglassen kann, nicht etwa als seltsajn.
Denn nirgends rechtfertigt er die Exzentrizität des Buches. Im Gegen­
teil, er schreibt es, um „das Verständnis für die E in h eit der europäischen
Zivilisation“ zu steigern! Die Bewohner der englischen Insel haben sich
schon im Mittelalter als Bewohner eines „zweiten Erdkreises“ gegenüber
dem Festland bezeichnet. Von einer „englischen W elt“ ist die Rede.
Schon ein Sachsenkönig hatte mit dieser Vorstellung als „alterius orbis
imperator“ gespielt. England rechnet daher niemals sich selbst in das
sogenannte europäische Gleichgewicht hinein, sondern steht außerhalb
der Wagschalen. Es ist nur das Zünglein an der Waage der Geschichte
eines ausbalancierten Festlandes. Soviel über Englands „Nation“ .
Frankreich als Festlandsmacht versucht alle Nationen Europas als Pla­
neten oder Satelliten um das Gestirn Frankreich kreisen zu lassen, aber
dieser Hegemonialgedanke, ähnlich dem deutschen und italienischen, ent­
springt durchaus der Rolle der natio Gallica im Rahmen der Kirche!
Denn das Kennzeichen der natio Gallica war, daß in ihrem Gebiet die
eine Hochschule der Christenheit lag, die theologisch den Ausschlag
gab: Paris. Die Gleichsetzung der natio Gallica mit dem Königreich
Frankreich begründet jenen Nationalismus des Franzosen, der zwar alle
vierzig Nationen paritätisch, Frankreich aber an ihrer geistigen Spitze
sieht.
Die Deutschen haben, um ihr Reich zur Natio zurückzubilden, dezen-

6l
tralistisch und demokratisch verfahren müssen. Dabei mußten sie sich
sehr in acht nehmen, den neuen Germanismus nicht auf das klassische
Altertum zu stützen. Denn bei Caesar läuft die Grenze Germaniens am
Rhein. Arndt schrieb zur Abwehr dieser Gefahr des humanistischen W elt­
bildes: „D er Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze.“
Er wußte gar nicht, wie recht er hatte. „Deutsch“ hat nämlich gerade die
linksrheinischen Franken bezeichnet, die nicht verwelschten. „Deutsch“
spricht ursprünglich der Franke in Aachen, nicht der Sachse oder Bayer1.
Aber zum Reich dieser deutschen Franken gehören viele „Nationes“ .
Die Franzosen hatten den umgekehrten Start. Der Staat ihres Königs
war kleiner als die Nation. Der König der Isle de France besaß Elsaß,
Orange, die Bretagne, wie Rousset noch 1735 schrieb, nur aus „Kon-
venienz“ , aus Machtgründen. Die Franzosen mußten, um ihre natio zu
verselbständigen, ein zufälliges, gerade damals dem König von Frankreich
gehörendes Reich erst der Nation zuordnen. Ihre Nation ist also anfangs
größer als der politische Körper, genau umgekehrt als bei den Deutschen.
Deshalb haben dlerFranzasen die rein diesseitige, rein geographische Auf­
fassung des Abendlandes als „Europa“ besonders gepflegt. Denn so könn­
ten sie aus der Kirchenprovinz Gallien den geographischen Begriff Gal­
lien entwickeln. Das antike Gallien tritt an die Stelle des christlichen. So
wird das natürliche eigentliche Frankreich entsprechend dem antiken Be­
griff Europa. Freilich die Dreiteilung Galliens bei Caesar — bei Caesar
bewohnen es drei verschiedene Nationen 1 — wird wohlweislich nicht über­
nommen. Sondern diese bleibt stillschweigend durch das nationale Zen­
trum Paris ersetzt. Aber dafür fordert man ganz logisch die Rheingrenze
als natürliche Grenze.
Die deutsche Nation mit ihren Fürsten und Universitäten hat keine
natürliche Grenze. Denn sie ist keine geographische Vorstellung. Die
Franzosen denken an Gallien und an Paris, wenn sie den Umfang und
Inhalt ihres nationalen Lebens bezeichnen wollen.
Deshalb glauben sie, daß jedes ein Klein-Paris besitzende Volkstum
auch „natürliche“ politische Grenzen habe und haben deshalb die For­
mel: jeder Nation ihr Staat, streng durchgesetzt. Die Kroaten, die Letten,
die Finnen sind eine Nation, weil es Agram, Riga und Helsingfors gibt,
so wie es Paris gibt.
Die Natio Gallica mit der abendländischen Rolle der Pariser Universi­
tät wird also multipliziert! Eine Nation, die eine Hauptstadt hat, hat auch
natürliche Grenzen. Deshalb sind vom französischen Standpunkt aus ge­
sehen auch Österreich, Bayern, Böhmen, Württemberg einfach schon
deshalb je eine Nation, weil es Wien, München, Prag und Stuttgart gibt.
So legt man sich das eigene Recht gegen den Anschluß Österreichs in Pa-
1 Näheres enthält die Vorstudie „Unser Volksname Deutsch“ in Mitteilungen der Schles.
Ges. f. Volkskunde 1928, 1 ff.

62
ris zurecht. Herriot schrieb noch am 26. März 1931, der „Anschluß“ sei
unmöglich. Denn dann würde Deutschland statt eines Kreises mit einem
Mittelpunkt zu einer Ellipse mit zwei Brennpunkten! Uns kommt es ko­
misch vor, eine Ellipse für unzulässig zu erklären. Aber die Franzosen
erblicken darin ein schlüssiges Argument. So hat man 1866— 1870 argu­
mentiert, als man Rache für Sadowa wollte. Die flämischen Bauern in
Nordfrankreich hingegen sprechen nach einem klassischen W ort keine
nationale Sprache, sondern nur ein „patois“ ; der städtische Mittelpunkt
fehlt, das geistige Zentrum.
W eil an die Nation als an eine geographische Gegebenheit der Land­
karte geglaubt wird, muß jeder ihr Staat gegeben werden.
Was da das Stichwort „Europa“ ausmacht, zeigt ein Vergleich mit
dem englischen W ort „W estern“ . Sobald ein Engländer „französisch“
spräche, d. h. als Europäer, dann könnte er nur mit den Franzosen Irland
und B ritannien als nationale Staaten nebeneinandersetzen. Weder die
Dreiteilung: Schottland, England, Irland, noch die Vereinigung aller drei
zu dem United Kingdom kann vor der französischen Logik bestehen. Es
fehlen die natürlichen Grenzen I Der englische Begriff Western hingegen
umhüllt die Insel der Atlantik durchaus als Einheit gegenüber dem Kon­
tinent. Wenn doch das Festland die eine Hälfte bildet, dann ist das Meer
und alles, was darinnen ist, die englische Hälfte. Nach diesem Anspruch
hat England immer gehandelt. Deshalb hat es alles nicht dem europä­
ischen Festland zugewendete Land als seine gute Prise betrachtet, Helgo­
land, die französisch sprechenden Kanalinseln, Irland, Malta, die Ioni­
schen Inseln und Cypern und den Feisen von Gibraltar.
Der Verlust Irlands wäre ohne die moralische Minierarbeit des Euro­
pagedankens von 1789 undenkbar gewesen. Nur in dem irischen Ulster
hat England dem Sieg der französischen Revolution ein Stück seines iri­
schen Gebietes vorzuenthalten vermocht I
Deshalb sind die Franzosen von Anfang an voll Mitleid für die pol­
nische Teilung. Für das Land der Reformation, für die Deutschen hin­
gegen, hat eine Nation ohne wirksame „weltliche Obrigkeit“ keinen An­
spruch auf ihren Staat. Die Italiener schließlich stehen zuerst in reiner
Abwehrstellung gegen den Zerfall der Kirche in Nationen. Sie protestie­
ren i 4 iö unter Berufung auf die Einheit der Christenheit gegen die
Abstimmung nach Nationen. Natürlich ! denn ihre Nation stellt den Papst
und die Mehrzahl der Kardinäle, also die beiden anderen Faktoren des
Konzils I S o g eh ö rt fü r den Ita lien er d er P a p st zu r N ation. „II Papa re“
heißt es jubelnd noch i 8 4 8 . Und den Papst als Zierde der italienischen
Nation muß Mussolini bestehen lassen.
Welche Verschiedenheit des Nationalgedankens! Aber gerade die Ver­
schiedenheit wird erklärlich aus der gemeinsamen kirchlich-geistigen Her­
kunft des Nationsbegriffs: Natio ist gleich Fürst plus Professoren so-

63
wohl in Frankreich wie in Deutschland. Aber in Frankreich gab es nur
einen König und ein Paris I
In Italien hält der Papst allein die Nation im Mittelalter gegen das
Kaisertum zusammen. Alles andere ist zentrifugal. Er ist es, dessen „zwei­
tes Rom“ durch die Hereinnahme auch des außerhalb des Reiches liegen­
den Süditaliens und Siziliens den Regriff Italien geschaffen hat. Hier
hat daher die Nation anders wie in Frankreich ohne die Durchblutung
mit einer vom Staat her durchgeistigten Einheit bis 1914 und bis zu
Mussolini verharren können, obwohl sie — wieder anders als die deutsche
Nation — einen sichtbaren Mittelpunkt auch des nationalen Interesses in
der römischen Kurie besaß. Die Italiener stellen ja das Personal dieser
Kurie. Die italienische Nation war also die bevorzugte Rohstoffquelle für
den päpstlichen Kurialen und besaß darin ein gemeinsames, auch materi­
elles Interesse.
Das Abendland vor der Papstrevolution aber kennt nicht die G roß­
nation, sondern nur die Stämme. Es isit ja gerade deshalb die Einheit des
Abendlandes notwendig gewesen, weil die Stämme sonst die größten Ein­
heiten gebildet hätten und auf ihrer Grundlage das Festland nicht zu or­
ganisieren war.
Jede Nation umfaßt viele Stämme und mischt sie.
Das Schillernde des Begriffes der Nation beruht mithin gerade auf sei­
ner gemeinsamen Wurzel in der Kirche. Jede Nation stand anders inner­
halb der Welt. Sie hat aber auf ihre kirchliche Mitgliedsrolle, ihre unab­
hängige Stellung in der W elt aufgebaut. Bei dieser Verwandlung mußte
jede Nation etwas ganz anderes werden. Nur die gemeinsame geistige
Überlieferung aus dem Kirchenganzen und die weltliche Unabhängig­
keitsidee ist das gemeinsame Kennzeichen aller Nationen geworden.
Eine Übersicht halte wieder unser Ergebnis fest.

Nation in Italien die durch den Papst geschaffene


unstaatliche Einheit der Apennini-
schen Halbinsel * gegenüber dem
Kaisertum.

Nation in Deutschland die demokratische Gleichstellung


aller Obrigkeiten der deutschen
Nation in Kirchen- (Kultur)sachen
gegenüber dem Papsttum und sei­
nem kaiserlichen Schirmherrn.

Nation in England Einzelstaat des Festlandes gegen­


über der Insel.

64
Nation in Frankreich jede europäische Sprachgruppe mit
hauptstädtischem Schulungs- und
Bildungszentrum zusammengefaßt
in einem selbständigen, einzigen
Staate.
Nation in der Sowjetunion.
„Die Nationen sind auserwählt.“ Aber jede dieser Auserwählten hat
eine andere Färbung. Die Italiener sind bei Dante ein „Santo popolo“ , die
Deutschen sind den Deutschen die Reichsnation, den Engländern ist ihr
Inselvolk auserwählt wie Israel aus tausenden, die Nation ist den Fran­
zosen so natürlich die erste, wie Paris die Hochburg der Zivilisation
ist oder wie geographisch Frankreich in der Mitte liegt. In Rußland aber
wird ein neuer, dritter Begriff der Nation vorbereitet: Nicht als Kirchen­
teil, nicht als Träger des Staats erscheint diese dritte Nation, sondern als
Erziehungskörper innerhalb der Weltgesellschaft und Weltwirtschaft.

5 Rosenstock 65
V. SOZIALE VORGESCHICHTE
DER REVOLUTION: DIE KLASSENZIELE

1. Der Klmsenham'pf

I talien, Deutschland, England und alle anderen Nationen empören sich


in Revolutionen. Aber in allen Nationen trägt die Empörung auch ein
soziales Gesicht. Der Papst revoltiert gegen den Kaiser, die Fürsten gegen
den Papst, der Adel gegen die Fürsten, gegen den Adel die Bürger, gegen
die Bürger das Proletariat. Alle Nationen schlagen ihr Leben in die Schan­
ze in diesem Kampf.
Aber in welche Schanze wird denn dies „gefährliche Leben“ geschla­
gen? Nach welchem neuen Bilde stürmen die Bilderstürmer, was treibt
den Klassenkämpfer ?
Der Soldat greift an, weil es befohlen wird. Der Revolutionär aber ist
stets ein Freiwilliger. Das heißt aber, daß in solchen Sturmzeiten „in das
Schiff der Zeit als Bussole nur das Herz“ gelegt werden kann. Kein Be­
fehl wird befolgt. Die Revolution besteht ja in der Aufkündigung des Ge­
horsams. Der Verstand steht still. Das Herz überlebt den Bruch. Das
Herz als Kompaß zeigt aber immer auf ein einziges Z iel: auf die Gestalt
eines Menschen. Unser freies Herz, wenn es sich im tiefsten treu ist, wenn
es opfert für etwas Lebendiges, dann meint es weder Ideen noch Prinzi­
pien, Institutionen, Kunstwerke. Dann meint es einen Menschen, meint
Den Menschen, der neu geschaffen werden soll. Die Freiwilligen einer
Revolution können nur siegen, wenn sie mit dem Herzen kämpfen. Und
dann muß aus ihren Kämpfen ein neuer Mensch hervorgehen. Das hat
Nietzsche auch mit seinem Übermenschen sagen wollen.
Deshalb aber, weil der W ille auf diesen Menschen hin niemals be­
fohlen werden kann, weil echte, revolutionäre Ideen und Volkserhebungen
dem Herzen ganz und gar eigentümlich bleiben, deshalb wird der Kurs
auf „den neuen Menschen“ nie „willentlich“ angesteuert. Die Italiener
wollen nicht den Italiener erzeugen, die Deutschen nicht zielbewußt den
Deutschen hervorbringen. Menschheit ist im Entstehen, aber sie wird nicht
fabriziert dadurch, daß die Revolutionäre ihre Nation vergöttern, sondern
dadurch, daß sie eine neue Ordnung des Lebens mit anderen Menschen
und für andere Menschen, ja für die Menschheit, schaffen wollen. Selbst­
vergessen stürzen sie in den Tod aus Liebe zu dem noch ungeborenen
Menschen.
Die Erschaffung Die Erschaffung des Menschen in der Revolution geht also einen Um-
d e s M e n s c h e n ejne neue Ordnung der Dinge. W ürde das Ziel: Mensch direkt
anvisiert, so würde dieser neue Mensch ja auf Kommando entstehen; er
wäre ein Homunculus aus der Retorte, aber nicht der von den Freiwilligen

66
der Revolution geliebte und ersehnte S o h n der Revolution. Mit anderen
Worten: Mittel und Ziel der Revolution bedingen einander.
W eil die Revolution von Freiwilligen gemacht wird, deshalb muß ihr
Geschöpf ein freier Mensch werden! Dem entspricht es, daß man umge­
kehrt durch den Krieg Untertanen, Länder, Staatsbürger gewinnen kann.
Denn der Krieg befiehlt; die R ev olu tion ruft. Die Revolutionäre verneh­
men eine göttliche Berufung. Darum müssen sie ihre Nachkommen ent­
springen und wachsen lassen. Sie müssen an ihren Nachwuchs glauben!
Und so drillen sie nicht Puppen, sondern errichten eine neue Ordnung,
aus der die zukünftige Menschheit „von selbst“ erwachsen muß.
Eine materielle Dingwelt wird dazu geschaffen, damit sie den Daseins­
kampf des Menschen grundlegend verändere. Der neue Mensch jeder Re­
volution ist also„d er Mensch in der Gesellschaft“ , ein Mensch, der immer
wieder hervor gebracht werden soll. Es winkt ein Doppelziel: Eine neue
Ordnung soll entstehen und aus ihr soll nicht nur ein einzelnes Indivi­
duum, etwa ein Herrscher, sondern ein neuer Typ Mensch soll entstehen.
Nicht leibliche, sondern geistige Söhne will der Revolutionär. Und deshalb
soll sich keine bloße Familie, sondern eine geistige Menschenpflanzstätte
soll sich neu bilden. Diese Ziele sind überschwenglich. Der gemeine
Mensch des Friedens will ein oder mehrere Individuen zeugen. Er will
leibliche Kinder als sein Ebenbild. Und er will sie legitim, im Hause
als Ehemann mit seiner Ehefrau gewinnen. Kraft der Revolution über­
schwingt er sein Gleichmaß und gerät außer sich und über sich. Er will
eine neue Art und er will sie in geistiger Freiheit erschaffen.
Nicht ein Geschöpf, das „sich“ fortpflanzt, nein, ein Schöpfer, der
„Neues“ schafft, ist die Revolution. Sie r u f t n eu e M en schen ins L eben . Sie
ruft sie aber in der Weise, daß sie einen neuen Garten absteckt, In dem
der Mensch veredelt werden und besser fortkommen soll als bisher. Sie
schlägt also einen Umweg ein, damit ihr Geschöpf frei sei, ein Sohn, kein
Knecht.
Die Gesetze für diesen Gartenbau sollen natürlich die letzte Erkenntnis,
die Quinta essentia der Vernunft dar stellen. Alle Revolutionen wollen alte
Vernunft durch neue Vernunft ersetzen. Kann es nun so viele verschiedene
Vernunft in der W elt geben wie Revolutionen? Der Schöpfermut der
Revolution wird ernstlich gefährdet durch das niederschlagende: Es ist
alles schon dagewesen. Die Revolution muß die Vernunft neu zu ent­
decken glauben; alte Vernunft verhindert sie also.
Das sehen wir heut in dem durchrevolutionierten Europa. Für Euro­
päer gibt es diesen W eg nicht mehr, weil sich die Vernunft für sie nicht
mehr neu entdecken läßt. Der Europäer kann seine Zuflucht nur auf
einem nachrevolutionären W eg mit anderen Zielen und Methoden finden.
Diese ganze Erörterung hat also keinen akademischen Charakter, wenn
sie zeigt, daß „Revolution“ eine neue Vernunft bedingt. Denn nur solange
5* 67
in Europa Platz für eine solche war, konnte es neue Revolutionen geben
und hat es sie gegeben. Diese Plätze für die einzelne Revolutionsvemunft
stehen selbst wieder in einem vernünftigen Zusammenhang. Sobald er
aufgedeckt wird, zeigt sich, daß heute alle revolutionären Plätze vergeben
sind!
Die Reihenfolge der Revolutionen auf ihren Vernunftgehalt zu prüfen,
ist der Inhalt dieses Abschnittes. Auf die menschlichen Pflanzstätten hin
angesehen heißt das: Eine Gesellschaftsordnung ist auf die andere ge­
folgt. Was ist nun das für ein Ordnungsgefüge, aus dem sich eine Revo­
lution nach der anderen in sinnvoller Reihenfolge abgerollt hat?
W ie entsteht das Gefälle zum Ablauf einer Geschichte, die bald hier
bald dort geschieht und trotzdem immer nur die Fortzeugung des Men­
schen geschehen läßt?
Das erklärt sich aus einer schärferen Beobachtung der inhaltlichen
Reihenfolge der Revolutionen. Die Inhalte aller europäischen Revolutionen
stehen in streng gesetzmäßigem Zusammenhang.
Sie folgen sich derart, daß der Papst beginnt, die weltliche Obrigkeit
folgt; nun erhebt sich die englische Gentry; es folgt die Bourgeoisie in
Frankreich und zuletzt der Proletarier in Rußland. Es sind also die Stände
in genauer Reihenfolge, die sich empören: Die geistlichen Fürsten, der
weltliche Fürstenstand (der hohe Adel), der niedere Adel, die Freien
und die Knechte empören sich nacheinander. Die Namen Papst, weltliche
Obrigkeit, Gentry, Bourgeoisie (oder tiers etat) in Frankreich und Pro­
letariat sind die Worte der Revolution selbst; es ist der zeitgemäße und
eigene Name für jede dieser Gruppen im Augenblick ihrer Revolution
und daher ist dieser Name eben jeweils italienisch, deutsch, englisch,
französisch und russisch gefärbt.
Aber die Umsetzung dieser Eigennamen in eine zweite allgemeine be­
griffliche und dadurch betont un-revolutionäre Namenreihe ist nicht
müßig.
national revolutionär In unserer Sprache
Papst Stellvertreter Christi Die Kirchenfürsten
Weltliche Obrigkeit „Souveräne“ Der hohe Adel
Gentry Commons Der niedere Adel
Bourgeoisie Citoyens Die Freien (Bürger und
Freibauern)
Proletariat „Soldaten, Arbeiter, Die Knechte (Arbeiter in Stadt
Bauern“ und Land)

Die Zuordnung zu den einzelnen Völkern wird uns noch später ein­
gehend beschäftigen. Die Slaw en machen die K n ech tsrev o lu tio n , sie, de­
ren Name bei dem deutschen „Sklaven“ Pate gestanden hat; das wird
ebensowenig Zufall sein, wie daß Frankreich, diese in Paris sich ganz

68
aufgipfelnde Nation, für die städtische Freiheit Revolution macht. Nir­
gends gab es eine so zahlreiche und mächtige „weltliche Obrigkeit“ als
in dem Fürstenlande Deutschland. Und kein Bischof oder Abt des Abend­
landes konnte es aufnehmen mit dem Bischof von Rom.
Aber die andere Seite der Liste, die unnationale, die ständischsoziale
ist hier von größerer Wichtigkeit. Denn sie erschöpft vollständig alle Stu­
fen der abendländischen Gesellschaft! Es ist kein Stand, der nicht Re­
volution gemacht hat! Kirche und Schloß, Ritterschaft und Bürgerhaus
in Europa und die bolschewistische Arbeitsstätte — sie sind alle auf der
Lava eines Vulkans erbaut!
W er den Sachsenspiegel kennt, der weiß, daß Eike von Repgow gleich Die Heersc
Ordnung
im Eingang seines Werkes die Ordnung des Römerheeres der Deutschen
darstellt. Das ist die Heerschildordnung des Heiligen Römischen Reichs,
wobei Heerschild die Kommandogewalt bedeutet. Noch Justus Möser hat
1770 dieser Heerschildordnung verständnisvoll gedacht. Seitdem freilich
gilt sie als ein historisches Fossil.

Sachsenspiegel Nationale Unsere Bezeichnung


(etwa 1222) Terminologie
1. Schild Kaiser Kaiser Kaiser
2. Schild geistliche Fürsten Papst Kirchenfürsten
3 . Schild weltliche Fürsten 1
Der hohe Adel
l\. Schild freie Herren l weltliche Obrigkeit
Europas
und Grafen J
5 . Schild Dienstmann und Gentry Der niedere Adel
Schöffenbarfreie des Landes
6. Schild Der Mann, der eine Tiers Etat Bürger und
eigene Wirtschaft Bourgeoisie Freibauer
hat Der Eigentümer
7. Schild Der sogen, gemeine Proletariat Der gemeine Mann
(fraglich) Bannalist Arbeiter und Die Arbeits­
Alle Heerbann­ Bauern kraft der Arbei­
fähigen (bei terschaft und des
Möser) hörigen Bauern­
tums, die aber
Soldat wird: die
Mannschaft
8. „Klasse“ außerhalb der L ump enproletariat, Revolutions­
Heerschilde unfähige
Die unehrlichen
Leute „H uren­
kinder“ usw.

69
Nun, diese Heerschildordnung ist nichts anderes als die Stufenreihe
der Revolutionäre! Eike von Repgow zählt auf den Kaiser, die geistlichen
Fürsten, die weltlichen Fürsten, die Grafen und Freien Herren, die Dienst­
mannen und Ritter und Schöffenbarfreien, die Mannen und Knechte. Das
sind sechs Schilde. Beim siebenten Schild bezweifelt er das Dasein. Ju­
stus Möser (Patriotische Phantasien Nr. 4 ü) zählt über den siebenten Heer­
schild hinaus noch eine achte Klasse: die unehrlichen Leute, unehelichen
Kinder usw.
Es ist also seit Otto I. bereits alles da, was später auf der Bühne der
Geschichte selbständiges Leben gewinnt 1
Dabei muß man hervorheben, daß Eike selber bereits die weltlichen
Fürsten mit dem gesamten übrigen hohen Adel, den Grafen und Freien
Herren, wegen der gleichen Stellung zu den Pfaffenfürsten zusammen­
stellt; ebenso sind die Reichsrechte der Schöffenbarfreien bei Eike die
gleichen, auf denen die Lage des französischen tiers etat in seinen Par­
lamenten beruht hat. Der „dritte“ Stand, der sechste Heerschild ist die
letzte Standesstufe in dem echten Sinne, daß er sowohl passiv gehorcht
wie aktiv unter sich noch Leute hat. Der sogenannte „vierte“ Stand, der
siebente Heerschild ist hingegen nur passiv. Er ist ohne politische Befehls­
gewalt.
Deshalb ist die Zählung Dritter und Vierter Stand eine bloß äußerliche
Übersetzung ins Deutsche geblieben. Und um der nächsten revolutionären
Bewegung, die auf die der Bourgeoisie gefolgt ist, ihr eigenes Gesicht
zu geben, mußte man diese Zählung aufgeben und von Arbeiterklasse,
von Proletariat, reden und sogar den B egriff des Standes fallen
lassen.
Die K la sse aber, die in Rußland Revolution macht, ist nun wieder etwas
anderes als was der deutsche Kleinbürger und Sozialdemokrat bis 1 9 1 4
als die revolutionäre Klasse in Europa anzusehen sich gewöhnt hatte.
Während der industrielle Teil Europas den Industriearbeiter und ihn
allein für den Träger der nächsten großen Weltbewegung hielt, ist es
sehr anders gekommen. Seit dem Weltkrieg durchzucken *Bauernunruhen
Europa. Die Träger der russischen Revolution sind eben durchaus nicht
dieselben sozialen Gruppen, die den revolutionären Gedanken vor dem
Kriege in Deutschland oder Frankreich in Erbpacht hatten! Der Land­
bewohner, der Dorfarbeiter wird die wichtigste Schicht in der Um­
wälzung.
Daß man am Anfang des Jahrtausends und am Ende die gleichen
Stufen vor sich sieht, zeigt, daß die Tafel der Revolutionen feststeht und
erschöpft ist. Gerade die Ausnahme des achten Schildes bestätigt die Re­
gel. Die sozialistische Theorie hat bekanntlich mit Recht viel Mühe darauf
verwendet, diesen Schild des Lumpenproletariats als revolutionsunfähig
auszusondern. Der Ring ist also geschlossen. Um so denkwürdiger ist die

70
Erkenntnis! Die europäische Menschheit hat ein soziales Schicksal. Jede
soziale Schicht hat einen Anwalt in Europa gefunden, der sich nur ihren
Interessen weiht.

2. D ie soziale Vorgeschichte der Revolution


Aber bevor dieser Anwalt auftritt, gibt es immer Mißverständnisse, so
wie sie der westeuropäische Sozialismus vor 19 17 begangen hat.
Die soziale Vorgeschichte einer Revolution verläuft unter anderen Vor­
zeichen und Überschriften als das Ereignis selbst. Und wer die Revolu­
tion macht, das weiß man nicht aus der Literatur des Vorabends der Re­
volution, sondern nur aus ihr selbst. Denn die Literaten des Vorabends
sind meist noch in einer anderen nationalen Umwelt beheimatet als die
Revolution. Der revolutionäre Keim wird nämlich durchweg in einem an­
deren Lande erzeugt als dort, wo er aufgeht. W er Wind sät, wird Sturm
ernten, gilt wörtlich von der Geschichte der Revolutionen: die Europäer
haben den Wind nach Rußland gesät und ernten den „Sturm über Asien“ !
Weil wir diesen Zusammenhang fühlen, deshalb überschätzen wir so­
gar meist zu sehr die Gleichheit des Marxismus in Rußland und die „mar­
xistischen“ Vorkriegsbestrebungen bei uns. Indessen eine solche Gleich­
heit besteht nicht. In Wahrheit hat Lenin mit Bebel oder Scheidemann
nicht mehr gemein als Luther mit Machiavell oder Robespierre mit W a­
shington. Aber trotzdem läuft von den Ultrarevolutionären von 1789
ein gerader Strang nach Rußland. Marat hat die Diktatur der Armen ge­
fordert als Regierungsform. Er hat 270000 Köpfe im Oktober 1792
verlangt, um die Revolution durcbzuführen. Er hat die Revolution in Per­
manenz verlangt, wie er es nannte: l’emeute populaire se renouvelant sans
cesse. Marat hat also die Theorie der Gewalt vorgebildet.
Jede Revolution nämlich hat im Geist eine ausländische Vorgeschichte, Ideologie und
Revolution
von der sie sich um so gründlicher in Fleisch und Blut scheidet.
Das Verhältnis der Linksopposition von 1789 zu den Russen entspricht
dem Verhältnis der Reformation zu den franziskanischen Spiritualen, zu
W iclif und Hus oder zu den Humanisten. W ie wenig hat Luthör mit den
Humanisten zu schaffen. Aber die Päpstlichen meinten noch in Worms
iÖ 2i, die „Grammatiker“ (d. h. die Humanisten) seien an dem deutschen
Unheil schuld. W ie anders ist Luthers Bund mit seinem Landesherm als
die „göttliche Gerechtigkeit“ eines W iclif. Aber auf der anderen Seite hat
Luther i 5 4 5 ein Blatt herausgegeben, das ein Anhänger der Spiritualen
und Joachimiten hätte 1270 verfaßt haben können: Das Bild zeigt näm­
lich den Papst, die Guttaten der Kaiser dadurch lohnend, daß er (eigen­
händig) Konradin das Haupt abschlägt!
Ebenso ist Cromwell scheinbar der Mann des Calvinismus. Aber wenn
auch heute sein Denkmal in Genf steht unter den Helden dieses Glaubens,
so hat er gerade nicht dem Galvinismus zum Siege verholfen trotz seiner

7 1
Beschützerrolle. Die englische Revolution hat sich eben auf eine andere
Gesellschaftsschicht gestützt als die, an die der Calvinismus appelliert
hatte. Trotzdem hat der Calvinismus den Puritanern das geistige Rüstzeug
geliefert. Aber Geist und Gruppe sind zweierlei. Auch die W affen zum
Kampf gegen das abendländische Kaisertum hatten nicht die römischen
Päpste sich selbst geschmiedet. Cluny ist es gewesen und die deutschen
Reformpäpste, die den Lehren der römischen Revolution südlich der Al­
pen Vorarbeiten mußten.
Wie Cromwell zu Spinozas Freunden, zu den Brüdern de W itt in Hol­
land, wie Lenin zu Jaures, so verhält sich Hildebrand-Gregor zu den Äb­
ten von Cluny. Welche enge Abhängigkeit und doch welcher Abgrund!
Benjamin Franklin und Robespierre, Washington und Napoleon sind ohne
einander nicht zu denken. Aber welche Welten trennen die Erklärung der
Menschenrechte im amerikanischen Kongreß von ihrem Sinn und W ert
in der Pariser Konstituante I Der Unterschied ist etwa dem zu vergleichen,
der zwischen der Proklajnierung des Achtstundentages in Europa und der
Agrarrevolution in Rußland besteht. Das eine ist der europäische Sozia­
lismus, das andere ist die russische Revolution. Trotzdem stammt die Bi­
bel der Russen aus dem Westen, nämlich: Marxens Kapital. Geradeso
stammt das Zauberwort der deutschen Fürsten aus Italien, die Italiener
haben ihnen den uns Deutschen so teuer gewordenen Namen des Staats
geschenkt. In diesem italienischen Namen, den Italienern selbst gleich­
gültig, bringen wir noch heute auch alle gesellschaftlichen Fragen
unter.
Die Verherrlichung der „Gemeinde“ (Gommunitas Sancta [Commu­
nity] ) im Calvinismus hat den englischen Commons das Pathos zu ihrem
Commonwealth gegeben. Der Grundgedanke der deutschen Reformierten
hat hier seine höchste politische Verwirklichung gefunden. Dank dieser
ausländischen Lehre haben z. B. die Engländer heute noch keine geschrie­
bene Verfassung. Die „Gemeinde“ wird nicht papieren konzipiert.
Die Franzosen wiederum verdanken einen Eckstein ihres politischen
Lebens den Angelsachsen. Gerade zum Protest gegen die ungeschriebene
Verfassung haben die Amerikaner ihren Bürgern die Grundrechte ver­
briefen wollen. Auf die angeborenen Menschenrechte Brief und Siegel
zu geben, ist eine amerikanische Idee, und der Gedanke, das nationale
Leben auf ein Stück Papier als Verfassung aufzuzeichnen, gleichfalls.
Die „Konstitution“ , das Palladium Frankreichs und aller Französlinge,
ist also ausländischen, angelsächsischen Ursprungs.
Die Russen schließlich verdanken ihre Vorstellung einer Gesellschafts­
ordnung und der Planwirtschaft den französischen „Sozial“-Lehren von
den Klassen und der Gesellschaft und dem B egriff des ordre social seit
Saint Simon und Comte.

72
Wegbereiter Verkörperung
Burgundische Cluniacenser Rom, ecclesia Romana
ecclesia
Italienische Spiritualisten Wittenberg und Potsdam
und Humanisten, stato sächsischer, preuß. Staat
Marsilius v. Padua
Deutsche Calvinisten Westminster, Commonwealth
Communité
Amerikanische Independents Paris, Constitution
Constitution
Französische Communistes Moskau
ordre social ökonomische Politik

Jedesmal wird ein ungeheurer W eg zurückgelegt, das Kleine ins Rie­


sengroße gesteigert und das Ganze dann radikal verabsolutiert. Aber die
geistige Herkunft aus der Fremde ist unleugbar.
Wenn man diese Tafel mustert, so findet man, daß die Sturmvögel Sturmvögel der
der Revolution immer aus dem Gebiet stammen, das die vorhergehende Revolutlon
Revolution unterworfen hat. Man kann sie daher auch umgekehrt lesen:

-R om

italienische Spiritualisten---------------- ► Wittenberg

deutsche Calvinisten Westminster

französische Kommunisten------------ ► Moskau

Der geistig-revolutionäre Überschuß einer Revolution wird also aus ihrem


Mutterland ausgestoßen und dringt nun in die übrige W elt hinüber.
Dieser Überschuß wird aber im Mutterland besonders leidenschaftlich
verfolgt. Es sind die Geächteten des Mutterlandes, die den Samen der
nächsten Revolution weitergetragen haben. Gegen niemanden ist die euro­
päische Großmacht so harthörig, wie gegen den Gegensatz, den sie seihst
hervorruft. Die Calvinisten waren vom Augsburger Religionsfrieden 1 5 5 5
ausgenommen. Schon i 5 3 o heißt es amtlich im Reichstagsabschied von
den vier oberdeutschen reformierten Städten, sie hätten sich von der deut-

73
sehen Nation abgesondert — während den Augsburger Konfessionsver­
wandten diese Zugehörigkeit gerade verbrieft wurde. 1600 wurde der
sächsische Hofprediger in Dresden wegen „Hinneigung zum Calvinismus“
enthauptet!
Die Kommune in Paris ist von den Franzosen mit entsetzlicher Grau­
samkeit niedergeschlagen worden. 20000 Erschießungen und 5 ooo De­
portationen haben den Kern des Proletariats ein für allemal ausgerottet.
Und es sind die anglikanischen Verfolgungen, denen alle englischen Sek­
ten, z. B. die Quäker, ihre heutige Kraft verdanken. Savonarola schließ­
lich, der Spirituale, wird in Florenz 20 Jahre vor Luther verbrannt,
nität Das Mutterland einer Revolution wird eben durch diese Grausamkeit
zum Bollwerk gegen die nächste. Es ist, als gewänne eine Nation durch
ihre eigene Revolution eine Immunität gegen alle späteren, vor allem aber
gegen die nächstfolgende. Sie gewinnt durch die eigene Revolution die
Kraft, auch in großen Versuchungen sich selber treu zu bleiben.
England ist der Rufer im Streit gegen Napoleon gewesen. Noch 1914
sind die Briten gegen den New Napoleon alarmiert worden. Alle Legiti­
misten des europäischen Festlandes verdanken ihr geistiges Rüstzeug ge­
gen die Ideen der französischen Revolution den Engländern.
Poincaré ist heute der Vorkämpfer der Bourgeoisie gegen den Bolsche­
wismus. An ihm und den, wie wir nun sehen, gerade den Ideen von 1789
verwandten Amerikanern prallen alle russischen Gedankengänge hoff­
nungslos ab. Alle andern Länder, z. B. England und Italien haben viel
stärker die russische Welle zu spüren bekommen als Frankreich.
Diese Immunität findet sich aber auch bei Italien gegenüber der Refor­
mation. Keine Großnation hat so wenig von ihr zu leiden gehabt als Ita­
lien. Minimal — im Verhältnis zu Frankreich und England — ist Luthers
Einfluß in Italien geworden.
Der englische „Königsmord“ von 1649 bat im deutschen Obrigkeits­
lande nur Entsetzen erregt. Keine einzige ähnliche Adelsbewegung ist in
Deutschland zu verzeichnen, während in Ungarn, Polen, Frankreich
(Fronde!) die heftigsten Wirkungen zu spüren sind.
Die Immunität der früheren Revolution gegen die nächste beruht auf
der Kraft jeder Revolution, die Forderungen der nächsten in erheblichem
Umfange schon auf friedlichem W ege mit zu verwirklichen. Darüber wird
noch bei jeder Revolution gesondert zu handeln sein. Von allen bisherigen
Revolutionen scheint sich die russische zu unterscheiden. Bisher fehlen
ihr die Sturmvögel einer nächsten Revolution. Die sogenannte Links­
opposition in Rußland ist — man möchte sagen — im Programm
vorgesehen. W ie alles nach chemischer Formel verläuft, so auch diese
Opposition. Einen Gegensatz im Ziel so tief wie zwischen Calvin und
Luther oder Marat und Robespierre vermag ich zwischen Stalin und
Trotzki nicht wahrzunehmen. Aber noch mehr. Trotzki war vor Stalin
an der Macht. Die früheren Linksoppositionen sind machtlos geblieben.
Gerade diese Abstinenz stärkte sie im Kampf gegen die neuen Machthaber,
die ihre Ideale verrieten. Mithin scheinen die Bewußtheit dieser Revolu­
tion und ihr Wille, die letzte zu sein, den Ausfall eines Wiedertäufer-
und Schwarmgeisterflügels zu bewirken. Von einer anarchistischen Oppo­
sition hört man nichts.
Vielleicht liegt in diesem Vorgang eines der bedeutendsten Zeichen für
den Charakter der russischen Revolution. Sie hat nämlich bereits im Jahre
1905 das Problem der ,,Freiheitsrechte praktisch erledigt und ist be­
reits damals (im Organisationsstreit zwischen Mehrheit und Minderheit)
auf die Herrschaftsform losgegangen. Sie hat also umgekehrt wie alle
bisherigen Umwälzungen vorher von sich die bloßen Wunschziele und
Utopien abgeschüttelt. Das „Reich der Freiheit“ und die „Freiheitsrechte**
sind für Lenin bereits 1905 erledigt. Er denkt schon von jenseits der
Freiheit aus dem neuen proletarischen Weltzustande heraus. Und er ist
also nicht mehr genötigt gewesen, zweideutig aufzutreten. In der russi­
schen Revolution ist vielleicht die ,,Linksopposition“ (im tieferen Sinne
des Wortes) sofort an die Macht gelangt.

3 . Standortslehre der Revolution


Jedenfalls kann eine Revolution im vollen Ausmaß durch jedes Volk
nur einmal gestaltet werden. Jedes Volk macht nur seine Revolution.
Weil z. B. die Deutschen die Reformation gemacht haben, deshalb ist der
westliche Einfluß der französischen Revolution auf uns zwar oft erheblich
aber nie siegreich gewesen. Jede neue Revolution wird aber angesteckt
aus dem Lande der alten Revolution. Gerade weil hier die „noch neueren**
Ideen ausgestoßen werden, fliegt der Samen in die Welt.
Der Zusammenhang der einen mit der anderen Revolution wird aber
nicht nur durch jenen Flug der Sturmvögel der Revolution sichergestellt.
Der Zusammenhang ragt über diese ideologisch-geistige Verbindung hin­
aus, genauer hinunter tief ins Geographisch-Materielle.
Die Antithese zur vorhergehenden Revolution wird in der russischen Re­
volution bewußt, d. h. logisch proklamiert. Aber sie steckt in allen an­
deren auch. Und die Tafel der sozialen Reihenfolge lehrt ja schon, daß
eine Gesellschaftsschicht jedesmal die vorhergehende gestürzt hat.
Aber diese Dialektik würde doch noch nicht erklären, weshalb die Re­
volution von Land zu Land wandert. Weshalb folgt sich die Revolution
nicht so, daß die italienischen Fürsten sich gegen den Papst auflehnen,
der niedere Adel in Italien gegen die Herzoge von Mailand und Neapel,
die Bürger von Florenz gegen den Adel und die Landarbeiter in Toskana
gegen die cittadini in Florenz?
Weshalb kommt jedes Land im wesentlichen mit einer Revolution aus?
Und wie kommt jedes Land zu seiner Revolution?

76
Nun, die Papstrevolution hat das Papsttum und hat Italien geschaffen,
die deutsche Reformation den deutschen Einzelstaat und die deutsche
Nation: Jede Revolution ist nur zu 5 o vom Hundert Sozialumwälzung,
zur anderen Hälfte prägt sie die Völker. Eine jede stimmt also zu io o
vom Hundert nur in diesem einen einzigen Lande, in dem der revolutio­
näre „Faktor“ als der „Träger“ des Ganzen, als Verkörperung der Nation
gelten kann.
Der Papst ist die Stimme Italiens. Trotzdem er ein einziger ist, hat da­
her seine Revolution durchaus demokratisch empfunden werden können.
Es fällt dem Republikaner von heute vielleicht noch schwerer, den demo­
kratischen Zug der deutschen Fürstenrevolution zu begreifen. Und doch
sind sie die Exponenten der deutschen Nation, auch da wo sie ihre eigenen
Interessen vertreten. Es ist jedesmal die ganze Nation, die von einer so­
zialen Schicht verkörpert wird. Und die Kommunisten in Rußland oder
die Jakobiner in Frankreich sind nicht „populärer“ als Papst und Für­
sten zu ihrer Zeit und in ihrem Lande gewesen sind.
Diese vollkommene Selbstdarstellung einer Nation in einem Stand muß
von Land zu Land geschildert werden, um in ihrer ganzen Tragweite auch
für die Zukunft ausgewertet werden zu können. Aber schon hier ist diese
Tatsache wichtig, weil sie die Wanderung der Revolution erklärt.
Jede europäische Revolution tut all den Ländern am meisten unrecht,
die noch zu keiner Selbstdarstellung gekommen sind. Sie nimmt keine
Rücksicht auf ihre ganz andere Erdenlage. Das Land der entgegengesetz­
ten Situation wird dadurch seinerseits zur Revolution genötigt, wir wählen
zunächst als Beleg für diesen Satz das zeitlich naheliegendste Beispiel:
Rußland in seinem Verhältnis zur französischen Revolution.
Niemand hatte wohl unter der französischen Revolution so zu leiden
wie Rußland, das noch ohne Revolution nun den Ideen von 1789 und
den kapitalistischen Herrschafts- und Wirtschaftsmethoden des 19. Jahr­
hunderts ausgelieferte Gebiet.
Die Übertragung des französischen Nationalismus und des Glaubens
von 1789 an eine geschriebene Verfassung hat in Deutschland zwar auch
zerstörend gewirkt. Die Nationalstaatsidee der Kleindeutschen ist weit­
gehend eine Kapitulation vor dem französischen Nationalismus, die das
deutsche Bürgertum vollzog. Immerhin traf dieser in Deutschland auf
das Felsgestein Preußens und seines Heeres, auf die Beamten Preußens
und der anderen Einzelstaaten, auf die Religionsparteien der Reformation
und auf die deutschen Universitäten, und so konnte der deutsche Bürger
sich nicht hemmungslos ausleben. Auch Spanien ist förmlich zugedeckt
worden durch eine französische Überschwemmung mit Verfassungen und
Ideologien. Aber die Mehrzahl der Spanier hat ihre persönliche K raft
und Leidenschaft nicht durch diese abstrakten Theoreme zerstören
lassen.

76
Anders in Rußland. Wenn Preußen durch den Nationalliberalismus und Das russische
seinen Kulturkampf nur die Polen verloren hat, so hat Rußland alle °r
seine Randstaaten notwendig durch ihn einbüßen müssen. Die Russifizie-
rung der Fremdvölker seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts,
der Verfassungsbruch in Lettland gegenüber dem Landtag genau wie in
Finnland, ist nicht russischen, sondern westeuropäischen Ursprungs. Der
Panslawismus der „echt russischen Leute“ ist eine „Kontrastimitation“ ,
eine Nachahmung des westlichen Nationalismus durch das slawische Spie­
gelbild. Er wurde daher eine Sache der Literatur und des Bürgertums,
vom Schlage eines Purischkewitsch, d. h. der von Paris her geprägten Ge­
sellschaftsschicht.
Das Bündnis des Zaren mit der Republik Frankreich, das Spiel der
Marseillaise auf der Zarenjacht untergrub die Existenzberechtigung des
Zarentums. Die Wittesche Ausfuhrpolitik raubte das russische Bauerntum
aus, dort wo Frankreichs Ausfuhr der Luxusindustrie den Kleinbürger
bereicherte. Die Rolle Petersburgs in Rußland war nicht nur eine Nach­
ahmung von Paris, sondern zog auch all die in Rußland vorhandenen
Kräfte des Bojarentums, des Adels, hinunter auf die Stufe der Großstadt­
bourgeoisie und ersetzte die Herrschaft des Leibherrn durch den Renten­
bezug des größenwahnsinnigen an der Riviera, in Paris und in Florenz
sich amüsierenden russischen Fürsten. Petersburg war für den echten
Russen der Schandfleck und die Eiterbeule Rußlands, dort wo Paris der
Stolz Frankreichs war. W ohl kein Volk hat so an einer Stadt gelitten,
wie Rußland an Petersburg. Und alle neuen Ideen der bürgerlichen rus­
sischen Gesellschaft zielten doch in der einzigen Richtung, diesem Zen­
trum Petersburg zu steigender Ehre und steigendem Einfluß zu verhelfen.
Paris ist das Herz Frankreichs, Petersburg aber, das die Vorrechte von
Paris beanspruchte, war höchstens Rußlands „Fenster nach Europa“ .
So wirkte jeder aus Paris einfallende Gedanke schlechthin zerstörend
auf die Ordnung in Rußland und zwar genau so auf Zar, Kirche und Adel
oben, wie auf das Landvolk unten. Die einzige Schicht, die auf ihre Kosten
kam, das Bürgertum, war zugleich die, auf die es in Rußland eben gar
nicht ankam.
Jede andere Revolutionsart hatte den Russen mehr zu bieten als die der
Franzosen.
Aber diese Vergewaltigung hat einen gewaltigen Niederschlag gefunden
in einer Maßnahme, die der Westen hochgepriesen hat, die aber in W irk­
lichkeit die russische Revolution unvermeidlich gemacht hat, die Bauern­
befreiung von 1 8 6 1 ! So seltsam es klingt, so hat gerade diese Nachah­
mung französischer Ideen nicht etwa den Sturz des Zaren, sondern den
Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in Rußland notwendig ge­
macht!
Das Scheitern der Miljukow und Kerenski im Jahre 19 17 bei ihrem
r****
Si
Versuch einer bürgerlich demokratischen Revolution ist eben kein Zufall,
sondern so selbstverständlich, wie das Wegbrechen der beiden ersten Stän­
de in Frankreich bei der Berufung der Generalstände.
1861 hatten die Ideen der französischen Revolution der Freiheit und
Gleichheit das russische Land unter einen empörenden Druck gesetzt.
Seitdem ist Rußland revolutioniert.
Das, was uns Recht erscheint, ist für den Muschik nur ein Unrecht ge­
wesen. Denn er erhielt Freiheit ohne Eigentum. Der Schlachtruf der Ja­
kobiner, von denen zwei Drittel der Bourgeoisie angehörten: Freiheit und
Gleichheit muß ja mit den beiden Klammern gelesen werden, Freiheit
(des Privateigentums) und Gleichheit (d. h. Auswechselbarkeit des
Rechts). Aber die Jakobiner hatten weder gewußt noch ausgesprochen,
daß sie eine solche ganz bestimmte Freiheit verwirklichen wollten. Ex­
portiert in das unglückliche Europa haben die Franzosen nur die Freiheit
und die Gleichheit schlechthin. Mit dieser Freiheit kann der Bauer nicht
das geringste anfangen. Er braucht Bindung. Mit der Bauernbefreiung
hob man die Bindung auf, ohne ihm Eigentum und ohne ihm die Ent­
schädigung für den W egfall der Bindung zu gewähren in Form der
Gleichheit. Gleichheit des Rechts heißt ja nur, daß aus Bauern, Arbeitern
und Adligen nunmehr lauter Menschen, d. h. Bürger werden können. Aber
in Rußland blieb Adel Adel, Tschin Tschin, Bauer Bauer, jeder nach sei­
nem Standesrecht Gerade Bürger konnten sie mithin nicht werden. Bloß
„frei“ machte man den Bauern. Deshalb bestimmt „die Front gegen das
D orf“ die russische Revolution.
Der abstrakte Export der Ideen von 1789 ohne die Bindung an Frank­
reich hat also die russische Ordnung des Lebens vergiftet und unheilbar
krank gemacht. Die Bauernbefreiung hat zur Empörung geführt, weil
sie — empörend war. Und deshalb konnte die russische Revolution nicht
die französische Idee des Privateigentums oder der Freiheit auf greifen,
sondern die Freiheit für ein bürgerliches Vorurteil erklären.

4 . D er w unde P u n k t
Einen solchen Druckpunkt finden wir im zeitlichen Vorfeld jeder Re­
volution. Jede Revolution hat natürlich eine lange Vorgeschichte, und viele
Vorbereitungen gehen vorauf. Aber damit alle diese Vorbereitungen über­
haupt in ein und derselben Richtung Zusammenwirken und schließlich das
Ergebnis: Revolution haben, muß einmal ein erregendes Moment aufge­
treten sein, das als dauernder Druckpunkt die Herzen und Köpfe empört.
Revolutionen sind ja keine Verschwörungen. Sie brechen nicht aus, weil
ein paar Vermummte sie im Keller verabreden, nicht weil irregeleitete
Leute die Front aufwiegeln oder Hetzer Flugblätter auf den Straßen ver­
teilen. So stellt sich der Spießbürger die Revolution vor. Die Revolution
unterscheidet sich vom Komplott und der Revolte eben durch ihre Ab-

78
sichtslosigkeit. Jeder trägt zu ihr bei, ohne es zu wollen. Man kann sich
nicht zu ihr verabreden. Und man braucht es nicht.
Gerade deshalb muß ein weithin sichtbares Fanal brennen, das unaus­
gesetzt alle in seinen Lichtkegel reißt und dadurch revolutioniert, sie mö­
gen wollen oder nicht. Gerade die bewußt alle Gewalttat verwerfenden
Geister einer Vorbereitungszeit wirken daher am revolutionärsten. Luther
schreibt noch i 5 ig : „Ob nun leider es zu Rom also zugeht, daß es wohl
besser taugte, so ist doch die und keine Ursache so groß, noch mag sie so
groß werden, daß man sich von derselben Kirche reißen und scheiden
soll.
Ja, je übler es da zugeht, je mehr man zulaufen und anhangen soll:
denn durch Abreißen und Verachten wird nichts besser.“ Solch ein Mann
ist; tausendmal geschickter zur Revolution als ein hemmungsloser Hyste­
riker: Der Revolutionär wider Willen erweist die Notwendigkeit des Bru­
ches. Er steht nur unter dem objektiven Druck jenes erregenden Augen­
blicks, ohne allen Eigenwillen, und setzt diesen Druck daher rein und
ohne willkürliche Empörung in die Tat um. Mit Hilfe des Druckpunktes
kann sich also das Vorfeld und Kraftfeld der Revolution in der Nation
auch in den konservativen Volksschichten bilden.
Für die deutsche Reformation liegt der Druckpunkt sehr klar. Als Kai­
ser Siegismund dem Ketzer Huß auf Zureden des Konzils sein““kaiser­
liches Geleit brach, nur weil die Kirche jenen verurteilt hatte, da bezahlte
das die deutsche Nation durch das Wüten der Hussitenkriege. Nur kein
Krieg für Papst und Kirche stand seit diesem Unglück als Losung ein­
geschrieben in die Herzen der deutschen Nation. Keine Ordnung der
Dinge, die irgendeine Möglichkeit des Krieges im Dienste des Papstes er­
möglichte, war seitdem erträglich. Jede Reform mußte zuerst dies Elend
beseitigen. Und die Reformation hat es beseitigt. Deshalb wurde der
Kampf gegen das Ketzeredikt von Worms der Inhalt der deutschen Revo­
lution.
Auch Preußen hat seinen Rachegrund. Preußen hat im Siebenjährigen
Krieg die Revolution der weltlichen Obrigkeit noch einmal, nun ohne
religionsparteiliche Ideologie, wiederholt. Der Druckpunkt, von dem an
sich Preußens Energie systematisch aufgefüllt hat, ist der Friedensschluß,
zu dem Ludwig XIV. den Kurfürsten von Brandenburg 1679 in St. Ger-
main en Laye zwang. Daher das seltsame Pathos der Denkmünze mit der
Umschrift: „Erstehen soll aus meinen Gebeinen irgendeiner als Rächer!“ .
Die Reichsstände ließen den an den Rhein vorgepreschten Kurfürsten im
Stich. Der Staat dieses Fürsten, der nichts als Grenze war, hatte die Last
der Staatlichkeit verzehnfacht zu tragen. Das Reich hätte ihm die Last die­
s e r Eigenstaatlichkeit erleichtern müssen, da es selbst sie ja von den eige­
nen Schultern abgewälzt hatte. Preußens Grenzen vertreten hier zum er­
sten Male Grenzen des Reichs. Aber das Reich sah das nicht. Sondern da§

79
Reich zeigte kein Interesse. Seitdem ist Preußen revolutioniert. Und zwar
sieht sich dieser eine Reichsstand von den anderen Ständen des Reichs im
Stich gelassen und zerschlägt deshalb die aristokratisch-ständische Ver­
fassung des alten Reiches, Kaiser und Reichstag, und Preußens Gesandter
von Plotho wirft eigenhändig den Reichsnotar in Regensburg, der ihm
einen Beschluß der Reichsstände mitteilen will, die Treppe hinunter. Seit
1679 war Preußens Lage wie die Österreichs hoffnungslos für sich allein;
weder geschützt durch andere Vorlande wie die anderen deutschen Bin­
nenlande, noch privilegiert wie die riesige kaiserliche Hausmacht, in der
alle Grenzlande von den Niederlanden über den Breisgau und Tirol nach
Krain, Kroatien, Siebenbürgen und Schlesien Zusammenflüssen. Preußen
litt von außen wie die kaiserlichen Erblande und stand innen da wie ir­
gendein Reichsstand. Das war das Unrecht, das ihm angetan wurde und
das seine Reichsstandschaft gesprengt hat.
Der wunde Punkt Italiens war die Zerstörung Mailands 1 1 6 1 , die sich
der Verletzung des Papsttums durch die Synode von Sutri i o 4 6 zur Seite
stellte.
Englands „Trauma“ entsteht durch das Fehlen einer „Religionspartei“
auf der Insel und durch die Hinrichtung des Thomas Morus.
Die Rechte des deutschen Landesfürsten ließen sich nicht auf den Kö­
nig von England übertragen, sobald es nur einen einzigen Herrscher auf
der ganzen britischen Insel gab. Denn dadurch war in England die Lage
genau entgegengesetzt als in dem fürstenreichen Deutschland. Man hatte
dann im „K önig“ gerade einen Papst und nur scheinbar einen Landes­
fürsten. Denn jeder Fürst in Deutschland war Mitglied einer Religions­
partei und daher weitgehend abhängig von dem Inhalt der Bekenntnis­
schriften seiner Partei auch für die Verfassung der Landeskirche. Der
König von England mußte durch den Oath of Supremacy als Haupt der
Landeskirche anerkannt werden, ohne doch der Zügelung durch eine
solche Religionspartei von Fürsten zu unterstehen I
Das eigentliche „Papsttum“ hatte bereits Heinrich VIII. England ange­
droht, als er dem berühmten Thomas Morus als treuem* Katholiken das
große Siegel von England abforderte, das er als Kanzler, als Keeper of the
K ing’s conscience, führte, und ihn im Tower i 5 3 5 enthaupten ließ. Da­
mit schuf er bereits das Gefälle des Rechtsbruches, der das Recht des
normannischen Königtums begrub. W as die weltliche Obrigkeit auf dem
Festland tun durfte, das war nach dem Recht der eroberten Insel revo­
lutionär. Und so hat des Morus Hinrichtung in England gewirkt!
Für Frankreich kommt die Aufhebung des Ediktes von Nantes dem
englischen Fall gleich. Am 22. Oktober i 6 8 5 verbot Ludwig XIV. jedes
andere als das katholische Bekenntnis und vernichtete damit die bürger­
liche Schicht der Provinzen. Dieses Edikt von Versailles hat als erregen­
des Moment gewirkt, obwohl es scheinbar nur den Grundsatz der deut-

80
sehen Reformation: cuius regio eins religio durchgeführt hätte. Aber
Ludwig XIV. begrub damit seine kühnen Ansätze zu einem rein hu­
manistisch-klassizistischen Staatsbau. Die Franzosen konnten seitdem
nicht mehr hoffen, er werde das weltlich-natürliche Gallien erzeugen.
Er verleugnete seine eigene Hugenottenabstammung von Heinrich IV.
Die Nation wurde um hundert Jahre zurückgeworfen. Seit i 6 8 5 hat Pa­
ris, das bis dahin fanatisch katholische, an Versailles das „Unmoderne“
bekämpft, also nicht Ludwig XIV., sondern die Einflüsterer des Edikts
von Versailles, die Aristokraten und Privilegierten. Was in England Rech­
tens war, wurde hier unbillig.
Die Adelsherrschaft der englischen Gentry war in England über das
ganze Land verteilt. Ihre Versammlung im Parlament in Westminster
tat York und Bristol und der City von London keinen Abbruch. Dabei
hatte keine englische Stadt die Bedeutung von Paris. Hingegen der fran­
zösische Adel, in Versailles konzentriert, drückte den Rang der geistigen
Hauptstadt der Nation, Paris. Eben deshalb aber ist aller Adel dieser Em­
pörung der Sansculotten von Paris zum Opfer gefallen und das König­
tum nur, weil und soweit es adlig war!
Die Übertragung der Adelsfreiheiten auf Frankreich hat also so wenig
gepaßt, wie die der bürgerlichen Freiheit auf Rußland.
So hat also jede Revolution durch die Ausführung ihrer Schlagworte
einem bestimmten Lande immer ganz besonders unrecht getan. Und die­
ses Land, das am schwersten verletzt wird, macht die nächste Revolu­
tion.
Deshalb wechseln die Revolutionen ihren Schauplatz. Die Bedrängnis
durch die eine Revolution ist an dem Ausbruchsherd der nächsten die
größte. Die Reihenfolge der Nationen ist also kein Zufall. Daß eine so
alte, berühmte und hochstehende Nation wie die französische erst hinter
den Italienern, Deutschen und Engländern Revolution gemacht hat, ist
doch etwas sehr Auffälliges.
Nunmehr ist der Grund dafür deutlich. Die Adelsprivilegien haben nur
in Frankreich den Lebenskeim der Nation versehrt. Erst seit Versailles
wurde Frankreich das rückständigste Land Europasl
Immer das rückständigste Land macht Revolution. Aber es wird erst
rückständig durch die Wirkungen der vorhergehenden Revolution. Erst
das Papsttum und die klerikalen Ansprüche haben Deutschland „rück­
ständig“ werden lassen im i 5 . Jahrhundert. Und die Sultanslaunen Hein­
richs VIII. haben England revolutioniert. Die Erzählung wird ergeben,
daß die Dialektik der Revolutionen auch ein wirklicher Dialog ist, ein
Wortgefecht mit blendenden Antithesen.
Zwischen dem Druckpunkt, dem Trauma, und dem Ausbruch liegen D
Jahrzehnte, ja ein Jahrhundert. Trotzdem ist auch das zeitliche Verhältnis
der Daten zwischen dem erregenden Moment, dem Einfall des Schicksals
6 Rosenstock 81
durch das „Trauma“ bis zu dem offenen Ausbruch der Empörung ein
gesetzmäßiges. „D er Rächer aus den Gebeinen“ ist dem Großen Kur­
fürsten erst bei Roßbach erstanden. Weshalb erst dann? Wenn die Kon­
stellation des Druckpunktes sich in ihr Gegenteil verkehrt hat, dann bricht
die Revolution aus. Frankreich war i 6 8 5 der Gegenspieler Habsburgs.
Seit 1756 ist es mit Habsburg verbündet. Da wird das ancien régime
unhaltbar. Mit der Habsburgerin Marie Antoinette ist das Königtum, mit
der Habsburgerin Marie Luise die Napoleonische Dynastie zugrunde ge­
gangen. Denn bloß katholisch bigott hatten die Franzosen nicht werden
wollen. Sie hatten gegen Habsburg und den Kaiser die geistige Vormacht
Europas zu verkörpern. Als nicht einmal durch das ungeheure Opfer der
Hugenottenvertreibung dieser Geist auf katholisch zu erhalten war, eben
wegen des Bündnisses mit Habsburg — da wurde dieser Geist weltlich,
nur um an der Herrschaft zu bleiben.
Friedrichs des Einzigen Revolution in Europa stand unter dem gleichen
Stern. Denn was der Große Kurfürst beim Friedensschluß in St. Germain
en Laye 1679 ahnend gewünscht hatte, daß einst Preußen imstande sein
möge, gegen eine W elt von Feinden die Früchte seiner Siege zu behaup­
ten, mußte bewährt werden, sobald es nicht um den Rhein oder Schlesien,
sondern zugleich um Preußens Dasein schlechthin ging. Das Reich hatte
1679 den Großen Kurfürsten nur im Stich gelassen, als er für das Reichs­
interesse focht. 1756 aber hatten gegen den Reichsfeind Preußen Kaiser
und Reich, sogar Frankreich sich verbunden! Da half nur der revolutio­
näre Krieg.
Der Krimkrieg sah die Westmächte im Bunde mit der Türkei gegen
Rußland. Als diese Hüter der europäischen Zivilisation sich 19 14 mit dem
Zarismus gegen die europäische Mitte verbanden, war der Zarismus un­
tragbar geworden. An der Entente ist Nikolaus II. gestürzt. Das hat der
einfache Muschik auch genau gefühlt. Denn im Krimkrieg hatte das
heilige Rußland gegen den ungläubigen Westen gefochten. 19 14 konnte
das niemand mehr sagen. Der Zar war selbst unheilig geworden durch
seine Verbündeten. Gab es doch Krieg für eine so weltliche Sache, dann
konnte man offen unheilig werden, statt nur verkappt. Rasputin hat im­
mer behauptet, er hätte 19 14 den Krieg verhindert. Ein Attentat be­
seitigte damals seinen Einfluß.
Als die ständige Rivalität zwischen Kaiser und Papst so weit vergangen
war, daß der Kaiser, der 1 4 1 4 das Konzil gegen den Papst geführt hatte,
selbst 1 5 12 Papst zu werden gedachte — war die Revolution Luthers ge­
gen das Papsttum reif.
Seit io 4 6 hatte der Gegensatz zu den Normannen die Kaiserpolitik in
Italien beherrscht. Als die Kaiser die Unio regni et imperii, die Einigung
Unteritaliens mit dem Reich anbahnten, brach Innozenz III. los.
Und auch 1649 war die letzte Sicherung Englands, die Teilung der In-
82
sei in die beiden Königreiche, die Heinrichs VIII. Regierung und Land­
macht geadelt hatte — hatte er doch sogar noch einen englisch-schotti­
schen Pufferstaat eingerichtet — in ihr Gegenteil umgeschlagen: aus
der Vereinigung Englands mit Schottland seit i 6 o 3 floß der Anspruch
des Königs, nun auf der ganzen Insel eine Einheitsreligion durchzusetzen.
Der Versuch, die Schotten zu anglikanisieren, brachte die Entscheidung.
Denn in diesem Versuch offenbart sich die abweichende Lage des König­
tums von den Religionsparteien auf dem Festland.
Die Revolution kommt also immer im letzten Augenblick, wenn es
höchste Zeit ist. Das Unrecht, das 1 5 3 5 an Thomas Morus geschehen
war und die Belegung des Towers mit den Gefangenen des Königs wegen
Religionssachen entbehrte der letzten Entschuldigung des starken König­
tums, als die letzte Aufgabe dieses selben Königtums auf dem Lande
durch die Vereinigung mit Schottland dahingefallen war.
Das Unrecht der Vertreibung der Hugenotten und die Dragonaden
waren durch Ludwigs XIV. und der Madame de Maintenon Ziel geadelt,
die Vormacht der katholischen Religion in Europa zu bilden statt des
Kaisers. Davon war, seitdem Maria Theresia der Pompadour das Bündnis
abgerungen hatte und seit Marie Antoinette nicht mehr die Rede. Das
absurde Bündnis des Königs von Frankreich und des Kaisers von Öster­
reich gegen die französische Nation, das in der Proklamation des Herzogs
von Braunschweig und der Kanonade von Valmy zutage trat, war seit dem
Siebenjährigen Krieg und der Königshochzeit in Straßburg in der Zeiten
Schoß eingesenkt.

5. D ie m oralische E n trü stu n g


Aber eben daraus ist auch die seltsame Fügung bei allen Revolutionen
zu erklären, daß es die guten und nicht die schlechten Regenten sind,
denen die Revolution widerfährt. Fast kein Geschichtsbuch, das nicht bei
der französischen Revolution Reflexionen vorausschickt, wie merkwürdig
der Ausbruch der Revolution unter Ludwig XVI. statt unter Ludwig XV.
sei. Unter Ludwig XV., ja, da wäre sie zu verstehen gewesen, sagt sogar
Carlyle. Aber unter dem redlichen Ludwig XVI. mit seinen Reform­
ministem Turgot und Necker? — Unbegreiflich!
Und Karl V., der fleißige, neu erkorene, nicht der träge Friedrich III.,
wird das Opfer der Reformation. Nikolaus II., der wirklich an das hei­
lige Rußland glaubte, muß den Sturz der Romanows vollenden. Auch gibt
es keine liebenswertere Gestalt unserer Kaiserzeit als Philipp von Schwa­
ben. Man möchte sagen: Ausgerechnet diesen trifft der Blitz der italieni­
schen Revolution!
Es sind aber notwendig immer „anständige Menschen“ , die von der
Empörung überwältigt werden. Denn die Revolution bricht ja erst aus,
wenn es höchste Zeit ist. Und es ist solange nicht höchste Zeit, als man
6*
83
irgend etwas auf die persönlichen Schwächen eines Menschen abschieben
kann! Friedrichs III. Trägheit — das war schließlich ein vorübergehendes
Unheil. Heinrichs VI. Grausamkeit und Ludwigs XV. Pompadourwirt­
schaft desgleichen. Die Pedanterie des Schriftstellerkönigs Jakobs I. und
der Verfolgungswahnsinn Alexanders III. — das alles kommt mit dem
Menschen und geht mit dem Menschen. Die private Moral ist etwas Un­
historisches und Antihistorisches. Die Weltgeschichte ist keine Sitten­
polizei. Es ist schon schlimm genug, wenn sich der tägliche Zeitungsleser
das Maul zerreißt, weil andere Leute sündigen. Aber daß Völker den Frie­
den zerreißen, Krieg führen, Städte in Asche legen, Ordnungen vernich­
ten — bloß weil einer lasterhaft ist und sündigt, das bewirken selbst die
bösesten Klatschmäuler und Tugendrichter nicht.
Woher also konnte die Große Revolution unter Ludwig XV. eben ge­
rade nicht ausbrechen? Nun, es war ja noch nicht ausgemacht, was nur
auf sein persönliches Schuldkonto ging und was auf die Sackgasse, in
der sich die französische Verfassung befand. Wenn Alexander III. die
Marseillaise spielen ließ, so konnte das eine Laune sein. Bei Rasputins
Schutzherrn Nikolaus war das Bündnis mit den Herren Poincare, Viviani
und Barthou, diesen reinsten Vertretern der freigeistigen Bourgeoisie —
Viviani hatte „die Sterne am Himmel ausgelöscht!“ — rein sachliches
Verhängnis ohne menschliche Laune und Willkür.
Jakob I. von England war ebenso unbeliebt wie seinem Sohne die na­
türliche Neigung der Engländer gehört hat. Deshalb ist unter dem un­
tadeligen und liebenswerten Karl I. die englische Revolution ausgebro­
chen. Am Tage seiner Hinrichtung i 6/*9 weinte das Volk, und seine herr­
liche „Ikon Basilike“ , das „Königsmal“ , erlebte i 6 5 o fünfzig Auflagen,
und diese würdige Schrift liest auch der heutige Leser mit ehrlicher Er­
schütterung. Die Reinheit dieses Opfers, sein Liebreiz und sein Mut er­
innern an die Gestalt Philipps von Schwaben, übertreffen aber diese noch
an schicksalhafter Vertiefung. Die Henker dieses Opfers haben das bri­
tische Weltreich und den englischen Parlamentarismus gegründet: Eine
eindringliche Lehre, wie sich das Notwendige durchsetzt. Wenn durch die
reine Seele nicht mehr das Alte erhalten, durch die schwärzeste Larve das
Neue nicht mehr abscheulich gemacht werden kann, dann ist die Probe
auf die Notwendigkeit gemacht. Es ist bitter für die sentimentalen Gemü­
ter, aber es ist wahr, daß die Seelengröße auf geistig verlorenem Posten,
die anrüchigen Charaktere aber auf der Seite des siegreichen Durch­
bruches gerade richtig angeordnet sind. So muß es sein, damit die äußer­
ste Sicherheit besteht, daß nicht Männer oder Massen die Geschichte ma­
chen, sondern daß die Spezies Mensch sich durch alle bloßen Spielarten
hindurch ihren W eg sucht. Von allen Revolutionen gilt das W ort des äl­
teren Pitt über die englische: „E s gab persönlichen Ehrgeiz, es gab Auf­
ruhr, es gab Gewalttat. Aber niemand soll mich überreden, daß es nicht

84
die Sache der Freiheit auf der einen Seite war und der Tyrannis auf der
anderen!“
Als Friedrich III. das Reich und das Konzil i 4 4 7 im Stich ließ, konnte
man das seiner Interesselosigkeit an Reich und Kirche zuschreiben. Bei
einem feurigen Katholiken wie Karl V. war das undenkbar. Es war gerade
das Unglück Karls V., daß seine Frömmigkeit der Sache der Kirche einen
Ernst verlieh, der ihr durch den Papst Leo X. nicht zugeflossen wäre. Der
Mediceer auf dem Papstthron, der war ein genußsüchtiger italienischer
Potentat, und Luther tat also i 5 i 7 recht daran, ihn zu zausen, ja, ganz
Deutschland einschließlich des Reichsregiments freute sich. Aber dafür
das Reich in Deutschland in Verwirrung zu stürzen, das wollte weder
Kaiser noch Reich einleuchten. Als Karl V. es seit i 5 i 9 wieder ernst
nahm mit der Kirche, da schürzte sich der Knoten. Und als er gar einen
frommen Papst iÖ2 2 in der Person seines eigenen Erziehers aus den
Niederlanden den Römern aufzwang, da erst war der Bruch unheilbar.
Das Jahr IÖ22 hat daher für die Reformation dieselbe Bedeutung wie
1792 (Valmy) für die französische Revolution. Der fromme Papst macht
den Bruch mit Rom zu einem rein sachlichen.
Das Jahr 1 9 17 bedeutet das gleiche für die russische Revolution. Denn
die Westmächte verhelfen damals mit der Kerenskirevolution der Bour­
geoisie sogar in Petersburg selbst zum Übergewicht über den Zaren. An
diese Herren ist aber das russische Volk überhaupt nicht gebunden. Daß!
Hadrian VIL, daß Miljukow und Kerenski und daß der Herzog vom
Braunschweig Gehorsam verlangen, das erst stößt dem Faß den Boden
aus. Den päpstlichen Kaiser, den Einfluß des fremden Kapitals und dasi
Bündnis mit Habsburg hatte jede dieser Nationen, Deutschland, Rußland,
Frankreich jeweils in schmerzlicher Scham, aber doch mit einem gewis­
sen Stoizismus ertragen. Als aber diese Mächte aus dem Hintergründe
hervortreten und sogar öffentlich herrschen wollen — da bricht die W ut
besinnungslos hervor und schwemmt jede Erinnerung an die alte Zeit, an
das ancien régime fort, weil diesem jetzt erst ein unauslöschliches Brand­
mal aufgedrückt zu sein scheint. Jetzt nämlich erst ist der Kaiser Karl V.
ganz der Büttel des Papstes, der Zar endgültig vom Kapitalismus zuge­
deckt, der Hof von Versailles offenbar statt der Sonne Europas ein Für­
stenhof wie irgendein anderer!
Goethe hat eine Ausführung geplant, die in diesen Zusammenhang ge­
hört. Er weist darauf hin, daß die Regierenden selber bereits innerlich
sich aufgegeben haben, wenn die Revolution ausbricht. E r schildert das
für 1789. Der Vorgang der Großen selbst habe den Dritten Stand herauf­
geführt. „Friedrich (der Große) sondert sich vom Hofe. In seinem Schlaf­
zimmer steht ein Prachtbette. Er schläft in einem Feldbett daneben . . .
Die Königin von Frankreich entzieht sich der Etikette. Diese Sinnesart
geht immer weiter, bis der König von Frankreich sic h selbst für einen

85
Mißbrauch hält.“ Diese Unsicherheit ist kein Wunder, denn im Land der
Katastrophen leiden alle längst. Hier ist auch die bisherige Herrenschicht
bereit zur Kritik längst vor dem Ausbruch.
Diese Kritik der vorigen Revolution entspringt in deren eigenstem Lan­
de am radikalsten. Aber dieser oppositionelle „Auswurf“ wird im Neuland
bewillkommnet wie Benjamin Franklin in Paris. Die Kritik der Linksop­
position vom vorigen Mal muß sich freilich verbinden mit den Bedürf­
nissen und Nöten des neuen Landes, das von jener vorigen Revolution in­
nerlich am weitesten entfernt ist. Jene ausländische Kritik löst zwar auf,
aber erst die einheimische Not führt auf die neuen Notwendigkeiten. Erst
die Verschmelzung beider führt zur Entdeckung der neuen Menschheits­
aufgabe.
Zwischen dem Lande der einen und dem Lande der vorigen Revolu­
tion besteht der weiteste Abstand. Dazwischen befinden sich alle die an­
deren Nationen. Diese anderen Länder haben die Revolution also weniger
notwendig als das Land, das sie unternimmt. Darin steckt nun ein selt­
samer Widerspruch zu dem Missionsbewußtsein jeder Umwälzung 1
Soundso vieles ist bereits in den anderen Ländern stillschweigend ohne
Rechtsbruch eingeführt und aufgebaut, wenn der große Sturm es als
Neues und Neuestes über die Grenzen wirft und als Errungenschaft der
Revolution anpreist!
Einem katholischen Italiener imponierte die „weltliche Obrigkeit“ Lu­
thers wenig, denn er hatte längst in der Kultur seines „principe“ die näch­
ste Heerschildstufe unterhalb des geistlichen Heerschildes. In Italien wa­
ren die Fürstenhäuser der Este, Medici und Sforza mit dem Papsttum zu­
sammen befriedigt worden.
Und einem Engländer machte die klassische Beredsamkeit der Pariser
NationalVersammlung wenig Eindruck, wo doch wenige Jahre zuvor bei
einer Rede Pitts, als dieser in einem lateinischen Zitat stecken blieb, das
ganze Unterhaus wie ein Mann sich erhoben hatte, um den Horazvers zu
Ende zu sagen ! Die englischen Shopkeepers sind daher von der englischen
Gentry allmählich mit emanzipiert worden.
Was soll ein Franzose mit der Aufhebung des Eigentums durch die
Russen anfangen, er, der Proudhons La Propriete est ie vol (Eigentum
ist Diebstahl) seit i 8 4 o zu bewältigen reichlich Anlaß hatte?
Und der preußische Dienstadel brauchte die Privilegien des englischen
Parlaments nicht, weil ihm das Öffizierkorps des Militärstaats Preußen
und der Getreidebau Privilegien boten, die für die englische Gentry nicht
so viel bedeuten konnten. Denn weder das Landheer noch der Körnerbau
spielen für diese Insel eine große Rolle.
Die unteren Stände in den auf den Bahnen des Rechts fortschreitenden
Ländern begreifen zunächst gar nicht die Schimpfworte der neuen Re­
volution. Die deutschen Marxisten z. B. haben über das Entstehen einer

86
Moskaupartei in Deutschland anfangs gelächelt. Aber die neue Sprache
bricht ein.
Der deutsche „Landesvater“ erscheint den Engländern als „blutiger
Tyrann“ . Der Gentleman in England, der bescheiden einer der Gemeinen
heißt, der abgöttisch geehrten Commons, verdient in Paris, weil sein Adel
an sich selbst ein Beweis des Ungemeinen, der Ungleichheit ist, als Ari­
stokrat den Tod, so daß ein Philipp von Orléans sich als Philippe Egalité
zu retten sucht. Der „Aristokrat“ steht also in Paris an W ert dem „Tyran­
nen“ der Puritaner gleich. Der Citoyen aber, der Fackelträger der fran­
zösischen Revolution, wird in Rußland zum verachteten „Bourgeois“ , der
mit dem Kapitalismus zum Teufel gehen soll. Und geradeso wird aus
dem Statthalter Christi und Nachfolger Petri in Rom der Antichrist bei
Luther und den Reformatoren.
Haben sich dann die Ordnungsländer von ihrem Schrecken erholt, dann
beginnen sie die gleiche Schimpfkanonade. W as wird über die Bolsche-
wiki gelogen. Aber die Päpste sind von den Kaiserlichen mitten in der
Kreuzzugszeit so mit Dreck beworfen worden, wie etwa Luther von den
Päpstlichen — oder wie die Sansculotten. Habgierige Goldesknechte,
Ketzer, Königsmörder, Sansculotten, Gottlose — so heißt die Liste der
Revolutionäre vom sicheren Port der bestehenden Gesellschaft aus.
Die Revolutionäre ihrerseits hassen nicht alle alten Ordnungen gleich Dialektik
grimmig. Tödlich haßt die Revolution nur ihren letzten Gegner. Denn
nur von ihm trennt sie die Umwertung aller Werte. Sie stürzt also zwar
in und mit ihm alle früheren Stände mit um, aber sie bekämpft sie doch
nur, um den letzten Vorgänger vernichtend zu treffen. Die Pariser haben
die Adelsvorrechte abgeschafft, lange bevor sie in dem Bürger Louis
Gapet ihren König hingerichtet haben. Die Bolschewiki haben zwar die
Zarenfamilie umkommen lassen. Aber im Kam pf gegen die Kriegsbegei­
sterung des Bürgertums waren sie viel fanatischer. Die bürgerliche Demo­
kratie ist für sie viel abscheulicher und unverständlicher als der Zaris­
mus. Hingegen ist der Kam pf gegen den Kaiser der erste und letzte Atem­
zug der Papstrevolution. Denn diese Revolution und nur diese ging ja
gegen das Kaisertum.
Die Revolution kann also eher mit den ältesten Ständen paktieren als
mit dem unmittelbaren Vorgängerl
Deshalb hat die Reformation das römische Kaisertum unangefochten
stehenlassen. Es blieb daher volle dreihundert Jahre noch als Form des
Reichs erhalten trotz der Reformation. Diese hatte eben nur den zweiten
(päpstlichen), nicht aber den ersten Heerschild vernichten müssen. Eben
deshalb verstehen wir Deutsche die Engländer so schlecht in ihrer Kirch­
lichkeit. Die englische Hochkirche hat nicht wie die deutsche eine sonder­
liche Spitze gegen Rom. Sie ist wirkliche Kirche, liest die Messe und kann
den Frieden mit Rom suchen, ohne sich aufzugeben.

s.
Die Franzosen haben sowohl Napoleon I. wie Napoleon III. ihre kaiser­
liche Rolle als Schirmherrn und Fronvögte des Papstes erlaubt. Sie kön­
nen die große katholische Tradition Frankreichs nicht aus ihrem Herzen
reißen, so wenig wie den Stil Louis XIV. und Louis XV. Das Theätre
Frangaise spielt weiter die Stücke der Hofdichtung des Königreiches.
Die Republik betreut die katholische Mission im Orient.
Nur der Adel etwa des Faubourg oder der Bretagne gefährdet die R e­
publik. Als Ludwig XVIII. die Formel i 8 i 5 für seine Rückkehr nach
Frankreich fand: es gibt nichts als einen Franzosen mehr in Frankreich,
da war das der Abschluß der Revolution. Denn in der kürzesten und
glücklichsten Formel hatte der König die Gleichheit aller Franzosen zu­
gesichert. Der König kommt zurück, aber nicht die Ungleichheit, hieß der
Satz! So kann Mussolini alles mit seinen Italienern machen, nur sich selbst
nicht zum Kaiser. Es liegt doch nahe, in dem kaiserlichen Rom ein neues
Kaisertum zu begründen. Aber das gerade ist ihm verwehrt. Der Kaiser ist
tabu im Lande des Kampfes der Päpste gegen den Kaiser! Der Versuch
des Blattes „Impero“ , so etwas auch nur theoretisch zu vertreten, ist ge­
scheitert. Mussolini hat gerade dies Blatt von sich energisch abgeschüttelt.
Der Duce, der Führer, darf er heißen; aber der Name Kaiser wäre für
diesen Führer so ungeeignet, wie der Titel Papst für ein deutsches Ober­
haupt. Und Mussolinis Zeitschrift muß den Titel führen: Hierarchie
(Gherarchia)! Dies kirchliche W ort ist eben italienischen Ohren erträg­
lich und besagt dort soviel wie bei uns etwa „Staat“ . So treu bleibt die
Sprache einer Nation den Klangfarben ihrer Revolution. W ie schafft nun
die zerstörende Gewalt doch die neue Ordnung?

88
VI DIE HERRSCHAFTSFORM UND DIE
OPPOSITION

1. D er „eigentliche“ H errscher
amit sind wir bei dem schwierigsten Teil der Revolution. Weil sie
D freiwillig geschieht, braucht sie zuerst freien Gehorsam. Aber Ge­
horsam muß es sein.
Die Liebe und die Begeisterung der Revolution brauchen keine Para­
graphen. Dauernde Herrschaftsformen sind daher immer erst später der
Niederschlag der freien Seelenkräfte. Aber wenn der Jubel der Straße ver­
hallt, die Glut der Kämpfer verdampft ist, dann muß die Staatsmaschine
regelmäßig arbeiten.
Papst und Kaiser, König und Adel und Kapital sollen vernichtet wer­
den. Aber die Funktionen in der Gesellschaft sollen alle in Tätigkeit blei­
ben. Keine echte Errungenschaft der Vorzeit will man missen, nur ihren
Plunder. Die Revolution will Mißbräuche beseitigen. Aber um keinen Preis
will sie zurück in die Urzeit, sondern immer über das Alte hinaus. Daher
darf sie möglichst wenig von den echten Werten des Alten verloren gehen
lassen. Alle europäischen Revolutionen sind in diesem Sinne positiv. Es
wird das Alte hineingehoben in das Neue.
Der Kunstgriff, dessen man sich dazu bedient, ist die Verwendung
der alten Namen im echten und eigentlichen Sinne. Das W ort „eigent­
lich“ stellt sich ja immer ein, wenn man „eigentlich“ das Gegenteil sagen
will, ohne das doch zuzugeben.
Eigentlich also schafft die weltliche Obrigkeit der Reformation alle
geistliche Gewalt ab. Aber das drückt man so aus, daß die Fürsten die
eigentlichen episcopi, der eigentliche Papst in ihrem Lande seien. Und so
entsteht die Landeskirche nach dem Satz: Dux Cliviae est papa in terri-
torio suo1. Der Herzog von Cleve sei Papst in seinem Lande, hieß es daher
in der Reformation. Der später sogenannte Summepiscopat der Landes­
fürsten ist das Kernstück ihrer neuen Obergewalt. Richtiger als die nach­
träglich von uns den Franzosen nachgeschriebene Lehre des Bodinus von
der Souveränität, drückt diese Lehre vom Summus Episcopus aus, welche
oberste Gewalt man im 16. Jahrhundert errungen hat: die kirchliche Sou­
veränität ist die erste Souveränität des modernen Staats gewesen. Dadurch,
daß jeder deutsche Fürst „Papst“ wurde, hat er die Grundlage der Souve­
ränität erlangt.
Ebenso war es vorher in Italien zugegangen. Der verus imperator, der
1 Der Satz soll auf den Ausspruch eines Erzherzogs von Österreich zurückgehen, daß
er Papst, Bischof und Konzil in seinem Lande sein wolle.

89
wahre Kaiser, hatte den staufischen Höllenkaiser ersetzt. Der Papst ist
nach den Kanonisten des 12. Jahrhunderts dieser wahre Kaiser. Aus dieser
Eigentlichkeitslehre heraus waren Kirchenstaat und Weltherrschaft des
Papstes beide sofort und leicht zu entwickeln.
Die Engländer verlegten die königliche Gewalt ins Parlament. The king
in Parliament ist noch heut die juristische Fiktion, d. h. die gedankliche
Brücke, um die Regierung des Parlaments zu rechtfertigen. Die Minister
Seiner Majestät regieren, die Gesetze zählen nach den Regierungsjahren
des Königs. Aber mit den Regierungsjahren des Königs sind die Sitzungs­
perioden des Parlaments gemeint. Und so regieren die großen Familien
von England als der „eigentliche“ König im Parlament ohne daß die Na­
men sich hätten zu ändern brauchen durch die Ständerevolution.
Auch die Franzosen standen vor der Aufgabe, die Eigentlichkeitsfrage
zu lösen. Dér wahre und eigentliche Adel mußte gefunden werden. Prak­
tisch ist dies Führungsprivileg in den Händen der Pariser. Aber theore­
tisch hat man das Erbe des alten Adels durch eine Reihe von Eigentlich­
keiten anzutreten sich bemüht.
Elite W ie der noblesse de sang schon die noblesse de robe im Dritten Stand
gegenüberstand, so redet man wohl im 19. Jahrhundert von der noblesse
du coeur und der Aristocratie des Talents. Man beruft sich besonders auf
eine Elite der Nation, so wie sie die Unsterblichen in der Académie
frangaise z. B. darstellen sollen1. Man schafft die Ehrenlegion für das Ver­
dienst. Und man hilft sich politisch durch die Einrichtung des Senats.
Diese antike Vokabel gewinnt in Amerika und in Frankreich eine Bedeu­
tung, die z. B. mit der ursprünglichen Idee des Oberhauses in England
oder der des Herrenhauses in Preußen nichts zu tun hatte, denn dieser
neue Senat beruhte auf dem Verdienst und dem Verdienen vor allem,
nämlich auf dem Besitz. Die Franzosen sind es, die in ihrer Verlegenheit,
den Begriff des Adels zu ersetzen, auf den Ausweg verfallen mußten, als
den eigentlichen Adelsbrief den Steuerzettel anzusehen. Die Franzosen
haben die Einteilung der Bürger in „Klassen“ — wieder mit antikem
Wortschatz — erfunden, um für ihren Staat eine Oberschicht zu kon­
struieren. Das Klassenwahlrecht und der B egriff der Klasse ist weder
englisch noch deutsch, sondern als politisches Gebilde rein französisch.
Die französische Eigentlichkeitslehre drückt sich also in der Schaffung
einer privilegierten Klasse aus, deren Privilegien auf keiner anderen Un­
gleichheit beruhen dürfen als auf der des Besitzes. Denn alle Privilegien
des Adels waren und blieben abgeschafft. Die Käufer der Revolution be­
hielten ihren Besitz. Die Geldaristokratie wurde in dieser bürgerlichen
Gesellschaft die „eigentliche“ und einzige Aristokratie und sie ist es von
Frankreich ausgehend mit dem Siege der Ideen von 1789 natürlich mehr
und mehr auch in der übrigen europäischen W elt geworden.
1 Vgl. Madariaga, Englishmen, Frenchmen, Spaniards (1928), i 42— i 48.


Der Begriff der „herrschenden Klasse“ ist also das Mittel gewesen,
innerhalb der Nation noch Unterschiede einzulassen, obgleich man alle
Stände und Standesvorrechte zerstört hatte.
Die „herrschende Klasse“ wird deshalb das Götzenbild, das die Russen
stürzen müssen. Das wahre Eigentum hat die Gesellschaft. Sie wird nun
der eigentliche Eigentümer an Stelle des Privateigentums. Eine neue „herr­
schende“ Klasse darf es nicht geben. Aber die Funktion der Bourgeoisie,
wo bleibt sie in Rußland? Diese notwendige Funktion wird auf die Ge­
sinnung sträger übertragen. Denn die neue Gesellschaft Lenins wird eben
von denen dargestellt, die sie bewußt wollen und gewollt haben. Die
„eigentliche“ Gesellschaft anstatt der bürgerlichen ist die klassenbewußte
Gesellschaft. Schon vor fünfzig Jahren schrieb Peter Lavrov, ein russi­
scher marxistischer Gelehrter, sein W erk L ’Element gouvernemental dans
la societe future. Die Herrschaftsfrage hat also sehr früh die Geister be­
schäftigt und traf die Partei weder 1905 noch 1 9 1 7 unvorbereitet. Da­
her der Abschluß der Kommunisten in so streng gesinnungsmäßiger
Weise. 3 o o o o o Kommunisten regieren Rußland. Es herrschen die Re­
volutionäre. Sie sind die neue „Elite“ , der Adel, die Obrigkeit und Päpste.
Die Rolle der ,,Eigentlichkeitslehre* * im Ablauf der Heerschildordnung
stellt sich im Schema so d ar:

Sachliche
Heerschild Grundlage
(Historischer Ausgangspunkt) (Prinzip):
Kaiser Schwertgewalt
der eigentliche K aiser: verus im- die neue Macht Weihe
perator = Papst
der eigentliche Papst: summus epi-
scopus = weltliche Obrigkeit Amt
der eigentliche K ön ig: King in Par-
liament = Commons in England Familie
der eigentliche A del: élite, sénat, les
propriétaires = herrschende Klasse Besitz
der eigentliche Kapitalist: die klas-
senbewußte Gesellschaft = die Kommunisten Gesinnung

2 . D ie F reih eit
So muß jede Revolution, wenn sie die alte Schale wegwirft, den echten
Kern auch^des Alten zu retten suchen. Denn jede Gesellschaftsordnung
unternimmt den Versuch, vollständig zu bleiben. Sie will gewährleisten,
was der Mensch irgend braucht. Sie versucht sich absolut, losgelöst von
allen anderen Kulturordnungen zu setzen. Jede Revolution hat einen Tota­
litätsanspruch erhoben. Und dieser Universalanspruch verschmilzt mit der

91
Empörung über den unerträglichen Druck, unter dem das revolutionäre
Kraftfeld entsteht, zu dem R uf: Freiheit.
Er verschmilzt 1 Daher kommt es, daß diese Freiheit immer eine in­
haltlich gefüllte Vorstellung ist; sie ist in einem Atemzug Freiheit „von“
Druck und Freiheit „zur“ rechten Ordnung der Dinge.
Die Völker Europas sind für die Freiheit auf die Barrikaden gestiegen.
Jedes Volk freilich für eine besondere Freiheit.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kennt jedermann als den
Schlachtruf von 1789. Freiheit der Arbeitskraft von Ausbeutung ruft der
Sozialrevolutionär. „Das Reich der Freiheit“ ist sogar ausdrücklich der
Name der neuen Gesellschaft im Marxismus. Gott liebt auf Erden nichts
so sehr als die Freiheit seiner Kirche, ist der Wahlspruch des großen
Freiheitskampfes der Päpste gewesen. Auch Luthers Gewissensfreiheit ist
eine politische Größe geworden. Die Fürsten der Reformation haben seit
Moritz von Sachsen ihre „Teutsche Libertät“ in berühmten Streitschriften
verfechten lassen und im Dreißigjährigen Kriege endgültig durchgesetzt.
Luthers Gewissensfreiheit verkörpert sich eben am stärksten in der Obrig­
keit, die über den rechten Glauben ja für alle ihre Untertanen mit ent­
scheidet. Der deutsche Staatsmann und F ürst wurde nur im Gewissen ge­
bunden. Dies „Forum des Gewissens“ war im kanonischen Recht für die
Juristen ein beliebter und fester Begriff für den Wirkungskreis des bil­
ligen Ermessens. Dieser Gewissensraum fiel nun dem weltlichen Fürsten
zu. Er wurde eben dadurch in einem für den altkirchlichen Menschen un­
faßbaren Sinne „frei“ .
Die Freiheit der Meere war Hollands Schlachtruf, so wie für Polens
Adel das liberum Veto, die Freiheit des Einspruchsrechtes auf dem Reichs­
tag. Die „Magna Charta libertatum“ jedes Engländers, die Declaration
of Rights von 1689 und die Habeas-Corpus-Akte sichern die Freiheit
des Hauses (My house is my castle) des Gentleman von England. „Frei­
heit des Parlaments“ , rief der Pöbel von London Karl I. zu, als das Lange
Parlament den Kampf gegen den König begann.
Die Freiheit hat also allen Europäern vorangeleuchtet und ihr W erk
emporgehoben aus bloßem Aufruhr zur menschlichen Befreiungstat.
„Freiheit“ ist der Ausruf bei dem Durchbruch einer neuen Menschenart.
„Freiheit“ ist der Ausdruck für den Vulkanismus in der Geschichte des
Menschen, dafür nämlich, daß seine Naturgeschichte in Rissen und Sprün­
gen verläuft. Riß, nämlich Losriß vom Alten, und Sprung, nämlich Ur­
sprung yon etwas Neuem, verkündet der Freiheitsruf allen europäischen
Völkern. Damit ist aber die Norm festgelegt, nach der sich der Mensch
in Europa umgebildet und weitergeschaffen hat
„Freiheit“ ist keine Ideologie; wenn ein Mensch so ruft, so wagt er
damit den Menschen und die Menschenarten, die es bisher gibt, an etwas
Neues. Diese Freiheit ist also immer beides gewesen, Losriß und Ur-

92
Sprung. Der Freiheit von etwas entsprach die Freiheit zu etwas. Der leere,
keinem neuen Inhalt zugewandte Freiheitsruf hat nie zu einer europä­
ischen Revolution geführt. Aber es hat auch keine Revolution ohne Frei­
heit siegen können.
Es ist nicht müßig, das zu bemerken. Denn großartige Anläufe in
Europa sind eben hieran gescheitert 1 Es gibt eine Reihe von Halbrevolu- Die Halbrevo-
tionen, Spanien (18 6 7 — 1 5 8 o; 1700— 1 7 1 3 / 1 4 ), Schweden ( i 6 3 o bis lutl0nen
i 6 4 8 ; 1700— 17 2 1), Polen ( i 6 8 3 ), Holland (15 79 ). Diese Anläufe
erfüllen eben nicht sämtliche Voraussetzungen, die einer Totalumwälzung
zugrunde liegen müssen. Der eine (Spanien) versuchte eine Revolution,
aber ohne Losriß vom Alten, preßte also den Ursprung in das Alte künst­
lich hinein. Der zweite (Schweden) unternahm ein Neues, ohne aus dem
Alten hervorzugehen. Wie wenn eine Sprengladung nicht eingebaut wird,
so verstob diese Revolution in die Luft. Der dritte Anlauf (Holland) riß Die Niederlande
los, aber ging dann in einer neuen Ordnung vor Anker, die er nicht selbst
zu verbürgen vermochte. Denn das Mare liberum, die Freiheit der Meere,
nach der Holland im 17. Jahrhundert Ausschau gehalten hat nach seinem
unvergeßlichen Freiheitskampf, das Meer, dessen über die Deiche herein-
gelassene Fluten die Bürger von Alkmar und Leiden gerettet hatten gegen
die Spanier, dies Meer war doch keine irdische Macht, die sich von Hol­
land aus bestimmen und ordnen ließ. „Bewußt und groß“ , so haben sich
die Niederländer ,vom Lande losgerissen4. Dies Bewußtsein erhebt ihren
Freiheitskampf in den Rang der Revolutionen. — Aber dem Bewußtsein
entsprach kein angeborenes, kein nationales oder natürliches Erdreich von
ausreichendem Umfang. So blieb die Freiheit der Meere eine negative
Forderung, die Hollands Unfähigkeit, auf dem Lande unabhängig zu
herrschen, nicht wettgemacht hat. Das Mare liberum des Hugo Grotius
von 1609 blieb Programm. Daher haben die „Generalstaaten“ von Hol­
land unter den Angriffen Ludwigs XIV. Wilhelm III. nach England sen­
den und dadurch ihren Revolutionsauftrag an die Generalstaaten von Eng­
land übergehen lassen müssen, denn die Insel vermochte Meer und Land,
beides zu gestalten.
Jener an zweiter Stelle genannte Sprengversuch in die leere Luft hin­
ein ist von Schweden unternommen worden. Schweden gehörte nicht zum
Römischen Reich und litt nicht unter dem Römischen Reich. Es unter­
nahm unter Gustav Adolf und Karl XII. trotzdem eine kriegerische Re­
volution des Festlandes, ohne irgendeinen neuen Gedanken diesem zu­
sammeneroberten Besitz zu bringen. Denn die Staaten, die es eroberte,
hatten ja gerade ihrerseits Schweden den W eg zur Reformation gezeigt.
Das geistige und soziale Problem des Kampfes von König und Adel wurde
daher in Schweden bald Herr über den Reichstraum dieser Könige. Sie
kamen als „Befreier“ , ohne Revolutionäre zu sein. Denn sie standen unter
keinem Druck, der ihr „Em por“ gerechtfertigt hätte. (Deshalb mußte

93
auch später Preußen an Schwedens Stelle treten.) Als Großmacht unserer
Kultur ist auch Polen auf getreten. Sein Friedensreich im 16. Jahrhundert
und seine Befreiung Wiens und der Christenheit von den Türken i 6 8 3
versuchen eine Totalordnung der Christlichen Staatenwelt, aber das Fest­
land spottet ihrer Versuche, weil die Mittel noch keine neuen, sondern nur
die schon bekannten der Religion und des Krieges sind. Die seltsamste
Revolution ist wohl die spanische; denn hier ist die volle Kraft einer Na­
tion an ein reaktionäres Unternehmen gesetzt worden l Philipp II. ist in­
sofern das vollkommene Gegenstück zu Gustav Adolf. Dieser ist im Frei-
Spanien heitsraum, so daß er nichts zu sprengen vorfindet. Spanien hingegen
bahnt sich in das Innerste des von der Reformation angegriffenen Papst­
tums einen W eg, um nicht etwa wie einst das Papsttum die Kirche zu
revolutionieren, sondern nur das Papsttum! und so hat Spanien in und
an der „Religion“ seine eigene europäische Revolution vollbracht. Es sind
besondere Ursachen, die den Spaniern diesen W eg eröffneten. Der Je­
suitenorden schafft die Römische Kirche noch einmal. Es liegt hier ähn­
lich wie bei der deutschen Reformation. Diese ist erst durch eine zweite
Revolution, nämlich die Preußens, vollendet worden. So entspringt die
spanische Umwälzung und Nochmalsschöpfung dem Mangel des revolu­
tionären Selbstbewußtseins, den die Papstrevolution aufweist. W eil sie
die älteste gewesen war, mußte sie sich ihren Charakter verhehlen und da­
her ist ihr von den Jesuiten die Bewußtheit nachgebracht worden. Die
Spanier wiederholen die Papstrevolution mit neuzeitlichen Mitteln.
Jedenfalls drückt das W ort des Großinquisitors bei Schiller: „Der
Verwesung lieber als der Freiheit“ das aus, was alle anderen Völker an­
gesichts der spanischen Revolution in Europa empfinden. Trotz dieser
Verkehrung der Natur ist aber Spaniens Stunde in der europäischen Ge­
schichte von 156 7 bis i 5 8 o eine wirkliche Revolution zu nennen, eine
Revolution, an deren grandiosen, donquichottehaften Einsatz sich die
Sehnsucht der Völker ermessen läßt, an der Weiterschöpfung des Men­
schen teilzuhaben!
Die Menschlichwerdung des eigenen Volkes hängt an dieser Opferwillig­
keit, für das Ganze eine neue eigentümliche „Freiheit“ zu gewinnen. Diese
Freiheit erzeugt dann den neuen Menschen in Europa, jenen, den die
Revolution erschafft, weil sie ihn zur Ausführung der neuen Freiheit
braucht. Durch den Freiheitsruf wird jener zeitliche Leerraum und Zwi­
schenraum geschaffen, in dem der neue Mensch noch ungetauft und unbe­
nannt emporschießen kann, ehe man ihn noch recht überblickt und kennt.
Die Kampf- Der Geburtstag jeder Menschenart in Europa beruht auf dem Tagesruf
einer Wittenbergischen Nachtigall. Und dieser Tagruf des Wächters, der
das Ende der Nacht verkündet, heißt an jedem solchen Geburtstag — ob
% nun Libertas, Libertät, liberty, liberte — , immer heißt er Freiheit. Jen­
seits liegt jedesmal das gelobte Land der Verheißung, das die Revolu-

94
tionäre selbst nicht betreten dürfen. W er im Kraftfeld der Revolution ge­
wirkt hat, verwirkt sein Leben. Denn er gehört selbst nicht zu den neuen
Menschen. Er durfte mit den Schöpfer spielen. Die neuen Geschöpfe
aber müssen in einer anderen Ordnung der Dinge leben. Sie leben in
einer Verfassung; der Verfasser des Stückes kann es nicht mitspielen!
Charaktere wie Mirabeau oder Cromwell, wie Moritz von Sachsen oder
Lenin erträgt der Alltag nicht. Das Ungeheure und das Ungeheuerliche
dieser Charaktere verbreitet ein Grauen um sie, das keinen Volksfrieden
aufkommen läßt. Sie sind die Heroen des Zwischenreiches.
Gregor VII. stirbt im Exil. Luther stirbt vor dem Schmalkaldischen
Krieg, sein Kurfürst verliert den Kurhut. Beides gehört zusammen. Crom­
well und Napoleon müssen ab treten, ebenso Innozenz III. und Lenin.
Kein einziger großer Revolutionär hat das jenseitige Ufer erreicht. Und
das muß so sein. Er ist Feuer und Flamme; seine Kreaturen aber am
jenseitigen Ufer des höllischen Abgrundes der Revolution sind Erde und
irdisch. Lernen wir die Menschen daraufhin ernsthafter unterscheiden!
Der Revolutionär selbst ist in einem anderen Aggregatzustand als der
Zustand, kraft dessen eine Gesellschaftsordnung besteht. Kein geborener
Revolutionär, sogar der greise Lafayette nicht i 8 3 o, kann von diesem
anderen Aggregatzustand ertragen werden.
Freiheit und Gesellschaftsordnung schaffen also den gleichen Gegensatz
für das geistige Leben eines Volkes wie Krieg und Frieden für das leibliche!
Denn die volle Freiheit der Revolution und die volle Gebundenheit
eines verfassungsmäßigen Zustandes sind elementare Gegensätze wie
Feuer und L uft einerseits, Wasser und Erde andererseits. Die Revolu­
tion ist Himmel und Hölle, die Verfassung ist Alltag und Schwarzbrot,
ein Mittleres.
Die feurigen und die luftigen Geister zieht es zur Revolution, die strö­
menden und pflichtbewußten Erdensöhne zur Verfassung.
Die Revolution verwertet jene, die im Alltag unverwendbar sind.
Nur alle vier Elemente zusammen können ein Leben in Freiheit und,
Verfassung den Völkern Europas gewährleisten.
Die vier Temperamente sind auch die Elemente des sozialen Körpers!
Alle Elemente gehören zum Sozialleben. Und die Revolutionsbauten Euro­
pas sind dadurch denkwürdig, daß sie Feuer und Luft zur geistigen
Grundlage nehmen, um Verfassungen auf der wohlgegründeten, dauern­
den Erde zu errichten.
Mag darum der Vollrevolutionär bei Eintritt der Verfassung verschwin­
den müssen: Ein Hauch seines Geistes muß lebendig bleiben in jedem
seiner Geschöpfe. Die „Totalmobilmachung“ m uß nachwirken. Heut in
der Gefahrenstunde des Menschlichen, in dem ermordeten Europa zeigt
sich leicht, wie nah der Rückfall in die Tierwelt wieder für das einzelne
Volk geworden ist, weil sein revolutionäres Prinzip zu erlöschen droht.
Die beiden Pole jeder geistigen Großmacht, den einen im Reich der
Freiheit, den andern im Reich der Ordnung, muß man kennen, um die
Reichweite des von ihr geformten Menschen zu ermessen. Die nach­
stehende Tafel gibt einige Hinweise, was aus den Kampfzielen im All­
tag wird.
Die Spannungen zwischen
Freiheit und Ordnung
Italien libertas ecclesiae vom Kaiser Auctoritas Papae
Deutschland Religionsfreiheit vom Papste Staatsnotwendigkeit
Staatsräson, Gesetz,
Polizei.
England Altenglische Freiheit vom König Parlamentsherrschaft
Frankreich Freiheit des Privateigentums von Konstitution, Geschrie­
Privilegien bene Verfassung
Rußland Freiheit der Arbeitskraft vom Kapital W irtschaftsdiktatur

3. D ie F üh rer
Wer aber herrscht am W erktag? Alle Ordnung besteht darin, daß die
wenigen befehlen und die vielen gehorchen.
Die Rangordnung ist erst innerhalb der neuen Gesellschaftsordnung
ein besonderes Problem. Denn zunächst ist die ganze Nation befriedigt
durch die neue Ordnung. Und wie wäre das möglich, wenn sie sich nicht
an ihr beteiligt fühlte 1
Die Zahl der Gläubigen, die in der Freiheit der Kirche zu ihrem eige­
nen Rechte gekommen sind, umfaßt sämtliche Italiener, nicht etwa nur
den Papst, die Bischöfe und die Priester. Jeder Deutsche, der Luthers
Katechismus lernte und seine Bibel las, wurde mit ergriffen von der Sorge
um die deutsche Libertät. Der ärmste Engländer frohlockte über den Sieg
der Gentlemen. Trotzdem ist die besondere Rangordnung natürlich an
tik der bestimmte Gruppen gebunden. Und die zahlenmäßige Größe dieser Grup-
Kiasse pen hat sich mit der Vollendung der Revolutionspyramide immer mehr
verbreitert. Der Papst ist einer. Er spricht für alle, aber er spricht allein.
Bei den deutschen Fürsten handelt es sich anfangs um etwa einhundert1,1*9
1 Es gab am Anfang des 16. Jahrhunderts an Obrigkeiten
7 Kurfürsten,
5 o Erzbischöfe und Bischöfe,
70 Reichsäbte und Äbtissinnen,
3 i weltliche Fürsten,
128 Reichsgrafen,
81 Reichsstädte.
Im Jahre 1700 gab es nur noch 4 6 Bischöfe und Äbte (statt 120), dafür aber
9 Kurfürsten und in 29 fürstlichen Häusern nicht weniger als 83 regierende Fürsten
der verschiedenen Linien. Das sind also fast hundert weltliche Serenissimi nur aus dem
Reichsfürstenstand, es gab aber etwa 350 Hofhaltungen.

96
am Ende um einige Hundert Familien. Die Engländer sprechen von der
Herrschaft der io o o o unabhängigen Vermögen. Dies ist eine Zahl, die
für 1688 zu hoch gegriffen sein dürfte. Immerhin umfaßte die gentry
schon damals wohl etwa 5 ooo Familien1 .
In Frankreich darf man die große Bourgeoisie nach ziemlich genauen
Berechnungen auf 80000— 100000 Familien schätzen 2.
Von den Kommunisten in Rußland weiß man die amtlichen Zahlen.
Am 1. November 192h gab es 1 026 4 o 3 Personen, die mit den Privi­
legien der Partei ausgezeichnet waren.
Die Zahlenbasis der führenden Schicht verbreitert sich demnach. Aber
sie kann nie mit der Kopfzahl der Nation oder auch nur der mündigen
Männer der Nation zusammenfallen. Sondern ewig muß die Schranke
bleiben zwischen Führer und Geführten.*
Da liegt die Schwierigkeit für jede neue Revolution. Der Ruf der Frei­
heit will von jedermann auf sich bezogen werden können. Nun entlarvt
jede Umwälzung den Freiheitsruf der vorhergehenden Revolution. Folg­
lich wird es um so schwieriger, die Anhänger und die ganze Nation zu
einer neuen Freiheit aufzureizen und trotzdem eine Rangordnung auf­
rechtzuerhalten. Jede spätere Revolution wird leichter durchschaut 1 Die
russische Revolution hat auch hierin als die bewußte Revolution den Jar­
gon bewußt umkehren müssen. Um die Herrschaftsform zu retten, hat
Lenin klipp und klar das W ort Freiheit geopfert. „Freiheit ist ein bürger­
liches Vorurteil“ , das ist Lenins zynisches W ort, unter dem „das Reich der
Freiheit“ , die marxistische Vision, eingescharrt wird.
Dennoch is,t die Rangordnung bei jeder bestehen geblieben. Nur hat
die wechselnde Begründung das Zugeständnis wachsender Zahlen machen
müssen.
Papst 1
Fürsten 100
Gentry 3 o o o — 5 ooo
Bourgeoisie 90 000
Proletariat 1 000000— 3

1 Unter Karl II. (1660— 1685) gab es rund 4 oo Lords und 888 Baronets (das ist die
oberste Stufe der Gentry). Noch beweisender ist vielleicht in dieser Hinsicht die Zahl
der einen selbständigen Namen tragenden und mindestens von Knights (Rittern) besesse­
nen und bewohnten Landsitze in Großbritannien und Irland. Jeder Gentleman sucht
einen solchen Sitz sein eigen zu nennen. Es waren rund 4 8 5 o solcher Landsitze bekannt.
Dazu mag man nehmen, daß 1831 vor der Wahlreform von 16,5 Millionen Briten
300 000 das Wahlrecht hatten. 8 Leroy Beaulieu, Traité de la Science des Finances.
7. éd. Paris 1906, Bd. II, 225ff. Avenel, Histoire de la Fortune frangaise 1927, sagt,
1913 hatten 91 100 Personen mehr als 12 000 M. Jahreseinkommen in Frankreich.
Henry und Lavergne sagen, daß von 11 Millionen französischer Zensiten 187 000 mehr
als 8 000 Goldmark verdienen. 8 Diese Zahl ist die offizielle kommunistische. An­
dere Quellen geben sie mit nur 300 000.

7 Rosenstock
97
Die Zahlen sind labil. Im Verlauf jeder Nationalentwicklung läßt sich die
Mitgliederzahl der Führerschicht steigern. Auch der Papst hat das durch
die Kardinäle gerade für Italien ermöglicht, indem seit i 4 4 o die Mehr­
zahl der Kardinäle aus Italienern bestand und die Zahl ständig anwuchs.
Sie beträgt heut ein vielfaches gegenüber dem Trecento. Diese Zahlen
sind aber nur Zahlen für das Verhältnis der verschiedenen Revolutionen
zueinander. Sie besagen nichts über das Zahlenverhältnis der Revolu­
tionssieger zu den Revolutionsopfern. Hier ist das Verhältnis durchaus
nicht eindeutig so, daß die Schicht, die zur Herrschaft gelangt, breiter ist
als die von ihr vernichtete.
Von den 100000 Bourgeois i. e. S. — der Jakobinerklub bestand zum
weitaus größten Teil aus solchen — sind mehrere Hunderttausend Adlige
und iö o o o o privilegierte Geistliche (diese aber ohne Familie!) aus ihren
Privilegien gesetzt worden. Auch in Rußland gab es vor dem Kriege etwa
3 oo ooo Adlige und im ganzen etwa eine Million Wohlhabende und Be­
amte. Aber so ist der Vergleich schief gewählt. Richtiger geht man wohl
von Land zu Land weiter. Die Herrschaft des englischen Adels wird mit
der französischen Bourgeoisie verglichen werden müssen. Man muß die
französische Kapitalistenklasse und die von ihr aufgerichtete Gesell­
schaftsordnung würdigen, um die Diktatur des Proletariats in Rußland
auf ihre Verbreiterung der Herrenschicht zu prüfen.
Man muß aber zu diesen Zahlen hinzu noch (wie die russischen Kom­
munisten das auch tun) den jeweiligen „Anhang“ veranschlagen. Denn
ein französischer Bourgeois ist Familienhaupt, ein russischer Kommunist
ist Individuum, io o o o o Bourgeois sind also 4 oo ooo Interessenten. Eine
Million Kommunisten sind nur — da die Frau und die geschlechtsreifen
Kinder getrennt rechnen — anderthalb Millionen Individuen. Bei den
Fürsten muß man den ganzen „Staat“ , den sie machen, hinzurechnen, bei
dem Adel die Klientel und bei dem Papst alle Priester und Mönche. Man
kommt dann sofort zu dem Ergebnis, daß die Zahlenbreite der führenden
Schicht fast immer gleich bleibt.
Die zweite Tabelle sieht also etwa so aus:
italienische Geistlichkeit bedeutet dann Papst -\- Klerus und Mönche
deutscher Staatsapparat „ „ Fürstengeschlechter -(-Beamte
und Soldaten
englische Adelsklientel „ „ Gentry -j- Local goverment
französische Bürgerfamilien „ „ Bourgeois -f- Angehörige
russische Kommunisten „ „ Kommunisten -f- unmündige
Kinder
Die Zahlen fü r diese Tabelle werden alle nicht sehr erheblich vonein­
ander abweichen. Doch kann man sie noch nicht mit Genauigkeit an­
geben. Es bedarf dazu noch weiterer Forschung.

98
Bei den Zahlen der Revolutionsopfer wollen wir hier ebensowenig ver- Die Greuel der
weilen wie bei den Greueln der Revolution. Das Buch von Pitirim Sorokin Revolutlon
gibt „die Soziologie der Revolution“ . Der Leser findet dort alle Opfer des
Friedensbruches und der Rechtsunterbrechung geschildert. Die Völker
sind „außer sich“ in diesen Zeiten. Da sie nur als Urheber anderer Ver­
hältnisse walten, können sie selbst kein Verhaltensgesetz haben und stehen
so außerhalb der Moral und des Rechts. Es hat für uns keinen Sinn, bei
diesen die bisherige Art der Menschen jedesmal verzehrenden Feuers­
brünsten die einzelnen Greuel besonders aufzuzählen, Anarchie, Mord­
lust, Ausschweifungen aller Art, Bestechung, Schamlosigkeit usw. Sie
sind ja nur die Mittel, die Art, die der Umartung im Wege steht, zu ver­
tilgen. Und es ist viel wichtiger, zuerst einmal die Wut dieser Zerstö­
rungskraft in ihrem Sinne zu begreifen, ehe man die Bilder des Schrek-
kens im einzelnen betrachtet.
Diese Kaltblütigkkeit ist aber nur so lange erlaubt, als wir außerhalb
des Bannkreises einer solchen Revolution weilen. Wem seine Liebsten
bei einer Katastrophe ermordet werden, wer selber nur unter Lebensge­
fahr inmitten der Rasenden die Fackel des Lichts aufrecht erhalten hat,
der darf und muß in jedem Augenblick den ungeheuren Preis jeder Re­
volution vergegenwärtigen. Nur die Verzweiflung treibt die Menschen zum
Äußersten. Deshalb scheitert jede Revolutionsideologie, die sich über
diese Greuel des Preises hinwegschwindelt. Es gibt keine moralische oder
vernünftige Rechtfertigung der Revolution. Aber es gibt die Verzweiflung,
und Not ken nt kein Gebot. Zum Entsetzen aller Moralisten und Philan­
thropen ist dieser Satz Bethmann-Hollwegs beim Einmarsch in Belgien
wahr. Die Gebote des Lebens, mühsam erkämpft in Jahrtausenden, gehen
zum Teufel, wenn der Geist aus den Ordnungen weicht, der sie belebte.
Kein positives Recht kann eine Festung des Lebens sichern, die alle
guten Geister verlassen haben. Dann gilt Goethes W ort aus der Natür­
lichen Tochter1 :

„ . . . Diesem Reiche droht


Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben
Gefugten Elemente wollen sich
Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft
Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.
Sie fliehen sich und einzeln tritt nun jedes
Kalt in sich selbst zurück. W o blieb der Ahnherrn
Gewaltg’er Geist, der sie zu einem Zweck
Vereinigte, die feindlich kämpfenden?
Der diesem großen Volk als Führer sich,
Als König und als Vater dargestellt?
1 »»Die natürliche Tochter“. 5 . Aufzug, 8. Auftritt. >

1*
99
Er ist entschwunden! Was uns übrig bleibt,
Ist ein Gespenst, das mit vergebnem Streben
Verlorenen Besitz zu greifen wähnt.“ . . .

Was Goethe hier von 1789 sagt, beschreibt Ranke von der Reformation
mit folgenden W orten: „Nachdem die Gewalten (des Reichs) aneinander
und unter sich selber irre geworden, erhoben sich die elementaren Kräfte,
auf denen es beruhte. Aus dem Boden zuckten die Blitze auf: die Strö­
mungen des öffentlichen Lebens wichen aus ihrem gewohnten L aufe: das
Ungewitter der Tiefe, das man so lange brausen gehört, entlud sich gegen
die oberen Regionen; es schien sich alles zu einer vollkommenen Umkehr
anzulassen.“ Und Friedrich II. bezeugt den gleichen Eindruck, als er 1227
— der dritte Kaiser, den seit 1200 die Päpste bannen — den Gedanken
Goethes vom Versagen der Liebeskraft ebenso großartig den Fürsten und
Völkern nahezubringen sucht: „W ir also sind’s, auf die das Ende der
Zeiten gekommen ist. Denn nicht nur im Geäst, sondern im Wurzelwerk
auch friert die Liebeskraft ein. Nicht allein Volk gegen Volk erhebt sich,
oder Reich droht Reich, oder Pest und Hunger allein setzen die Herzen
der Lebenden durch den Schrecken, den sie verbreiten, in Erregung, son­
dern die Macht der Liebe selber, durch die Himmel und Erde regiert wird,
wird anscheinend weniger in ihren Abflüssen als an der Quelle selbst ge­
trübt, und das Römische Kaisertum, das die göttliche Vorsehung zur
Wehrmacht des christlichen Glaubens bestellt hat, wird nicht von dem
oder jenem unbedeutenden einzelnen, sondern gerade von denen schwer
bedroht, die es geehrt und sich zu Vätern gesetzt hatte.“

4. D ie Linksopposition
Es ist unter dem Gesichtspunkt der Rangordnung, daß auch die Ex­
tremen jeder Revolution betrachtet werden müssen. Ich habe schon oben
(S. 71 ff.) von der Harthörigkeit jeder Revolution gegen ihren eigenen
geistigen revolutionären Überschuß gesprochen. Ich habe oben ihre Na­
menliste gegeben. Dort ist nur die Tatsache äußerster Grausamkeit ge­
gen die Linksopposition festgestellt worden. Jetzt blicken wir tiefer.
Unter den Freiheitskämpfern bildet sich eine Gruppe, die nicht bereit
ist, das Gesetz der Rangordnung, der Führung gerade dieser Revolution
auf sich zu nehmen. Sie will nicht in die Gestalt der gegenwärtigen Re­
volution eingehen. Sie leugnet damit den W eg aus der Freiheit zum Ge­
setz. Denn Gesetze fordern Träger und Über- und Unterordnung. Es ist
ein Gesetz jeder Revolution, daß diese Sonderung innerhalb der Frei­
heitskämpfer durchgekämpft wird. Nur an der Kraft, innerhalb der Frei­
heitskämpfer die Mauer aufzurichten, in deren Schutz die neue Rang­
ordnung sich aufbauen kann, nur an dieser Kraft, wie gesagt, bewährt
sich die Revolution als eine echte geschichtliche Gestaltwerdung. Eine

100
Revolution ohne eine solche Sonderung hätte eben ein bloß negatives
Vorzeichen. Eine Freiheit „von“ , aber nicht die Freiheit „zu“ wäre dann
der Kampfesinhalt.
Die franziskanischen Observanten des dreizehnten Jahrhunderts haben
geglaubt, ohne die päpstliche Hierarchie das neue Zeitalter des Geistes
auf richten zu können. Sie haben ein vollkommenes Gefühl für die Revo­
lution. Das dritte Zeitalter soll mit dem Jahr 1200 oder 1270 ein­
brechen. Das neue Leben das Abendlandes wird daher von ihnen voll­
kommener empfunden als von den Trägern der Revolution selbst, dem
Papsttum und den Guelfen. Aber dieser vollkommenere Spiritualismus
ist um so unfähiger, die begrenzten Formen der wirklichen Welt zu er­
tragen. Und daran scheitert dieser Spiritualismus. Ganz derselbe Zustand
kehrt nun hei den anderen Freiheitskämpfen wieder. Es ist die Rangord­
nung der deutschen Reformation, gegen die sich die Wiedertäuferbe­
wegung empört. An die Stelle der Fürsten und ihrer Universitäten soll
der gemeine Mann treten. Tatsächlich ist in Luthers Evangelium irgend­
eine Rechtfertigung für den Rang der weltlichen Obrigkeit und der Lan­
desuniversität nicht zu finden. Nicht die Theorie der Lutherschen Lehre
enthält die gestaltliche Abgrenzung der neuen Lebensform. Sie liegt ge­
nau wie um 1200 auch zu Luthers Zeit im Schicksal. Der Kurfürst von
Sachsen ist Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches. Luther ist der
Schrift verordneter Doktor an der Universität Wittenberg. Die Bauern
im Bauernkrieg aber „gedenken kein Haus im ganzen Land zu dulden,
das besser sei denn ein Bauernhaus“ . So spricht die erregte Masse in jeder
Revolution. Die W oge der Empörung will nivellieren, die geschichtliche
Umwälzung will eine neue Arbeitsteilung errichten. Der Neid wird stets
mit Unfruchtbarkeit geschlagen. Aber er muß immer erst von der neuen
Gewalt besiegt werden.
Sehnsucht nach dem Geist und Gehorsam gegen die geschichtlich be­
rufenen Träger liefern erst zusammen die Erkenntnismittel für die Revo­
lution. Was gesagt wird, ist wichtig. Aber ebenso wichtig ist, wer etwas
sagt. Aus Was und W er zusammen wird jede Revolution. Die englische
Revolution ist scheinbar zu Zeiten ganz in den Händen der Frommen,
d. h. in den Händen derer, die die Struktur des Königreichs England mit
König, Oberhaus und Unterhaus für das kingdom of God und seine neue
Rangordnung gaj* nicht benötigen. Und doch muß Oliver Cromwell gegen
Lilbourne und die Lleweller in der schärfsten Weise Vorgehen. Durch die
geschlossene Tür des Staatsratszimmers konnte man hören, wie Crom­
well seinen Kollegen im Staatsrat mit mächtiger Stimme zurief: „Ich
sage euch, ihr m üßt diese Leute niederschmettern, oder sie werfen euch
nieder.“ Diesen Ausruf hätte wörtlich Luther IÖ2Ö im Bauernkrieg tun
können oder die Bourgeoisie 1796 gegen Baboeuf. Es ist in diesem Satz
sehr gut die reine Personenfrage der sachlichen gegenübergestellt. Es

101
handelt sich um die Gruppe, die herrschen soll. Diese Leute a,uf der einen
Seite stehen uns und euch gegenüber. Mögen beide Gruppen weitgehend
dasselbe predigen und meinen, so bleiben sie doch getrennte Personen­
gruppen. Es ist der Sinn jeder Revolution, daß eine bestimmte Gruppe
herankommt an die Trägerschaft für die neue Lebensordnung. Crom­
well war Landedelmann, und seine Tat blieb diesen Landedelleuten zu­
geeignet. Wie Stalin gegen Links- und Rechtsopposition, hat Robespierre
gegen „ Infra-1‘ und „Ultrarevolutionäre“ gekämpft, und zwar gleichzeitig.
So sehen wir in Rußland die sogenannte Linksopposition Trotzkis durch
Stalin und die Bauemsprößlinge ausgerottet. Denn auf die Bauern kommt
es an. Trotzki ist der Observant und Spiritualist des 1 3 . Jahrhunderts, so
wie sie Baboeuf und Hebert, die Levellers und Thomas Münzer zu ihrer
Zeit und an ihrem Ort repräsentierten.
Keine Revolution kann dieser reinen Freiheitskämpfer entbehren. Jede
Revolution muß sie mit entfesseln. Das ist ihr Fluch. Aber es läßt sich
nicht mit ihnen in die Neuordnung der Dinge eintreten. Keine Weisheit
kann daher das Auftreten dieser Elemente verhindern. Keine Güte könnte
die Ausrottung dieser Elemente überflüssig machen. Der wirkliche Ernst
der Revolution äußert sich vielleicht weniger noch in der Zerstörung des
Bestehenden, als in der Scheidung der Geister innerhalb der Revolutio­
näre selbst. Denn es ist viel schwerer, in der Gemeinschaft des revolu­
tionären Erlebnisses den festen Grund eines solchen Aburteilens zu legen.
Es war für Luther schwerer, die Bauern zu verdammen, als den Papst.
Aber gerade durch diese Entscheidung bekommt erst der Freiheitskämpf
sein Schwergewicht. Jede Revolution muß ihr Endziel zu retten wissen
vor den Revolutionären, die Revolution um ihrer selbst willen machen.
Daran erst bewährt sie sichl Ranke hat daher Luthers Entscheidung
gegen die Bauern „heldenmütig“ genannt 1
Innerhalb der verschiedenen Revolutionen hat, wie wir schon gesehen
haben, die Schwierigkeit zugenommen, eine Rangordnung trotz der Re­
volutionsideologie hervorzutreiben. Auch hier ist die englische Revolution
die entscheidende Umschlagstelle. Der englische Gebrauch des Wortes
„V olk“ als des Trägers der Revolution — bei Luther noch der „H err
Omnes“ — eröffnet die Reihe der Revolutionssprachen, in denen mehr
von der Freiheit als von der Rangordnung die Rede ist. „Volkes Stimme
Gottes Stimme“ ist das immer wiederholte W ort der englischen Umwäl­
zung. In der englischen Revolution gelingt es aber immerhin noch, einen
alten Schichtungsbegriff, die Commons von England, als geborene Re­
präsentation dieses Volkes festzuhalten.
Der K unstgriff ist die Bedeutung des People in der Kirche. Im Kirch­
spiel steht der Adlige an der Spitze des Laienvolkes. Also kann man Volk
sagen und Adel meinen. So ging es in Frankreich nicht. In der französi­
schen Revolution ist da# Volk bereits nicht mehr durch eine gegebene

102
Struktur, durch die der Commons, vertretbar. Der neue Rangbegriff des
Besitzes und der besitzenden Klasse bedarf daher der Einkleidung. Des­
halb hat die französische Bourgeoisie erfolgreich verhindert, das Wort
peuple aufzunehmen. Mirabeau hat das nicht begriffen. Der entwurzelte
Adlige war enttäuscht, als der dritte Stand seinen Antrag ablehnte, sich
Vertreter des Peuple zu nennen. Aber die Bürger urteilten, daß sie den
Engländern hierin nicht folgen dürften. Es war ein richtiger Instinkt da­
bei. Die Elitebildung wäre verhindert worden! Peuple ist bis heute ein
plebejischer Ausdruck. Peuple ist kein Strukturbegriff. Die Nation, der
Citoyen, die Zivilisation gestatten ohne weiteres, den Vorrang der Elite
zu stabilisieren. Und die Nation braucht eine geistige Repräsentation.
Ähnliche Schwierigkeiten hat es die Russen gekostet, den Kreis der
Träger der Revolution abzugrenzen. Auch sie meiden das W ort „Volk“ !
Die Russen sind keine Volksmänner, sondern Proletarier. Sie führen die
Diktatur des Proletariats durch.
Sie können nur dann die „Revolutionäre“ regieren lassen, wenn das
Volk aus Proletariern besteht. Nur dann stimmt die Theorie. Im „Volk“
gibt es begrifflich keine Revolutionäre, zum Proletariat gehören sie!
Deshalb ist der Begriff des Volkes auch in Deutschland kein politi­
scher. Er wirkt, anders als Nation, vielmehr als Katalysator. „Volk“ löst
Staat, Reich, Nation, Partei, Obrigkeit, Kirche auf. Es ist ein Wort der
Beseelung, der Erweichung seit der Romantik. Es ist immer die unpoliti­
sche, die Erziehungsgruppe, die ihre Ziele durch „V olk“ verstärkt.
Die Herrschaft aber bedarf der politischen Idee. Die Spannung
zwischen dem Klassenziel, das die politische Idee ausdrückt, und der
Herrschaftsform ist trotzdem ewig die gleiche. Die proletarische Umwäl­
zung knüpft — wie die Ausstellung des toten Lenin zeigt — an die Mittel
der ältesten an. Auch hierin erweist sich der Zeitraum als Einer. Tausend
Jahre sind nur wie ein Tag, der Tag der Weltordnung durch die Revolu­
tionen der abendländischen Europäer.
Dem Ablaufe dieses Geschichtstages von Stunde zu Stunde können wir
uns nun zuwenden; denn das einheitliche Gesetz Europas waltet über dem
Ablauf seiner Geschichtsstunden, auch wenn die Namen, Länder und
Völker von Umwälzung zu Umwälzung wechseln. Der Aufbruch der Euro­
päer zur Vollendung ihrer Weltordnung und ihres Geschichtstages ist der
Inhalt der nun folgenden Erzählung.

io 3
B. DER GANG DER REVOLUTION
DURCH EUROPA

DER EINTRITT IN DIE WELTGESCHICHTE Seite


VII. Das Weltgericht, der Kaiser und die K irch e ....................... IO7
DIE PAPSTREVOLUTION
VIII. Das erregende Moment. Zeit oder R a u m ? ....................... 12 I

IX. Das heilige Grab und das geistliche S chw ert..................... l 32


X. Der Vatikan und die weltlichen S ta a te n ................................ i 59
XI. Die italienische Renaissance, Antlitz oder Maske . . . . 19 1
DIE DEUTSCHE REFORMATION
XII. Die Religionsparteien und der Beamtenstaat....................... 196
DIE ENGLISCHE PARLAMENTSREVOLUTION
XIII. Die transatlantische W elt . . . . ................................ a53
XIV. Das Budget der Gemeinen und ihr Commonwealth . . . 256

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION VON 1789


XV. Der Sieg der V e r n u n ft ........................................................... 307
XVI. Die Isle de France und der Nationalstaat............................ 3 17
XVII. Die bürgerliche Gesellschaft und der Klassenkampf . . 391
DIE REVOLUTION D ER DEUTSCHEN GROSSMÄCHTE
XVIII. Der habsburgische Völker staat und der Militärstaat
Preußen 397
DIE RUSSISCHE WELTREVOLUTION
XIX. Getreidefabrik und E rd b a llsta a t.............................. . . 433
VIL DAS W E L T G E R IC H T , D E R K A ISE R UND
DIE KIRCH E

1. Abschied von Allerheiligen


m zehnten Jahrhundert ist die europäische Völkerfamilie noch nicht
I vorhanden. Das geistliche Leben des Ostens gibt sich gerade damals voll­
endete Gestalt in den Klöstern des Athos; so wie sie noch heute existieren,
Stätten reiner, jubelnder Anbetung Gottes, als letzte Ausformung der
Kirche der Erlösten, der zeitlosen Ostkirche, sind sie damals entstanden.
Das große Fest Allerheiligen am i. November ist das letzte große K ir­
chenfest, dessen Seelenhaltung der Westen mit dem Osten gemein hat. Es
stammt von etwa 800, wie man heut annimmt. Wenn auch hierbei schon
der Stolz den fränkischen Kaiser oder den Papst veranlaßt haben soll,
einen anderen Tag als die Griechen für das Fest zu bestimmen1 — es war
doch noch ein gemeinsames Leben in Ost- und Westkirche damit bezeugt.
Ballt sich doch in diesem Fest die Freude der Kirche zusammen, die
Kirche der Erlösten zu sein; der Himmel steht offen, wie ihn der Zeuge
Stephanus offen gesehen hat. Die Menschen haben ihre Gottnatur wieder­
erlangt. Die unabsehbaren Scharen der Heiligen, geheilt von der irdischen
Mangelhaftigkeit, sind eingedrungen in den Himmel. Am Sterbetage ihrer
Leiber feiert die Kirche ihren Geburtstag für den Himmel. Der Tod hat
seine Schrecken an Allerheiligen verloren, so wie die Zeit stillsteht in den
Klöstern des Athos und man den Himmel in jubelnder Anbetung vorweg
lebt. Kraft der Heiligen, die den Tod überwunden haben, ist die Kirche
die einzige unsterbliche Größe jener Zeit. Nichts Weltliches erlangt da­
mals juristische Unsterblichkeit, sondern Karls Reich sogar zersplittert,
wenn mehrere Söhne da sind. So angstvoll wie sich heute der schwanke
Großstädter in seine zahllosen Verbände flüchtet, um etwas Bleibendes
zu haben, das ihn kräftige, so jubeln damals die Sterblichen den Heiligen
zu, die eine ewige unverrückbare Ordnung durch ihr Sterben offen gelegt
haben.
Das ist der Jubel der alten Kirche des ersten Jahrtausends. Er ver­
stummt in dem Unglück des „eisernen“ Jahrhunderts, des Zehnten. W er
soll die Feste auch nur richtig feiern, wenn Ritter und Grafen Bistümer
und Abteien verwalten, wenn die wenigen Geistlichen, die in diese Ämter
kommen, jahraus, jahrein Geschäfte des Königs in Krieg und Frieden
wahrnehmen müssen? Der Königsschild, der ihnen vom Herrscher ver­
liehen wird, belastet sie zu all den Diensten in der gesamten Zivilverwal­
tung noch mit der Kommandogewalt im Heere.
Und von außen ist dies Gebiet nicht minder trostlos gestellt. Ein Land- Binneneuropa
1 Miesges, Trierer Festkalender 1914» 6 8 .

IO7
koloß ohne jede Herrschaft oder Beweglichkeit auf der See ist die Erb­
masse des karolingischen Reiches von Norden und Nordosten eine Beute
der Nordmänner, Dänen und Normannen, von Osten her der Hunnen
und vom Süden und Südwesten der Sarazenen.
Da veröden nicht nur die Kirchen, sondern wenn die alten Feste ge­
feiert werden, sind sie fast sinnlos. Das Gericht bricht herein über die
Welt. Die kaum bekehrte Christenheit hat auch noch zu wenig Anteil
gewonnen an den Heiligen der alten Kirche, um der eigenen Erlösung
gewiß zu sein. W ie wenige Sachsen stehen erst unter den Heiligen, wie
wenige aus den nicht romanisierten Gebieten des Frankenreiches, von
Polen, Böhmen und Ungarn zu schweigen. Als ihre Heereskirche durch
Militärgeistliche des großen Karl haben all diese Stämme die Kirche
empfangen und sie haben das Christentum als des Kriegsherrn, des Kö­
nigs und des Kaisers Glauben angenommen. Nun ist Karl tot. Und die
Stämme fangen wieder an, für sich eine notdürftige Ordnung unter Her­
zogen aufzubauen. Das Band der fränkischen Heeres- und Königskirche
lockert sich. Das künftige Europa aber ist noch nicht zu erkennen. Es gibt
kein Großbritannien, kein Frankreich; Österreich, Spanien, Preußen, Ita­
lien als Einheiten existieren nicht. Die Großgebiete, aus denen wir Europa
zusammenzusetzen gewohnt sind, werden durch Grenzen mittendurch
zerschnitten. Und diese Grenzen lassen das italische Land südlich Rom
bei Byzanz oder den Mauren, ebenso drei Viertel von Spanien.
Meer und Land stehen in einem anderen Verhältnis als wir es gewohnt
sind. Bis tief in die Flußmündungen hinein herrscht die Seemacht. Das
Binnenland ohne Straßen, ohne Beweglichkeit kann die Küsten nicht mit
beherrschen.
Das apostolische Bistum Rom scheint dem Teufel verfallen. Die
„Schweinewirtschaft“ , Pornokratie herrscht dort. Treffend haben spätere
Jahrhunderte die damaligen Zustände in Rom in der derben Legende von
der Päpstin Johanna verkörpert, die auf dem marmornen Papststuhl
eines Knäbleins genesen sei. „E s war, als schliefe Christus in dem Fahr­
zeug, das die Menschheit trug“ (Baronius).

2. Der heilige K aiser


Nicht aus Rom kam damals das Heil. Sondern nach Rom mußte es ge­
bracht werden. Die römischen Kaiser aus sächsischem Hause versuchten
es zu bringen. Sie mußten es versuchen, wollten sie anders die großen
Gebiete nördlich der Alpen Zusammenhalten. Denn nur die römische
Kirche und das fränkische Heer hielten zwischen diesen Stämmen not­
dürftig die Einheit aufrecht. Das fränkische Heer suchten daher die Her­
zoge der Sachsen ebenso wiederherzustellen wie die römische Kirche. Der
Römerzug über die Alpen war das Mittel dazu. Denn alle Kirchen der
fränkischen Gebiete konnten angehalten werden, das Heer auszurüsten,

108
mit dem der sächsische Herzog gen Rom ritt. Vorher hatte er in Aachen
von dem Stuhl der Franken, dem Thron Karls, Besitz ergriffen, damit
dem Sachsen der Hochsitz in Karls Marienkapelle in die fränkische Herr­
schaft hineinhülfe. Diese Herrschaft bestand aber ebensosehr aus einem
Anspruch über die Kirche, wie über das Heer. Das wird meist übersehen.
Aber es gab eine Aachener Lehre und Überlieferung in der Kirche und Lit­
urgie, die z. B. der Metzer Dom bis heute bewahrt hat. Und diese Lehre
beanspruchte Autorität im fränkischen Reich. Autorität in der Kirche
also wurde von den sächsischen Herrschern übernommen und kraft ihrer
Herrschaft über die Reichskirche auch nach Rom verpflanzt. Kaiser Hein­
rich II. hat i o i 4 die Aachener Liturgie dem römischen Meßbuch auf­
gezwungen. Das Bekenntnis der Christenheit zu dem dreieinigen Gott, das
Credo, wurde in Aachen in einer eigentümlichen Fassung gesprochen,
die das Morgenland bis heute verwirft, nämlich so, daß der Ausgang des
Geistes ebenso vom Sohn wie vom Vater her geschehe. Dieser berühmte
Zusatz des „filiogue“ , der Okzident und Orient trennt, stammt aus dem
Aachen Karls des Großen. Rom hatte sich einst kraftvoll seiner erwehrt.
i o i 4 wird der fränkische Kaiserwille endgültig Herr auch im Kultus

Roms. Das Credo kommt in der Aachener Form mit dem filioque in die
Sonntagsmesse.
Des Kaisers W ille regiert die Kirche wie das Reich. Die Kirche ist die
Zivilverwaltung seiner Lande, das Reich die militärische. Seine Bischöfe
sind die Träger der inneren Verwaltung, die Bistümer die Garnisonen des
Kaiserheeres. Die Bischöfe regieren. Um z. B. dem Mißbrauch der Mein­
eide zu steuern, führt ein Bischof, Heinrichs II. Kanzler, Burchard von
Worms 102 3 in seinem Bistum das Gottesurteil des Zweikampfes ein,
und versucht, gegen die Blutrache mit den ersten Anfängen öffentlicher
Strafe einzuschreiten. Das militärisch-weltliche Recht des Stammes reicht
dazu nicht aus. Das geistliche Amt allein kommt in Betracht, um dem
Land Frieden zu geben, so wie er uns sich von selbst versteht.
Heinrich II. hat die Kirche reformiert. Sein Kaiseramt galt ihm als
kirchliches Amt. Er fühlte sich nicht als Reformator von außen, sondern
von innen. Heinrich II. ist der heilige Kaiser geworden, der einzige un­
bestritten heilige Kaiser aus Nordland, den das römische Brevier aner­
kennt. Selbst Gregor VII. hat ihn — noch vor der offiziellen Heiligspre­
chung — wenn auch widerwillig als solchen gelten lassen1.
Mit dem Maße des Kirchlich-Heiligen wollten die Kaiser gemessen wer­
den. Mit den Worten des Apostels Paulus benennt Otto III. seine eigene
Sendung. Als Apostelkaiser, darin Paulus gleich, bringt er dem Petrus-
gleichen Papst die Riesen-Missionsneulande Polen und Ungarn. Das ist
der Sinn seiner W allfahrt nach Gnesen: Apostolischer Kaiser zu sein.
Die Unfruchtbarkeit der Ehe, für den weltlichen Mann Unglück und
1 Jaffa II, 453 fl.

I0§
Schmach, wurde für den Kaiser Heinrich in der Kirche das Siegel seiner
Kirchlichkeit. Die Jungfräulichkeit der Kaiserehe ist für Heinrich II. und
Kunigunde zur heiligenden Auszeichnung geworden. Das Kaiserpaar
schien damit den W eg des Christen, den Heilsweg der mittelalterlichen
W elt zu weisen.

3. D er Fluch der Vererbung


Denn die Zeit rang um Lösung aus den Banden des Geschlechts und
der Versippung. Eine Clanmenschheit stand hilflos vor den Forderungen
Christi an die einzelne Seele. Deshalb ist im Gedicht vom Weltgericht
(um 8 5 o) das stärkste Wort, das der Dichter weiß über den jüngsten
Tag:
dar ni mac mac andremo
helfan vora dema muspille.
Da kann nicht ein Verwandter dem anderen
helfen vor dem Weltbrand.
Die Kraft zum Alleinsein und Alleinstehen fehlt. Denn der Fluch des
Geschlechts, in der Blutrache wird er damals fortgetragen vom Ahn auf
den Enkel. Schlecht verhüllt der christliche Faltenwurf die Leiden der
Zeit. Die Orestie und das Verhängnis der Atriden werden damals täglich
Wirklichkeit. Immer wieder flüchten die Sippen, um der Rache zu ent­
gehen, in ein anderes Land. Aber keine Seele kommt ganz zur Ruhe und
zum Frieden. Nur die Enthaltsamkeit, die Flucht aus der W elt verheißt
also dem einzelnen Erlösung aus der Verstrickung. Die Metzeleien des
Nibelungenliedes sind die Wirklichkeit jenes Zeitalters; aus ihr tritt zu­
erst der Kaiser heraus und aus ihr will er seine Völker herausreißen.
Neue Wege müssen dazu eingeschlagen werden.
„Religion« Denn schwach ist die einzelne Seele, wenn doch die Ahnenreihe ihr
Schicksal vorherbestimmt. Auch der Geistliche sogar versinkt in die Sippe,
da das Zölibat nicht beachtet wird. Die Taufgnade löst den einzelnen
nicht. Sind doch sogar die Priester und Bischöfe Rachverfallene, selbst
die Priesterweihe, die zweite Taufe, der Eintritt in ein neues Volk, reicht
also nicht zur Heiligung. Zu den Notzeichen der Zeit wird man es rech­
nen dürfen, wenn die Päpste jetzt (zwischen 960 und i o 3 o setzt sich
die auffallende neue Sitte-durch) bei der Stuhlbesteigung einen neuen
Namen annehmen. Ihr christlicher Taufname genügt eben nicht mehr,
um sie zu heiligen. Die alten Mönchsorden und die Bischöfe haben Jahr­
hunderte gezögert, ehe sie diesem Beispiele der Päpste gefolgt sind. Kein
Wunder, denn damit scheidet sich endgültig die Heiligkeit der alten K ir­
che und ihrer Gläubigen von dem neuen Weltzustand. Aber es gibt kein
Zurück, schon nennt man den „Bekehrten“ (conversus) nur noch den
Mönch (um 1000). Auch die Geschichte des W orts Religion zeigt den
110
weiten Abstand jener Zeit von dem Zeitalter Christi ebensosehr wie von
unserem heutigen. Religiosus, religiös ist im damaligen Sprachgebrauch
nicht einmal der Weltpriester, geschweige denn der Laie, sondern nur
der Klosterbruder. Der heutige Sinn von Religion aber geht auf diese Zeit
zurück, wo man nur dem Mönch persönliche Religiosität zutraute.
In diesem Weltzustand ist die gemeine Christenheit in Angst und Ver­
zweiflung, unerlöst trotz der Taufe, geknechtet von Stammes- und Sip­
penfluch. Die fröhliche Heiterkeit der alten Kirche ist vergangen.

4. Allerseelen
Den Schrecken der unerlösten Zwischenzeit und ihre Sehnsucht ver­
körpert nun auch ein Kalendertag. Es ist der Festtag Allerseelen. Aller­
seelen folgt unmittelbar am 2. November auf Allerheiligen im Kirchen­
kalender. Aber welch ein Unterschied I An Allerheiligen freut sich die alte
Kirche ihrer Kraft und ihrer Zeugen. An Allerseelen beugt sich eine heil­
lose Christenheit nieder unter der Last der armen Seelen, die im Feg­
feuer schmachten.
Die älteste Vision vom Fegfeuer, die wir kennen, stammt aus dem neu­
bekehrten Gebiet nördlich der Alpen, wo die Ahnenrätsel am meisten die
Neubekehrten peinigen mußten. Jene Vision ist anfangs des neunten Jahr­
hunderts entstanden. Nun am Ende des zehnten verdichten sich diese
Träume und Wünsche in dem neuen Fest. Die griechische Kirche hat
dieses Fest nicht angenommen. Ist sie doch recht eigens die Kirche der
Erlösten geblieben bis zur Gegenwart.
Aber auch aus äußeren Gründen konnte dies Fest nicht in den Osten
dringen. Denn es entspringt dem Geiste eines burgundischen Klosters,
in das sieb die Selbständigkeit des Geisteslebens in der fränkischen Reichs­
kirche, nach dem Verfall Aachens und vor der Stiftung der Universität
Paris, geflüchtet hatte, des Klosters Cluny. Im innersten Festland, an
der Grosne bei Mäcon, nördlich Lyon, liegt dies Asyl.
Abt Odilo von Cluny schenkt zwischen 998 und i o 3 o den armen See­
len den Trost des Allerseelenfestes und senkt damit die Samenkörner
neuer Religio in den Acker eines Jahrtausends. E r ersetzt damit die Sitte
der antiken Rosarienfeste im Oktober, nach denen die Totenäcker Rosen­
gärten hießen. Im Wormser Rosengarten und in dem des Königs Laurin,
wie in vielen „Rosengärten“ Süddeutschlands lebt mithin noch heute die
Erinnerung an eine Zeit vor dem Allerseelenfeste fort.
Kein Papstgebot aber hat Allerseelen durchgesetzt, sondern das Beispiel Der Raum der
WêltgeseMeMe
Clunys. Odilos Biograph erzählt, wie Odilo den Gedanken der Totalität
gefaßt habe „ad omnes omnimodo fideles“ ; hierin steckt im Keim der
weltgeschichtliche Glaube an die Ganzheit auch des unerlösten Diesseits.
Bis dahin habe jedes Kloster nur für die Seelen gebetet, die ihm angehör­
ten oder die durch Gaben, Verwandtschaft und Konnexion irgendwelcher

III
Art das erwarten konnten. Odilos Liebe aber erfaßt das sündige Menschen­
geschlecht im Ganzen 1
Das politische Weltall wird von Odilo beschworen, das zwischen Himmel
und Hölle, zwischen Heiligen und Heiden auf Fürbitte wartende All aller,
„die von Beginn der W elt gewesen sind bis an ihr Ende“ 1. Damit schafft er
den Raum einer erlösbaren Weltgeschichte. Noch heute sind im römischen
Brevier und Ritus die Spuren davon erhalten, daß Allerseelen ein derMut-
terkirche in Rom auf gedrungenes F est ist, so wie das Aachener Credo! Rom
hat immer den höheren Rang des Allerheiligenfestes erhalten, wollte z. B.
durch achthundert Jahre nicht die — heute zugelassene — Dreizahl der
Seelenmessen an dem volkstümlichen 2. November gestatten, um die Nach­
messe von Allerheiligen nicht durch dies Übermaß zu gefährden. Und wie
viel wärmer nennt der Tag im Volk die „Seelen“ : AU souls, Allerseelen
als in der offizieUen Sprache: Omnium Fidelium defunctorum. Die Klo­
sterkirche hat mit diesem Fest an Rom vorbei das Herz des Volkes gewon­
nen. Kein Wunder. Denn nur das Kloster wirkt damals „religiös“ ! Die ge­
samte übrige Kirche einschließlich des Papstes in Rom rechnet damals zur
Welt. „Mundus“ heißt der Weltklerus kurzab, Religio einzig die Mönche!
Die bischöfliche Hierarchie ist mit unter dem Gericht dieser Welt. So
hat das Kloster den abendländischen Christen die erste eigentümliche
Stimme verliehen. Und welches sind die ersten Töne dieser Stimme? Es
ist die gewaltige Klage des
Dies irae „Dies irae, dies iUa“
Das Geschichts -und Weltbild jener Zeiten steigt aus diesen Kurzzeilen
auf. So lauten einige Strophen aus dem berühmten Hymnus von AUer-
seelen:
Tag des Grimms I An diesem Tage
W ird zerstäubt der Zeiten Lage,
Norne uns und David sagen.

Tod und Dinge werden beben. .


Das Geschöpf m uß sich erheben,
Seinem Richter Antwort geben.
AufrolTn Schriften, die gemalten,
Darin alles ist enthalten,
Richterämts der W elt zu walten.
Nach des Richters Stuhlbesteigen
W ird sich das geheimste zeigen,
Nichts wird ungerochen bleiben.
Dann was werd’ ich Sünder sagen?
Wessen Fürbitt dann erfragen,
1 Migne, 1/42, 1038. y

1 12
W enn dem Rechten ziemt zu zagen?
Richter, recht in deinem Rächen,
Vor dem Tag des Stabzerbrechen
Laß schon Deine Gnade sprechen.
Tränen viel an diesem Tage,
W o der Mensch dem Staub entraget
Unter des Gerichts Anklage. . .
Durch den ganzen Hymnus immer wieder das eine W ort: Gericht, Ge­
richt, Gericht! Das jüngste Gericht droht. Ihm zuvorzukommen ist das
Anliegen der Zeit.
Gewiß sind die Strophen dieses Hymnus erst im i 3 . Jahrhundert von
Thomas von Celano gedichtet. Aber wie die Vollendung der Peterskirche
trotzdem der Ausdruck von Papstträumen vieler Jahrhunderte ist, so er­
läutern auch diese Verse nur die Seufzer und Tränen des Zeitalters der
Stiftung von Allerseelen. Das wird schön belegt durch die Totenklage auf
Odilo von Cluny seihst, die sein Biograph verfaßt hat. Dieser Planctus
enthält alle Züge des Dies irae bis in die Einzelheiten bereits, um Odilos
Sieg über diese Schrecken des Jüngsten Gerichts zu unterstreichen (Migne
i/t2, 967). So begann auch die Matutine des 2 .Novembers früher in
Cluny gleich: „Umringt war ich von den Seufzern des Todes, die Schmer­
zen der Hölle umringten mich/' Rom hat bezeichnenderweise diese Anti­
phon gestrichen und durch die altkirchlich freundliche ersetzt: Den Kö­
nig, dem alle Dinge leben, kommt, ihn anzubeten I
W o der Gedanke an das Weltgericht herrscht, da tritt auch das ge­
samte vorhergehende Leben unter seinen Schein und Schatten. Sub specie
aeternitatis das Leben zu sehen, das heißt damals: zittern und beben.
Schon vor dem Jüngsten Gericht will die Seele alles ins Reine bringen.
„V or dem Tag des Stabzerbrechen
Laß schon Deine Gnade sprechen!“
Denn es ist eine Zwischenzeit da — die Zeit Mif dem Läuterungsberg.
Ihn müssen die christlichen Völker nutzen. A uf dem Läuterungsberg
kann die Sünde ausgefegt, der alte Adam erneuert werden.
Wenn die Kirche des ersten Jahrtausends den Himmel eröffnet hat, so
sehen die Völker des zweiten Jahrtausends als ihre Zeit das Purgatorio
an. Der Aufenthalt im Fegfeuer ist so die Zeit der Völker Europas ge­
worden.
Die kirchlichen Lesungen des Tages kreisen daher alle um den Dulder
Hiob:
„Den Menschen vom Weib geboren, kurze Zeit am Leben, füllen viele
Leiden. W ie ein Gras sproßt er auf und wird zertreten, und flieht wie ein
Schatten und bleibt niemals in einerlei Stand. Und ihn hältst du wert,
deine Augen über ihm aufzuschlagen und mit ihm ins Gericht zu gehen?“
V
8 Rosenstock 1 13
Und doch hält man den Glauben der alten Kirche glühend fest. Er gab
ja erst den Mut, diese Unwirklichkeit zu schauen und selbst dies Ge­
schick zum Heile zu wenden. Unmittelbar auf das „Schone meiner, o
Herr, denn ein Nichts sind meine Tage. Blick her, jetzt gehe ich im Staube
schlafen. Und wenn du, in der Früh mich suchest, ist nichts mehr da“ ,
folgt mit ungeheurer Wucht das Credo: „Ich glaube, daß mein Erlöser
lebt und ich am Jüngsten Tage von der Erde erstehen werde und in mei­
nem Fleisch werde ich Gott meinen Heiland sehen.“
Fahnenträger Und noch ein zweiter Zug aus dem Brevier des Allerseelentages verdient
Michaei Beachtung. Der Erzengel Michael ist der Streiter Gottes, der nach der
Apokalypse den Drachen besiegt hat und fortan den Seelen der Gerechten
zu Hilfe kommt. So wurde er von jeher am 2 9. September als der Erz­
engel, der die Seelen in den Himmel geleite, verehrt.
Im Offertorium der Allerseelenmesse ist gegenüber den Texten des
29. Septembers eine Änderung eingetreten, um den Fürsten der Engel
Michael und sein Tun zu benennen. Da heißt es von Michael nicht mehr,
daß er den Drachen besiegt hat, und nicht mehr ist nur die Rede von den
Gerechten, sondern von allen in der sichtbaren Kirche Gestorbenen:
„Freie die Seelen aller gläubig Abgeschiedenen von den Strafen der
Hölle, aus dem tiefen Abgrund, freie sie aus dem Rachen des Löwen,
damit sie der Schlund nicht verschlinge, damit sie nicht in die Finsternis
stürzen. Sondern der Fahnenträger, der heilige Michael sichere ihre Ge­
stellung in dem heiligen Licht, das du einst Abraham verheißen hast und
seinem Samen.“
Die Kämpfe der Apokalypse sind also aus Vergangenheit zukünftige
Aufgabe geworden. Die Heilsgeschichte muß neu in Angriff genommen
werden. Die Kirche frohlockt nicht, sondern bebt vor dem Weltzustand
wie er wirklich ist. Sie betet um Freiheit/
Und sie wendet sich dabei an Michael als an den Fahnenträger. W oher
kommt das seltsame Bild? Denn der Engelfürst des 29. September ist ur­
sprünglich eher als ein Psychopomp der Antike denn als Fähnrich auf­
zufassen. Nun, es ist etwas Neues eingetreten seit* Allerheiligen — Mi­
chael ist ja der Schutzpatron des heiligen Kaiserreichs! Das Neck wort
vom „deutschen Michel“ stammt auch von da. Michaels Bild ist auf der
Reichsfahne. Aus dem Geleiter der Seelen und Bekämpfer des Drachen ist
der Fahnenträger des Jenseits geworden, deshalb, weil er des Reiches
Sturmfahne trägt.
Im „Heiligen Reich“ , im Sacrum Imperium berühren sich Jenseits und
Diesseits. Eine Jenseitshoffnung und eine Jenseitsmacht ist im Schwert
des Kaisers auf Erden sichtbar geblieben. Fegefeuer hüben und drüben.
„Als Otto III. zu Gericht saß, da stöhnte der Himmel, da dröhnte die
Erde.“ Ihn, Otto soll die Gottesmutter Maria behüten, singt ein Lied
zu Mariä Himmelfahrt, dann wird er, ein zweiter Paulus, das verhurte

n 4
Rom reinigen*1. Der apostelgleiche Kaiser ist die Hoffnung der gesamten
Menschheit. So waren der Kaiser und das Kloster die Hüter des W elt­
gerichts, und damit die Hüter der einzigen Gewißheit, die es auf Erden
noch gab, als zum erstenmal Odilo in Cluny sein Fest feierte, „er, der un­
erschrockenste Helfer der Seelen, die auf dem Läuterungsberg für die
Mächte der Hölle gefährlich sind(S (Petrus Damiani Jotsaid II, XIII).
Durch den Kaiser und sein Reich hängen also Jenseits und Diesseits
zusammen. Denn jedes Jenseits braucht sein Gleichnis hier unten auf Er­
den. Noch heute teilt das Wörtlein „Reich“ den völlig Kirchenfreien etwas
von der Kraft mit, die es bei Dante ausstrahlt, etwa in Leopold Zieglers
rein weltgeistigem Buche „Vom heiligen Reich der Deutschen“ .
Das Reich des Kaisers ist im Jahre 1000 nicht von dieser Welt. Geist­
liches Ornat um gibt den Kaiser. Er kann nicht zur W elt gehören. Denn
diese W elt ist vom Teufel. So wird in jenem Zeitalter die Reichskirche den
Stämmen verkündet, daß der Kaiser sie für das künftige Leben zubereite.
Die Totalität durch die Zeiten, diese Grundkraft sämtlicher Revolu­
tionen, ertönt unter den Stämmen zuerst in der Missionspredigt vom
Kaiserschwert:
„Höret mich alle, höret mich, lauschet, merket auf, wisset, daß der
Schöpfer Himmels und der Erde, des Meeres und alles was darinnen ist,
ist allein der einzige und wahre Gott. Er hat uns gemacht und nicht wir
uns. Die Bilder, die ihr für Götter haltet und vom Teufel verführt an­
betet, sind Gold und Silber, Kupfer, Stein oder Holz. Sie leben nicht, be­
wegen sich nicht, fühlen nicht. Menschenwerk sind sie, weder sich noch
andern können sie helfen. In ihm aber lebt ihr und leben wir alle, in ihm we­
ben und sind wir. Wenn ihr ihn gläubig anerkennt, Buße tut,- euch taufen
laßt im Namen des Vaters, Sohnes und des Heiligen Geistes, wird er euch
vor allen Schäden bewahren und Frieden geben und hier und im künf­
tigen Leben euch alles gewähren.
Wenn ihr aber hart bleibt, nun — vorausverordnet hat der König der
Himmel und aller Zeiten einen starken vorausschauenden, eifervollen
König, nicht weither, sondern nahebei, wie ein reißender Wildbäch eilend,
eures harten Herzens Wildheit zu erweichen, eures starren Nackens Trotz
zu beugen. In heftigem Stoß wird er euer Land angreifen, mit dem
Schwert, Wüstung, Brand und Heerung zerstören und als ein Rächer des
Zorns Gottes, den ihr immer erbittert habt, euch mit der Schärfe des
Schwerts hinraffen, in Not verkommen lassen, oder in der Verbannung
hinraffen. Eure Weiber und Kinder wird er in Knechtschaft zerstreuen,
den Heimkehrer unter schimpfliche Herrschaft beugen, damit auch von
euch die Vorhersage gelten könne:
Wenige sind sie geworden und geplagt durch die Pein der Leiden und
d ie Schmerz“ . So predigt Lebuin den Sachsen (M. G. II, 3 6 3 ).
1 Novati, L ’influsso usw. (1899) 173 ff-

8* n 5
Also „Dem König der Himmel und aller Zeiten' richtet der Kaiser die
Völker für das künftige Leben zu.
Deshalb ist das Christentum von den Völkern des Abendlandes ver­
nommen worden, wie es Allerseelen abbildet. Rom hat sich immer ge­
wundert, weshalb Allerseelen so viel volkstümlicher sei als Allerheiligen.
Aber wie hätten die Völker Allerheiligen ein großes Interesse schenken
sollen? Die Jubelkirche der Erlösten war vergangen. Die kindliche Freude
und den Jubel der Russen und Griechen am Ostersonntag bringt kein rö­
mischer Katholik, geschweige denn ein Protestant auf. „Ich habe in Jeru­
salem auch das Osterfest der Katholiken gesehen, das eine Woche früher
gefeiert wird als das unserige. Aber dieses Fest war mit dem der recht­
gläubigen Kirche nicht zu vergleichen: Die Katholiken sahen gar nicht
froh ausr während sich bei uns doch an diesem Tage alle W elt freut,
sogar die Tiere! Die Gesichter der Katholiken sind auch während des
Ostertages traurig, und so denke ich, daß auch ihre Seelen sich nicht
wahrhaft freuen.“
„Ich will nicht die beiden Bekenntnisse miteinander vergleichen und
die Katholiken verurteilen, aber ich fühle, wie bei uns alle W elt glück­
lich ist, wenn die Kirchenglocken läuten und wie dann für alle der heilige
Frühling blüht“ (Rasputin bei Fülöp-Miller, S. 206). So der Osten.
Der Geist des Das abendländische Leben hingegen ist ein Geschenk der Tränen:
Abendlandes ^Dej.gggtaU sehen wir auch in der Geschichte, wie der Reueakt zu einem
machtvollen Strome werden kann, wie er ganze Völker, ja Kulturkreise
generationenlang durchrauscht, wie er die verstockten und verhärteten
Herzen öffnet und lebensweich macht; wie er die angesammelte Schuld
der Zeiten aus dem Gesamtleben der Gemeinschaften hinauszustoßen sich
anschickt, wie er die immer mehr sich einengende Zukunft zu einem wei­
ten hellen Plane von Möglichkeiten erweitert.“
„Eine gewaltige Reuewelle durchläuft die Völker Europas nach der
immer wilder und lebensfeindlicher um sich greifenden Roheit des zehn­
ten Jahrhunderts. . . Dona Lacrimarum, so nannte man damals das neue
Gnadengeschenk eines Reue- und Bußwillens, in welchem Europa sich zu
seiner großen Unternehmung der Kreuzzüge zusammenschloß“ (Max
Scheler „Vom Ewigen im Menschen“ , I [1 9 2 1 ] 4 6 ff.)*
Das Athoskloster auf der äußersten Landspitze der Chalkidike in die
antike Aegaeis hineinragend, verharrt und erstarrt in schweigender An­
schauung und in nie endender Anbetung Gottes. Das burgundische Klo­
ster aber, im Innersten des Festlandes nahe der Wasserscheide von Rhone,
Rhein und Loire, Cluny, harrt des Weltgerichts und des Weltenkaisers,
damit eine Stimme laut werde über der sündigen Menschheit und damit
„ der Mensch sein zeitliches Leben vollende in Recht und Gerechtigkeit. —
Schweigen und Anbetung dort; Posaunenruf und Schwerterklang hier.
Kloster trennt sich von Kloster. Innerhalb der klösterlichen W elt selbst

116
offenbart sich die Trennungslinie von Morgenland und Abendland. Aus
der Welt und ihren Sünden zu Gott hatten sich in der Altkirche alle Hei­
ligen erhoben. Aber im Abendland wagen sich von Gott her die armen
Seelen in die Welt hinunter, die sündige Welt zu befreien.
Kaiser und Abt reinigen vereint das entweihte Rom. Zusammen ver­
suchen sie ferner dem einzelnen durch den Friedenseid die Verantwor­
tung auf die Seele zu binden für ein persönliches und individuelles Frie­
densleben. Die große Bewegung der Gottes- und Landfrieden nimmt die
Karwoche zum Muster des Alltags. So wie in der Karwoche, soll allwö­
chentlich, wenigstens drei Tage, Blutrache und Selbsthilfe ruhen. Der
erste Schritt zur Sprengung der Stämme und Blutsgruppen, zur Indivi­
dualisierung der europäischen Gesellschaft beruft sich auf die Liturgie.
Aus der liturgischen Ordnung des Kirchenjahrs wird ein politisches Pro­
grammI
Alle schöpferischen Leistungen in der Kirche und in der W elt des zehn­
ten und elften Jahrhunderts werden dem Gerechtigkeitswillen der Kaiser
aus dem Norden und ihrem kirchlichen Reformeifer verdankt. Polen und
Böhmen und Burgund, sind dem Friedensverbande des Kirchenreiches
eingefügt. Ungarn wird römisch-katholisch dank der deutschen Kaiser.
Leo IX. hat um i o 5 o das Ansehen des Papsttums auf seiner Rundreise
durch das Reich glanzvoll wiederhergestellt. Aber er auch war einer von
vier deutschen Päpsten — aus Brixen, Toul, Eichstätt und Bamberg 1 — ,
die Kaiser Heinrich III. in Rom einsetzte. Dieser Kaiser, sagt ein Zeit- Heinrich iii .
genösse, hat „besseres getan als die Cäsaren. Die ganze katholische Kirche,
durch die Gebiete des Römischen allenthalben erstreckt, wird aus den
Banden uralten Fluches wie aus entsetzlichem und tiefstem Kerker befreit
und so vom Kaiser mit göttlicher K raft gerettet, kann sie mit freier Stim­
me zu Gott singen: „D u hast meine Bande zerrissen, Herr. Dir will ich
Dankopfer bringen/*

5. Dante
Das herrlichste Dankopfer hat dem Reiche der frommen Kaiser Heinrich
Dante dargebracht. Dante Alighieris (12 6 6 — i 3 2 1) Gedicht vom W elt­
gericht und seine Schrift de Monarchia sind die grandiose Verklärung die­
ses aus der wirklichen W elt durch die Päpste damals schon verstoßenen
„Reiches“ . Bei Dante findet der heutige Mensch den Zugang zu diesem
vorpäpstlichen Weltreich. Denn Dante ist der letzte Mensch, der noch
ebenso denkt und fühlt. Er ist noch ein Abendländer des Weihekaiser­
tums aus der Zeit vor der Papstrevolution, obwohl er das i 4 - Jahrhundert
erlebt hat.
Bevor deshalb die revolutionäre Sprache des römischen Katholizismus
aufrauscht, stellen wir noch einmal den Menschen des Reiches, den Ghibel-
linen, als Erstgeborenen den römischen Katholiken vorauf und entgegen.

117
Ein Verbannter hat die Divina Commedia gedichtet, selbst fremd in der
Welt seiner Zeit. ,,Die scholastischen Gelehrten haben ihn ohne Zweifel
als etwas Fremdes und Verdächtiges empfunden“ (Auerbach). Noch das
Jenseits beschwörend, während der naturliebende Petrarca und der über­
mütige Boccaccio schon vor der Tür der Zeit stehen, lebt Dante jene Welt
des Reiches und des Weltgerichts, die voneinander nicht getrennt werden
dürfen, in seiner Seele zu Ende und verklärt sie in seinem Geist. Gerade
der, der nicht Katholik ist, braucht deshalb Dante, um sich nicht von
unserer Seele und unserer eigenen Vergangenheit auszuschließen.
Der erste Satz unseres Glaubens lautet: Das Weltgericht ist die Welt­
geschichte. Nur aus dem Weltgericht besteht die wirkliche Weltgeschichte.
Alle übrige W elt ist Blendwerk, Lug und Trug und vergeht wie Rauch.
Aber aus aller Unwirklichkeit von W elt und Mensch bleibt, was der Mensch
verwirkt hat. Seinen Werken folgt ein gerechtes Gericht. Das ist das
Schauspiel Gottes, „la divina Commedia“ , das einzige wirkliche, endgültig
gewirkte Werk in der sonst nichtigen Schattenwelt.
Die höchste Steigerung dieser Vorstellung, die Ineinssetzung des Welt­
gerichts und der Weltgeschichte bei Dante ist doch nur die endgültige
Fassung all der quälenden Blutschuldqualen, der Orestie und der Nibe-
lungias und der Visionen des Jenseits, die auch die Wurzeln von Aller­
seelen sind. „Vision“ nennt daher auch Dante selbst öfters sein ganzes Ge­
dicht kurzab.
Der Visionär, der außerhalb der W elt seinen Standort hat, ist damit der
Urtyp des religiösen Menschen im Abendland geworden. Außerhalb der
Welt, wie heut der „Utopist“ , müssen wir alle stehen, um sie durch­
schauen zu können. Der geweihte Kaiser aber ist in dieser Nacht der ein­
zige weihe-nachtliche Bürge, daß Gott dennoch und dennoch wirklich
Mensch geworden ist. Denn im Kaiser ist der einzige Bürge der Heils­
geschichte noch auf Erden am Werke. Das Sacrum Imperium ist in einer
W elt ohne Sancti der Anker des Daseins. Sacro Poema nennt auch Dante
selbst sein Gedicht. Im Geweihten, nicht im Heiligen, lebt seine Seele.
Sein sacro poema gibt also die „Vision“ von der Einheit der Geschichte
der Christenheit und des Geschicks der christlichen Seele im Reiche der
Kaiser.
„Es ist das Endschicksal seiner Gestalten, das Dante in der Komödie
uns darstellt. Die irdische Spanne ist für sie abgelaufen . . . Von hier aus
muß nun höchst wunderbar werden, was der Leser des Gedichts als selbst­
verständlich empfindet und was dann letzten Endes auch selbstverständlich
ist: daß ihr Platz und ihre Haltung im Jenseits durchaus individuell ist
im Sinne ihrer früheren irdischen Taten und Leiden, daß sie gleichsam
nur deren Fortsetzung, Steigerung und endgültige Fixierung darstellen,
eine vollkommene Erhaltung ihres besondersten und persönlichsten W e­
sens und Geschicks. Das christliche Drama der einmaligen irdischen Zeit-

118
spanne, in der die Entscheidung fallen muß, läßt den tragischen Tod der
Antike hinter sich, denn im Jenseitsreich bieten die Menschen in ihrer La­
ge und Haltung die Summe ihrer selbst. Sie zeigen als Erscheinung der
jeder Seele genau konkordanten Gerechtigkeit Gottes in einem einzigen
Akte, was die Spanne ihres Lebens an Wesens- und Schicksalsgehalt um­
faßt hatte.“ (Nach Erich Auerbach.)
Denn Dante wurzelt in der Kaiserkirche. So wie ein Stuartanhänger Ghibeiimen
auch noch 1740 „älter“ war als die Orangemänner Wilhelms III. von
1689, wie ein heutiger Mönch von Maria Laach „älter“ ist als ein Me-
lanchthon, so darf man nicht einerlei Menschheit in das Mittelalter hinein­
sehen. Die letzten Ghibellinen sind die Altkatholiken, die im Jahre 1870
sich von dem römischen Katholizismus getrennt haben, als dieser die
Papstrevolution auf die Spitze trieb. Sie haben es noch in ihren Namen
Altkatholiken hineingenagelt, daß die Alte Kirche dem Papst nur örtliche,
wenn auch hauptstädtische Gewalt verliehen hatte, in einem Erdkreis un­
ter kaiserlicher Spitze.
Die Protestanten haben in ihren katholischen Volksgenossen zwei Völ­
ker und Menschenarten vor sich, nicht eines 1 Die abendländische Reichs­
christenheit und die römischen Katholiken.
Natürlich hat der späte Ghibelline Dante alle Geisteskräfte eingesetzt,
um mit den eigenen Zeitgenossen zu ringen und sie zu überwinden. Und
dabei bedient er sich aller ihrer modernen W affen mit. Aber die Liebes-
kirche der „Rose“ , die mystische, arme, geeinigte Kirche der zeitgenössi­
schen Spiritualenpartei, vermählt er dem Adler der Weihekaiser. „Rosa“
und „Aquila“ stehen bei Dante im Runde gegen das verderbte Papsttum.
Das ist seine originale Tat. Eben dadurch hebt er das ganze kaiserliche
Weltalter in seinem Gedicht auf. Nur als Konservativer kann er das Erb­
gut umschmelzen. Von Art und Rlut ist Dante ein Spätling des kaiserlichen
Friedensreiches im Abendlande. Den Ghibellinen Dante überwältigt die
Erfahrung des Weltgerichts in diesem und drüben in jenem Leben; des­
halb huldigt er dem heiligen Imperium der Kaiser und dem letzten Herr­
scher in der stolzen Reihe der Heinriche, die der von uns besprochene
heilige Kaiser Heinrich II. 1002— 1024 eröffnet hat. Mit Dantes Helden,
dem Luxemburger Heinrich VII. (VI.) ( i 3 o 8 — i 3 i 3) schließt die R eihe:
Im Empyreum sieht Dante ihn, also noch jenseits des neunten Himmels,
jenseits der meisten Heiligen der K irche:

„A u f jenem Thron, den jetzt dein Auge mißt,


W eil schon die Krone drauf liegt — eh’ die Zeit ist,
W o du als Gast bei dieser Hochzeit bist,
Sitzt dort die Seele, deren Haupt geweiht ist,
des h e h r e n Heinrich, der dein Vaterland
zu retten kommen wird, eh' es bereit ist.“ (Paradiso XXX, 1 3 3 »)

ii9
Der neunte Himmel ist für den Kaiser offengehalten! „Der Geist ist
unten Rauch, hier ist er Licht.“
Auch der andere große Florentiner, Michelangelo, hat zwei Jahrhunderte
nach Dante das Weltgericht dargestellt, die ungeheure Macht des Welten­
richters. Der Christus Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, seine
römische Imperatorengeste vergißt sich nicht. Der Gedanke des Weltge­
richts hat so über die Epoche des heiligen Kaisers hinüber auch auf die
andere Epoche der Päpste eingewirkt. Von Allerseelen bis Michelangelo,
von 1000— i 5 oo reicht daher immerhin die eine Weltgerichtszeit, als die
Zeit des jenseitigen Mittelalters.
Die Neuzeit sieht meist nur diese Einheit von Dante und Michelangelo.
Stärker ist ihr Gegensatz. Denn Dante verklärt das Weihekaisertum der
Heinriche aus deutschem Stamm. Michelangelo, als Maler des Papstes,
verklärt in Wirklichkeit eine neue Gewalt, der sich zur Trauer des Ghibel-
linen Dante auch das welfisch werdende Florenz geöffnet h at: er verklärt
die Autorität der Päpste.

120

I
VIII. D AS E R R E G E N D E M O M EN T /
Z E IT O D E R R A U M ?

1. Sim onie
nter dem frommen Reformkaiser Heinrich schwärt bereits die Revo­
U lution. Canossa zieht herauf. Freiheit soll errungen werden, Freiheit
von der alten Kaiserlichen Kirche. Die Simonie ist die verkehrte Gesell­
schaftsordnung, Simonist das Schimpfwort dieser Revolution, wie Kapi­
talist oder Aristokrat später.
Gefordert wird die Ungültigkeit aller simonistischen, im Grunde aller
von weltlichen Gewalten, Kaisern und Königen, verliehenen Kirchenämter.
„In dem Fall sind alle unsere Vorgänger ohne Ausnahme mit unaus­
weichlicher Folgerichtigkeit beim Teufel“ , sagt ein Geistlicher zu diesem
Programm. (Libelli I, 72.) Aber das Programm schlägt durch.
Das eigene Geschöpf Heinrichs III., der deutsche Papst Leo IX., hält
nach seiner Ernennung durch den Kaiser mit dem Mönch Hildebrand
(Gregor VII.) und dem Abt von Cluny geheimen Rat, und Leo geht dar­
auf inkognito nach Rom und läßt sich dort erst zum Papst wählen.
Auch er fürchtet den Heiligen Geist sonst einzukerkern, den heiligen
Geist der Freiheit, den das großartige Revolutionsmanifest beschreibt: Geistesfreiheit
„Verteidige, du Freiester aller, Gott, Geist und Herr, du gleichzeitig
durch alles und gleichewig dem Vater und dem Sohn, deine einzigartige
Freiheit vor den heilsschänderischen Händlern, den geldgierigen Erben
des Simon.
Wohin wird unsere Freiheit entweichen, auf die wir uns dank deiner
doch verlassen, in Hoffnung, auf die wir stolz sind, in der Freiheit der
Gottessöhne, dank dem Ruf des Apostels: W o der Geist des Herrn, da ist
Freiheit. -v
Wirst du durch Furcht unter Zwang gesetzt, sind deine Allmacht und
Freiheit verloren; denn dann wehst du nicht, wo und wann du willst.“
(Libelli I, 102.)
Nur die Gefahr gibt solche Kühnheit. Welche Gefahr hat also die Em­
pörung erzeugt und ermöglicht? W o lag das Unrecht der Verfassung
Heinrichs III.? W o hinderte die bestehende Ordnung den Fortgang des
Lebens?
Welche Klasse, welcher Stand trug soziologisch die Revolution? Der
Papst muß doch ein Interesse verkörpert haben, dem unrecht geschah und
das gekränkt wurde, solange die alte Ordnung bestand?
So ist es in der Tat. Der wunde Punkt in der Theokratie Ottos III. und
Heinrichs II. ist die Verschiebung innerhalb der Grundlagen ihrer eigenen

121
Macht, die gegenüber der Zeit Karls des Großen eingetreten war. Über­
blicken wir zunächst diese Macht im ganzen.
Theokratie ist das Regiment des Kaisers, weil er beliebig bald ein Bis­
tum gründet, bald die römische Liturgie ändert, bald Gottes Frieden ge­
bietet und bald Reiche erobert. Jeder seiner Kriege im Osten gegen die
Slawen erscheint noch wie Ottos Zug nach Gnesen, 1000, als Glaubens­
krieg, für den die Kirche als solche mit ihrem Kaisergebet einsteht. In
diesem Gebet (das noch heut am Karfreitag erklingt) betet die Kirche
seit Konstantin für den Sieg des Einen, des ihr zugeordneten Weltkaisers
über die Heiden. Der Heerkönig, der als Erbe des fränkischen Oberbefehls
bestimmte Stämme nördlich der Alpen kommandiert, nämlich die Stäm­
me, die mit den unverwelscht gebliebenen Teilen der Franken zusammen­
geblieben sind, ist also zugleich universaler Kirchenkaiser. Nur dieses
kirchliche Amt gibt ihm ja bei Schwaben, Bayern, Thüringern und Sach­
sen, Burgunden und Langobarden die reale Machtbefugnis. Die Geist­
lichen sind seine Beamten. Innerhalb der Stammesfürsten und des Stam­
mesadels kann der Kaiser sich nur auf die von ihm abhängigen, weil eher
noch sippelosen, Königsgeistlichen und auf die Königskirchen in den ver­
schiedenen Stammlanden und Marken wirklich fest verlassen. Sie sind das
zentralistische Element der Reichsverfassung.
Dies ist der klare Nutzen, den das kirchliche Kaiser amt für den König
der vielen Stämme hat. An sich gehören diese Stämme zueinander nicht
enger als zu den Provenzalen oder Langobarden oder zu den Bewohnern
der Isle de France. Noch das französische Rolandslied (von 1120) grup­
piert nicht etwa Italiener, Franzosen und Deutsche in Karls Heer, sondern
ein Dutzend Stämme, die alle das Kaisertum überwölbt. Es kennt noch
keine „Deutschen“ .

2. D er D ruck auf Italien


Aber das Amt des Kaisers hatte diesen Nutzen für den Norden nur, weil
es kirchlich aufgefaßt wurde. Nur dank dem heiligen Charakter der K ir­
che konnte es auch den Kaiser nur einmal geben. Das Kaiseramt gilt in
den Quellen der Zeit ausdrücklich als kirchliches Amt.
Die Länder Italiens kamen dadurch in eine demütigende Lage. Denn
südlich der Alpen verknüpfte den Kaiser sein Amt mit dem kirchlichen
Rom. Den Rest des Landes besaß er nur aus dem Recht der Eroberung.
Der Besitz des Landes zwischen den Alpen und Rom wird für Otto I.
und seine Nachfolger ein um des Kaisertums willen erworbenes und auf
das Kaisertum aufgestocktes sekundäres Recht. Mailand, Bologna, Florenz
sind Poststationen zwischen dem Nordland und Rom.
Die logische Reihenfolge der Ämter in Deutschland und im italieni­
schen Zwischenland war also eine umgekehrte. Schon Karl der Große
hatte die eiserne Krone der Langobarden gewonnen. Aber schon er hatte

122
dazu, um das kaiserliche Gericht in Rom über die F ein de des Papstes zu
üben, also infolge seines Kirchenamtes, in der Romagna gewisse landes­
herrliche Rechte angetreten. Auch seine sächsischen und salischen Nach­
folger trugen die Eiserne Krone von Monza. Aber sie amtierten für die
Lombardei sofort kraft ihres Amtsantritts im Norden, ohne etwa eine
besondere Autorisation durch die Lombarden abzuwarten 1
Das hatte in karolingischer Zeit nichts Auffälliges. Denn da waren die
Sachsen und Bayern genau so unter der Botmäßigkeit der Franken wie
die Langobarden auch.
Jetzt, im elften Jahrhundert, wurde das anders. Denn die nördlichen Die Lombarden
Stämme waren nicht mehr unter der Herrschaft eines einzelnen Stammes,
Jeder von ihnen stand gleichberechtigt neben den anderen. Gleichberech­
tigt nahmen alle Stämme an der W ahl eines neuen Königtums teil. Die
Deutschen also konnten das Römische Reich vergeben. Dies Römische
Reich aber herrscht weithin über die italienischen Länder als über Unter­
worfene. Die Italiener als solche waren also minderen Rechts und unter
fremder Herrschaft. Je mehr alle deutschen Stämme auf gleichen Fuß
kamen, um so mehr drohen die Lombarden unter sie zu sinken. Als auch
die Schwaben in Barbarossa an die Kaiserwürde kamen, ist jeder deutsche
Stamm „kaiserlich“ geworden. Damals ( i i Ö2 ) ist die Rechtsgleichheit
zwischen Deutschen und Italienern endgültig vernichtet worden.
Dies war der erste Beschwerdegrund. Er betraf alles von den „Goten“ ,
von den „Ultramontanen“ auf der Halbinsel beherrschte Gebiet. Er war
nicht sehr triftig, solange es niemandem in Italien besser ging, sondern
im Süden ebenfalls Fremde, Griechen und Sarazenen herrschten. Er
brauchte es um so weniger zu sein, solange die Römerzüge des Kaisers das
innere Leben der Halbinsel erschlossen und befriedeten. Die Zersplitte­
rung der Landschaften war groß. Unverhältnismäßig viele kleine Gebiete
ohne einheitliche Überlieferung, ohne große Stammes- oder Provinzord­
nungen konnten sich zunächst mit der gegenwärtigen Gesamtherrschaft
zufriedengeben, weil sie selbst zur Aufrichtung einer solchen auch nicht
fähig gewesen wären und, wie sich später gezeigt hat, nicht fähig ge­
worden sind.

3, Die römische Kurie


Der zweite Punkt war zunächst noch weniger spürbar. Er betraf den
verschiedenen Horizont von Papst und Kaiser. Italien war für die nor­
dischen Kaiser zunächst nur Nord- und Mittelitalien. Ganz Süditalien fiel
nach den vergeblichen Anstrengungen Kaiser Ludwigs II. vor Bari 868
fast ständig aus dem Gebiet wirksamer Kaiserpolitik. Dies Land gehörte
mit seinen Buchten, Landzungen und Insein ganz und gar in den Bereich
der antiken Abendlandskultur. Für die Kaiser aus Nordland war es ein
Fremdkörper, byzantinisches Gebiet.

123
Aber anders w ar hier die L age für den B isch of von R om . E r hatte im ­
m er nachdrücklich Verbindungen m it Sizilien aufrechterhalten. F ü r ihn
war der süditalienische „S tiefel“ der F u ß hinaus aus der fränkischen
R eichsordnung und hinein in die antike K irchenordnung. D er B isch of von
A ltrom w ar n atu rgem äß fü r ganz Italien der P a tria rch gewesen, der
oberste B isch of. Auch nachdem der P ap st 8 0 0 den K aiser in Byzanz aus
der E rh alterro lle der G esam tkirche entlassen hatte, residierte der P ap st
doch nich t einfach im Fran k en reich , sondern noch h a rt an der Grenze
zwischen F ran k en und Byzantinern. H atte er auch 8 0 0 das Zünglein an
der W a a g e zugunsten des fränkischen K önigs niedersinken lassen, so
blieben doch n ach wie vor erhebliche Gewichte a u f der byzantinischen
W aag sch ale liegen. D er B isch of von R om w ar daher keineswegs ein frä n ­
kischer Ileichsbischof n u r, wie der von M ainz. E r w ar auch noch im m er
verbunden m it dem Leben der griechischen K irchenprovinzen. Die deut­
schen K aiser haben theoretisch dem P ap st in dieser R ich tu n g sekundiert.
Aber der P a p st m u ß te praktisch m it den wirklichen B eh errsch ern dieser
Gegenden rechnen. D eshalb begünstigte er angesichts der unversöhnlichen
H altung der griechisch en K irch e in den theologischen S treitfrag en die
Die Normannen Festsetzu n g der N orm annen in K alabrien, Apulien und Sizilien. Zw ar
blieb dieses L an d griechisch in der K u ltu r, aber als i o 5 4 das S ch ism a
zwischen M orgen - und Abendland endgültig au sb rach , da gelang es, dieses
Gebiet bei der Pap stk irch e zu erhalten d u rch das Einschieben der n o r­
m annischen H e rrsch a ft.
H einrich I I I . h at gegen dieses Einschieben eines Zw ischenreiches nichts
einzuwenden gehabt. Die röm ische K irch e erhielt sich eine ih re r ältesten
aus d er Antike h eraufragenden Provinzen m it n ich t w eniger als i 5 o B is­
tü m ern . Sie konnte diesen illegitim en N orm annenhäuptlingen eine K ir­
chenverfassung auferlegen , die dem P a p st als dem O berlehnsherrn w ich­
tige Befugnisse gab. Die N orm annen tauschten d a fü r ein die Eingliede­
ru n g in eine R ech tso rd n u n g , die L eg itim itä t, die dem Seeräub ergesch lecht
sonst zu errin gen un m öglich gewesen w äre.
Aber einen Augenblick m u ß m an bei diesem Staatsgebilde stehenblei­
ben. W ie der K aiser sonst B efugnisse in der K irch e b ean spruch t, so wird
hier der P a p st als L eh n sh err w eltlich tä tig . U nd zw ar ist es in aller In ter­
esse, d aß er es w ird. Denn d ad u rch kann er eine kirchliche Provinz in den
abendländischen B ereich hineinreißen, und er kann eine au ß erh alb des
K aiserreich es verharrende G ew alt, wie die der N orm annen, zivilisieren
und legitim ieren. An dem H o f des K aisers hätten diese stolzen R aub­
fürsten n ich t als H ausgenossen gedient, wie es das W esen des L eh n s­
bandes m it sich b rach te. D em Apostolischen V ater in R o m konnten sie
eine rein zivile O bergew alt in denselben L eh n sh of form en einräum en. Da-
m it erwies sich, d aß die zivil-geistliche V erw altung des Abendlandes e x ­
p o rtfä h ig war d o rt, wo die rein m ilitärisch e v ersag te! W ä h re n d a u f dem

124
Festlan d den Slawen gegenüber das deutsche Schw ert weitgehend dem rö ­
m ischen Kreuz den W e g bahnen m u ß te, w ar es hier im Süden gerade
u m g ek eh rt; hier war die vom P ap st vertretene K irche im V orzug gegen­
über der vom K aiser verkörperten K irche. D er P ap st als Leh n sh err, der
P ap st als Inhaber einer K u r ie , eines H ofes, das wird die neue O rganisa­
tionsform der nicht kaiserlichen W e lt. Die Vokabeln des L eh n srech ts
dringen d ah er nun auch in den Sprachschatz der Päpste ein. i o 6 3 ver­
wenden sie z. B . zum ersten Male die S tra fe des Leh nsrechts, den „H u ld “ -
verlust in ih rer Kanzlei. R ob ert G uiskards Lehnseid von 1 0 6 9 m ac^ t
Schule. Leistungen ziehen R echte nach sich. W enn das Abendland ge­
wisse Gebiete dad urch besser organisieren konnte, daß der P ap st, nicht
der K aiser, die K irche nach außen voran tru g — dann d u rfte der P ap st
hierfü r Ellenbogenfreiheit verlangen. D ann erwies er sich als der bessere
Zusam m enhalter der K ir ch e des A bendlandes.
U nd so w ar es in der T at. En glan d , Spanien und F ran k reich waren dem
K aiser so un erreichb ar wie S izilien: D em Pap ste aber nich t. i o 5 o zum
ersten Male sind au f einer päpstlichen Lateransynode 6 unteritalische,
2 englische und 5 französische B isch öfe anw esend! Die R ettu n g des
Papsttum s, die W iederh erstellu n g der K irch e w urde freilich den K aisern
verdankt — ab er die Zukunft dieser K irch e g riff über das K aisertu m al­
lenthalben hinaus. U m dieser g röß eren Z uk unft willen g eh örte d er M acht
die V orhand, die leichter die universale K irch e verkörpern konnte. D er
K aiser hatte zwar ein ungeheures R eich inne. Aber nie konnte e r es d o rt­
hin ausdehnen, wo der P ap st noch willig G ehör fand. Die H e rrsch a ft der
Byzantiner in Süditalien, der D änen in E n glan d und der M auren in Spa­
nien, au ch die F o rtd a u e r der alten karolingischen D ynastie bis 9 8 7 in
F ran k reich hatte die Inkongruenz zwischen ro m -ch ristlich em Abendland
und K aiserreich n ich t allzusehr h ervortreten lassen. D er Zuw achs im
Osten (B ö h m en , Polen, U n garn ) w ar ohnehin den K aisern ausschließlich
zu verdanken. Und das Bündnis m it Cluny wirkte n ach F ra n k re ich . N icht
um sonst w ar deshalb H einrich I I I . m it einer F ran zö sin , Agnes von P o i­
tou, verm ählt, um d ad u rch auch die W e stfro n t der kaiserlichen U niver­
salm onarchie zu verstärken. Aber die K aiserin Agnes von P o ito u gin g in
R om ins K loster. Die C luniazenser entsandten bald ih re Z öglinge au f die
italienischen B ischofssitze selbst, so d aß der Bund m it dem K aiser fü r
das K loster an B ed eu tu n g verlor. i o 5 a huldigte T ank red v. L ecce dem
Papst. 1 0 6 6 zog W ilh elm m it dem Segen des Pap stes n ach E n glan d und
ro ttete d o rt das einheim ische K önigsgeschlecht aus. Z w ar w eigerte
W ilhelm dem P a p st d a fü r den Lehnseid, aber gefordert hatte ihn der
Papst, und er h at ihn i 5 o J a h r e später auch durch gesetzt. Und den al­
ten K önigstein in K ingston lä ß t schon W ilh e lm verfallen, denn nicht dem
Volke, sondern dem vom P ap ste gesegneten G ottesurteil will er sein
T h ro n rech t verdanken. D am it hing die L e g itim ität auch dieser F r e m d -

125
h errsch er in E n glan d — wie in Sizilien — an der Verbindung m it der
röm ischen K irche.
Die M auren werden in den achtziger Ja h re n in Spanien zurückge­
drängt. E s sind die Zeiten des Cid, der m it dem S ch lach tru f Toledo vor­
w ärtsstürm t. Toledo fällt i o 8 5 . H ier überall in den Inseln und H albin­
seln des Abendlandes versagt das kaiserliche M achtgebot. Die K irche
d ringt hierhin als die H üterin der L eg itim ität, die Kennerin des R ech ts
und der Z usam m enhänge. D urchaus nich t etwa ohne weltliche Aufgaben
und Sorgen. Sie ist S taat, au ch wenn d er P ap st die H uldigung der N or­
m annen em pfängt, so wie wenigstens die europäische Staatsleh re heut
den S taat a u ffa ß t.
Aber seine H e rrsch a ft in der K irche stützt sich n ich t a u f das Schw ert
des K rieg ers, sondern au f das Schw ert des Geistes. Sie w irkt als ziviler
S taat statt des H eerstaates der K aiser.
W ir haben die m ateriellen U ntergründe des Streites zwischen dem alten
siegreichen K aiser und dem neuen werdenden Z usam m enh alter d e r abend­
ländischen K irch e vorw eg erzählt. Sie beruhen a u f dem U nterschied von
F estlan d s- und M eeresabendland. W ie sehr dieser U nterschied h errsch t,
zeigt sich z. B . darin , d aß dieselbe K irch e, die Spanien, F ra n k re ich , Süd­
italien und E n glan d allein und unm ittelbar ohne K aiser o rgan isierte, so­
g a r n och im i 5 . Ja h rh u n d e rt der deutschen N ation a u f dem Konzil wil­
lig das F estlan d z u te ilte : N acio G erm anie in qua sunt reg n a im perii R o ­
m an i, H ungarie, D alm acie et C roacie, D acie, N orw egie, Suessiae, B o -
hem iae, Poloniae (A cta Concilii C onstantiensis I I , 7 2 ). Im Erdteiisin n ern
gen Osten hin und N orden w ar also alles K irchen land k aiserlich !
In einem g ro ß a rtig e n G edicht von 1 0 6 0 steh t die W a a g e zwischen den
Gebieten des K aisers und Pap stes n och gerad e ein, aber m an sp ü rt die
un geheure Spannung des w erdenden E rd ra u m s in dem B ild : „D ie W e lt
unter des P e tru s Schlüsseln und des K aisers Gesetzen soll sich w eiten :
Italer, N ord m än n er, Sarazenen, Hunnen w erden besiegt, Spanien, L i­
byen, Arabien und P ersien ero b ert w erden, T y ru s, M em phis, Ä thiopien,
F ran zo sen , B riten und D eutsche dienen beiden.“ D as ist ein neuer W e lt­
wille, weit jenseits alles B isherigen.
A ber w ir haben den K ern zu n ü ch tern herausgesch ält. W ir haben das
freilich absichtlich getan . D enn je fern er die Z eit, desto w ichtiger ist es,
au ch ih re A lltagssorgen zu b egreifen . T ro tzd em re ich t diese N üch tern h eit
nich t zu m it der m an beiden Seiten g e re ch t wird.
Denn solche Entw icklungen treten j a vor die M enschen, die sich ent­
scheiden m üssen , n ich t m it solchen N uancen wie Festlands-A bend land
und M eeres-Abendland. Sondern sie ford ern einen T otalentsch eid von den
Zeitgenossen, ob in Spanien o d er Polen. Und es la g nun in der T a t keine
bloße U nzw eckm äßigkeit, kein geograp h isch es U n rech t vor, sondern das
R e ch t w ar verletzt, au s dem K aiser und K irch e bislang m iteinander leb-

126
ten und au f Grund dessen allein der K aiser in der K ir ch e etwas zu su­
chen gehabt hatte.

é . TJrbi et o r b i
D er P ap st verkündet urbi et orbi, d er Stadt und dem E rdk reis seine
W eisungen. Ist denn sein R eich von dieser W e lt? Die antike K irch e hatte
sich in der „Bew ohnten E rd e “ , in der Ökumene, vorgefunden, in dem
Erdkreis um das M ittelm eer. Und die K irch e C hristi ist in diesen Erdk reis
hinein gestiftet, um die Zeitlichkeit zu überwinden. D er röm ische E r d ­
kreis hatte schon vor ih r und ohne sie den R au m überwunden. Augustus
war W eltk aiser, bevor Jesu s W elth eilan d wurde. D ah er herrsch te eine
klare A rbeitsteilung zwischen K aiser und K irch e. Die alte K irch e h at n u r
die A ufgabe, die Zeit zu überwinden. Sie ist eine Ew igkeitskirche im Zeit­
sinn, die von C hristus und den Aposteln her du rch alle Zeiten zählt, Apostolisch
oh s\ä orsfc n u r hv Je ru sa le m , ob s>\o sch on in ILphcsus oder ob
sie bereits in R o m besteht.
Die christliche K irch e ist hingegen g leich g ü ltig gegen den R a u m , und
sie d arf es sein, weil die Ökumene bereits von dem K aiser b eh errsch t
wird. Aus der ganzen zeitlichen W e lt d a rf der K aiser in die K irch e ein-
treten als der B isch of des R aum es (tcav exxoq), als der S ch irm h e rr
gegen die Heiden und K etzer, weil er der eine ist, d u rch den C hronos und
Ökumene verknüpft werden. D er K aiser ist die A ngel, in d er die ewige
O rdnung der Z eit, die K irche, m it der universalen O rdnung des R aum es
zusam m enhängt. N och d er P a p st G rego r der G roß e wollte w eder univer­
salis noch ökum enisch heißen, sondern d u rch das ganze erste Ja h r ta u ­
send nennt sich der P a p st apostolisch, d. h. von C hristus her, nach seiner
zeitlichen, n ich t n ach seiner räum lichen E h re ! A postolicus ist m eh r als
universal fü r den, der die V ergänglichkeit d er sterblichen M enschen be­
denkt. Apostolisch bedeutet „un vergänglich“ .
Die K irch e der Antike verzichtet deshalb a u f räu m lich e O rganisation
überlokaler A rt. Sie ist LoM kirche. Je d e s K lo ster des Benediktinerordens
steht selbständig u n ter seinem Abt d a, je d e r B isch o f sitzt in tier K irch e
seiner S tad t wie jeder B isch of irgendw o. H a t die S ta d t als rö m isch e
H auptstadt g rö ß e re E h re , so teilt diese g rö ß e re E h re der B isch of. Mai­
land, A lexandria, Lyon haben h ö h er g eeh rte B isch öfe, weil sie auch in
der R au m ord n u n g des Erdk reises h öhere E h re genießen. Und d er g eeh r-
teste B isch of ist eben deshalb der B isch of von R o m gew orden, weil Pe­
trus und Pau lu s die S tad t des R om ulu s und R em u s neu erw ählt und neu
geweiht haben. E r h a t den P rim a t. D as h eiß t er ist d er erste B isch of.
Aber g erad e in dem W ort „ P r im a t“ liegt die Z ah lu n g einer M ehrzahl
^ausgesprochen! D as w ird o ft übersehen. D er röm isch e B isch of ist d e r
erste B isch of deshalb, weil es die K irch e in unendlicher M ultiplikation
m jeder Polis des rö m isch en E rd k reises w ieder gibt.

127
Ganz anders das K aiseram t. D er K aiser ist n u r einer, er ist nich t d er
E rste , sondern der Einzige. Nie hätte die K irche sich m it ihm einlassen
können, wenn er nich t das zugebracht hätte, was sie seit der K reuzigung
ihres K önigs j a nich t besitzen durfte bis zur W ie d e rk u n ft: die sichtbare
Einzigkeit und E in h eit d er H errsch aft.
Die antike K irch e w ar so gleichgültig gegen den R au m , d aß sie auch
im Credo bei dem Glaubensartikel von der K irche n u r die „H eilige K ir­
ch e“ als Glauben fo rd erte, aber nich t die „ U n a “ S an cta! Z u r U na wird
die Heilige K irch e im ersten Jah rtau sen d n u r d u rch den K aiser. E r ist
der einzige „E in zig e“ in d er K irch e! D er P a p st w ar n u r d er E r s t e ! Des­
halb, wenn m an dem K aiser gibt, was des K aisers ist und G ott, was G ottes
ist, so gibt m an dam it im ersten Jah rtau sen d au f der kaiserlichen Seite
einer einzigen körperlichen, leibhaftigen P erso n etwas, auf der Seite Got­
tes hingegen stehen die K irchen in ih rer unabsehbaren F ü lle ih re r Sitze
und ih re r G estalten vom ersten bis zum letzten.
Die K irch e h a t zahllose Sedes, au f denen sich d er H eilige G eist im
B isch ofsam t niederläßt, innerhalb der Ökumene. Sie b erü h rt und erreich t
den Erdboden n u r in der F o rm solcher S ed es; wo das G rab eines M är­
ty rers liegt, da wird eine K irch e, weil das Heilige Volk an dieser Stelle die
E rd e erreich t und m itgeheiligt h at d u rch die irdischen Ü berreste des
H eiligen, d u rch seine Gebeine. E s w ar d o rt überall, als hätte d er H im m el
die E rd e still gek ü ß t und d ad u rch erlöst.
N ur Punkte also, Sedes, besaß die K irch e im R au m . An diese Sitze w ar
sie deshalb gebannt. D er M önch eines Benediktinerklosters leistet noch
heut sein Gelübde seinem O rtskloster und kann n ich t versetzt werden.
N och au f dem T ridentinum ( i 5 4 5 — 1 5 6 3 ) tr a t dah er als eine der quä­
lendsten F ra g e n die n ach der R esidenzpflicht d er B isch öfe au f. M an stritt
sich, ob sie g ö ttlich -altk irch lich en oder m enschlich-neukatholischen U r­
sprungs sei. Ganz m it R e ch t. Denn „B esitz e rg riffe n “ h atte die alte K ir­
che von d er W e lt n u r Sitz u m Sitz, also Residenz um Residenz, O rt um
Ort — m ithin anders wie die m ilitärischen E ro b e re r. Die E ro b e re r er­
g reifen Provinzen, Siegland um Siegland. W e il aber der H im m el überall
d o rt die E rd e b erü h rt, wo eine Seele ih r irdisches Kleid auszieht, d a rf der
O rtsboden n ich t g e rä u m t w erden, von dem einer in der S ch a r d er G ottes­
söhne d u rch seinen T od Besitz e rg riffen h a t. D er K irch en rau m besteht
aus lau ter lo ci sancti, aus heiligen, unverrückbaren Ö rtlichkeiten.
D er Kaiser hingegen hatte interlokale Gewalt. Es gib t deshalb in der
antiken K irch e keine „internationalen“ Problem e, und die K irch e, ja
der P ap st selbst ist in dem antiken Sinne au ch noch heut keine „in ter­
nationale“ M acht. D ie K irch e ist ökum enisch, katholisch, interlokal, aber
nich t international. Und sie ist n u r deshalb ü b erräum lich, weil G ott, wie
Lebuin (oben S. 1 1 5 ) schön es ausdrückt „ d e r G ott aller Z eiten“ und seine
K irch e d ah er apostolisch ist. Die N ationen kom m en erst n ach träg lich in

128
und durch diese ökumenische K irche zur Entstehung. Die K irche kann
also nicht „international“ sein. Auch d er P ap st Gregor V II. ist also in
diesem R ahm en als interlokale M acht d er Ökumene aufzufassen. H ier ist
G regor V II. allerdings dem interlokalen K aiser entgegengetreten. Und er
gewann ein R ech t zu dieser Opposition in dem Augenblick, als die K aiser
auf die lokale G erechtsam e der K irch e Ü bergriffen und als ihnen au f der
anderen Seite die Einzigkeit verlorenging, die allein es gewesen w ar, was
der C äsar in der K irch e legitim iert und notwendig gem ach t h a tte !
K ra ft dieser Einzigkeit m ochte der K aiser Konzile leiten und B ischöfe
ernennen. Denn w er „alles“ im R au m e zu verantw orten hat, w ird eben so
vieles berücksichtigen m üssen wie der, der fü r die Ew igkeit zu sorgen
h at. D as Sem per (im m er) und das Ubique (überall) des Seelenlebens wer­
den sich inhaltlich w eitgehend decken, wenn m an sie ganz ernst nim m t,
weil irgendw o j a im m er a u ch ö rtlich die Lebenskeim e fü r ein Irgen d ­
wann sich befinden m üssen.
Aber das K aisertu m diente nu n m eh r im 1 1 . Ja h rh u n d e rt j a n u r noch
als E rsatzm ittel fü r die fränkische H e rrsch a ft. Die herzoglichen N ach­
fo lg er K arls des G roßen verbräm ten den M angel ihres Fran k en tu m s m it
dem röm ischen K aisern am en ! Sie w aren n ich t einzig in d er Ö kum ene,
sondern wollten einen Teil d er Ökum ene verein heitlichen. V iele K ö n ig e
standen neben ihnen. S ie borgten sich also d ie rä u m lich e E in h eit von der
K ir c h e l Denn nun w ar die K irch e als die einzige ökum enische G röß e in
der W e lt aus d er Antike übrig.
D as m einten w ir m it der V erschiebung der G rundlagen fü r die T heo­
kratie zwischen K a rl dem G roßen und H einrich I I I . K a rl d er G roß e h a t
die L än d er inne, und d araufhin wird er K aiser. O tto I. und H einrich I I I .
nehm en sich das K aiseram t in d er K irch e, und nun wollen sie wegen
ih rer kirchlichen W ü rd e die L ä n d e r gewinnen und die anderen K önige
des E rd k reises u n terw erfen !
U nd sie haben die K irch e g erein igt und das P ap sttu m in R o m w ieder
au fg erich tet als M ittel fü r ihren Zweck. In ihnen steht also n ich t die Öku­
m ene den zahllosen Sitzen der K irch e gegenüber. Sondern u m gekehrt ist
es im elften J a h r h u n d e r t: gestützt a u f den ersten Sitz der C hristenheit,
auf das apostolische R o m , versuchen die K aiser erst die Ö kum ene, das
Universum zu e ro b e rn !

5. D ie Schande von Sutri


Das ist ein M ißbrauch der geistlichen Gewalt, die dam it einem vor­
christlichen Zw eck, eben d er E ro b e ru n g des Römerreiches sta tt seiner
B eh au p tu n g, dienstbar g e m a ch t w ird. R iß nun diese kaiserliche Gewalt
au ch noch die ö rtlich en Schranken nieder, in deren S ch rein die K irch e
ihre Überw eltlichkeit geborgen h atte, so w ar die Z eit um sonst vergangen
und C hristus hin g w ieder am K reuz. D er K aiser kreuzigte die K irc h e !
9 Rosenstock 129
Dies aber geschah , seit die K aiser ihre deutsche Sippe au f den P ap st­
th ron setzten und so die antike Lokalordnung aller K irch en äm ter sogar
in R om seihst verletzten. Keine W eihe zu Ä m tern ohne titulus, das heißt,
ohne H ervorgehen aus einer bestim m ten K irche, hatte die alte K irch e ge­
lehrt. A ndernw ärts hatten sich die F ü rsten längst darüber hin weggesetzt
und überall ihre H ofleute au f die Bischofssitze entsandt. Aber P etru s D a-
m iani, der g ro ß e Publizist des 1 1 . Ja h rh u n d e rts, hebt hervor, daß eben
wenigstens R o m übrig sei als der einzige letzte H o rt echt kirchlich er
Stiftung, rein überw eltlicher Heiligkeit in einer W e lt von bloßen K önigs­
kirchen. Die M ajestät C hristi schien verletzt, wenn er n u r noch als der
Ju p ite r Capitolinus eines Stam m eskönigs unter vielen m iß b rau ch t w urde.
Schon K arl der G roß e h atte daran gedach t, einen fränkischen P ap st zu
ernennen. A ber es ist erst unter den Sachsen zu diesem Ü b erg riff gekom ­
m en. D er D ruckpunkt w urde gegeben, als 9 9 6 der erste deutsche P ap st
dem B istu m in R o m aufgezw ungen wurde. Als dann 1 0 4 6 , n ich t einmal
in R om , sondern a u f einer Pfalz bei Viterbo, in S u tri H ein rich I I I . zu
G ericht sitzt über seine Stadtpäpste, zwei absetzt und einen dritten be­
stim m t, d a ist der T iefpunkt erreicht. H at denn der K aiser den Heiligen
G eist? N irgends w ar das überliefert. D eshalb gibt es von h ier aus n u r
n och die V ernichtung der gesam ten altkirchlichen F re ih e it oder den Sturz
des K aisers. D enn er h at aus der K aiserrolle in N icäa, wo über dreihun­
d ert B isch öfe anwesend w aren, nun die R olle des städtischen Z w ingherrn
einer einzigen S tad t g e m a ch t; au f ih r aber lastet diese F r o n vogtrolle doch
w ieder m it der ganzen Ü b erm ach t k aiserlicher M ajestät. D er Ü berdruck
steckt in dem M ißbrauch d er „U b iq u itä t“ . An d er Stelle voller R a u m ­
b eh errsch u n g der gesam ten Ökumene steht nun n u r ein w illkürliches
Teilgebiet u n ter dem K aiser. D as entheiligt die G räber der Apostel in
R o m . D as K aisertu m als lokal begrenzte Gewalt ist ein W id e rsp ru ch in
sich. Denn dann d a rf es n ich t m eh r h e iß e n : Gebet dem Einen K aiser, was
des K aisers ist, und G ott, d em H errn und seinem R eich ( = der K irch e ),
was G ottes ist, sondern nun k eh rt sich der S p ru ch um , und es m u ß hei­
ß e n : Gebet den vielen zeitlich en G ew alten, was sie w ert sind. D ann m u ß
also in entsp rechender U m keh r nun in einer rein kirchlichen vom K aiser
n ich t m eh r repräsentierten Ö kum ene das B ed ü rfn is a u f springen, die E in ­
heit au f die Seite der heiligen K irch e G ottes zu verlegen! Und d am it voll­
zieht sich eine kopernikanische D reh u n g vom Zeitüberw inden der K irch e
fo rt hin zu r R aum überw indung nun d u rch die K irch e selbst.
Gebet den K önigen, was der K önige ist, und der E in en heiligen K irch e,
was ih re r ist, das m u ß die neue L e sa rt des G hristusw orts über die M ünze
des K aisers w erden. Die K irch e m u ß einheitliche R au m o rd n u n g w erden,
weil das R e ich uneinheitlich gew orden ist. Die K irch e üb ern im m t das, was
sie bis dahin als G eschenk des R öm erreich es stillschw eigend b e s a ß : Uni­
versalität und K ath olizität in eigene R egie. Dies ist die G eburtsstunde des

i3 o
röm ischen K atholizism us. Nun wird der Einheitsnam e der Stadt R om der
Kirche w esentlich! Sie wird R öm ische K irche.
D as K loster Cluny w ar den W e g aus der antiken lokalen K irche in die
neue „katholische“ K irche vorausgegangen. N atürlich m ußte es sich da­
bei au f die W e lt der K löster beschränken. Aber hier h at es das neue revo­
lutionäre Prinzip bereits aufgestellt. Odilo v. Cluny hat die bis dahin ge­
geneinander abgeschlossenen lokalen V erkörperungen des Benediktiner­
klosters überlokal organ isiert. Die K ongregation , die er sch uf, schnitt aus
all den Benediktinerklöstern in der gesam ten abendländischen W e lt all die
heraus, die sich seinem Äbtekonvent unterstellten, und daraus erw uchs
der erste V ersuch eines überörtlichen M önchsordens der Cluniazenser.
Die Zisterzienser „ C a rta caritatis“ ist das zweite g ro ß e überlokale S tatu t
der K löster, eine w ahre M agna C h arta geistiger O rganisation, den Schei­
dewänden d er E rd e zum T rotz.
Die letzte „ E n to rtu n g “ des M önchtum s, seine endgültige A breiß ung
vom K loster als dem Sitz d er H eiligkeit, haben bekanntlich am A usgang
des M ittelalters die Jesuiten vollzogen. D as A thoskloster, von dem kein
Mönch einen F u ß in die W e lt hinaus setzt, das selbst so weltlos ist, d aß
kein weibliches G etier d o rt geduldet w ird — — und der w eltum span­
nende, heim atlose Je su it — das G egensatzpaar zeigt die K lu ft zwischen
antiker O rtskirche, die in der Ew igkeit lebt, und rö m isch -k ath olisch er
K irche, die sich katholisch fü r das Ganze der E rd e o rgan isiert. A ber diese
K irche tu t das, weil die E rd e als Ökum ene n u r von der K irch e g erettet
werden kann. D er K a th o lizism u s em pört sich gegen den K a iser, der n ich t
m ehr universal ist. Schon i o 4 8 , zwei J a h r e n ach S u tri, h at ein F ran zose
den Hauptgedanken klar fo rm u lie rt: „E in en einzigen Sprengel soll es im
Raum e der K irche des ganzen Erdk reises fü r die Pap stw ahl geben, so daß
alle B ischöfe persönlich oder sch riftlich teilnehm en können.“ Bis heut
ist dies P ro g ra m m nich t W a h rh e it. A ber seitdem wissen die P äp ste, d aß
ih r W ahlkreis die E rd e ist!
D as K ra ftfe ld d er Papstrevolution ist seit 9 9 6 , und seit 1 0 4 6 end­
gültig, aufgestaut. E h e C hristus zum Ju p ite r Capitolinus einer lokalen Ge­
walt herabsinkt und M ichael zum M ars Thingsus des R eichsheeres der
Salier, ehe d er K aiser als K alif beide S ch w erter schw ingt, eher w ird der
Papst das Unus des K aisertu m s selbst au f sich n e h m e n ; gestützt au f das
ganze Ansehen R o m s, das schon im antiken R o m dem „ Im p e ra to r“ das
B etreten des Stadtinneren verbot, w ird er sta tt des K aisers im Orbis „des
heiligen F o ru m s A m t versehen“ (D ante P a ra d . X X X , 1 4 2 ) , und so die
F re ih eit d er Seelen r e tte n : D er R a u m soll d er Zeitengew alt des Papstes
folgen. Die „ Z e it“ w ird zum R au m der m enschlichen Entw icklung, zur
W eltgesch ich te.

9 * l 3 l
IX . D A S H E I L I G E G R A B U N D D A S G E IS T L IC H E
SC H W ER T

1. Autorität

A
utorität, das ist noch heut das Z auberw ort der päpstlichen Gewalt.
A utorität in L e h r- und K irchen fragen h e iß tH e rrsch a ft und R egieru n g
in der K irch e d er W e l t Salva au ctoritate sedis apostolicae fü g t die neue
K anonessam m lung d er K irch e 11^2 ihren altkirchlichen V orsch riften
hinzu ; „vorbehaltlich d er A uctoritas des apostolischen Stuh ls“ . F ü r den
gläubigen K atholiken ist das W o r t A u torität ein W o r t voll in n erster E h r ­
erbietung. W ie k o m m t das frem de lateinische W o r t zu diesem K la n g ?
E s ist die W ied erg eb u rt das A m t des heiligen F o ru m s , wie D ante es
genann t h at. Neben dem Im p eriu m vor den M auern R om s, h atte in d er
Antike die Senatus au cto ritas fü r das innere Leben der S tad t gestanden.
D ie rö m isch en P äp ste sind nun n ich t die N ach fo lg er d er röm ischen Im ­
p erato ren g ew o rd en ; als sie das K aiser jo ch abw erfen, erben sie die A uto­
ritä t d er S tad t R o m . Aber allerdings einer urbs R o m a, die zum orbis er­
w eitert ist, einer S tad t m it einem neuen W e ltre ch t und W eltgesetz, der
„u rb s“ als „orb is“ .
D en G edanken kann n u r fassen, w er die V ollm ach t e rrin g t, K lo ster
und K aiser im ganzen U m fan g ih re r bisherigen L eistu n g zu beerben.
D enn K lo ste r und K a ise r sind die einzigen — so haben w ir es im vorigen
A bschnitt gesehen — , denen die G erechtigkeit fü r die W e lt a u f der Seele
brenn t. D ie P äp ste hatten sich m it M ühe und N ot in R o m selbst zu fri­
sten. A ber ein Cluniazenser und ein G erm an e, der M önch H ildebrand,
aus lan g jäh rig em A u fen th alt den K a ise rh o f kennend, besteigt die C athe­
d ra P e tri, d a erd rö h n t die P osau n e des W e ltg e rich ts gleich am ersten
T a g e ; so als ob d er K a ise rth ro n nun in d er K losterzelle stände, so neu
ist d er T on und so gew altig b rich t sich die Stim m e eines W e lth e rrsch e rs,
gew altig wie die eines B erserk ers an den engen vier W än d en des M ön­
ches, des R eligiosu s. So befiehlt diese S tim m e, so k o m m an d iert d er „ D ic-
tatu s P a p a e “ , vom J a h r e 107 5 :
1 . Die rö m isch e K irch e ist n u r von G ott gegrü n d et.
2 . N u r d e r röm isch e O berp riester heißt m it R e ch t ökum enisch.
3 . N u r e r allein kann B isch öfe absetzen oder begnadigen.
4 . Sein B o tsch a fte r g e h t allen B isch öfen au f dem Konzil v oran , au ch
wenn er einen niedreren W e ih e g ra d h a t als sie.
5. D er Papst kann Abwesende absetzen.
7 . N ur er allein kann n ach L a g e der U m ständ e neue G esetze geben*
neue Gemeinden gründen , S tifte r zu K lö stern m achen, ein reiches
Bistum teilen und notleidende verschm elzen. ■>
8 . E r allein darf die kaiserlichen Abzeichen tragen .
9 . N ur des Pap stes F ü ß e sollen alle F ü rsten küssen.
10. N ur sein N am e m uß in den K irchen in der F ü rb itte verlesen wer­
den.
1 1 . Papst ist ein einzigartiger N am e in der W elt.
1 2 . E r d a rf K aiser absetzen.
1 3 . E r d arf von Sitz zu Sitz falls nötig B isch öfe versetzen.
i4 - Von jed er K irche, wohin er will, d a rf er Geistliche weihen.
1 6 . K ein Konzil d a rf ohne sein G eheiß allgem ein heißen.
1 8 . Seine U rteile d a rf niem and aufheben. E r allein d a rf die aller an­
fech ten .
1 7 . K e in Paragraph und k ein G esetzb u ch g ilt als kanonisch ohne seine
A utorität.
1 9 . N iem and d arf ihn rich ten .
2 2 . Die röm ische K irch e h a t nie g e irrt und wird n ach dem Z eugnis
der Bibel nie irren.
2 3 . D em röm ischen P o n tife x wirken die Verdienste des seligen P etru s
zweifellos die H eiligkeit.
2 5. D er P a p st b rau ch t keine Synode, um B isch öfe zu richten.
2 6 . K atholisch ist nicht, w er nich t einig g eh t m it der röm ischen K irch e.
2 7 . Von G ehorsam gegen den U ngerechten kann er die U ntertanen los­
sp rech en .“
Die F o rm u lieru n g dieses Sch riftstü ck es ist dam als n ich t n ach außen
gedrungen. A ber das R egim en t des P ap stes vollzieht sich n och heut in
scrinio pectoris. Im Schrein seiner B ru st. In petto sa g t m an d ah er heu t
noch allgem ein von etw as, das m an ins Innere seiner B ru st verschließt.
B eim P a p st aber h a t das in p etto rech tlich e W irk u n g . E r k reiert z. B . die
K ardinale zuerst in petto. Und doch ist d am it schon etwas W irk lich es ge­
schehen. So ist au ch dieser D ictatu s P ap ae selbst die Revolution. Denn es
gibt fü r den U n feh lbaren keine bloßen Gedanken über sein A m t. W o er
denkt, denkt er rich tig . Und der rich tig e Gedanke ist eine T a t. D er D io-
tatus P ap ae ist E n tsch lu ß und E n tsch eid u n g d er A u torität, allerdings in
petto. Die erste R evolution des Abendlandes ist im Innern eines Men­
schen ausgeb roch en.
D er D ictatus P ap ae enthält denn au ch nichts, w as n ich t seitdem von
den Päpsten ins W e rk gesetzt w orden ist. D ie K aiser halten seine Steig­
hügel, die F ü rste n küssen seine F ü ß e , die Konzilien w arten a u f seine
A utorität. U nd fa st jeder Satz aus dem D iktat ist schon in den nächsten
Ja h re n von G reg o r ö ffen tlich verfochten w orden. N och heut steht im
Römischen B rev ier am 12. März, d aß er die Völker von ih re r T reue ge­
gen die F ü rste n losgesprochen habe. U nd noch K aiser Jo sep h II. h at des­
halb befohlen, a m E n d e des 1 8 . Ja h rh u n d e rts, beim Beten dieses B r e -
viers in den ö sterreich isch en K löstern m üsse diese Stelle überklebt se in !

i 33
In diesem Anspruch, den G ehorsam aufzuheben, steckt j a nur das
Unrecht jed er Revolution, von sich aus einen neuen R echtsgrund zu sch af­
fen und m it allen vorhergehenden R echtsgrundlagen zu brechen. Eben
dieser Satz ist also Voraussetzung fü r alles Vorhergehende, fü r das m ate­
rielle P ro g ra m m des D ictatus. Man s ie h t; es ist von A nfang bis zu
E n d e : O rganisation. Die O rganisation der gesam ten K irche des Erdkreises
d u rch den P a p st der Stad t R o m ist das Ziel. D er D ictatus P ap ae m ach t
den röm ischen P a p st zum einzigen Z usam m en h alter der Ökumene. E r
ist es, d u rch den die lokale Gebundenheit der K irch e m it einem Schlage
verschwinden soll.
Alle Prob lem e, die der D ruck des K aisers a u f R o m aufw arf, hier sind
sie gelöst. D er A u torität des P ap stes entsp rin gt das W e ltre ch t, n ich t
dem Schw erte des K aisers.
D eshalb lau tet d er erste S a tz : „D ie röm isch e K irch e ist n u r von G ott
g eg rü n d et.“ E in e B an alität, wie es zunächst scheint. Alle K irch en können
dasselbe sagen, d aß sie von G ott gegrü n d et seien. A ndererseits galten
doch im besonderen die Apostel P e tru s und P au lu s als die G ründer d er
G em einde in ä u ß erlich er Beziehung. Aber das m ein t G reg o r nich t. Son­
dern er m e in t: A uch der P rim a t R om s soll m it keiner w eltlichen Ord­
nung d er D inge zu tun h a b e n ! R o m soll also n ich t die K irch e der ersten
S tad t des röm isch en R eich s sein. Denn dann verdankte sie dem weltlichen
Sch w ert ih re eigene R olle, so wie alle K irch en im 1 1 . Ja h rh u n d e rt als
E ig en tu m und E ig en k irch e ih re r weltlichen S tifter g a lte n ! „ G o tt“ h eiß t
also in dem S a tz : ohne jed e A bhängigkeit oder R ü ck sich t au f irgendeine
w eltliche O rdnung d er D inge, von G eistlichen fü r G eistliche allein ist die
K irch e R o m s in d er K r a f t ih re r übergeordneten A u torität, n ich t weil die
K aiser in R o m h errsch en . E in e ungeheure V erschiebung des N am ens
G ottes vollzieht sich, die w ir bald noch besser verstehen w erden. D as
K aiseram t des C äsar Augustus d a rf nich ts fü r das R e ch t der R öm ischen
K irch e bedeuten. Sonst w äre sie j a n ich ts als ein Abglanz d er irdischen
W e lth e rrsch a ft R o m s, denn A ugustus ist ä lter als P e tr u s ! Solange R om
die H au p tstad t des Im p eriu m s ist, setzt R o m s Im p e ra to r R om s A u torität
du rch . Je tz t, 1 0 7 6 , soll d er P a p st selbst ohne den K aiser die Ö kum ene
Paulus verantw orten. O tto I I I . w ar d er N ach fo lg er des M issionsapostels P a u ­
lus, G rego r V II. lä ß t nun überall neben P etru s auch Pau lu s ihn, den
P a p st, au to risieren . W e n ig e M onate n ach seiner Stuhlbesteigung h at G re­
g o r V II. die K irch e P o rticu s G allae in R om gew eiht. Von d e r Skulptur
darin sagt der K ardinal S c h u s te r: „A uch die beiden K öpfe des P e tru s und
P au lu s zur Seite d er M adonna ch arak terisieren den G eist G rego rs V II.,
d er in seinem energischen R ü ck sto ß fü r die F re ih e it d er K irch e sich
sozusagen m it den beiden A postelfürsten identifizierte und im m er in
ihren N am en und A u torität handelte und sp ra ch .“ G r e g o r s F o rd e ru n g
la u te t: D as geistliche R o m ist au ch m it d er A u torität der W e lth a u p t-

i 34
stadt R om gleich m it versehen, ohne jede Anlehnung an eine weltliche
Ordnung. Deshalb werden seit G regor auf dem Papstsiegel die beiden K öpfe
des Paulus und des P etru s abgebildet. So unscheinbar es aussieht, so ist
doch diese N euerung revolutionär, d aß der P ap st auch in des Völker­
apostels Nam en urkundet. Noch im 1 6 . Ja h rh u n d e rt h at G regors These
ein groß artig es Sym bol erhalten, als das Standbild K aiser M arc Aurels auf
der berühm ten M arc Aurelsäule in R o m du rch ein Standbild des Apostels
Paulus ersetzt wurde. S tatt der Heidenkaiser autorisiert der Völkerapostel
Paulus die W eltraum organisation des B ischofs von R om .
Die O rganisation, die der P a p st b rau ch t, um des K aisers sich zu e r ­
wehren, ist nirgends da. G regor V II. m u ß sie aus dem Boden stam pfen.
A uctoritate S an cti P e tri verbietet er also jed em verheirateten P rie ste r,
Diakon und Subdiakon irgendw o in der W e lt — au f die B isch öfe ist kein
Verlaß — das B etreten der K irch en . Sie sind ih m nich t v e rh eiratet; des
geweihten P riesters E h e ist H u rerei (fo m ic a tio ).
D er Z ölibat allein kann Sippen- und Stam m esinteressen zerschneiden.
In einer städtischen und befriedeten W e lt, in der antiken P olis ist der
verheiratete P rieste r keine G efahr. Aus einer W e lt der B lu trach e und d er
Kinderverlöbnissc gilt es erst einen K lerus herauszuschlagen und heraus­
zuläutern.
Die im m er g efo rd erte, nun aber a u ch d u rch g efü h rte Ehelosigkeit der
Geistlichen ist d ah er die G rundlage fü r das E n tstehen eines geistlichen
Priesterstan d es in der abendländischen W e lt.

2. Das geistliche Schwert


Aus dem P rie ste r der alten K irch e w ird d u rch die Papstrevolution d er
Geistliche. D azu verbündet sich d er P a p st m it den H erzogen und G rafen
von Schw aben, F lan d ern , Z äh rin gen , M öm pelgard, Ö sterreich und T u s-
cien und erlaubt ihnen, die ungehorsam en P rie ste r und P rälaten zu ver­
jagen. E in e E rlau b n is, welche die F ü rste n erst zu L u th e rs Zeit voll aus­
genutzt hab en! D as ungeheuere V orhaben G regors w ar eben, aus dem
papierenen P ro g ra m m T atsach en zu m achen. Je d e r R evolutionär muß
sich dazu m it Bundesgenossen einlassen, vor denen ih m sp äter g ra u t.
In G regors B u n d m it den Vasallen des K aisers liegt der wunde P u n k t
seiner R evolution. A ber ih m verdankt e r die S ch ö p fu n g einer „G eistlich­
keit“ . E r s t als Geistliche, d. h. als Z ölibatäre, treten sie in R eih und Glied
des K irchenheeres, das nun die W eltk irch e organisieren soll und das m it
einem neuen W o r t fo rtan gladius spiritualis, das geistliche Schw ert,
heißt. N u r d er geweihte ehelose P rie ste r g eh ö rt zu diesem geistlichen
Heer. K ein L a ie bildet m it die K irch e. „ E cc le sia “ h e iß t n u r der „Kle­
rus“ w ird n u n m eh r neu g eleh rt. W e r n ich t K leru s ist, der g eh ö rt zum
populus C h ristian u s, zu d e r von d er K irch e geleiteten C hristenheit. Der
populus ch ristian u s seinerseits m ag u n ter Königen oder K aisern stehen,

. ' i 35
so g eh ö rt er doch m itsam t seinen F ü h re rn zum tem poralis gladius, dem
vergänglichen Schwert der Geistlichkeit.
Dies ist die g ro ß e L e h re von den zwei Schw ertern, die n ich t älter ist
als die Pap strevolu tion , sondern ih r eigentliches populäres Schlagw ort
gew orden ist. „Zw ei Sch w erter ließ G ott im E rd en reich , das eine dem
P ap st, das andere dem K aiser, zu beschirm en die C hristen h eit.“ In dieser
F assu n g zitieren ihn au ch die K aiserlichen schon hu ndert J a h r e sp äter
ohne W id e rre d e . Aber au ch in dieser F a ssu n g ist der Satz schlechthin
revolutionär und w äre vor 1 0 7 5 g a r n ich t verstanden w orden. Denn
er setzt in dem alten W o r t Gebet dem K aiser, was des K aisers, und G ott,
was G ottes ist, den P a p st je tz t an die Stelle G ottes.
D as Jesu sw o rt bedeutete in der alten Ö kum ene: E in K aiser, viele T rä ­
g e r des Geistes, viele P rie ste r G ottes. In der neuen W eltzeit bedeutet die
Z w eisch w erterlehre: E in P ap st, viele K önige. D as U nus (canon 1 1 des
D ik tats), das A m t des Z u sam m en h alters, ist au f den P a p st ü b ergegan ­
gen (vgl. dagegen S. ^2 des vorigen A bschnitts). G regor V II. um geht
im m er w ieder in seinen B riefen jede A useinandersetzung zwischen K aiser
und P ap st. Sond ern die K önige werden dem P a p st gegenübergestellt. D a
ist dann d er V o rra n g des P ap stes n ich t zw eifelh aft: „V o m W eltbeginn
finden sich in den verschiedenen E rd en reich en R egenten, die heilig wä­
ren , n u r ganz w enige tro tz ih re r unzähligen Vielzahl. Aber an dem einen
einzigen Sitz re g e lm ä ß ig e r P o n tificesfo lg e, in R o m zählt m an von P e tru s
dem seligen A postel fa s t einhu ndert u n ter die „vorzüglichsten H eiligen“ .
D as S acrale ist abgestreift von K aiser und Im p eriu m . D as „U n icu m n o -
m en “ h a t d er P a p st I
Ja h rh u n d e rte haben über die näh ere A uslegung der Z w eischw erter­
leh re g estritte n . Ob die beiden, K aiser und P a p st, sich verhielten wie
Sonne und M ond, o d er wie T a g und N ach t, o d er wie Seele und Leib. So
h a t es sp äter Innozenz I I I . ( 1 1 9 8 — 1 2 1 6 ) au sg ed rü ck t. O der ob sie
ganz g leich b e re ch tig t nebeneinander ständen — so h at es die kaiserliche
R echtsw issen sch aft a u fg e fa ß t wissen w ollen. Innozenz IV . 1 2 4 6 und
B onifaz V III. i 3 o 2 haben sch ließ lich beide S ch w erter ganz und g a r dem
P a p st in die H and gegeben, so d aß alle K ön ige das w eltliche S ch w ert von
ihm n u r zu r Leihe trü g en . B onifaz glaubt die „U n am san ctam “ , also die
sich tb are E in h e it ganz ohne K a ise r hinstellen zu können, und b rich t
so fo rt — u n te r den S treich en d er F ran zo sen — zu sa m m e n !
A ber K aiserlich e und P äp stlich e dieser Spätzeiten stehen in dieser D e­
batte b ereits a u f dem R echtsb od en d er von G reg o r V II. 107b begon­
nenen Revolution., Indem an die Stelle G ottes und der K irch e das P ap st­
tu m tritt, tr itt je n e revolu tionäre V erfin steru n g ein, die alles K irch en ­
lich t im P a p st verein igt.
Ist bis dahin Je n se its und D iesseits im Abendland d u rch den welten­
richtenden K aiser verknüpft, d er fu rch tb a r rich te t m it H eereszug, W ü -

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stung, G efangenschaft, E ro b eru n g , G erich t und S trafe hiem ieden als den
Gleichnissen des ewigen Todes, der M artern in Hölle und F eg feu er d rü ­
ben, so tritt nun eine ganz veränderte M ittlerschaft h e rv o r: Ein ziviler Civiitä C attoiica
R ich ter, m it vernünftiger, unkriegerischer Gewalt ausgerüstet, bringt die
W e lt n ich t u n ter das grobe G ericht von F e u e r und Schw ert, sondern von
Zehnten und Oblaten, Ablässen und K reuzzugspfennigen, von B u ß en
und W allfah rten . E s ist im antiken G leichnis sozusagen ein urbanes Ge­
rich t des röm ischen F o ru m s und des p ra e to r urbanus, das an die Stelle
der Strafexpeditionen des Im p erators tritt. D er P ap st verfü gt nun über das
W e ltg e ric h t und über das F e g fe u e r. P a p st P asch ajis versprach i i o 5 dem
deutschen K önigssohn ausdrücklich die V ergebung fü r den B ru ch sei­
nes dem V ater geleisteten Treueeides a u ch „ im Jün g sten G er ich t“ !
Die W e lt w ird zivilisiert. Dies ist zweifellos die erste g ro ß e L eistu ng
der neuen W eltk irch e. N ur beschränkte, am W o r t „Zivilisation“ h a f­
tende G eister können die G röß e solch zivilisatorischer T a t verkennen.
Die W e lt w ird eine S ta d t! D e r erste g ro ß e V ersuch, das F estlan d des
zweiten Jah rtau sen d s au f fried lichem W e g e zu organ isieren , ü b erträg t
ganz fo lg erich tig den Gedanken d er antiken Stad tk u ltu r au f das Abend­
land im ganzen.
D ie neuen geistlichen S ch w ertträg er sollen die Soldaten des K aisers
ersetzen. So bekom m en sie eine zivile G erichtsbarkeit au fg eb au t und eine
Sittenpolizei. U nser ganzer Zivilprozeß, unser E h e re ch t, unsere Besitz­
lehre, stam m en au s dem kanonischen R e ch t der K irch e.
D as H im m elsgew ölbe d e r K irch e („ iu s p o li“ h e iß t d a h e r dam als ih r
R ech t) verkleinert sich zum Zivilisationsgew ölbe d er röm ischen O rgan i­
sation des Abendlandes. N och h eu t kann die katholische K u ltu r „Civilta
catto iica“ heißen in dem bekannten Z eitschriftentitel. Civilitas ist älter
als das französische W o r t Z ivilisation!
B ei je d e r R evolution sind die M enschen wie aus allen H im m eln g e ­
rissen. D enn bei je d e r Revolution ist ein Stück H im m el eingefallen und
auf die E rd e g eh o lt w orden, a u ch bei der des P ap stes.
Aber ein Stück H im m el m u ß m it a u f die E rd e , wenn er ‘denn sch on
einstürzt. D ie him m lische M itgift des P ap sttu m s an die abendländische
M enschheit bei ih re r D iesseitsorganisation des Abendlandes als S tad t —
diese M itgift ist d er G riff n ach dem heiligen G rabe.

3. D ie K irche
Jede S tadt in d er alten K irch e bau t ihr H erren h au s au f dem G rab Die Gräber

ihres H eiligen a u f. Ambrosius von M ailand, Bonifaz in F u ld a, P e tru s


und P au lu s in R o m sind die H eiligen dieser O rte, weil ih r G rab h ie r
steht. U nd w elche M ach t das G rab f ü r die W e lto rd n u n g darstellte, sa g t
eine b erü h m te Stelle aus Chrysostomus über das G rab des P au lu s in
Rom (E p ist. ad R o m . Horn. X X X I I ) : „O h, d aß m an m ir g e sta tte , mich ,'
an dem G rabe des Paulus niederzuw erfen, den Staub dieses Leibes zu
schauen, der, indem er fü r uns litt, das ersetzte, was an den Leiden
C hristi m an g elte, den Staub dieses Mundes, der ohne Scheu vor den
Königen gesprochen, und indem er uns zeigte, was Paulus w ar, uns
seinen H errn o ffe n b a rte .“
„A uch den Staub dieses H erzens m öch te ich schauen, eines wirklichen
Weltherzens, das erhabener wie der Himmel, umfassender als das Welt­
all, ebensogut das Herz Christi wie das des Paulus is t. . . Sicherer als
alle Wälle schützt dieser verehrungswürdige Leib, zusammen mit dem
Sankt Peters, die Stadt Rom.“ W enn jetzt, 6 0 0 J a h re nach C hrysostom us,
die C h risten h eit zu E in e r Stad t, E cclesia R o m an a genannt, zusam m en­
w achsen soll u n ter d er A u torität des P ap stes, des N achfolgers P e tri,
dann kann d e r M ittelpunkt dieser neuen W e ltsta d t Ecclesia n u r ein n o ch
ehrw ürdigeres G rab, und das h eiß t das G rab des Erlösers selbst werden.
B is dahin h a tte der Besitz des Heiligen G rabes in Je ru sa le m als B e­
d ingu ng d e r Seligkeit fü r die alten Christen n ich t zu gelten b rau ch en .
J e tz t w ird das an d ers.
D enn d er B esitz des H eiligen G rabes ist n u n m eh r erst die Besiege­
lung d er A nsprüche des P ap stes. Die R evolution G regors V II. h a t zw ar
au ch sch on den R u f der späteren italienischen Revolution erh o b en : „ B e ­
fre iu n g d er K irch e “ .
A ber um 1 1 0 0 bedeutet dieser R u f B efreiu n g der K irch e n o ch kon­
k re t die G ew innung d er echten U rk irch e fü r „d as neue Je ru sa le m “ ; fü r
die neue W e lt, Civitas, der E cclesia versp rich t d ah er U rban I I . zu O e r -
m o n t i o g 5 : „ W e r aus re in e r F rö m m ig k e it ohne G ier n ach E h re und
Geld zu r Befreiung der Kirche Gottes n a ch Je ru sa le m zieht, dem w ird
dieser Z u g als volle B u ß e a n g e re ch n e t.“ D eine eigentliche K irch e, C hrist,
die K irch e d ein er H eim atgem eind e ist das G rab in Je ru sa le m . G eh aus
deinem L an d e in die F re m d e — P e re g rin u s, unser W o r t Pilger — , so
kom m st du erst in deinen F rie d e n . B e fre iu n g der K irch e G ottes h e iß t
dam als B efre iu n g ih re s M ittelpunktes, des heiligen G rabes.
N icht von R om aus, sondern au f zwei Synoden drauß en im Abend­
land h at der P a p st die K re u z fa h rt verkündet. Als er, selbst F ra n z o se ,
in C lerm on t am 2 5 . N ovem ber i o g 5 in rie sig e r V ersam m lung die frä n ­
kische R itte rsch a ft a u frie f, d a senkte sich der neue Schw erpunkt in die
H erzen d e r M enschen, die neue, beherrschende M itte, die nun alles a n
sich zog. D ieu le volt! G ott will es! ist der berüh m te R u f, der die W ie ­
d erg eb u rt d e r antiken K irch e zu r O rdnung d er m ittelalterlich en Öku­
m ene ein läu tet.

4. D ie Kreuzzüge
D ieser R u f h a t die R itte rsch a ft am 1 5. J u li 1 0 9 9 n ach Je ru sa le m ge­
fü h rt. Ih r F ü h r e r , G o ttfrie d von B ouillon, re v o lu tio n iert von d e r n eu en
W eltord n u n g, verw eigerte, den K önigstitel anzunehm en. S ch räg nu r zur
H e rrsch aft des G rab esherrsch ers, n ich t selbst im M ittelpunkt sollten die
F ü rsten dieser W e lt ste h e n ; wenn wir es m it der heutigen L a g e verglei­
chen wollen, so wie das M ilitär h eu t der Zivilgewalt un tersteh t und diese
voran geh t, so sollte das V erhältnis von K lerus und F ü rsten sein. In die­
sem Sinne nannte sich G ottfried n u r B esch ützer des Heiligen G rabes, weil
der K ön ig vom G rab aus h e rrsch t.
D am it wird dem Abendland d e r g ro ß e G egenstand einer zweiten W e lt
des M orgenlandes vor Augen gestellt, in deren Zurückgew innung, re cu -
peratio, sie auch ih re eigene O rdnung vollenden könne. Am M orgenland
hing nun des Abendlandes eigene H o ffn u n g w irklich überlokaler Ge­
sittung.
Sieben K reuzzü ge zählt m an , die im m er w ieder diesem Ziele galten.
K aiser und K önige des Abendlandes m u ß ten sich diesem P ro g ra m m an­
passen. S o wie h e u t fü r jeden S ta a t Sozialpolitik d er Schw erpunkt d er
T ätigkeit ist, so la g der Schw erpunkt a ller S taatstätigkeit dam als in der
K reuzzugspolitik. U m den K reu zzu g g ru p p ierte sich alles andere. Am
K reuzzug sind drei d eu tsch e K aiser zugrunde g e g a n g e n : F rie d rich I .,
H einrich V I. und F rie d ric h I I. Aus d em K reuzzu g ist F ra n k re ich s Z ug
n ach Tunis und A lgier gew orden und d er Z u g des D eutschen O rdens in
das B altik u m . K reuzzu gsbegeisteru ng h a t die M auren und Spanier ver­
trieben. U nd im G leichnis haben die K reuzzüge bekanntlich n o ch den
A m erikanern zum E in tritt in den W e ltk rie g gegen D eutschland und
Ö sterreich eine w irksam e und fü r uns verhängnisvolle B eg eisteru n g ein­
g eflö ß t.
„ Z e ita lte r d er K reu zzü ge“ oder „ d e r erste K reu zzu g “ ist d ah er m it
R echt d er h äu fig ste N am e fü r die erste europäische Revolution gew orden,
fü r die des P ap stes. A ber trotzd em ist der erste K reuzzu g selbst n u r Aus­
dru ck sform der P ap strevolu tion . D enn es ist d er P a p st, der von allen den
K reuzzug fo rd e rt. Z u r Z e it und zu r U nzeit h at seit G reg o r V II. je d e r
P ap st, selbst n o ch d e r R enaissan cepapst P iu s I I ., von allen F ü rste n sei­
ner Z eit g e fo rd e rt, d aß sie das K reuz n ä h m e n !
D er K reuzzu g b ietet dem P a p st die erste M öglichkeit, sich zu einem
gew altsam en U m stu rz d e r W e lto rd n u n g offen zu bekennen!
Die R evolutionsideologie d er ersten europäischen Ja h rh u n d e rte konnte
K reuzzugsideologie sein, weil die K reuzzü ge selbst eine Revolution d a r­
stellen.
Sie sind dies in d op p elter H in sich t: sozial und politisch. Sozial haben
die K reuzzü ge d en christlich en Adel des Abendlandes ersch affen .
Aus den K n ech ten und M annen d er K önige und F ü rste n , aus unfreiem
Gesinde und D ienstm annen vieler S tam m esb aro h e und Glans strö m te
ein einheitliches A u fg eb o t zusam m en u n ter der F a h n e des K reuzes. D er
K reuzzug w irft eine neue F a h n e a u f, vor d er auch des R eiches S tu rm -
fahne verblassen m u ß . M ichaels eigener Nam e bedeutet j a : „Q uis ut
d e u s?“ W e r ist wie G o tt? In der T a t: Selbst der Allerseelengeleiter Mi­
chael ist schw ächer als d er O stersieger selber. Je su s ist der P a tro n der
ersten Revolution des Abendlandes. Und so kann er der H eliand, der
H erzog all des G esindes w erden, das d u rch ihn geadelt wird.
3 D er gesam te D ienstadel in E u ro p a , also die gew öhnlichen H errn von
B ism arck und von Bülow , von G reifenstein und R abenklau, stam m en aus
d er U n freih eit. Sie sind ein m ilitärisches P ro le ta ria t, dem H errn im
H ause als Schenk von L im b u rg , T ru ch seß von W ald b u rg , M arschall von
P ap p en h eim au sg eliefert.
Die K reuzzüge um spinnen das T un dieser R itte r m it dem S trahlen­
netze des Glaubens. L ä n g st vor dem P ro le ta ria t d er friedlichen Arbeit
h a t das P ro le ta ria t d er K riegsarb eit den W e g eingeschlagen, den das
kom m unistische M anifest e m p fie h lt: D ie V ereinigung a u f dem K reuzzug
h a t die K n ech te em anzipiert. Aus K nechten ird isch er H erren w urden
die R itter des H e rrn ! D er M ariendienst der abendländischen R itte rsch a ft
is t keine P o se , sondern die selbstverständliche H uldigung vor der neuen
H errin im H au se G o tte s, in das m an nun e in trat. Ü brigens au ch die
W ap p en a u f dem Schild, L e u und L e o p a rd und D rach en kom m en nun
erst im 1 2 . Ja h rh u n d e rt als W irk u n g o rien talisch er Einflüsse a u f und
geben m it d e r Devise den neuen ahnenlosen R ittern ein m äch tig es Selbst-
b ew u ß tsein .
E in e U m w andlung des K rieg es ist die F o lg e . R itte rlich e r B ra u c h ver­
bindet die Ausziehenden und die H eim gek ehrten. D aheim g ew äh rt m an
sich den F rie d e n G o ttes. Die P ilg e r genießen Sicherheit. D er gem einsam e
D ien st im M orgen lan d re fo rm ie rt die K riegssitten des Abendlandes.
F o rta n g ib t es eine; solita honestas p rincip um laudabiliter observata, eine
löblicherw eise von den F ü rs te n eingehaltene „ E h re n sitte ' 4 (K rieg serk lä­
ru n g von 1 / 4 1 7 D eu tsch e R eich stagsak ten V II N r. 2 2 7 ) . E s gibt ein V er-
sippen und V ersch w ägern , B ü rg en fü rein an d er und T urnieren m itein ­
and er d u rch die ganze neue S ta d t E ccle sia hin.
W en n d a h e r L u th e r über vierh und ert J a h r e n a c h ‘dem ersten K reuz­
zug an den ch ristlich en Adel d eu tsch er N ation sein berüh m tes Schreiben
rich tet, so bedenke m an , d aß e r n u r deshalb an ein R itte r„ q u a rtie r“ , an
einen Q uadranten im K reise der abendländischen C hristenheit schreiben
kann, weil die röm ische K irch e diesen christlichen Adel in den K reu z­
zügen zusam m engeschm olzen h a t aus den germ an ischen Sch w ertm agen
der Stäm m e zu einer neuen, unverlierbar christlich en L eg ieru n g .
W o K rie g e sich hinziehen, dahin zieht sich der H andel. D ah er begeg­
net uns „etw as Ä hnliches, wenn au ch weder so ra sch noch so entschie­
den, im B e re ich d e r städtischen Entw icklung. Z um D ank fü r ihren An­
teil an der E ro b e ru n g w urden den Städten überall H andelsniederlassun­
gen b ew illig t. . . Venedig hatte sich in dieser H insich t den G equesem
und Pisanem in Palästina an die Seite gestellt. D er Handel w arf sich m it
M acht auf di« neu erschlossenen orientalischen G egenden; als W elth an ­
del, der er nun wieder war, zog er au ch das außeritalienische Abendland
rückw ärts in seinen K reis. N ach und nach bildete sich eine die Städte des
Abendlandes um fassende gem einsam e Sphäre der m ateriellen Interessen,
und auch die B ü rgersch aften E u ro p as lernten sich als eine zusam m enge­
hörige K orporation betrach ten .“ (L . v. R anke.)
So sind es drei S tän d e: G eistliche, R itte r und Städte, die in der neuen
abendländischen Polis der Pap stkirche eine Einh eit gewinnen. D aß die
K irche eine einzige Stadt sei, dies alte augustinische Bild, ist m it neuem
irdischem Inh alt e rfü llt1.
Die Revolution des Papstes ist d u rch das „V ereinigt e u c h !“ , das sie
diesen Ständen zuruft, die Überwinderin des Festlandraum es gew orden,
so, wie es das „R eich “ nich t hatte träum en können,. — D ie Unw irklich­
keit des W eltreich s im täglichen Leben w ar n u r au f kriegerischer H eer­
fah rt w irklichen Taten des G esam tlebens gew ichen. G ötzenähnliche, rein
lokale O rtskulte, Versinken des K lerus in Sippschaften und W elthänd el,
F o rtd a u e r des Anim ism us und Ahnenkults bei den Stäm m en — die B lu t­
rache ist j a n u r Ausfluß des Ahnenkults — w ären ausgew uchert, weil dem
Schw ert des K aisers das A rbeits- und W irtsch aftsleb en un erreichb ar blieb.
K eine G em einschaft kann ohne einen greifb aren gem einsam en G egen­ Gotik
stand aufleben. D as S ch iff des M ittelm eeres, das die K reu zfah rer gegen
Osten tru g , ist zum Sinnbild der Gotik gew orden. Die gotischen D om e
sind wie eine steinerne gen Osten strebende F lo tte , die sehnsüchtig das
Abendland des Festlandes zu den G estaden d er antiken M eereswelt aus­
rüstet. Sie stehen nich t wie die rom an ischen B auten fest an ih rem O rt,
sondern streben hinau f und hinw eg. Sie bezeugen eben das neue H im ­
melsgewölbe d er christlichen Polis, in die sie hineingebaut werden. M ehr
als der Spitzbogen scheint m ir der W iderw ille gegen die rein lokale B e­
deutung des K irchenbaues das Kennzeichen je n e r B aukunst.
W ie hier sozial, so leistet der K reuzzug ebenso Bedeutendes politisch.
Denn die K irch e gewann sich zu der G eistlichkeit hinzu diesen zweiten
Stand der R itte rsch a ft hinein in die W e lt. D em P a p sttu m verdankt dieser
Adel E h re und F re ih e it. Nie kann er fo rtan ganz unpäpstlich werden in
den K äm pfen des M ittelalters.
Und dam it k eh rt allerdings das P ap sttu m den Spieß um , den die
K aiser au f das H erz der K irch e g erich tet hielten. D ie K aiser aus deut­
schem S tam m hatten die P rie ste r der A ltkirche ern ied rig t zu ihren G uts­
inspektoren und K anzleibeam ten. So tief w aren j a diese P riester gesun­
ken, d aß m an je tz t erst seit G rego r m it Gewalt aus ihnen wieder d u rch
* Ernstn ehm en des Zölibats den neuen Stand d er G eistlichen m achen m u ß .
1 Vgl. die klassische Stelle bei Durandus de Mende, Rationale I, i : „Die Kirche heißt
eine Stadt wegen der Gemeinschaft ihrer Bürger.“

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Aber nun erreicht man gleich mehr: zu dem Klerus hinzu gewinnt man
außerdem aus dem Gesinde der königlichen und adligen F ro n h ö fe in den
Stam m landen geistliche K rieger. W ie vorher die Geistlichen dem K önige
m eh r gedient hatten als dem A ltar, so steht nun dank der K reuzzugsrevo­
lution um gekehrt zu erw arten, daß die K reu zritter den M ariendienst über
den H ofdienst stellen werden.

5. Der neue M ensch


V or dieser U m w ertung aller W e rte erschrecken die Fürsten und K ö­
nige. Ih r innerstes H ausgefüge wird ja nun revolutioniert. Am eigenen
Tisch sitzt der Geist des A u fruh rs. H einrich IY . selbst erlebt an zwei Söh­
nen, daß der Sohn au fsteh t gegen den V ater. H einrich Y . z. B . h a t seinen
V ater au fgeford ert, sich dem Apostolischen V ater zu unterw erfen. Dann
wolle er ih m , dem leiblichen V ater, als leiblicher Sohn gehorchen. N icht
aber, wenn er das verweigere, denn er, H ein rich V ., habe einen V ater im
H im m el, an den er sich m eh r halten m üsse als an den ird isch e n ! Man
sieht, wie die beiden geistlichen V äter in R o m und im H im m el zusam m en­
fallen gegen den leiblichen. Die Zw eischw erterlehre bedeutet also f ü r die
S ch w ertträg er jen er T age etwas h öch st A k u tes; den B efehl, den jede R e­
volution s te llt: D u sollst G ott m eh r gehorchen als den M enschen, ver­
nim m t jed er K n ech t und jed er H e rr, weil in die lokale H ofh örigk eit die
Strahlen vom H o f des H im m elskönigs einbrechen. D ie örtlich e unum ­
schränkte H erren gew alt, die der K aiser unangetastet gelassen h atte, zer­
b rich t d er neue interlokale Gebieter P ap st. N iem and kann zwei H erren
dienen, und so zerb rich t an dem neuen G ehorsam gegen C hristus die alte
H örigkeit. D eshalb also w ar es in den O hren der Zeitgenossen keine B las­
phem ie, daß P ap st und G ott plötzlich z u r D eckung g eb rach t w erden.
Denn d u rch die plötzlich erhöhte Gewalt des P ap stes w urde ein bloß ir­
d ischer leibeigener G ehorsam aufgekün digt zugunsten eines höheren gei­
stigen Gebotes. D eshalb kann ohne Ärgernis fü r die M enge eine uns heute
bedenklich anm utende Ä nderung einsetzen : im N ach fo lg er P e tri wird
näm lich m e h r und m eh r der S tatth a lte r C h risti betont. B eg reiflich . Denn
wessen R egen tsch aft über dem G rab des E rlö se rs die K re u z fa h re r leitet,
d er ist selbst C hristus an M acht gleich. Im m e r m eh r glauben die P äp ste,
n ich t fü r P e tru s, sondern unm ittelbar fü r C hristus selbst sprechen zu d ü r­
fen. Immer m e h r gewinnen sie ab er dam it die H e rrsch a ft über beide
S ch w erter, sowohl das des W elten k aisers, als das des H oh en p riesters
C hristus.
D am it tr itt freilich der P a p st selbst aus aller R ech tso rd n u n g h erau s.
Und er ist in d er T a t ein Souverän, jenseits von G ut und Böse. G leich G re­
g o r ist voller däm onischer W id ersp rü ch e.
G reg o r selbst h a t einem sim onistischen P a p st angehan gen , hatte selbst
vielleicht einen an d eren P a p st zu U n rech t beseitigt, selbst m it dem Pöbel

l( \ 2
in Oberitalien die B ischöfe gedem ütigt, er m u ß te die Norm annen unge­
straft R om plündern lassen, kurz, alle seine F o rd eru n g en hat er auch
preisgeben m üssen im D rang des Schicksals.
Den „h e ilig e n Satan” hat ihn P etru s D am iani genannt und hat dam it
das völlige „A ußersichsein“ Hildebrands geschildert. Derselbe B erserker
steckt in ihm , der sich in unserer Zeit in die Maske des „R evolutionärs“
kaum noch kleiden kann, so entwertet ist auch diese schon.
Ohne diese heilige R aserei ist G regor nich t zu verstehen. Die Heiligkeit
des Teufels ist das Geheimnis jed er Revolution. Eben deshalb stirbt
G regor im E x il und kann erst lange n ach ihm F ried en w erden. Auf­
geschreckt aus aller Sicherheit haben die Zeitgenossen sehr bald das
Papsttum m it der tötenden Satire verhöhnt, seine Heiligen seien „Silber­
ling“ und „G oldling“ . In R om bete m an diese an. Aber bis auf den heuti­
gen T ag Gültigkeit besitzt das Bild des R evolutionärs, das ein kaiserlicher
Ju rist, P etru s Grassus, dam als zeich n et: „U n sere Zeit h at zu allem an­
deren Unglück eine neue M enschenart erzeugt. Sie ist von H altung und
Zucht der bisherigen Zeit ganz verschieden, so daß m an nicht m eh r w eiß,
ist die N atur hier bei der E rsch a ffu n g ab g eirrt oder h at diese M enschen­
art ihren U rsp ru n g g a r n ich t vom Stam m baum der vorhergehenden E p och e
gen om m en ?“
Diese Revolution h at das g ro ß e M aß fü r den R evolutionär au fg erich tet,
das seitdem bei den K undgebungen der K irch e auf fällt und das die K ir­
che zum erstenm al seit G regor V II. 1 9 2 9 au f geo p fert h a t bei d er E r ­
richtung d er Gitta dei V atican o: das M aß des Absoluten.
Keine einzige irdische M aßnahm e, kein Geschenk, kein N achgeben ir ­
gendeiner anderen M acht ist vor dem P ro g ra m m G regors V II. m eh r als
eine A bschlagszahlung. Alles W irk lich e des W eltzustandes w ar zu wenig
im V erhältnis zum D ictatus P ap ae. E in unersättliches, faustisches U n ge­
nügen selbst an den g röß ten E rfo lg e n m u ß ein treten , wenn das Absolute
von einer irdischen Gewalt g efo rd ert w ird. Alle Papstpolitik h at seitdem
etwas betont V orläufiges, unter V orbehalt aller R ech te und A nsprüche des
absoluten P ro g ra m m s. *
Die „verdam m te Bedürfnislosigkeit* ‘ des H ergeb rach ten der A ltkirche
ist dem neuen, abendländischen, röm isch -k ath olisch en R evolutionär un­
bekannt. U nd so tr ä g t er eine unendliche U n sicherheit unter die im fe­
sten H erkom m en lebende Völkerwelt. K eine Revolution stam m t m eh r seit­
dem von der vorhergehenden ab! Je d e gebärdet sich absolut!

6. Das erste Konkordat


Unter dem E in d ru ck dieser U m w älzung haben die deutschen F ü rste n
- den ersten F ried en zwischen K aiser und P a p st verm ittelt. Viele dieser
F ü rsten an der Spitze ih re r S täm m e hatten zuerst ih re Beschw erden ge­
gen den K aiser im B unde m it dem P ap ste du rchzukäm pfen gedacht.
Die Sachsen hatten m it Hilfe des entfernten Papstes den nahen, auf
der H arzburg allzu nahen K aiser absetzen lassen und unter Beistand des
päpstlichen B o tsch afters (L eg aten ) den Schw iegersohn des K aisers er­
hoben. Sie waren also bereit gewesen, das röm ische R eich an die röm ische
K irche zurückfallen zu lassen, von der es j a in gewissem Sinne stam m te.
Aber sie erschraken, als an die Stelle des Papstes die W eltorgan isation der
K irche an sie selbst heranrückte. Und sie rückte h e r a n : In der E m p ö ru n g
gegen den E inen K aiser g riff der P ap st ja über au f alle K önigreiche und
Fürstentümer überhaupt. Schrieb doch G re g o r: „ D er kleinste E x o rz ist
in der K irch e (ein ganz niederer W eih eg rad ) heiße ,G eistlicher Gebieter
(Im p e ra to r!) der Däm onen*. D am it sei er also m e h r als alle weltlichen
Gebieter. Ob K önige, F ü rsten oder K a is e r!“ D as w ar also die G efah r je ­
n er neuen L e h re : Vom Einen P ap st und vielen F ü r s te n !, d aß K lerus und
Dienstm aniien beide den F ü rste n entwachsen m öchten.
Canossa D a w iderstand d er hohe Fü rsten ad el. U m sonst h a t H einrich V. den
eigenen V ater abscheulich verraten und abgesetzt, um zum F ried en mit
dem P ap st zu kom m en. H ein rich V. selbst und die F ü rste n konnten auch
keine andere Politik treiben als vor ihnen H einrich IV ., und so ford erten
au ch sie n u r n och fü r den A ltar dienst der deutschen G eistlichen die Aner­
kennung des P ap stes, hingegen fü r die E in o rd n u n g dieses K önigsklerus
ins R eich und in den F ü rsten tü m ern F ern h a ltu n g eines P ap stkaisertum s.
So h atte es j a auch H einrich IV . gleich anfangs gem eint, als er 1 0 7 6
nach C anossa ging und d o rt drei T age im Schnee vor den M auern des
Schlosses au f die Lossp rech u n g d u rch G rego r V II. w artete. G re g o r V II.
hat sich bei den deutschen F ü rste n ausdrücklich entschuldigt, d a ß er trotz
seines Bündnisses m it ihnen den K aiser vom B ann habe lösen m üssen.
D er K aiser hatte den Priester d e r Seele im P a p st von dem O rg an isato r
d er W eltk irch e einen Augenblick erfo lg reich getren nt. „ D e r B esiegte von
C anossa w ar n ich t d er B ü ß e r, sondern d er R ich te r.“ „A b er in diesem
Augenblick h at d er P a p st Seelengröße gezeigt. U m rech tsch affen zu han­
deln, setzte e r alle seine Pläne aufs Spiel. E r ließ den zähen verschlagenen
D iplom aten zurücktreten hin ter dem P a p st und dem flhristen. D eshalb ist
Canossa seine A potheose.“ (F lie h e .) Je d e R evolution h a t einen solchen
M om ent d er G röß e, des V erzichts a u f die so fortige M acht, weil sie dem
G eist opfern m u ß , der sie treib t. A ber eben dies O pfer zw ingt sie zum
M aß und zum F rie d e n .
A uch d er P ap st m u ß te 1 1 2 2 zum Frieden kom m en, tro tz K reuzzu g
und tro tz d e r E rfo lg e über H ein rich IV .
Denn a u f wie schwanken F ü ß e n stand die R evolu tion ! Als G re g o r a u f­
b rach , da w ar n u r eben d er erste G rund gelegt fü r eine so lch e : D ie P a p st­
wahl in R o m w ar g erad e den H änden des K aisers entwunden. 1 0 5 9 schon
hatte das Decretum N icolai in A usnutzung d e r U nm ündigkeit des rö m i­
schen K aisers die W a h l d er B isch öfe von R o m in die H ände des K a rd i-

i 44
nalskollegium s verlegt, übrigens noch unter W a h ru n g des kaiserlichen
R echtes ( § 4 ) * A ber noch 1 0 7 4 * bei G regors V II. eigener W a h l, w ar es
trotzdem tu m ultuarisch genug zugegangen.
Den K lerus, den G regor V II. brauch te, bibelkundig, sch reib - und lese-
fertige M änner, Streiter m it W o r t und F e d e r — gab es noch kaum . Und
wo gab es denn jenes nu r vom P ap ste abhängige H eer der „geistlichen
Im p erato ren “ , unberührt von der W e lt? Am wenigsten doch in D eutsch­
land : Die deutschen B ischöfe verweigerten dem P ap st 1 1 1 1 den G ehor­
sa m ; dam als sagte H einrich V. dem P ap st zu, keinen E in flu ß au f die
Ä m ter in der K irche zu ford ern . N ur m üßten dann alle K irch en heraus­
geben, was sie seit K arl dem G roßen an weltlichen Ä m tern und E h ren er­
halten h ä tte n ! D as schien den B ischöfen unm öglich. Und d am it w ar d er
K am p f des Papstes gegen die Laieninvestitur als unehrlich erwiesen.
V or allem a b e r : „O rganisation der W e lt als K irch e “ hätte F ried en be­
deuten sollen und m üssen. Im politischen und sozialen Leben ist der
F ried e d er letzte P rü fstein fü r den W e r t der T a t.
A ber nun eroberte nich t n u r H einrich IV . 1 0 8 4 die En gelsb urg. G re­
g o r V II. m u ß te vielm ehr auch m it ansehen, wie sein von ihm zu H ilfe ge­
ru fen er L eh nsm ann, der N orm ann enfürst R ob ert G uiskard, die ewige S tadt
barbarisch plünderte und verwüstete.
Und sein N ach fo lg er, P ap st Paschalis, w urde H einrichs V. G efangener
in der E n gelsb u rg, und n u r U n ru hen in D eutschland erleichterten den
kaiserlichen D ru ck , d er au f ih m lag . K la r grenzte sich ab, was d er P a p st
konnte und was er nich t konnte. E r h atte sich, wie jed er R evolutionär,
übernom m en. Seine „ K u rie “ hatte der P a p st zum höchsten Leh nshof der
C hristenheit an die Stelle d er cu ria des K aisers setzen wollen. D em deut­
schen G egenkönig H erm an n von Salm h atte d er P a p st z. B . den Vasallen­
eid ganz wie R o b ert G uiskard ab g efo rd ert. E r h atte die g ro ß e M arkgräfin
von Toskana v eran laß t, gegen das R eich sleh n srech t ihre G üter dem P ap ste
und seinem L eh n sh o f heim fallen zu lassen. A ber die rö m isch e K u rie h a t
zw ar dem abendländischen L eh n srech t m äch tig e Im pulse gegeben. Je d o ch
m u ß te sie dies R echtsprinzip den K önigen dieser W e lt zur ^Auswertung
überlassen. Die rö m isch e K u rie ist dah er aus einem m it dem K aiser kon­
kurrierenden m ilitärischen L eh n sh of in erster Linie eine zivile Verw al­
tungszentrale gew orden. H ier lag die w irklich originale L eistu ng des
päpstlichen Zentralism us. H ingegen zerfiel ih r P ro g ra m m des weltlichen
L eh n reich s ra sch , als die O h n m ach t des Pap stes vor der kleinsten H eeres­
m a ch t sich o ffen b arte.
W ie hatten die K a ise r d o ch R eich und K irch e gew altig re g ie rt, bevor
G reg o r V I I ., H ildebrandt, die C h ristenheit zerrü ttete. D ie Verdienste d er
„ K aiser fü r die W e lt tra te n w ieder in den V o rd ergru n d bei den M enschen
vor den ungem essenen A nsprüchen des P ap stes. So kam der Ausgleich.
D as K onk ordat von W o rm s , das die „D isco rd ia“ zwischen K aisertu m und

10 Rosenstock i45’
K irch e, wie die Quellen den Investiturstreit nennen, beendet hat, ließ dem
P ap st das, was er allein fordern konnte nach all den Verdiensten der K ai­
ser um die K irch e, — es ließ ihm fa ir play fü r die Zukunft. Man erlaubte
ihm zu zeigen, was eine kaiserlose K irche verm öge. Innerhalb des Im ­
perium s sollte näm lich die W ah l des B ischofs nu r durch Geistliche er­
folgen. Über die R echte des Papstes wurde nicht gesprochen. E in „kö­
nigsfreies“ G eschlecht von Geistlichen konnte also auf w achsen. Ausge­
nom m en von dieser R egelung wurde das K ön igreich der Teutonen. H ier
blieb praktisch der E in flu ß des K önigs m aßgebend.
W äh ren d der P ap st den Abfall der deutschen B isch öfe und F ü rste n von
seiner Sache so sanktionieren m u ß te, zeichnet sich um so sch ärfer ein
Vorzugsland der Papstorganisation ab. Das Gebiet, fü r das der P ap st den
K aiser 1 1 2 2 zurück drängt, w ar im wesentlichen das künftige Italien. E s
ist aber au ß erord en tlich ch arakteristisch, daß dies L an d in W o rm s noch
negativ als „das auß erd eutsche R eich “ bestim m t w orden ist. U nd es ist
ebenso bezeichnend, daß die m oderne G eschichtsforschung diesen Aus­
druck fast im m er übersehen h at, als stände im W o rm se r K onk ordat m it
d ü rren W o rte n D eutschland und „Italien “ . Aber m an brin gt sich um das
Verständnis der Pap strevolution, wenn m an so späte V orstellungen unter­
schiebt. Denn obwohl Italien fo rtan jen er Teil des R eiches w ird, au f den
d er P ap st seine H offnungen setzen m u ß — so ist der Investiturstreit doch
noch ein K am p f p i das R öm ische R eich und keine nationale italienische
E rh eb u n g . In V erw echselung m it späteren Zeiten h a t m an das zw ar o ft
behauptet. Und eine Hetze gegen die N ordländer ist tatsäch lich versucht
w orden. Aber selbst was m an d afü r m eist zitiert, die berühm ten Strophen
des B isch ofs Alphaus von S a le rn o : „N im m des ersten Apostels Schw ert,
P etri glühendes Schw ert zu r H an d ! / B rich die M acht und das U ngestüm
der B a rb a re n ; das alte J o c h / L a ß sie trag en fü r im m e rd a r! . . . R o m von
neuem d u rch dich erh ö h t, / B rin g t d ir schuldigen D a n k !“ usw., selbst
diese Verse erhoffen d och , genau besehen, von G reg o r n u r die U n ter­
jo ch u n g der B arb aren u n ter des antiken R om s W e lth e rrsch a ft.
Von einem italienischen N ationalgefühl o d er von einer T ren n u n g des
R eichs n ach N ationen ist hingegen auch in diesen angeblich nationalisti­
schen Versen keine R ede. Im G egenteil! Und so ist festzustellen, daß
Italien n u r d u rch Subtraktion aus dem M antel des Kaisertums zuerst
h erausgelöst w orden ist. E s ist der Teil des R eichsgebiets, in dem die K ai­
ser den P äp sten nachgeben konnten, ohne selbst zugrunde zu g e h e n ! E s
ist das d er K irch en h oh eit der P äp ste freigegebene L an d , in dem d er P a p st
aus einem E rste n u n ter vielen zum U n icum N om en des D ictatu s P ap ae er­
höh t ist an Stelle der alten R aum einzigkeit des C aesar. D ie L an d e n ö rd ­
lich der Alpen hingegen behielten ihre K önigsk irch e, denn sie allein hielt
die Stäm m e dieses N ord reichs zusam m en.
In Italien konnte nun die K irch e zeigen, was sie verm ochte.

i46
7. Evolution und Revolution
W a s die zivile A u torität verm ag, um Menschen zu kitten und zu binden
als M auersteine einer neuen O rdnung, das hat sie seitdem hier getan. Aber
das schnelle Entgleiten der K reu zritter, das innere V ersagen des Klerus
ließ dafür nur den einen A usw eg: die Schulung.
D as W o rm se r K onkordat fällt deshalb zusam m en m it dem Anbruch des
Jah rh u n d erts der neuen W issen sch aft der „Sch olastik“ . D em ersten An­
sturm der Revolution folgt die Evolution. P ap st und K aiser erziehen sich
um die W ette ihre Truppen fü r den 1 1 2 2 ja nicht entschiedenen K am p f.
Als Schulungsstätten fü r diesen K am p f erstehen B ologna und P aris. Zu den
Doktoren, den ersten H ochschullehrern des werdenden E u ro p a , schwören
Tausende und Zehn tausende, um einexerziert zu werden in das ius poli et
fori, d. h. das R ech t des H im m els und des K aisers. All das, was G re­
g o r V II. gebraucht hätte, um sein P ro g ra m m zu verwirklichen, wird also
jetzt erst geschaffen. W ir erkennen ein G rundgesetz d er europäischen R e­
volutionen in dieser seltsam en R eihenfolge. M an ist nie vorbereitet. D as
Fortissim o d er absoluten F o rd e ru n g verkörp ert der erste T ag der Revo­
lution. D er erste T ag zeigt ihre A llm a ch t. D as sehen w ir in E n glan d bei
K arls I. Aburteilung du rch das U n te rh a u s; beim R astillesturm h errsch t
Paris so unum schränkt wie der Bolschew ism us am 7 . November 1 9 1 7 und
wie G regor V II. am Tage des D ictatus P ap ae, in keinem Augenblick wa­
ren alle deutschen F ü rsten einschließlich des K aisers m eh r fü r L u th e r
und gegen den P a p st, als im April iÖ 2 1 in W o rm s. A ber alles andere
m uß erst kom m en, um diese Revolutionen zu vollstrecken. Alle Revolu­
tionen klagen über den M angel an Schulen, L e h re rn und H ilfsm itteln.
G regor V II. und Gromwell, L u th er und Lenin sind alle hilflos, weil und
solange es an der „einschlägigen“ L ite ra tu r und Schulung fehlt.
Man gestatte uns hier eine grundsätzliche B e m e rk u n g : R evolu tion und
Evolution sind keine sich ausschließenden G röß en so wie m an o ft Revo­
lutionäre und Evolutionisten einander gegenüberstellt. Diese besondere
Bedeutung von Evolution ist ganz jungen D a tu m s; sie stam m t erst aus der
antirevolutionären Philosophie des 1 9 . Ja h rh u n d e rts ! V ielm ehr ist das
m erkw ürdige, bis heut fast unbekannte Gesetz der Revolutionen darin zu
sehen, daß die Revolution zuerst ausb richt und geschieh t und d aß dann
die zähe und entsagungsvolle A rbeit der Evolution n ach fo lg t. E s ist das
eine seltsam e T atsach e, die auch fü r die N aturw issenschaft eine wichtige
Analogie e n th ä lt: auch in der N atu r ist die Entw icklung nicht dasselbe
wie der U rsp ru n g, sondern sie fo lg t dem U rsp ru n g nach . D em U r s p r u n g
der Arten en tsp richt die R evolution. Beides g e h ö rt zu sam m en ! Revo­
lution und Evolution sind beide gleich unentbehrlich im H aushalt des
letzten Jah rtau sen d s gewesen.
Am Ende des Investiturstreites ist also erst fü r die wirksame Revo-?
lutioii das Gebiet abgesteckt, wo die absoluten Ideen werden feste G estalt
annehm en m üssen. D er außerdeutsche Teil des „R eich s“ w ird es sein
m üssen, so viel steht seit 1 1 2 2 fest.
Aber zuerst folgt nun von 1122 bis n 54 die Zeit der leeren Ü ber­
hebung und des grundlosen Ü berm utes der Revolution. D as ist eine P e­
riode, die im m er, wie wir schon wissen, nach dem ersten Fried ensschluß
ein tritt. U nd sie sch lägt um in die Z eit der D em ütigung. Diese dritte P e­
riode tritt ein d u rch F rie d rich I. und H einrich V I., dieser „V erfo lger
und B ed rü ck er der heiligen K irch e“ .
Die Überhebung D er Ü berm ut der Periode von 1 1 2 2 — 1 1 5 7 m u ß d u rch einige B ilder
gekennzeichnet w erden, weil W ich tig es daraus später g efolg t ist. U m
u 4o hatten die P äp ste in R o m ein B ild anbringen la sse n : „ D e r K önig
wird Vasall, der P a p st leiht ihm die K ro n e “ stand d aru n ter.
In Wahrheit w ar folgendes g esch eh en : In dem K am p f m it dem K aiser
hatte G rego r im Süden sich d u rch die N orm annen zu sichern g esu ch t, im
Norden ab er d u rch sein Freundschaftsbündnis m it d er M ark gräfin M a­
thilde. Diese h errsch te nich t n u r in T oskana, sondern auch in B rescia,
F e r r a r a , M antua und M odena. Canossa w ar ihre B u rg . F lo ren z und B o ­
logna, die g ro ß a rtig ste n Städte, lagen in ih rem B ereich . Irn eriu s, der
B eg rü n d er d er R echtsw issenschaft, soll von ih r bei d er B ereitu n g seines
neuen W eg es g e fö rd e rt w orden sein. Sie nun h atte V erbindung m it
den deutschen W elfen angeknüpft und andererseits ih re Lan d e G re­
g o r V II. verm ach t. Diese Schenkung w ar selbst ein Akt d er R evolution,
und die K aiser bestritten wohl m it F u g seine R ech tsk raft. Seit M athilde
1 1 1 5 gestorb en, w aren die G üter verwaist, und K aiser L o th a r, Schw ieger­
vater des regierenden W eifen h erzo g s und K aiser zugleich, t r a f den Aus­
w eg, sich das unentbehrliche Gebiet vom P ap st als Lehen verleihen zu las­
sen, um die faktische M acht dem R eich zu erhalten. D as K o m p ro m iß
ließ die R ech tsfrag e ungelöst. E s war also ein auß erord en tlich es E n t­
gegenkom m en. U n d dies K o m p ro m iß w urde d u rch das B ild a rg ver­
höhnt. D enn das R eich des K aisers selbst schien j a so zum Leh en gew or­
den zu sein. U nd das u n terstrich m an , w ährend sich zwei P äp ste in R o m
um die H e rrsch a ft g estritten hatten, wie denn das Übel zw iespältiger
Papstw ahl seit G regors A u ftreten fa st ch ro n isch gew orden w ar.
Man sieht aber aus dem S treit sch on , w o rau f der K a m p f zw ischen K ai­
ser und P a p st sich nun bereits k o n z e n trie rt: um die K leinode d er Lan de,
belegen zwischen R o m und R eich , um das lom bardisch-toskanische Gebiet.
A ber es w ar n o ch ein v ergifteter K am p f, weil e r zu weit g r if f in die W u r ­
zeln von R e ich und K aisertu m . Leibliche Schw äche zw ingt zu g eistig er
Ü b eran stren gung. D as P ap sttu m überkom pensiert sein militärisches und
« adm inistratives V ersagen d u rch solchen ideologischen H eroism u s.
® Je d o ch wir gewinnen d arau s eine A hnung von dem Selbstgefüh l, das
diese um strittenen L an d sch aften bald erfüllen m u ß te . J e h eftig er der

148
K am p f zwischen P ap st und K aiser, desto m eh r kam es au f sie an ! D er
Stolz d er italienischen K leinstaaten h at hier seine W urzeln . Die Ge­
schichte der W e lt hing von ih rer H altung ab in der Z ukunft!
Ein zweites Bild dieser Überkom pensierung der Schw äche du rch S to lz :
P ap st E u gen I I I . wird von den selbstbewußten R öm ern aus ih rer S tadt
vertrieben. Arnold von B rescia beansprucht die H errsch aft der Stadt. D as
Bündnis G regors V II. m it den norditalienischen städtischen Sekten wird
so den Päpsten heim gezahlt. Denn Arnold v ertrat den radikalsten P r o ­
gram m punkt der Z eit H einrichs I I I ., das w ar die K assierung aller sim o­
nistischen W eihen — „die V erstoßu ng aller unserer V orgänger in die
Hölle“ (oben S. 1 2 1 ) gewesen. Diesen P u n k t hatten die P äp ste fallen lassen
m üssen. Ihn verfechten die Radikalen weiter. Sie verlangen Zusam m enfall
von A m t und W ü rd igk eit. E in Sü nder könne trotz des A m ts nich t das
Heilige wirken. W e il A m t und Leben dasselbe sein sollen, nennen sie sich
die Arm en und die V ollkom m enen; gerade im „R eich “ , das den P äp sten
seit 1 1 2 2 eingeräum t ist, in Lyon und in d e r Lom bardei, treten sie au f.
Arnold rie f die B ü rg e r au f, die G ewalt w ieder zurückzunehm en, die G ott
der heiligen S tad t verliehen habe und die ih r von den P riestern entwendet
sei. E s sind die Linksradikalen d er Papstrevolution, die auftreten.
D araufhin m u ß te der P a p st ach t Ja h re ( 1 1 4 5 — 1 1 5 3 ) d rau ß en , fern
von R om , vor allem in F ra n k re ich , das B r o t d e r V erbannung essen. (E in
V orgeschm ack seines Avignoneser E x ils zw eihundert Ja h r e sp ä te r!)
T rotzdem kom m andierte dieser selbe P a p st fü r einen zweiten K reuzzug
die K önige von F ra n k re ich und von D eutschland so üb erm ü tig, d aß die
devotesten H errsch e r erg rim m ten . D ieser zweite K reuzzu g, von B ern h ard
von Clairvaux und S u ger von St. D enis g e fö rd e rt, h at d u rch seinen M ißer­
folg das Abendland m erklich erkältet und die K ön igreich e E u ro p a s ein-
fü r allem al vor einer ernsthaften A u fop feru n g fü r die Kreuzzugsidee des
P ap sttum s bew ahrt.
Und das dritte B ild : D em P ap ste H adrian IV . lie fe rt K aiser F rie d ­
rich I. 1 1 5 5 den von ihm gefangenen A rnold von B re scia aus.
D er P ap st stand h ier zusam m en m it dem K aiser etwa wie die lu th eri­
schen m it den ältkirchlichen F ü rste n im B au ern k rieg , näm lich fü r die
bestehende O rdnung gegen die S ch w arm geister. E r hatte also U rsach e,
des K aisers Gewalt re c h t zu w erten. D er h och m ü tige M ann ließ Arnold
v. B rescia hängen, aber er quittierte f ü r diese kaiserliche H ilfe m it dem
berühm ten Schreiben von 1 1 6 7 , in dem e r den K aiser als D iener, die
K aiserkrone als Leh en (beneficiu m ) des Pap stes behandelte. Von wem
denn d er K aiser das R $ich habe, wenn n ich t vom P a p s t? frag ten seine
Legaten in naiver Ü b errasch u n g, als sich au f dem R eich stag ungeheure
E m p ö ru n g erhob.
8. Demütigung
H ochm ut kom m t vor dem F a ll, hier wie unter Bonifaz V III. 1 1 5 8
setzt der R ückschlag ein. F ried rich I. schickt die Legaten n ach R om zu­
rü ck ; er verbietet die Appellationen n ach R om an den Päpstlichen Stuhl
ohne seine Erlaubnis. E r organisiert du rch seine berühm te A uthentica
„H abita“ den freien Verkehr der Studenten aus aller W e lt von, in und
nach der g roß en H ochschule in Bologna. E r kontrolliert d u rch straffe O r­
ganisation der wiedergewonnenen B urgund den direkten Verkehr der K urie
m it F ran k re ich und En glan d. E r zerstö rt das m ächtige M ailand als Zei­
chen seiner unbedingten H errsch aft auch in Italien. Die B ischöfe werden
nun seinen w eltlichen V asallen gleich. E r zieht z. B . wie der H err vom
Vasallen bei ihrem Tode das Verm ögen ein, da sie ja ohne eheliche N ach­
kom m en sind (S p o lien rech t). D em R eiche sollte wieder der E rd k reis un­
tertan w erden, hatte der K aiser schon gleich n ach der K rön u n g n ach R om
sagen lassen. U nd als A ntw ort auf das unverschäm te W o r t vom „ L e h e n “ ,
i i 5 7 , nahm B arb aro ssa in den R eichstitel offiziell den Zusatz S acru m
(W eihekaisertu m ) au f, der gew öhnlich m it „H eiliges“ R eich übersetzt
w ird.
E r u n terw arf wieder jene östlichen Gebiete, die ohne das K aiseram t un­
zugänglich bleiben m u ß ten . D er deutsche C h arak ter Schlesiens geht
letzten En des au f K aiser F rie d rich I. zurück. Die M ark B ran d en b u rg
konnte genom m en werden und ist seitdem ebenso wie P o m m e rn deutsch
geblieben. Die W e lt, singt der D ich ter L ig u rin u s, fühlte w ieder einen
R ich ter üb er sich. Und diese W e lt sollte au ch die K irch e um spannen.
1 1 6 0 b erief e r in Pavia ein Konzil aller B isch öfe, aus dem eigenen R eich ,
aus E n glan d , F ra n k re ich , D änem ark und U n garn , um zu entscheiden,
welches der rich tig e P ap st n ach H adrians T od werden so lle! Seitdem gibt
es w ieder zwei P äp ste. D er kaiserliche P a p st m u ß 1 1 6 6 K a rl den G roßen
sprechungin Aachen heilig sprechen. Seitdem steht K a rl am 2 8 . Ja n u a r in den K a -
r n lendem des deutschen Gebietes. R o m h a t diesen Heiligen n ich t anerkannt,
trotzd em ihn so gar G reg o r V II. als heilig angesehen hatte. A ber es h at
bis heut n ich t erreich t, d aß K a rl aus den deutschen und französischen
K alendern verschw unden w äre. E r steht darin bei den K atholiken wie
P ro testan ten D eutschlands bis au f den heutigen T ag . A uf ihn berufen sich
also n och h eu t die beiden deutschen R eligionsparteien gegenüber R o m ,
a u f ihn als den w ahren Z u sam m en h alter der K irch e. K arl ist d er Heilige
der Ghibellinen.
Die B ed rü ck u n g d u rch den K aiser w ar um fassend, aber sie ließ sich
bis ans E n d e n u r d u rch halten in te rrito ria le r H insich t, nich t in k irch lich -
o rgan isatorisch er. Schon 1 1 7 9 konnte P a p st A lexander I I I . im L a te ra n
eine G eneralsynode der gesam ten lateinischen W e lt ab h alten : All die N a­
tionen, die der K aiser 1 1 6 0 vergebens a u f sein Konzil berufen, kam en

i5 o
erst, als der P ap st sie r i e f : Spanier, E n glän der, Iren , Schotten, Orien­
talen, D eutsche, Italiener, Sizilianer. Die W eltkirchenm onarchie des P ap ­
stes w ar, und zwar diesmal m it kaiserlicher Z ustim m ung, da. Auch dies
ist ein wiederkehrendes G esetz: denn die E p och e der P rü fu n g entreißt
keiner europäischen Revolution ihren Sieg ganz. Sondern sie behält das
sine qua non, das was ih r W esen ausm acht, unverlierbar.
An dieser Stelle läß t sich daher schon der E r tr a g des ersten Abschnittes
der Papstrevolution überblicken. E r s t am Ende des 1 2 . Jah rh u n d erts ist
die Evolution dem M axim alprogram m der Revolution nachgekom m en.
E r s t am Ende des zwölften Ja h rh u n d e rts kennt z. B . das P ap sttum
seine Ökumene, sein Gebiet! W ir glauben es heut kaum , es ist aber doch
so, daß m an in R om vorher nich t einm al genaue und zuverlässige K ennt­
nis der Diözesen besaß, die zu R o m sich zählten. E r s t je tz t legt m an L i­
sten an über die Kirchenprovinzen und ihre Zusam m ensetzung. In der
alten K irche hatte jed er B isch o f von F a ll zu F a ll au f den Konzilien sich
d u rch sein selbst verfaßtes Glaubensbekenntnis ausgewiesen. Je tz t findet
diese Legitim ation d u rch R o m statt. Man hält den B estand an K irch en
und K irchen gerech tsam en in der ganzen W e lt evident. Man verzeichnet
die N am en, O rte und A bgaben; die erste Statistik im Abendlande ist die
der H ierarchie. Die den Päpsten untertane Ökumene m u ß eben erst in
dem Augenblick bew ußt und souverän überschaut und statistisch e rfa ß t
werden, sobald m an sich anschickt, sie bew ußt und souverän zu regieren .

9. D ie H ierarchie
Die neue unverlierbare O rdnung der K irch e ist die H ierarchie. Sie be­
ruht auf der H eiligkeit des R an g s, nich t m e h r au f dem W eihew under der
K ra ft wie das W eih ek aisertu m . H ierarch der H ierarch en ist der Heilige
V ater. D er kleinste E x o rz ist ist grundsätzlich vornehm er in ih r als „im ­
p erato r spiritualis“ , denn der m äch tigste F ü r s t der Zeitlichkeit. K ann
m an auch das W o r t Mundus von dem W eltk leru s n ich t m eh r ab w aschen,
so ist doch jetzt die W e lt geteilt in die beiden G efolgschaften des Heili­
gen Geistes und die des Zeitgeistes.
D as ist also nun d er praktische E rfo lg der L eh re vom Gladius T em po­
ralis und Gladius Spiritualis, daß d er Heilige G eist sich n u r n o ch in d er
einen H älfte der W e lt, in d er H ierarch ie, G estalt geben kann, die andere
ist bar der W eih egew alt, sie ist Zeitgeistw elt. T em p o ralia sind die ge­
setzlichen Gewalten über alle irdischen B esitztü m er, G üter, H e rrsch a fte n ;
Spiritualia sind die gesetzlichen Gewalten über das ewige Leben.
Man vergegenw ärtigt sich die T ragw eite dieser neuen R angord nung
am leichtesten an einigen Anw endungsfällen von um fassender W irk u n g
bis heute.
Eindrucksvoll ist die T ren n u n g der S ch w erter in Sachen der E h e . Eherecht
Denn die geschilderte T ren n u n g der beiden Gewalten m u ß fo lg erich tig

i5 i
das» was wir E h erech t nennen» in der Mitte auseinanderschneiden. Sind
doch die E h en zugleich w irtschaftliche und seelische Ereignisse. Und die
K irche hat das getan. D as irdische V erm ögen der Eh egatten , das von dem
sogenannten ehelichen G ü terrech t betreut w ird, blieb dem L an d rech t der
Stämme überlassen. Und das ist so geblieben, solange und soweit das
kirchliche E h e re ch t gilt. Denn das sind Tem poralia.
Hingegen ist das R ech t der Personen , die zur E h e schreiten, d u rch die
Bedingungen geregelt, die der Gladius Spiritualis d afü r a u fste llt: E h e ­
hindernisse und Ehescheidung gehören ins kanonische R ech t. Denn hier
geht es um das Seelenheil der M enschen. D as eheliche P erso n en rech t
wird also aus den Sippen heraus in ein zentrales Z ivilrecht verlegt. D as
kirchliche E h e re ch t ist die erste V erstaatlichung, die der E h e w iderfährt.
Die E h e w ar vorher niem als bei den Stäm m en Sache des K önigs oder d er
staatlichen G esetzgebung, sondern e rst die K irch e, als sie S tad t des Abend­
landes w ird, E cclesia R o m an a im neuen Sinne, kann die einzelne Seele er­
greifen und ih r eheliches Leben zivilisieren — n atü rlich u n ter ungeheuren
K äm pfen. Die K irch e h a t aber au f diesem Gebiete die V erstaatlichu ng der
Christenheit durchgesetzt. N och heut fü h rt der K atholik und d a rf selbst
d er P ro testa n t (F ü r s t P le ß !) seinen Scheidungsprozeß in R o m fü h ren ,
w o im m er e r lebt. F re ilic h h a t die K irch e A bstriche an ih rem A nfangs­
p ro g ram m vornehm en m üssen. Schon 1 2 1 5 m u ß te sie die V erw andt­
schaf tsehe w eniger stren g zu behandeln sich entschließen, das h e iß t: sie
m u ß te ihren K a m p f gegen die Sippen m ildern. A ber das eheliche P e r­
sonenrecht ist bis zum E n d e des 1 9 . Ja h rh u n d e rts K irch en sach e geblie­
ben, das eheliche G ü terrech t aber Stam m essache und O rtsgebrauch. M it­
ten d u rch die E h e schnitt also die E in teilu n g d er beiden Sch w erter hin­
du rch .
Sakram ente Bew undern w ir h ier die L eistu n g , so sehen w ir den P re is, d er d a fü r
gezahlt w orden ist, in der neuen Sak ram entenleh re der K irch e.
D as einzige gew irkte W e rk des K aiserch risten , so hatten w ir gesehen,
ist das W e ltg e rich t. Von der ganzen W e ltg esch ich te h at n u r dies o b je k ­
tive B edeutung. Alles andere vergeht. Die S acra m e n ta bereiten den M en­
schen a u f diese objektive W e lt des G erichts vor. Sie geben ih m dazu die
K r a ft. A uch die W eih e d er K aiser, ih re sakrale Stellung b eru h t au f ih re r
K ra ft. K ra ft ih rer zeitlichen, w eltgeschichtlichen M acht als W e lte n rich te r
wirken sie den sichtbaren Z u sam m en h alt d er K irch e. D eshalb, weil K arl
das W e ltre ich ero b ert h atte, deshalb hatte ih m 8 0 0 die alte K irch e das
K aiseram t anvertrauen m üssen. W e il diese K ra ft G ottes in jed em M en­
schen aufb rech en kann, deshalb k rä ftig t z. B . nach altk irch lich er Überlie­
feru n g a u ch die N ottaufe d u rch einen Laien die Kindesseele, so d a ß sie
den H im m el offen finden kann. D as S ak ram ent ist m ithin d er Bew eis des
Geistes d u rch die K ra ft. W o im m er in ä u ß e rste r N ot solche K raft au f­
springt, d a w ird n ach altk irch lich er A u ffassu ng ein Zeugnis fü r G o tt ab-

ÏÖ2
gelegt und die Zeit damit überwunden, die W e lt erlöst. Die Summe der
Sakram ente waren also die zu n ehm en de W eltüberw indung gewesen, die
W u n d er, in denen das W ach sen der K ra ft des Sohnes über die W e lt ge­
schieht. E s gab so viel Sakram ente als es G otteskräfte gab.
Nun geschieht die Papstrevolution.
Die W eihegew alt des W eltenkaisers und alle ähnliche W e ltk ra ft m u ß
vor der neuen H ierarchie verblassen. Die H ierarchie rich tet sich nicht nach
der wirkenden K ra ft, sondern n ach dem verordneten A m t. Die Exekutive
ist d ah er im m er die schwache Seite d er E cclesia R om an a. Ih re Ä m ter
sind im m er w eiter als ihre K ra ft. Sie h at eben keine w eltoffene zuneh­
mende K ra ft, sondern im m er dieselbe: Des Gladius Spiritualis Heiliger
Geist ist eine Konstante. D ieser Heilige Geist w ird dam it eben der erste
Anwendungsfall dessen, was m it einer gründlichen V eränderung gegen­
über d er alten K irche — seitdem im Abendlande Geist heißt. D er Heilige
Geist d er K irch e erw ächst nich t aus N ot und K ra ft, sondern e r besteht als
logische R angord nung und vernünftige R echtsordnung. E in schönes Bei­
spiel fü r diese E n tn ötigu n g des Geistes ist der Satz 2 5 des D ictatus P ap ae.
Die K irch e d er alten Z eit b rau ch t die begeisternde K ra ft d er körperlichen
B egegnung auf der Synode d er B rü d er, um Beschlüsse zu fassen. In w ich­
tigen F ra g e n g eh t auch der P a p st wie je d er E rzb isch o f au f der „Synode“
seiner Diözese Yor, denn das Konzil ist die S tätte d er B egegnung, au f d er
sich die G eisteskraft in d er K irch e kundtut. Diese B eru fu n g der K rä fte
des Geistes d u rch echte B egegnung p a ß t n ich t zu der neuen W eltzu sam -
m enhaltersch aft, die G regor V II. und die G rego rian er wollen. N icht au f
einer Synode, sondern als H e rr seiner K u rie soll d er P a p st geistige Gewalt
haben über die K irch e der W e lt. Deswegen streich t Satz 2 5 die M itwir­
kung des Konzils aus und lä ß t den G eist dem einsam en P a p st auch f ü r
die H andlungen der lebendigen G eistesgew alt, wie es die Absetzung eines
B ischofs ist. D as unscheinbare W o r t „ohne Synode“ h at eine R evolution
zum Inhalt hinsichtlich dessen, was Geist sei. D er Geist h at d am it seinen
Zusam m enhang m it „B eg eisteru n g “ , m it En th usiasm us, aufgegeben. D ie
revolutionäre B egeisterung des P ap stm ö n ch s w ogte wohl stärk er als die
Begeisterung d er altkirchlichen V äterversam m lun g. U nd G reg o r V II.
brauchte so die Schw ächung des Geistes n ich t zu fü rch te n . A ber das In ­
stitut des P ap sttu m s konnte n atü rlich das F e u e r des R evolutionärs nicht
gleich stark bew ahren. J e fe u rig e r d er R evolutionär, desto pedantischer
pflegen seine E rb en zu w erden. Die alte K irch e h atte deshalb wohlweis­
lich die B egeisteru n g sich im m er neu entzünden lassen wollen. Die P ap st­
revolution n im m t davon Abstand. D ie einm alige Begeisterung des Revo­
lu tionsp rogram m s ist kodifiziert w orden. F ü r das absolute R egieru n gs-
Brecht des Pap stes — der heu t jeden B isch o f und P f a r r e r au f der W e lt
am ovieren kann — w ird so d er B oden g esch affen . So ist es allen R evo­
lu tionsp rogram m en in E u ro p a ergan gen . M an denke an L u th e r und die

i 53
L u th eran er, an M arx und die M arxisten. D er „G eist“ der Revolutionen
des zweiten Jahrtau sen d s ist ein grundlegend anderer als der Heilige Geist
d er alten K irche. E r ist p o litisch -p ro g ram m atisch ! E r ist Geist des D ies­
seits und sch afft im Diesseits O rdnung. Aber die sch a fft er in einer
unordentlichen W e lt auch gründlich. Jed e Revolution h at — anders als
der Heilige G eist der alten K irche — weltliche O rdnung schaffen m üssen.
Im 1 2 . Ja h rh u n d e rt wird daher die Z ahl der Sakram ente festgelegt. Denn
man b rauch t nun nicht m ehr unbegrenzte W eih ek raft. Sieben Sakram ente
gibt es fo rtan , die im m er w iederkehren: T aufe, F irm u n g , Abendm ahl,
B uß e und letzte Ölung, E h e oder Priesterw eihe ordnen das Ghristenleben
und legitim ieren den B ü rg e r der neuen W e ltstad t der E cclesia R om an a als
geordneten „korrekten“ M enschen. 1 2 1 5 wird jedem C hristen die O ster­
beichte zur P flich t gem ach t. Auf diese W eise h a t später der S taat au f
die C hristen als Abendm ahlsbesucher alljährlich m it Sich erh eit greifen
können, wenn er sie besteuern wollte. So kann m an ohne Ü bertreibung
sagen, daß aus den sieben Sakram enten das gesam te bü rgerliche W esen
des m odernen Staatsb ü rgers entstanden ist. Die T a u f- und B eerdigungs­
reg ister wurden die ersten G eburts- und Sterbestatistiken. Die Vollziehung
der E h e vor einem P riester (sta tt d u rch das B ra u tp a a r und seine B lu ts­
freunde noch im Nibelungenliede von 1 1 8 0 !) sch a fft den ersten Standes­
beam ten, die Priesterw eihe den ersten B e ru f im m odernen Sinne, die
F irm u n g bereitet die Schulentlassung vor. D e r O sterbeichte en tstam m t
die jäh rlich e Steuererklärung un serer Schulden an den S taat.
Jed es dieser Sakram ente h a t selbstverständlich eine altkirchliche Seite
bewahren m ü sse n : die N ottaufe d u rch den L aien , die passive R olle des
katholischen Geistlichen bei der E h esch ließ u n g — wie sie M anzonis be­
rü h m ter R om an P rom essi Sposi verw ertet — , der c h a ra cte r indelebilis
des P riesterb eru fs, die B esch rän kun g d er F irm g e w a lt au f den B isch of
— das sind alles altkirchliche E lem en te. Sie verkörpern die Himmels­
kraft, die d er W e lt ein neues Antlitz zu geben verm ag.
Aber jen e E lem ente in E h re n — die objektive geistige O rdnung des
Diesseits soll geleistet w erden. A uch wenn die K r a f t fehlt, ist wenigstens
die O rdnung da.
Deshalb kreist die Theologie des 1 2 . und 1 3 . Ja h rh u n d e rts um die
opus operatum F ra g e n des opus operatum , d. h. der objektiven Wirklichkeit des M undus,
soweit e r K irche ist. N icht n u r das Weltgericht ist nun die H eilsgeschichte.
Nein, au ch die W eltk irch e leb t zw ar bloß W eltg esch ich te, aber diese gerade
ist au ch H eilsgeschichte. D as erste K apitel dessen, was w ir h eu t wie selbst­
verständlich „ W e ltg e sch ich te “ nennen, w ird dam it der bösen F rau
„ W e rld e “ abgew önnen. Sie ist also nicht unter dem Gerichtl Ih r H eiliger
Geist w irkt a u ch im D iesseits Bleibendes. Diese neue geistw irkliche W e lt
kreist dah er um das „O bjektive“ in den Sak ram enten und in d e r K irch e.
Die H ostie, die w irklich V ergebung wirkt, ist das K e rn - und H auptstück

1 54
dieser Ecclesia R om ana. H ier ist der Punkt, an dem sie nicht rütteln las­
sen kann. Die radikale A rm utsström ung verlangte subjektive Ergänzun g
des objektiven Am tes. E s ist in geistlichem Gewande der g roß e S treit um
die W irk u n g des „fehlerhaften Staatsakts“ , der dam als zuerst entbrannt
ist. Die K irch e blieb hier gegen die „ A rm u t“ von Links unerbittlich. Ihre
K ontinuität hing ja an dem D ogm a ih re r Identität m it d er vorkaiserlichen,
vorfränkischen P ap stk irch e! Diese G efahr zwang die K irche zu einer bru­
talen G rausam keit gegen die P arteig än g er der „ A rm u t“ . Christus ist nicht
nu r gegenw ärtig, um K ra ft fü r das Jen seits zu geben. N icht nu r d er H im ­
m el ist d u rch ihn geöffnet. C hrist ist gegenw ärtig in einem objektiv ge­
ordneten Diesseits. So verbürgt es sein S tatth alter auf E rd en , der Pap st.
Christus ist im m er auf Seiten der Pap stkirche. Denn n u r sie ist inner­
halb der „ W e lt“ objektiv, und objektiv h eiß t au f aben dländisch: „n ich t
von dieser W e lt“ . „N icht von dieser W e lt“ , h eiß t aber w eiter au f latei­
nisch-kirchlich : „heilig“ . Objektiv ist nu r das H eilige. Die K irche ist also
heilig, au ch wenn sie Völker und L än d er reg iert, deshalb, weil sie objek­
tive O rdnungen hat, kennt und verw ertet. Man bew undert in dieser roh en ,
willkürlichen Feudalw elt die Zivilverwaltung und das geschriebene R ech t.
Und weil die K irch e diesen neuen G eist des Objektiven verkörperte, so
setzte m an heilig und objektiv gleich und nannte auch die päpstliche B ü ­
rok ratie H ierarch ie.
D ieser neue Geist der H ierarchie kann also „ W e rk e “ , d. h. ins W e lt­
gericht wirkende Akte, n u r au f der einen Seite der W e lt, au f der k irch ­
lichen, au f stellen. Denn auf der zeitlichen Seite h errsch t j a W illk ü r und
Unwirklichkeit. Die geistliche Gewalt ist das L ich t, die zeitliche die F a r ­
ben, sagt um i 3 o o Jak o b von V iterbo. Alle „ W e rk e “ des M ittelalters sind
daher notgedrungen kirchliche W e rk e . Die sogenannte W erkheiligkeit des
Katholiken entspringt dem U m stand , d aß üb erh aupt n u r d u rch heilige
W erk e, n äm lich kirchliche W e rk e , „ W e rk e “ , d. h. sinnvolle und bleibende
W irkungen erzielt werden können.
Alles ist in Ordnung in der Kirche. Alles ist in Unordnung in der Welt.
Das ist die V oraussetzung. Auf dieser G rundlage kann alles bewiesen w er­
den. Die Technik dieses neuen Geistes ist die Scholastische M ethode.
Auf der Seite d er K irch e m üssen sich also alle scheinbaren W id ersp rü ch e
aufklären lassen. D as erste G esetzbuch der K irch e von 1 1 ^ 2 h eiß t daher
C oncordia discordan tium , au f deutsch Eintracht aller zwieträchtigen B e­
stim m ungen des kirchlichen Lebens. In ihm w ird ein Ja h rta u se n d des
W ach stu m s der W eihegew alten nun n ach träg lich harm onisiert und syste­
m atisiert. Dasselbe, w ird fü r die K irch en v äter usw. in anderen W erken
geleistet. Die übrige W e lt h än g t a u ch w eiterhin n u r an einem einzigen
Punkte m it dieser vernünftigen W e lt zusam m en, an C hristus. Sie ist also
nu r wegen ih re r Beziehung a u f ihn interessant, als W underw elt. Die
M irabilia M undi sind u n ter den S ch riften des M ittelalters das G egenstück

i 55
zur Su m m a Theologiae. Die W elt ist, soweit sie imerlöst ist, ein H exen­
kessel, soweit ein Strahl Gottes sie berü h rt, ein W underknäuel. Die m ittel­
alterliche Chronik (chronicon heißt w ö rtlich : Zeitbuch) ist W u n d er Zei­
tung, Erzäh lu n g aller m erkw ürdigen, wunderbaren und höch st erschreck­
lichen M oritaten im V erlaufe der Zeiten, der H ungersnöte, Frostperioden,
Feuersbrünste und Erdbeben, in denen G ottes Z orn fühlbar w ird. D iese
W e lt ist eben au ch w eiter unter dem Gericht, n u r die harm on isch geord­
nete E cclesia R om an a ist zivilisierte und objektive K ulturw elt.
D aher h at auch der offenbare Unsinn einen geheim en Sinn, wenn er
zur kirchlichen Ü berlieferung gehört. U n d hier liegen j a die E n tartu n gen ,
die m an der Scholastik so leicht nachweisen kann. Denn weil m an auch
zur A ufdeckung eines solchen geheim en Sinnes n u r im kirchlichen B e­
reich n ach U rsachen sucht, so findet m an eben niem als fü r etwas T heo­
logisches eine E rk lä ru n g , die aus der natürlich en W e lt stam m t. Und so
kann der Unsinn nie n atü rlich erklärt w erden.
Aber darüber soll m an n ich t vergessen, d aß dam als d er Sinngehalt d e r
alten K irch e — und er überw iegt j a bei weitem — in seiner E rh ab en h eit
erfa ß t und neu entdeckt w orden ist. Die Scholastik ist eine w ahre E rin n e­
ru n g , eine Innew erden des fertig en B au m es K irch e n ach träg lich in d e r
Schulstube d u rch ordnende G eistesarb eit1. D ie Scholastik ist die geistige
W ied erg eb u rt des christlichen A ltertum s zur V erw ertung als H andw erks­
zeug fü r die objektive O rdnung der neuen E cclesia R om an a. Sie ist d a­
m it d er M örtel und das V erständigungsm ittel fü r die D enker und Ge­
lehrten des ganzen Abendlandes gew orden. U nsere gesam ten nationalen
G elehrtensprachen stam m en aus der einen Schule des Abendlandes. Und
diese Schule stand in P a ris und B o lo gn a. D oktor und K olleg, generelles
und spezielles, O bjekt und Subjekt, relativ und absolut, F ak u ltäten und
U niversitäten, A rgum ente und Repliken, das ganze R ü stzeug des Denkens,
M itteilens und S treiten s, des w issenschaftlich begründeten Inquirierens,
D eliberierens, D isputierens und D ezidierens stam m t aus der Scholastik.
D ie letzte V ereinigung all dieser Leistu ngen konzen triert sich n a tu r­
g em äß in dem , d e r sie h ervorgeru fen h a t: im P ap ste. N ichts in dieser
Scholastik, in d er V erw altung der S ak ram ente, im E h e re ch t, so w enig wie
im Zurückdrängen des K aisers, das n ich t der P a p st letztlich entschiede.
U rbi et orb i gebietet er. E s ist sein T ra u m , den orbis zu r urbs zu m a ­
chen 2.
Alle P rozesse gehen an ih n , aus dieser und aus jen er W e lt. U m die
Z eit der G eneralsynode P a p st A lexanders I I I . ist au ch d e r kanonische
P ro zeß b ereits ausgebildet fü r die Lebenden und fü r die T o ten . R ich te r
werden e rn a n n t E in advocatus diaboli m u ß au ftreten , d er den B ew erber
um die H eiligkeit dem H im m el streitig zu m ach en h at. E in s d e r beliebte-
1 Deshalb haben Joseph W ittig und ich in unserem A lter der K irche (1927/28) den dritten
T e il „Innerung“ betitelt. 2 Über die E rfü llu n g siehe das nächste Kapitel S. 160.

i56
sten Schulbücher des P ro zeß rech ts lehrte bis 1 5 o o den kanonischen P ro ­
zeß in der F o rm des R echtsstreites, den der Teufel Belial gegen G ott
wegen des G ottsohnes angestren gt und natü rlich in allen Instanzen ver­
loren hat.
E in e r der ersten H eiligen, die in dieser F o rm d u rch päpstliches Gebot Die Freiheit der
heiliggesprochen worden sind, ist T hom as a B ecket, der von des K önigs
R ittern in der K athedrale zu G anterbury erschlagene N ationalheilige des
englischen Volkes. M it seiner K anonisation können w ir diesen Überblick
über die unvergänglichen Leistungen der E cclesia R o m an a schließen.
Denn er, der seit 1 1 7 2 am 2 9 . D ezem ber im K alen der steht, h at den
Glaubenssatz dieser Pap stkirche aufs kürzeste fo rm u lie rt: „G ott liebt
au f E rd en nichts so sehr als die F re ih e it seiner K irch e “ .
Solche Katholiken und diesen Glauben gibt es noch heute in ganz
E u ro p a . Sie sind interlokal überall anzutreffen wo es G elehrte, Adlige und
B ü ch er gibt. Sie beten wie der g ro ß e R u fe r d er P ap strev o lu tio n : „K o m m ,
allerfreiester heiliger G eist und schütze die F re ih e it des geistlichen
Sch w ertes.“

1 0 . F ro n leich n a m
D as, was die W eltk irch e erarbeitet h a t an objektiven D ingen und B e­
g riffen , die Gewalt, m it d er sie den C hristus in eine zersplitterte F eu d al­
welt von abergläubischen, däm onensüchtigen Stäm m en als den einen und
einzigen d u rch die gesam te W e lt trä g t, der Stolz, d er P atrio tism u s, die
E rin n eru n g an die gewonnenen Sch lachten, an die erru ngene F re ih e it —
alles dies triu m p h iert an F ro n le ich n a m .
1 2 5 4 eingesetzt, vom P ap st U rban allgem ein am 1 1 . A ugust 1 2 6 4 ein­
g efü h rt, ist es d er H öhepunkt kirchlichen T riu m p h es. T h om as von Aquin
h at das O fficium des T ages g ed ich tet. F ro n le ich n a m ist re ch t eigentlich
das K irch en fest d er Papstrevolution und tr ä g t selbst heu t n och einen
trium phierenden, aggressiven C h arak ter. D em M orgenland unbekannt,
den P ro testan ten ein Stein des A nstoßes, h a t die H ostienverehrung n och
im 1 9 . Ja h rh u n d e rt z. B . in B ayern fa st A u fru h r hervorgerufeQ . In W ie n
ging „m an “ vor dem Weltkrieg in der Fron leichnam sprozession (die P r o ­
zession ist i 3 i 1 allgem ein befohlen) m it, wenn m an altkaiserlich gesinnt
w ar. In diesem F e s t beglückw ünscht sich die K irch e selbst. Indem die
V erehrung des C orpus D om ini vom G ründ on n erstag au f D onnerstag
nach T rin itatis verlegt w urde, zeigte sich, welche B edeu tu n g das O b je k ­
tive, die H ostie, nun eben im G eiste der Z eit e rlan g t h atte. Seit 1 2 0 0 w ar
die Elevation d er H ostie üblich gew orden. D ad u rch h atte sich das Volk
an die Isolierung des C orpus C hristi gew öhnt. D aru m w ird nicht die E in ­
setzung des A bendm ahles, also die gesch ich tlich e O ffenbarung hier be­
gangen. D a fü r ist j a der G rü n d on n erstag da. Sondern über das objektive
Geschenk d e r täglichen T ran ssu bstantiation von B ro t und W ein in F le isch

i 5j
und Blut, also diese „gew irkte W irklichk eit“ , das opus operatum des Al-
tarsakram ents und des sichtbaren K irchenbaus wird triu m p h iert. 1 2 1 5
hatte Innozenz III . diese Transsubstantiationslehre dogm atisiert. D er F e ­
steshymnus des heiligen T hom as „ L a u d a Sion Salvatorem “ wird nicht
m üde einer scholastischen A usführung dieses „th em a specialis“ , wie er es
selber nennt. Aber die K irche des Fron leichnam festes ist keine K irch e des
K lerus und der Theologen, alles Volk zieht m it und freu t sich m it. Und
deshalb ist d er öffentliche Fron leichnam sum zug die Vollendung der
päpstlichen Revolution. Von allen weltlichen Gewalten ist die K irch e ge­
reinigt, die einzig au f dem A ltarsakram ent aufbaut. Gegen die V erfolger
der K irche betet die K irch e und fü r den P ap st m it einer W en d u n g, die
vor der Revolution undenkbar w a r : D er P ap st heiß t kurz a b : Dein D iener,
G ott, dem du als H irten deiner K irche vorzustehen bestim m t hast. D as
hätte noch im Ja h r e 1 0 0 0 nu r von dem einzelnen B isch of und seiner
K irch e verstanden werden können. Je tz t ist es so unm ißverständlich der
P ap st, der „die K irch e “ leitet, daß weder das W o r t P a p st gesetzt werden
m u ß , n och die Einzahl erläu tert zu werden b rau ch t. Und das E rg eb n is der
Revolution w ird zu sam m en gefaß t, wenn es h e iß t: „N im m deiner K irch e,
bitten w ir dich, H e rr, Fleh en gnädig au f, dam it vernichtet W iderständ e
und Irrtü m e r insgesam t, sie d ir in gesicherter F r e ih e it diene.“
X . D E R V A T IK A N
UND D IE W E L T L IC H E N STA A TEN

1. D er B u n d m it der A rm ut
in P ap st Urban hatte den ersten K reuzzug organisiert, auf dem 1 0 9 9
E Jeru salem erobert wurde. D er nächste U rban auf dem röm ischen Stuhl
erlebt 1 1 8 7 den Verlust Jeru salem s an Sultan Saladin.
Zu all den anderen gleichzeitigen D em ütigungen des P ap sttum s tra t
diese als die schlim m ste. Mit anderen M itteln m u ß te es fo rtan die Völker
des Abendlands befrieden als m it dem äußeren Ventil der K reuzzüge. D er
F all Jeru salem s bedeutete, daß die häuslichen Zwiste der E u ro p ä e r nich t
m ehr würden überhöht werden können d u rch den Z u g nach dem heiligen
Grabe.
D er K reuzzug m uß ersetzt werden d u rch ein innerpolitisches M ittel.
Das Pap sttum ist sonst sch lim m er daran als vor seiner Revolution. Sein
Schauplatz ist ihm geraubt. Denn die päpstliche M acht ist zwar m oralisch
anerkannt, aber ohne gesichertes E rd re ich .
Seit 1 1 8 6 gehörten Sizilien und das R eich zu sam m en : der deutsche
K önig H einrich V I. ehelichte die Erbprinzessin von Sizilien. In Byzanz
wurde fü r ihn eine D eutschensteuer — Allem anikon —- gesam m elt. D er
P ap st sah die T ü r in die griechische und eigentliche M ittelm eerlandsehaft
verschlossen, d u rch die sich seit den T agen der ersten N orm annenbekeh­
ru n g und des griechischen Schism as der W e g vorbei am K aisertu m h atte
einschlagen lassen !
E ig en artig g e n u g : das neue Festlandsabendland w ar dem P ap st zw ar
nun in K onzilsform untertan. Aber m it jen er V erlegung hinunter in die
antike Schw ergew ichtslage hin zum H eiligen G rabe w ar es seit 1 1 8 6 / 8 7
vorbei.
Auf ih r beruhte jed o ch die A u torität des Papstes über die Ökumene.
Ging sie verloren, so m u ß te e r von vorn anfangen. U nd so ächzt $ a s P a p st­
tum in den T agen H einrichs V I. unter einer un erträglich en L ast. D a
stirbt der K aiser 1 1 9 8 . Sein Sohn, das K ind in Apulien, fällt u n ter des
Papstes V orm undschaft. Die italienische G estalt d er R evolution beginnt.
Auch die Ziele sind neue.
Diese Revolution zerfällt in zwei A bschnitte, d u rch einen neunjährigen
W affen stillstand ( i 2 3 o — 1 2 3 9 ) zwischen P a p st und K aiser — nicht
aber zwischen dem K aiser und Italien — getren n t.
Im ersten Teil steht Innozenz I I I ., Segni, im zweiten Innozenz IV .,
Fieschi, im V ordergru nd.
Beide halten ein g ro ß e s Konzil. D am it ernten sie zuvörderst die A us- Konzilien 1215
saat d er gregorianisch en R evolution. D as steht nun fest, daß der P ap st die und 1 2 4 6

159
Universalkirche ordnet, als des Paulus und Konstantins Nachfolger, als
wahrer Kaiser.
12 15 sind in der Konstantinskirche des Laterans mehr Bischöfe an­
wesend, als Kaiser Konstantin in Nicäa versammelt hatte, nämlich 4 12,
davon 7 1 Erzbischöfe. D as g rö ß te Konzil aller Zeiten — und trotzd em
ohne K aiser! „ In der U rbs ist der Orbis auf gegangen“ , sagt ein C hronist.
D er P ap st m eistert ohne kaiserliche H ilfe den R au m .
E r eröffn et das Konzil als zweiter C h ristu s: „H erzlich h a t m ich ver­
langt, dies O sterlam m m it euch zu essen, bevor ich sterbe (L u ca s 2 2 , i 5 ) ! “
Innozenz IV. sieht schon die Grenzen dieser K onzilm acht. N icht im L a ­
teran, sondern in Lyon m u ß er 1 2 4 5 die K irch e versam m eln. Von 1 2 4 4
bis 1 2 5 3 ist er fern von R om , ein V orschm ack des E xils. A ber e r tritt auf
m it C hristi W o r te n : Seine fü n f g roß en S orgen, sagt er dem K onzil, glei­
chen den fü n f W u n d m alen C h risti!
So objektiv verfü gt das P ap sttu m über den C h ristus in seiner W e lt­
kirche.
Aber das sch ieß t über das Ziel. H ier ist n ich t m e h r die F re ih e it des Gei­
stes, d er d a w eht, wo und wann er will. A uf ihn hatte sich die Pap strevo­
lution berufen. Die C hristusw orte im Munde der beiden Innozenz sind be­
reits R h etorik , ein b lo ß er V o rrat.
Und sie selber wissen das. Schon h a t d er P a p st 1 2 2 8 dem M ann g e ­
huldigt, in dem die C hristus wunden nich t T radition geblieben w aren, son­
dern h ier w aren sie als w ahrhaftiges Leben neu aufgebrochen und h atten
als fü n f leibhaftige W u n d m ale die Liebe dieses A rm en, des „poverello“ ,
zu C hristus, bew ährt. In F ra n z von Assisi w ar das w irkliche Leben d e r
Zeit am W erk e.
N ur im Bunde m it ihm haben d ah er die P äp ste den neuen G eisteskam pf
bestanden. Diese zweite R evolution m a ch t also d er röm ische P a p st n ich t
m eh r allein. A ndere E rd en b ü rg er trag en sie. U nd diese sind in dem Dies­
seits zu H ause, in dem das R o m d e r P äp ste irdisch liegt. Sie bauen d ie
revolutionäre A rm utsbew egung des 1 2 . Ja h rh u n d e rts, die Linksopposi­
tion der G regorianischen K äm p fe in die neue Zeit ein. Die „A rm en aus
d er L o m b ard ei“ bekom m en ih re G enugtuung, als die bettelnden M inder­
brü d er Italien überschw em m en.
Aus dem sakralen und erhabenen G eisterrau m R om s treten w ir d am it
au f den gesegneten B oden d e r italienischen Halbinsel. D ie Seele Italiens
sp rich t m it, wie es denn schon stolz zu F ran zen s Lebzeiten h e iß t: „G o tt
tut dergleichen n ich t je d e r N a tio n !“ In der italienischen N ation, wie sie
seit dem ersten Sieg d e r P äp ste den K aisern entrissen w orden ist, n ich t
im rö m isch en W elto rb is, liegen die K rä fte , die das P a p sttu m m obilisieren
m u ß . E s ist, ä u ß erlich b etrach tet, derselbe R au m , und dennoch seelisch
ein anderer.
Die neuen Ziele erklingen n o ch a u f lateinisch, sind aber italienische.

160
Aus der Freiheit der K irche wird die F reih eit Italiens. Unmittelbar Die Freiheit
Italiens
springt jene in diese über, wie in dem Schriftstück, in dem die Städte
Verona, Venedig, Vicenza, Treviso, F e rra ra , B rescia, B ergam o, C rem ona,
Mailand, Lodi, Piacenza, P arm a, Modena und Bologna sch reib en : „ W ir
zuerst haben des K aisers A ngriff ausgehalten, dam it er nicht Italien zer­
störe und die F reih eit der K ir ch e unterdrücke. W ir haben fü r die E h re
und F reih eit Italiens und fü r die W ü rd e der röm ischen K irche den K aiser
weder aufnehm en noch anhören w ollen.“ So hatten sie dem P ap st 1 1 8 0
geschrieben (MG. X I X , 4 4 5 ) . D er neugew ählte Innozenz III . b eru ft
schon am 1 6 . April 1 1 9 8 sich den toskanischen Städten gegenüber au f
den „Nutzen Italiens“ . Sein N achfolger legt der Sozietät der Lom barden
„die gem einsam e Sache gegen den gem einsam en F e in d “ als E in e r u n ter
Gleichen ans Herz (P . 8 4 2 5 ) !
Und dies Italien Wird nich t m it kühler B erechn ung geschaffen. Die
Gluten, die bisher dem Heiligen Grabe entgegengeflam m t w aren, wenden
sich nach innen. „Ü ber den weltbewegenden F ra g e n der W eltkirche w aren
die Sorgen des Einzelnen vergessen w orden. Die aufgeregte Zeit d e r
K reuzzüge hatte über die innere L eere hinw eggetäuscht. Nun kam d er
R ückschlag.
A uch F ran z von Assisi hatte sich als K reu zfah rer in Apulien einschif­
fen wollen. Aber er k eh rt um . Von dieser Um w endung der En ergien
d atiert die eigene selbständige Entw icklung der neuen Revolution, die
zwischen Guelfen und Ghibellinen tobt.
Die F r u c h t aber, die wir ih r verdanken, ist die italienische R enaissance.

2 . D iplom atie
Ein diplom atisches Sch riftstück erö ffn et den italienischen B efreiu ngs­
kam pf der Päp ste. K ein germ an ischer R ecke, kein cluniazensischer M önch
h at es verfaß t, keiner, der wie G regor V II. in der deutschen V erbannung
sein B ro t gegessen und in S traßenk äm p fen sein Leben gew agt h atte. E in
D iplom at, in P a ris ausgebildet, aus italienischem Adel, m it 3 7 Ja h re n ,
d. h. in M ussolinis A lter zum P ap st erw ählt, h a t die „D eliberatio des
H errn Papstes Innozenz III . in Sachen des Im p eriu m über die drei Ge­
wählten, näm lich den unm ündigen F rie d ric h , Philipp und O tto “ fü r den
G ebrauch im K onsistorium En de des Ja h re s 1 2 0 0 aufgezeichnet.
Die besten D iplom aten sind die röm ischen K u rialen bis heut. D er Nun­
tius P accelli w ar wohl das angesehenste M itglied der diplom atischen
K orp s in B erlin nach K riegsende. D er D iplom at sp rich t leise. M an m u ß
m eh r erraten , was er will, aus dem , was er sagt, als d a ß e r es ausspricht.
W enn ein D iplom at nein sagt, so ist e r kein D iplom at. Denn er ist höflich
und lä ß t dem anderen gern das W o r t.
D er D iplom at legt lieber seinem U n terred n er das entscheidende W o r t
in den Mund. Eine Miene, ein A usdruck, m it dem e r seinerseits dies W o r t

11 Rosenstock l6 l
begleitet, sagt dann genug. So wie d er Italiener m it der Gebärde alles
sagt, vom R edner aber nur das beilo parlare verlangt, das w ir n ich t über­
setzen können, weil der Deutsche dies „Sch ön red en “ h aß t. Die g ro ß en
Entscheidungen in der D iplom atie fallen d u rch einen Satz, einen Zusatz-
Oder auch es m ach t die bloße W eglassu n g eines Satzes, wie sie B ism arck
in der bekannten E m se r Depesche anordnete, „au s einer C ham ade eine
F a n fa re “ .
Auch die „D eliberatio“ von 1 2 0 0 ist höflich und lä ß t dem anderen
den V ortritt. Sie untersucht bei jedem der drei A nw ärter auf den K aiser­
th ron quid liceat, quid deceat, quid expediat. D as h eiß t auf d e u tsch : W a s
d arf der P ap st, was ziem t sich fü r ihn, was nützt ih m ? A chtzehnm al wird
nun an g esetzt W a ru m d a rf er F rie d rich zur K ron e verhelfen ? E s folgen
die Gründe. W a ru m d arf er es n ic h t? W a ru m ziem t es sich, ihm zur
K rone zu verhelfen ? W a ru m ziem t es sich n ich t? usw. usw. Und doch
geht ein revolutionäres F e u e r du rch dieses geheim e S ch riftstü ck . E s hält
auch den heutigen L e se r in Spannung. P etru s D am iani hatte von G re­
g o r V II. g e s a g t; D u streichelst m ich m it Adlerkrallen. 1 2 0 0 ist es um ­
gekehrt. Innozenz k ratzt m it Sam m etpfoten. Aber die W u n d e, die er
reiß t, ist ebenso unheilbar. E s ist eine m ö glich st lange geräuschlos ver­
fahrende Revolution.

3. G uelfen u n d G hibellinen
D er staufischen H e rrsch a ft in Italien w ird bedingungsloser K a m p f an­
g esag t; der W elfe oder irgendein an d erer n ich t-stau fisch er K an d id at an
seiner Stelle wird allein zugelassen. D er P a p st tritt au f die Seite d er W e l­
fen gegen die Ghibellinen, die schwäbischen W aib lin g er. D er A usschluß
der S tau fer von der N achfolge im Im p eriu m w ird eine R evolution. Im m e r
bew ußter h a t die K irch e um diesen A usschluß gekäm pft. Als K onradin s
H aupt au f dem B lu tg erü st in Neapel 1 2 6 8 fiel, d a erst w ar die verhaßte
B ru t des Adlers aus dem N orden vertilgt. E s h a t zahlreiche K o m p ro m iß ­
versuche und W affen stillstän d e in diesen zwei M enschenaltern gegeben.
Dennoch ist es eine echte und w ahre R evolution, um die es sich handelt,
die in einem g ro ß e n Z uge abläuft. K on rad in steht in d er vierten G ene­
ration von H einrich V I. ab. A ber schon Innozenz I I I . sag t drohend , d e r
H err strafe die Sünden d er V äter an den K indern bis ins dritte und vierte
Glied, bei denen, die ihn hassen, und Philipp setze die Sünden seiner
V äter in der V erfolgu n g d er K irch e fo rt.
Die S ü n d e ? Die Sünde ist die V erfo lgu n g der irdischen K irch e. D er
R evolutionär belegt G ott fü r seine irdische Politik (und um irdisch e P o ­
litik handelt es sich h ier ausschließlich) m it B esch lag.
Die politische Revolution aber besteht in fo lg e n d e m : N ach fränkischem
R eich srech t ist der von den S täm m en erhobene ein K önig, d. h. ein M ann
von Ahnen (k u n n i-G esch lech t). Die L eitu n g des K önigshauses, das ein-

162
gesetzt ist, geht also vom V ater au f den Sohn weiter. N ur Seitenver­
wandte m üssen vom H eer neu auf den Schild erhoben werden. D er K ö­
nigssohn hingegen besteigt den H ochsitz im Inneren des H auses unter
dem Z u ru f der H ausgem einschaft m eist schon zu Lebzeiten des Vaters.
Also erhöht au f den T hron ist e r d u rch diese K ü r d er H ausgenossen auch
selbstverständlich der H err des über die Stäm m e waltenden Reiches.
Anders beurteilt die kirchliche Ideologie die R echtsstellung des K önigs,
den sie salbt und krönt.
Die K irche kennt n u r Individuen und individuelle A m tspersonen in der
K irche. Ist der K aiser ein in die K irch e einzubauendes A m t, dann gibt es
kein E rb rech t. D ann ist D eutschland ein W ah lreich , aber eben n u r dann,
wenn das K aiseram t nach dem M uster d er Papstw ahl oder einer B isch ofs­
einsetzung vergeben werden soll.
Die Revolution des Pap stes h a t das germ anische S tam m esrech t des
Königshauses zerstört, und die kanonistische A uffassung des K aisertum s
als eines individuellen Am tes an die Stelle gesetzt.
Die diplom atische Fein h eit d er deliheratio de facto im perii von 1 2 0 0
liegt nun darin, daß sie rein fo rm alj uristisch die drei K andidaten neben­
einanderstellt und dadurch erreich t, was die form ale Logik m it so ein­
ziger K u n st verm ag, den ganz verschiedenen Sinn, die verschiedene Q ua­
lität der drei K andidaturen wegzuwischen.
A uf den Q ualitätsunterschied aber kam es an. D es Kindes F rie d rich s
Anspruch au f die K rone w ar von seinem V ater H einrich V I. b egrü n d et
worden. E r hatte seine und des R eiches F ü rste n den Sohn küren lassen,
sie hatten dem Erbp rinzen als K ön ig geh u ld igt und geschw oren. Philipp,
sein Oheim , hatte sich d ah er bem üht, ihm die K ro n e zu erhalten. A ber
dazu hätte das alte K önigshaus erhalten bleiben m üssen. F rie d rich s M ut­
ter aber, deutschfeindlich, hatte die Salbung zur deutschen K önigin igno­
riert und das Kind in Sizilien festgehalten. Als sie starb, hatte sie f ü r
Sizilien den P ap st selbst zum V orm und berufen. In D eutschland aber
konnte eine „R eg en tsch a ft“ im m odernen Sinne bei dem F e h le n d e r
M utter nicht eingerichtet w erden. B ei O tto I I ., O tto I I I . und H einrich IV .
hatte die K ön igin -W itw e das H aus gehalten zusam m en m it des K önigs
Geistlichen.
w aren die alten K önigsgeistlichen dem K önigsh aus entfrem d et
1 1 9 8
und zu bloßen L eh n sfü rsten gew orden, und keine W itw e hatte den Beisitz
im Hause. Philipp aber als B ru d e r dés verstorbenen K aisers stand außer­
halb des Hauses. E r konnte d ah er als n äch ster A gnat diese W aise n u r in
sein eigenes, Philipps, H aus hinübernehm en, aber n ich t das alte Königs­
haus fortsetzen. Dies erlosch gerade, sobald Philipp das Mündel in sein
H aus nahm .
Aber Philipp w ar auch für D eutschland das Abweichen von Hein­
richs V I. W illen so zuw ider, daß e r doch zuerst die Salbung und K r ö -
11 *
i63
nung zurückwies und wohl anfangs ein zeitliches, nur vorübergehendes
K aisertum fü r sich — näm lich bis zu F ried rich s M ündigkeit — geplant
hat. E r ging zwar „u n ter K ro n e“ , aber ohne kirchliche W eih e, weil j a
diese unwiderruflich gewesen wäre.
Diese seine R ücksicht au f F ried rich haben die W elfen ausgenutzt und
brachten eine Art W a h l zustande, du rch die Otto IV. in die L ag e kam,
sich krönen zu lassen. U m diesem M ißbrauch seines aus Eh ren h aftigk eit
geschehenen Form v erstoß es zu begegnen, ließ sich nun auch schleunigst
Philipp n ach träglich wählen und krönen.
Die K andidaturen sind also eine aus der anderen erw achsen. Philipps
ist keine „G egenkandidatur“ gegen die F ried rich s, sondern die legitim e
wenn auch schm erzliche Anwendung des V olksrechts au f den vorliegenden
F all. F ried rich und Philipp gehören also zusam m en au f eine Seite, O tto
aber steht fü r sich als M inorität, die die N ot des R eichs ausbeutet. N ach
deutschem R eich srech t ringen im Ja h re 1 1 9 8 nich t drei Individuen um
die K rone, sondern ein schwieriges R egentschaftsproblem in dem stau­
fischen H errsch erh au s einerseits, eine In trige eines nahen Seitenverwand­
ten andererseits stehen sich gegenüber. M an m ag sich diese E in h eit von
Philipp und F rie d rich daran klar m achen, daß Philipp als V orm und fü r
F ried rich I I. 1 2 0 4 eine Gem ahlin ausgesu cht h at.
Ganz anders ist die Ideologie der K u rie. H ier w ird eine andere S p rach e
gesprochen.
D er K aiser h a t ein — dem P ap st gefäh rlich es — A m t in d er K irch e.
M ithin sch afft m an in d er D eliberatio des Pap stes die G rundlagen, eine
„ W a h l“ des K aisers d u rch die N ach p rü fu n g des P ap stes m itbestim m en
zu lassen. D em K aiser aus N ordland, der zum R öm erzu g in R on caglia die
F ü rsten des R eiches versam m elt, wird R o m verschlossen, wenn und weil
er den P ap st von N orden und Süden einzuschließen d roh t.
In die Eingew eide des R eichskörpers und seiner rechtlichen V erfassun g
d ran g so die diplom atische F ed er. D am it drehte sich die Taktik d er G re­
gorianischen Revolution u m ! G regor hatte dem K aiser zu einem u n ter den
vielen K önigen erniedrigt (s. oben S. i 3 6 ) . Innozenz hingegen b e ru ft sich
gerade au f die H e rrsch a ft des K aisers in Italien 1 E r sieht den Z usam m en­
b ru ch der K irch e (ne confundetur ecclesia) voraus, wenn U n teritalien
und Oberitalien in eines H errsch ers H and ruhen . E r su ch t d ah er das K ö ­
nigshaus d er deutschen Stäm m e d u rch den kirchlichen A m tsb egriff des
K aisers als einer vom P ap st in R o m zu weihenden A m tsperson zu zer­
stö ren ! Die feine w issenschaftlich fundierte G erichtsbarkeit des kanoni­
schen R ech ts liefert die M ethode, um gerade den, in dem G re g o r n u r
„einen“ K ö n ig hatte erblicken wollen, jetzt u m gekehrt als „d en “ K aiser
zu vernichten.
Eine Stelle w enigstens sei ausfüh rlich hingesetzt, um die Spitzigkeit des
Stiletts zu zeigen, das, was seitdem röm isch e H interlist heißt. Die D elibera-

i64
tio hatte zunächst festgestellt: das K ind von Apulien habe zwar den Treueid
der F ü rsten em pfangen. Aber dieser Eid sei wegen des Todes seines Vaters
nun überholt. D arau f heißt es von P h ilip p : „A ußerdem da Philipp offen­
kundig persönlich den Eid der Treue dem Kind geleistet und jetzt von
dem deutschen K önigreich und soweit es auf ihn ankam , vom Im perium
Besitz ergriffen hat, so ist dam it festgestellt, daß er des Meineides schul­
dig ist. Man kann ein w enden: wenn w ir wie oben ausgesprochen jenen
E id fü r unzulässig halten, in welchem Sinne w ir ihn dann als m eineidig
des B ru ch s eines Treueids zeihen können, dessen U nhaltbarkeit zugegeben
wird. D arau f ist zu erw id ern : Auch wenn der E id unzulässig w ar, d u rfte
er doch nicht au f eigene F a u st von ihm abgehen, sondern hätte erst un­
seren W illen zu R ate ziehen m üssen, n ach dem Beispiel des Eides, den die
K inder Israel den Giheonitern geleistet hatten. Denn obschon dieser d u rch
Täuschung erschlichen w ar, sind sie doch nich t auf eigene F a u s t von ihm
abgegangen, sondern haben den H errn zu R ate zu ziehen beschlossen.
W e ite r da alles, was gegen das Gewissen geht, das höllische F e u e r herbei­ Das verwundete
Gewissen
zieht (denn nach dem Apostel ist alles, was nich t aus dem Glauben ist,
Sünde), und dieser Philipp sich über sein V erhalten so rech tfertig t, er hät­
te die Königswürde sonst unter keinen Umständen angenommen, nur habe
er erfahren, daß andere sich anschickten, sich ihrer zu bemächtigen, so
ist es klar, d aß er subjektiv den E id fü r verbindlich gehalten h a t und daß
d u rch sein H andeln gegen diesen E id sein Gewissen verwundet ist. S o ­
m it ergibt sich, daß w ir berechtigt sind, ihm als einem M eineidigen ent­
gegen zu sein und seinen Versuchen entgegenzutreten.“
E in Bubenstück, ersonnen, um einen ehrlichen M ann zu verderben. Aber
die L ü ge von „dem Gewissen, das verwundet ist“ , h a t n ich t R uhe gegeben
d u rch die Jah rh u n d erte. D as deutsche Gewissen h a t diesen M ißbrauch
des röm ischen R ich teram ts nicht vergessen (unten S. 1 9 6 und 2 1 5 ).
So wie nach dem Stich der F lo re ttfe ch te r sich h och au frich ten kann,
fä h rt das diplom atische Aktenstück f o r t : „ D a ß ihm entgegenzutreten uns
auch wohl ansteht, g eh t offen d arau s hervor, d aß wenn wie einst dem
V ater der Sohn so jetzt unm ittelbar nach folgte B ru d e r au f B ru d e r, es
aussähe, als ob das Im p eriu m n ich t aus d er W a h l ih m üb ertragen w erde,
sondern aus der N achfolge ihm zufalle und die W irk u n g w äre, das erb­
lich zu m achen, was freies Geschenk sein m u ß , zum al d a n ich t n u r F rie d ­
rich I. sich den Sohn nachgesetzt h at, sondern H einrich V I. desgleichen
seines Sohnes N achfolge sicherstellen wollte und d ad u rch vielleicht künf­
tighin ein Mißbrauch sich verwandeln könnte in einen Rechtsbrauch“
Die N achfolge des K önigssohnes bei Lebzeiten des V aters ein M iß­
b rau ch ! Allen H errsch ern , die Söhne hatten, sind seit O tto I. zu ihren
Lebzeiten die Söhne als M itkönige g efolg t, den einzigen K onrad III. aus­
genom m en, d er aber wegen des Feh len s einer K önigin sogar die A u torität
besaß, statt des eigenen kleinen Sohnes den nächsten S ch w ertm ag F rie d -

i65
rieh B arbarossa als K önig durchzusetzen. Von 1 5 9 0 — 1 7 4 0 ist die Soh­
nesfolge wieder so gehalten worden im R öm ischen R eich unter eifrigem
Betreiben des Papstes.
Aber von 1 2 6 9 — 1 6 1 9 h at der P ap st erfolgreich den R ech tsb rau ch
als M ißbrauch hingestellt und die K rone des R eiches, wie eine Bischofs*-
m itra durch das D om kapitel, d u rch ein Reichskapitel von sieben Voiv
wählern vergeben lassen. E r h at fern er den abusus in usum um gew andelt,
d. h. den M ißbrauch seiner Einm ischung in den R echtsb rau ch, daß nie­
m als E in er H e rr sein d ü rfe in Italien. D enn, so fä h rt e r f o r t : „N ützlich
ist (expedit) unser W iderstan d gegen P h ilip p ; das liegt fü r jederm an n
klar zutage. Denn da er ein V erfolger ist und aus dem S tam m der Ver­
folger erwachsen w ürde, wenn wir ihm n ich t entgegenträten, so würden
wir sichtlich gegen uns einem Rasenden Waffen verleihen und ein Schwert
gegen unsere Häupter in die Hand drücken.“
Nach diesem Schlüsse lä ß t sich des P ap stes V orgehen ch arakterisieren
als Präventivrevolution, ähnlich etwa F rie d rich s des G roß en V orgehen
beim E in tritt in den siebenjährigen Präventivkrieg.
D er P ap st will ein Netz zerreißen, das sich um Italien zuzuziehen d ro h t,
und er k o m m t ih m zuvor m it dem E in b ru ch seines R ech tes in das R e ch t
der nordländischen H eeres- und Stam m esverfassung, in Haus- und Ge-
scM echtsverfassung der zeitlichen H errsch aften .
Diese diplom atische Präventivrevolution ist die R evolution des Schw a­
chen. N icht die Posaune des Jü n g sten G erichts steht zu Gebote, n ich t
H eerhaufen und Gewappnete — m an m u ß leise reden, m an m u ß ein
kleines unbedeutendes R ech t ausweiten, d aß m an doch seine H ände n ich t
au f einen Unw ürdigen legen könne. Dies ist die m oralisch e R e ch tfe rti­
g u n g dieser Revolution — wie sie h ern ach so o ft in der R enaissance n ach ­
geahm t w orden ist von gelehrigen Sch ülern der päpstlichen D iplom atie.
Und diese Revolution d e r weltlichen Schw äche g eh t andere W e g e als
der siegreiche K rieg . N u r schw eren H erzens haben die P äp ste a u f jed en
friedlichen Ausweg verzichtet. 1 2 0 0 verfällt Philipp, aber e rst 1 2 1 1 O tto,
erst 1 2 2 7 1289 F rie d ric h dem V erw erfungsurteilt D as Prinzip kom m t
nach auß en n u r zögernd zum letzten A usdruck. D enn d er D ip lom at m u ß
andere in Bew egung setzen, die fü r ihn käm pfen. D er Italien er h a t noch
von 1 8 5 9 — - 1 9 1 8 sein politisches R iso rg im en to Bundesgenossen von aus­
w ärts zu verdanken. E r verdankt sie auch im 1 9 . Ja h rh u n d e rt d e r K on ­
ju n k tu r vieler M ächte zueinander. Eben dies ist nun das E rg eb n is d e r
Papstrevolution.
Die D iplom atie bleibt h in ter den K ulissen des K rieg sth eaters fa st w äh­
rend des ganzen K am p fes. N och in d er vierten G eneration beim letzten
Akt der T rag öd ie finden w ir diese E ig e n a rt der Papstrevolution wieder.
Konradm Heinrichs V I. U renkel zog 1 2 6 7 n ach Italien, um von seinem E rb re ich
Sizilien Besitz zu erg reifen . Die Ghibellinen bereiten ihm den W eg. P a p st

166
Clemens b eg rü ß t ihn als „den S p roß der alten Schlange, ans ihrem gifti­
gen Sam en entsprungen“ . V erstopft habe er sein O hr wie eine taube N at­
ter gegen die Erm ahnungen des Papstes. E r bannt ihn, legt das Interdikt
auf alle Städte, die K onradin aufnehm en w ü rd en : „ W e rd e zunichte, wie
herabrinnendes W asser, wie aufsteigender R a u c h !“ E in g roß artig es B ild :
Jen e arm e Seele des Allerseelentages steht vor u n s; herabrinnendes W asser,
aufsteigender R au ch , unwirklich ist der M ensch, den der P a p st aus d e r
inzwischen dem W e ltg e rich t entrissenen, der nu nm ehr irdisch verwirk­
lichten Ecclesia R om ana ausstößt. D e r P ap st sagt denn auch von dem
Prinzen, wie ein L am m schleppten ihn die Ghibellinen zur Schlachtbank.
K onradin von Schwaben wird nach d er Sch lach t bei Tagliacozzo gefan­
gengenom m en. Und nun vollendet sich der P ro z e ß , den die K urie den
Stau fern seit 1 2 0 0 m acht. N icht als K riegsgefan gen er wird der H erzog
behandelt. Sein E rb re ch t als K önig, das so g ar Ludw ig I X . von F ran k reich
respektierte und alle F ü rste n des Zeitalters — wird m it Stillschw eigen
übergangen. Als R eb ell der K ir c h e wird e r zum Tode verurteilt. K a rl von
A njou, der Sieger, fällt selbst das U rteil. Am 2 9 . O ktober 1 2 6 8 besteigt
der letzte S tau fer das G erüst in Neapel. „ W ie können D eutsche n u r leben,
wenn sie die E rin n eru n g an diesen V erlust im H erzen tra g e n ? Denn sie
haben ih r Bestes verloren und an S ch m ach gewonnen. W en n sie nich t so­
gleich R ache nehm en, bleiben sie stets m it Schande b ed eck t: so h a rt v e r­
fu h r K a rl“ sang ein italienischer Sän ger, B arth o lo m äu s Z orgi. Die H abs­
b u rger aber nehm en tatsäch lich keine R ach e, zum Schm erz d er Ghibel­
linen (D ante P u rg . 6 , 9 9 ).
D er P ap st aber fand, nun habe d er A llm ächtige d er H eim suchung d e r
K irche ein Ziel gesetzt. E r ordnete Lobgesänge an. D a berich tet nun die
Legende. Und hier tritt rein die Schw äche und die K ra ft des vatikani­
schen Staatslenkers ans L i c h t : E r , d er h in ter den K rieg sh erren , die fü r
ihn fochten, im geistigen R au m verbleiben m u ß te , habe so k ö rp erlich
an den E reignissen g elitten, d a ß er zu V iterb o d en S ieg bei T agliacozzo
unm ittelbar in einer A rt von V isio n em p fu n d en h a b e!
In diesem Bilde des die V ollendung des diplom atischen W erk es visionär
mitlebenden Pap stes vollendet sich die P ap strevolution. Sie ist zu En de.
Die Vision des W eltg e rich ts ist einem vollendeten M itschwingen und M it­
erleben der klug regierten G egenw art gew ichen, einer Vision des vollkom­
m enen D iesseits!
D reiß ig T age sp äter stirb t der P ap st. Und zweieinhalb J a h r steht auch
der Päpstliche Stuhl leer, wie wenn die Leiden schaft, die ihn bisher er­
hielt, in sich nach diesen siebzig Ja h re n zusam m ensänke.
D em en tsp richt au ch die V eränd eru ng des revolutionären Zieles. 1 2 6 8
^handelte es sich schon nicht m e h r um das Im p eriu m , sondern bereits war
die F ra g e zurück gerollt au f ihren Ausgang, au f den Alpdruck einer Ein­
heit zwischen O ber- und U nteritalien und von d a w eiter au f die revolutio-

167
nare These, daß n u r der vom P ap st eingesetzte F ü r s t K arl von A njou
und nicht der rech tm äß ige E rb e Sizilien und Neapel besitzen dürfe.
D adurch ist diese Revolution keine theologische m ehr, sondern eine
geopolitische. E s geht um Italien, nicht um die W eltkirche. Und alle
g roß en Ereignisse der siebzig Ja h re haben eben deshalb auch n u r die
äußeren Schicksale Italiens und E u rop as entschieden. D as zeigt sich gleich
bei den Kreuzzügen dieser zweiten Papstrevolution.

4 . D as A bsterben der K reuzzugsidee


D er erste (d er sogenannte lateinische) w ird ein R aubzug Venedigs ge­
gen Byzanz. D er P a p st setzt in K onstantinopel ein lateinisches K aisertu m
ein, das aber n u r w ährend dieser außerordentlichen Sturm zeit (bis 1 2 6 1 ),
ähnlich wie die E ro b eru n gen Napoleons — sich halten läß t. D am als h at
der P ap st zu den T artaren seine Boten geschickt und geh offt, Asien dem
Päpstlichen Stuhl zu unterw erfen. M arco Polos Chinareise fand in solchem
R ahm en statt. In den Zeiten einer Revolution scheint im m er alles m ö g ­
lich und n u r die W e lt dem Streben zu genügen. Auch die Pap strevolu ­
tion ist durchaus W eltrevolution.
Zwei andere K reuzzüge führen nach Ägypten und n ach Tunis. Sie ge­
w ähren der K irch e die G enugtuung, m it Ludw ig, dem französischen K ö­
nig, als Heiligen, zweimal die verhaßten W aib lin g er üb ertrum pfen zu
können. Ludw ig I X . w ird, als e r 1 2 7 0 in Tunis stirbt, in d er T a t der letzte
K reuzzu gsfü rst.
Aber das Schicksal des P ap sttu m s kündigt sich eben gerade in L u d ­
wigs I X . H eiligsprechung a n : es wird F ra n k re ich anheim fallen im
1 4. Ja h rh u n d e rt zur Sühne fü r seinen Ü berm ut gegen die S tau fer.
D er K reuzzug des K indes von Apulien, den der spätere K aiser F rie d ­
rich II. vorher hatte au sfüh ren m üssen, w urde fü r die P äp ste eine
schwere E n ttäu sch u n g . U nablässig hatten sie näm lich ihren B an n ihm
angedroht, wenn er n ich t fo rtzöge. 1 2 2 7 w urde er w irklich gebannt,
und nun zog F rie d rich I I. als exkom m unizierter K atholik n ach Je ru s a ­
lem und setzte sich in d e r K irch e des Heiligen G rabes als exkom m uni­
zierter K atholik die goldene K ron e, die au f dem A ltar lag, aufs H aupt.
W id e r die röm ische K irch e h atte e r lau t vor den Völkern die g ro ß a rtig e
Anklage erhoben, die den P a p st zum R evolutionär stem p elt; aber m it
dem Sultan w ar e r im B u n d e! — so stand dieser K aiser in J e r u ­
salem.
Und die E rd e stürzte n ich t ein. A ber m it diesem T age w ar die K reu z­
fa h rt als tragen d e Idee der Papstrevolution vernichtet. Sie war verwelt­
licht, säkularisiert. D eshalb m u ß der M iß b ra u ch des K reuzes w ettg em ach t
werden d u rch ein unzweideutig päpstliches Sym bol. Innozenz I I I . setzt
(P o tth a st 2 1 4 i ) die beiden Schlüssel au f F ah n en und B ild e r! G egen die
K reu zfah rer des K aisers treten Schlüsselsoldaten der Päp ste an.

168
D er K inderkreuzzug von 1 2 1 2 hatte auch schon von der seelischen
Seite h er durch seinen scheußlichen Ausgang — die K inder kam en fast
alle um — der Idee Abbruch getan.
Alle vier Kreuzzüge enthüllen so, daß die neue Revolution andere W eg e
gehen m uß als die G regorianische.
Aber die Päpste haben zw ar die alten M ittel eifrig zu galvanisieren
versucht. Jed o ch sie haben ein eigenes neues Ziel au fg estellt: Den K ir ­
chenstaat; und sie haben rechtzeitig neue S treiter in den K am p f g e f ü h r t:
die B ettelm ö n ch e und die Freistädte. Aus diesen drei Elem enten besteht
die italienische Revolution, deren letzte F ru c h t 1 9 2 9 in der „G itta del
V aticano“ gereift ist, von deren Ergebnissen aber ganz E u ro p a bis a u f
den heutigen T a g zehrt.

5 . D er K irchenstaat u n d die sizilische F ra g e


Den K irchen staat, die greifbare N ahaufgabe des Pap sttu m s, hatte G re­
g o r V II. wegen seiner W elth errsch aftsp län e nie re ch t angegriffen. B is
zu Innozenz I II . gibt es keinen K irch en staat. E r hingegen ist so fo rt in
den K am p f um ihn eingetreten. G leich 1 2 0 1 m u ß te der W e lfe der K u rie
v ersp rech en : D as P atrim on iu m Sankt P eters bis n ach T oskana hinein,
R im ini, P esaro F an o , Sinigaglia, die M ark Ankona, das H erzogtum Sp o-
leto, die G rafsch aft B ertin o ro und das M athildische H ausgut.
Diese „R ekuperationen“ des K irchen staates w aren also das unm ittel­
bare R egehren des Papstes. U m ihretw illen stellte er bald dem W elfen
O tto seinen sizilischen K andidaten F rie d ric h I I. entgegen. E s w ar n u r
gerecht, daß O tto dem erlag, d er ihn erhoben h atte, in dem Augenblick,
wo er in Italien trotz seines W elfen tu m s als K aiser auftreten wollte.
„ D er P ap st kann sein E rstau n en n ich t stark g en u g ausdrücken, d aß
O tto von ihm abfalle, welchen die K irch e allein erh öh t habe, der ih r alles
verdanke; es gebe keine T reue noch G lauben m e h r in d er W e lt, das sei
wider die N atur. E s re u t m ich, den M enschen g em ach t zu haben, sag t e r
in einem B riefe. An dem P ap st hatte nun O tto einen F ein d , d er noch an­
dere W a ffe n besaß als den K a m p f im offenen F eld e. Innozenz ta t im
November 1 2 1 0 den K aiser in B ann und wendete sich an die deutschen
F ü rste n .“ (R anke.)
Die E n ttäu sch u n g über den W elfen b rach te den d ritten K andidaten
aus der D eliberatio au f den K a ise rth ro n : F rie d rich . E r m u ß d a fü r aber
dem P ap st die M athildischen G ü ter und den K irch en staat zusichern, S ar­
dinien, K orsika und die R o m ag n a m it B ologn a. D ie L eh nshoheit des
Pap stes über Sizilien m u ß e r anerkennen d u rch eine jäh rlich e B arzah ­
lung. Aus Sizilien ist die päpstliche K u rie ein fü r allem al finanziell sicher­
gestellt w orden, so erheblich w ar sie bem essen.
F rie d rich II. ist der N apoleon der Papstrevolution geworden. Als K re a ­ K aiser Fried­
rich I I .
t u r der P äp ste zu r M ach t gekom m en, h a t e r versucht, zwischen d en
?
169
R eichsfürsten und dem Pap sttu m sich auf ein drittes R eichsrecht, auf das
antike Mittelmeerimperium zu stützen. Daher d er Schw ulst seiner E r ­
lasse und B riefe, d er P om p seines A uftretens. Die Zeit aber tru g ihn
n ich t; sie kannte n u r den K am p f des altfränkischen W eihekaisers m it
dem neuröm ischen P ap st, n u r Ghihellinen und Guelfen. Und F rie d rich s
Ideologie versank wie die Napoleons.
W as d arü b er hinaus die Zugehörigkeit des sizilischen Königreichs!
zu r Ohedienz des Pap stes bedeutete, illustriert der Anteil d er U n teritalie-
ner an dem berühm ten Laterankonzil Innozenz’ I I I . von 1 2 1 5. Ü ber ein
Viertel der 4 o o B isch öfe stam m te aus dem sizilischen K ö n ig re ich ! N och
Die Bistümer heute haben diese süditalischen Provinzen m eh r B isch öfe als D eutschland,
Süditaliens p ran kreich und Ö sterreich zusam m en genom m en, näm lich fa st i 5 o .
D a fü r haben diese B isch öfe natürlich einen viel kleineren G esichts­
kreis als die g ro ß en K irch en fü rsten des N ordens und bilden so eine er­
gebene Leibgarde des Pap stes und der K u rie. Solange er dieser T ru p p e
sicher sein konnte, und falls e r über diese i 5 o B istü m er frei verfügte,
w ar das Volk von Italien u n ter niem andem zu einigen gegen den W illen
des Papstes.
Die E in ig u n g Italiens ist d ah er n u r äuß erlich 1 8 7 0 h erb eig efü h rt
worden, als m an dem P a p st den K irch en staat abnahm . D ie Q uestione
m eridionale w ar bekanntlich trotzd em unlösbar. P iem on t konnte den
Süden n ich t erschließen. Alle R egierun gen scheiterten an d er „sizilischen“
F ra g e . Seit 1 8 7 0 h atte d e r P a p st die kirchen treu en K atholiken von d e r
aktiven T eilnahm e am Staatsleben des neuen reg n o d ’Italia fern gehalten
d u rch sein „N on exp ed it“ . Dasselbe W o r t, das in der D eliberatio den
A usschlag gegen den S tau fer gab, h a t h ier den m odernen E in h eitsstaat
lahm gelegt, weil e r eben dem Papst „n ich t n ü tzlich“ seil
D as R egim en t des Pap stes in diesen 1 5 o Diözesen des Südens w ar m it
der äu ß eren E in ig u n g eben n ich t beseitigt. D ieses L an d h a t den S ta a t
nie ernst g e n o m m e n ; d er kam aus Byzanz, aus d e r N orm andie, von Spa­
nien, aus F ra n k re ich oder aus Ö sterreich. Aber zu eigen h atte m an die
K irch e. Die besten Söhne dieses Lan des haben ihr*gedient. T h o m as von
Aquino stam m t aus diesem Lan de, aus R o ccasecca bei Neapel.
D er F ascism u s, der die sch ärfste O pposition in dem piem ontesisch-libe-
ralen T u rin besitzt, h at sich in den Gebieten erhoben, die in der P ap st­
revolution an den R öm ischen Stuhl gekom m en sind, in den M arken und
B o logn a. In B ologn a, wo die Pap sthym n e zum erstenm al gespielt w orden
ist, ist heute das H au p tq u artier des F a scio . D ie geistige Z eitsch rift der
Schw arzhem den, die M ussolini selbst herau sgib t, h eiß t m it dem S tich ­
w ort d er P ap strevolution G h erarch ia, H ierarch ie. Und diese B ew egung
~ h a t nun die F r a g e des Südens auch n ich t ohne den P a p st lösen können.
D eshalb h at Italien zw ar eine einheitliche Staatsverfassun g seit 1 8 7 0 .
Eine einheitliche V olksverfassung aber h a t es erst seit den Lateran verträ­

t e
gen von 1 9 2 9. Denn erst in diesem Friedensschluß des Fasern m it dem
P ap sttu m können sich d er Süden und der N orden austauschen. D urch
das K onkordat wird auch in M ittel- und Oberitalien die K irche wieder
zu r öffentlichen T räg erin des geistlichen Lebens des Volkes. D u rch die
Abtretung der C ittä del V aticano wird in Unteritalien und Sizilien der
S taat zu einer kirchlich approbierten Anstalt und dam it interessant und be­
achtlich auch fü r die Phantasie und die Seele statt n u r fü r den Geldbeutel.
Als d e r W eltk rieg von den Süditalienern das O pfer des Soldatentodes
du rch drei Ja h re geford ert hatte, da konnte die F ra g e des Südens nich t
länger au f dem P ap ier p arlam entarischer Debatten stehenbleiben. Denn
ein Volkskrieg kann ohne seelischen Einsatz nich t g e fü h rt werden. W o
das Leben eingesetzt wird, ist im m er die W eih e der K ra ft notwendig. D er
W eltk rieg m ach te die L eere des konstitutionellen V erfassungsstaates aus
N orditalien fü r den Süden so fühlbar, daß etwas geschehen m u ß te. Die
Besetzung von Tripolis 1 9 1 2 w ar der erste, rein geopolitische V ersuch,
Italiens G esicht dem Süden zuzukehren und dadurch den Süden zum M it­
schwingen und Mitleben zu bringen. Die L ateran v erträg e aber gestatten,
den H ohlraum S taat nun m it den A ffekten und den T räu m en des p er­
sönlichen Eh rgeizes auszufüllen, die bis dahin doch n u r dem S p rö ß lin g
in Süditalien sich zuwandten, d er G eistlicher w urde, denn e r konnte B i­
schof, K ardin al und P ap st w erd en ! N ach den L ateran v erträg en zog die
Geistlichkeit m it dem B isch of an d er Spitze in diesen K ath edralsstädten
zur U rne, um fü r Mussolini zu stim m e n ! Und im K on k ord at ist die A uf­
hebung d er unbedeutenden B istü m er des Südens endlich vorgesehen (A r­
tikel 1 6 und 1 7 ).
W en n es .aber w ahr sein soll, daß Sizilien w irklich in der Pap strevolu­
tion und n u r d u rch sie „italienisch“ gew orden ist, so gen ü g t nich t d er
Nam e T hom as von Aquins o d er die G ründu ng der U niversität Neapel
1 2 2 6 , d u rch die d er abendländischen W issen sch aft in das arab isch -grie­
chische L an d d er erste E in b ru ch erlau b t w urde. W ich tig e r ist noch die
T atsach e, d aß erst in der Papstrevolution das abendländische K lo ster n ach
U nteritalien gedrungen ist!
D as Lan d w ar bis dahin von griechischen K lö stern besetzt, die n ach
der R egel des heiligen B asilius lebten. W e d e r die so rg fältig e E rzieh u n g
noch die stürm ische E rw ecku ng des Volkes d u rch die K lö ster des Abend­
landes h atte es h ier d ah er gegeben, e rst 1 1 9 0 w aren die Z isterzienser
nach F lo ris gekom m en.
Nun erst dringen die abendländischen M önche n ach Sizilien. Als d er
P a p st 1 2 5 4 persönlich an d er Spitze des H eeres in das K önigreich ein­
m arsch iert, da wird ein B ettelm ön ch sein S tatth alter.
Diese M önchsscharen aber, die U n teritalien dem P ap sttu m und dam it
E u ro p a ein fü r allem al gewonnen haben, sind die Franziskaner und D o­
m inikaner.

171
6 . F ra n z von A ssisi
D em Heiligen von Assisi verdankt die Papstrevolution ihre seelische
Verwurzelung im Volke. Aus der diplom atischen Aktion der K u rie, dem
E h rgeiz der Stadtrepubliken wurde noch einm al eine g ro ß a rtig e Seelen­
bewegung d u rch das Bündnis des Papstes m it Franziskus, nach an d erer
R ichtun g auch d u rch das m it Dominikus.
Franziskus ist der geistig wiedergeborene C hrist, der erste, der die
N achfolge C hristi selber ganz und g a r w agt, ohne apostolische M ittler­
sch aft oder sonstige Um w ege über Benedikt oder irgendeinen anderen
P atro n . Und dieser Liebesglut ist zuteil gew orden das höchste Liebes­
zeichen. „Zw ei G naden“ , betet F ra n z , „erweise m ir, bevor ich sterbe. Die
erste ist, d aß ich zu Lebzeiten in m einer Seele und an m einem K ö rp er
den Schm erz durchleide, den du in der Stunde deines Leidens erduldet
hast. Die zweite ist, daß ich in m einem H erzen die u n erm eßlich e Liebe
em pfinde, von d er du entbrannt w arst, um dein Leiden fü r uns auf dich
zu nehm en.“ Die W u n d m ale Je su erscheinen an Franziskus Leib. D er
N achfolger w ar nun da. „C hristus sprich t, du sollst m ir im Tode gleich
sein wie du m ir im Leben gleich b ist.“ A uch in die neue W e lt d e r g e r­
m anischen Völker kam m it dem Heiligen von Assisi die selige G ew ißheit
d er Ebenbürtigkeit.
Die Päpste haben sich dieser neuen U rsp rü nglichkeit gebeugt. In jen er
A scherm ittw ochzeit, wo der gebannte K aiser, als F re u n d des Sultans, in
Jeru salem die K ron e erg reift, wo ein W e lta lte r annulliert w ird, da weilt
d er P ap st wie zum T ro st in Assisi und sp rich t F ra n z heilig. Die zerstörte
G ottesstadt d e r K re u z z ü g e : h ier aus dieser zarten W u rzel des italienischen
Bodens wird sie noch einm al erstehen. Von den irdischen Schlacken des
K am pfes um das H eilige G rab läu tert sich h ier die K irch e am G rabe des
„P overello“ .
Die geistige Liebe und d er W u n d erglau b e verstärken sich in den
Schw ärm ereien des i 3 . Ja h rh u n d e rts. Die M enschen werden für unsere
B eg riffe viel ,,abergläubischer als die des 1 1 . Ja h rh u n d e rts. D er K in -
derkreuzzüg ist j a ein Beispiel für die V erstiegenheit d er H offn u n gen .
A ber auch unerhörte K etzerbew egungen d u rch rasen die L än d er. D er
fü rch terlich e K reuzzug gegen die Albigenser h a t ein ähnliches B lu tw o rt
gezeitigt wie das L u th e rs im B au ern k rieg. W e n n Luther a u s rie f: Steche,
schlage, w ürge hier w er da k an n ! B leibst d u d a ru n te r to t, wohl dir, seli­
geren Tod kannst du n im m erm eh r überkom m en. Denn du stirbst im Ge­
h o rsam göttlich en W o rte s und im D ienste d er Liebe, den N ächsten zu
re tte n “ , und sp äter sa g te : „ Ic h , M artin L u th e r, habe im A u fru h r alle B a u ­
ern erschlagen, ih r B lu t ist au f m einem H als“ , — so sagte d e r p äp st­
liche L e g a t bei der E rstü rm u n g des albigensischen Beziers, als m an
K etzer und R echtgläubige n ich t au sein an d erk an n te: „ S ch lag t sie nieder,

172
der H err kennet die Seinen“ und an Innozenz III. schreibt e r : „G ottes
Zorn habe in w underbarer W eise gegen die Stadt gew ütet.“
B ei solchen Leidenschaften im Abendland — die Ketzerverbrennungen
in Deutschland führen 1 2 3 2 zum A u fru h r — h a t die Papstkirche das
E intreten des Franziskus gerettet. E r hatte das Volk entzündet zu einem
völligen E rn st fü r das geistliche Leben. D as S piritu ale oder der B ei- Die Spiritualen
geschm ack des Gladius, des geistlichen Schw ertes, brach bei diesem B e­
grü n d er des Spiritualism us in d e r K irch e m äch tig hervor und ist nie
wieder seitdem im Franziskanerorden versiegt. Die Spiritualenpartei h at
dem P ap sttu m als „linker F lü g e l“ der Revolution tü ch tig zu schaffen ge­
m acht. Schon seit 1 2 0 0 waren W eissagun gen durchs Lan d geflogen. D er
Abt Jo a ch im de F io re in K alabrien (*f 1 2 0 2 ) verkündete den Adler, der
die K irche wieder herstellen werde und den Anbruch des D ritten R eichs
im J a h re 1 2 6 0 . Noch L u th ers Zeit h a t diesen Prophetien geglaubt, wie­
viel m eh r die vor 1 2 6 0 ! 1 2 5 4 erschienen die drei B ü ch er des sizilischen
Jo a ch im von F io re als „Ew iges E vangelium “ m it einer Einleitu ng aus Antiapostolisch
der F e d e r eines solchen franziskanischen Spiritualen. D arin w urden selbst
die Apostel als re ch t unvollkommene D iener C hristi gekennzeichnet! N a­
tu rg em äß ; denn diese N achfolger C h risti wollten dem B au m des aposto­
lischen P ap sttum s an die W u rz e ln ; so sehr litten sie unter dem Abfall ins
W eltliche und suchten nun m it S tu m p f und Stiel die A u torität des geist­
lichen Petrusschw ertes auszurotten und d u rch ein reines geistliches Leben
zu ersetzen.
D a ist es nun von providentieller F ü g u n g gewesen, daß der G eschichts­
tag des P ap sttu m s d u rch F ra n z noch drei Ja h rh u n d e rte g eö ffn et geblie­
ben ist, so daß es die A uflösung E u ro p a s verhindern konnte bis zu dem
Zeitpunkt, d a diese E in h eit anderw eit gesich ert w erden konnte. D as F ü n k -
lein ist nie wieder erloschen. Aber noch i 4 i 5 in K onstanz h a t sich das
„Fü n k lein “ d er Spiritualen austreten lassen. In einem Satz des H uß
w urde verdam m t, was schon — über W icle f — aus Italien von den Spiri­
tualen s ta m m t: „N ich t ein F ü n k c h e n W ah rsch ein lich k eit sp rich t d a fü r, Forderung der
daß im Spirituellen ein einziges H au p t als L eitu n g d er K irch e Notwendig Landeskirchen
sei. C hristus w ürde ohne solche M ißgeburten von H äu p tern besser d u rch
seine w ahrhaften Jü n g e r über den E rd k reis hin seine K irch e o rd n e n !“
Dies klare evangelische P ro g ra m m der Linksopposition ist in Italien
dem Bündnis zwischen K u rie und S tad tstaat erlegen. E s blieb au fgesp art
als S a a tg u t fü r L u th e r. Schon Franziskus hatte n u r blutenden Herzens
1 2 2 1 die rationale S tiftu n g des O rdens d u rch den P a p st geschehen las- Das K io s te y n
sen. Schon zu seinen Lebzeiten w ar der O rden nich t m e h r viel von dem , schaft
was er sich g eträu m t. D er N am e B ettelm ön ch — ihm ein Liebesw ort der
.A rm ut — bekam einen soziologischen Sinn. Fran zisk u s selbst w ar ja ein
B ü rg erssoh n . E r hatte noch von ritterlich em K reuzzu g geträu m t. D ann
erst kehrte er um in sein E ig en tu m . Die neuen K lö ster an der S tad tm au er

i 73
bauen nun in der T at auf einer veränderten Sozialordnung a u f : Sie treiben
keinen Ackerbau m eh r und brauchen keine L an d gü ter. Sie vertrauen sich
der G eldw irtschaft der Städte und Stadtstaaten, also einer m ittelbaren
V ersorgung, an. D as „B e tte ln “ bedeutet praktisch, daß sie sich grundsätz­
lich von einer städtischen Bevölkerung nich t in N aturalien sondern du rch
Geld ernähren lassen.
Aus der neuen W irtsch a ftsfo rm heraus ist auch d er B ettelm ön ch —
gegenüber Benediktinern oder Cluniazensern — etwas Neues. Und des­
halb lenken diese Bettelm önche erfolgreich die städtischen M assen.
Dank dem heiligen F ra n z kam sein O rden tro tz seines sachlichen Ab­
falls von F ra n z dem Ansehen des P ap sttu m s bei den erregten Volksmassen
zugute. D as P ap sttu m w urde du rch ihn als „fran ziskanisch“ legitim iert.
Und so entging es d er vielfältigen E m p ö ru n g über seine W eltlichkeit.
Die Bettelm önche w urden von vornherein in die W eltk irch e hineinorgani­
siert, nich t neben sie. In allen Diözesen d u rften sie predigen und B eichte
hören. Sie du rften also die D iözesen- und Pfarrsp ren gelein teilu n g d u rch ­
brechen, zu r W u t des W eltklerus. In vielen Städten ließ m an sie zuerst
n u r an der S tad tm au er sich einbauen. A ber überall w aren sie im W e tt­
streit m it dem W eltk leru s erfolgreich. Sie predigten in den Lan d essp ra­
chen vor Tausenden. Sie rissen die K lu ft zwischen K lerus und L aien we­
nigstens in d er K irch e nieder.
D afü r sind die weltlichen Gittadini, die B ü rg e r der F re istä d te , d er
K irche bis heut dankbar, ist Italien n a tu rh a ft kirchlich geblieben. U nd
die B ettelm ön che haben das K irchenvolk in d er K irch e heim isch g em ach t.
So freu d ig wie Franziskus sein Leben m it dem H errn verbringt, so freu ­
dig em pfindet dank ihm das katholische M ütterchen die g ro ß e K irch e
als sein eigenes H aus, als seinen P alast. D ie A rt, wie d er Italien er sich
in d er K irch e bewegt, h a t etwas fü r feierliche G em üter E rstau n lich es. In
der unterirdischen K ryp tak irch e des rom an ischen Stils konnte d er L aie
n u r A ngst und Scheu em pfinden. An die Stelle dieser R eichsk irch en tr a t
nun die Volkskirche, wo m an fröh lich und gedankenlos-zutraulich sich
der G em einschaft m it dem G öttlichen erfreu te. Die Ausw eitung des K ir­
chenlettners, die im N orden K lerus und Volk so o ft sch a rf tren n t, haben
die Italien er einfach n ich t übernom m en.

7. D ie V erm ön ch un g der L a ien


So kann die „R eligio n “ d er M önche nun au ch die Laien erg reifen . D as
W o r t R eligion tritt seinen Siegeszug an. Die Laien werden zu religiösen
M itgliedern d er K irch e gem ach t.
D as alte K lo ste r h atte au ß erh alb der W e lt geru h t. Die neuen M önche
w andern ruh elos. U nd selbst als sie K lö ster gründen m üssen, bleiben sie
in täg lich er B e rü h ru n g m it dem Volk d u rch ih re Seelsorge. E in alter
T rau m des adelsstolzen N orb erts von M agdeburg, der schon 1 1 2 2 Schw e-

174
stem und B rü d er aus dem Laienstande hatte zu H ilfe (ad succurrendum )
holen wollen, geht nun in E rfü llu n g in bü rgerlich er W eise. Z uerst 1 2 0 1
die H um iliaten, dann die Franziskaner gliedern sich Scharen von T ertia-
riern , B rüdern des dritten O rdens, an. Sie treten nicht ins K lo ster ein,
wohl aber in die Anschauungen des O rdens. Die Laien verm önchen! F a s t
die H älfte des Volkes einzelner italienischer Lan dsch aften ist au f dem
H öhepunkt d er E rre g u n g von dieser M öncherei ergriffen worden. H a r-
nack h at die M onachisierung d er Laien als das Kennzeichen der B ettel­
m önchbewegung bezeichnet. Sie ist das tragen de E lem en t der italienischen
Revolution. Aber noch einm al sei es g e s a g t: das A usström en des K loster­
geistes in die N ation bringt nich t etwa düstere Strenge n u r, sondern auch
selige F reu d e — und politische T a t! Die Aufgabe der Bettelm önche wird
es, die neuen politischen Einheiten Italiens, die F reistäd te, zu einander
zu führen, die „discordantes“ der neuen Z w ietracht zu konkordieren.
Von A nfang an — zuerst 1 1 6 8 — haben die Städte Italiens versucht, Die Schlichtung
u n ter sich Schiedsgerichte einzurichten. F rie d rich II. verbot sie vergebens.
Je m e h r es die K aisergew alt zu ersetzen galt, desto zahlreicher wurden
sie. Aber sie funktionierten nicht. D a g riffen die M önche ein. „M it K reuz
und F ah n e und allem kirchlichen P o m p zogen die B rü d e r au f, wenn die
Streitenden ihren Versöhnungsversuchen sich spröde zeigten, bis endlich
die P arteien von R ü h ru n g überm annt sich in den A rm en lagen und die
Friedensküsse tau sch ten .“ „ W o zwei Städte oder zwei städtische P a r ­
teien im H ad er lagen, m ischten sich M inoriten oder D om inikaner darein,
und in den m eisten F ällen h ö rte m an au f die F ried en sb rin g er“ (H efele).
So überziehen die B ettelm önche das pap sttreu e Italien m it einem F r ie ­
densverm ittlernetz fü r die unaufhörlichen K riege und F eh d en , die den
A rchipelagus der F reistaaten heim suchen.
1 2 3 3 , in d er M itte des eigentlichen Revolutionszeitalters will d er P a p st Das große Aiie-
einen von ihnen, Jo h a n n v. Vicenza, n ach T oskana senden, um d o rt Siena luia
und F lo ren z zu versöhnen.
Jo h an n aber tro tz t dem P a p st und fü h rt, statt n ach Toskana zu gehen,
in d er M ark Treviso die Leistu n g d er R evolutionstruppe au f ihren H öhe­
punkt in d er g ro ß e n „H in g a b e“ (devotio). A uf einem F ried en stag vor
V erona versöhnte er H und erttau sende. Alle Städte d er L om b ard ei, Vene-
tiens und der R o m ag n a w aren vertreten. „M einen F ried en gebe ich eu ch “ ,
w ar das C hristusw ort, unter dem Jo h an n es sie pazifizierte. G leichzeitig
erklang in P a rm a das g r o ß e A llelu ja . E in B ru d e r Benediktus beginnt den
G esang des um gedichteten A ve M aria clem ens et pia g ra tia plena, virgo Ave Maria
serena, dann ein Lob a u f die D reieinigkeit und sch ließlich ein dreifaches
H allelu ja:
„ Von Straßenecke zu Straßenecke g eh t der Z ug. Und eine allgem eine
V erbrüderung ist die F o lg e d er allgem einen B egeisterung in P a rm a , in
B ologn a, M odena und anderw ärts.

175
„H ingabe“ und „A lleluja“ von 1 2 3 3 sind Taten d er Bettelm önche mit­
ten in der italienischen Revolution. Als sie sich gegen ih r En de zuneigt,
1 2 6 0 , kom m t es zu dem Ausbruch der Flagellanten, der G eißlerbew egung
in Italien.
Flagellanten Diese Flagellanten sind noch heut ein beliebtes Erinnerungsstück aus
dem „dunklen“ M ittelalter. Aber in D eutschland m eint m an fast stets
die Flagellanten des 1 4. Jah rh u n d erts, deren Z üge im G efolge d er P est
vor i 3 5 o nach D eutschland ausstrahlen. Diese zweiten G eißlerscharen
wirken m it R ech t unverständlich. Sie gehören j a d er D em ütigungsphase
der italienischen Revolution ( i 3 o 8 — 1 3 7 9 ) an und w iederholen m ithin
nur m echanisch ein Requisit der ersten, der Aufschw ungsepoche der R e­
volution.
D er Sinn des Flagellan ten tu m s im Ja h r e 1 2 6 0 ist konkret einsehbar.
Sechzig J a h re sind verstrichen, seit d er P a p st die K aiserkrone k ontrol­
liert, und noch ist nich t F ried e. Ein M enschenalter ist seit dem g ro ß en
Alleluja verstrichen. D as J a h r ist da, das d er Abt Jo a ch im von F io re g e -
weissagt h a t als das En de des Unheils, als H ereinbruch des D ritten R eichs
des H eiligen Geistes. D as Volk, sagt ein Zeitgenosse, schien ein S tra f­
gerich t G ottes zu fü rch ten , da ganz Italien von Elend, Feh d en und Ver­
brechen aller A rt heim gesucht w ar.
D a erhebt zuerst in P eru g ia ein Einsiedler seine S tim m e : D ie Einw oh­
ner ziehen, B isch of und K lerus voran, in langem Zuge hinüber zu r N ach­
barstadt. T ro tz der W in terk älte w aren alle nackt bis zum G ürtel und gei­
ßelten sich bis aufs B lu t. Von K irch e zu K irch e bewegte sich der Z u g
unter Absingen von Liedern oder Stoßgebeten „ F rie d e “ , „ B a rm h e rz ig ­
keit“ und ähnlichen.
Z uerst verspottet o d er belächelt, steckt der H aufen alsbald die S tad t an,
die e r besucht. Alles w irft die Oberkleider ab und geiß elt sich. Alles eilt
zu r B eichte und sch ließ t F ried en . Von P e ru g ia bis R o m , in T osk an a und
Ligurien, in den M arken und der gesam ten L om b ard ei zieht so eine Stad t
zu r andern, und fü r einige kurze W o ch e n e rfre u t sich Italien des F r ie ­
dens. Die Verbannten kehren zurück, die G efängnisse leeren sich.
Man sieht das politische P ro b le m : D as Inselm eer der Podestästaaten
su ch t als E rg än zu n g zur S tad tfreih eit der einzelnen K om m unen den F r ie ­
den d er Halbinsel. D as H allelu ja d er B ettelm ön ch e und die F lag ellan ten
wollen bieten, was die Städterepubliken in d e r Z erstö ru n g der g ro ß e n
R eichsgew alten hatten verloren geben m ü sse n : den L an d fried en ganz
Italiens. Italien als Ganzes gew innt F ried en n u r im Schatten d e r K irch e.

8 . D ie italienische Stadtstaatsidee
■* Aber dies weite italische L an d der tausend Städte h at nich t n u r in geist­
licher F o r m die V atikanrevolution m it du rch gekäm pft. Die P äp ste und
F ran zisk u s haben auch w eltlichen Leb ensform en in Italien den W e g ge-

176
ebnet, Lebensform en, aus denen der Italiener sich und seine K ultur, seine
Civiltä, em pfangen hat.
D er P ap st b rau ch t Verbündete, nicht nu r Gläubige, sondern Truppen.
Innozenz III. r u f t die italienischen Städte zum Freiheitskam pfe gegen die
,,Ultramontanen“ aus dem N orden auf. Ranke h a t entsprechend bem erkt,
daß F ried rich s II., des Sohnes dieser Revolution, R egierungszeit deut­
lich in zwei Epochen z e rfä llt: „Ü ber der ersten schwebt gleichsam ver­
hängnisvoll die K reuzzugsidee; in der zweiten bildet der K am p f m it den
lom bardischen Städten die H auptsache, von der alles andere ab h än g t.“
E s ist das W esen jed er g roß en R evolution in E u ro p a, daß sie erst im
V erlaufe des Em pörungszustandes, den sie darstellt, zu ihren eigentlichen
Zielen und Mitteln sich hintastet. Jed e Revolution beginnt d ah er m it der
Ideologie, m it der die vorhergehende geendet h at. L u th e r h o fft au f die
katholische K irche, die En glän d er au f die christliche Gem einde. Die
Päpste haben m it dem K am p f um das Im p eriu m und dem K reuzzug auch
1 2 0 0 begonnen. D as Ende aber sah sie als Guelfen Italiens und im K am p f
gegen das königliche E rb re ch t in Sizilien.
Diesen Ü b ertritt in eine andere Ebene der politischen A ufgaben kün­
digt schon die D eliberatio an, weil sie kein M anifest, sondern ein diplo­
m atisches Sch riftstück ist. D er U m w elt, so wie sie wirklich ist, nich t wie
sie sein soll, gilt die D iplom atie. 1 2 2 6 erneuern die Städte N orditaliens
den Bund aus d er Zeit nach der Z erstö ru n g M ailands d u rch B arb aro ssa.
D er K ernpunkt ist k lar darin au sg esp ro ch en : Die Deutschen sollen nicht Italien den
stärker als 1 2 0 0 Mann in Italien einrücken dürfen. a rn
Die F o rd e ru n g Italiens ist dam it die gleiche wie die der Päp ste ge­
worden : Italia fa rä da se, Italien den Italienern.
V or dem Geiste des E u ro p äers, d er n ach Italien reist, um die R enais­
sanceherrlichkeiten des Landes zu sehen, steigen auch heute wohl zu erst
die N am en Venedig, F lo ren z, R o m und Neapel auf. A ber U rbino und F e r ­
r a ra , P isa und M ailand, Siena Assis, d rängen so fo rt nach , so daß der E in ­
druck der Vielzahl einer beängstigenden F ü lle g ro ß a rtig e r Einzelgebilde
entsteht. Italien ist das Land der Freistaaten der Renaissance*. Die guel-
fische Freiheitsidee Italiens ist eine politische Idee. M an m u ß sich frei­
lich von den form alen Staatsth eorien freim ach en , die sich die politische
Idee eines Volkes n u r in einer bestim m ten E in h eit d er Staatsverfassu n g
denken können. Diese V orstellung ziemt dem m odernen Ju riste n , der in
einem abgesonderten S taate P o litik er oder S taatsb eam ter zu sein pflegt.
D am als ist der B ologn eser W e ltju rist n ich t B eam ter. E r ist ein freier
K ü nstler, der von O rt zu O rt, von H o f zu H o f seine K u n st anbietet. All­
jäh rlich w echselt der frem de studierte Podestä sein A m t als S tadtober-
b au p t und zieht zu irgen deiner anderen Republik, die einen solchen poli­
tischen D irek tor anstellen will. D em en tsp rich t die Staatsleh re d ieser
M änner und ih rer Zeit. D as guelfische P ro g ra m m ist die Vielzahl d e r ;

12 Rosenstock
J 77
politischen Gebilde au f d er einen Halbinsel. Um des P ap stes willen, der
frei sein m u ß , wird die F re ih e it vom Im p eriu m zuerst g eford ert. Aber
d er Sinn dieser F o rd e ru n g dehnt sich nun aus au f das gesam te gesell­
schaftliche Leben Italien s: keine weltliche Einheitsgew alt, sondern F r e i­
heit aller, m it dem geistlichen Stellvertreter des H im m elskaisers C hri­
stus, m it dem P ap st als dem E rste n unter Gleichen.
Die zeitlichen Gewalten Italiens als Genossen des P ap sttu m s errin gen
sich d u rch diese G enossenschaft E in g an g in das geistige W eltbild, das bis
dahin ja n u r K aiser und Päpste ernst nahm . So viele ih re r sind, F ü rste n
von F e r ra r a , Signoria von Flo ren z, D oge und Senat von Venedig, Im ola,
Urbino, P eru g ia, Arezzo usw. usw. — so und gerade so soll in Italien das
Diesseits geordnet werden. Die V ernünftigkeit liegt gerade in dem Insel­
m eer von Republiken. D ieser erste Festlandsteil, d er sich im W o rm s e r
K onk ordat losgesprochen sah vom J o c h der deutschen K aiser um d er
W eltk irch e willen, v erfaß t sich nun in seiner eigenen R evolution als A rch i-
pelagus, als Inselm eer unzähliger Gemeinwesen von stren g er Selbständig­
keit und dennoch gebunden d u rch die F ü h re rs c h a ft des P ap stes und d er
K irch e und im m er einig m it ihm im W id erstan d gegen ein Im p eriu m vom
Ausland h er, das Italien im ganzen beherrschen wollte.
D er fanatische D enkzentralism us u n serer G egenw art v erm iß t in solch
einer L ö su n g die „nation ale“ G esam tidee. Aber die italienische N ation, die
ihre F re ih e it dem H erausdrängen des „U n u s“ , des K aisers verdankt, h a t
bis zu r Gitta del V aticano von 1 9 2 9 beides, die F ü h re rs c h a ft des P ap stes
und die M ehrzahl ih rer politischen Gemeinwesen, stets als ih re V erfas­
sung angesehen.
Die L an d sch aften , an die sich d e r P a p st wendet, sind u n ter frem d em
D ruck seit Jah rh u n d erten . Seit dem A ufstieg des letzten deutschen S tam ­
m es, d er Schw aben 1 1 6 2 zum K a iserstam m , w ar das V o rre ch t d e r deut­
schen Stäm m e insgesam t bei d er K aiserw ahl über das reich e und w irt­
sch aftlich führende langobardische K ö n igreich ein A nachronism us, eine
Zerstörung offenbare U n gerechtigkeit. Die Z erstö ru n g M ailands d u rch die D eutschen
m u ß als ein besonderer D ruckpunkt angesehen werden ähnlich d e r
1 1 6 2
Synode von S u tri fü r das P ap sttu m . Seitdem ist Italien in G äru n g . Mit
R ech t. Denn es bleibt d u rch diesen D ruck rückständig. Im m e r das rü ck ­
ständigste L an d m a ch t die Revolution. U nd es holt m it einem gew altigen
S p ru n g das nach , was andere Völker S ch ritt fü r S ch ritt erru n gen haben,
um sie zugleich zu überholen. E in en solchen gew altigen U rsp ru n g n im m t
Hypogenese auch Italien. W o rin bestand seine R ü ck stän d ig k eit? „Italien , wo die g rie­
chische und hellenistische K u n st eine so schöne und eigenartige N achblüte
und En tw icklung erlebt h atte und wo die altchristliche K u n st verh eiß u n gs-
- voll au f gegangen w ar, blieb h ie ra u f auffallend im W e ttla u f d er K u ltu r­
länder zurück. D as B este, das innerhalb d e r G renzen des Lan des seit dem
Aufblühen d e r altchristlich en M alerei geleistet w urde, tr ä g t den Stem pel

178
einer frem dländischen, der byzantinischen K unst und rü h rt zum groß en
Teile auch von ausw ärtigen griechischen M eistern her. Eilen w ir aber der
Zeit um einige Jah rh u n d erte voraus, so finden wir in demselben Lan de
die herrlichste E n tfaltu n g der K unst, der M alerei im besonderen und
einen eigentlichen Ü berschuß an g roß en Talenten, — auch hier die glän­
zendste E rfü llu n g des Spruches, die Letzten werden die E rsten sein.“
(K u hn.) Die m oderne Schöpfungslehre nennt dieses Vorspringen ,,H ypo­
genese“. „D as Gesetz der H ypogenese besagt, daß N eues w eiter rü ck ­
w ärts ausholend von prim itiveren d. h. kindlich gebliebenen F o rm e n aus­
g eh t.“ Vorbei also an d er führenden nordischen G oldschm iedetechnik und
Baukunst stü rm t d er neue „ S til“ des neuen Lebens in Italien.
N ur wo der K unst eine religiöse und eine politische, kurz eine m en -
schenum schaffendfr W irk u n g innewohnt, ist die B egeisterung und Teil­
nahm e d er gesam ten N ation begreiflich. N ur als Teil einer R evolution
erklärt sich das plötzliche Vorschnellen der italienischen K unst.
Die neue S p rach e dieser M alerei d rü ck t aber auch in dem von dem g o ­
tischen Geisterlebnis des N ordens fast ausgeschlossenen Italien eben die
politische Idee und d am it die E rru n g e n sch a ft der italienischen Revolution
aus! Die M alerei bleibt in Italien kein L u xu s, sie w ird ein E lem en t des
Volkslebens.

9 . A ssisi u n d F lo ren z
Z unächst fällt das Aufkom m en des Altarbildes m it dem A nbruch der
Vatikanrevolution zusam m en. E r s t um diese Zeit, seit 1 2 0 0 , tritt d er
P riester vor den A ltar m it dem R ücken zu r Gem einde. E r s t in diesem
Augenblick w ird d er Platz frei fü r das A ltarbild als den Abschluß, auf den
die Gemeinde hinblickt. Die M alerei erh ält eine neue Aufgabe.
A ber dies ist gleichsam n u r die V orbedingung d er Bew egung. W ie w ir
den P ap st als weltlichen Politiker aufsuchen m u ß ten , um die Politik d e r
F reistaaten zu w ürdigen, so m üssen w ir je tz t zu dem heiligen F ra n z uns
zurückwenden, d o rt wo er nich t d er M ann d er K irch e, sondern, d er S o h n
seines Volkes geblieben ist, um zu erm essen, wie dieser Sohn seines Volkes
sein Volk um geschaffen hat.
Die A rm u t des Franziskus ist eine radikale. U nd h ie r sp rin g t das revo­ Erschaffung des
Italieners
lutionäre und eben dam it das biologische, vitale M om ent eines solchen
Arm werdens im Geiste hervor. E r s t das Abwerfen alles geistigen R eich ­
tum s, aller persönlichen G eistreichigkeit b efäh ig t den M enschen zum S tif­
ter einer V olksart, einer G em einschaftszelle. D er einzelne, hum anisti­
sche oder hum ane M ensch h än gt die H üllen seines R eich tu m s um sich,
F ra n z verarm t und kam eben d ad u rch zum A hnherrn „d es“ Italieners
werden.
F ra n z wollte den M enschen n ich t das J o c h eines Geistes, au ch eines
■?
Heiligen Geistes n ich t auflegen. D aran litt die sichtbare K irch e m it ih rem

12*
J 79
täglich zitierten Heiligen Geist ja gerade im Ü b erm aß. E r wollte sie ent-
geistigen und d afü r beseelen. Deshalb hatte er die B ü ch er und Studien
seinen B rüdern verbieten wollen. Deshalb w ar er selber kein „S p iritu al“ ,
sondern eine prograjnm lose, arm e, liebende Seele. So h at er die W e lt­
kirche entlastet und Tausende erleichtert vom Jo c h des Gesetzes. Und des­
halb w ar es nicht etwa „ein bedauerlicher I rrtu m “ , sondern es entsprach
d er W ah rh eit seines Lebens, daß er den bestehenden Päpstlichen Stuhl
ehrte, statt neue geistige A utoritäten aufzurichten.
Aber so eingespannt zwischen seinen H im m el im H erzen und die so
irdische V erkörperung dieses H im m els in der Pap stkirche wäre er ohne
R aum um sein G efühl gewesen, wenn e r n ich t die L an d sch aft h ätte a n
sein Herz nehm en dürfen, m it seinem B e rg , seinem B ru d e r Sonne und
B ru d er W in d , m it den Tieren, den Blum en. „ F io re tti“ , Blüm lein des
heiligen F ra n z heißen noch heut die kleinen D ichtw erke um seine Ge­
stalt. Denn e r h a t au f der W iese die Blum en pflücken m ü sse n ; irgendein
Eigentum als U n terp fan d des him m lischen V aterlandes b ra u ch t jed er
M ensch; selbst ein H ölderlin singt von seinem „ E ig e n tu m “ . Dies E ig en ­
tum w ar fü r F ra n z n ich t die K losterzelle und n ich t die K irch e, sondern
die L and schaft.
Landschaft Man h a t längst bem erkt, daß ein g ro ß e r Abstand n ö tig ist, um die
L an d sch aft w ahrzunehm en. E in B a u e r g eh ö rt zu r L an d sch aft. E r steht
ih r d u rch aus nich t gegenüber. M an h a t z. B . die A rt u n tersu cht, wie d er
Älpler das doch so g ro ß a rtig e H ochgebirge, in dem e r lebt, anschaut. D a
ergab sich : „ E r scheint m ächtige W än d e und G ipfel, ausgedehnte T al­
gehänge oftm als zu übersehen, und e r benennt statt dessen eine Vielzahl
von K leinigkeiten. Als ech ter N aturm ensch h a t er nich t den Abstand von
der N atu r, um die G ro ß fo rm en d er L an d sch aft zu überblicken; diese lö­
sen sich ihm — wie je d e r E in d ru ck dem Prim itiven — in eine M enge von
Einzelheiten a u f“ (R . F in sterw ald er). D as gilt von allem ungeistigen
Volkstum . Dies än d ert sich nunm ehr. E s ist ein g ro ß e r S ch ritt in d er Ge­
schichte d er M enschheit, als jem an d so fern von d e r W e lt, aus m ön ch i­
scher D istanz, es w agte, m it den Augen einer geistigen Liebe w ieder au f
sie zu blicken. Jed e Revolution h a t den M enschen verselbständigt.
Die guelfische Revolution stellt den M enschen d e r L an d sch aft gegen­
über.
W en n F ra n z den Spiritualen und K etzern und allem geistigen R ad i­
kalism us fernblieb und an d er H e rrsch a ft der M adonna und ih re r irdi­
schen V erkörperung, der K irch e, festhielt, so h a t er doch die H im m els­
königin hinausgelockt in das italienische Lan d. D am it ist er d er gute
Geist des italienischen Volkes gew orden. Als F ra n z starb, m u ß ten die
M önche n ach Assisi noch einen deutschen B au m eister holen, o ffen b ar
doch, weil die D eutschen m e h r in d er Gotik galten als die „rü ck stän d ig en “
Italiener.

180
Aber in dies deutsche Bauwerk zog zuerst Cimabue aus Florenz. Und
ihm ist Giotto gefolgt. In Portiuncu la von Assisi sind die B egründer der
italienischen M alerei w ahrlich vom Geist des Heiligen in sp iriert worden.
E r hat sie hineingezwungen in seine L an dsch aft, in das Leben außerhalb
der steinernen und statutarischen W e lt. Das Grab von A ssisi hat fü r die
italienische K u n st d ie B ed eu tu n g erlangt wie das H eilige Grab fü r die
Bew egung der K reu zzü g e.
In der Revolution G regors V II. w urden die ideellen seelisch umwälzen­
den Ziele durch den P ap st, die m ilitärisch-politischen d u rch das Heilige
G rab versinnbildlicht. In der italienischen Revolution h at sich das V er­
hältnis um gekehrt. Die politisch-m ilitärischen Interessen und Ziele nim m t
die päpstliche D iplom atie w ahr. D ahingegen g eh t die seelische Um w äl­
zung von dem G rab dessen aus, der in w ahrer D em ut die erste w irkliche
N achfolge Jesu bis hinein in die K reuzigun g zu leben gew agt hatte.
Die Vatikanrevolution ist das dialektische W iderspiel der G regoria­
nischen. Deshalb füh,rt die seelische Um w älzung n u r hinein in das un­
politische und m achtlose R eich d er K unst. A ber über dieses R eich d e r
K unst d arf seit dem heiligen F ra n z kein europäisch er Politiker m eh r ge­
rin g denken. D u rch ihn h at die K u n st eine G ro ß m a ch t werden können
im Leben d er Völker. Die E rsch a ffu n g eines neuen M enschen wird auch Die Madonna
du rch die M acht der K u nst hervorgerufen. D er B am bino auf dem ersten
revolutionären Bild Cim abues ist ein neuer M ensch, — d er Italiener des
Abendlandes. Jed es G rab ist im stande, den U n terg an g eines Volkes, einer
Rasse aufzuhalten und sie zu erneuern, wenn es die Ü berreste eines reinen
Herzens birgt.
Als Cim abue in F lo ren z sein erstes B ild vollendete, das den byzantini­
schen Stil d u rch b rach , w urde es vom Volk in feierlich er Prozession aus
seiner W e rk sta tt in die K irch e getragen .
E s ist zu beachten, daß sich dies im ersten Augenblick ereignete, w o
eine italienische M alerei hervorbrach. 1 2 9 0 b rich t d er „dolce stil nuovo“
in Cavallinis Mosaiken in T rastevere du rch . F a s t ebenso frü h liegt die
Aufnahm e des g ro ß en Altarbildes von D uccio in Siena. Die G eistlichkeit
m it dem B isch of an d er Spitze, die Stadtbehörden und das Volk fü h rten
es unter dem G eläute d er Glocken in den D om . D er M aler und die S tad t­
republik von Siena stehen gleichberech tigt nebeneinander in dem Verse
D u ccio s:

M ater S an cta D ei, Sis Senis causa requiei,


Sis D ucio vita, te quia p in xit ita.
U nsere liebe F ra u e , laß Siena au f dich bauen,
Den D u ccio erh alte, weil e r dich also m alte.

Für jedes Gemeinwesen, vor allem aber fü r die in T oscana und Um­
brien, bleibt jedes neue M adonnenbild ein neuer A nlaß zum Ju b el. D ie

181
H uldigung d er F reistaath äu p ter vor den K ünstlern, das Verhältnis von
R affael und M ichelangelo zu den Päpsten geht weit über das hinaus, was
in anderen Völkern üblich ist. Selbst in dem adelsstolzen Venedig trä g t
d er D om von San M arco die nur in Italien denkbare, lateinische In­
sch rift : „ E r s t sieh sorg fältig zu und erkenne K unst und Arbeit der B rü ­
der F ran cesco und V alerio Z ucati aus Venedig an. D ann erst u rte ile !“
Gewiß haben H öfe dem Genie A chtung erwiesen. Aber im m er ohne jene
Unschuld und Intim ität, die Volk und K ü n stler in Italien so verbindet,
als sei der K ü nstler das O rgan einer g ro ß en F am ilie. U nd so» ist es in
der T at. Diese F am ilie ist das kleinere oder g rö ß e re Gemeinwesen, das
sich in dem Bilde verklärt und verherrlich t glaubt, das einen nationalen
Stolz au f seinen Sohn schon zu Lebzeiten em pfindet, d e r in D eutschland
einem K ü n stler vielleicht lange n ach seinem Tode gezollt w ird. D er N eid
fe h lt; d er K ü nstler wird vielm ehr unter die R epräsentanten d er N ation
gerechnet, m an stellt die B ilder geradezu eifrig n ach außen, um das Ge­
meinwesen zu verkörpern.
Stil“ Die M adonna in d e r L an d sch aft — das ist die höchste V ollendung des
italienischen „Stiles“ ; das W o r t Stil ist bis heut das internationalste W o r t
der italienischen Revolution geblieben. In diesem Stil ist die M adonna in
d er L an d sch aft das erste und das letzte von C im abue bis zu R affael, bis
zu dem hin an dieser Stelle n u r der Überblick zu reichen b rau ch t. R a f­
faels M adonnenbilder vollenden die italienische R enaissance g erad e als
Folksereignis. Seine anderen B ilder sind fü r H erren und K irch en , diese
fü r Italiens Volks- und N ationalgefühl gem alt.
R affaels A ufstieg über U rbino und P e ru g ia n ach F lo ren z, der geheilig­
ten W ieg e d er K u nst — C im abue und G iotto sind in F lo ren z daheim — ,
und von da in den V atikan zu den g ro ß e n W erk en d er P äp ste d u rch eilt
die bezeichnenden Stätten d er italienischen F re ih e it.
Die gem alte M adonna m it dem Jesuskind in d e r L a n d sch a ft bedeutet
diesen F reistaaten dasselbe, was in d er Antike das plastische M arm orw erk
d er S tad tgotth eit bedeutet hat. Die M adonna, das ist die F ü h ru n g d er
M utter K irch e über Italien.
Die eigene F re ih e it der Städte aber liegt in d er E ro b eru n g des H inter­
grundes, von dem sich die M adonna abhebt, in je n e r blauen H orizontlinie
der um brischen H ügel, der an die Stelle des byzantinischen G oldgrundes
g etreten ist. U m das zu erklären, ist ein Blick a u f das italienische Leben
nötig. D er Italien er sieht die H äuser als Teile d e r S ta d t; der P latz, a u f
dem die B ü rg e r sich ergehen, ist d er M ittelpunkt eines Lebens im F r e ie n ;
um diese Piazza w erden die W erk stätten und S ch lafräu m e n u r h eru m g e­
stellt, weshalb ja die T ü r o ft das einzige F e n ste r ist. Denn tagsüber steh t
diese T ü r eben ununterbrochen offen , d am it a u f den Platz hinausgelebt
w erden kann. E in solches Leben stieß nun zusam m en m it d er T atsach e
des K irchenbaues, wie ihn die N ordländer entw ickelt h atten, und d e r in

182
seiner gotischen F o rm dem Leben im F reien vollends w idersprach. Diese
Dom e ließen niemanden hinaus. Sie schifften, „die w allfahrende K irch e
der F ran k en “ , m it dem , der in sie ein tra t, fo rt ins Geheimnisvolle des
H im m els und des Ostens. Dagegen bäu m t sich das italienische Em pfinden
auf, das scharfe U m risse fo rd ert, eher grelle als verschw om m ene F arb en .
Denn sichtig ist L u ft und Land d er Halbinsel.
Auch die italienische A rchitektur h a t dem R ech n u n g getragen . D er
Kuppelbau tritt von A nfang an gegen die Gotik au f den Plan. Aber die
M alerei wurde zur H erzenskunst des Volkes. D enn sie n ah m die sch ön e
Außenwelt nach innen hinein in die K irch e. Sie tru g das Leben in d er
L an d sch aft in den K irchen rau m hinein. D er Innenraum der K irch e w ird
ein Bestandteil d er L an d sch aft aus einem F re m d ra u m , einem erdfeind-
lichen H im m elsdom des Nordens. D er Italiener ist nich t daheim in seiner
K irch e, sondern um gekehrt er ist ebenso „ d ra u ß e n “ wie sonst nella ca m -
pagna. „D aheim “ ist e r eben auch sonst n ich t und will er n ich t sein.
Und dieses schöne Lan d im L ich te d er M adonna und des Kindes ist
nun frei, soweit das Auge von d er K irch e aus den H intergrund d er W a n d
d u rch d rin g t, gerade so weit re ich t vielleicht die städtische, die republi­
kanische F reih eit. Die neue F re ih e it der K om m unen, die keinen H e rrn
über sich wissen, anders als in irgendeinem anderen Lande, h a t die L an d ­
sch aft um die S tad t h eru m entzaubert. Sie g eh ö rt zu dem einen Gem ein­
wesen dazu. Dies ist d e r U nterschied zu dem griechischen T em pel d er
Antike. E r steht in einem M auerring, m it dem alle H oheit des S ta d t­
gottes begrenzt ist. D as G ötterbild aus Stein b eh errsch t n u r die Steine
der Stadt. Die m ittelalterlichen K om m unen Italiens sind keine steinernen
urbes d er Antike. W o h l ist der A rchipelagus ih re V erfassun gsform . Aber
das Gesetz des Festlan d sin n em tr itt auch hier au f der italienischen H alb­
insel hervor. A ufgabe ist im Abendland im m er A usstrahlung, Sendung.
D as Italien d er F lo ren tin er und Sienesen ist ein anderes als das d er an­
tiken Städte. Die einzelne kom m unale Insel u m fa ß t m e h r als die S tadt
innerhalb ih rer U m w allung. Die L an d sch aft, n ich t die S tad t allein um gibt
die M adonna in d er. K ath edrale.
K ein an d erer als d e r M aler konnte dies W u n d e r anschaulich m achen zu
täg lich er E rheb ung.
So klein also diese italienischen K om m unen im V erhältnis z u r m od er­
nen G ro ß m ach t sich ausnehm en m ö g e n : Im m e r ist doch von ihnen die
g ro ß e Schw ierigkeit d er F lä ch en h errsch a ft, einer R aum überw indung und
einer Synthese von S tad t und Lan d bereits an g eg riffen und überwunden.
Sch on 1 1 9 2 nehmen alle Ein w oh n er d er G ra fsch a ft Genua B ü rg e rre ch t Die Pfahlbürger
als Regel
in d er S tad t G enua. W a s den deutschen Städten ja h ra u s, jah rein verboten
wird, die A ufnahm e von Landbew ohnern in die Stad t, das wird das politi­
sche G rundgesetz d er italienischen F re ista a te n ! „G ittadino“ wird jeder
7
Bew ohner d er D ö rfe r au ch . Die D orfbew ohner um F lo ren z sind alle „ F lo -

i83
rentiner“ ! Civiltä, K u ltu r der C ittä, um spannt nicht n u r den M auerring,
sondern wird das Ideal dieser neuen Gemeinden. Ih r Podestä leitet seine
Amtsgewalt unm ittelbar wie jede Obrigkeit von G ott ab, h eiß t es schon im
ersten T rak tat über sein Amt. N ur der Geist des Studium s und der Künste
ist über diesen H underten souveräner Stadtobrigkeiten! Diese H errsch aft
von der Stadt aus über 3 o o o bis 1 0 0 0 0 qkm ist das politische Ideal der
guelfischen Revolution.
W ie dem P ap st das Heilige Grab als M ittelpunkt seiner Civitas terren a
vorgeschwebt hatte, so finden wir hier erneut das Stichw ort der Civitas.
Jed e Revolution h a t es vor sich hergetragen , jede aber in einem anderen
Sinn und in einer anderen sprachlichen N uance. Civiltä ist noch heu t un­
übersetzbar.
Florenz Die E ro b eru n g einer L an d sch aft, der kein K aiser und kein K ön ig g e­
bieten d arf, ist wohl am eind ruck vollsten in F lo ren z geglückt. Venedig
au f seinen Lagunen hatte diese F ra g e seiner te rra ferm a nie so zu lösen
notwendig. W ie bei der H ansa des N ordens erlaubte h ier das M eer ein
eigenes R eich au fzu rich ten ; deshalb verm ählte sich der D oge von Venedig
alljährlich feierlich d u rch R ingabw urf der Adria. R o m w ar d u rch K aiser
und P ap st in einer besonderen L ag e, B o logn a lebte von seinem abend­
ländischen R u h m als H ochschule. M ailand kam zu seh r als Sitz eines g ro ­
ß en Staates in d er Lom bardei in B e tra ch t, um lange genug die reine
Stadtfreiheit ausbilden zu können. F loren z ist der Edelstein d er italieni­
schen F reistaatsk u ltu r. An diesem O rt m it all den als K ü nstlergeb urtsorte
berühm ten D ö rfern , wie V etignano (G io tto !), Settignano (M ichelangelo),
Vinci (L io n ard o ) ist die Leistung, a u f die es in der R evolution d er G uel-
fen und Ghibellinen ankam , am reinsten gestaltet w orden. Sch on der
K o m m en tar des Benvenuto de Im o la zu D antes P u rg a to rio gibt u n ter al­
len Z im m ern des prächtigsten P alastes der W e lt, Italien, F lo ren z den
Preis.
H ier w ar auch die A ufgabe am schw ierigsten zu lösen. Deshalb h a t sie
h ier das g rö ß te Lebensopfer gekostet. D antes V erbannung zwang ihn, den
W e g du rch H im m el und Hölle anzutreten. Sie gab F lo ren z den W e g frei,
als guelfischer F estlan d sfreistaat das Attika E u ro p a s zu w erden, d ie Stadt
in der L a n d sch a ft, la cittä nella cam pagna.

1 0 . D er w eltliche Staat
D er S tad tstaat Italiens ist d e r erste rein w eltliche politische Körper im
m odernen Sinne, der erste S taat. D ieser S taat in E u ro p a beansprucht n u r
einen Teil der Seele. D enn er ist w eltlich. In Italien entsteht eben deshalb
das W o r t „ S ta a t“ , weil h ier die Z ustandseinheit eines Gebiets abzüglich
der K irchen gew alt neu benannt w erden m u ß . D ie Sache ist aber in Italien
noch älter als d er N am e S ta a t: Die Sache ist die rein w eltliche G ew alt
dieser K om m unen. D er S tad tstaat Italiens kann seinen Einw ohnern n ich t

' 184
den Glauben oder Kultus, e r kann ihnen nu r den Fried en und das R ech t
bringen. Die von d er K irche geforderte geistige T rennung von K irche und
Staat, geistlichem und weltlichem R ech t erzeugt hier in der italienischen
K om m une den weltlichen Staat.
Seitdem steht in E u ro p a dieser fragm entarisch e C harakter jedes poli­
tischen Gemeinwesens fest. Die G efahr des K alifats ist im Abendland be­
seitigt. Kein politischer K ö rp er kann m eh r das All verkörpern. Die U n i-
versalpolis ist seitdem in der europäischen M enschheit nie wieder ge­
kehrt. N ur als B ruch teil der W e lt entsteht und besteht der Staat. D enn er
ist nicht K irche. D er Stadtstaat w ar klein und lag sichtbar im Sch atten der
W eltkirche. D adurch konnte e r das erste rein weltliche E xp erim en t zur
O rganisation eines Erdb ru chteils bilden. J e g rö ß e r seitdem die weltlichen
Staaten wurden, desto schw ieriger w urde es, den Gewinn der Papstrevo­
lution festzuhalten, d er eben im weltlichen C harak ter des Staats zu er­
blicken ist. Jed e spätere Revolution h a t aber diesen Gewinn trotz aller
Schwierigkeiten b ew ah rt: F ü rsten staat, Adelsstaat, N ationalstaat und
W irtsch aftsstaat sind weltlich geblieben. Auch noch die Sow jetunion, die
ein Sechstel des Erdballes einnim m t, m u ß weltlich sein. Das was die E u ro ­
p äer S ta a t nennen, erzeugt keinen G ottesglauben. Denn es sind und blei­
ben das bloße Einzelstaaten, eingebettet in eine g rö ß e re geistige W elt. Alle
Staaten sind Abspaltungsform en aus einem Ganzen geblieben! G ott aber
ist kein Teil und kein Einzelner. Auch das W o r t Staatskirche bedeutet da­
h e r nicht etwa eine K irch e des Staats, sondern n u r die K irche, zu d er sich
der S taat bekennt! Ebenso ist die Staatsreligion die R eligion, die der S taat
über sich nim m t, n ich t aber eine R eligion, die e r sich erschüfe.
W o h l re g t sich im m ittelalterlichen S tad tstaat der Trieb nach dem Der stadtgott
S tad tg o tt so wie es den Trieb zum „deutschen G o tt“ im K riege geben
kann. So g u t wie die absoluten F ü rste n o d er die absolute N ation h at die
S tad t nach G ottähnlichkeit gestrebt. Von B e rn rü h m te m an im i&. J a h r ­
hundert : „G ott selbst ist B ü rg e r w orden zu B ern und fich t fü r sie; w er
m a g wider sie se in ?“ D as ist ein W o r t, das den Stolz des Stadtstaates der
G uelfen g u t bezeichnet. Aber ein d e ra rtig e r Ü berschw ang än d ert nichts
an dem grundsätzlich weltlichen C h arak ter des F re ista a ts.
Die guelfische R evolution h at eine neue A rbeitsteilung erfo lg reich ver­
w irklicht; und zwar ist es die A rbeitsteilung der päpstlichen und der städti­
schen Gewalt, d er A u torität und d er P o testas in dem neuen Sinne, d aß der
P ap st von A u torität, die S tad t von P o testä sprich t. An die Stelle der an - A utorität und
tiken B edeutung d er B e g riffe au ctoritas und potestas, so wie sie Augustus 0 6 as
in dem berühm ten AnkyraUum g eb rau ch t hat, ist dam it die ch ristlich -
europäische Ein teilu n g getreten , die A u toritä t der K irch e und w eltlicher
Staatsgewalt. So teilen sich die Ä m ter des geistlichen und des weltlichen
R echts. Dies weltliche R e ch t h eiß t das ins civile neben dem kanonischen
R ech t. D as W o r t Giviltä fü r die S tadtk ultur wird dah er auch von d ah er

i85
begründet als der Ausdruck fü r diese neue weltliche Geistigkeit. Als das
rein weltliche R ech t wird dies antike ius civile angesehen und gegenein­
andergestellt. A utorität ist geistliches, „p otestas“ weltliches R echt.
Schon das erste „G esch öp f“ der Päpste dieser Revolutionsepoche, der
sizilische K önig F rie d rich II., das Kind von Apulien, pflegt deshalb als
das erste „m oderne“ Staatsoberhaupt bezeichnet zu werden. D as König^-
reich beider Sizilien gilt als der erste m oderne Staat. D as was in d er T a t
auffällt, ist die A nstrengung F ried rich s, zur O rganisation eines Gebietes
von beträchtlichem U m fan g zu schreiten, ohne dabei die Q ualität d er R e ­
gierungsgew alt an die unteren O rgane und D iener seines R egim ents zu
verschleudern. Dies unterscheidet den S taat vom Lehnwesen.
In allen vorstaatlichen Im perien und K önigreichen regieren die Va­
sallen ihren U nterbezirk aus der gleichen V ollm acht wie der H erzog oder
K önig über ihnen. W o also noch n ich t „ S ta a t“ im m odernen Sinne ist,
d a sind die D o rfh e rrsch a ft, die L an d esh errsch aft und die R eich sh err­
sch aft von d er gleichen Totalqualität. Sie sind alle H errsch aft. Sie haben
alle die vollständige „K om petenz-K om peten z“ , das V ollrecht des R egi­
m ents. Die g rö ß e re E in h eit d er „R eich e“ und L än d er w ird n u r hergestellt
d u rch die T reu e, die d er U n terh err dem O b erh erm schuldet. D iese per­
sönliche P flich t d e r U n terh errn , nach dem W illen des O berherrn ihn a u f­
zusuchen und vor ihm sich zu verantw orten ist das einzige G egengew icht
gegen die ungebrochene H errlichkeit in den kleineren H errsch aftsb erei-
chen. Jed es Landesteil fü r sich ist beh errsch bar. Die L än d er sind deshalb
ohne Schw ierigkeit teilbar.
Die P äp ste h atten diesen T o talh errsch aften des Feudalism us ih re k irch­
liche Ä m terord n u n g gegenübergestellt. D arau fh in w ird das italienische
Staatsgebiet das erste, das nun m it einer Z usam m enfassu ng aller S taats­
tätigkeit k ra ft einer kunstreichen A rbeitsteilung antw ortet. Seitdem ist der
S taat n u r die G ebietskörperschaft, in d er in keinem einzigen Teilgebiete
die volle H errsch aftsfu n k tion eines Vasallen a u ftritt, sondern in d er sich
Beam te die Funktionen teilen m üssen sowohl räu m lich wie sachlich. E in
solches „G ebiet“ wird also im ganzen von einem einheitlichen W illen ge­
ordnet, ohne d aß die Q ualität, die E ig e n a rt dieses W illens in Teilen des
Gebietes sich w ieder fände. Diese Q ualität d e r Einzigkeit fü r den H e rr­
scherw illen d e r Signorie ist z. B . dem vorstaatlichen Gebilde des W e ih e ­
kaisertum s unbekannt.
D as M ündel des P ap stes, F rie d rich II. h at w ohl als d er erste F ü r s t des
Abendlandes bereits den A nlauf zu dieser O rganisation eines „ S ta a te s“
genom m en. Als eine A rt V orversuch o rgan isiert e r sein Lan d als Teil d er
Apenninischen Halbinsel. D as neue w eltliche B ild des italienischen S ta a ­
tes wird deshalb bei ihm vorw eggenom m en a u f dem sizilisehen Siegel,
dessen F ü h ru n g e r dem P a p st im N ovem ber 1 2 2 0 versprechen m u ß te .
D er P ap st verlangte, d a ß e r die R ech te in Sizilien ein fü r allem al von den
K aiserrechten trenne. Mit dreiteiligem Titel am tiert e r seitdem wieder,
näm lich als F ü r s t auf Sizilien in Gapua und in Apulien. Sein Siegel hatte
bisher die Weltherrschaftsansprüche des K aisertum s d u rch das Bildnis
d er S tad t Rom abgebildet. A uf dem neuen Siegel Siziliens aber wird die
Landkarte seines Staatsgebietes .wiedergegeben!
So klein dies Siegel, so reich h altig und m erkw ürdig ist seine P räg u n g . Die älteste
Die M eerenge von Messina, Sizilien und Galabrien, Apulien und K am p a- karteSche Land
nien, d er H afen von Messina und T rapani, Salerno und Neapel und B a ri
sind zu sehen. D azu aber B äum e und Flu ß b rü ck en zur W iedergabe d er
L an dsch aft.
Die D arstellung ist prim itiv und doch vereinigt sie au f kleinstem R au m
alle Elem ente eines neuen, revolutionären W eltbildes. H äuser und B äum e,
S tad t und Lan d erscheinen hier zum ersten Male als In b eg riff eines
gleich m äß ig überschauten, als S taat zusam m engefaßten Gebietes. N och
gibt es nicht einm al den einheitlichen N am en für die drei F ü rste n tü m e r,
die das Siegel zusam m enfaßt. Aber d er hieratisch-sakrale C h arak ter d e r
H errsch aft ist verschwunden und trotzdem wird die E in h eit des Ganzen
gesehen und festgehalten. Dies Stück W e lt wird als W e lt organ isiert. D er
S taat au f d er Lan dkarte — uns heu t eine Selbstverständlichkeit, jenen Zei­
ten aber der L eh en sh errsch aft und des Feudalism us etwas areligiös E r ­
schreckendes — dieser rein weltliche S ta a t erscheint hier, a u f dem Siegel
F ried rich s, als die neue weltliche F o r m des Lebens, die gerade die P ap st­
revolution den italienischen Gewalten abringt, zum ersten Male.

1 1 . Ü berm ut u n d F a ll
W ir blicken tief in die Gesetze d er Revolution hinein, wenn w ir jetzt
dem Schicksal Italiens nach 1 2 6 8 uns zuwenden. D e r F ü h r e r d er R evo­
lution, d er P ap st, w urde selbst zun ächst ih r O pfer. M it 1 2 6 8 ist d a s
Glück des P ap sttu m s zu E n de. In R o m und a u f den Konzilien m eh ren
sich die Sturm zeichen. A ber d er W a h n des T riu m p h es h ä lt noch eine Z eit
den S ieger au f d e r stolzen H öhe seiner E m p ö ru n g . Von i p 6 8 — 1 8 0 9
kann m an diese F r is t des Ü berm uts rechnen. D ie S elb stvergötteru ng des
P ap sttu m s ging dam als ebensoweit wie die A ushöhlung seiner M acht­
grundlagen.
„A u f d er R ü ckk ehr von dem Konzil von Lyon w urde P a p st G re g o r X .
d u rch die Ü berschw em m ung des A rno gezw ungen, die S ta d t F lo ren z zu
betreten, die e r au f dem H inw eg m it dem In terdikt belegt h a tte und die
e r deshalb n ich t betreten d u rfte. Aber andere B rü ck en und W e g e w aren
nicht frei als die m it dem F lu ch e belegten B rü ck en und S traß en der aus
G ottes G em einschaft ausgeschlossenen Stad t. D a hob d e r P a p st das In ter­
dikt auf, zog segnend d u rch die S ta d t und erneuerte den F lu ch , als er das
T o r h in ter sich hatte/ 4 (G . K au fm an n .)
Zu dem einen G oldreif, den die päpstliche K ro n e bis dahin um gab,

187
wurde von Bonifaz V III. i 3 o 5 ein zweiter und bald d arau f ein d ritter
R eif gefügt. Die dreifache K rone, die T iara, trä g t seitdem der Papst.
i 3 o 2 verkündet Bonifaz V III. die Bulle U nam sanctam , die den W e g
des D ictatus Papae in die abendländische W e lt abschließt. Alle weltliche
Gewalt hän gt vom P ap st ab. D er „U n itas“ der K irch e wird die Unitas des
Papstes gleichgesetzt. Und 1 2 9 6 schon hatte e r den K önigen jede Bet­
steuerung des K irchengutes d u rch die weltlichen Gewalten streng verbo­
ten. Dies V erbot hing so sehr in der L u ft und w idersprach der Besitzver­
teilung so sehr, daß er es 1 2 9 7 bereits zurücknehm en m ußte. i 3 o 3 über­
fiel Philipp de N ogaret auf Befehl Philipps des Schönen Bonifaz V III. in
Anagni. D er Schm erz über diese Schm ach tötete den Pap st. i 3 o 5 wurde
ein Franzose gew ählt, ernannte neun Fran zosen zu K ardinälen, so daß die
Franzosen die M ehrzahl im K ollegium bildeten, und residierte seit i 3 o 9
in Avignon. Die Z eit d er D em ütigung, d er „babylonischen G efangen­
sch aft“ d er Päp ste begann.
En tsetzt blickt die W e lt a u f den tiefen F a ll. „ S u r le pont d ’Avignon
tou t le m onde danse.“ In R om versucht C ola di Rienzo die ganze P a p st­
revolution d u rch eine Stadtrevolution m it einer weltlichen H um anisten ära
zu stürzen. D ante verzweifelt an Italien : „Sklavin Italien, alles Leids K a­
stell / S ch iff ohne Steuerm ann im W irbelw inde / nich t der Provinzen
H errin , nein B o rd e ll!“ (P u rg . 6 , 7 5 .)
Und doch lassen gerade die avignonesischen P äp ste m issionieren in
Indien, C hina, Nubien, Ägypten, Abessinien, M arokko, errich ten W iln a,
Halicz und K am ieniez in Polen und sorgen fü r Serbien und Bosnien. Die
lateinische Theologie entfesselt dam als in Byzanz die leidenschaftlichsten
K äm pfe. Und in P r a g spiegelt sich n och h eu t die bauliche H errlich k eit
von Avignon.
Kreislauf der D as E x il w ar eine Zeit der E rn ied rig u n g , aber zugleich eine V erfas-
Verfassungen sungsum wälzung. D as K ardinalskollegium tr a t n u nm ehr die schon lange
vorbereitete H e rrsch a ft an. Die M onarchie blieb, aber eine A ristokratie
höhlte diese M onarchie aus. Die Polis d er E cclesia R om an a des M ittel­
alters ist dam it das Vorbild fü r die Schicksale des neuzeitlichen S taates
geworden. N u r wenn m an diese P rü fu n gszeit d er Revolution als Z eit der
K ardinäle w ürdigt, enthüllt sich das n äch ste Z eitalter, das d er Konzilien,
als ein drittes, näm lich als das d er D em o k ra tie in der K ir ch e. Die Staaten
sind in d er Neuzeit genau so den W e g M onarchie, A ristokratie, D em o-
kratie einhergezogen. N ichts anderes b esagt die R eihenfolge des deutschen
F ü rsten staats, der englischen A d elsherrschaft, der französischen D em o­
kratie ! A ber diese P arallele d er K irch e zeigt au f, was sonst übersehen w er­
den könnte, d aß keine dieser F o rm e n je absolut bestanden h at. D em ok ra-
- tische und aristokratische E lem ente erm öglichen ja n u r die P a p stm o n a r­
chie. Denn sie setzt einen D em os, ein künstliches geistliches Volk voraus,
das aus den V olksstäm m en sich d u rch einen besonderen Akt ausson dert

188
als Klerus. In diesem Dem os bilden B ischöfe und K ardinäle die Aristo­
kratie, aus der das O berhaupt hervorgehen m u ß , weil auch der P ap st kein
eigen Fleisch und B lut zum E rb en hat.
Auf M onarchie, Aristokratie und D em okratie hat daher abwechselnd
der Ton gelegen. Aber es ist anders wie in der Antike, keinen Augenblick
n u r eine dieser Verbandsform en vorhanden, sondern im m er alle drei.
Auch in Avignon, wo das K ardinalskollegium den A usschlag gibt, ist der
P ap st weiter wirksam als w ahrer M onarch der K irche. Auch in der K on­
zilszeit sind P ap st und K ardinäle in A m t und W ü rd en .
Die europäische Kultur steht immer vor der Aufgabe, Monarchie, Ari­
stokratie und Demokratie in der richtigen Weise zu mischen. Die Ver­
suche, eine reine D em okratie oder M onarchie oder A ristokratie auszuden­
ken, sind ein tö rich ter, ideologischer Aberglauben und rufen n u r R ück­
schläge hervor. Die klassische B ildung h a t da eine g ro ß e V erw irru ng
angerichtet. B ei Polybius liest m an etwas von dem K reislau f der V erfas­
sungen aus M onarchie über ihre E n ta rtu n g zur A ristokratie und von de­
ren E n tartu n g weiter zur D em okratie und so fo rt.
Die K irch e und ih r nach die Staaten des Abendlandes sind von vorn­
herein m it der F ü lle b eladen: Die V orzüge aller drei Lebensform en m üs­
sen rich tig gem ischt und verschm olzen w erden, ohne einen d er K ernstücke
jed er F o rm preiszugeben.
Als die äuß ere D em ütigung der K irch e 1 8 7 8 zu En de ging, weil die
Zustände im K irch en staat den P ap st n ach R o m riefen, da w ar seine Auto­
ritä t so ersch ü ttert, daß die französischen K ardin äle ihm einen G egen­
papst entgegenstellten, der bereit w ar, in F ra n k re ich zu bleiben. W e d e r
d er P ap st noch die K ardinäle konnten des Schism as, das sie selbst h erau f­
beschw oren hatten, H e rr werden. So blieb n u r das Konzil. D reim al, 1 4 0 9
in P isa, i 4 i 4 — 1 4 * 8 in K onstanz, 1 4 3 1 1 4 4 6 in Basel haben also de­
m okratische K irchenversam m lungen den Übeln d er M onarchie und A ri­
stokratie zu steuern versucht.
E in einheitliches und ein in R om beheim atetes P ap sttu m entstieg diesen
W irre n , 1 4 4 3 zog der P ap st E u gen IV. endgültig n ach R o m zurück. Aber
erst i 4 4 9 starb sein G egenpapst F e lix V.

1 2 . D ie goldne Zeit der Civiltä hum an a


Und nun begann die E rn te der ganzen Zeit fü r Italien. Von 1 4 5 2 bis
i 4 9 4 w ährt die goldene Zeit Italiens. Die weltlichen F re ista a te n und der
K irch en staat unter dem P a p st, unangefochten von Im p eriu m und F re m ­
den lebten u n ter dem blauen H im m el d e r H albinsel wie unter einem
schützenden D ache. E s w ar die hohe Z eit d er K u n st in Italien, die Zeit
L o ren zo di Medicis.
Die Zahl d er bedeutendsten K ü n stler aus F lo ren z und M ittelitalien in
diesem halben Ja h rh u n d e rt ist unübersehbar g ro ß . Venedig und seine
D iplom atie stehen au f d er H öhe ih rer M acht. Die K önigin von C yp em
setzt die Lagunenrepublik zu r Erb in ein. Mailand ist ein reiches und nach
allen Seiten unabhängiges H erzogtum .
In R om aber fa ß t Nikolaus V. i 4 5 o den E n tsch lu ß , den Vatikan zum
g rö ß ten P alast der W e lt zu erheben. M utter und H aupt aller K irchen und
Ausgang des geistlichen A m ts der Päpste w ar d er L a te ra n und seine J o ­
hannesbasilika gewesen. D er L ateran hatte schutzlos d rauß en außerhalb
des heidnisch-kaiserlichen R om an d er Appischen S tra ß e gelegen. Auch
d er Vatikan liegt außerhalb des heidnischen R o m , an der S tätte der n ero -
nischen C hristenverfolgung. A ber er liegt a u f dem rechten T iberufer im
m ilitärischen Schutze d er Engelsburg.
E r w ächst n u n ; d er L ateran nim m t ab. „D ie Cappella San cta San ctoru m
wird zu einer verstaubten und verschlossenen R eliquienkam m er“ (W it­
tig ). Aber bis zu n o o o R äum en ist d a fü r d er Vatikan angew achsen. Auf
die goldene Z eit g e h t noch die päpstliche Hauskapelle zurück. Von F lo ­
ren tin er M alern ausgeschm ückt ist die Sistina d er g rö ß te R uhm estitel der
italienischen Stadtstaatskunst und des Pap sttu m s zugleich gew orden. Die
Sängerschule d e r Sistina h a t au f Ja h rh u n d e rte als die hohe Schule d er
G esangskunst gegolten.
E s ist seit dieser Zeit d er K ü n stler und der D iplom at, den die W e lt aus
Italien zu holen sich gew öhnt h at. D resden, W ü rz b u rg und M oskau, d e r
Louvre, B erlin und London haben sich schon seit 1 5 o o und dann im m er
wieder Italiener herbeigeholt zu künstlerischen A usführungen.
D er D iplom at und d e r K ü nstler der Töne und d er F a rb e n sind — ro h
gesp roch en — seitdem die A u sfuhrm ensch enart d er italienischen K u ltu r,
sie, deren n atü rlich e Ü berlegenheit gleich sam selbstverständlich vorau s-
gesetzt w ird ; auch dann, wenn eine andere N ation deutsche T iefe oder
sonst irgendeine T ugend bei ihnen v erm iß t, so gesteht m an ihnen dennoch
irgendein undefinierbares je ne sais quoi an G eschick und F e rtig k e it
zu. Sie sind die geborenen K ü n stler und D iplom aten, d o rt, wo die anderen
d aru m ringen, es zu w erden.
Diese A usdrucksw eise: die „geb oren en “ K ü n stler und D iplom aten tr iff t
den N agel au f den K o p f. E in e M enschenart ist in d e r U m w elt des S ta d s­
staats und d er M adonna, des P ap sttu m s und d er italienischen L an d sch aft
h erv o rg eb rach t worden. Die einm al revolu tionär erw orbenen E ig e n sch a f­
ten vererben sich, als seien- sie angeboren. D arau s d a rf m an ab er keine
U nveränderlichkeit d er A rt folgern . Die revolu tionär gesetzten, evolutio­
nistisch entw ickelten E igen sch aften vererben sich n u r, solange die Bedin­
gungen bestehen, die das G elingen d e r Z u ch t sich ergestellt haben. D iese
B edingungen bleiben n atü rlich n ich t konstant. Sie haben sich verschlech­
te rt u n ter dem sp an isch -fran zösisch -österreich isch en R egim ent.

"2

190
XI. D I E I T A L I E N I S C H E R E N A I S S A N C E '/
A N T L IT Z O DER M A SK E

ine reiche L ite ra tu r treib t h eu t vergleichende Völkerpsychologie und vöikerpsycho-


E n im m t die europäischen Volkscharaktere als gegebene G röß en, die es z u logie
verstehen, darzustellen, nachzufühlen und zu bewundern gelte. D as B uch
eines Spaniers, des D irektors d er Abrüstungssektion des Völkerbundes
in Genf über dies T h em a schließt m it der F eststellu n g, wie langweilig die
W e lt w äre, wenn ehe W e lt aus lau ter uniform en C harakteren bestände
und stellt die A rten gegeneinander in ih re r gründlichen V erschiedenheit.
In seinem Optim ism us rech n et er a u f das dauernde Dasein dieser C harak­
tere. W ir teilen diesen O ptim ism us nich t. Die C haraktere sind ersch af­
fen worden d u rch eine R eihe von Bedingungen. N ur wenn die B edingun­
gen erhalten bleiben, geht aus der Pflan zstätte der K u ltu r im m er wie­
d er die A rt M ensch hervor, d er dieser C h arak ter wohl ansteht. Sobald
sich die Bedingungen verschlechtern, en tartet der C h arak ter und d ro h t
zur K arik atu r seiner selbst zu w erden. D ie Italien er haben schw er unter
dieser E n tartu n g gelitten.
Als T heodor M om m sen, d er als d er G eschichtsschreiber R om s könig­
liche E h ren in Italien bei H och und N iedrig gen o ß , m it dem D ich ter G iu­
seppe G arducci im offenen W a g e n über L an d fu h r, rannten ein p aar zer­
lum pte Ju n g en herbei m it der göttlichen N aivität d er B e ttle r in Italien,
die alle von d er Sorglosigkeit des Poverello in Assisi einen S ch im m er be­
w ah rt h ab en .. M om m sen b rach in ein fröh lich es G eläch ter aus. G arducci
aber sprang en trü stet aus dem W a g e n und w ar n ich t zu bewegen, w ieder
einzusteigen. E r könne es n ich t e rtra g e n , seine Landsleute von dem noch
so verehrten A usländer so von oben herab behandelt zu sehen. D er Ita r
liener des 1 9 . Jah rh u n d e rts h a t von Ja h rz e h n t zu Ja h rz e h n t sch m erzlicher
unter der P rä g u n g seines C harak ters zu einer angeblich unveränderlichen
Maske gelitten. E in e schm erzliche S ch am ist der M ensch, dessen A rt ein
fü r allem al g ep räg t sein soll. D er A u fb ru ch des italienischen R iso rg i­
m ento h a t im m er h eftig er gegen die F e rtig k e it sich au f geleim t, die über
Italien m it der R enaissance gekom m en w ar. F ertig k eiten kann der M ensch
im guten und im schlechten Sinne haben. D ie K u n stfertig k eit und die
diplom atische V erw endbarkeit des Italieners m ach en , weil sie eben auch
F e rtig k e it und V erw endbarkeit sind, au ch die Seele fe rtig und den Geist
unwandelbar.
K eine N ation in E u ro p a ist so alt wie die italienische. Ih re A ngst vor
ih re r eigenen Maske w ar d ah er im 1 9 . Ja h rh u n d e rt g rö ß e r als bei irg en d - !
einem anderen Volk des Erdteils. N och das R isorgim ento m u ß te 1 8 1 0 ,
1 8 8 9, 1 8 6 6 und 1 8 7 0 sich durch frem de Staaten Politik vollenden las­
sen ganz wie der Vatikan im Trecento und Q uattrocento. So folgte dem
R isorgim ento, der A uferstehung, 1 9 1 3 der F u tu rism u s, der gerade die
geheiligten K u ltu rstätten Italiens beschim pfte als die K erker und G rüfte
des italienischen M enschen. D er N am e F u tu rism u s ist bezeichnend: D er
geprägte C h arak ter wollte hinaus aus seinem K erk er in irgendeine Z u­
kunft. D er F asch ism u s h at dem Fu tu rism u s G estalt gegeben. Die B edin­
gungen fü r die Z üchtung des „Italien ers“ hatten sich so verschlechtert,
daß die Maske zur Totenm aske zu werden drohte. Die innere U n sich er­
heit des italienischen Selbstgefühls gegenüber den anderen Völkern E u ro ­
pas ist o ft bem erkt w orden. Sie geht au f diese A ngst der italienischen
Seele zurück, zur K arik atu r ih re r selbst gew orden zu sein. H eut ist d er
K erk er gesprengt. Die europäischen V olkscharaktere werden nich t n u r,
sie vergehen au ch w ieder — glücklicherw eise.
Kein Volk ist in E u ro p a , dem der D u rch b ru ch aus der Maske seiner
N ation ersp art bleiben d arf, wenn die B edingungen wegfallen, die ihm das
m enschliche Antlitz g ep räg t haben. Antlitz und Maske sind zweierlei. D as
Antlitz m ach t den M enschen zum Ebenbild G ottes. D as Antlitz ist g ö tt­
lich. Die Maske ist eine schm erzliche S ch am fü r ihren T rä g e r, au f die
'rnxkfc. sie, als, K arik atu r ^a u f d eu tsch als Maske und F ra tz e .
In zweieinhalb Jah rh u n d erten oder a ch t G enerationen ist der C harak ter
des Italieners g ep räg t w orden. D u rch fünfzehn G enerationen h a t er sich
behauptet — . Die Pflanzstätte des m enschlichen Antlitzes „ Ita lie n e r“
stand im G leichgew icht bis zum Tode L orenzos di M edicis und w enig
darüber. Zwei Ja h r e n ach der En td eck u n g A m erikas, i 4 9 4 , brachen die
Fran zosen ins L an d . Seitdem tra t an die Stelle d er F re ih e it der K o m m u ­
nen die F re m d h e rrsc h a ft au ch in M ittel- und N orditalien. S ch ließlich
verkehrte sich die V erfassung Italiens geradezu in das G egenteil d e r Zeit
von i 4 5 o . D enn bis i 4 5 o hatte der A rch ip elagu s d e r F re ista a te n be­
standen, n u r der P a p st w ar n ich t o d e r n u r un sich er in R o m . Seit i 4 9 4
erloschen die F re ista a te n einer n ach dem andern. N u f der P ap st h errsch te
nun im V atikan. Am E n d e des 1 9 . Ja h rh u n d e rts w ar d er K irch e n sta a t als
das letzte Gebilde der ursprünglichen A rtu n g üb rig.
Deshalb bildet die Zeit von i 4 5 o bis i 4 9 4 eine so au ß erord en tlich e
G nadenzeit fü r Italien, weil .noch die F re ista a te n blühen und schon wieder
der P ap st im Vatikan resid iert.
Seit dieser Z eit ist der Vatikan aber au ch eine italienische E in rich tu n g .
D ie T alente des italienischen Volkes haben h ier eine bevorzugte L au fb ah n
vor sich. D ie M ehrzahl der K ardin äle sind seit i 4 5 o bis 1 9 1 8 Italien er.
Das höchste G erich t der röm isch en K u rie, die R o ta , bestand frü h e r aus
1 2 A uditoren. Davon w aren 3 R ö m e r, 2 Spanier, 1 D eutscher, 1 F r a n ­
zose, 1 V enetianer, 1 M ailänder, 1 F lo re n tin e r, 1 Ferrarese, 1 B olognese.

192
D er Bund des Papstes m it dem italienischen Archipelagus spiegelt sich
in diesen H erkunftsorten.
Venedig, Mailand, F loren z und R om , schreibt G uicciardini, seien in
diesen Jahrzehnten wie die Saiten einer goldenen H arfe gewesen. K ost­
bar und harm onisch, ein Geschenk G ottes. i 4 ü 4 sei die H arfe zer­
sprungen.
Die Zeit w ar m it diesen vierzig W u n d erjah ren erfüllt. Von G ott wen­
den sich die Italiener den G öttern zu. D er H um anism us der italienischen
Renaissance läß t die geheim e V erkettung von P ap sttu m und F re ista a t in
d er Abwehr d er F rem d en , das G eheim nis der italienischen Revolution
aus den Seelen w eichen, weil er die W e rte um w ertet, die diese O rdnung
geschaffen hatten.
D as W eltg erich t, das Heilige G rab und la Gitta del V aticano, das sind
die Them en d er drei E p ochen des Abendlandes von 1 0 0 0 bis i 5 o o . E s
h at einen guten Sinn, sie als die R enaissance d er christlichen Antike zu­
sam m enzufassen. Denn alles Leben der Völker des Abendlandes em p fän gt
von dieser Aufgabe h er A n ru f, B eru fu n g und E rziehun g.
Deshalb ist der Zeit ein gem ein sam er A usgang -beschieden gewesen in
jenen au ß er ordentlichen Ja h re n i 4 5 o bis i 4 ü 4 * D er letzte g ro ß e K reuz­
zugsprediger — C apistrano — h a t dam als noch einm al das Abendland
du rch predigt. Die letzte g ro ß e „K onk ordan z“ aller Gedanken in A rt des
1 2 . Jah rh u n d erts ist dam als n o ch einm al gew agt w orden von Nikolaus
aus Cues an d er M osel, dem K ardin al und Philosophen der C oincidentia
O ppositorum , des Z usam m enfalls der G egensätze. D ie Z eit gleich t a u f­
fallend der R uhe, dem Fried en und dem fin du siecle-Zustand, den E u ro ­
p a von 1 8 7 0 bis 1 9 1 4 genossen hat.
Auch von 1 8 7 0 bis 1 9 1 4 sam m eln drei g ro ß e E p ochen ihre E rn ten
in die Scheuern, die Ep ochen der deutschen, der englischen und der fran ­
zösischen R evolution. Auch sie sind 1 8 7 1 an ein En de gelangt und d ü rfen
„sich ausleben“ . Seltsam erw eise ist dieses W o r t „sich ausleben“ auch
eben in diesem Z eitalter gep räg t w orden. E s entsp richt der V ergötteru n g
d er Virtu im Italien dieser Jah rzeh n te i 4 5 o bis i 4 9 $ . Die angeborene
K ra ft d arf sich ausw irken: Die Z u ch t scheint g eraten , d er M enschenschlag
abgeschlossen und vollendet. Civiltä und H um anism us durchdringen sich,
unbeküm m ert um W e ltg e rich t und H eiliges G rab.
So ist sowohl Italien wie die abendländische K irch e eine V orgestalt fü r
das übrige E u ro p a. Italien und Pap stk irch e haben Empörung, P rü fu n g
und Vollendung bereits durchm essen. Und sie haben in den M enschen, die
sie hervorgebracÜ t, M itt^iler ihres Lebensganges an die übrigen Völker
erzeugt. Ist die K irch e die L eh rm eisterin der Seelen, so ist Italien die
L eh rerin der europäischen V ölker gew orden.
Seit det* R enaissance, seit M artin S ch o n g au er und Dürer * pilgert ganz Renaissance
E u ro p a n ach Italien. G oethe und L o rd B y ron , die K önigin von Schw eden

13 Rosenstock 193
und U ngarns Genius F ra n z von Liszt, W inkelm ann und Stendhal, die Ide­
alistin Malwida von Meysenbug und der A ntichrist F rie d rich Nietzsche
„m üssen“ nach Italien. E s w urde eben bis 1 9 1 8 d o rt eine Lektion erteilt!
Und diese Lektion w ar nich t die eines ästhetischen Kunstgenusses. Son­
dern eine Lebensart prägte sich den Völkern „ E u ro p a s“ au f in die­
sem Volk des Abendlandes! Viktor Hehn schildert das in seinem B uche
„Italien “ .
Als der Schwede Steffen 1 9 1 8 ein staatspolitisches B u ch schrieb, Die
D em okratie in E u ro p a , da verbreitete er sich über die englische V erfas­
sung und ähnliche D inge über 2 5 o Seiten. D em ganzen B u ch aber hängte
er ein Kapitel an höch st seltsam er U nordnung und A nordnung. D er nü ch­
terne Theoretiker w ar des trockenen Tones satt gew orden, flüchtete sich
aus dem Nebel Londons und eilt geradesw egs n ach — Siena. Und m it der
Begeisterung des vom Abendland unw iderstehlich angezogenen E u ro p äers
beschreibt er nun die G estalt des italienischen F re ista a ts in der B erg lan d ­
sch aft von Sien a! E s ist wie ein D u rch b ru ch zur V ollnatur des E u ro p ä e rs,
den wir erleben, wenn dies K apitel plötzlich über uns hereinbricht.
Aber n u r Italien kann die Ja h re i 4 5 o bis i 4 9 4 als Vollendung «er­
leben. Alle anderen Völker sind in einer T o rtu r der Spannung. — So wie
R ußlands G ärung zwischen 1 8 7 0 und 1 9 1 4> so etwa m üssen w ir uns
v or allem D eutschlands Seelenspannung unter der Geduldsprobe des n ich t
endenwollenden R egim ents F rie d rich s I I I . ( 1 4 8 9 — 1 4 9 8 !) vorstellen.
Die italienische Renaissance lö st sich in H eidentum , in H um anism us
au f. Die in sich vollendete N ation drohte an viele G ötter sich zu verlieren.
Sie hatte nich ts m e h r zu gewinnen. E in e N ation aber, die sich erst finden
m u ß , m u ß d u rch den E n gp aß des E in s ist not. D er italienische H um anis­
m us w ar also ungenießbar fü r die V ölker, die vor ih re r Revolution n och
stand en! O ft hat m an sich über das jäh e A bbrechen des italienischen
Schweigens im H eidentum gew undert. A ber die G ötter des H eidentum s
bleiben to t.
D er H um anism us ist geschichtslos. G eschehen kann den V ölkern n u r
dann etwas W eltersch ü ttern d es, wenn ih re Seele ersch ü ttert w ird. Die
Seele ersch ü tte rt n u r einer, d er d a sein w ird, d er e r sein w ird, der leben­
dige, liebende, schaffende D eus U n u s ; der eine einzige kann eines Volkes
Seele ins Leben ru fen . D ie G öttlichkeit des H eidentum s ist das „in S ch ön ­
heit sterben“ . G ott ab er, der das Abendland m it d e r D rom m ete des J ü n g ­
sten G erichts ersch reck t, ab er auch au fg eru fen hatte, G ott, dessen H eili­
ges G rab dann ein friedliches Z usam m enleben des Abendlandes erw eckt
hatte, G ott, dessen H eiliger G eist dann die Liebe der M enschen zu L u f t
und W a sse r, E rd e und L ich t wieder entzündet hatte, dieser dreieinige
G ott des G erich ts, der W a llfa h rt und der Schönheit, wandte sich nun m it
dem nächsten B lick seiner Augen dem Volke zu, das von der letzten Revo­
lution verletzt und gekrän k t w orden w ar.
D er röm ische D iplom at fand 1 2 0 0 an dem deutschen H erzog Philipp
von Schwaben eine „vulnerata conscientia“ . U nd an dieses W o r t vom „ver­
wundeten Gewissen“ knüpft sich die A usrottung der Staufer.
Seltsamerweise h at der P ap st m it diesem W o r t vom „verwundeten Ge­
wissen“ den Deutschen das Stichw ort zu ih rer Revolution gereicht. D er
dreieinige G o tt,. der sich dem Abendland bereits dreifältig o ffen ­
b art hatte, wird laut und Stim m e in dem verwundeten Gewissen eines
D eutschen!
Aus dem R au m dieses Gewissens steigt eine neue W e lt em por. Denn
dieser R au m des Gewissens belebt und teilt und gliedert und bevölkert
‘ sich. So wird der F reih eitsrau m des fürstlichen Gewissens der Schauplatz,
auf dem die gelehrten B e ra te r dieses Gewissens, die fü rstlichen R äte,
ihren Einzug halten und den S taat der deutschen R eform ation einrichten
können.
*

13 * 195
XII. D IE R E L IG IO N S P A R T E IE N UND D ER
B EA M TE N STA A T

1 . Sachsen, T h ü rin g e n , H essen


isleben, E rfu rt, W itten b erg , W a rtb u rg , Leipzig, K obu rg und M ar­
E burg, das sind die berühm testen Nam en aus der R efo rm atio n sg eog ra­
phie. Sie liegen alle in M itteldeutschland. D as Gebiet ist zum G roßteil
thüringische E rd e . D er kleine T h ü rin gerstam m h at das böseste Schicksal
von allen deutschen Stäm m en gehabt. Ohne eigne Stam m esherzöge schon
seit den fränkischen M erovingern wurde das L an d im m er w eiter einge­
schränkt. S ch ließlich w urde es m itten du rch geteilt. D er Osten w urde m it
der M ark grafsch aft M eißen vereinigt als Sach sen -T h ü rin gen , und der
W esten erhielt einen besonderen L an d grafen von H essen. So w ar die L age
um i 5 o o .
N och au ffallen d er ist die gleichzeitige V erkürzung dieses Stam m es in
kirchlich er H insicht.
D er Bischofssitz in E r f u r t w ar längst aufgehoben. Denn die fränki­
schen E ro b e re r hatten T hüringen dem m ächtigsten Fran k en b isch of, dem
von M ainz, direkt unterstellt. Deshalb ist E rzb isch o f A lbrecht v. Mainz
M artin L u th ers B isch of. Deshalb w ar es auch g a r nich t so sinnlos, wie
es zuerst aussieht, das dieser bekannte R eich sfü rst der R efo rm atio n gleich­
zeitig den M agdeburger K ath edralstuhl als E rzb isch o f inneh atte. Die
Diözesen M agdeburg und Mainz grenzten eben unm ittelbar aneinander,
und in d er P erso n Albrechts gewann das m itteldeutsche Gebiet im m erhin
eine P ersonalun ion , d u rch die eine sinnlos das L an d zerreißende Grenze
zwischen zwei K irchenprovinzen unschädlich g em ach t w urde. A ber diese
Personalunion m u ß te teu er erk au ft w erden d u rch die ungeheuren finan­
ziellen L asten , die sie A lbrecht auf erlegte und die ihn zwang, das A blaß­
geschäft Tetzeis als eine Einnahm equelle seinen B ank iers, den F u g g e rn
von A ugsburg, auszuliefern. So ist an dem schim pflichen A b laßgeschäft,
jen em ersteh Ä rgernis fü r den L u th erzo rn , indirekt au ch die sinnlose B is­
tum seinteilung seines H eim atgebietes schuld. Sie stellte sich d a r als eine
K arik atu r des B istum s, die als solche an der frü h eren O stgrenze des ka­
rolingischen R eiches stehen geblieben w ar. Dies ostfränkische F o ssil w ar
um so sinnloser, als die deutsche N ation inzwischen längst w eiter n ach
Osten au sg eg riffen hatte, n ach der Lau sitz, Schlesien usw. und als in allen
diesen O stlanden die B istü m er anders an geord n et w aren. In je einem
F ü rsten lan d e lagen hier m eh rere B istü m er, öder doch ein besonderes fü r
jedes F ü rsten lan d . D ad u rch unterstanden die B isch öfe bereits dem E in ­
fluß des L an d esh errn und ih r Interesse lief dem des Landes parallel.
Im sch ro ffen G egensatz dazu zwang die kirchliche V erfassung T h ü rin -
gern Luthers Landesherrn, den K u rfürsten F rie d rich den W eisen, dauernd
m it einem „ausländischen“ K irchen fü rsten zu verkehren und zu verhan­
deln. V ergleicht m an sie m it der B ischofsverfassung, deren W irk u n g g e­
rade im Vatikankapitel uns bekannt geworden ist, so ergibt sich ein schrei­
ender W id ersp ru ch . D o rt in Italien überw iegt noch d er Z u sta n d : Je d e r
Stadt ih r B isch of 1 H ier in T hüringen h at nicht einm al das ganze Lan d Die deutsche
einen besonderen B isch of. In Italien w ar die B efreiu ng der geistlichen * U i®k8tandls‘
F ü rsten vom K aiser d u rch die g ro ß e Zahl dieser B isch öfe erträg lich .
Denn so waren sie politisch bedeutungslos. Sinnlos aber m ußten die F o l­
gen der Papstrevolution wirken in dem H erzen des europäischen F e stla n -
des. Thüringen m ußte jeder M öglichkeit innerer Verw altungseinheit dar­
ben. N ach Thüringen wurde doppelt hineinregiert. Von Mainz und von
Rom her. Thüringen stand also kirchlich unter einem Ü berdruck von
F rem dverw altung.
W ir erinnern uns des Satzes, das im m e r das rückständigste Lan d g e­
zwungen ist, Revolution zu m achen und daß jenes Lan d am rückständig­
sten ist, dessen Zustand sich am w eitesten von der L a g e des T rägerlan d es
d er vorhergehenden Revolution unterscheidet.
D ie L ag e Thüringens w urde nun v ersch ärft in einem Zeitpunkt, wo
alle F ü rsten und Obrigkeiten ih re eigene B eam tu n g aufzubauen und da­
d u rch ihre L än d er au ch w eltlich n ach außen zu schließen versuchten.
E igen e Ju risten und Amtmänner w urden von den L an desfürsten gem ietet,
um das, was die italienischen Städte seit Jah rh u n d erten in ihren Podestas
und deren Beam tenstäben besaßen, nun fü r das L an d im ganzen einzu­
rich ten : eine einheitliche O rganisation. D er C ittä Italiens m it ih re r G am -
p agn a m öchte jetzt allenthalben d er kontinentale „ F lä ch e n sta a t“ , das
F ü rsten lan d nachstreben, in B u rgu n d , in Ö sterreich, in Toskana, in
F ra n k reich , in E n glan d . Aber nirgends stieß die Lan d esregieru n g a u f
solch eine Schw ierigkeit als in den m itteldeutschen Lan den. Denn was
nutzte alle weltliche Staatsverw altung angesichts des O ffenstehens aller
Kirchentüren?
F ü r die deutschen L an d esh erren , besonders aber f ü r den K u rfü rste n
von S ach sen-T h ürin gen gab es eine G egenw ehr gegen das bischöfliche
H in ein reg ieren : Die E rrich tu n g einer Landesuniversität. i 5 o 2 w ar denn
au ch W itten b erg gegrü n d et w orden, dem F ü rste n Ju riste n und Theologen
zu liefern. In einem kleinen Landstädtehen ( 3 8 2 B ü rg e r im Ja h r e i 5 i 2 l )
erhob sich diese A lm a m a te r. So ländlich, so g a r n ich t civitasm äßig w ar
diese deutsche L an d stad t. M an vergleiche Städte wie B ologn a, P aris.
Siena m it diesem W itte n b e rg . U nd m an kann so fo rt den Sch luß ziehen,
daß diese U niversität nie als S ta d t-, sondern n u r als Landesuniversität
Z ukunft wird haben können.
D ie R ückständigkeit seiner L an d esh errsch aft in kirchlicher H insicht
gibt dem K u rfü rsten keinen anderen W e g frei. Die säm tlichen Geistlichen ?

197
seines Gebietes m u ß er an ihrem Bischof vorbei in seine Gewalt zu be­
kom m en suchen. U nd das kann e r n u r, wenn er aus diesen G eistlichen
lau ter studierte Theologen zu m achen verm ag. D enn dann m üssen sie
über seine Landesuniversität laufen. D er K lerus w ar bis dahin grundsätz­
lich unakadem isch. P f a r re r und M önche brauchten n u r die nötigen L a ­
teinkenntnisse und hatten m it der F a k u ltä t nichts zu sch affen. Denn die
Theologie w ar Sache der Kathedralen, d. h. d er B ischofskirchen. D as
W o r t K ath ed ra, K ath eder ist ja genpm m en von dem Stuhl des B isch ofs,
>as^Katheder der „ex cath ed ra“ re g ie rt. D er K u rfü rst b ra u ch t also einerseits Katheder
in seinem L an d e, die ihm allein unterstehen, eben die K atheder der L a n ­
desuniversität. A ndererseits m u ß er einen W e g finden, den gesam ten
K lerus vor diese K ath ed er zu zitieren, statt vor die des alten K irch en ­
bischofs.
Dann konnte e r hoffen, die P f a r re r wie die A m tm änner zu r O rgan i­
sation seines T e rrito rism u s m ieten zu können als studierte M agister der
Theologie, so wie e r die studierten M agister der Jurispruden z m ieten
konnte. Die K ath ed er der Theologen und Ju riste n sind deshalb die Aus-
' gangspunkte d er Landesuniversität um i 5 o o . Neben dem M önch M artin
L u th e r d a rf m an keinen Augenblick den Ju riste n Hieronymus S ch ü rff
vergessen. „ P ro fe sso r“ S ch ü rff ist der B eistand des „ P ro fe sso rs“ L u th e r
a u f dem R eich stag zu W o rm s gew esen. „ In S ch ü rff stand die U niversität
hinter L u th e r.“ Als drittes K ath ed er tr itt das des Ph ilologen Philipp M e-
lanchthon hin zu ; m it ihm lä ß t sich nämlich die A u torität d er Universi­
tätsk ath ed er gegen die der bischöflichen K ath ed ra unterbauen und ver­
stärken. Denn die Ph ilologie, die Kenntnis der alten Sp rach en , g eh t den
B isch öfen a b , und so gewinnen diese Sprachkenntnisse der, P ro fesso ren
eine politische B edeu tung im K a m p f gegen die B isch öfe. Bis a u f den
heutigen T a g ist die T ra ch t der Ju riste n und Theologen im D eutschland
d er R eform ation;, die von D oktoren d e r U n iversität geblieben. Die P r o ­
fessoren haben den P fa rre rn den P rie ste rro ck aus gezogen und- den D ok-
to rta la r au f gezw ungen. U nd nirgends zeigt sich d er Stolz d er R e fo rm a ­
tion deu tlicher als in dem prunkvollen holzgeschnifzten K ath ed er, das
man in d er Lu th erh alle in W itten b erg sehen kann.

2 . W issen u n d Gewissen
Je d e bloß lokal bestim m te Lebensordnung verdum m t und wird geistlos.
D er G eist w eht, wo e r will und ist zunächst n ich t raum gebunden, sondern
•er u n terw irft sich die Ö rtlichkeiten hin terh er, nachdem e r aus dem S ch o ß
d er Zeiten losgebrqchen ist. Je d e bloß lokal bestimmte Lebensordnung
bedeutet den V erfall des Geistes. Daher braucht jed es europäische Kultur­
volk über dem Örtlichen Funktionär ein zweites Amt.
zweite Amt D as „zweite A m t“ Italiens neben der H ierarch ie d er P ap stk irch e haben
w ir schon erm ittelt, nach dem es eine Z eitlang die P od esta, die W a n d e r-

ïg8
regen tsch aft gewesen w ar, wurde es dann die K unst. Sie ist es, die in Ita­
lien das religiöse Leben geistig erneuert, fortgebildet und vorw ärts ge­
trieben, ja die es am Ende allein noch glaubhaft dargestellt hat. Das zweite
A m t der englischen W e lt liegt in der Politik, wie wir noch sehen werden,
schw eißt die Gaue des Landes zur C ountry zusam m en.
D as zweite A m t der deutschen Landeskirchen sind die theologischen
Fakultäten und im weiteren Sinne die Universitäten. Zwischen K unst der
Italiener und Politik der En glän d er ist die W issen sch aft fü r die deutsche
Nation einzureihen. Das w issenschaftliche Leben spielt fü r uns D eutsche
die Rolle des M örtels, der die D eutschen überlojkal im m er wieder gebun­
den hat und an dessen B ind ekraft sich die D eutschen daher allerorten
w ieder erkannt und zum Zusam m enw irken geschickt gem ach t haben. D i e .
W issen sch aft wird die Sprache dieser gewissenhaften N ation. D as ist kein
W o rtsp iel. Sondern W issen und Gewissen verschm elzen in h öch st ernst­
h after W eise im Schm elztiegel der R eform ation .
L u th er, der E rw ecker des Gewissens, und L u th er, d er Mann der W is­
senschaft, ist ein und dieselbe Persbn, der R e fo rm a to r der D eutschen.
Die L eh re der Universitäten sollte schon 1 0 2 4 au f dem geplanten
Speierer N ationaltag die rech te L eh re darstellen. Sie ist tatsächlich zu r
rechten L eh re in der A ugustana gew orden. Sie zwang auch der anderen
R eligionspartei die gleiche w issenschaftliche G ründlichkeit auf. „G er­
m ania d ocet“ , m u ß te ein P ap st zugestehen. Schulm eister sind w ir gewiß
in besonderem M aße. D as eigentüm liche, V erhältnis der evangelischen
Landeskirchen gegenüber R o m w urde m ö glich d u rch die F ak u ltäten d er
evangelischen T heologieprofessoren. U nd diese T heologieprofessoren hin­
w iederum wurden gestützt und getragen von ih re r Z ugehörigkeit zu dem
K reise der Fakultäten an der Landesuniversität überhaupt und aller deut­
schen Fakultäten im ganzen. Die theologische F a k u ltä t ist selbst L e h r­
sp ruchfakultät im deutschen Einzelstaat. Kein B isch o f setzt ih r das Im ­
p rim atu r vor ihre F o rsch u n g und L eh re. A uf diese W eise stellt die F a ­
kultät der evangelischen Theologie ein souveränes O rgan der Landeskirche
dar. Diese Fakultäten haben zw ar kein unm ittelbares K irch en äm t. Denn
die K irche wird vom S taat w eitgehend unsichtbar g em ach t, verstaatlicht. Die unsichtbare
Kirche
S ich tbar ist im L u th e rtu m n u r d er F ü r s t als L an desbischof und die ein­
zelne Gem einde. Dazwischen stehen rein technische F u n k tio n äre, Dekane,
K onsistorialräte, Superintendenten. E in zweites „ A m t“ neben dem P f a r r ­
a m t scheint es seit d er R efo rm atio n in den L an deskirchen nich t zu geben.
In dem S treit um die W ied erein fü h ru n g des B isch ofstitels in den Ja h re n
n ach dem Z usam m enb ru ch d e r landesfü rstlichen K irch e h at m an das
B isch ofsam t als das zweite A m t bezeichnet, das m an neu und w ieder
schaffen m üsse. Die E rfü llu n g dieser Forderung b räch te eine Revision des
P rotestantism us nach rü ck w ärts, eine R om anisierung. Denn so w ürde das
G efüge der K irch e w ieder sich tb ar werden. Die L eh re von der u n sich t-

199
baren K irch e ist aber das D ogm a der R eform ation . Und diese U nsicht­
barkeit der K irche wurde gesichert, oder genauer so g ar erst erm öglicht,
d u rch das anderen Völkern rätselhafte Verhältnis d er Deutschen zum
„G eist“ . Geist und T heorie üben in D eutschland von der A ugustana über
K an t und F ich te bis zum „K ap ital“ jene M acht aus, die das D ogm a von
d er unsichtbaren K irch e brauchte, um sich als das D ogm a einer W e lt­
revolution zu erweisen. E s ist der Geist der L eh re, der dem Studenten
in jungen Ja h re n m itgegeben wird, der ihn fürs ganze Leben versorgt m it
d er H errlichkeit einer W eltanschauun g, eines geistigen Standpunktes, ein
Geist, von dem er zeh rt bis ins Alter. D ieser G eist d er L eh re ersetzt die
Seelsorge an den Gebildeten, die der Protestantism us d u rch die Preisgabe
d e r Beichte h at verfallen lassen. E r ersetzt das zweite, das bischöfliche
Am t, das ja äus der K ontrolle der lehrenden und predigenden P f a r r e r
besteht. D as Studium in der theologischen F a k u ltä t gibt dem P f a r r e r die
V erbindung m it dem Geistesleben, die ihn du rch s Leben trä g t. Die In ­
halte d er L e h re dieses Studium s haben seit L u th e r ein halbes dutzend­
m al gew echselt. Geblieben ist jene E rh ö h u n g des Lebensgefühls des
G eistlichen d ad u rch , daß er Akadem iker gewesen ist. K ein T heologie­
sem inar auf evangelischer oder k atholischer Seite h a t verm och t, den B e­
such der H ochschule zu ersetzen. Die fine fleur, die Quintessenz einer
K u ltu r zeigt sich in dem , was sich n ich t restlos definieren lä ß t. So ist
es m it d er B edeu tung des akadem ischen Studium s in D eutschland be­
schaffen. W i r sind hier im H erzen d er „u n sich tb aren “ K irch e. Sie ist
unsichtbar n u r im späteren L eh en d er Gebildeten. D a sind kein B isch of,
keine B eich te, kaum ein K ultus und n u r n och R este einer L itu rg ie zu
sehen, die sie binden. Aber trotzd em sind sie gebunden, religiös. Gebun­
den sind sie n äm lich solange, wie au f dem Stand d e r Akadem iker d er
Glanz d e r deutschen Revolution von i 5 i 7 lag, also etw a bis 1 9 0 0 o d er
bis zum W eltk rie g an die R eligion der L e h re ih re r Studienzeit. E in L u ­
th eran er, W o lffia n e r, K an tian er, F ich te a n e r, H egelianer, ein H en gsten -
bergianer und R itschlianer, — alle „ -a n e r“ der deutschen akadem ischen
W e lt sind G lieder dieser unsichtbaren K irch e, die zu d er bloßen. Ge­
m eindebildung des L u th ertu m s h in zu tritt als O berkirche ü b erö rtlich er
Art. D ieses zweite O rgan der vom O bersten Lan desbischof, dem F ü rste n
unterhaltenen Landesuniversität verkörp ert gegenüber d er räum lichen,
lokalen und statisch-orthodoxen Gem einde das Leben des kirchlichen
G eistes d u rch die Zeiten. Diese T atsach e und n u r sie unterscheidet z. B .
den deutschen P ro testan tism u s von der englischen oder Schw eizer F r ö m ­
m igkeit d er Galvinisten und N onkonform isten. D o rt h at die G em einde
als zweites A m t n ich t den G eist einer H ochschule über sich, sondern d o rt
ist die p o litisc h e O rdnung das zweite K raftfeld , k ra ft dessen dem G eist
d er O rtsgem einde der Geist d er Zeiten gegenübertritt.

20 0
3 . G o tt u n d d ie S e e le
„G ott und die Seele“ lautet die P aro le des gewissensgebundenen E in -
zelchristen. Und diese scheinbar nu r religiöse P aro le ist die P arole des
deutschen Volkscharakters geworden.
D er Einzige und sein Eigentum , der einzelne ganz allein im P ro test Protest
gegen die W e lt, das ist die G rundhaltung des M enschen in D eutschland
seit d er R eform ation . „M it allen gegen eine S tim m e“ ist das typisch
deutsche Stim m verhältnis in K ollegien und V ersam m lungen. Und weil
es a u f den einzelnen und seinen P ro te st ankom m t, deshalb ist es eine
abwertende R edensart in un serer Sp rach e, wenn m an sagt, irgendeine
Sache küm m ere „G ott und die W e lt“ . Denn dann k ü m m ert sie nich t die
Seele! „ G o tt und die. S e e le 1( stehen gegen „G o tt und die W e lt“ und haben
den V orran g gegen alle sichtbaren, vernünftigen O rdnungen und E in ­
richtungen. „ W ie im m er zu p ro testieren “ , gegen G ott und die W e lt, wie
G oethe 1 8 1 7 zum Ju b iläu m d e r R efo rm atio n s a g t: in K u nst und W is­
senschaft, überall aus der K andare zu gehen einer uniform en Z ucht, und
auszubrechen aus jed er wie im m er gearteten K atholizität, das ist zum
sittlichen B edü rfnis d er deutschen V olksnatur gew orden. D er D eutsche
lockt w ider den Stachel, er n im m t alles persönlich, er ist in allem sub­
jektiv — wie m an dies E lem en t im m e r ausdrücken m ag , so erscheint es
im m er als ein G rundzug der N atu r des D eutschen. D er radikalste deut­
sche K om m u n ist und d er ernsthafte deutsche K atholik ähneln k ra ft
dieses ernsthaften Protestw illens viel m eh r einem evangelischen deut­
schen P a sto r als ihren eigenen russischen oder italienischen 'G esinnungs­
genossen. ,
D as ist kein W u n d er. Denn diese V olksnatur ist gew ordene N atur. N icht
von H aus aus, sondern unter schw erstem seelischen D ruck ist diese N a­
tu r zustande gekom m en. Und hervorgebrochen ist sie erst in dem Augen­
blick, als d er lange ertragen e seelische D ruck sinnlos gew orden w ar und
das V olkstum zu m ord en drohte.
W o rin h atte der seelische D ruck bestanden und weswegen w a r e r e r- Heereskirche
trag en worden? D as C hristentum ist über den R hein gedrungen viele
Ja h rh u n d erte später als zu den F ran k en in Gallien. Und es kam deshalb
zu den Völkern d er R efo rm atio n zuerst in einer G estalt, die in Gallien
o d er Italien n u r abgeschw ächt und, n ach träg lich au f ältere geistliche
Schichten au fgestockt wurde. Die T rä g e r der R efo rm atio n sind die N ord-
und O stländer des fränkischen R eich s gew orden, Italien, F ran k reich und
E n g lan d und Spanien haben sich der Reformation erw ehren können. N ur
in die N ord - und O stländer ist eben das C hristentum schlechthin als ka­
ro lin g isch e H eereskirche gekom m en, als T rägerin der R e ich s e in h e it D er
Sinn d er K irch e w ar f ü r die S täm m e, die in das fränkische H eer einge­
re ih t w urden, daß eine einheitliche Zivilverwaltung und eine gem einsam e

201
Fried ensordnu ng die zertrennten Stam m escharaktere durchsetzen und
überwinden könne. Gottes Bündnis m it dem weltlichen R egim en t sind
das erste in der germ anischen Bekehrung. G ottes Bund m it der einzelnen
Seele tritt hinter jenem ersten Bündnis von K arl dem G roßen bis zur
R eform ation im m er in den H intergrund. D er sächsische G rafensohn Gott­
schalk wird im 9 . Ja h rh u n d e rt gezwungen, gegen seinen W illen M önch
zu bleiben, wozu m an ihn als Kind bestim m t hatte. E r rebelliert. D er
deutsche Erzb isch of aber, der ihn bezwingt und durchs Leben verfolgt
und im G efängnis verwahren lä ß t, ist derselbe M ann, der die P fin g st-
hym ne Veni cre a to r spiritus „K o m m , Sch öpfer G eist“ gedichtet hat. So
eingesperrt in den K ultus w ar dam als dieser schöpferische Geist.
D afü r verdanken aber diese selben Sachsen derselben K irch e die V o r­
h e rrsch a ft im Abendlande als Erben des K a ise rtu m s! Die K irch e ist eben
als W eltzu sam m en h alt zu den D eutschen gekom m en, ln d er h inreißen­
den P red ig t, die der M issionar Lebuin den Sachsen h ält und die unser
A bschnitt vom W e ltg e ric h t des K aisers w örtlich enthält, stehen neben­
einander die erhebenden W o r te von d er F re ih e it d é r K in der G ottes aus
dem Pau lu sbrief und die brutal niederschm etternden Gebote der W e lt.
Diese M ischung der M issionspredigt ergib t den C h arak ter d er deu t­
schen K irch e, sehr zum U n terschied von den älteren gallischen und ita ­
lienischen K irchenprovinzen.
Sie ist M ilitär-, E ro b ererk irch e. D as m u ß ein m al gesü h n t w erden.
Im m e rh in : solange diese K irch e das R eich zusam m enhielt und den
Stäm m en den Z usam m enhalt u n ter sich wie auch m it der W e lt verbürgte,
haben sie dies J o c h der H eerkirche ertrag en . Sinnlos w urde es aber in dem
Augenblick, w o diese K irch e gerade u m g ek eh rt n ich t m e h r zusam m en­
hielt, sond ern sprengte, was an S täm m en im R eich zusam m enlebte und
wo andere W e g e des Zusam m enhalts m it der W e lt sich anboten als der
über die K irch e. D a w urde das J o c h abgew orfen.
Bauernkriege Im m e r h a t m an das W ette rle u ch te n d er B au ern k riege m it dem Ge­
w itter d er R efo rm atio n zusam m engesehen. An den B auernau fstän den nun
kann m an g u t erkennen, was sie zu b lo ß mittelalterlichen V orgän gen
stem pelt gegenüber L u th e rs T a t.
F ü r den B au ern au fstan d , d er seit i 4 9 3 am O berrhein w etterleu ch ­
tete, h atte J o ß F ritz , sein a u ß ero rd en tlich er R äd elsfü h rer, u n ter Lebens­
g e fa h r die F a h n e m alen la sse n au f blauer und w eißer Seide. Sie trug;
einseitig den B un dsch uh und ein w eißes K reuz, au f d er anderen Seite die
K reu zig u n g des H errn m it M aria und Jo h a n n e s im V o rd e rg ru n d ; E m ­
blem e des K aisertu m s und des P ap sttu m s daneben. Die Ziele des B u n d ­
sch uhs w a re n : die „ g ö ttlich e G erech tigk eit“ (das h e iß t: ein evangelischer
E n d zu stan d ), das G otteslästern abtun und unter dem B un dsch uh das H ei­
lige G rab zu gew in n en : D a is t nich ts N e u e s: P ap sttu m und K aisertu m
und K reu zzu g weisen n a ch rü ck w ärts, d er G ekreuzigte und die göttlich e

202
G erechtigkeit aber stam m en v o n den Spiritualen, der uns schon bekannten
L in k s o p p o s it io n der Franziskaner. So waren auch die m ateriellen F o r ­
derungen der B auern. Sie wollten die örtliche Selbstregierung in Dorf
und M ark festhalten gegenüber den neuen B eam ten der Zentralgew alten
im F ü rsten staat. Sie wollten die alten Sippen zur Selbstverteidigung, B lut­
rach e, Eideshilfe, B ü rg sch aft, Eheschluß und V orm undschaft w eiter er­
halten sehen, obwohl diese d u rch die kirchliche Verw altung längst m orsch
und brü ch ig geworden w aren. D as Volk litt u n ter der A uflösung seiner
alten G eschlechterordnung d u rch die K irch e und den K lerus. A ber es
w ollte nich t über die K lerikerkultur hinaus, sondern noch h in ter sie zu­
rück. D ieser H ilflosigkeit gibt die B ündschuhfahne Ausdruck.
In diesem U nruhengebiet ist dam als Grünewalds K o lm a re r A ltar ent- Grunewaid
standen, d er stärkste Beweis fü r die D ostojew skistim m ung deu tscher
N ation am V orabend d er R evolution.
G rünew alds K reuzigung w eist auf einen neuen Sinn des K reuzes hin,
einen Sinn, d er sich n ich t m eh r m it dem der K reuzzüge nach dem G rabe
des E rlö se rs deckt. Alles m ittelalterliche Leben sp rich t j a in kirchlichen
Sym bolen und in klerikal-liturgischen V orstellungen seine eigenen N öte
aus. Grünew alds glühende und drohende D arstellung sch reit in der Stille
und b rin g t zum Z ittern m itten in d er R uhe des sichtbaren Lebens. E in e
zweite rätselh afte W e lt tau ch t auf, unsichtbar im Sichtbaren, innerlich im
Ä ußerlichen.
Seh nsucht n ach dieser W e lt d er N ach folge C h risti ist w eit verbreitet.
Die B rü d e r vom gem einsam en Leben versuchen als Laien den M önchen
es an H eiligkeit gleichzutun. A ber n o ch k ö m m t m an nirgends von den
klerikalen F o rm e n des religiösen Lebens los, wenn m an als L aie sich hin­
geben will. Indessen im m er schw ieriger ist es, die Laienm assen in kle­
rikalen F o rm e n zu befriedigen. Dies Volk h a t n u r aus d er ersten H älfte
des i 4 . Jah rh u n d erts in den S ch riften E ck eh arts, T aulers und Seuses eine
g ro ß a rtig e L ite ra tu r tiefer K län ge und T öne seiner A rt. J e tz t im 1 5. J a h r ­
hu ndert ist T eutsche N ation rü ck stän d ig in Poesie und Sp rach e. P ossen
und M eisterlieder, Satiren und politische D enkschriften , nichts G roß es,
F o rtreiß en d es. E s ist seit einhundertundfünfzig J a h r e n tiefe Ebbe.
U nd sich selbst h atte m an in diese verzweifelte L a g e hineingebracht, Hussitenkriege
in diese Sackgasse, weil m an d e r K irch e zuliebe und aus nationaler Auf­
w allung die trostlose H ussitenzeit h erau f beschw oren. D ie besten K räfte
w aren zum K am p f gegen die H ussiten aufgew endet w orden, deren Haß!
gegen alles D eutsche seit d er V erbrenn ung des Jo h a n n e s H u ß in K on­
stanz begreiflicherw eise unauslöschlich w ar, deren L eh re aber n u r aus
Chauvinism us in D eu tsch lan d n ich t b each tet w erden du rfte.
- In K onstanz ( i 4 i 4 — i 4 i 8 ) h atte K aiser Sigism und, zugleich Kö­
nig von U n garn , das H e ft in der H and gehabt. E r w ar der S ch irm h err des
Konzils. E r hatte den H erzog von Österreich gedem ütigt, als dieser den

203
P ap st zu flüchten gedachte. Sigism und und dem Konzil verdankte die
C h r is t e n h e it die neue Einheit dér K irche nach vierzig schism atischen J a h ­
ren. N och einmal w ar ein K aiser Zusam m enhalter der K irche geworden.
Und bezeichnenderweise w ar dieser K aiser der T rä g e r der Stephanskrone,
d. h. des östlichen Landes aus dem Länderkranz des K ontinents, den die
K aisertheokratie der Salier um R om gewunden hatte. D er heilige Stefan
und sein N achfolger haben erfolgreich bis heut in ih rem Lande die K ir­
chenhoheit fü r sich behauptet, ganz nach der W eise eines O tto I II . Inno­
zenz III. hatte deshalb 1 2 0 1 , im ersten Ja h re seiner Revolution, die L ek­
türe dieses Absatzes in der Stefanslegende verboten! Aber die K irchen­
m ach t der K önige von U ngarn blieb unangefochten, sehr zum U nterschied
von der des K aisers, und wurde zur G rundsäule des ungarischen S taats­
rech ts bis heute. N och einm al rechneten in Konstanz wie im 1 1 . Ja h rh u n ­
d ert zur N atio G erm anica des Konzils D eutsche, U n garn, D alm atiner,
K roaten, D aker, N orw eger, Schweden, B öhm en und Polen. Alle diese
Festlandsvölker sam m elten sich in einer N ation, um d er italienischen N a­
tion des Papstes und um der M acht der P a rise r U niversität und dam it d er
französischen N ation das eigentliche Innereuropa entgegenzustellen.
Aber, ach , gerade die W illfäh rig k eit Sigism unds, die G esam tkirche zu
befriedigen, hatte seit i 4 i 5 den F ried en dieser deutschen N ation ru i­
niert. Sigism und b rach H uß das Geleit, als S ch irm h err des Konzils ließ
e r sich von den K onziliaren beschw atzen, einem K etzer brauche m an auch
ein K aiserw ort n ich t zu halten — . D er K aiser lieh dem Konzil den welt­
lichen A rm des B lutgerichts. A uf dem H olzstoß am 6 . J u li i 4 i 5 ging
d er F ried e des R eiches, der F ried e zwischen Tschechen und D eutschen in
F lam m en auf.
Ein allgem eines Konzil hatte seitdem f ü r die D eutschen keinen g roß en
Reiz m eh r, eine K etzerverbrennung g a r, wegen d e r sich R eichsstände
untereinander zerfleischten, n och viel w eniger.
D as K ap ital an Glaube an ein allgem eines K onzil und an G eduld fü r
eine K etzerverbrennung waren dank H u ß und der H ussitenkriege bereits
im wesentlichen vorw eg verbraucht, als L u th e r a u ftrat.
A uch Sonst w ar alles, was i 4 i 5 d er N ation das feste A u ftreten gegen
die K etzerei em pfahl, inzwischen w eggefallen.
Konzil und K aiser standen n ich t gegen den P ap st, Im G eg en teil: K aiser
M axim ilian hatte auf seinen politischen Streifzügen d u rch alles M ögliche
und U nm ögliche i 5 i 2 den P lan g e fa ß t, selbst P a p st zu werden. Aller
E in flu ß a u f die B esetzung d e r B istü m er und Abteien, au f die kanonischen
Prozesse w äre dem K aiser d a m it zugefallen. Als E rsa tz fü r die dahinge­
schm olzene A u torität in M ilitär- und K lerussachen hätte ih m m it einem
Schlage die gesam te Zivilverw altung zu r V erfü gu n g g estan d en !
D as vom P a p sttu m seit dem Sturz der S tau fer entm annte K aisertu m
hätte die K irch e selbst benutzt, um aus D eutschland doch n och ein re g ie r-
bares Reich, zu m achen. Dieser Plan M axim ilians ist nicht so phanta­
stisch, nachdem seine eigenen Bem ühungen um ein starkes R eichsregi-
m ent dam als zwanzig Ja h re lang dauerten, ohne allzu g roß e E rfolge.
Aber der Plan bedeutete, daß der K aiser sich nich t mehr als den Ge­
genpol des Papstes ansah! Solch Ausstreichen der G eschichte kündet die
Revolution a n : „D er alte Hegel pflegte zu s a g e n : ,U nm ittelbar ehe ein
qualitativ Neues auftreten soll, fa ß t sich der alte qualitative Zustand, alle
seine markierten Differenzen und Besonderheiten, die er, solange er le­
bensfähig war, gesetzt hat, wieder aufhebend und in sich zurücknehmend,
in sein rein allgem eines ursprüngliches W esen , in seine einfache T otali­
tä t z u s a m m e n / “ (Lassalle 1 2 . X I I . i 8 5 i .)
Die G egnerschaft P ap st— K aiser hatte sich erledigt. E s ging aus M axi­
m ilians Plan hervof, was jed er, ohne diesen Plan zu kennen, fühlte und
was L u th er klassisch ausgedrückt h a t : „ W ir sind des Papstes K nechte
geworden. D er deutsche K aiser soll röm isch er K aiser sein und dennoch
R om n ich t innehabeji, dazu alle Zeit in des Papstes und d er Seinen M ut­
willen hangen und weben, d aß w ir den Nam en haben und sie das Land
und die Städte . . . W ir haben* des R eiches N am en, aber der P ap st h at un­
ser Gut, E h re, Leib und Leben, Seele und alles was wir haben. Das haben
die Päpste gesucht, daß sie gern Kaiser wären; und d a sie das nich t haben
beschicken können, haben sie sich doch über den K aiser g e s e t z t . . . Also,
sind wir D eutsche hübsch deutsch g e le h rt: . . . Wir haben den Namen,
Titel und Wappen des Kaisertums, aber den Schatz, Gewalt und Recht
desselben hat der Papst.“
N och etwas anderes hatte sich v e rä n d e rt: Sigism und als K önig von
U ngarn w ußte es n ich t anders, als daß der K aiser und die deutsche N a­
tion die B rück e in K irche und C hristenheit zu seinem O streiche seien.
K arl V. aber, der i 5 i 9 den T h ro n bestieg, besaß schon das K ön igtu m
Spanien — das im m e r unm ittelbar zum P ap sttu m sich gehalten und die
E cclesia R om an a seit der V ertreibung der M auren n u r unter dem alleini­
gen O berhaupt des Papstes gekannt hatte. D ieser neue K aiser w ar ein
M ittelm eerkaiser, d a wo Sigism und ein F estlan d sh errsch er gewesen w ar!
D am it w ar die K onstellation von 1 4 1 5 in ih r G egenteil verkehrt.
Aber wenn eine neue seelische W e lt hervorw ollte aus d eu tscher A rt
— eine R efo rm atio n der K irch e an H au p t und G liedern — , so konnte
sich diese Revolution n ich t gegen den K aiser r ic h te n ! D as Seltsam e an
der deutschen R efo rm atio n ist ja d a s .Stehenbleiben von K aiser und Reich.
M it derselben konservativen G esinnung wie die E n g län d er die Riten ih rer
K rönun g, ihres O berhauses und ihres C ouncil über ihre Revolution hin­
w eggerettet haben, haben die D eutschen die W eltk irch e aus ih rer V er-
fassun g h in au srefo rm iert und den K aiser darin gelassen. Bis 1 8 0 6 ist
die R eichsverfassung unversehrt stehengeblieben!
D er dritte H eerschild der Laien fü rsten h a t den zweiten Heerschild der

205
Pfaffen fü rsten gestürzt, aber tunlichst ohne den ersten anzugreifen. D as
W o r t Kaiser h at deshalb bis 1 9 1 8 allen D eutschen g u t in den O hren ge­
klungen!
Gegen das P ap sttu m als O rgan der deutschen R eichsverfassung, gegen
das Nebeneinander von K aiser und R eichstag einerseits, P ap st und Konzil
andererseits ging die deutsche Revolution.
Sie w ar daher von i 5 i j bis 1 6 2 1 eine A ngelegenheit des ganzen
Reichs, den K aiser inbegriffen, gegen den P ap st. K aiser und R eich und
L u th er hofften so gar noch, ein künftiges Konzil au f ihre Seite zu bringen
und m it dem Konzil zusam m en das P ap sttu m zu m ajorisieren.

4 . D ie Rechtsfrage
D er A nschlag d er 9 5 Thesen d u rch den P ro fe sso r d er Theologie in
W itten b erg , desselben M annes V erhör in W o rm s vor K aiser und R eich ,
d er P ro te st d er evangelischen R eichstände gegen das W o rm se r E d ik t
und die Ü b erreich u n g ih re r von L u th e r gebilligten B ekenntnisschrift in
A ugsburg i 5 3 o — das sind die ersten g ro ß en B ild er d er R efo rm atio n s-
>as Wormser geschichte. D er P ro te st gegen die F o lgen des W o rm se r Edikts gibt dem
Edlkt P ro testan tism u s den N am én.
Zu L u th e rs Lebzeiten bis i 5 4 6 g eh t aller K am p f, wie seit W o rm s ,
um seine L eh re. K au m ist e r to t, so b rich t die G egenrevolution aus.
K arl V. lä ß t sich von Tizian als R eiterh eld des Mittelalters hoch zu R o ß in
d er S ch lach t bei M ühlberg m alen. Aber B ild und S ch lach t sind ein A ta­
vismus. D er geistig-zivilistische K a rl V. des P o rträ ts p aß f n ich t zu der
hieratischen R ü stu n g, und der M aler h at den K o n tra st unausgesöhnt ste­
hen lassen. G enau so unwirklich ist d er Sieg des K aisers über die aufsässi­
gen F ü rsten im Stil eines O tto I. oder B arb aro ssa. D ie F ü rste n vereinigen
sich bald, um „die viehische spanische Servitu t“ abzuschütteln und die
* deutsche L ib ertät und die G erechtsam e d er deutschen N ation zu verteidi­
gen. D em L e h re r L u th e r fo lg t d er K riegsm an n M oritz von Sachsen, vor
dessen G riff der K aiser flüchten m u ß . i 5 5 2 ist die .Macht des K aisers
in K irchensachen endgültig entlarvt als das was sie ist — als N ull. i 5 5 5
ist das Z eitalter der R efo rm atio n abgeschlossen d u rch den F ried en in Sa­
chen der R eligion. *
V erfassun gsrechtlich ist die R efo rm atio n d er S treit u m die A u sführung
des W o rm se r Edikts. D as W o rm s e r E d ik t selbst aber stellt rech tlich ge­
genüber dem gesam ten M ittelalter etwas Neues dar. Im W o rm s e r E d ik t
p rü ft eine weltliche M acht eine kirchliche lehram tliche E n tsch eid u n g
m ateriell n ach .
Im M ittelalter fo lg t die V ollstreckung d u rch den weltlichen A rm der
* F ällu n g des U rteils des geistlichen G e r ic h t s im K etzerprozeß un m ittel­
bar. D ie K ön ige dieser W e lt w aren die V o lls t r e c k u n g s b e h ö r d e n f ü r den
geistlichen S p ru ch . S o ist es n och in K o n s t a n z au f dem K onzil gehalten

206
worden. In Konstanz g alt noch der altkirchliche S a t z : „Im p erato r est
pars concilii.“ (D er K aiser ist ein Teil des Konzils.) T rotz dieser hohen
Stellung des K aiseram ts innerhalb der kirchlichen O rganisation w ar doch
in Konstanz keine Rede davon, daß Sigism und und ein weltliches Ge­
rich t in eine N achprüfung des U rteils über H uß hätten ein treten können.
Obwohl Sigism und bekanntlich als T hronanw ärter von Böhm en an der
hussitischen Streitigkeit so nahe wie der L an d esh err W enzel selbst inter­
essiert w ar, darf doch eine N achp rü fu ng der Entscheidung des Konzils
durch den K aiser nich t stattfinden.
G erade das w ar Sigism und m iß lu n g en ! D as Konzil batte noch einmal
gegen das heftige Sträuben Sigism unds die ganze M achtfülle der K irch e
f ü r die eigenen vom Heiligen G eist getragenen Entscheidungen m it E r ­
fo lg in A nspruch genom m en. Alle B em ühungen des K aisers, H uß zu
retten , waren niedergeschlagen w orden m it der B eru fu n g au f die Sou­
veränität des Konzils. Die dem okratisierte E cclesia R om an a der R e fo rm -
könzilien hatte nichts von der M achtfülle preisgegeben, die P ap st und
K ardinäle den K aisern in den Jah rh u n d erten seit G regor Y I I . abgerungen
hatten.
Von d ah er ist dies die R ech tsfrag e d er deutschen R e fo rm a tio n : Wie
schlichtet man in Deutschland Religionssachen unter Vermeidung der
Fehler vom Konzil von Konstanz? L u th e r stand als deu tscher Mann vor
der deutschen N ation. Die Unbill, die ein W eltkonzil dem B öhm en an­
getan, hielt sein L an d esh err, d er T rä g e r der päpstlichen Tugendrose, von
ih m fern .
D a w ird das Neue an dem lutherisch en K etzerprozeß zunächst rein
technisch das A uftreten einer m ateriellen N ach p rü fu n g in dem an sich
n u r form ellen V ollstreckungsverfahren. K aiser und R eich nehm en K e n n t­
nis von der Bannbulle des Pap stes gegen Luther; K aiser und R eich laden
daraufhin u n ter freiem G eleit den M önch M artin gen W o r m s ; K aiser
und R eich veranlassen den E rzb isch o f von T rie r und den badischen K anz­
le r sich noch einm al m it L u th er theologisch auseinanderzusetzen.
U nd n u r weil L u th e r den T heologen des K aisers und des R eiches n ich t Zur Technik der
Rechtsänderung
fo lg t, ergeh t die R eich sach t gegen ihn. Dieses Auftreten nichtpäpstlicher
Theologen zur Nachprüfung macht Epoche.
O ftm als in der G eschichte h a t die Ausdeutung eines rein form alen P rü ­
fungsverfahrens ins M aterielle hinein den In h alt einer g ro ß en Revolution
ausgem acht. N icht anders hatten die P äp ste ih r fo rm elles P rü fu n g srech t
über den, den sie krönen sollten, auszubauen versu ch t zu einem Inhalt,
g efü llt m it dem B estim m u n g srech t über die deutsche K aiserkrone. W ir
haben diese K äm p fe kennengelernt. Ä hnlich ru h t der englische P a rla ­
m entarism us n o ch heute auf einer solchen U m deutung der Entscheidun­
gen von O berhaus und K önig. Sie w erden vorverlegt, hinüber in die In­
stanz des H auses d er G em einen. Im englischen Zerem oniell wird d aru m

207
noch heute daran festgehalten, daß es des K önigs freier W ille ist, d er das
Gesetz erläßt. D er Sp rech er des U nterhauses teilt n u r dem O berhaus und
dem König m it, was die Gemeinen beschlossen haben. Und faktisch kann
nun der freie W ille des K önigs nichts anderes m ehr wollen. Die N achp rü­
fung der K aiserw ahl von 1 1 9 8 durch P ap st Innozenz III. ändert das W e ­
sen der K aiserh errsch aft. Ein fo rm aler Akt wird plötzlich die H auptsache
(oben Seite i 6 3 ) .
So eignet sich gerade die Vorverlegung oder die Rückverlegung in ein
bisher nu r als F o rm gew ertetes Teilstück des gesam ten V erfahrens zur
H erbeiführung einer wirklichen Revolution. Anders als die Revolutions­
theoretiker m einen, gehen Revolutionen vor sich. Sie bestehen in Akzent­
verschiebungen. In einem notwendigen Ablauf, einem Prozeß oder einer
Prozed u r, wie sie jed er Akt der Gesetzgebung oder des G erichts darstellt,
rü ck t der Ton au f einen bisher gleichgültigen Zeitabschnitt. Aus einem
indifferenten T aktteil wird plötzlich der T rä g e r des H aupttones.
So ist es au ch in W o rm s iÜ 2 1 . D as W o rm se r E d ik t lä ß t sich dah er
als Versuch K arls V. auffassen, ähnlich wie an d erer K önige. Seine G ro ß ­
eltern, F erd in an d und Isabella, hatten dazu als L an desherrn die Inqui­
sition eingerichtet. U nd dahin strebte das ganze Z eitalter. D as W o rm se r
E d ik t versucht ein kaiserliches R eichsk irch enregim ent ähnlicher A rt. E s
h at es n u r versuchen können. Denn den K aiser ließen die R eichsstände
im Stich. L u th e rs K u rfü rst verließ W o rm s vor d e r V erkündung, und
A lbrecht von Mainz verweigerte das R eichssiegel. Die W o rm se r L ö su n g
erwies sich als unhaltbar. D as m u ß te so sein. Aber zunächst ergib t sich
etw as W ic h tig e s : D as W o rm se r E d ik t, obwohl gegen L u th e r g erich tet,
verlegt dennoch die m aterielle letzte P rü fu n g seiner L e h re bereits n ach
D eutschland und zieht nichtpäpstliche Theologen heran zu dieser P r ü ­
fung. D am it ist es selber bereits ein revolutionäres S ch riftstü ck : In K on­
stanz w ar kein R eich stag gewesen. U m des Konzils willen w ar Sigis­
m und g eleitb rü ch ig gew orden. In W o rm s ist d er deutsche R eich stag , und
K arl will n ich t erröten wie weiland Sigism und.
L u th er erw artete in W o rm s U rteil und R e ch t, ein m ündliches W e is ­
tum des R eich stages, einen S p ru ch in der W eise der H eeresversam m ­
lung, wie n o ch h eu te das englische O berhaus rich tet.
D azu ist es n ich t gekom m en. Man ist in W o rm s m it der R ückver­
legu n g der letzten En tsch eid u n g im K etzerprozeß h in ter die päpstliche
E n tsch eid u n g a u f halbem W e g e stehengeblieben. D as W o rm se r E d ik t
b ean spruch t dies R e ch t fü r den K aiser und sp rich t w eitläufig über des
K aisers P flich ten , $ls V ogt d er röm ischen K irch e über ihre E h re zu wa­
chen. A ber das w ar ein W id e rsp ru ch in sich. Denn als K aiser konnte
er kein m aterielles P rü fu n g sre ch t ableiten. D a hätte er also einfach voll­
strecken m üssen. L u th ers L ad u n g sch lo ß schon einen zweiten, n ich t m eh r
kaiserlichen A nspruch ein. U nd ihn h a t die R efo rm atio n k lar entwickelt

208 ; •
und du roh gek äm p ft: den Anspruch des durch nichtpäpsüiche Theologen
unterrichteten Landesherrn auf Regierung der Kirche.
D aß die, V erlegung der m ateriellen Entscheidung in einem K etzer­
prozeß an die Landesherrn, n ich t an den K aiser fallen konnte, der sie
iÖ 2 1 fü r sich in Anspruch nahm , das ergibt ein Blick auf die m ittelalter­
liche G eschichte. D em K aiser hatten j a in 4 o o jäh rig em K am pfe die
Päpste dieses A ufsichtsrecht über die K irch e und über die W ü rd ig k eit der
H irten dieser K irche entrissen. D em röm ischen K aiser konnte kein P ap st
das N achp rü fu ngsrecht über die K etzer w irklich zugestehen. Jed erm an n
in D eutschland w ußte, daß der K aiser als K aiser nie anders werde ur­
teilen können, als das päpstliche G ericht in R om . M ochte K arl V. noch
so sehr die Selbständigkeit seines Entschlusses im W o rm se r Edikt be­
tonen, e r w ar d er G efangene seines Am tes. F ü r eine selbständige N ach­
prü fu n g kam es ausschließlich au f die Reichsstände an. F ü r die R eichs­
stände konnte es eine neue L eh re von ih re r F re ih e it in G laubensfragen
geben, weil es n och keine gab. U nd diese neue L e h re vom R ech t der
weltlichen Obrigkeit h at die R eform ation gebracht. Diese revolutionäre
L eh re konnte aber n ich t rückw ärts auf das uralte K aiseram t in d er
K irch e zurück erstreck t w erden. Sein O rt w ar d u rch sein Schicksal im
M ittelalter ein- fü r allem al festgelegt. Die kaiserliche Gewalt als Inhabe­
rin des zweiten Schw ert G ottes au f E rd en kam d ah er fü r eine solche re ­
volutionäre E rn eu eru n g wie sie das W o rm se r E d ik t darstellt, dauernd
nich t in B etrach t. D enn weil der K aiser in d e r K irch e m eh r hatte sagen
wollen als die andern K önige, deshalb w aren die P äp ste eifersü ch tiger
au f ihn gewesen und hatten sie die S ta u fe r vernichtet.
D as W o rm se r E d ik t von i 5 2 i schien deshalb n u r einen Augenblick
lang die K aiserm ach t zu stärken. In W a h rh e it fü h rte es zum entgegen­
gesetzten A usgang. Seine Offensive gegen die Entscheidungen R om s —
denn diese lag in d er N achp rü fu ng des B anns — h a t sich durch gesetzt.
Seine T rä g e rsch a ft aber, soweit sie den K aiser b etraf, blieb zum Scheitern
v eru rteilt wie das P ap sttu m M axim ilians.
D eutschland konnte keine kaiserliche R eichskirche m eh r erhalten, wollte
m an nich t das R ad d e r G eschichte zurückdrehen. E in e M achtfülle wie die
des alten W eih ek aisertu m s vor der Papstrevolution G regors V II. und Inno­
zenz I I I . hätte dazu g eh ö rt. D enn das R eich u m fa ß t auch 1 6 2 1 noch z. B.
Italien, B u rgu n d und B öhm en, d. h. die H älfte d er katholischen W e lt!
N icht K aiser und R eich haben d ah er die m aterielle Ausgestaltung des
M achtverfahrens beim K etzerbann an sich nehm en können. An ihre Stelle
ist ein an d erer K ö rp e r getreten, die deutsche N ation.

5 . D ie deutsche N ation im R eich


N ur die Lässigkeit unserer G eschichtsschreibung im 1 9 . Ja h rh u n d e rt
h at den G egensatz von R eich und N ation vergessen gem acht. Unsere

14 Rosenstock 209
Schulbücher sprechen gern vom Heiligen R öm ischen R eich D eutscher
Nation. D adurch wird der Anschein erweckt, als seien R eich und Nation
gleich alte und als seien sie zueinander passende B egriffe. D as Gegenteil
ist der F a ll. D er K ö rp er des R eichs und der K ö rp er d er Nation sind ent­
gegengesetzt organisiert. Die beiden Prinzipien ih rer O rganisation wider­
streiten sich. D er V ersuch, sie zu vereinigen ist der Sinn der R eich srefo rm
um i 5 o o . D er Sieg der O rgan isationsform „N ation “ über die O rgani­
sationsform „ R e ich “ ist der In h alt der R eform ation . Som it beruh t auf
dem G egensatz von R eich und N ation das V erfassun gsrecht d er D eut­
schen seit d er R eform ation .
Seit dem A usgang des 1 5. Ja h rh u n d e rts sp rich t m an vom R öm ischen
R eich und deutscher N ation. Man zählt diese beiden B eg riffe zusam m en,
weil m an das neue Problem d er selbständigen kirchlichen und zivilen
O rdnung der D eutschen neben dem Aufbau des alten Lehnsstaates des
R eichs zu lösen versucht. Aber m an sp rich t n ich t vom Heiligen R öm i­
schen R eich D eutscher Nation in einem rech tlich bedeutsam en Sinne.
D as R eich und die N ation sind verschieden organ isiert. D as R eich be­
steht aus dem K aiser, dem K u rfürstenk ollegium , den R eich sfü rsten , den
R eichsstädten und der R eich srittersch aft. E s ist n ach d er H eerschildord-
nung g eord n et, d. h . n ach den B edürfnissen des K rieges und d er R ö m er­
züge. D as R eich ist die H eeresverfassung d er deutschen S täm m e und
alles dessen, was im M ittelalter m it dem H eere zusam m engehört, also
G erich t und Landfrieden und Privilegienordnung.
Die N ation ist etwas anderes. Z u m U nterschied von den altkirchlich en
Konzilien des ersten Jah rtau sen d s haben w ir die R eform konzilien des
1 5. Ja h rh u n d e rts sich in P ap st, K ardin äle und N ationen gliedern sehen.
Die „N atio n “ ist bei dieser G liederung nun n ich t n u r der deutsche E p is­
kopat, sondern es ist sehr bald die Sum m e d er weltlichen O brigkeiten, die
fü r das K irch en reg im en t V erantw ortung trag en . D ie N ation ist d ah er m it
nichten h ierarch isch von oben n ach unten geglied ert, sondern jed e welt­
liche O brigkeit steht hier neben je d e r anderen, so v^ie es schon in d er
Punktation d e r germ an ischen N ation i 4 i 8 auf dem Konzil von K on­
stanz gewesen w ar.
U nd diese N ation besteht n ich t einm al n u r aus der w eltlichen O brig­
keit, sondern gleich b erech tigt neben der w eltlichen O brigkeit stehen die
theologischen D oktoren der landesfü rstlicheh U niversitäten in D eutsch­
land. Schon Ranke h a t in d er ih m eigenen W eise besonders d a ra u f hin­
gewiesen, wie m erkw ürdig im W o rm s e r E d ik t ein Hinweis a u f die theo­
logischen F ak u ltäten sei. N icht den B isch öfen näm lich, sondern den ein­
zelnen theologischen F ak u ltäten w ird die D u rch fü h ru n g d er B ü ch e r­
zensur im W o rm s e r E d ik t ü b e rtra g e n ! Die Nation ist also d e r K ö rp e r,
d er sich zu den kirchlichen F ra g e n zu äu ß ern h at, dièsem K ö rp e r aber
sind die deutschen P ro fesso ren eingegliedert, und zw ar unm ittelbar. Die

210
R eform ation wird eben von beiden gem acht, von L u th er und M elanch-
thon einerseits als den theologischen Professoren , und von Philipp dem
G roßm ütigen und F rie d rich dem W eisen andererseits als den weltlichen
Obrigkeiten in der deutschen N ation. Die F ü rsten und ihre Professoren,
die sind die deutsche Nation geworden d u rch die R eform ation . Diese
R epräsentation der deutschen Nation d u rch F ü rsten und H ohe Schulen
ist gegenüber der vertikalen Pyram id e des R eiches au f dem R eichstag
horizontal angeordnet. F ü rste n und H ohe Schule ersetzten also in
D eutschland die Funktion, die der B isch of des ersten Jah rtau sen d s inne­
hatte. D as ist kein W u n d er, wenn m an sich erinnert, d aß gerade in
D eutschland und den von ih m angesteckten Län dern der R efo rm atio n
die B isch öfe ihrerseits ganz und g a r zu kriegerischen R eichsfürsten ge­
m ach t worden waren. Diese Verbildung des B isch ofsam tes in ein K riegs­
fürstentum wird d u rch die R efo rm atio n in d er eigentüm lichen F o rm
w ettgem acht und geheilt, d aß nun der K rieg sfü rst seinerseits geistlicher
O berhirte und Zivilist wird. D as Zivilkleid wird das Ehrenkleid des welt­
lichen F ü rste n der R eform ation . Die P o rträtk u n st Holbeins, Tizians und
C ranachs h ält den F ü rsten in Zivil fest. Denn darin p rä g t sich seine neue
G eistigkeit aus.
Diese neue geistliche W ü rd e der F ü rste n und ih rer R äte gliedert alle
weltliche O brigkeit in D eutschland horizontal als die einheitliche R e­
publik der D eutschen N ation. Die deutsche N ation ist seitdem eine geist­
lich begründete Fürstenrepublik. D ies h a t in den g ro ß en entscheidenden
Entschlüssen der R eform ation sgesch ich te ih re ausdrückliche F o rm u lie ­
ru n g gefunden. Deshalb näm lich ist D eutschland als N ation in R eligiöns-
parteien zerfallen. Denn ein au f w ag rech t-d em o k ratisch er G leichheit be­
ruhender Verband kann sich n u r m ittels P arteien gliedern. Die R elig io n s­
parteien sind die ältesten politischen P arteien . Sie haben daher bis zum
W eltk rieg das jü n g ere Parteiw esen ü b erschattet. M itglieder dieser R eli­
gionsparteien sind die O brigkeiten. A uch der K aiser selbst steht als R eli­
gionsparteim itglied n u r in R eih und Glied der N ation wie jed er andere
Lan desherr. D as A u gsburger Bekenntnis fü h rt dieses B ild nachdrücklich
a u s: Und gerade d arau f b eru h t die revolutionäre W u c h t dieses Bekennt­
nisses. F ü rsten kom m en a u f einem R eich stage zusam m en.
D ie horizontale G liederung in weltliche O brigkeiten ist also die R ech ts-
fo rm , m it der die N ation die O rdnung des R eich es in Stände sprengt.
D as Dasein von H ohen Schulen d er T heologie aber und die U nentbehr­
lichkeit der P ro fesso ren fü r das nationale Leben ist die Voraussetzung fü r
diese F o rm .
U m diese M itw irkung d er Fak u ltäten h a t eine lange V orgeschichte seit
dem Konzil von K onstanz gerungen. D er kirchliche konziliare B e g riff d er
N ation hat eben bei der deutschen N ation P ate gestanden. D as .wird m eist
übersehen. Die heutige A nsicht g eh t etwa dahin, der B e g riff N ation

14* 211
stam m e zwar aus der k irc h lic h e n W e lt auf ih rer konziliardem okratischen
Stufe. Aber dann werde er einfach zum „geographischen“ B e g riff. D as
ist ein Irrtu m . 'Aus dem kirchenrechtlichen B e g riff der Nation ist ein re­
volutionärer gew orden. E r s t in der Zeit der P rü fu n g und D em ütigung
dieser Nation nach dem D reißigjährigen K rieg ist D eutschland zum
geographischen B e g riff geworden. Und gerade dies schm erzliche W o r t
selbst zeigt, daß m an im m er den Zustand, i n ' dem die deutsche N ation
nu r eine G röße der Erdkunde sein sollte, als un erträglich em pfunden
hat. D eutschland und die deutsche N ation sind Struktu rb egriffe. Ih re
geistliche H erkunft h a t sie befähigt, die S tru k tu r der ch ristlich -germ an i­
schen Staatenw elt in die V orstellung der Nation einzubegreifen. Und die
V erm ählung des christlichen und des germ anischen E lem ents im F ürsten-
staat d er R efo rm atio n wird eben d u rch das Bündnis von H ochschule und
F ü rs t, L u th er und seinem K u rfü rst verkörpert. Ü ber L u th ers „ P e rsö n ­
lichkeit“ w ird dieser staatenbildende B und zu sehr vernachlässigt. G e­
wiß wollte L u th ers P re d ig t jederm ann zu r F re ih e it eines G hristenm en-
schen m itreiß en . A ber in der G eschichte zählt n ich t die P re d ig t des R evo­
lutionärs, sondern seine G estalt. Als G estalt dokum entieren konnte L u ­
th er nu r, was er darstellte im öffentlichen Leben d er N ation. U nd das
war zuerst und vor allem die F re ih e it, die der D ok tor d e r T heologie
M artinus an der landesherrlichen U niversität W itten b erg genoß. L u th e r
bezeugt die akadem ische F re ih e it des deutschen P ro fesso rs. Als solch er
übersetzt er die Bibel. Als solcher w ird er zum S p rech er seines Volkes.
Eben deshalb sind seitdem die S p rech er der N ation die P ro fesso ren ge­
blieben. L u th e rs „V olk“ ist re c h t stum m geblieben: D ie N ation, die er
erweckt h at, w urde zunächst eine F ü rste n -, P ro fesso ren - und Pfarreornation,
bis hin zum P rofesso ren p arlam en t, d er P au lsk irch e von 1 8 4 8 . D iese R olle
der deutschen Universitäten fü r die K onstitu ieru ng d er deutschen Nation
erw ächst im i 5 . Jah rh u n d e rt. W ie schon in K onstanz und Basel i 4 i 5 und
i 4 3 3 die D oktoren zur Nation des Konzils gehören und S tim m re ch t fü r
sich in A nspruch nehm en, so haben wir auch aus der M itte des 1 5. J a h r ­
hunderts einen V organ g, d er die S tru k tu r des R efo rm atio n szeitalters be­
reits vorwegnehm en will. E r spielt im J a h r e i 4 6 o . D am als g re ift d e r
E rzb isch o f von Mainz in seinem K am p f m it d er röm ischen K u rie bereits
zu dem Ausweg, der aus dem R eich stag die N ation h ätte m achen können ;
er will die V ertreter d er U niversitäten auf den nächsten R eich stag laden.
N atü rlich kennt die H eerschildordn ung des R eich stages fü r die D oktoren
keine satzun gsm äß ige Stelle. A ber der Plan ist gerade deshalb um so
eindrucksvoller uiid bezeichnend fü r die L a g e von R eich und N ation. In
diesen Jah rzeh n ten beginnen K aiser und K u rfü rsten vom R öm isch en
R eich und D eu tsch er N ation zu sprechen.
U m die D oktoren und ih re T eilnahm e geht es auch in den ersten J a h ­
ren d er R efo rm atio n . i 5 2 4 lä ß t sich F erd in an d , d e r B ru d e r K a rls V.,

2 12
von den Reichsstanden den B esch luß einer N ationalversam m lung in
Speier fü r den Dezember abringen. H ier soll jed er Reichsstand erschei­
nen, vor allen Dingen aber die, welche H ohe Schulen haben, sollen ihre
Professoren m itbringen oder sich m it G utachten dieser P rofessoren ver­
sehen lassen, dam it die V ersam m lung auf diese W eise zuständig wird
fü r die Entscheidung in nationalen Angelegenheiten, d. h. in denen der
deutschen Landeskirchen, oder anders ausgedrückt, der religiösen V er­
hältnisse der D eutschen. D as w ar j a L u th ers E rw artu n g in W o rm s ge­
wesen, es könne der R eich stag die N atiopaltribüne in Religionssachen
werden, die K irch e sozusagen eine H eereskirche im T hing, m it Spruch
und W eistu m d er Stände des R eiches wie vor G ericht. D as W o rm se r
E d ik t w ar auf diesem — in der T a t naiven — W e g nich t zustandege*-
kom m en, sondern als K abinettsorder, als bloße V ollstreckungsurkunde
der Reichskanzlei. D as w ar eine kraftlose Verlegenheitslösung. Je tz t will
m an n och einm al das nationale Religionstribunal. Aber die Fakultäten
sollen m itw irken, Ju risten und Theologen sollen sprechen. Und diese
Gewalt und V ollm acht haben die Fak u ltäten nich t etwa n u r in den beiden
Plänen von i 4 6 o und 1 6 2 4 ausgeübt, h ier könnte m an j a beide Male
einwenden, d aß der P lan eben n ich t zur Ausübung gekom m en sei, so
wenig wie die B ücherzensur der theologischen F ak u ltäten im W o rm se r
Edikt. In W a h rh e it haben die theologischen F ak u ltäten bald d arau f ih r
M achtw ort gesprochen , denn das A u gsburger Bekenntnis ist die K ette,
m it der die UniversitätsW issenschaft der landesherrlichen Universitäten
D eutschlands die vielen verschiedenen weltlichen O brigkeiten zusam m en­
gebunden h at zu einer R eligionspartei und K onfession. M an bedenke
doch, was es h eiß t, d aß dieselben F ü rste n , als sie fü r sich das R ech t in
A nspruch nehm en, ih re Landeskirche zu refo rm ieren , sich gleichzeitig
unter das u n ifo rm ierte sym bolische B u ch des Bekenntnisses gestellt h a­
ben, das ihnen ih re P rofesso ren auferlegten . D ie F ü rste n sind n ich t ab­
gegangen von dieser R ich tsch n u r ihres H andelns. So ru h t also das R e ­
fo rm atio n srech t der Lan desfürsten au f einer m etäterrito rialen G rundlage,
näm lich au f d er einheitlichen w issenschaftlichen. L eh re, die die landes­
herrlichen R eform ation stheologen gem einsam ihren verschiedenen T erri­
torialh erren au f erlegt haben. H ierin also liegt die m aterielle Bedeutung
der M itwirkung d er P ro fesso ren . A uf diese W eise n äm lich wurde ver­
hindert, d aß je d e r T e rrito ria lh e rr ohne R ich tsch n u r, ohne „G eist“ re ­
form ieren d u rfte. E r w urde zw ar gegenüber dem P a p st und dem geist­
lichen G erich t d er röm ischen K u rie n u n m eh r souverän in K irchensachen,
aber seine P ra x is tnuß te sich n ach der T heologie d e r Theologen rich ten .
In dieser T heologie und in diesen Sym bolen der Theologen lebt also
die Reihenfolge zwischen geistlichem und w eltlichem Gebot fo rt, a u f der
auch das W o rm se r E d ik t b eru h t. E r s t u rteilt die K irche. D ann y o ll-
streckt die w eltliche O brigkeit. D ie weltliche O brigkeit ist im Gewissen

2 i3
verpflichtet, das zu vollstrecken, was die K irch e ih r als die rechte Leh re
m itteilt und überliefert.
Diese rech te L eh re aber verdanken die Obrigkeiten dem Geist d er deut­
schen H ochschulen. An die Stelle der L eh re des Papstes und der K o n -
Der deutsche zilien tritt dieser G eist. H ier ist d er U rsp ru n g des „deutschen G eistes“
Geist und die W u rzel der seltsam en R eihenfolge zwischen Geist und S taats­
praxis, die seitdem den deutschen Einzelstaat beh errsch t. Dies V erhältnis
von W eltan sch au u n g und Politik h at uns D eutsche in so eigen artiger
W eise w eltanschaulich fixiert und system atisiert.
In dieser R eihenfolge lebt abgeschw ächt der P rim a t der m ittelalter­
lichen K irch e über die K riegsfü rsten fo rt. Sie dienen der K irch e, so
wie G rego r V II. bereits die H erzoge aufgeboten hatte, unw ürdige P rie ­
ster zu verjagen ! (Oben S. i 3 5 . ) Die neuen Zivilfürsten sind die G efange­
nen ih rer von ihnen selbst gehegten und geschützten „ L e h re “ . So ob­
jektiv w ird diese L eh re sehr bald, d aß selbst d er Abfall der P erson des
L an desherrn von ih r ih re H e rrsch a ft im Lan d e n ich t aufhebt. Als. spä­
te r d er K u rfü rst von B randen burg zum Calvinism us Übertritt, als der
K u rfü rst von Sachsen katholisch w ird, bleibt die L eh re des Landes dank
d er H ochschulen die alte lutherische L e h re ; ja der katholische K ön ig von
Sachsen konnte au f diese W eise bis 1 8 0 6 d er D irektor des C orpus E v an -
g elicoru m des R eich s bleiben! Man sieht an solcher , ,O bjektivierung‘‘,
wie w esentlich das Bündnis von F ü r s t und H o h er Schule fü r den A ufbau
eines objektiven geistig orientierten Zivilstaates gew orden ist.
D as F eh len einer solchen rech ten „ L e h re “ m a ch t die O brigkeit re ch t­
los. D er A ugsburger R eichstagsabschied von i 5 3 o zieht d ah er den ent­
scheidenden T ren n u n gsstrich n ich t etw a zwischen K atholiken und P r o ­
testanten. V ielm ehr werden diese beiden als P arteien anerkannt. Aus dem
R eich srech t ab er w erden gesetzt die oberdeutschen Städte, die zu Zw ingli
halten. Sie w erden (in § 8 ) so rg fältig von dem K u rfü rsten von Sachsen
und seinen M itverw andten g etren n t behandelt, weil sie sich von „ d e r g an ­
zen deutschen N ation, auch d e r gem einen Christenheit abgeson d ert“
haben. ,
Augsburger Jed e w eltliche O brigkeit m u ß te also M itglied einer der R eligio n sp ar-
Konfession j-e *e n sein> Wollte sie zur N ation gehören und die V orteile d e r L ib e rtä t
T eu tsch er N ation genießen. Z u m ersten M ale findet sich das W o r t P a r ­
tei i 5 3 o in der A ugsburgischen K o n fessio n ; und zw ar bedeutet es gleich
hier ausd rü ck lich die E rsch ein u n g sfo rm der nationalen S tru k tu r gegen­
über der des R eichs. Denn die F ü rste n „übergeben ih re r Pfarrer, P red i­
g er und ih re r L eh ren au ch unseres Bekenntnis, was und w elcher G estalt
sie au f G ru n d heiliger S ch rift in unseren L an den, F ü rste n tü m e rn , H e rr-
1 schäften, Städten und Gebieten, predigen, leh ren und U n te rrich t geben“ .
U nd sie fah ren f o r t : „ W ir sind gegen E u e re K aiserliche M ajestät erbötig,
wenn die and ern K u rfü rsten u§w. au ch eine solche S ch rift übergeben, uns

214
m it ihren Liebden und ihnen gern von bequem en gleichmäßigen wegen
unterreden und über sie, soviel an G leichheit zu erreichen sein kann, ver­
einigen wollen, dam it unser beiderseitiges, als Parteien schriftliches V or­
bringen zwischen uns selbst in Lieb und G ütigkeit verhandelt w erde.“
Die reine R echtsfrage ist dam it genügend geklärt. Nun kann und m uß
die L eh re Lu th ers selbst gep rü ft werden. In ih r m u ß ja die Dialektik die­
ser Revolution zu finden sein im V erhältnis zur Revolution der. Päpste.
Und so ist es in der T at, und in der überraschendsten K larh eit und
Sch ärfe erweist sich die W eltgesch ich te als D ialog.

6. D as verwundete Gewissen
Mühelos scheint über die Ja h rh u n d e rte hinweg die U n terh altu ng d er
Geister g efü h rt zu werden. L u th ers 9 5 Thesen m uten an wie ein Ge­ Die 95 Thesen
spräch m it Odilo von Cluny und m it G rego r V II. E r g reift zurück hinter
das im 1 2 . Jah rh u n d ert erst dogm atisierte und p aragraphierte R u ßsak ra­
m ent au f das P u rg ato rio D antes und a u f die Verzweiflung des W e lt­
gerichts aus der Allerseelenliturgie. M an h ö re aus L u th ers T h e se n : The­
se 8. Alle B uß p aragrap h en gelten n u r fü r Lebzeiten, nicht den Toten. D er
heilige Geist im P ap st so rg t dah er wohl fü r uns, dadurch daß er bei
allen seinen Gesetzen das letzte Stündlein und die äuß erste N ot ausnim m t.
These 1 1 . Das Geschwätz, P arag rap h en strafen in F eg feu erstrafen um ­
zuwandeln, scheint ausgesät zu sein als die B isch öfe schliefen.
Und die gewaltige These 1 6 : Anscheinend unterscheiden sich Inferno,
Purgatorio und Himmel wie sich Verzweiflung, Fast-Verzweiflung und
Sicherheit unterscheiden.
These 2 7 . E s ist M enschenw ort, wenn m an predigt, d aß wenn das Geld
im K asten klingt, die Seele sich aus dem F e g fe u e r schw ingt.
These 3 2 . A uf ewig in die H ölle werden die L e h re r und ihre Sipp­
sch aft kom m en, die d u rch A blaßbriefe sich fü r ih r Seelenheil gesich ert
glauben.
These 7 9 . Das Kreuz auf den Waffen dem Kreuz Christi gleichsetzen
ist Gotteslästerung (vgl. oben unsere W o rte zu G rünew alds K reuzigun g).
These 8 2 . Denn w arum rä u m t der P a p st das P u rg a to rio nich t aus hei­
ligster Liebe und h öch ster Seelennot, also aus dem allergerechtesten
G runde, wenn er unbegrenzt Seelen aus tra u rig e r G eldnot fü r einen K ir­
chenbau loskauft, also aus dem belanglosesten G ru n d e?
Die ganze Civitas und Civilta des Abendlandes stü rzt ein. Denn L u th er
streicht alle Sicherheiten, zerstö rt die „gesich erte F re ih e it“ der F ron leich ­
nam skirche und stü rz t erneut in die Verzw eiflung (T hese 1 6 !) P a p st
Paschalis hatte Heinrichs V. E id b ru ch gegen den leiblichen V ater er­
m öglich t du rch E rla ß der F e g fe u e rstra fe n . Die päpstlichen K reu zfah rer
hatten das K reuz C h risti und das des Pap stes n ich t g ro ß unterschieden.
Dieser neue W eltm an n aber, L u th e r der „C h risten m en sch “ , tritt fü r

2l5
seine V erantw ortung vor G ott als arm e Seele aus allen G em einschaften der
mittelalterlichen K irche heraus. Diese K irche hatte .K reu zfah rer, F ran zis­
kaner, Gisterzienser, Augustiner wie einst die Gluniazenser als viri reli-
Reiigion giosi zu geistlichen Sippen verbunden. Das W o r t Religio hatte die Glieder
einer K lostergem einschaft bezeichnet. K ra ft dieser geistlichen Sippen h a t­
ten G regor V II. und seine geistlichen E rben den K am p f gegen die S tam ­
messippen aufgenom m en, hatten den neuen Stand der „G eistlichen“ be­
freit von den Banden des Bluts und der V erw andtschaft. Auch die Spiri­
tualen des Franziskanerordens waren noch O rdensbrüder. Und die Laien
finden wir selbst im 1 5. Ja h rh u n d e rt bestenfalls, als M inderbrüder oder
als B rü d er vom gem einsam en Geben organisiert.
Mit anderen W o r te n : alle m ittelalterliche „R eligion “ ist die Lebens­
regel einer G em einschaft des Diesseits. Mit dem W o r t „ F id e s“ wurde d er
Glaubensstand der einzelnen Seele bezeichnet, hingegen m it dem W o r t
R eligio der Lebensstand eines besonders stark geistlich gebundenen Gläu­
bigen. Fid es und R eligio sind also zwei verschiedene W o rte und zwei ver­

schiedene Sachen im M ittelalter. >r

D as w ird d u rch die 9 5 Thesen anders. Den „Sond erreligion en“ der
M önchsorden, diesen Privatreligionen wie sie schon bei W icle f hießen
(Satz 2 3 der i 4 i 5 verdam m ten S ätze), tritt die eine einheitliche Lebens­
gestaltung aller Ghristen, die R elig io ß h r is tia n a gegenüber. R eligio ist
au ch jetzt nich t die eigene „W eltan sch au u n g “ , sondern die V erantw ortung
fü r die Leb ensform innerhalb der K irch e, die jedem Ghristen obliegt.
Je d e r C hrist allein m u ß sich zu einer religio C hristiana n u nm ehr
schleunigst entscheiden. D u rch diese En tsch eid u n g, d u rch das Andringen
des W o rts , w ird die K irche re fo rm ie rt werden.
R eligion ist also in m odernem Ja rg o n ausgedrückt eine „soziologische“
T atsache.
D as Neue seit L u th e r ist, d aß R eligio n ich t län g er eine soziologische
Tatsache innerhalb des K lerus ist, sondern innerhalb aller Seelen, die vor
G ott im F e g fe u e r und G ericht sich behaupten m üssen* Die G leichheit aller
Seelen vor G ott sch afft eine G leichheit aller, ob P rie ste r oder L aien , im
A m t, im allgem einen P riesteram t.
Dialektik der F ü r die Papstrevolution w ar T rä g e r des Spiritus der P a p st und das
Reformation j £ o n z ;Q g€Wesen. Man erinnere sich des stü rm isch en Gebets an den H eiligen
Geist, der sie eröffnet. Die Spiritualen aber, L u th e rs V orläufer, haben ein­
fach die feineren W ortb edeutun gen von G eist hervorgeholt und an die
Spitze gestellt. Aus dem Gladius Spiritualis, d. h. d er Pap stgew alt, hatte
schon M arsilius von P ad u a (II, I I, 5 ) eine entgegengesetzte W e rto rd n u n g
entw ickelt: 1 . kom m en die Gaben des Heiligen Geistes, dann 2 . kom m en
die freien Ä u ßerungen des Geisteslebens, zum S ch luß h eiß t e s: „ n u r un­
passend und uneigentlich kann m an auch K irchen dienerverrich tungen
geistlich nennen“ ! Die W o rtv erk ü n d ig u n g tritt also in dieser R eih e als

216 ■
2 . in den V ordergrund. H ingegen die gregorianische, geistliche Gewalt
wird geflissentlich aus ihrem P rim a t gew orfen und von i . zu 3. degra­
diert, und zwar in echt revolutionärer D enkart d u rch dialektische Um keh­
ru n g der R angordnung. In dieser U m w ertung aller W e rte ist L u th er ab­
hängig von dem linken F lü gel der Franziskaner.
Die gesam te H ierarchie in der K irc h e : P ap st, K ardinäle, B ischöfe, P rie­
ster fällt also dahin, ln Religionssachen ist die Hierarchie beseitigt. Aber
w ohlgem erkt, nich t das A m t ist beseitigt. E s um gibt j a vielm ehr die R eli­
gio C hristiana als M auer, in deren Schutz das Kind erst zur Mündigkeit
heranw ächst, die Unwissenden erst un terrich tet werden und die U nteren
erst von den Oberen erzogen werden können. T rotz der G leichheit aller
in Religionssachen innerhalb der K irch e h a t L u th e r trotzdem nie g e­
schwankt, die kirchlichen M auern festzuhalten, die Kinder, Unwissende
und Untertanen brauchen, um einer eigenen Religio entgegenzureifen. F ü r
L u th er ist die K indertaufe selbstverständlich, fü r L u th er ist der Schul­
zwang selbstverständlich, fü r L u th er ist eine obrigkeitliche R egelung des
G ottesdienstes fü r „den H errn O m nes“ selbstverständlich.
N ur wer „R eligio “ w irklich zu verantw orten h at, w ird d u rch L u th e r
befreit, nich t etwa werden die Gedanken über G ott und K irch e einem
privaten Meinen und W äh n en überantw ortet. Dein Geist ist nicht „frei“ .
W o h l aber m u ß die Religio, die O rdnung der W e lt in deinem Gewissen
entschieden w erden, näm lich deine Stellung, C hrist, zu d er W e lt ein­
schließlich der K irch e und ihren Verlockungen und Zuständen. C hrist­
liche Fid es steht fest. R eligio C hristiana steht nich t fest, sondern m u ß
von dir geordnet werden.
W ie jede K u ltu r hatte auch die des M ittelalters G esichertheit gebracht
und gebraucht. Diese Sekurität ist gerade das W o r t, das L u th ers Thesen Sekurität
bek äm p fen :
These 44> 4 5 . U nd es sollen sich alle C hristen beeifern ihrem O ber­
haupt C hristus d u rch B uß en, Tode und H öllen zu folgen und d e ra rt lie­
ber d u rch viele A nfechtungen den H im m el zu betreten, statt auf die Seku­
rität ihres Friedens zu vertrauen.
Die W e lt und das Leben sind also w ieder g efäh rlich . Keine herrschende
K lasse kann einen A n griff au f die Sek urität e r tra g e n : d er K lerus des
Abendlandes so wenig wie heut die europäische B ourgeoisie.
W a s b ed roht aber die S ek urität des K leru s in den 9 6 Thesen, da ja
n u r die S ek urität des Seelenheils darin bestritten w ird ? Nun, daß kein
P a p st und keine Kirche irgend etwas über das Leben n ach dem Tode aus­
m achen können, b egründ et ein neues M en sch en rech t: Alle Menschen sind
n ach dem Tode allein G ott gegenübergestellt, jed er fü r sich der ganzen
M ajestät Gottes ganz und g a r. E s gibt kein W a ch s in die Ohren gegen die
Posaunen des Jü n g ste n G erichts. Solange die Seelen im P u rg a to rio noch
bloße R uhe suchen, solange sündigen sie ohne U n terlaß . Auch im F e g e -

217
feu er ist die S eele ungesichert über ihr Seelen heil. ( 3 8 und 8 9 E x su rg e
D om in.) D araus ergibt sich fü r dieses gegenw ärtige Leben eine neue
Seelenlage. E s w iederholt sich, was w ir beim W eltg e rich t und beim H ei­
ligen Grabe schon fa n d e n : Die D iesseitsordnung spiegelt den Jen seits­
glauben des M enschen notgedrungen im Gleichnis wieder. D em W eiten ­
rich ter C hristus entspricht die Theokratie der K aiser, dem Glauben an das
Heilige Grab d er an die offen sichtbare G em einschaft der Heiligen in der
K irche. Je tz t wenn m an im H im m el allein gelassen sein wird, ist m an
also auch au f E rd en allein, ohne geistliche Sippe und ohne Gewissens­
bürgen. Man ist in der unsichtbaren K irche.
Die Laien, die m ündig sind und die G laubensw ahrheiten beherrschen,
werden im G erich t nichts von dem verwenden können, was P fa ffe oder
P ap st vorgeschrieben oder getan — sie sind allein. Also sind sie es auch
au f Erd en . Die F re ih e it des Gewissens in dem Sinne der völligen E in sam ­
keit der Seele vor G ott ist proklam iert. D er K lerus ist keine Zw ischen­
wand m eh r zu G ottes A ngesicht. Die W eltm an n en stehen gleich den K le­
rikern im B uß sak ram en t. In die V erw altung der 7 Sakram ente d u rch die
K irch e ist B resch e gelegt. D er M önch h at die R eligio C hristiana allen
Gläubigen zugänglich gem acht.
An den 9 5 Thesen ist nun die F o r m ebenso bedeutsam wie d er In ­
halt.
D ia JP ä p sla ^ v o lu tio irte g m n t-jm jlg rz e n des U nfehlbaren m it dem D ic-
---------- "tam s 1 0 7 6 , m it der D eliberatio 1 2 0 0 v ö j^ e n r^ ö n sisto riu n a ^ 1 6 1 7 wird
die A ntw ort gegeben d u rch A nschlag an die T o re d er SchloB kirche in
W itten b erg .
Die große L u th ers R evolution wendet sich n ich t n u r an die Ö ffentlichkeit, das
habén d ie P ä p ste genau so getan. S o n d ern sein e R ev o lu tio n b richt auch
ö ffe n tlic h aus. D er A u sb ru ch bedarf zu m erstenm al eines P u b lik u m s. Ge­
nauer, n u r weil die 9 5 Thesen wie ein L a u ffe u e r d u rch D eutschland gin­
gen, wurde aus den 9 5 Thesen eine R evolution. D . h. der R evolutionär ist
diesm al an sich ohne A m t. D as E ch o des Publikum s erst verleiht es ihm .
■i

L u th ers A m t bis zu seinem Tode ist d ah er eine revolutionäre Stellung,


undefinierbar.
Die neue d u rch den B u ch d ru ck geeinte M enschheit ist L u th e rs W i r ­
kungskreis. T atsäch lich fü h rt die deutsche S p rach e dann* bald zu einer
B evorzugung des deutschen Publikum s.
Aber L u th e rs A bsicht ist das nicht. E r m ein t die C hristenheit, die in
R elig io n sfra g en aus ih rem Gewissen h erau s sich entscheiden soll, w eil
sie C hristen h eit ist. L u th e r, um es n och einm al zu sagen, schiebt dieser
C hristenheit n ich t die En tsch eid u n g über den G lauben, sondern über die
R eligion ins Gewissen, also über Schulen, Bibellesen, M essehalten, B ild er­
verehrung, A blaßhändel, M önchsgelübde, K irch en feste, T ürkensteuern
usw. Jed es dieser W o r te g e h ö rt n ich t ins G ebiet d er F id es, sondern d er

218
Religio, soll aber von der Fides her im Gewissen der einzelnen Seele ent­
schieden werden.
Die 9 5 Thesen, ih r Anschlag und ih r D ruck haben aber nich t nur die
Christenheit als Publikum zur V oraussetzung. E in er öffentlichen Person
Gewissen ist besonders „gebunden“ an L u th ers T aten. Auf dieser Person
Gewissen kom m t m eh r an als au f L u th er selber. Denn sie m u ß entschei­
den, ob L u th e r in W itten b erg leben und lehren, predigen und Thesen
anschlagen d arf. Diese Person m u ß die ordnende Macht des Erdstäcks
Wittenberg, m u ß ihre Polizei fü r oder gegen diesen oder jenen Lebens-
stand (R eligio 1) des Glaubens, also diesen oder jenen F e ie rta g , B u ch ­
druck, S ch ulun terricht, Ablaß, L e h re r usw. einsetzen. Diese Person gibt
den A usschlag d afü r, ob R eligionsfragen so oder anders entschieden w er­
den in der sichtbaren W e lt. B ish er hatte der P a p st die Vollgew alt der
Entscheidung. Je tz t sind dié Gewissen aufgerufen.
Die D em okratie jeder europäischen Revolution appelliert im m er an alle,
bei L u th e r d u rch den B uchdruck, bei Lenin du rch die berühm ten R ad io ­
telegram m e an alle.
Aber wer soll den Appell beantw orten und vollstrecken? D arin unter­
scheiden sich die Revolutionen. W e lch ein U nterschied, ob die Stad t P a ris
oder der Adel von En glan d Bärge fü r die D u rch fü h ru n g eines Appells
an die M enschheit wird. D as Buchdruckpublikum hier und d o rt, das die
fliegenden Einb lattdrucke und B ü ch e r „g ed ru ck t bei H ans L u ff t“ in
W itten b erg verschlingt — (D ie Z ahl der deutschen D rucke stieg von i 5 i 6
bis 1 0 2 4 au f das N eunfach e! 5 o o D ruck sch riften h at L u th e r v erfaß t,
wohl soviel wie d er P ap st Innozenz I I I . K anzleischreiben fü r seine R e­
volution.) „D er Handw erksgesell“ , der die neuen L ied er ob seiner Arbeit
sang, „die D ienstm agd ob ih rem Schüsselw aschen, der A cker- und R eb­
m ann au f seinem A cker und die M utter dem weinenden K ind in der
W ie g e “ (G esangbuch der K la ra Zellin i 5 3 4 ) — und diesen Lesern und
Sängern gegenüber der eine M ann, d e r die neue L e h re predigt, sie schw im ­
m en beide a u f den W o g en der Z eit ohne V ollstreckungsgew alt. Prediger
und Publikum sind beide die Schuldner der G ew issensforderung. A ber es
fehlt die M ündelsicherheit fü r die F o rd e ru n g an sie. D azu b rau ch t es ein
reales P fan d oder einen B ü rgen .
Der Bürge aller dieser kleinen Personen, der allein in Betracht kommt,
weil er über reale Vollmachten verfügt, ist die große Person der welt­
lichen Obrigkeit, sie b eh errsch t das Gebiet, das D ru ck er, P re d ig e r oder
L eser bewohnen, m it dem w eltlichen Schw ert. Und so g eh ö rt zu L u th er
sein Lan d esh err, der K u rfü rst F rie d ric h der W eise von S ach sen -W itten ­
berg, von der Sch loß kirche angefangen über das G eleit nach W o rm s bis
zum A ufenthalt a u f d er W a rtb u rg ist L u th e r in den Händen des K u rfü r­
sten. Die einsam e G hristenseele, die vor G ott in U nsicherheit steht, h at
in der W e lt keine, anderen H ände als die der weltlichen Obrigkeit.
. Der Mönch und Professor Luther hat im eigenen Leben das erfahren.
Er war ja den sogenannten Klostertod gestorben, durch den Eintritt ins
Kloster. Er war also vermögensunfähig und testierunfähig. Er war im
Kirchenbann. Er war in des Reiches Acht und Aberacht. Trotzdem hat er
gefreit, eine Nonne sogar, hat eheliche Kinder gezeugt und hat ein Testa­
ment errichtet. Nach Sachsenrecht, nach Kirchenrecht und nach Kaiser-
recht war diese Ehe keine Ehe, die Kinder waren nicht ehelich, das Testa­
ment ungültig. Einzig Luthers Obrigkeit war die Rechtsquelle, die all diese
Mängel heilte. Das Schweben im ungesicherten Raum (These 4 4 / 4 5 ) hat
Luther fast dreißig Jahre hindurch ertragen. Das ist vielleicht seine außer­
ordentlichste Leistung. Dieser ungeheuerliche Druck einer unerhörten
R e c h ts u n s ic h e r h e it erklärt vielleicht auch den ungeheuerlichen Ton seiner
Schmähschriften noch im hohfea^Alt^. Er hat keinen locus standi, keinen
Standort im Recht der Welt. Ein vorher nie gewesener Rechtsraum muß
ihm durch den Landesherrn erst eingeräumt werden. Im bestehenden
Recht gibt es für Luther keinen Platz. Das Dokument, in dem Luther
diese Not ausspricht und das für die Lehre von der Persönlichkeit und
vom Beruf des Luthertums ausführlich auszuwerten sich verlohnte, ist
Luthers sein Testament von i 5 4 2 Als Person, die in großen Sachen des Hirn-
Testament mejg ^es Q|aubens zur öffentlichen geworden sei, verlangt er Kredit
auch in diesen geringen Sachen der Erde.
„Zuletzt bitt ich auch jedermann, weil ich in dieser Begabung oder
Wissgeding nicht brauche der juristischen Forme und W örter (darzu ich
Ursachen gehabt) man wolle mich lassen seyn die Person, die ich doch in
der Wahrheit bin, nämlich öffentlich, und die beyde im Himel, auf Erden
auch in der Hellen bekannt, Ansehens oder Autorität genug hat, der man
trauen und glauben mag mehr denn einem Notario. Denn so mir ver^
dampten armen unwürdigen elenden Sünder Gott der Vater aller Barmher­
zigkeit das Evangelium seines lieben Sohnes vertrauet, darzu mich auch
treu und wahrhafftig darinnen gemacht, bisher behalten und funden hat,
also dass auch viel in der W elt dasselbe durch mich angenummen, und
mich für einen Lehrer der Wahrheit halten, ungeacht des Papstes Bann,
Kaiser Könige Fürsten Pfaffen ja aller Teufel Zorn: soll m a n ja viel m e h r
m ir h ie r in d ie s e n g e r i n g e n S a c h e n g la u b e n , sonderlich weil hier ist meine
Hand, fast wohl bekannt, der Hoffnung es soll genug seyn, wenn man
sagen und beweisen kann, diess ist D. M. L. (der Gottes Notarius und Zeuge
in seinem Evangelio) ernstliche und wohlbedachte Meinung, mit seiner
eigen Hand und Siegel zu beweisen, Geschehen und geben am Tag Epi­
phania i 5 4 2 . M. L.“
Dies Testament des Reformators hat durch eine ausdrückliche Aner­
kennung seines Kurfürsten K raft erlangt. Von den 96 Thesen bis zum
Tode lebt also der Reformator von der Gnade seines Landesherrn. Das1
1 Rosenstock-Wittig, Das Alter der Kirche II (1928), 813.

220
unterscheidet ihn von dem weltklugen Erasmus, der 1 5 3 6 ruhig „im Ver­
trauen auf die kaiserlichen, päpstlichen und basier Satzungen“ testieren
kann. Den Erasmus schützen die alten Rechtswelten; Luthern verhelfen
nur das Gewissen und der Fürst zu einem Standpunkt.
Bis zur Wartburg ist die weltliche Obrigkeit die nachhelfende Hand,
und Luthers Stimme geht vor. Von da an aber wird die Reihenfolge auf
einmal anders: Die Fürsten handeln, und Luther stimmt ihnen zu. Das
war die Lage bekanntlich im Bauernkrieg. Die Bauern wollten aus der
eigenen Stimme auch ein eigenes Handeln herleiten. Das war wider Luther
und wider den Ernst der Seele gehandelt. Denn nur die Seele v o r G ott
hat Luther im Auge, und ihr will er Mut machen. Deshalb ist der zweite
Raum außerhalb des sichtbaren Lebens so wichtig: das Purgatorio. Die
Seele und ihr Gott haben nichts zu schaffen mit den sozialen Ämtern und
Würden in dieser Welt. Als Christ' ist der Mensch eine S e e le vor Gott.
Als Sünder ist der Mensch eine P e r s o n in der Welt. Seele und Person ste­
hen bei Luther in demselben Gegensatz wie im Mittelalter.
Seele — da sind alle Menschen gleich; Person — da ist jeder verschie­
den. An jedem Ort und in jedem Rang ist jedermann mit anderen Auf­
gaben belastet. Diese verschiedenen Rechtspositionen heißen damals „Per­
son“ , also etwa das, was wir Funktion nennen würden.
Die Papstrevolution hatte auch demokratisch eine Gleichheit aller her­
vorgerufen durch den Kreuzzug, also durch ein kriegerisches Unterneh­
men. Luther dreht das Verhältnis u m : aus der äußerlich sichtbaren
Kreuzfahrt in das gelobte Land Palästina wird der innere Kreuzzug des
Gewissens in das gelobte Reich Gottes. Der wird demokratisch jeder­
mann angeboten als das köstlichste Evangelium, die frohe Botschaft und
reine Lehre. Das Innenleben wird der Schauplatz des Purgatorio.
Aber die äußere Ordnung muß ganz streng davon getrennt gehalten
werden. Sonst kommt der innere Kreuzweg ja nicht zustande. Der Zug
nach dem Heiligen Grabe setzte doch auch wirkliche Gefahren zu Lande
und zur See, das Dasein fremder und feindlicher Völker und*Fürsten vor­
aus. Nur weil die W elt so fremd war, nur deshalb war der Kreuzzug ver­
dienstlich.
L u t h e r s S e e le b r a u c h t f ü r ih r e n K r e u z w e g a u c h e in e F r e m d e , u n te r
Wenn alles bloß so geht, wie sie will, dann ist es ja
d e r sie le id e n k a n n .
mit dem Kreuzzug nicht ernst. Je fremder die W elt, desto verdienstlicher
die Glaubenskraft, desto tapferer muß man leiden. Der leidende Gehor­
sam gegen die fremden Personen der Obrigkeit gehört zu Luthers Ge­
wissensfreiheit, damit die Seele nicht um ihre Aufgabe geprellt wird,
sich gläubig in Schwierigkeiten zu behaupten.
Die Bauern im Bauernkrieg hatten das Vorbild der Schweizer vor
Augen, die 1 499 dem Führer des habsburgischen Ritterheeres die Aus­
lieferung der Ritterleichen nach der Schlacht mit den Worten verwei1
221
gert hatten: „Die Ritter muggen bi den Buren liggen.“ Die Gleichheit
vor Gott im Tode sollte also auch eine Gleichheit vor den Menschen brin­
gen. Damit wäre Luthers Predigt vergeblich gewesen. Seelengleichheit
und Personenverschiedenheit mußten vielmehr schroff gegeneinander ge­
stellt werden, um Gott in der zweiten Hälfte der Menschenwelt, im welt­
lichen Schwert, zu entdecken. Luthers Tat ist die Entdeckung Gottes in
der unsichtbaren und unsichtbar bleibenden W elt der Zeitlichkeit. Bisher
hatte die Kirche allein in der Schöpfung, in einer W elt des Rauches und
Nebels, Gottes klaren und hellen heiligen Geist bezeugt. Jetzt bezeugt
sich Gott außerdem in den Gewissen jedes Christenmenschen, auch ohne
daß der Gewissenhafte deshalb den Rock des Spiritualen, Minderbruders,
Bruders vom gemeinsamen Leben oder dergleichen anziehen muß.
Tatsächlich hat der Bauernkrieg bei Luthers Feuer eine Kraftanleihe
gemacht. Nie wären die Bauern aus eigenem ohne Luther trotz aller Gä­
rungen zum Lösschlagen gekommen. Ihre Forderungen waren vorher
rein mittekdterliche gewesen. Deshalb ist der Bauernkrieg für die Gestal­
tung des europäischen Menschen belanglos. Er war reaktionär. Luther
war in einer neuen Zeit und W elt der Erstgeborene, revolutionär und
monarchisch. Jede Person soll im Diesseits in ihrem Amt wie ein König
alles allein verantworten, jede Seele soll vor Gott wie jeder arme Sünder
auch alles allein verantworten.
Luther hat einen neuen Seelenerdteil entdeckt, so umfangreich wie
Amerika.
Auf der alten Erde aber wird deshalb Platz für eine große Verein­
fachung. Die große Hierarchie der sichtbaren Kirche hat ihr Pathos ver­
loren. Die Seele ist nicht mehr da, wo der Klerus sie sucht. Die Erzie­
hungsarbeit der Kirche kann daher getrost den Bischöfen jedes Orts
und Landes überlassen werden, und dieser Bischof ist die weltliche Obrig­
keit. Luthers Kurfürst ersetzt den obersten Bischof. Im Gewissen braucht
er keinen Kleriker für das Bußsakrament. Zum Erziehungswerk der Taufe
und der Gemeinschaft hat die weltliche Obrigkeit a»uch das Zeug. Der
dritte Heerschild, der hohe Adel, ist durch keine altkirchliche Überliefe­
rung wie der Kaiser mit der Hierarchie verschwägert. Daher werden
diese Landesfürsten die Bürgen der Seelenkirche. Die sichtbare Kirche
kann getrost in Landeskirchen zerfallen. Das „Unam sanctam“ in Boni-
fatius VIII. Übertreibung wird belanglos. Die Einheit ist in Gott und in.
Gott allein.

7. D ie D em o krßtisierun g d er R eich sstä n d e .


Die weltliche Obrigkeit Luthers — das waren die Reichsstände, die bis
dahin in sorgfältiger Rangordnung Kaiser und Reich darstellten. Sie alle
werden nun in Religionssachen plötzlich einander gleichgestellt! Luther
bewirkt, daß all die vielen Obrigkeiten untereinander in Glaubenlsachen

222
gleich werden. Da wurde der Rat von Nürnberg und von Donauwörth
gleichviel wert wie der König von Böhmen und der Kurfürst von Mainz.
Der Reichsgraf von Wertheim galt so viel wie der Kurfürst von Branden­
burg. Kurfürstenbank, Fürstenbank, Städtebank, Prälaten und Grafen­
bank — auf dem Reichstag fein abgestuft — standen mit einem Male
nebeneinander in Sachen der Religion.
Reichstag Nationalreformation
Kaiser
Kurfürsten
weltliche Fürsten
geistliche Fürsten .......... ......... .........._— —
Städte
Ritter Weltliche Obrigkeiten
Reichsdörfer

Der Bischof von Halberstadt und der Hochmeister von Preußen wur­
den aus geistlichen Fürsten nun ebenfalls weltliche Obrigkeit. Tatsächlich
hat nur diejenige weltliche Obrigkeit das oberste Bischofsamt erreicht
und eine Landeskirche begründet, die das weltliche Schwert selbst zu füh­
ren verstand. Die Grafen Stolberg-Wernigerode hatten eine eigene Lan­
deskirche, die Reichsdörfer nicht, weil sie militärisch einen Schirmherrn
brauchten. Die „Region“ mußte wirklich von einem wirksamen Schwert
beschirmt werden, um einen weltlichen Religionsherm zu tragen.
Dann galt der Satz, mit dem die Revolution schloß: Welches Reichs­
standes Region, dessen Religion. Guius regio eins religio.
Die deutsche Fürstenrevolution dauert von IÖ24 bis i 5 5 5 . Vom Na­
tionalreichslagsplan bis zum Augsburger Religionsfrieden. Von 16 17 bis
102 4 schien eine Veränderung der Reichsverfassung unnötig. 1624 aber
ändert sich das. Keine politische Revolution beurteilt der Durchschnitts­
deutsche so falsch in ihrem rechtlichen Charakter wie die Reformation.
Gerade deshalb müssen wir schärfer hinblicken auf das Fürstenrecht als
auf die vielen theologischen Begeisterungswogen über die Reformation.
Denn nicht Luther, sondern die Obrigkeiten haben unsere Schulen ge­
gründet und uns unterrichten lassen. W er auf diese Schulen ging, sollte
nicht die Gedanken der Obrigkeiten, sondern die Gedanken Luthers be­
greifen, die Obrigkeit blieb als Landesbischof über dem Ganzen. Das
deutsche Publikum des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, adlig, bürgerlich,
bäuerlich wie es war, stand unterhalb der „Ober“ keit und hatte deren
Gesichtskreis nicht. W ohl in keinem anderen Lande der W elt haben daher
zwei so verschiedene Gesichtskreise übereinander bestanden wie bei uns.
Oben kämpfen Fürst und Staatsmann um ihr Recht und ihre Freiheit als
Obrigkeit. Unten leben und lernen Bürger und Bauern die reine Lehre
und den Gehorsam gegen die Obrigkeit im Kreiße ihres beschränkten
Untertanenverstandes. Noch heut ist der Begriff des „Publikums“ in
Deutschland ein rangtieferer als in England. Es ist in Deutschland das
Publikum eine schutzbedürftige ( io A. L.R. II, 17), gestaltlose, unter­
geordnete Masse. Es ist nicht „ein Parterre von Königen“ und Herren des
Volksgeschicks wie in England oder Frankreich.
Dies „Unpolitische“ des Durchschnittsdeutschen liegt in der freiwilligen
Arbeitsteilung zwischen Luther und seinem Landesherrn bereits angelegt.
In ihrem vollen Umfang wird die deutsche Revolution nur durch den
Deutschen Fürstenstand repräsentiert. Dieser hohe Adel vertritt dabei die
Leiden und Wünsche der deutschen Nation im ganzen. Die gesamte Na­
tion glaubte dem hohen Adel ohne jeden Zweifel seinen Verkörperungs­
anspruch. Seine Sache war die der Deutschen, seine Libertät die Teutsche
Libertät.
Es ist ein großer Unterschied, ob man auf das Niveau der weltlichen
Obrigkeit hinauf steigt bei der Beurteilung der Umwälzung und dort oben
staatsmännisch denkt oder ob man unten seiner Gewissensfreiheit und
Gottes W ort sich erfreut. Im letzteren Falle des üblichen Lutheraners
hat man nämlich nur mit einem Staat, nämlich mit seinem Staat zu rech­
nen und nur an einen Landesherrn, nämlich an den eigenen Landesherrn
zu denken. Auf diese Weise hat die große Masse der deutschen Prote­
stanten auch weiterhin in der Einzahl über Staat und Fürst denken kön­
nen. An die Stelle des Papstes (nicht etwa an die Stelle des Kaisers) trat
der Landesherr und also war die Monarchie, die immer die einfachste
Denkform für das Individuum ist, seine, des Lutheraners persönliche
Verfassungsform. Daraus nun, daß die deutschen Bürger und Bauern
Monarchisten blieben, mit einem Landespapst statt einem Ultramontanen,
ist eine ungeheure und ungeheuerliche Geschichtsfälschung entstanden,
so als sei die deutsche Verfassung eine monarchische und Deutschland
eine Monarchie.
Es ist aber das teuer erkaufte Erbe der Reformation für die Teutsche
Nation im ganzen eine ganz und gar andere Regierungsform. Und es
wird nicht Friede in Deutschlands Konfessionen und Schulbüchern, ehe
nicht diese Regierungsform jedem Deutschen wieder klar und einfach
vor Augen steht. Ehedem gibt es noch keine Deutschen, sondern immer
erst Lipper und Oldenburger und Badener mit ihrer landesbischöflichen
Denkzuspitzung. Eher denkt der Deutsche noch nicht staatsmännisch,
sondern untertanenhaft.
Die Beerbung der Träger der deutschen Reformation durch das Volk
im ganzen ist heut die Aufgabe der Zeit. In die Rolle der deutschen Für­
sten von 1621 rückt heut die ganze Nation ein.'
Steigt man die Stufen auf der Heerschildleiter empor, bis man unter
den deutschen Fürsten von damals steht, und hält man hier Umschau, so
erkennt man das eine: Diese Umwälzung ist die Revolution eines ganzen

22I1
S ta n d e s, des Reichsfürstenstandes. Es ist also eine soziale Schicht, die ge­
meinsam und für alle ihre Mitglieder eine neue ungekannte Freiheit er­
streitet. D ie M eh rz a h l der Freiheitskämpf er ist das Grundelement dieser
Revolution. Ohne diese Voraussetzung ist sie undenkbar und würde sie in
ihr Gegenteil Umschlägen. D ie F r e ih e it d e r d e u ts c h e n F ü r s t e n in R eli­
g io n s sa ch en ist n u r d esh a lb u n d n u r s o la n g e F r e ih e it und nicht Tyrannei,
als zwischen diesen Fürsten Parteibildung, Konkurrenz, Mitarbeit und Ri­
valität bestanden hat. Als hingegen der englische König die zivile Gewalt
beanspruchte wie einer der deutschen Fürsten, obgleich er der einzige
Fürst auf seiner Insel war, da wurde er enthauptet.
Das ius reformandi der deutschen Reichsfürsten ist nur zu verstehen
als die Abtretung eines Anspruches des Reiches an seine einzelnen Mit­
glieder als M itg lie d e r. D ie d e u t s c h e R e lig io n s fr e ih e it ist d a h e r d ie F r e i ­
h e it vo n R e lig io n s p ä rteien .
Alle Versuche, nur das „Evangelium“ als das Ergebnis der deutschen
Reformation hinzustellen und die neuen Menschen als Evangelische zu
bezeichnen, entdeutschen diese Umwälzung. Das Ergebnis der deutschen
Reformation sind rechtlich, politisch und geistig die R e lig io n s p a rteien des
Reiches. Die deutsche Nation hat sich nicht wie die Italiener als Archi-
pelagus unter dem Primat eines geistlichen Papstes bei Hinausdrängung
des Schwertkaisers verfaßt. Sondern sie fand in allem die umgekehrte
Lage vor: Der geistliche Primat sollte verschwinden, weil er ein Fremd­
körper geworden war; die Schwertgewalt war dem Festland hingegen
ganz unentbehrlich, und den Kaiser wollte man nicht missen als Schirm­
herr eben dieses Festlandes gegen Türken, Franzosen und alle anderen
Gefahren.
Die entgegengesetzten Menschen und die entgegengesetzte Verfassung Die Menschen-
sind die Folgen dieses Gegensatzes geworden: der deutsche Fürst, der Nation Refor'
deutsche Offizier und der deutsche Professor: Die Einheit des Militärs
und die geistige Polarität. Die b e id e n R e lig io n s p a r t e ie n der Katholiken
und Protestanten gehören zum Recht der Nation wie die W higs und
Tories in England! Das Zweiparteiensystem in England würdigt jeder
Deutsche als großes politisches Prinzip. Die beiden deutschen Religions­
parteien haben keine kleinere politische Leistung vollbracht. Aber wer
kennt sie? Sogar der Name ist heut — etwa in Heynes deutschem W ör­
terbuch — verschollen. Aber es ist ein amtliches Wort. Entscheidung er­
geht, es „kann jede part sin religion üben“ , im Dreißigjährigen K rieg1.
Das Ausland freilich nennt nur d ie Protestanten die Partei der Religion.
So heißen die Hugenotten in Frankreich „ceux de la Religion“ , oder
ißaÖ verlangt das englische Parlament vom König to recollect and
reunite that scattered party of the religion in Germany. Aber die eine
Partei zog die andere nach sich!
1 Opet-Gohn 56, 233.

15 R osenstock 9 9 ^
In den Quellen der Zeit ringt man mit dem Neuen und redet daher
in den Staatskorrespondenzen usw. immer neben einander vom Heiligen
Römischen Reich und deutscher Nation. Das ist bezeichnend. Denn es ist
die Leistung der Revolution von i 5 2 i bis i 5 5 5 , die deutsche Nation in
das heilige römische Reich eingebaut zu haben! Den W eg dahin müssen
wir kurz noch einmal nachschreiten, weil für uns heute eben auf die Er­
fassung der Teutschen Libertät nicht wenig ankommt. Denn die Refor­
mation und der Dreißigjährige Krieg haben die deutsche National Ver­
fassung nicht zerstört, wie man oft lesen kann, sondern sie haben sie
entdeckt und organisiert! Mag uns von der Französischen Revolution und
dem Kapitalismus her rein zentralistisch eingestellten Europäern diese
Verfassung behagen oder nicht — der Charakter der Deutschen beruht
auf dieser Verfassung. Die Deutschen mit ihren Lastern und Tugenden,
Katholiken und Protestanten sind nicht älter als die Reformation. Sie
werden ein geprägter europäischer Volkscharakter in und mit den Reli­
gionsparteien, in die hinein sich die deutsche Nation verfaßt und ab­
schließt.

8 . D ie Fürstenrevolution 1525— 1555


Als der Nation die Parteibildung klar wird, beginnt der rein politische
Teil der Lutherischen Reform, der Protestantismus.
Der Protest wendet sich gegen Karl V. Der Kaiser hatte den National­
reichstagsplan von i 5 2 4 in höchstem Zorn kassiert, obwohl ihn der rö­
mische König und die Reichsstände beschlossen hatten. Damit ist der
Rechtsboden verlassen. Die Religionssachen darben eines anerkannten
Rechts.
Dies Scheitern ist nicht ohne Zusammenhang mit dem Ausbruch des
Bauernkrieges. Die freiwillige Umformung des ritterlichen Lehnreiches
in die geistliche Nation versagt. Nun drängt es zu Gewalttaten. Aber als
„der Herr Ommes“ unter Thomas Münzer die Gleichheit aller durchsetzen
will, da ist auch unter den großen Personen oben im Reich das Recht zer­
brochen! So sah es schon Ranke (oben S. io o ).
Noch kommt es zu gemeinsamem Strafgericht, von allen Deutschen und
Reichstruppen hohnlachend vollstreckt, an der Hure Rom, dem Sitz des
Antichrists. 1627 schwärt im Sacco di Roma die ganze geile Fantasie, die
sich gegen das Papsttum seit den Spiritualen erhoben hatte, aus. Die Ver­
wüstung war beispiellos, das Verhalten der Truppen viehisch. Es war eben
ein Teil der Weltrevolution gegen das Papsttum.
Die Reformation hat in beiden Akten, Bauernkrieg und Sacco di Roma
Greuel, die es mit allen Revolutionsgreueln anderer Völker durchaus auf­
nehmen. Auch hier war übrigens ein relativ unschuldiger Papst das Op­
fer! Zwischen Bauernausrottung und Romverwüstung steht Luther. Sein
W ort wirft er nun den Bauern entgegen, so grimmig wie bisher dem

226
Papst. Aber damit die Päpstlichen nicht zu früh frohlocken, tut er den
entsprechenden äußeren Schritt jetzt gegen die Papstseite: Er heiratet.
Vorbei alle Möncherei. Martin Luther tritt zurück in die Welt. Statt Ver-
mönchung der Laien heißt es nun: der Priester hat auch nur ein weltliches
Amt. Die Prediger treten an die Stelle der Priester. Studieren in der
Schrift sollen die neuen Geistlichen, statt Gelübde abzulegen.
Nur das Zivilrecht kann all dieses sichern. Nur die weltliche Obrigkeit
kann von jetzt ab reformieren.
1 6 1 7 — 1 5 2 4 bewegt sich die Nation noch in Vorstellungen der vorher­
gehenden Revolution. Seit i Ö2 5 kann die Freiheit eines Christenmenschen
nur noch im Schutz der weltlichen Obrigkeit die Reiigionssachen zu ge­
stalten hoffen. Bis IÖ2Ö trägt der gemeine Mann die Bewegung. Jetzt
reformieren die einzelnen Reichsstände ihr Land.
Für diese Reichsstände wurde nun die Nichtausführung des Wormser
Edikts eine Lebensfrage. Sie hielten sich also gemeinsam an den Reichs­
schluß von 1624 und protestierten gemeinsam gegen andere Lösungen.
Sie überreichten i 5 3 o eine gemeinsame Bekenntnisschrift ihrer Theo­
logen, die Augsburger Konfession. Und sie wurden so aus gemeinsamen
Protestanten eine gemeinsame Konfession. Hierin aber erwies sich das
Gesetz aller Gewissenstheologie. Sie muß, anders als die apostolisch­
päpstliche, dialektisch gegensätzlich sein. Denn theoretisch gibt es immer
zwei Meinungen. Die protestantische Bekenntnisschrift ist eine theore­
tisch-wissenschaftliche Arbeit. Und deshalb ist sie eine von zwei oder mehr
möglichen Meinungen. Sie hatte und konnte nicht haben dogmatisch-uni­
versalen Charakter, sondern parteiisch-theoretischen. Ausdrücklich ge­
brauchen ja die Protestanten in der Augustana i 5 3 o die klare Formel*
daß sie mit dem Kaiser in den Glaubensfragen nur wie gleich zu gleich
„wie Parten“ verhandeln wollten.
Mit der Augsburger Konfession von i 5 3 o gab es also die neue Reli­
gionspartei in erklärtem Gegensatz gegen die alte. Schon das National­
konzil wie jede demokratische Körperschaft hätte nur in Parteien leben
können, ohne Einmütigkeit und Einstimmigkeit. Es war die Illusion 1 0 2 4
gewesen, ein solches Konzil für aussichtsreich zu halten. Es lag das daran,
daß 1 5 2 4 noch die Mehrzahl der Fürsten abwartend zu der neuen Lehre
stand und so eine Art neutraler Schlichtung möglich blieb.
Jetzt, wo alle Anteil nahmen und Stellung, war nur noch die Form der
Religionsparteien innerhalb der Nation möglich.
Dem Kaiser als Oberhaupt des Reichs und als Schirmherrn der Kirche Karl v.
gleicherweise war diese neue Daseinsform der deutschen Nation unfaßbar.
Er hätte schon i 5 3 2 zum Schwert gegriffen. Aber die Konfession der
neuen Lehre zog nun auch ein politisches Bündnis nach sich. Der Schmal-
kaldische Bund hielt vierzehn Jahre lang die Gefahr ab. Erst i 5 4 6 war
das Maß voll. Der Erzbischof von Köln wollte sein Bistum lutherisch ma-
15* 227
eben; die Stifter drohten so Erbfürstentümer zu werden, das war eine di­
rekte Schwächung des Kaisers; das Konzil, auf das der Kaiser so sehr
hoffte, begann in Trient. Da schlug Karl los und fing im Schmalkaldi-
schen Krieg drei der Hauptfürsten. Luthers Kurfürst büßte seines Vaters
Abreise vom Wormser Reichstag und verlor den Kurhut. Das teuflische
„Interim“ demütigte die Protestanten tief, und doch war es revolutionär
wie die Charte von i 8 i 5 . Denn es ließ ihnen die Kirchengüter! Es war
daher mehr gegen Luthers Ketzerei als gegen die Reformation der F ü r­
sten gerichtet. Aber die Fürsten, auch die altkirchlichen, begannen nun
alle den Imperator zu fürchten, der als Weltherrscher des Reichs in K ir­
chen- und weltlichen Sachen jetzt gebieterisch auftrat. Die Teutsche Na­
tion besann sich nun gemeinsam auf ihre Libertät. Man fürchtete, „daß
man uns nichts werde halten, sondern uns und unsere nachkomen umb
die religio und in viehisch Spanisch servitut wircken und dringen wird,
Got sei’s geklagt“ . ( i 5 Ö2, Druffel II, 7 4 4 .) Damals war es, daß die
Sächsische Kur dem Sohne Friedrichs des Weisen genommen wurde, ein
Jahr nach Luthers Tode.
Durch den Schmalkaldischen Krieg wurde die bisherige Rolle der deut­
schen Fürsten als unzulänglich erwiesen. Als Träger eines Bekenntnisses
und Mitglieder einer Religionspartei waren diese Fürsten zu einem geist­
lichen Interesse gezwungen worden, das bis dahin nicht zu ihrem Amt ge­
hört hatte. Diese Fürsten brauchten zu Schul- und Kirchenfragen plötz­
lich Kenntnisse und Rat auf einem neuen Gebiet. Sie mußten Theologie
lernen und schwierige Kulturfragen fielen nun unter die völlig selbstän­
dige Entscheidung des Landesherren als des summus episcopus. Wenn
der Herzog von Cleve „Papst in seinem Lande“ w ar1, so bedeutete das
einen großen neuen Pflichtenkreis. Dazu gehörten aber auch die äußeren
Machtmittel!
Mit dem Schmalkaldischen Krieg zeigte sich die Gefahr einer solchen
Religionsverwaltung ohne militärische Sicherheit. Das Schwert des eige­
nen Konfessionsverwandten Moritz von Sachsen hatte die Sache der Pro­
testanten fast auszurotten vermocht. Erst sein Abfall voh Rom und vom
Kaiser 1 5 5 2 hat die „Libertät“ wieder hergestellt. Damit war der F ü r­
stenstand auf den Gebrauch des Schwertes auch als Reichsstand ein für
allemal hingelenkt zur Verteidigung der Religion. Aber das zahlenmäßige
Verhältnis der fünfundzwanzig Jahre friedlicher Reformation und der
fünf Jahre kriegerischer Unruhe (bis zum Passauer Vertrag 1 5 5 2 ) zeigt
doch, wie sehr bei dieser Revolution die Empörung gegen den Papst über­
wogen hat. Diese Reichsstände gedachten zunächst nicht ein militärisches,
sondern ein geistliches Regiment aufzurichten mit eigener „Souveränität“ .
Dies französische W ort lag ihnen zwar fern. Aber das W ort Obrigkeit
war es, das nun ausgedehnt wurde auf die Obergewalt in Religionssachen
1 Nach einem ursprünglich von einem Habsburger im i /j . Jahrhundert geprägten AVort.

228
an Stelle des Papstes. Diese Souveränität hat die Revolution der deutschen
Fürsten allen Fürsten Europas erkämpft. Es war das freilich keine Sou­
veränität in Glaubenssachen. Die Fides blieb entweder die der alten oder
die der neuen Lehre durch ganz Europa. Europa ist christlich geblieben,
als es aufhörte, der päpstlichen Einheitsgewalt zu unterstehen. Nur in
Religionssachen entschied die einzelne Obrigkeit kraft ihrer Superioritas.
Der weltliche Staat entspringt also gerade aus seiner geistlichen Vollmacht.
Dies ist das Paradox der „christlichen Staatenwelt“ .
Es ist das im Lauf der Jahrhunderte so verschüttet worden, daß man
aufs stärkste heut es betonen m u ß : die christliche Gedankenwelt blieb
den europäischen Völkern erhalten. Nur der Leib der Christenheit ver­
wandelte sich, nicht aber die Gedankenspeise der Seelen! Luthers Bibel­
übersetzung verdichtete diese Gedankenspeise zum täglichen Brot von je­
dermann. Auch als die europäische Staatenwelt in den Weltkrieg ein trat,
waren die Völker dieser Staaten in ihrer großen Masse mit christlichem
W ort und Bild, mit den Vorstellungen der Bibel erzogen und ernährt.
Das W ort „Europa“ verdeckt die Tatsache zu leicht, daß es christliche
Völker blieben, die fortan in Staaten sich gliederten. Deshalb muß genau
in der Mitte dieser Spannung der „Christliche Staat“ stehen, den die Re­
formation aus ihrem Begriff der christlichen Obrigkeit heraus erschaffen
hat. Viele Völker, eine Kirche, hatte das Mittelalter gerufen. Eine Chri­
stenheit, viele Obrigkeiten, predigt Luther! Der Humanismus und die
Pflege der heidnischen Antike haben auf ein christliches Erbgut sich dar­
auf gelegt, als zweite Schicht. Aber die Religionsfreiheit der Fürsten
band sie an das christliche Bekenntnis! Gar nicht genug kann die W ich­
tigkeit dieser Reihenfolge unterstrichen werden.
In der Antike ist dem Heidentum die Kirche als Abschluß gefolgt. In
der Reformation öffnet sich die „zivile“ Obrigkeit zuerst dem Geistesgut
der heidnischen Antike neben dem christlichen. Aber aller heidnische
Geist der Neuzeit folgt auf das christliche Erbe und muß den Wettstreit
mit diesem aufnehmen! Es ist die umgekehrte Reihenfolge, die den neuen
Humanismus und Klassizismus zu etwas ganz anderem gemacht hat als
den der Antike. Er ergänzte, überbaute und vervollständigte das Weltbild
der Christenheit! Auf eine christliche Seelenkultur und einen christlichen
Gottesglauben folgte nun die Ausbildung eines heidnischen Bildes der
W elt!
Hellas und Rom hatten am Ende ihrer Geschichte vor der christlichen
Kirche kapituliert. Die neue Zeit Europas konnte unbefangen vom Christ­
lichen zum Heidnischen hinstreben, weil sie durch und durch christlich
durchtränkt war und blieb.
Die „neue Zeit“ ließ also die Kraftquellen dieser abendländischen
Seele, ihres Weltgerichtsglaubens, ihrer revolutionären expansiven Kreuz­
zugsgesinnung und ihrer kulturellen Solidarität unangefochten stehen.

229
Nur das sichtbare Gebäude dieser Seelenhaltung, die römisch-katholi­
sche Kirche, verlor ihre völkerrichtende Gewalt durch die Reformation.
1609 kat der Papst zum letztenmal ein europäisches Staatsgebiet, das Ve­
nedigs, mit dem Interdikt zu belegen wagen können.
Die Reformation verlegt die Brunnenstuben für die christliche Lehre
und Erziehung in den weltlichen Personenstand.

9 . D er B eitra g der D eutschen zur Staatslehre


Die Reformation hat den Religionsparteien diese Pflicht überbürdet.
Das Große, das dadurch in die Welt gekommen ist, läßt sich auf eine
kurze Formel bringen. Es ist das um so notwendiger, als wir Deutschen
in der Staatslehre die westlichen Schöpfungen in der Verfassung ausführ­
lich zu behandeln pflegen. Bei Bodins Souveränitätslehre (1677) fängt
man an und geht dann zum Begriff des Völkerrechts, zu der Lehre von
der Trennung der Gewalten und zur Lehre von den Parteien weiter. Zu
sehr vergißt man aber dabei die geschichtliche Großtat der eigenen Na­
tion im Staatsrecht. Die rein theologische Ideologie der Reformation ist
an dieser Unkenntnis schuld. Es haben aber die im Augsburger Religions­
frieden zu ihrer Religionshoheit gekommenen weltlichen Obrigkeiten et­
was entdeckt, was kein Kulturstaat heut missen will und was all den
eben erwähnten Leistungen Hollands, Frankreichs, Englands voraufgehen
mußte.
Als Religionsparteien mußten sie es entdecken. Denn sie kamen nun
mit dem einfachen B egriff des weltlichen Schwertes nicht mehr aus.
Diese Entdeckung ist die Trennung von Zivil und Militär.
Der alte Reichsfürst des Mittelalters war ein Kommandoführer in der
Heerschildordnung. Seine Kommandogewalt im Krieg und auf dem Rö­
merzug war der Kern seines Amtes. Um das Heerführeramt des Herzogs
ordneten sich alle anderen weltlichen Ansprüche des Fürsten. Die Heer­
genossen nahmen das Recht vor ihm und bildeten sein Gericht. Auch die
Gerichte waren daher Heeresgerichte. Die Verbindung im Krieg und zum
Krieg hatte den Vorauf und diktierte auch dem Frieden das Gesetz.
Dies wird durch die Reformation gründlich anders. Das ius civile, das
die Fürsten nun heranziehen müssen, um Ehe- und Kirchenrecht, Schulen
und Landessteuern zu ordnen, ist nur der Ausdruck dafür, daß nun das
weltliche Recht aufhört eine Einheit zu bilden. Bisher hatte man noch
immer das Stammesrecht als das weltliche Recht dem kanonischen Recht
der Kirche gegenübergestellt. Mit der Religionsfreiheit und dem Sturz des
kanonischen Rechts unter die fürstliche Aufsicht werden die Fürsten zu
einer Teilung genötigt zwischen ihren zivilen Verwaltungsaufgaben und
ihren militärischen. Das Heerwesen wird nun zum Militär, d. h. aus dem
Ganzen zur Hälfte des Fürstenamtes. Truchseß, Kämmerer, Marschall
und Schenk im alten Fürstenhaus waren alles Heeresvasallen. Heeresord­
nung war die Ordnung bei Hofe und im Lande.
Nun lenkt der Landesherr die Landeskirche. Dadurch wird das Militär
nur der eine Zustand seines Regiments, der friedlich zivile tritt neben den
kriegerischen.
Kaiser Maximilian ist in der Tat „der letzte Ritter“ . Denn das Wort
Ritter bedeutet jene unlösliche Einheit und jene unbedingte Vorrang­
stellung des kriegerischen Wesens vor dem auf dauernden Frieden ein­
gestellten.
Die große Leistung der deutschen Fürsten seit der Reformation ist der
schrittweise Aufbau einer Zivil Verwaltung.
So sehr tritt diese Aufgabe in den Vordergrund, daß die Vollendung
des auch nach außen souveränen Einzelstaates, die Moritz von Sachsen als
Aufgabe schon gestellt sah, erst dem Militärstaat Preußen zwei Jahr­
hunderte später gelungen ist. Deshalb brauchen wir hier diese militäri­
sche Seite der Fürstenstaatsentwicklung nicht zu verfolgen. Sie füllt einen
besonderen Abschnitt. Denn eine eigene Verabsolutierung dieser mili­
tärischen Aufgabe trennte den Revolutionär Preußen von den übrigen
Angehörigen seiner Religionspartei.
Hingegen bedarf der Aufbau der zivilen Staatsverwaltung noch einiger
Erläuterung. Die Wurzel ist das besondere Verhältnis von Fürst und Lan­
desuniversität. Nicht nur Friedrich der Weise in seinem Bunde mit Luther
und Melanchthon kommen hier in Betracht. Schon das Wormser Edikt
weist auf diese Besonderheit hin. Alle neuen Bücher wurden darin der
Zensur des Bischofs unterstellt. Aber die Zensur in allen übrigen Fächern
wird dem Bischof allein, in dem theologischen Fach aber nur unter Zu­
ziehung „der Facultät in der heiligen Schrift (d. h. der theologischen) der
nächst gelegenen Universität“ übertragen!
Hiermit war schon IÖ21 durch Kaiser und Reich selbst ausgesprochen,
daß nicht die Kirchenprovinzen des Reichs, sondern die Landesuniversi­
täten über die reine Lehre zu wachen hätten. Die Mehrzahl der Hochschu­
len tritt für die deutsche Nation in Kirchensachen maßgeblich hervor. Das
war ganz anders als in Frankreich, wo der eine Rang von Paris den König
und die Nation dem Papst gegenüber und auf den Konzilien mit geistiger
Autorität ausgerüstet hatte.
Die deutschen Universitäten sind nicht wie Paris die Hochschule der
ganzen Christenheit, sondern Hochschulen der Nation in eines einzelnen
Fürsten Land. Heidelbergs Gründung durch den Pfalzgrafen bei Rhein
i 3 8 6 , wie die vorhergehende von Prag ( i 3 5 6 ) und Wien ( r 3 8 3 ), legt
bereits die künftige Verfassung Deutschlands fest. Heidelberg gilt noch
heut dem Ausländer als rechte Verkörperung Deutschlands. Mit Fug und
Recht. Unvermischt mit anderen Gewalten, wie sie in Prag oder Wien be­
stehen, ist Heidelberg seit der Verlegung der Residenz des Kurfürsten die

2 3 i
reine Geistesstätte, älter als die Fürstenrevolution und rein zugleich —
das gibt Heidelberg den besonderen R ang unter allen deutschen H och­
schulen bis heute.
N ur der F ü rst, der es zu einer eigenen Landesuniversität bringt, erhebt
sein Land über den K leinstaat hinaus zum R an g eines M ittelstaats. Als
Joh an n F rie d rich i 5 4 7 W itten b erg verliert, gründet er so fo rt i 5 4 8 Je n a
als Ersatz. Ohne H elm stedt wäre B raun schweig kein M ittelstaat geworden,
ohne die G ründung Bonns 1 8 1 7 w äre das neupreußische Rheinland ohne
eigenes G esicht gegenüber der B erlin er Z en tralregierun g geblieben. Kein
Oberpräsidium in Koblenz, kein „W allensteins L a g e r “ (G neisenaus
H auptquartier in K oblenz) h a t die dauernde P rä g e k ra ft besessen wie
Bonn, seit N iebuhr und August W ilhelm Schlegel d o rt den R eigen e r-
öffneten. Die letzte solche P räg stätte ist S traß b u rg 1 8 7 2 .
Die Rolle der Landesuniversität ist in der katholischen R eligionspartei
nicht unbedeutender als in d er protestantischen.
Die katholischen F ü rste n haben seit d er R efo rm atio n dem P ap sttu m
fast das Leben sau rer gem ach t als die K etzer. M it diesen, w ar m an defini­
tiv fertig. Jen e hackten den F in g e r stückweise ab. Aber S ch ritt um S ch ritt
eroberten sie ein A u fsichtsrecht über die K irch e n ach dem anderen. Die
K onkordate d er katholischen Landesherren m it R o m und ih re B ereit­
sch aft, die Jesu iten heranzuziehen als P ro fesso ren hinderte keineswegs
starke Ansätze des Staatskirchentum s. Febronius ist der deutsche B isch of,
der hier besonders zu nennen ist. Die Aufhebung des Jesuitenordens w ar
das W erk katholischer F ü rste n . E r s t das neunzehnte Ja h rh u n d e rt h at hier
eine rü ckläu fige Bew egung gesehen, aber d a ging auch die Geschichte der
Religionsparteien zu Ende; die alte N ationalverfassung der Religions­
parteien schw ang n u r noch m a tt aus.
^ Eine Ration, Das besondere V erhältnis von H ochschule und F ü rste n sta a t findet sich
denn auch in den katholischen Einzelländern ebenso seh r wie in Sachsen.
Ingolstadt ist d u rch Canisius zur bayrischen B eam tenpflanzstätte en t­
wickelt worden. Aus dem noch nach d er freieren, ^genossenschaftlichen
A rt 1 4 0 . 9 gegründeten Leipzig wird nun die sächsische Landesuniversität
du rch ein System von Personalunionen. D er R ek to r der U niversität hatte
bei H ofe in K ursachsen den R an g gleich h in ter den Prinzen des könig­
lichen Hauses. D er L an d esfü rst h ö rte alljäh rlich persönlich in d er U ni­
versität einige V orlesungen. Aber den vollen Sinn em p fän gt die Lan des­
universität erst aus der teutschen L ib ertät, aus dem G egensatz der vielen
Einzelstaaten. Die Universitäten binden diese Staaten an die Nation! D a
die Nation stets m eh rere Staaten u m faß te, so bedurfte es solcher dau ern­
den T ran sfo rm ato ren , weiche die Staaten im geistigen Leben d er N ation
festhielten. Keine einzelne U niversität w ar als solche frei, etwas anderes
als die „rech te L e h re “ zu lehren. Aber fast jede H ochschule h atte ihre
eigene rech te L eh re, und bekäm pfte die L eh ren d er anderen. D as gab

232
ein streitbares K onzertieren von gelehrten Meinungen, hinter denen staat­
liche M ächte standen. Und daß diese Meinungen L u th ers und Canisius,
Garpzovs und Thom asius’, Hegels und Schellings Lehrm einungen fü r alle
Landeskinder waren, das erhob sie selber zu M achtfaktoren. Lutherische,
reform ierte, katholische, naturrechtliche oder idealistische L eh re ist auf
diese W eise die deutsche G roß m ach t „W eltan sch au u n g “ geworden. Zu­
erst gipfelt diese M acht in den L eh rfo rm eln der Theologen, d arau f lösen
die Ju risten diese an R an g ab und zuletzt sind es die Philosophen, deren
Schulstreit m eh r als Schulstreit, näm lich der Inhalt des öffentlichen L e­
bens unserer Nation geworden ist. Die M öglichkeit, vieler sich bekäm pfen­
der und m it dem E rn st der Landeslehre au sgerüsteter Schulen h at in
Deutschland ein eigenartiges System der G eistesfreiheit g e sch a ffe n ; N icht
die einzelne Universität ist frei, und weder das refo rm ierte M arburg noch
das katholische Ingolstadt kann lehren was es will. A ber w er katholisch
wird oder w er re fo rm ie rt wird, findet eine Z ufluch t hier oder dort, wo­
h er er im m er stam m t. M agnetische K raftfeld er breiten sich um jede
Leh re durch ganz D eutschland und ziehen nich t n u r das Landeskind, son­
dern auch „A usländer“ an. So sch uf der Gegensatz der Religionsparteien
eine unausgesetzte G ruppierung der T alente und dam it eine indirekte
F re ih e it: Irgendw o in D eutschland konnte fast jede L eh re öffen tlich ge­
lehrt werden. Diese vielen Irgendw os und W eißnichtw os zusam m en e r­
gaben die deutsche öffentliche M einung. Die Streitigkeiten der deutschen
Landesgelehrten untereinander stellten das öffentliche Gewissen der Na-,
tion dar. Die lokale Einschließu ng jed er einzelnen Schule in einen Einzel­
staat w ar eben n u r die eine H älfte d er R eform ation sfolgen . Die andere
H älfte besteht in der Polyphonie von Leh rm einungen, die am B ü ch e r­
m ärkte und im Geistesleben andauernd m iteinander gem essen w erden.
Keine Schule bleibt fü r sich, sondern jede steht im hellen L ich t einer k ri­
tischen Ö ffentlichkeit, vor der sie sich behaupten m u ß ! K ra ft dieser K on­
trastbildung erstarken die bloßen Ansichten einzelner zu echten G egen­
sätzen d er System e und W eltanschauun gen , die in ein und demselben gei­
stigen R au m , eben in dem d er N ation lebendig werden. D eutschland hat
keine andere Öffentliche M einung als diese d er gelehrten W e lt im G e­
gensatz zu anderen Völkern. D er K a m p f von Leipzig und H alle, von Je n a
und B erlin, von M arburg und G ießen w ar kein Schulgezänk, sondern die
G arantie d afü r, d aß in vielen Staaten doch einerlei N ation, ein deutscher
Geist sich w iedererkennen konnte.
Des F ü rste n R äte und d er N ation P ro fesso ren — das ist die P erso n al-,
union, d u rch die es eine nationale V erfassung in der Vielzahl gab!
W a r das U rteil in R eligionssachen weg vom Konzil und Pap st, fo rt von
K aiser und R eich stag genom m en, so lag es nun beim F ü rste n und seinen
R äten, und diese R äte w aren zw ar R äte des F ü rste n , aber G elehrte deu t­
sch er N ation!

233
Sachsen-Thüringen und Bayern sind die beiden g roß en Beispiele fü r
die Aufzucht des Zivilstaates. Sie sind die Prototyp en, die U rprägungen
des deutschen Fürstenstaats der R eform ation . Sachsen und B ayern sind
noch nach dem W eltk rieg durch ihren einseitigen K onfessionscharakter
politisch m ark an t hervorgetreten. Sie waren die sch roffsten Exponenten
der Krisis. Die E rsch ü tteru n g ging bei ihnen beiden so tief, weil die an­
dere Religionspartei fehlte — sowohl in dem „ ro te n “ Sachsen wie in dem
„schw arzen“ B ayern.

10. Der Beamtenstaat


Den Zivilbeamten haben diese Staaten geschaffen. B ayern verdankt der
deutsche „O ffiziant“ seinen R an g als unabsetzbarer und pensionsberech­
tig ter B eam ter, d u rch das von G önner gleich begeistert kom m entierte
Edikt „üb er die V erhältnisse der Staatsdiener“ . Sachsen und B ayern m a­
chen bis heute der R eichsverfassung deshalb noch besondere Schw ierigkei­
ten. Denn beide L än d er sind radikal in ihre w eltanschauliche Ü berprä­
gung hineingedrängt worden. Und das „ ro te “ Sachsen sowohl wie das
klerikale B ayern — sie haben beide als S taat der R efo rm atio n und als
S taat der G egenreform ation etwas Einseitiges behalten.
D er deutsche B eam ten staat ist nirgends in der W e lt so vorhanden wie
bei uns. Bis in die unterste S ch ich t des Volkes hinein ist d er B eam te d as
höhere W esen. D er R atstitel w ar auch fü r den Anwalt (Ju s tiz ra t), A rzt
(S an itätsrat), Philologen (Geh. R eg ieru n g srat) Ziel. Nun g a r G eheim er
R a t — dies hieß in die innere .W e rk sta tt des F ürsten E in laß besitzen und
erhob dah er aus aller bü rgerlichen M isere. G eheim ist fü r den D eutschen
m eh r als öffentlich. Die Revolution d er E n glän d er h a t gerade gegen die­
sen Stand pun kt sich em pört.
In D eutschland will m an „in d er F ü rste n geheim sten R a t“ sitzen. D er
Serenissim us, der in Ju stu s M ösers p atriotischen P h antasien n o ch 17 7 0
an g efü h rt w ird, hat die gesam te m enschliche G esellschaft fü r K anaille
erklärt, ausgenom m en sich und seine R ä te ! D as W esen des Zivilstaats
ist nun w eiter ih re A nordnung n ach F ach geb ieten . D as W esen d er Zivil­
verw altung beginnt bei der F ach teilu n g . Sie entsteht im F ü rste n sta a t zu­
e rst zwischen Theologen und Ju riste n . D iese beiden haben lange allein
reg iert. Aber auch sie doch schon fach lich g eteilt und nu r d u rch die P e r ­
son des F ü rste n zusam m engehalten. Dies m a ch t nun das V erhältnis von
F ü r s t und U niversität noch w ichtiger. W a s die U niversität fü r die an­
gehenden Staatsd iener leistet, das leistet h ern ach einzig n och d er fü rst­
liche H o f: näm lich die Ü berw indung d er F a k u ltä ts- oder F ach sch ran k en .
W a s die U niversität fü r die jungen Spezialisten, das ist d er H o f fü r die
alten. Nur d e r H o f h ält die Zweige der Staatsverw altung zusam m en. D ra u ­
ßen im Lande ist keine K ra ft, die sie zusam m enschm ilzt, es sei denn ein
Vizekönig — wie sie aber Sachsen und B ayern n ich t kennen. D rau ß en

23 4
im Lande sind also nur U ntertanen und zivile Fachb eam te, getrennt in
Theologen, Yerw altungsräte und R ich ter. D er Fürst, k raft seiner P rä ­
rogative, wie m an dam als sagte, k ra ft der Kom petenzkom petenz, wie es
heute nicht weniger schön heißt, setzt einen Zweig der Staatsverw altung
nach dem andern in Gang.
D ieser Zivilstaat geh ört zur R eform ation . E r ist die M itteilung der R e­
form ins Volksganze hinein. „ D er B eam tenstaat w ar in seiner V ollkraft
nur, solange e r selbst eine kühn vordringende R efo rm p artei d arstellte“
(Sch m oller). Die D eutschen haben durch ihre Leiden schaft fü r den B e­
am tenberuf ihre Verbindung m it dem hohen Adel und m it seiner Revo­
lution hergestellt und bekräftigt.
D er gewissenhafte B eam te ist die Synthese von L u th ers Gewissens­
freiheit und d er-T eu tsch en L ib ertät, d er R eligionsfreiheit der F ü rste n .
D er gewissenhafte B eam te g eh t bei den P rofessoren L u th e r und M e-
lanchthon oder bei Hegel und Savigny in die Schule und tritt nach dieser
Schulung des Gewissens in den Staatsdienst als D iener seines allergn ä­
digsten Lan desherrn.
E r verantw ortet die E rfü llu n g der Gebote seines Gebieters au f seinem
abgegrenzten Am tsgebiet, auch er ein K önig im kleinen. Je d e Am tsperson
h errsch t als Obrigkeit. Und noch G endarm und G erichtsvollzieher sind
in D eutschland des Abglanzes der O brigkeit voll.
Das Geheimnis des O brigkeitsstaates ist dabei wohl zu b each ten : es
ist das ständige Zerschneiden des Sach -„G ebietes“ , das einer b eh errsch t,
je weiter m an sich vom F ü rste n entfernt. D er F ü r s t sendet nich t T rä g e r
seiner Vollgewalt aus, sondern B eam te eines herausgeschnittenen F a c h ­
gebietes. Die Gebiete werden also nich t Örtlich kleiner, wie beim Leh ns­
staat, sondern die sachliche Zuständigkeit w ird kleiner. So können seit
dem Zivilstaat im D o rf n u r P fa rre r, L e h re r, G em eindevorsteher und Gen­
d arm alle zusam m en die „O brigkeit“ rep räsentieren, w ährend vordem
der eine Ju n k er den D orfkön ig m achte.
Dies G eheim nis des O brigkeitsstaates ist zugleich das G eheim nis des
deutschen M enschen. W ir haben F ü r s t und P ro fe sso r als seine V orbilder
bezeichnet und brauch en n u r ins Ausland zu gehen, um uns d o rt die B e­
stätigung zu holen.
Die D eutschen rechnen in d e r europäischen G esellschaft bis 1 9 1 8 nich t,
au ß er in diesen beiden C hargen . D er F ü r s t ist der eine deutsche E x p o rt­
artikel, der G elehrte d er andere.
A uf fast allen europäischen T hronen saßen oder sitzen deutsche F ü r ­
sten. Das ist kein Z u fa lL Sondern die V erbindung von G ew issenhaftigkeit
und M ut w ar n u r dieser g ro ß en K lasse in D eutschland so in Fleisch und
B lu t übergegangen, — bis zu ih re r Dekadenz. K ein ausländischer R om an ,
der nich t einen H of oder einen F ü rste n schildert, um deutsche M enschen
zu schildern. Als Gobineau in seinem Siebengestirn je ein hervorragendes

235
Mitglied aus jed er Nation in F reu n d sch aft sich vereinigen läß t, da ist ein
F ü rs t D eutschlands V ertreter. Im Je a n C hristoph von R om ain Rolland
m uß der M orgen des Helden in „einer kleinen Residenz“ anbrechen. P r o ­
fessor Teufelsdröckh aus W eißnichtw o in Carlyles Sartor R esartus ist
das unsterbliche Gegenstück dazu aus professoralem Stande.
Alles andere D eutsche wird in der W e lt geschätzt, deutsche O rdnung,
deutscher F le iß usw. Davon reden wir hier nicht. E s handelt sich nicht
um die Schätzung der A rbeitskraft und Talente, sondern um die V ertre­
tung der nationalen L eb en sform im Auslande. Diese V ertretung fiel fast
ausschließlich den Prinzen und Prinzessinnen zu. D eutschlands hoher
Adel galt als die deutsche Nation. E s ist auß erordentlich w ichtig, den
ganzen U m fan g dieser W a h rh e it einzusehen, ohne alle falsche E m p fin d ­
lichkeit.
N ur wenn D eutschland auf dies Niveau des alten H ochadels seine
neuen R epräsentanten heben kann, w enn, es statt B eam ten Vollnaturen
hervorbringt, wird es statt lauter „F ach g eb ietler“ w ieder gebietende P e r­
sönlichkeiten hervorbringen.
Die Staaten- H ier ist noch au f ein zweites G eheim nis hinzuweisen, das in dem Sieg
der R eligionsparteien über den P a p st verborgen liegt. D er neue Zivilstaat
deutscher N ation b eru h t au f der freien K o n k u rren z! Jeder F ü r s t ist d u rch
die Landesuniversität ein geistiger U n tern ehm er, der besondere W e g e
zu r B eam tenzüch tung einschlägt. Und alle diese neuen F ü rsten staaten
w etteifern m iteinander um die Gewinnung d er Talente.
„W en ig e B eam te und O ffiziere gab es ja dam als, die nich t ihren H errn
schon so o ft gew echselt als heute die D ienstboten ih re H e rrsch a fte n “
(S ch m o ller).
Bis 1 8 6 6 w aren die B eam ten in d er gesam ten N ation freizü gig ! E in
F ü r s t holte sie dem anderen fo rt. B eust und H ohenlohe sind bekannte
Beispiele d a fü r aus der neuesten Zeit. A ber G oethe und Lessing, P u fe n -
d o rf und W o lff zeigen dasselbe. Moltke und Richard W a g n e r, Schelling
und H egel, Savigny und Stahl, sie verdanken der K onkurrenz d er Einzel­
staaten die F re u d e eines A ufsteigens zu im m e r g rö ß e re r und w eiterer
W irk u n g ! D as G eheim nis unserer B eam tu n g gegenüber den bloßen öden
B ürokratien and erer Nationen — b eru h t au f der K onkurrenz. W en igsten s
die Besten erran gen sich ih re Stellungen in einem freien W ettbew erb
über m eh rere F ü rsten staateh hin, von S taat zu Staat. Eine solche E h ru n g
und K raftsteig eru n g auch n u r w eniger M itglieder w irkt au f den ganzen
Stand zurück. D as deutsche B eam ten tu m h at das deutsche Volk so sp ar­
sam und g u t re g ie rt und dies Volk h a t solange sich den V orw urf des be­
schränkten U n tertanen Verstandes von seinem Landesvater eingesteckt, weil
die B eam ten entschränkt über die G renzpfähle des K leinstaates hinaus­
sahen. W eil G oethes S ch w ager Sch losser in Em m endingen und G oethe
selbst in W e im a r und die berüh m ten R ich te r in K urhessen alle in K o n -

236
kurrenz standen, um einander w ußten und voneinander lernten. D ie so­
genannten P rin zipien teilte m an, die theoretischen Prinzipien, weil m an Der prinzipielle
sie auf der Universität erlernte. Die D eutschen sind das prinzipiellste Standpunkt
Volk der W elt, weil sie das beste Beam tenvolk sind. Prinzipien und Sy­
stem sind der Erziehungsm örtel fü r die Spezialisten eines gem einsam en
Staatsapparates. W ir haben die voraussetzungslose W issenschaft, unseren
deutschen Stolz, noch wenig verstanden, wenn wir nicht fragen , was denn
die Tausende von künftigen Staatsd ienem von den H ochschulen m itneh­
m en in ihren Einzelstaat und in ih r Einzelam t. Die Ju risten z. B . lernten
auf der U niversität die Pandekten, m uß ten aber in ihrem A m t o ft alles
andere als röm isches R ech t anwenden.
T rotzdem w ar das Pandektenstudium das beste Erziehungsm ittel. Denn
es m achte alle Ju riste n fungibel, versetzbar aus einem W inkel des Staats
in jeden anderen. Die Landesuniversität schw eißte A usländer und In­
länder zusam m en zu einem neuen, eine gem einsam e Sp rach e sprechenden
Beam tenstand. Das ist das G roß e an d er A ufzucht aller P fa rre r, L e h re r,
R ich ter, Beam ten und Ärzte, die au f derselben Hohen Schule gewesen,
daß sie alle auf dieselben Prinzipien hin g erich tet wurden.
Je d e r D eutsche h at bekanntlich, sobald er einem andern gegenübertritt,
einen Standpunkt. Einen Standpunkt h a t aber n u r d er theoretische
M ensch. D er unsystem atische, n ich t fixierte M ensch geht vorw ärts, auch
in seinen Gedanken. E r ü b erläßt sich dem S tro m d er Gedanken. Ih m
fällt etwas ein. E r entdeckt zu seiner Ü b errasch ung etwas Neues, das ihm
einleuchtet. K u rz, e r lebt vorw ärts auch geistig.
D er Mann, der einen Standpunkt h at, tritt au f d er Stelle. E r kann alles
Neue von diesem Standpunkt aus irgendw ie einbauen. E r re a g ie rt au f das
schöpferische Denken an d erer n u r noch m echanisch. Bestenfalls kann
er sich z. B . m echanisch „um stellen“ au f etwas Neues, wie der te u f­
lische Ausdruck lautet. T euflisch ist er, denn er besagt, d aß der U m steller
das selbst willkürlich ,,bewerkstelligt' *. H ingegen ist dieselbe Standpunkt­
haltung, die im Leben lächerlich ist und alle deutschen Diskussionen so
un fru ch tb ar m ach t, fü r den B eam ten rich tig . Denn der H orizont seines
Am tes liegt fest. U nd alles, was einläuft, h a t von einem festen und d u rch
seine Festigkeit erst g erech t wirkenden Standpunkt g e p rü ft und bearbeitet
zu werden.
D er theoretische Standpunkt und d er deutsche B eam te gehören dah er
zusam m en so wie d er P ro fe sso r und d er sogenannte P rak tik er, der bei
uns aber im m er ein verkappter T h eoretiker ist. K ein P rak tik er in Deutsch­
land, der nich t versucht, den T heoretiker zu spielen, kaum einer, der seine
eigensten Leb enserfah ru ngen ernst nim m t. Alle brechen aus ins Prinzi­
pielle, der A rbeiter, der M arxist „ is t“ , d er Akadem iker, d er Idealist „ ist“
usw. W ied er ist diese H altu n g — sonst absurd — rich tig fü r den B eam ­
ten, dessen persönliche private E rfa h ru n g en eben auch „nich ts zu sagen
haben“ . D er nichtbeam tete Mensch in D eutschland rich tet sich aber n ach
dem Beam teten und sucht diesen noch zu übertreffen.
D aß jede Person in der O rdnung dieser W e lt ih r A m t gew issenhaft
verwalten könne, dazu m u ß sie sch riftgeleh rt oder doch schriftkundig
sein. N ur dadurch du rch schau t sie das Blendwerk der sinnlichen W elt.
N ur der Schriftkundige ist Am tsperson in dem neuen integren Sinne. Die
anderen Nationen kannten noch auf lange hinaus nich t den unbestech­
lichen Beam ten. L u th e r h at jedes weltliche A m t so ausrüsten wollen m it
verantwortlichen K ennern der S ch rift. W en n den Lan desfürsten in allem
seine Theologen beraten, so den H ausvater die Bibel. L u th ers Bibelüber­
setzung h at alle Stuben des Volkes m it einer neuen G ew issenhaftigkeit
erfüllt. D er F ü r s t des 1 6 . Jah rh u n d erts und der B a u e r trafen sich in die­
ser gem einsam en geistigen B eschäftigung. W e m die Bibel nich t selb­
ständig zur H and kam , den speiste die S ch riftlesun g d er H ausan dacht und
vor allen D ingen das K irchenlied. F ü r s t und B au er stellten sich u n ter den
S p ru c h : Ich und m ein H aus wollen dem H e rrn dienen, in einem ganz
praktischen Sinn täg lich er Schriftlesung im H ause.
Die deutsche R evolution h at eben deshalb eine B uchm ensch heit er­
schaffen. D as kriegerische, der H ochschulen entbehrende D eutschland
h at m it einem S p ru n g sich an den alten lesenden und schreibenden Völ­
kern vorbei zur N ation des B ücherkultes und d er B ü ch erk u ltu r entwickelt.
D as B u ch w ar das Mittel dieser Revolution, wie fü r die Italiener das Bild.
E in U rteil nach der S ch rift will L u th er IÖ 2 1 von K aiser und R eich.
D ankbar ist d er D eutsche seitdem buchgläubig geblieben. Ob H egels
Philosophie ob M arxens K apital — das „ E s steht geschrieben“ ist fü r den
D eutschen die letzte Instanz geblieben bis zum W eltk rieg . N u r u n ter
schweren Schm erzen und E rsch ü tteru n g en wendet e r sich heute von der
A u torität des B uches ab. D er B eam te, d er P f a r re r , d e r L e h re r verehrt in
dem B u ch seine B ündnisfähigkeit m it allen Zivilisten d eu tsch er N ation.
Diese Zivilisten, die Staatsd iener in irgen deiner F o r m der Anstellung,
nennen sich selbst Akadem iker. O der m an m a g sie von auß en Intellek­
tuelle nennen. O der sie m ögen die Gebildeten heißen.* Im m e r sind sie die
B u chgebildeten! E s gibt keine „G esellsch aft“ in D eutschland wie in E n g ­
land oder F ra n k re ich , sondern es gibt n u r „die gebildeten K reise“ . Und
das sind die B eam ten, P f a r re r und P ro fesso ren in D eutschland, oberhalb
d er gebildeten K reise gib t es den H o f, der um so viel an H o rizo n t üb er
der w esteuropäischen „G esellsch aft“ steht, wie die gebildeten K reise
D eutschlands d aru n ter.
D as Erkennungszeichen dieser B ildung ist die Sprache des B u ch es.
Kein D eutscher, der n ich t von einem Standpunkt aus seine W eltan sch au ­
ung begründete. Ganz wie ein B u ch . D ie deutschen M enschen reden wie
B ü ch er. Aber die deutschen B ü ch er sind n ich t geschrieben, wie M enschen
sp rech en ! Die deutschen B ü ch e r gelten im Ausland als ungenießbar. In

238
D eutschland g alt ein lesbares B u ch bis 1 9 14 eben deshalb als unwissen­
schaftlich. E s m u ß eine Schreibe sein. Und nun lese m an die g ro ß artig en
W o rte Goethes in D ichtung und W a h rh e it am Ende des zweiten Teiles Goethe als
nach, über Sprechen und Schreiben, in denen er das Schicksal unserer Volk8redner
N ation ausspricht und die bezeichnenderweise und vielleicht gerade des­
halb — nich t zu den G oetheworten gehören, die m an k e n n t: „Schreiben
ist ein M ißbrauch der Rede, stille fü r sich lesen ein trau riges S u rro g a t
d er Rede. D er M ensch w irkt alles, was er verm ag, au f den M enschen durch
seine Persönlichkeit, die Ju g en d am stärksten au f die Ju g en d , und h ier
entspringen auch die reinsten W irkungen . Diese sind es, welche die W e it
beleben und weder m oralisch noch physisch aussterben lassen. M ir w ar
von m einem V ater eine gewisse lebhafte Redseligkeit an g eerb t; von m ei­
n er M utter die Gabe, alles was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen
kann, heiter und k räftig darzustellen, bekannte M ärchen aufzufrischen,
andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu e rfin d e n . . . Je n e
beiden elterlichen Gaben begleiteten m ich durchs ganze Leben, m it einer
dritten verbunden: m it dem B edü rfnis, m ich figü rlich und gleichnis­
weise auszudrücken. In R ü cksicht dieser Eigenschaften, welche der so
einsichtige als geistreiche D oktor Gail, n ach seiner L eh re, an m ir erkann­
te, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum Volksredner geboren. Ü ber
diese E rö ffn u n g erschrak ich nich t w en ig : denn h ätte sie w irklich G rund,
so w äre, da sich bei m einer N ation n ich ts zu reden fa n d , alles übrige,
was ich vornehm en konnte, leider ein verfehlter B e ru f gew esen.“
Je d e r sp ü rt wohl heute diese W o rte Goethes als Prop h etie a u f das
M ündlicherw erden, a u f die W iedergew innung d er beredten, volkstüm ­
lichen Sprache im öffentlichen Leben der N ation.
A ber die „U n figü rlich k eit“ und „L eb losigkeit“ w ar ein Kennzeichen
des B uches, an dem sich die A kadem iker, die Gebildeten, die Intellek­
tuellen, untereinander erkennen konnten. Ob A ugustana oder H egel oder
M arx, m ach t dabei, wie gesagt, keinen U nterschied. A uch die deutschen
M arxisten sind n och d u rch die Fürstenrevolu tion gep räg te M enschen.
E in französischer Sozialist sagte über „D as K ap ital“ : „Ge n ’est qu ’un
livre“ — „das ist h u r ein B u ch “ . D ieser A usspruch ist so undeutsch wie
m öglich. M an sag t von keinem B u ch „ n u r “ , sondern m a n sa g t „ so g a r“ !
Die Daseinsbedingungen dieses deutschen Standpunktm enschen sind Dekadenz
min freilich — ähnlich wie die des Italieners — seit g e ra u m e r Z eit in
Verfall. i 8 4 8 treffen sich zum ersten die verschiedenen „S ch u len “ der
Länder in dem P ro fesso ren p arlam en t d er P au lskirche. D am it löst sich
le r B und zwischen re ch te r L e h re und E in zelstaat auf. M an h a t sich an den
fü rste n vorbei unm ittelbar gefunden. 1 8 6 6 h ö rte die K onkurrenz der
m ttelstaaten und die F reizü g ig k eit des B eam ten nach und von Ö sterreich
veitgehend auf. Die w achsende R eichsb eam tun g beruhte au f dem E in -
leitsstaat. Noch heute ist die R eichsb ürok ratie ohne die Ausgew ogenheit

a39
äTD WELT
fönen — nidit nach Gutdünken und Belieben die Eintragung zu 3 Uhr] und politischen Bedeu­
|u verfahren versuchen. tung des Sports. . . . Zum Schluß sprach der neue
Bescheiden sein heißt; mit dem eigenen
Vorsitzende des DFB, Dr. Peco Bauwens, erfüllt
von einem unbändigen Optimismus."
lenschlichen Wert der Würde des Mitmenschen „Sportbericht“, 11. Juli 1949
begegnen, ihm nicht lästig fallen und nicht auf 16,03 Uhr: Der Rundfunk überträgt das begin­
jiie Nerven gehen. Bescheiden sein heißt: vor nende Fußballspiel, das nach den üblichen 90
ledern Verlangen, das man an den Mitmenschen Minuten noch unentschieden ist.
{teilt, sorgsam prüfen, ob es dem Menschen- 17,40 Uhr: Das Spiel wird verlängert und die
im des anderen zuzumuten ist, und lieber ein Übertragung fortgesetzt. Mozart und Beethoven,
ites Stück vor dieser Grenze zu verharren als die für 18.15 Uhr im Programm stehen; werden
vertagt. In der 108. Minute wird das Spiel ent­
ie jemals auch nur einen Schritt zu übertre- schieden.
sn. Bescheiden sein heißt endlich: diese For- 18,05 Uhr wird zum Funkhaus zurückgeschaltet,
lerungen auch dann nicht außer ad)t lassen, doch wenige Minuten danach wird nochmals die
Venn man als Amts- oder Respekts- oder sonst- A rena gerufen. Ein Sprecher von Radio Stuttgart
ie herausgehobene Person anderen Menschen dankt in überschwenglichen W orten den Füh­
jgenübertrittj solcher Flitter fällt bei der Be­ rern und Mitgliedern der siegreichen Mann­
gegnung von Mensch zu Mensch, als die sich schaft.
Luch die Vorsprache bei einer Behörde voll­ 19,30 Uhr: Erneuter Bericht in den programm­
zieht, völlig ab. mäßigen „Sportnachrichten".
19.45 Uhr: Erneuter Bericht an erster Stelle der
Diese echte Bescheidenheit brauchen wir bei allgemeinen „Nachrichten".
ler Wiederherstellung normaler Beziehungen Am späten Abend: Wiederholung der Original­
rischen den Menschen, zu der uns die Nach­ berichte vom Fußballspiel.
riegsjahre aufrufen, weit mehr als in geruhsa­ Fast am Ende des Nachrichtendienstes, von
men Zeiten. Diese Bescheidenheit ist eine Tu- 19.45 Uhr wird , die Meldung gegeben, daß die
[gend, die man im Umgang mit Menschen lernen ersten 249 der von Schleswig-Holstein nach Süd­
'kann und anzuwenden hat. Den Dingen gegen­ deutschland umzusiedelnden Flüchtlinge am
„Endspieltag" durch Stuttgart gekommen seien.
über dürfen wir den Herrenstandpunkt vertre­ Die Opfer des verlorenen Krieges kamen in
ten, denn sie sollen uns nach der Ordnung der eine Stadt, die im Siegestaumel eines gewonne­
[Schöpfung zu Diensten sein. Auch an die nen Fußballspiels schäumte. In den Dankreden
[menschliche Tätigkeit können wir Ansprüche w ar von „Fußballdeutschland" und der ..Fußball-
[stellen, den Anspruch nämlich der sauberen stadt Mannheim" die Rede. Den Flüchtlingen
[Verrichtung und tadellosen Ausführung. Weder dankte niemand für das, was sie, stellvertretend
[der Herrenstandpunkt noch diese Ansprüche für ein ganzes geschlagenes Volk, in besonde­
[sind unbescheiden. Die Bescheidenheit gilt den rem Maße litten und noch leiden.
Menschen um uns. Ihnen können wir in der ge- W ir haben nichts gegen Fußballspiele. Wenn
1botenen bescheidenen W eise nur begegnen,
sie aber mit ihrem Drum und Dran zum „Fac-
chanal" werden, hahen sie ihren Sinn verloren.
(wenn wir zuvor uns selbst begegnet sind und Stuttgart war ein Bacchanal..Zur Ehre der schö­
luns erkannt haben. -dt. nen Stadt und ihrer Bewohner sei gesagt, daß
wirklich nur „ h a l b Stuttgart auf den Beinen"
w ar — die halbe W elt, die Halbwelt. Denn so­
gar Fußballspieler und Freunde des Fußball­
■Seine magnetische Anziehungskraft kurbelt all- sports versicherten uns, das „Bacchanal" um
Jsonntäglich Massen an zum Marsch in die riesi- das „Mysterium Fußball" habe sie anqewidert.
jen Stadien. Für Millionen, für viele Millionen CuW.
fenschen bedeutet die Beschäftigung mit fuß- „So war es", dieses W ort
mallerischen Dingen Freude und Erholung, Ent­ So w a r es“ konnte man nach der A uf­
spannung, ja Erbauung im Trott des Alltags. führung des neuerdings
Jnd ein gut. Teil weiß um diese Dinge des Fuß- in den Westzonen gezeigten Defa-Films „Ehe im
Iballs erstaunlich gut Bescheid — und ist den- Schatten" vielfach aus dem Munde wahrhaft er­
[noch nicht tief genug in das Geheimnisvolle des schütterter Zuschauer hören Wenn das Publi­
[Phantoms Fußball eingedrungen! [Fremdwörter kum derart gestimrm das Kino verläßt, so spricht
sind Glückssache, zumal im Galopp der Begei- das für den gezeigten Film. Besonders dann,
Jsterung. Der Verzückte meint gewiß „Phäno- wenn es sich um einen Tendonzfilm handelt, und
imen“. Oder sollte er wirklich „Phantom" mei- noch mehr dann, wenn diese Tendenz wie hier
Inen?] Ein verwegenes Ziel, ein unerfüllbarer
gegen den Antisemitismus gerichtet ist — von
[Traum: das Mysterium Fußball ist so tiefgrün-
dem nicht, wenige, aus verschiedenen inneren
lig, daß keiner von uns auf den Grund zu
schauen vermag!" Beweggründen, am liebsten nichts mehr sehen
und hören möchten. Hier sieht und hört man —
„Der kleine Sportbericht“ in seiner „Endspiel-
Vorschau-Nummer“, 10. Juli 1949 und ist gepackt und ergriffen. Eine ähnliche Ein­
„Null Uhr: Der Endspieltag bricht an. Das stellung zeigt sich zu dem Defa-Film „Affame
Bacchanal hat seinen Höhepunkt erreicht. Halb Blum“, der in einer andern Sphäre das gleiche
Stuttgart ist äuf den Beinen, drängt'und schiebt Tl^ema behandelt Die Gestaltung d ;°ses The­
sich iri der Königstraße.. . mas^ verlangt einen ungewöhnlichen Takt, und
in beiden Filmen ist dieser Forderung Genüge
3U h r: Dem Glücklichen schlägt keine Polizei­ getan. Es ist Wirklichkeit, was diese Filme zei­
stunde. Aus den Nachtlokalen dringt Musik h;s gen. Beide sind Bild fü r jh ld dem LjSjsön nach­
auf die Straße. Hot ist Trumpf. Eng umschlungen gestaltet.
begibt sich ein Liebespärthen znm närht'jj^
itttf im Markt

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P ieiet jUrftttt ( 1 5 0 8 - 7 5 ) : ©Ijriftu* ttttfr t»i< (&tytbvedtevin. ^vaipfutrl, §)iäi»*L (Foto Marburg)j
Die schöpferische Freiheit des Künstlerischen, die Zuwendung zur Wirklichkeit des Sichtbaren ab
Form und Ausdruck einer göttlidren Schöpfung, hat die religiöse Befreiung durch die Reformatior
zur Voraussetzung. Dieser Vorgang spielt sich weniger im Architektonischen als im Bereich de&
darstellenden Künste, zumal der Malerei, ab. Fülle und Glanz der Wirklichkeit finden naturgemäß fnl
der Malerei stärkste Gestaltung und besonders ist es der realistische Sinn der Niederländer des\
17. Jahrhunderts, der sie zu den großen Gestaltern der neuen Wirklichkeit werden läßt. In ihrer1
Malerei ist die Ablösung vom Mythischen und Begrifflichen zum Sinnlichen und Sichtbaren am
deutlidisten ablesbar. Diese Entwicklung bedeutet, rein äußerlich gesehen, eine „Verweltlichung“; I
keineswegs ist jedoch diese Freiheit eine Weltlichkeit, die wider Gott gemeint ist, im Gegenteil istI
sie in ihrer Fülle und Vielfalt Z e u g n i s des Göttlichen. Thematisch kann es hierbei geschehen, daßj
das Religiöse zur „Staffage“ wird und daß es schließlich, in einem Endstadium der reinen Land-j
schafts- und Stillebenmalerei gänzlich aufgegeben ist. Die Hinneigung zur Wirklichkeit der nieder- j
ländischen und deutschen Malerei bedeutet jedodi keine unbedingte Abwendung vom Göttlichen undj
Religiösen, sondern eine freiere, bewußtere Form seiner Bestätigung. Nicht „Gott“ als Bild, „sonder
die wirkenden Kräfte Gottes in der Welt“ werden dargestellt (Fr. Th. Visdiet).
Bieter A e r t s e n ’s „Christus und die Ehebrecherin“ ist ein schönes Beispiel der Durchdringung
von Weltlichkeit und religiöser Bindung, in dem das Weltliche überbetont und das Religiöse zur
Staffage herabgesunken scheint. Eine Marktszene, in der sich die niederländische Freude an den
Dingen des Daseins ungehemmt ausbreitet, füllt den- -größten -Rmm des Bäde4:iiTitäf-Hihtbtg^ihdif-
vor der brüchigem,^ütmb&vxdheemkn Kulisse des Tempels, geschieht, klein-'und scheinbar’Webdh-'
sächlich, das biblische Ereignis, das Johannes überliefert hat (8, 1— 11). Es gewinnt inmitten des
Mqcktes, der in seiner Fülle und Verlockung ein Bild des lockenden Lebens schlechthin ist, eine
neue, tiefere Kraft der Aussage: W er angesichts des betörenden Lebens ohne Fehl ist, werfe den er­
sten SJu n a u f dh* Jdt^derin. Vor diesem Wort Christi flüchtet die Scheinheiligkeit der Pharisäer. m.s.
der Beam tenkörper in den Einzelstaaten. W a s so ein württembergischer
oder bayrischer B eam ter ist, das ist etwas viel B estim m teres, G eprägteres
als ein Mann der R eichspost oder g a r der jungen Reichsarbeitsverwal­
tung.
Die K onkurrenz bestand am Ende 1 9 1 4 praktisch fast n u r noch für
das Personal der H ofth eater und der Universitäten. Mit dem Sturz der
H öfe sind auch die H o fth eater m eh r oder w eniger zusam m engebrochen.
Je tz t ist der K ü nstler schon nicht m eh r unabhängig von Berlin. Die F r e i­
zügigkeit der U niversitätslehrer ist du rch K artellabreden der Landesm i­
nisterien eingeschränkt, vor allen D ingen aber d u rch die heraufziehende
Reichskulturverw altung. Die N otgem einschaft deutscher W issen sch aft ist
der erste S ch ritt zur Z erstöru n g der Landesuniversitäten als den T räg e­
rinnen der freien F o rsch u n g . Und das R eichsm inisterium des Innern
bem üht sich m eh r und m eh r, alle F o rsch u n g im R eichsgebiet zentral zu
betreuen.
Die deutschen Zivilbeamten verlieren m it dieser Z entralisierung die
Basis fü r ih ren R a n g in der W eltord n u n g d er N ation. Diese B asis w ar der
W ettstreit der Religionsparteien und d er Einzelstaaten. H ier lag das P a ­
thos des Zivil; d er „ B ü rg e r“ des deutschen S taats im Vollsinne ist d er
Akadem iker gewesen. Zwischen Civilta des Italieners und Zivilisation des
Franzosen steht der deutsche Zivils taat. E s ist heute Mode, den H u m -
boldtschen B e g riff der „K u ltu r“ als deutsch gegen das W elsch e zu stellen.
Das Lan d in F l o r und K u ltu r zu bringen, is t allerdings des Z ivilstaats
Anliegen. A ber d er V erschüttung unserer g rö ß ten Leistu n g begegnet m an
am besten, wenn m an die g ro ß e R eihe d er R evolutions-,,Civitates‘ ‘ über­
blickt : dann ist es g erad e das W esen der deutschen R efo rm atio n , die deut­
schen Staaten „ziv ilisier t“ ; d. h. den gelehrten S taat d er fürstlichen R äte
geschaffen zu haben.

1 1 . Ü berm ut, D em ü tigun g, A u sk la n g


S ch arf begrenzt ist die Zeit d er K rise von i 5 2 5 bis i 5 5 5 . Die B eg ren ­
zung des R echtskam pfes weist aber die Ideologie der P arteien noch n ich t
in ihre Schränken. E s ist hier wie in den anderen Revolutionen ein ver­
antwortungsloses W u ch e rn der M öglichkeiten. Die Probe m u ß n o ch kom ­
men au f die neue O rdnung der deutschen N ation.
D er Ü b erm ut erg reift seit i 5 5 5 die R eligionsparteien. A uf p ro testan ­
tisch er Seite setzen sich die kleinen Päp ste gegeneinander kund beschim p­
fen sich. Die österreichischen A n hänger ein und desselben g ro ß e n L ich ­
tes, des B eg rü n d ers d er protestantischen G eschichtsauffassung F la ciu s
nannten sich g eg en seitig : Leich nam spreiser, F leisch p reiser, E p ik u rer,
G rabsünder, to te E rb sü n d er, G rabpropheten, K adaveristen, K n och en ­
schänder, P o lterg eister, R um pelgeister, L eich nam ssch änder. Und das im
Streit um eine winzige Einzelheit in einem katholischen Lande.

2 4o
Die katholischen Fürsten aber reformierten kräftig am Papste vorbei,
— z. B. gestand der Bayernherzog seinen Ständen i 5 6 3 den Kelch zu —
bis Kaiser Ferdinand II. sogar am 8. Dezember 1629 aus eigener Macht­
vollkommenheit das Fest Mariä Empfängnis durch seinen Hofkaplan ein­
setzte ! Beide Parteien hielten sich praktisch für autonom. A u to n o m ie Autonomie
oder „Freilassung der Religion“ ist daher das Stichwort, um das damals
gekämpft wurde. Es ist das Stichwort aller neuzeitlichen Haltung gewor­
den. Damals enthält das W ort noch einen Tadel. Aber es hat sich durch­
gesetzt. Deshalb verdient Haberstocks Traktat de A utonom ia von i 5 6 8
einen Platz gleichberechtigt neben Bodins gleichzeitigem viel zitierten
Kapitel von der Souveränität.
Die Protestanten wollten ferner, daß auch die Bistümer frei refor­
mieren dürften. Schon i 5 4 2 hatte gerade dieser Versuch in Köln Karl V.
erbittert.
Damit wendete die Reform ihre Spitze mindestens so sehr gegen den
Kaiser wie gegen den Papst. Und hierin liegt der Übermut der Epoche
von i 5 5 5 bis 1618. In den Zepterlehen war der Einfluß des Kaisers ein
sehr großer, und gegenüber den Zeiten des Kardinalats der Kurfürsten
im i 4. Jahrhundert waren die Kaiser des 16. Jahrhunderts wieder weit
mächtiger geworden in der Besetzung der Bischofsstühle. In dem Ringen
um den Einfluß hier war also die kaiserliche Autorität im Vordringen ge­
gen die päpstliche. So wollte sie dem Angriff der weltlichen Fürsten ge­
gen den Papst nicht zum Opfer fallen.
Statt einem Teilungsplan der Zepterlehen zu entwerfen, der beiden
Religionsparteien zugute gekommen wäre — das ist i 8 o 3 geschehen, als
man die letzten Zepterlehen beseitigte — versuchten die Protestanten,
die geistlichen Fürstentümer alle zu erobern. Magdeburg, Halberstadt,
Merseburg, Naumburg, Meißen, Brandenburg, Havelberg, Lebus werden
protestantisch.
Die altfränkischen Bistümer widerstehen. Es sind die nachfränkischen,
die Heereskirchen der Ottonen, die ohne Schaden säkularisiert werden
konnten. Denn sie waren ja gleich Königsschildkirchen, Königsgarni­
sonen bei der Gründung gewesen.
Anders in Altfranken. Der Kurfürstenrang Kölns beruhte auf dem
Vorrang des fränkischen Stammesgebiets vor den anderen Stämmen und
vor den neuen östlichen Marken. Die drei geistlichen K urfürstentümer
hielten die Verbindung des Römischen Reiches mit dem Reiche Karls des
Großen aufrecht. Je schwieriger das Reich in anderen Punkten diesen
Zusammenhang wahrte, desto zäher mußte es diese letzten Wurzeln sei­
ner Kraft im altfränkischen Erdreich lassen. 1 5 8 3 scheiterte daher der
Versuch, Köln zu verweltlichen, unter blutigen Kämpfen.
Eine zweite wunde Stelle ist das Verhältnis der Deutschen Nation zu Böhm en
den Böhmen. Das hing damit zusammen, daß auch das Verhältnis zwi-
16 Hosenstock 24 1
sehen der kaiserlichen Gewalt und den landesfürstlichen Gerechtsamen
der Kaiser sich nun neu bildete. Denn der Grundsatz cuius regio eius
religio bedeutete für die große Habsbur gische Ländermasse anderes als
für die Mittelstaaten! Der furchtbare Aufstand in den Niederlanden seit
i 5 6 8 entsprang der Preisgabe dieser Gebiete an den Kaiser als Landes­
herrn. Die gleiche Frage ist in Böhmen dann aufge taucht. Und sie ist
dann der Ausgang des Dreißigjährigen Krieges geworden. Die böhmische
Frage ist noch heute wichtiger für Mitteleuropa und die deutsche Nation
als die Deutschösterreichs. Bismarck ließ 1866 die Truppen in Böhmen
verkünden, er werde das Königreich Böhmen wiederherstellen. Hätte er
es nur getan! W er das Hußdenkmal in Prag gesehen hat, der weiß, was
der Haß im Völkerleben bedeutet.
Das Verfahren gegen Huß hatte in Deutschland keine gerechten Rich­
ter gefunden, solange es zugleich ein anti tschechisches Verfahren gewesen
war. Erst als die religiöse Frage gereinigt von der nationalen an die deut­
schen Reichsstände herantrat, wurden sie willig, für sie zu kämpfen. Die
Böhmen sind also in gewissem Sinne von den übrigen Reichsständen im
Stich gelassen worden. Der König von Ungarn und römische Kaiser Sie-
gismund war seit 1 4 19 König von Böhmen und ist von den Deutschen vor
allem von den Schlesiern in den Krieg gegen seine böhmischen Stände
recht eigentlich gegen seinen Willen hineingeführt worden. Das Reich also
und die Deutschen haben Landesfürst und Land, den König von Böhmen
und die Universität Prag auseinandergerissen und damit die geistige Lage
dieses reichsten Landes im Reich gründlich vergiftet.
Die anderen Lande haben nie längere Zeit hindurch einen Zwiespalt
zwischen dem Fürsten und den Professoren als den Sprechern der Nation
ertragen. Schon i 582 sagen die Prädikanten in Österreich dem Erzher­
zog voraus, ein Papsttum der Obrigkeit werde das Predigtamt nie hin­
nehmen. Als in Göttingen 1887 ein solcher Konflikt ausbrach, da berei­
tete er auch schon den Untergang des hannoverschen Königreiches vor. Die
Göttinger sieben Professoren, die 1887 gegen den Verfassungsbruch pro­
testierten, sind die Vorgänger Rudolf von Benningsens und der hannove-
ranischen Nationalliberalen, d. h. der Unitarier gewesen. Christian W o lff,
der aus Halle vertriebene Professor, wurde von Friedrich II. ehrenvoll zu­
rückberufen.
In Böhmen aber kam dieser Zwiespalt nicht zur Heilung! Und an
diesem Zwiespalt zwischen den böhmischen Ständen und ihrem K önig
ließ sich nichts ändern, solange die kaiserliche Hausmacht die vielen ein­
zelnen Fahnlehen: Böhmen, Österreich, Krain, Steier, Kärnten, Tirol,
VOrderösterreich, Elsaß, Burgund und Niederlande alle zusammen­
schweißte zum großen Grenzwall für die Religionsparteien im Inneren.
Von der Maasmündung bis Siebenbürgen war Habsburg Grenzhut! W eil
die Kaisermacht ja Schutz wall war gegen die Türken und später gegën die

2 [\?A
Russen, deshalb war sie der Nation willkommen. Deshalb hat der Habs-
burgisch-römische Kaiser von 1 5 5 5 — 1806, ja bis 1914 eine von der
Deutschen Nation gewünschte und sonst ihr obliegende Leistung voll­
bracht. Hierin lag der Übermut der Reichsstande, daß sie den Kaiser woll­
ten nur als Militär. Das K aisertum war auch der R eligion spartei unent­
behrlich, die keinen Papst w ollte! An diesem Zwiespalt ist der Dreißig­
jährige Krieg entflammt I
Als daher die böhmischen Stände ihre Religionsfreiheiten von dem Je­
suitenzögling Ferdinand II. von Österreich gefährdet glaubten und ihm die
Huldigung aus Angst um diese Freiheiten vorenthielten, da sahen auch
protestantische Reichsstände darin einen Angriff auf die landesfürstliche
Obrigkeit in Religionssachen und der lutherische Johann Georg von Sach­
sen verbündete sich mit Ferdinand so wie einst die Wettiner mit Siegis-
mund gegen die böhmischen Stände.
Die Religionsfrage und die Politik des hohen Adels des Reichs traten
auseinander. So konnte sich der Religionskrieg des Dreißigj ährigen Krie­
ges gerade an der böhmischen Frage entzünden.
Bayern griff ein, der geistig führende katholische Mittelstaat unter
dem Beamtenfürsten Maximilian I. und verlangte nun den Kurhut an
Stelle des altfränkischen Rheinpfalzgrafen. Das neue Prinzip, die Rolle
des Fürsten in der Nation brach damit ein in die alten überlebten Grund­
sätze der Verteilung der Kurstimmen gemäß der Ehrenämter am Kaiser­
hofe. Aus den Stammesherzogen und den Markenkommandanten, den
Markgrafen, waren diese Hofämter besetzt worden. Jetzt vertritt die K ur
die nationalen Kräfte.
Seit Bayerns Eroberung der Kurwürde war der Sinn der Kurwürde ein
anderer geworden. Hannover und Hessen-Kassel sind noch Bayern ge­
folgt.
Kursachsen ist schon i 6 3 5 aus dem Dreißigjährigen Krieg heraus­
getreten. Nicht die Mittelstaaten haben diesen Krieg durchgefochten, son­
dern der Kaiser einerseits und die Schutzmächte der deutschen Protestan­
ten andererseits. Der Dreißigjährige Krieg erweist sich gerade an dem
Verhalten Bayerns und Sachsens als die Zeit der Demütigung der deut­
schen Religionsparteien.
Der Kaiser setzte für die Behauptung der kaiserlichen Haus- und
Reichsmacht die Spanier ein, die Schutzmächte der Protestanten wurden
Schweden und Frankreich. Eine protestantische Großmacht gab es eben
in der Deutschen Nation nicht und hatte es nach d em C harakter der R e­
form ation weder geben sollen noch können.
Weil bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs die Deutschen nur
um das Religionsrecht der Landesfürsten gekämpft haben, nicht aber um
den Sturz des Kaisertums, deshalb ist der Gedanke an ein evangelisches
Kaisertum im alten Reich nicht erwacht. Erst der weltliche Revolutionär
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Preußen hat diesen Umschwung zu einer rein weltlichen Schutzmacht im
Bewußtsein der Nation durchgesetzt.
Die Protestanten mußten sich also den Groß Staat, der sie rettete, außer­
halb des Reiches suchen. Das ist das Unglück des Dreißigjährigen Krie­
ges. Sein Ausgang erhielt die wahre Errungenschaft der Reformation für
das Reichsinnere und erhob die Klein- und Mittelstaaten dieses inneren
Gebietes zu den Trägern des Lehens der Nation. Fünfzig bis sechzig
Landeskirchen standen nun nebeneinander! Der Dreißigjährige Krieg hat
aber das Aufkommen der Condottiere, die Italien im i 4 . und i 5 . Jahi>-
hundert ausgeplündert hatten, auch für Deutschland in gefährliche Nähe
gebracht. Des Fürsten und Condottiere Wallensteins Ermordung erin­
nert an die des mächtigen Condottiere und Kardinals Vitelleschi durch
Papst Eugen IV. Kaiser und Reich blieben eben aufeinander angewiesen.
Seitdem ( i 6 4 8 ) hat das Reich als solches sich nicht mehr gegen den Kai­
ser gewendet.
Dafür aber gab der Friede die linksrheinischen Grenzlande preis.
Sogar die Schatzkammer des Reiches unter den Staufern, das Elsaß,
ging verloren. Die Schwächung der Kaisermacht zugunsten Frankreichs
und Schwedens war das Unglück von Osnabrück und Münster, die Schaf­
fung des Corpus Evangelicorum aber sein Gewinn. Dies Corpus Evangeli-
corum aber baute die Augsburgischen Konfessionsverwandten korporativ
in die Reichsverfassung ein. Die D u rch setzu n g der Heerschildordnung des
alten Römischen Reichs durch die Religionsordnung der Deutschen Na­
tion war damit in Form gebracht.
Die spanische und französische Verwelschung der deutschen Nation
war die Folge des Eingreifens dieser Fremden. Das Französische kam bei
uns auf, wie heut der Fasciemus, in der Schwäche des Nationalen Eigen­
wertes. Die Verwelschung war die Folge des Übermuts der Revolutionäre,
die in der Kölner und in der böhmischen Frage aber noch in zahl­
losen anderen auch die alten Reichsgrundlagen der Nation unterschätzt
hatten.

12. D ie goldne Zeit des alten Reiches


Aber trotz dieser unheilvollen Wirkungen und Verwüstungen des Dreißig­
jährigen Krieges ist den Religionsparteien ein voller Ausklang ihrer Um­
wälzung doch noch geworden. Auch die Italiener haben zunächst in den
Kämpfen der Guelfen und Ghibellinen Furchtbares erleiden müssen, ehe
ihnen das Geschenk der goldenen Zeit der Frührenaissance zu teil wurde,
ihrer Vollendung;
Das alte Reich war am Ende seiner Tage viel gesunder, wertvoller und
leistungsfähiger, als wir uns das heut klar machen. Seine Verfassung be­
ruhte auf der Freiheit der Religionsparteien und einem kraftvollen Schutz
der Bistümer, der Reichsstädte und der kleinen Herren durch den K aiser.
Gerade dieser Schutz der Schwachen w ar im 1 8 . Jah rh u n d ert durchaus
wirksam und der E in flu ß des K aisers auf die Besetzung d er übrig geblie­
benen Zepterlehen w ar ebenfalls g ro ß . Im altfränkischen Gebiet haben
der K aiser und das R eich kein unrühm liches Andenken hinterlassen !
D er hohe Adel der R eichsgrafen und R eichsfreiherrn stellte sich dem
Kaiser zu seinem wirklichen R egim en t zur V erfügung. Die Schönborn,
Ö tlingen-W allerstein, Sayn-W ittgenstein, Stolberg, E rb a ch , T h u m und
Taxis haben dam als noch W ich tig es geleistet. D as R eichsk am m ergerich t
in W etzlar h at die Inflationen d er schlim m en K riegszeiten besser ge­
m eistert als unsere Ju stiz die unsere. B ei alledem stand au frech t das
Palladium deutscher L ib e rtä t! Die Stände blieben bei ih rem Bekenntnis­
stande.
D er schwedische Schirm hatte die A ufopferung der P rotestanten in den
Erb län d em des K aisers wenigstens in Schlesien etwas g em ild ert; ein ge­
wisser wenn au ch n och unvollkom m ener Ausgleich zwischen K aiseram t
und Landesschicksal waren die G nadenkirchen im landesfürstlichen Schle­
sien und die Schonung der P ro testan ten in den nu r m ittelb ar H absbur gi­
schen Gebieten. A uch U ngarns P ro testan ten behielten ih r R ech t. N ur B ö h ­
men blieb preisgegeben, das O pfer seiner U m fassung d u rch deutsche,
den Tschechen nich t gewogene R eichsstände einerseits, seiner Z ugehörig­
keit zur H absburgischen H au sm ach t andererseits.
Die goldene Z eit des alten R eiches re ich t von 1 7 6 3 — 1 7 9 b fü r den
Süden, bis 1 8 0 6 fü r den N orden D eutschlands.
Diese d reiß ig bis vierzig Ja h r e haben die Vollendung d er deutschen N a­
tionalkultur im R ahm en der R efo rm atio n gesehen. Die R eligionsparteien
haben in diesen Jah rzeh n ten ihre feinsten B lüten hervorgebrach t. M an
könnte versucht sein, n o ch an ältere Zeiten zu denken. In der T a t setzt
im Fränkischen und Schw äbischen die hohe B lü te des B arock s schon f rü ­
her ein. Sachsens H öhepunkt lieg t um 1 7 0 0 und B reslaus Jesu iten Uni­
versität, W ü rzb u rg s S ch loß und die neue Residenz K arlsru h es sind gleich­
falls in den guten Zeiten 1 7 1 4 — 1 7 4 0 entstanden.
D ennoch w ird es fü r das Verständnis d e r deutschen Revolution w ichtig
sein, die Jah rzeh n te 1 7 6 3 — 1 8 0 6 ( 1 7 9 5 ) herauszuheben. Denn das W e lt­
antlitz deutschen W esen s ist erst in diesen Jah rzeh n ten g ep räg t w orden.
Sie fallen beinahe genau zusam m en m it den Lebensdaten F rie d rich Schil­
lers und sie um fassen die entscheidende Lebenshälfte G oethes. Lessings
W irken g eh ö rt in sie. D as h eiß t aber, d aß die letzten R este der Schlacken
der V erw elschung, d er F o lg e n also des Dreißigjährigen K rieges, dam als Herder
erst abgestreift wurden^ H erder sch u f und predigte. E s ist aber H erder,
der den Gedanken der N ation deu tscher A rt allen slaw ischen Völkern mit­
geteilt h at bis heute. B öh m en , F in n en , Serben und Polen sind H erders
Erben gew orden m e h r als die D e u tsch e n ! D er deutsche Gedanke in d er
Welt h än gt an diesem N am en. D eutschlands D ich ter und D enker sind

245 ■
seine Urkunden in der W e lt so wie Italiens M aier. U nter den Denkern ist
K an t noch zu nennen, dessen originale Ep oche durchaus zwischen 1 7 6 3
und 1 8 0 6 liegt.
W elch e Stätten treten h erv o r? W e d e r W ien noch Berlin, das ist ch a­
rakteristisch. Beide gewinnen erst nach dem Tode des Reiches Bedeutung.
Die Stätten des Lebens Schillers sind S tu ttg art, M annheim und Jen a. F ü r
K an t ist es die H auptstadt des alten H erzogtum s P reu ß en s, fü r die J a -
cobi das rheinische D üsseldorf, fü r Schlözer und Reiske und M ichaelis
G ottingen.
V ollständig zusam m engefaßt aber ist das Leben des Volkes der R e fo r-
Goetho m ation in W o lf gang G oethe. E r steht in einem Abstande von L u th er, wie
R affael von F ra n z von Assisi. Aber dennoch sind F ra n z und R affael, L u ­
th e r und G oethe je ein P a a r ; den ganzen R eichtum des Lebens der N a­
tion offenbaren die beiden Genossen des P aares wie Sam e und F ru c h t.
Die Stätten des G oetheschen Lebens um schließen D eutschlands w ich­
tigste G ebilde: In F ra n k fu rt, „in einer S tadt wo P a ritä t n och in der
alten O rdnung steh t“ , wo die R eform ierten hingegen erst 1 7 8 1 die K irch e
von dem D o rf Bockenheim hinein au f den G oetheplatz verlegen du rften —
ist die ganze Ü berlieferung des R öm ischen R eiches n och an Goethe her­
angetreten. W e n n er die K aiserkrönung im R ö m e r beschreibt, die alte
O rdnung der D inge — ja , w er fü h lt n ich t, daß er, G oethe, die einzige
n o ch gan gb are B rü ck e bildet zu dieser V ergangenheit des R eiches d u rch
die V erdichtung dieser V ergangenheit in seiner E rzäh lu n g . Denn das
u n terscheidet D ichtu ng und W a h rh e it von den E rd ich tu n gen d e r D ichter
und den B ew ahrheitungen der G eschichtsschreiber, daß G oethe als unser
geistiger Stam m vater es ist, der hier seine eigene E rb m asse v erk lärt und
uns den N achfahren zugänglich m ach t. E r steht n ich t neben dieser Ü ber­
lieferu n g, sondern sie g e h t d u rch ihn hindurch. E s ist d er Sohn d e r
R eich sstad t F ra n k fu rt, d er uns voran geh t au f neuen W eg en .
Sein W e g nach Leipzig, S tra ß b u rg und W e tz la r, in die Schweiz und
n ach Italien ist ebenso providentiell wie seine A bstam m ung aus des R ei­
ches W ah lstad t. D ie Residenz in W e im a r und sein Zusam m enw irken m it
den P rofesso ren in Je n a , zuerst m it S ch iller, dann m it den R om an tik ern ,
m it F ich te , H um boldt und den Schlegel, Tieck und Schelling, kurz m it
dem geistigen N achw uchs d er N ation, der n ach P reu ß en und Ö sterreich
au fb rach , vollendet die B edeu tung dieses Z eitalters fü r die D eutschen. Alle
haben sie von Goethe die W eih en em pfangen des alten R eiches.
D ie alte sächsische Linie Jo h a n n F rie d rich s ist d u rch die G lanzzeit
W eim ars und Je n a s fü r die Unbilden ih re r F ü h rerstellu n g bei d er R e fo r­
m ation h e rrlich entschädigt w orden. W e im a r bildet allerdings einen Ge­
gensatz zu P o tsd am , nur anders als m an m eist abw ertend an n im m t. E s
ist die R efo rm a tio n d eu tscher N ation, ih re K onstitu ieru ng in den g roß en
R eligionsparteien und den zivilen F ü rsten staaten , die in W eihiar ihren
H öhepunkt gefunden hat. Ein Sachse, G otthold E p h raim Lessing, h a t Leasing
L u th ers Geist, den Geist von W o rm s, in dieser goldenen Zeit noch einmal
beschworen, als er dem H auptpastor Goeze sein H uttensches „Absagungs-
sehreiben“ san d te: .. O sancta sim plicitas 1 — Aber noch bin ich nicht
da, H err P asto r, wo der gute Mann, der dieses ausrief (H u ß ), nur noch
dieses ausrufen konnte. — E r s t soll uns hören, erst soll über uns urteilen,
wer hören und wer urteilen kann und will!
O daß E r es hören könnte, E r , den ich am liebsten zu m einem R ich ter
haben m ö ch te ! — L u th er, d u ! — G ro ß e r verkannter M ann! Und von
niem andem m eh r verkannt als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die,
deine P an to ffel in der H and, den von d ir gebahnten W e g schreiend aber
gleichgültig einherschlendern. . .
Und sonach m eine ritterlich e Absage n u r kurz. Schreiben Sie, H e rr
P asto r, und lassen Sie schreiben, soviel das Zeug halten w ill: ich schreibe
auch. W en n ich Ihnen in dem geringsten D inge, was m ich oder m einen
Ungenannten angeht, R ech t lasse, wo Sie nich t R ech t haben, dann kann
ich die F e d e r nich t m ehr rü h re n .“

13 . D as Vaterland
Fü rsten und Universitäten repräsentieren die Nation in R eligionssachen.
Zivilbeamte durchlaufen an U niversität und F ü rste n h o f ih re eigentüm ­
lich doppelstufige Laufbahn des gew issenhaften Staatsbeam ten.
D er H orizont des U ntertanen ist d er einzelne F ü rs te n s ta a t D ieser F ü r ­
stenstaat ist sein Vaterland. E s g eh ö rt dem 1 9 . Ja h rh u n d e rt an, daß der
S a n g : W a s ist des D eutschen V aterlan d ? gegen diesen B e g riff des V ater­
landes protestiert. Aber der P ro te st ist bis 1 8 0 0 n ich t begriffen w orden.
In der Masse des Volkes ist bis 1 8 0 0 der F ü r s t der Landesvater, die F ü r ­
stin die Lan desm utter. D as angestam m te F ü rsten h au s gibt dem V erhältnis
von U ntertan und V aterland die Note.
Auch hier ist es d er K alender, der uns A uskunft gibt — wie bei A ller- Der weltliche
seelen oder Fron leich n am — , über das, was den Landeskindern w irklich Kalender
in F leisch und B lu t gedrungen ist. Schließlich fo rm t n u r das die M en­
schen, was alljäh rlich an jeden Ja h rg a n g des Volkes heran tritt und ih m als
F e ie r und F e s t ein Innehalten abnötigt, einen Aufblick zu den Sternen,
die sein Leben ordnen und bestim m en. D er w eltliche K alender ist das
g rö ß te Anliegen der weltlichen O brigkeiten im 1 7 . und 1 8 . Jah rh u n d e rt.
Selbst die despotischste R egieru n g w ar sich klar, d aß d er Landm ann den
K alender haben m üsse. E r w ar neben dem G esangbuch o ft die einzige
L iteratu r.
Diese K alender bringen wohl in den p rotestantisch en Gebieten den
3 i . O ktober als den T a g der 9 6 Thesen L u th ers. A ber selbst er ist nich t
allgem ein. N och w eniger ist das m it dem 1 8 . April i 5 a i , dem T a g in
W o rm s, der Fall.

247
Volkstüm lich ist in den V aterländern der deutschen Religionsparteien
ein ganz anderer T a g : D er G eburtstag des Landesvaters.
Die R eform ation hat die F e ier dieses T ages gestiftet. An K önigs- und
K aisergeburtstag erinnern sich auch heut die Älteren noch.
Und zwar ist die G eschichte dieses Tages nicht unbedeutend fü r die R e­
form ation.
1 0 2 4 hatte die K urie die V erm inderung der V ollfeiertage au f 3 5 g e ­
nehm igt. D er weltliche K alender ging bald noch weiter. A ber soviel er
strich, brauchte er d och auch etwas Neues. D as w ar zunächst M artin L u ­
thers G eburtstag. L u th ers G eburtstag ist der einzige evangelische F e ie r­
tag, der in säm tlichen evangelischen K alendern der ganzen W e lt steht.
Das ist n ich t m erkw ürdig. Denn alle neuen K alendertage sonst m ußten
ja fortan n ach Landeskirchen auseinanderfallen!
M artin L u th ers G eburtstag, einen T ag vor M artin v. T ours liegend, ist
der erste G eburtstag eines M enschen nach Jesu s im K alender. W o h l fin­
den wir K arls des G roßen G eburtstag einm al in seinem H auskloster L o rsch
ins K alendarium eingetragen. Aber das ist ein U nikum .
Die Landeskirchen haben dann zwei weitere F eie rta g e alle eingeführt,
Bußtag aber m it verschiedenem D atum , den B u ß ta g und des F ü rste n G eburtstag.
D er B u ß ta g ist die W ied erh olu n g und H eraufholung des K arfreitag es,
ähnlich wie F ron leich n am sich zu G ründon nerstag verhält: wird das A ltar­
sakram ent d er K irch e d o rt gefeiert, so h ier das K reuz des C hristenm en­
schen. D er B u ß ta g w ird deshalb genau entsprechend als T a g der O brigkeit
gefeiert. Die O brigkeit e rlä ß t am B u ß ta g als R eligionsstand ih r M andat,
ihre U ntertanen. Und G ottfried K eller h a t noch solche B u ß tagsm an d ate
als Staatsschreiber von Z ü rich zu redigieren gehabt.
[önigs Geburts- B eim F ü rste n aber ist es der G eburtstag, der g efeiert w ird, n ich t der
N am enstag. Diese W a h l zeigt, d aß die weltliche O brigkeit ih ren A nspruch
als G estirn des Lebens anm eldet. D er G eburtstag des Landesvaters ist in
jedem L an d ein anderer. A ber das Sym bol ist überall das gleiche. D ieser
T ag ist d ah er das Sym bol der deutschen R efo rm atio n . U nd m an lächle
darüber n ich t als R epublikaner. D enn den „G eb u rtstag “ der V erfassung
zu feiern, das ist sch ließlich n u r eine bescheidene und abstrakte N ach­
ah m u n g des alten vaterländischen B rau ch es.
„N achd em O stfriesland i 8 i 5 dem K ö n ig von P re u ß e n verloren ge­
gangen w ar, h a t es bis zu m T ode des K önigs seinen alten herrlich en F e s t­
ta g g e fe ie rt; n o ch am 3. A ugust 1 8 3 9 sahen die B adegäste a u f N ord er­
ney m it E rstau n en , wie auf jed em F isch erh au se der Insel eine p reuß ische
F la g g e w eh te.“ (T reitschk e I, 6 7 1 .)
Z u seiner Z eit h a t dieser B ra u ch den R ü ck g riff und die A nknüpfung
^ an das n a tü rlich e L eb en bedeutet, die F re u d e und das V ertrauen in die
weltliche O rdnung d er D inge.
M it des F ü rste n G eburtstag tritt ein g ro ß e r Stolz au f die w eltlich e L e i-

248
tung durch Gottes Gnade hervor. Vom rechten Geiste ist die weltliche
Obrigkeit nun in dem Sinne wie die Römische Kirche geleitet wird vom
heiligen Geiste.
Durch diese Zuspitzung der Blickrichtung des deutschen Untertanen
auf den Fürsten und Landesvater wird auch sein Bild der Welt beeinflußt
Die Einbeziehung der Gampagna in die Stadt ist nicht der Gehalt der
deutschen Staatenbildung. Die deutschen Bauern sind nicht Stadtbürger
geworden. Kein Inselmeer sind die deutschen Staaten und keine Madonna
im Grünen drückt daher das Pathos des deutschen Fürstenstaates aus.
Dem Blick, der alles Licht von dem angestammten Fürsten erwartet
und alle Belehrung von der Hohen Schule — ist das Land etwas anderes
als dem Freilichtmenschen Italiens.
Deutschland ist ganz und gar Festland. Ungeformt, kontinental ist
schon die Erdfläche. Gegenüber der italienischen Revolution sind es viel
größere Flächen, die von den deutschen Revolutionären organisiert werden
müssen. Ferrara, Mantua, Parma, selbst die Herrschaft von Florenz waren
kleiner als die großen Gebiete Sachsens, Böhmens, Lüttichs, Würzburgs,
Bayerns, Württembergs und Hannovers. Die Reformationsstaaten sind
größer als die guelfischen Kommunen. Sie sind nicht das von der Stadt
aus mitgesichtete Land, die Campagna.
Sie werden vielmehr durch eine andere Vorstellung in den Menschen
ausgedrückt: durch das Bild des Waldes.
Der deutsche W ald spielt ja im Leben der Nation eine ganz besondere Der deutsch©
Rolle. Ihm widmet der Deutsche die Neigung, die der Franzose für Paris
hegt, der Italiener für das Podere. Der W ald ist das Kennzeichen der noch
unerschlossenen Weite, des Gebietes, das noch des Machtspruches des
Gebieters harrt.
Der W ald ist es, der vorzüglich das von der einzelnen Gemeinde, der
einzelnen Siedlung aus noch nicht beherrschbare an der Erde umfaßt und
ausdrückt. Er ist für die Bewohner der Berge und der Ebenen in Deutsch­
land deshalb der gemeinsame Nenner, auf den die eigentümlich nationale
Staatsauffassung sich bringen läßt.
W ald und Grenze — sie vermitteln auf dem deutschen Festland das
Erlebnis der Bildung dieser vielen Gemeinwesen innerhalb des Reichs mit
eigenem geistlichen und weltlichen Mittelpunkt.
Weder die Residenz der Fürsten, die Hauptstadt, noch die Landes­
universität haben jede für sich das Gemüt des Deutschen mit ihrem Bilde
auszufüllen vermocht. Alle fürstliche Pracht hat die Phantasie der Deut­
schen kalt gelassen. So schön die kleinen Universitäten liegen — die besten
Lieder sind doch nicht über die Schönheit der Städte Heidelberg und Jena,
sondern über die des Neckartales und seines Frühlings, über Saaleck und
Rudelsburg gedichtet worden. Prag und Innsbruck werden im Lassen, im
Fortwandern besungen l

249
Das Auge des D eutschen blickt seit der R eform ation an der S tadt vorbei
einmal in den inneren Gewissensraum, wo Grünewalds K reuzigung s te h t
und zum anderen Male in den freien grünen W ald . E r siebt vorbei an
den sozialen O rdnungen, die er selbst auf gebaut bat. Das Gewissen und
der W ald sind die Gebiete des W erdens. Die F re ih e it des D eutschen ist
die F reih eit vom G efo rm ten , W ald und Gewissen lassen ihn fühlen, daß
noch etwas zu geschehen hat, die Zivilisation der E cclesia R om ana hat
noch nicht alles verzehnteit und geregelt. Noch ist R au m fü r den werden­
den M enschen. Die N atu r der D eutschen ist Chaos. D er M ensch tr ä g t
d u rch seine Entscheidung die O rdnung in sie hinein.
Die G rößenordnung des deutschen F ü rsten staates spiegelt sich in die­
sem W ald b ild ; n ich t unerm eßlich, ohne M eer- und Alpengrenze, aber doch
weit und geräu m ig , m it einem Blick nich t zu um fassen, sondern m ü h ­
sam er E rsch ließ u n g bed ürftig, viele Aufgaben noch bietend, d er S traß en ,
der F o rstp fleg e, der Landeskultur h arren d , das ist das Bild des F lä ch e n ­
staates, den die Religionsparteien der deutschen R eform ation ihren U nter­
tanen eingepflanzt haben.
Die D ich ter haben das W ald geb irge verklärt, keiner ern sth a fte r als
Goethe in „Ilm en au “ , dieser g ro ß en politischen B e ic h te :
„A n m u tig T a l! D u im m erg rü n er H ain,
Mein H erz b eg rü ß t euch w ieder au f das Beste.
E n tfa lte t m ir die schw er behangnen Äste,
N ehm t freundlich m ich in eure Sch atten ein!
W ie kehrt* ich o ft m it w echselndem G eschicke,
E rh a b n e r B e rg , an deinen F u ß zu rü ck e!
Oh laß m ich h eu t an deinen sachten H öhn
E in jugendlich, ein neues E d en sehn!
Ich hab es w ohl au ch m it um euch verd ien et:
Ich sorge still, indes ih r ru h ig g rü n e t.“
Und er sch ließ t m it dem g ro ß e n W o r te :
„S o m ög , o F ü r st, der W in k e l d ein es Landes
E in V o rb ild d ein er T a g e s e in !st
Die K u ltu r des Landes auch ohne Stad t, jedenfalls ohne B evorzu gu ng der
Stadt ist dem F ü rste n und seinen R äten anbefohlen. Und die berüh m te
Vision am En de des F a u s t vom freien L an d v o lk :
„Solch ein G ew im m el m ö ch t ich sehn,
A uf freiem G rund m it freiem Volk zu stehn“ ,
steigt h ie r aus d e r konkreten Lage des deutschen F ürstenstaats em p o r.

1 4 . D er F a u s t
So nim m t es n ich t w under, d aß etwa wie D antes C om m edia die vorrevolu­
tionäre w eihekaiserliche O rdnung spiegelt, o d er au ch wie T assos G eru sa-

5
2 o
lem m e liberata die päpstliche W e lt im G esang verklärt, daß so nachhaltig
die W e lt der Religionsparteien im „ F a u s t“ festgehalten wird.
Und so m ag Goethes W erk den Schlußpunkt auch unserer D arstellung
bilden.
Schon wenn Goethe im Tasso d ich te t: „ F e r r a r a ward durch seine F ü r ­
sten g r o ß “ , so will er dam it zugleich dem eignen nordisch-trüben thürin­
gischen W aldland huldigen und dem deutschen F ü rsten staat der R e fo r­
m ation. Auch sonst h at es wohl einen tieferen Sinn, daß G oethe m it drei
g roß en Stücken gerade ins sechzehnte Ja h rh u n d e rt gegriffen h a t; G ötz
von Rerlichingen, E g m o n t und T orq u ato Tasso spielen alle in dieser Zeit
und erfassen die U rsprünge des F ü rste n sta a ts d er R eform ation . Ich sage,
es habe das wohl einen tieferen Sinn. Denn auch der „ F a u s t“ — also das
Lebenswerk — g re ift in diese M itte zwischen M ittelalter und Neuzeit. Die
Sagengestalt des F a u st entstam m t dem Z eitalter der R eform ation . N ur
h ier fand Goethe alle die K rä fte noch ungeschieden vereinigt, von denen
sich die Seele d er W e lt, d er Goethe entstam m t, gen äh rt hatte. D er „ F a u s t“
zieht „die Sum m e der Eidstenz“ eines ganzen Seelenraum es. T assos B e ­
freites Jeru salem besingt den ersten K reuzzug, den g ro ß en A u fm arsch
d er abendländischen K u ltu r. Goethes F a u s t singt den neuzeitlichen W e g
d er in die W e lt gew orfenen Seele des Suchenden vom H im m el d u rch die
W e lt zu r Hölle. D er G ehalt des C hristentum s und des H um anism us d u rch ­
dringen sich in der A rt des 1 6 . Ja h rh u n d e rts. Die „ W e lt“ selber v ertritt
den L äu teru n gsb erg D antes. L u th ers T eufelsangst und T eufelssucht, sein
H exenglaube und seine D äm onenbesessenheit w erden im M ephistopheles
und in d er W alp u rg isn ach t zu einem n u r dem deutschen G eist verständ­
lichen E lem en t d er Seele des Helden selber. D er Held aber ist der D ok tor
F a u st, Bekenner, V ersucher, F o rs ch e r, L e h re r. N ur seine innerliche B e ­
drängnis z ä h lt; w ir sind im F a u s t in d e r unsichtbaren K irch e. D ie se r
D ran g ja g t F a u s t d u rch alle äu ß eren W eltd in g e leicht hindurch. D e r
P rü fstein und das Lebensm aß liegt beschlossen wie bei jedem lu therisch en
C hristenm enschen in d er F r a g e , ob ihn die S o rg en d e r W e lt an rü h re n
können. „H ast du die S orge nie g e k a n n t?“ wird F a u s t in d er Todesstunde
g efrag t, und er kann erw id ern : „ Ic h bin n u r d u rch die W e lt g e ra n n t.“
G efeit zu sein gegen die W e lt in d er W e lt — das ist die evangelisch­
deutsche A ufgabe. L u th ers „ P e cc a fo rtite r“ klingt in d er spielenden W e n ­
dung a n : „ E in jedes Glück e rg riff ich bei den H a a re n .“ A ber W e lt bleibt
W e lt fü r F a u st. E r ist n ich t wie die M enschen „ ih r ganzes Leben blind“ .
Dank dieser „U nverblendetheit‘ * von d er W e lt, und nachdem die Seele
in k ein em sch ö n en A u g en b lick e verw eilt, aus jed em sich w ieder gelöst
h at, kann d er E n g e lch o r singen, wie n ach den erm atten den Teufelskäm p­
fen L u th e rs :
„G erettet ist ein edles Glied d er Geisteswelt vom Bösen,
W e r im m e r strebend sich bem üht, den können w ir erlösen.“
Der weltliche D ich ter spricht hier freilich weltlich. Aber zu dieser
Ironie ist jede D ichtung g e n ö tig t; „die D ichter m üssen, auch die geist­
lichen, weltlich sein“ . Auch D ante h at seinen Ghihellinenglauben du rch
das künstlerische P rism a eines diesseitigen Stils brechen m üssen.
So erklären sich dah er auch der seelische R an g und der weltliche Stil
des Goetheschen F a u s t als zwei Seiten derselben H altung.
Goethe übersetzt in die heitere abgeklärte S p rach stufe des reifen
D eutschland, in die klassische Sp rach e d er goldenen Z eit der deutschen
Nation, womit L u th e r seine Zeitgenossen befreit und berauscht h a tte : das
Evangelium von d er F re ih e it eines G hristenm enschen, die L eh re von d er
unsichtbaren K irch e und die selige G ew ißheit von der R ech tfertig u n g al­
lein du rch den Glauben. Im F a u s t können d ah er auch die deutschen K a ­
tholiken Anteil gewinnen an dem Erlebnis der R efo rm atio n . D as aber ist
die Rolle der hohen D ichtu ng, daß sie das im Leben einander V erschlos­
sene in einem zweiten Leben füreinander ö ffn et und dad urch seine Z u ­
sam m engehörigkeit enthüllt.

':y

2Ö2
XIII. DIE TRANSATLANTISCHE W ELT

aß auch die See ein O rganisationsprinzip sein kann, das hatte die
D
wiesen.
deutsche Hanse schon in der Ostsee einige Jah rh u n d erte lang er­

E s w ar das kein neues Prinzip gegenüber der Antike. E s bedurfte d a­


h er keiner Revolution zu seiner E rfü llu n g . U nd es h at sich nu r solange
bew ährt, bis das Neue der abendländisch-europäischen G eschichte — der
Fläch en staat, es überwältigte.
Aber nun tra t auch das M eer in neu er W eise in die W eltgeschich te ein,
nich t als Binnensee, dessen K üsten dam it die billigste S traß e zueinander
gewinnen, sondern als gew altiger Ozean, der den E rd teil einheitlich um ­
w ogt und begrenzt. D er h inau sruft über das M eer in eine andere frem de
und frem dbleibende W e lt.
D er Ozean, den C hristoph K olum bus durch quert, h at aus dem Abend­
land E u ro p a gem acht. E r h at die Alte W e lt gegenübergestellt der Neuen
W e lt. An die Stelle der Sehnsucht n ach dem M orgenlande tr itt der See­
weg n ach Ostindien, an die Stelle der K reuzzüge n ach dem Heiligen
G rabe tritt als organisierendes Prinzip des E rd teils E u ro p a -— d er E r d ­
teil Am erika.
Sogleich bem ächtigt sich die R öm ische K irch e des neuen W eltb eg riffs.
D er lutherischen, von tausend O brigkeiten beherrschten „ W e lt“ stellt sich
die spanische W e lt entgegen, das R eich , in dem die Sonne nich t unter­
geht l
D ie spanische Revolution ist der V ersuch einer geopolitischen Revolu­
tion der K irch e. An die Stelle des abendländisch-röm ischen tritt der eu ro ­
päisch-spanische K atholizism us.
Die M acht d er Jesuiten und der spanischen G egen reform ation zu
schildern und die Gesetze ihres A ufstieges, ihres Ü b erg riffs und ih rer D e­
m ütigung — dazu w äre im R ahm en dieses B uches hier die Stelle. C hri­
stoph K olum bus, Ignatius Loyola, Philipp II. und Alba, T eresa di Gesü
aus der fü r Spanien so bezeichnenden A delsstadt Avila, Cervantes, d er
K äm p fer bei L ep an to gegen die T ürken und zugleich V erfasser des Don
Q uichotte — sie m ü ß ten das nächste K apitel füllen.
Indessen die W eltg eltu n g der von ihnen geschaffenen spanischen L e­
bensform sollen n u r einige Beispiele belegen.
D er Preuß enkönig F rie d ric h W ilh elm I. h a t sein O ffizierskorps auf die
F o rm e ln spanischer R ittero rd en in P flich t genom m en. Spanisches Z ere­
m oniell regulierte die österreichische kaiserliche R egieru n g bis 1 9 1 6 . Und

253
der Todfeind der Spanier, der Schutz und S ch irm der P rotestanten,
Oliver Crom w ell, ist beigesetzt worden m it dem Zerem oniell, das bei der
Beerdigung Philipps II., des T räg ers der G egenreform ation, beobachtet
worden war.
Diese Beispiele m üssen genügen. Denn auch die G roß taten der Schwe­
den dürften m it R ech t G ehör fordern. Auch Schweden hat ein Gesetz in
A ufstieg und F a ll wie Spanien vollstreckt. H olland und Polen drängen
ebenso herzu. Denn ihre groß en Zeiten und ih r V erfall entspringen eben­
falls den E rsa tz - oder V orgriffsleistungen, die sie fü r ganz E u ro p a au f­
zuweisen haben. W ir haben im system atischen Teil kurz von diesen vier
Nationen gehandelt. Die E rzählun g aber w ürde in diesen vier Kapiteln
so viel G röß e, H eldentum , G estalt und Irrtu m zu berichten haben, daß
sie an U m fan g so lan g werden m ü ß ten , wie die bisherigen Abschnitte.
Die Lücken D as hieße den R ahm en sprengen, die L eser verwirren und in einer
aieses Buches Yon N am en und D aten die Ansichten ertränken, au f die es an­
kom m t. K ürzen ab er hieße beleidigen und w äre trotzdem irrefü h ren d .
Denn das Z w iegespräch d er Nationen wollen w ir abhören. Und da g ilt
es, die g ro ß en U rsp rü nge neuer Sp rach e plastisch hervorzuheben. D es­
halb wird es am wenigsten kränkend und am wenigsten irrefü h ren d sein,
hier diese H albrevolutionen, diese Halboktaven auf der europäischen T a­
statu r, auszulassen. A usdrücklich m elden w ir also h ier die Lü cke an. U n­
ser B ild gew innt d u rch sie an S ch ärfe.
D er F o rtg a n g von L u th e r zu C rom w ell, aus der deutschen Binnenw elt
in die britische Außenw elt, tritt unverhüllt hervor. Und an diesem W a n ­
del im W e ltb e g riff h än gt der Gegensatz des deutschen und des angel­
sächsischen C harakters bis heute.
D er letzte A bschnitt e rg a b :
D er D eutsche sp rich t ab über „ G o tt und die W e lt“ , weil ihn n u r G ott
und die Seele k ü m m e rt; diese W e lt zu ordnen und zu kultivieren ist
Sache d er weltlichen O b rig k eit
gDie unbe- D a sieht d er B rite eine W e lt den F lu ten des Ozeans entsteigen, die von
keinem F ü rste n , keiner O brigkeit re g ie rt w ird. E r erzittert vor dieser un­
geheuren W e lt, der u n regierten, über die keine hohe P erson , kein staat­
lich er W ille schwebt, die W e lt, die ihn, den B riten , d rau ß en erw artet.
L ä n g st w ar von dieser A ufgabe die R ede gewesen, schon in d er Sachsen­
zeit (oben S. 6 1 ) . Nun w ird sie ern stlich in A n g riff genom m en.
W o rld ist die A ufgabe, der M agnet fü r den E n g län d er gew orden. Schon
u n ter d er K önigin Elisab eth, vor dem J a h r e 1 6 0 0 , d ich tet E sse x , ih r
Geliebter, zu ihren E h re n (D evereux, Lives an d L etters II [ i 8 5 3 ] , 5 o a ) :
„Sitzh alten d zwischen a lter W e lt und neuer
T r ä g t d o rt ein L a n d — kein and er L an d e rre ic h te —
L a st, die den A tlas nie gleich schw er belud,
Indem es die b ed rän gte W e lt e rh ä lt.“

254
D er griechische Riese Atlas trug in der T a t die „transatlantische“
W elt nicht m it, die Englands Missionsgebiet wird.
W o rld , W o rld , W o rld — die W e lt ist Englands Schicksal geworden.
Um ihm gewachsen zu werden, bedurfte es einer E m p ö ru n g gegen die
lutherische W eltanschauung, die fü r Landstaaten paßte.
Die lutherische W eltord nung m u ß du rch eine andere ersetzt werden,
oder England wird angesichts der neuen ozeanischen W e lt — wie Spa­
nien —• versagen. Eine von keiner „O brigkeit“ betreute W e lt wird das
R ätsel fü r die englische Nation. Indem sie es löst, setzt sie der deutschen
Sprache eine ganz neue W eltsp rach e m it neuen W o rte n und Vorstellun­
gen entgegen.
S tatt in der Substanz des einzelnen G hristenm enschen und des w eit- Die Verwurze-
liehen Schw ertes der O brigkeit m u ß die Seelenkraft in D au erh afterem Inders8 Eng"
verwurzelt werden. M uß sie d och den vereinzelten Seem ann, den K olo­
nisten, den M issionar, die im Segelsch iff auf den Ozeanen, im Urw ald
auf fern er F ä h rte um herirren , daheim erw arten. S tatt des einzelnen L a n ­
deskindes m uß d er vereinzelte W eltenw anderer einer H eim at seiner Seele
gewiß werden.
Diese H eim at m u ß unverrückbar, unwandelbar, d u rch die Zeiten be­
stehen, sollen alle R äum e der W e lt von den Sendboten und M issionaren
dieser Seele fu rch tlo s durchm essen werden können. Denn der C hrist und
der E u ro p äer, au f die es ankom m t, fürch ten nich t den eigenen Tod und
haben ihn nich t gefü rch tet. Sie fürch ten aber den V erlust d er ewigen
Seligkeit, d. h. der O rdnung, aus d er herau s ih r W irk en Sinn e m p fä n g t
Kein Bolschewik, der lächelnd selber stirbt, kann den K om m unism us,
kein Fran zo se, der a u f die B arrik ad e steigt, kann die Ideen von 1 7 8 9
sterben lassen. Deshalb b rau ch t jede Ew igkeit ih r besonderes, unver­
änderliches Symbol. F ü r die D eutschen ist dies Z auberw ort der S ta a t
seit d er R efo rm atio n , sein S taat, in dessen Zivilstand er dient, sein F ü rs t,
den er berät.
F ü r die E n glän d er b ed arf es einer anderen V erew igung; w eit jenseits
des persönlichen E n tscheids in Bekenntnis und Gewissen, län gst bevor der
einzelne wurde und verging, lange wenn er ertrunken o d er verdorben sein
wird in der W e lt, m u ß sein Volk, seine R asse, sein gutes B lu t weiter­
leben.
D er Akt der B eseelung, der aller W eltm ission drauß en daheim vorher­
gehen m u ß , erg re ift in E n g lan d die Abkunft und das H erkom m en des
englischen Volkes.

255'
X IV . D A S B U D G E T D E R G E M E IN E N U N D IH R
C O M M O N W E A L T H

1. Gant
as H ouse o f Com m ons, das englische U n terh aus, ist das M uster
D aller P arlam en te der W elt. Besondere V ertrauensm änner überbrach­
ten das G eheim nis ih rer G eschäftsordnung am En de des 1 8. Ja h rh u n ­
derts nach A m erika und nach F ran k reich . Alle „p arlam entarischen Aus­
drücke“ sind englisch.
Aber h a t E n glan d fü r E u ro p a gehandelt, als es dies Parlam entssystem
sch u f? R a s scheint ausgeschlossen. Denn wenn die englischen B ü rg e r­
kriege und Revolutionen erzählt werden, dann ist von d er W eltk irch e, d er
C hristenheit, von der M enschheit durchaus n ich t die R ede, sondern von
En glan d.
N ur um E n glan d scheint der K am p f zu gehen, den die P u rita n e r m it
K arl I., die W h ig s m it Jak o b II. führen. N icht die K irch e, sondern E n g ­
land soll rich tig eingerichtet werden. Die übrige W e lt liefert auf den
ersten B lick keine A rgum ente fü r Rebellion und Revolution und em p­
fän g t au ch keine von dort. Diese Ideologie enteuropäisiert also scheinbar
das R evolutionsprogram m , indem sie n ich t die K irch e refo rm ieren will,
sondern E n glan d . Aber n u r au f den ersten B lick kann das so scheinen.
W ir wissen j a bereits, d aß von den kirchlichen zu den weltlichen Revolu­
tionen der W e g w eiterfü hrt. Ist es d a verw underlich, wenn die erste
zw ieschlächtige Revolution gerade fü r diese ihre Ziele einen besonderen
A usdruck su ch t?
D ieser erste A usdruck m u ß te in E n glan d gefunden w erden. E s w ar
unendlich schw er, die S p rach e fü r diese neue L a g e zu finden. U nd des­
halb sind es in W a h rh e it zwei Sp rach en , die zusam m engeschw eißt w er­
den fü r diese un erh örte Aufgabe. D as, w as m an au f dem F e stlan d E u ro ­
pas den englischen Gant oder die D o p p elzü n g ig k eit Albions nennt, beruh t
au f dieser historisch notw endigen Z w eisp ra chig keit seiner Revolution.
Aber der Tadel von außen und der englische Stolz au f diese H altu n g sind
n u r zwei Seiten derselben Sache. D as B ed ü rfn is der V erschm elzung zwi­
schen B ibelsprache und Volkssprache, biblischer Ü b erlieferung und Volks­
überlieferung ist der Schlüssel fü r das V erständnis der englischen Revo­
lution und des englischen V olkscharakters von heut.
Das alte Testa- Die eine dieser beiden S p rach en ist die S p rach e des Alten T estam ents,
ment jy*e Soldaten Crom w ells legen ihre „heidn ischen“ englischen N am en ab,
und ganze R eg im e n te r fü h ren n u r die ausgefallenen N am en „des Ge­
sch lech tsregisters Je s u “ aus M atthäus oder andere des alten Bundes. Die
Sp rach e der F lu g sch rifte n , Pred igten und Reden d er Revolution ist die

206
der Psalmen und des Alten Testam ents. Die Revolution in den Straßen
Londons gegen K arl I. b rich t aus m it dem R ufe der Israeliten gegen
ihren schlechten K önig R eh ab eam : „ Z u deinen Gezeiten, Is ra e l!“ Die
Parabel von den Pfunden, mit denen wir w uchern sollen, gab der kapita­
listischen L eh re von der freien, je nach den Gewinnchancen zu dirigieren­
den Berufsw ahl der P u ritan er den R ückh alt. An der L ond on er B örse
ste h t: Die E rd e ist des H errn und so sind ihre F rü ch te . Die Sabbatfeier
ist das vornehm ste Anliegen der P u ritan er, und kein Volk zieht bis heute
so viel K ra ft aus der Sabbatfeier wie die B riten. Und in M iltons h e rr- Miiton
liehen W o rte n , die an H uttens „ E s ist eine L u st zu leben“ erinnern, h eiß t
es: W ir haben starken G rund, zu glauben, d aß die G unst und die Liebe
des H im m els uns besonders günstig und geneigt ist. W a ru m wurde sonst
unsere N ation vor allen anderen auserw ählt, daß von ih r aus wie aus
Zion die erste Zeitung und Posau ne d er R efo rm atio n dem ganzen E u ro ­
pa verkündet werden und ertönen so llte? . . . N ach dem Z usam m en­
treffen der Zeichen und n ach dem allgem einen G efühl heiliger und
fro m m e r M änner h a t G ott jetzt aberm als beschlossen, eine neue und
g ro ß e Periode in seiner K irch e zu b egin n en ; was tu t er denn, als sich
seinen K nechten offenbaren und zuerst, wie es seine W eise ist, den E n g ­
lä n d ern ?“
E s ist aber n ich t zufällig die S p rach e des Alten und n ich t die des
Neuen T estam ents, die verwendet w ird. M an ist n ich t m eh r im Abend­
land, sondern in E u ro p a und En gland. Und so ist das Neue T estam ent,
das die M enschen aus den Völkern hinauspredigt, viel w eniger verwend­
b ar als das B u ch des Einen Volkes, das jedem seinen Platz im Volk an -
weisl. N icht als Evangelium , sondern als die G eschichte des auserw ähl­
ten Volkes w ar die Bibel zum W ö rte rb u ch d e r englischen Revolution
geeignet. Das ewige, ursprüngliche, d u rch alle Zeiten unveränderte Gebot
G ottes an Israel gibt dem englischen Volk den R ü ck h alt in der alten, un­
veränderlichen urm enschlichen Zeit. D as A lter des Alten T estam ents wird
ihm w ichtig. Denn in diesem A lter findet der E n glän d er den V ergleichs­
punkt zu seiner eigenen geschichtlichen L a g e innerhalb von K irch e und
Staat. D as A lter des Alten T estam ents, sein v o rk irch lich er U rsp ru n g,
m ach t es vergleichbar dem vorstaatlichen U rsp ru n g der R ech te des
E n glän d ers! D as B irth rig h t, das G eburtsrech t des E n glän d ers ist der
zweite, näm lich d er nationale B e itra g zur Ideologie der Revolution.
Dies G eburtsrecht soll zurückreichen vor die R efo rm atio n , m inde­
stens bis zur M agna C h arta, am besten aber vor W ilh elm den E r - Magna
oberer. In dem Z w eistrom land einer alttestam entlichen und der altengli­
schen B eru fu n g und A userw ähltheit sam m eln sich die E n erg ien der eng­
lischen politischen Ü berzeugungen. Neben die Bibel tr itt M agna C h arta
als die g ro ß e fiktive Quelle der R ech te des En glän ders. U ra lte r angel­
sächsischer Z orn gegen die N orm annen m a g hier verspätet noch seine

17 Rosensteck 2 Ö7
G enugtuung gefunden haben, aber w o h lgem erk t: erst im 1 7 . J a h r h u n ­
d e rt
Neben das Gesetz Gottes tritt also das R ech t des Landes, das „gute
Das H erkom m en“ , wie m an Com m on Law übersetzen darf. Das Gesetz G ot-
men tes und das Gesetz des Landes werden d u rch ein bestim m tes S ch arn ier
zusam m engehalten. Einige Zauberw orte sind es, auf denen die chem ische
Verbindung von Bibel und Com m on Law beruht. Bevor w ir sie nennen,
verdient noch der weltliche S p rach strom der englischen Revolution ge­
nauere E rläu teru n g .
Denn neben den P u ritan ern und ihren calvinistischen Leh ren stehen
die englischen Law yer als die g roß en Ideologen der englischen Revo­
lution. D er R ich ter Edw ard Coke ist ih r erster üb erragender V ertreter.
E r ist der V erfasser der Petition o f R igh ts, des ersten parlam entarischen
Bollwerkes gegen die königliche „ P rä ro g a tiv e “ , die entsprechend allen
F ü rsten des Festlandes auch der S tuartkönig in A nspruch nahm .
D er C harak ter dieser Ideologie ist noch heute die G rundlage engli­
schen Denkens. Coke ist 1 6 2 8 m it einer gnädigen B o tsch a ft K arls I. nich t
zufrieden. E r sag t: „ Is t es je erh ö rt, daß allgem eine W o rte eine hin­
reichende G enugtuung fü r bestim m te Beschw erden der Stände sind. H at
je eine w örtliche ( = m ündliche) E rk läru n g des K önigs ein volles K ö ­
nigsw ort b ed eu tet? Die A ntw ort des K önigs ist sehr gnädig. A ber was
das H erkom m en des R ealm (K ö n ig reich s) ist, das ist die F ra g e . Ich
setze V ertrauen in Seine M ajestät. Aber der K önig m u ß in der Sprache
der K anzlei sprechen und P u n k t fü r P u nkt und nich t im allgem einen.
D arum la ß t uns eine „ B itte um R e ch t“ aufsetzen. N icht daß ich dem
K önig m iß tra u te ; aber ich kann dies Z u trau en nur fassen a u f d em W eg e
parlam entarischer F o r m .“ U nd Coke setzt die Petition o f R igh ts durch.
Als der K önig sie m it einer zustim m enden ausfüh rlichen B o tsch a ft er­
widert, m u rrt das H aus so lan ge, bis die Z ustim m ung des K önigs in der
norm ännischen F o rm e l e r g e h t: Soit droit com m e il est desire, also als das
form enstrenge verbum regis. E d w ard Coke ist der M ann, d er u n erm üd­
lich die Fik tion ausgebreitet hat, die englische V erfassung des 1 7 . J a h r -
lagna Charta- hunderts beruhe a u f der M agna C h arta von 1 2 1 5 , die Jo h an n ohne Land
seinem Adel bewilligte. D as ist ein D o g m a gew orden, so stark wie fü r
die L u th eran er das von der unsichtbaren K irch e. Beide D ogm en ent­
sprechen sich ziem lich genau in ih re r um fassenden W irk u n g und in
ih rer U n lo g ik L L u th ers th eo retisch er Abbau d e r sichtbaren W eltk irch e
zur unsichtbaren K irch e ließ doch die H e rrsch a ft d er einzelnen O brigkeit
über die Gem einden, ließ die L an deskirche des F ü rste n prak tisch e r ­
stehen. D as D o g m a von M agna C h arta übersieht geflissentlich die T at­
sache, daß neben dem K ön ig der M agna C h arta der P ap st steht, w ährend 1

1 Die moderne englische Forschung ist zwar von dieser populären Fiktion längst ab­
gerückt, muß aber immer noch gegen sie polemisieren, z. B. Pollard, Evolution of Par-
liament S. 10.

258
§
der Stuartkönig m it dem Willen des P arlam en ts die O berherrschaft über
die K irche von England hat.
Die H älfte ist nicht das Ganze. M agna C h arta ist aus der Zeit der
röm ischen Päpst^ew alt. W a s steht von der ganzen Verw altung des K u l­
tus, der zivilen K u ltu r, in M agna C h a rta ? T u t nichts. „Alle Gesetze,, die
M agna C h arta widersprechen, sind null und nichtig. M agna C h arta ist Anglikanisch
dreißigmal bestätigt worden. D reiß ig m al haben Englands K önige ihr
zugestim m t.“ (Coke am 2 5 . M ärz 1 6 2 8 . ) „Innovation“ ist die dauernde
Anklage gegen den K ö n ig ; bis zum En de geht die E m p ö ru n g wider seine
arbitrary power. D er Unselige m u ß te in einer neuen Zeit regieren, m it
Zivil, M ilitär, F lo tte, Technik, m it einer Landeskirche. Gleichviel. Selbst
die K irche wird nich t du rch den Glauben des F ü rste n gerech tfertig t, sie
wird gerecht durch ihre alte englische A bstam m ung. Sie wird buchstäb­
lich anglikanisch. Kein Festlän d er begreift diesen geheim en Sinn von
anglikanisch, bis er in der katholischen T rutzkirche von W estm in ster den
Kam pf gegen diesen Mythus lie s t: Eine Liste in den P feiler gem eißelt all
der Bischöfe Englands, die m it R o m in G em einschaft gestanden haben,
von 6 0 0 n. C hristi angefangen. Die A rt der G egenw ehr zeigt, wie m an in
W estm inster d en k t: in Präzedenzfällen.
D er O ranier W ilhelm III . versp rich t dah er am 7. Ja n u a r 1 6 8 9 die Restoration
W iederherstellung der R echte und der F re ih e ite n ; und er hatte schon am
1 5 . November 1 6 8 8 n ach der Lan d u n g in E x e te r gesagt, er wolle diese
Reiche glücklich m achen, indem er sie w iederherstelle in ihren gesetz­
lichen R echten. F reilich m it dem Zusatz, der alles v e rä n d e rt: fü r die
Sicherheit E u ro p a s ! D as englische W o r t ist dabei „R e s to r e “ ; m an sieht
aus der Redeweise dieses B esiegers der S tu arts, d aß auch das W o r t R e­
storation, wie es im Ja h re 1 6 6 0 von K a rl II. g eb rau ch t w ird, fü r eng­
lische Ohren nich t den fatalen B eigeschm ack h at wie die R estauration
nach 1 8 1 5 in E u ro p a. D er E n glän d er erneuert, wenn e r restau riert, und
gerade wenn er restau riert.
Am Ende der g roß en Ju risten reih e seit Coke steh t M aynard, der 1 6 0 2 Präzedenzfalle
geboren, d u rch alle R egierungen dieses stürm isch en 1 7 . Ja h rh u n d e rts
hindurchlebt. T rotzdem unbewegt, a rg u m en tiert er in d er glorious revo-
lution m it den P receden ts, den V orgängen des 1 3 . und 1 4 - Jah rh u n d erts.
Dabei ist er sich der E inzigartigkeit der L a g e von 1 6 8 8 k lar bewußt.
Aber eine ju ristisch e F o rm e l m u ß herhalten, um diese E inzigartigkeit von
I 6 S 8 z u den Präzedenzfällen ins rich tig e V erhältnis zu setzen : Non est
heres viventis. D er flü ch tig e Jak o b I I . könne deshalb n ich t von dem P rin -
zen von W ales „b eerb t“ w erden, weil ein Lebender keinen „ E rb e n “ haben
könne. Und nun kom m en die Präzedenzfälle.
Coke und M aynard nehm en n u r vorweg, was B urke später so o ft und so
klar fo rm u liert hat, als En glan ds V erfassung ih re Prob e zu bestehen hatte.
In der D em ütigungszeit des Verlusts der am erikanischen K olonien und
17* 25g
des K am pfes g e g e n F ran k reich h at Burke im m er wieder b e to n t: „ U nsere
Verfassung beruht a u f V erjährung. Ih re ein zige A utorität beruht darauf,
d a ß sie seit unvordenklicher Z eit bestanden hat.“ (W o rk s 6 , 1 6 6 . ) Das
unvordenkliche H erkom m en ist die G rundlage der englischen Revolu­
tionsideologie. F ra g e nie, weshalb. Stelle keine Prinzipien auf. D as tun
die F ü rsten . Auf Machiavells F ü rsten und auf Tyndalls, des Bibelüber­
setzers, V erteidigung der fürstlichen A llm acht („ D e r K önig ist in dieser
W e lt ohne Gesetz und kann nach seiner L u st re ch t oder unrecht tun und
soll nu r G ott R echenschaft geben“ ) hatte sich H einrich V III. berufen.
Jakob I. h a t die R ech te des christlichen K önigs weitschweifig und m it
g ro ß e r G elehrsam keit system atisiert. System atisch sind die D eutschen und
ihre R eform ation . E in K atechism us, eine G laubensregel, Prinzipien sind
das E rb teil der R eligionsparteien. Die A ntw ort der englischen Revolution
is t: kein System , keine Allgem einheiten, in denen die fürstliche A llm acht
sich so gern bewegt. W ie Coke sag t: p articu lars sind d er Schutz des
R echts und des Landes, E in zelh eiten . D er E n glän d er h at in seiner Revo­
lution allen Sinn fü r System und sparsam e O rdnung d er Gedanken er­
stickt. E r w atet im M eer der Einzelheiten noch heut. Denn sie sichern ihn
gegen den G eist des K önigstum s und seiner B eam ten.
In welchem anderen Lande könnte wohl bei einer einfachen G eschäfts­
ordnun gsfrage feierlich gesag t w erd en : „ I c h wünsche, unser H aus hielte
sich an die G rundsätze, Übung und V erhandlungsform en, die unsere
V orfahren angenom m en haben und die sie uns hinunter auf die G egen­
w art ü b erh än d igten : Und ebenso h offe ich , d aß w ir im stande sind, sie
w eiter auszuhändigen hinunter zu unseren N ach folgern und d aß sie ohne
U n terb rech u n g hinabkom m en m ögen au f die N achw elt“ ( 1 7 9 4 , W o o d ­
fall I I, 4 2 2 ) .
Man h ö rt in E n glan d n och heu t au f Cokes W a rn u n g : „A ch tet d arau f,
wie gefährlich es ist, neue o d er ungebräuchliche Ausdrücke in B eschlüsse
des P arlam en ts hineinzubringen.“ (T h ird Institute cap. 5 4 -)
Coke sp rich t dah er von den leben d ig en S tim m en (lively voices) der h er­
gebrachten G ew ohnheiten des Landes (T h ird Inst. E p ilo g ). U nd er h at
den w ichtigsten G rundsatz alles englischen P arlam en tsrech ts schlagend
fo rm u lie rt: „ W ir haben eine M axim e im H ause d er Gemeinen geschrieben
an den W änden unseres H auses, die h e iß t: A lte W eg e sin d die sichersten
u nd gew issesten W eg e (8 . Mai 1 6 2 8 ) .
Die Stände von E n glan d schützen das H erkom m en des Landes gegen
die N eu eru n gen der K ro n e ! Alle Stände überall haben diese A ufgabe ge­
habt. Die G em einen von E n glan d brem sen ab, was ungew öhnlich, was
th eo retisch , w as prinzipiell ist. Sie stehen au f dem Präzeden zfall, dem
H erkom m en und der G ew ohnheit. Gewisse W o rte haben dabei einen hohen
G efühlsw ert. W i r erw ähnten schon das „ b irth rig h t“ ( 1 2 . Ju li 1 6 4 2 z. B.
b esch w o ren ); das „ tru e english h e a rt“ , das en g lisch e H erz ist ein an d erer

260
Ausdruck (Jo h n Elliot, 3 . Ju n i 1 6 2 8 ) . Die Soldaten werden beschworen,
an ih r G eburtsland zu denken, „w orin ih r den ersten Atem zug g e ta n und
eine freie englische L u ft geatm et hab t“ ( 1 6 8 6 , Sam uel Jo h n so n State
T racts 4 2 8 ) .
Die englische L u ft, das englische H erz, die englischen G eburtsrechte
— sie verbinden sich nun m it dem biblischen Volkstum.
Schon Coke verschm äht es j a nicht, in seiner groß en Rede vom 2 5 . M ärz
1 6 2 8 den Apostel reden zu lassen : „Schließen will ich m it der höchsten
Autorität, näm lich Kapitel 2 5 der Apostelgeschichte, letzter Vers, m it den
W o rten , die Paulus dort sa g t.“
Auch das „wahre englische H erz“ ist ja das H erz eines ch ristlichen
Engländers. Die wahre Religion zu haben, ist auch fü r die Natio Anglicana
auf der H öhe ih rer Revolution 1 6 4 2 „th e glory o f o u r N ation“ . Auch
m uß es zu denken geben, daß E d m u nd B urke, der Apostel der V erjä h -
rungslehre, doch von ganz E u ro p a als von „in W irklichk eit einem einzi­
gen S taate“ h at sprechen können. W ie kann das derselbe En glän d er, der
nur au f englisches H erkom m en zu rü ck g eh t?

2. A n d e n régim e
W ir kom m en hier auf den w ahren B e g riff des ancien régim e, den die
französische Revolution z e rtrü m m ert hat. „ E n g lan d ist stolz d arau f L a
vieille A ngleterre zu heißen. Vieille F ra n c e ist fast eine Beleidigung“ , sag t
der Franzose Lavisse. Ancien régim e ist eben fü r die E n g län d er etwas so
Positives wie fü r die Franzosen F reih eit, G leichheit, B rüderlichkeit. An­
cien régim e ist aber auch etwas verhältnism äßig eben so Junges. D as volle
Pathos des ancien régim e w urzelt in den Erlebnissen d er en glischen Revo­
lution ! Sie h at die W ü rd e der Unvordenklichkeit, d er Ahnenfolge, des H er­
kom m ens erst kodifiziert und dogm atisiert. Ancien régim e bedeutet fü r
die Jakobiner später dasselbe, wie B ourgeoisie fü r die Bolschewiki. W ie
aber das, was der bolschew isierte E u ro p ä e r B ourgeois schilt, in der Sp ra­
che F ran k reich s als Liberté des D ritten Standes verkündet w orden ist, so
haben die E n glän d er H erz, L u ft, angeborene F re ih e it und C om m on Law
des Zweiten Standes, der gentry, u n ter dem verstanden, was den Ja k o ­
binern als ancien régim e erschienen ist. E s ist die grobe Fiktion des
19. Jah rh u n d erts, das ancien régim e, die unbedingte H e rrsch a ft des Adels
und der E rb lich k eit in ih re r starren und den B ü rg e r em pörenden F o rm
fü r älter zu halten als die Zeit der englischen A delsrevolution! Die Revo­
lution der Fran zosen b rauch te diese V ergröb eru ng d er dunkeln Zeit, ge­
gen die sie anrann te. G erade so sehen die Bolschew iken in säm tliche ver­
flossenen Zeiten den K lassenkam pf hinein.
E s lieg t eine bew ußte V erabsolutierung des A lters vor.
Die Dialektik der englischen Revolution n ach rückw ärts wie vorw ärts
liegt h ie rin : Alt sein, das hieß im m un sein gegen die fürstliche Allgewalt

261
seit der R eform ation . Alt sein hieß frei und auserw ählt sein von G ott.
Mit H ilfe von Magna C h arta kam man an der englischen R eform ation vor­
bei und all den Umwälzungen, die sie in sich schloß. F reilich gew ährte
m an auch dem K önig sein G eburtsrecht. Aber es sind die G rundsätze des
Adelsrechts, die nun auf den K önig erstreckt werden, nich t um gekehrt,
wenn Jakob dem E rsten du rch eine E rk läru n g bescheinigt wird, er besitze
das K önigreich E n glan d by birthright inherent, k ra ft des ihm innewoh­
nenden G eburtsrechts.
Die Freu d e am Alten und das Stehenlassen des Alten sind noch heut
auffällig in En glan d, in jedem niedrigen T o rgan g, in den Schilfdächern,
in dem K am in usw. E in K räm er in einer L an dstadt, zusam m en m it 3 o o
Landsleuten, lern t n och im J a h r 1 9 2 9 ein p aar M onate lang Altenglisch,
um ein altes Stück in der Sprache des i 3 . Ja h rh u n d e rts spielen zu können.
Die S tadt London erk au ft sich jäh rlich fü r soundso viele H ufeisen und
Nägel ih r R e ch t a u f die W ah l des Fried en srich ters. 1 8 6 2 w urde die Ab­
schaffung dieses B rau ch es erwogen, aber ausdrücklich fü r untunlich er­
klärt. Die Parlam entsw ache durchsucht vor jed er Session des U nterhauses
die K eller von W estm in ster, weil m an j a i 6 o 5 d o rt die Pulververschw ö­
ru n g entdeckt h a t! Biblisch und alt und frei g eh ö rt eben fü r den E n g ­
länder — gegen alle geschichtliche W a h rh e it — seit der P u ritan revolu-
tion zusam m en. Gewisse W o rte spielen in diesem Z usam m enhang jene
schon erw ähnte R olle der Scharniere. D as ist vor allem das W o r t co m ­
m on.

3 . Commonwealth oder die Gemeinschaft


D as H aus d er C om m ons von E n glan d zieht seine W ü rd e aus d e r um fas­
senden B edeutung von C om m on in d er englischen W e lt.
Ich nenne n u r zwei W o rte von u n geh eurer T ra g w e ite : The B ook o f
C o m m o n P ra y e r und das W o r t C om m onw ealth. D as W o r t C om m on Law
wurde schon erw ähnt.
Gemein Das W o r t „G em ein“ h a t in der deutschen Sp rach e zeitweise einen An­
lau f zu ähn licher K ra ft und W ü rd e genom m en. A ber es ist g erad e im
17 . Jah rh u n d e rt, also in der Z eit der englischen H öchstblüte des W o rte s
C om m on, bei uns zerstö rt w orden. D ah er h at m an von der deutschen Ge­
schichte des W o rte s Gemein sagen können, sie begleite in ihrem A uf und
Ab die Schicksale des deutschen Volkstum s. Die U nvergleichbarkeit der
W o rte C om m on und Gemein sch ließ t in d er T a t den U nterschied der
deutschen R efo rm atio n und der englischen P u ritanerrevolu tion in sich.
W ed er gibt das W o r t „die G em einen“ w ieder, was die C om m ons in E n g ­
land sind, n o ch deckt sich der H ochklang von C om m onw ealth m it unse-
Pietismus rem farblosen Gemeinwesen. D er deutsche Pietism us h at eine Anleihe bei
den P u ritan ern auf genom m en, als er das W o r t „G em ein sch aft“ in die
öffen tliche lutherische „G em eindeverfassung“ ergänzend einführfe. Die

262
pietistische G em einschaft ist eine w arm e spontane Vorstellung, zur Ergän­
zung des kahlen, nüchternen, allzusehr nur die politische und landeskirch­
liche O rdnung spiegelnden B eg riffs der Kirchengem einde. So sollte der
bei L u th er vor lau ter F ü rsten staat und Landeskirche nicht rech t in F lo r
gekom m ene Gem eindebegriff aufgefüllt, d u rch glü ht und gesteigert wer­
den zur G em einschaft. Schon dam it h at G em einschaft auf deutschem B o ­
den die F arb e eines K orrek tu rb egriffs bekom m en. Solch ein B e g riff lei­
det unter seiner Betontheit. Im E n glischen sitzt er im K ern der S p rach e,
bei uns befindet e r sich in d er O pposition.
Heillos ist dann die V erw irrung au f deutschem Boden geworden, seit­
dem das W o r t G em einschaft nicht wie in En glan d gegen seine lutherische
Vorzeit, sondern gegen seinen französischen N achfolger auf den Schild
erhoben worden ist. D am it h at das W o r t nun überhaupt kein P ro fil m eh r
im Deutschen.
D as englische W o r t Com m on aber h a t seinen ganz bestim m ten Platz
in dem D ram a E u rop as. E s ist das Stichw ort, das fällt, um die fürstliche
Gewalt, die Obrigkeiten, abzulösen. E s u m fa ß t nich t die O rdnungen der
K irch e oder des Staats, sondern es setzt ihnen zur Seite und zeitweise
entgegen eine neue O rdnung des Z usam m enlebens der M enschen auf E r ­
den. D em system atischen B e g riff des „G eistes“ , den die deutsche R e fo r­
m ation und der zivile S taat der Lan desfürsten aus dem Heiligen Geist ent­
wickeln, diesem „deutschen G eist“ setzt der E n glän d er seinen B e g riff des
unsystem atischen, d. h. nicht von oben h e r befohlenen G em einschafts­
lebens entgegen. Aber unser deutsches W o r t Geist steht an derselben
Stelle unseres Volkslebens wie das englische C om m on. Beide W o rte sind
säkularisierte T h eo lo g ie.
D as B u ch o f Com m on P ra y e r w ird das B u ch , das zum U nterschied von Book oi
der Messe von allen Gliedern der Gem einde m itgebetet werden kann. N och Common Prayer
heute geschieht die Lesung der S ch rift n ach der V o rsch rift des Book o f
C om m on P ray er n ich t d u rch den P rie ste r der K irch e von E n glan d , son­
dern d u rch ein Glied der Gemeinde. Und bezeichnend, ja fast ra ffin ie rt ist
die W en d u n g hin zu diesem B e g riff der „gem ein sam en“ Gebete in der
V o rred e: „D a w ard nie ein D ing d u rch m enschlichen V erstand so g u t
erd ach t noch so sicher bestim m t, das n ich t in der F o lg e der Zeit w äre
verdorben w o rd en ; das g eh t u n ter anderem k la r h ervor aus den gem ein­
sam en Gebeten (C om m on P ra y e rs) in der K irch e, gem einiglich G o tte s ­
dienst* gen an n t.“
Man sieht wie h ier aus dem h ierarchisch en „G ottesdienst“ der alten
K irch e die „gem einsam en G ebete“ g em ach t w erden, so als sei „gem ein­
sam e G ebete“ der ursprün gliche A usdruck, und zw ar bezeichnenderweise
gerade d u rch eine U m keh ru ng der R eihenfolge so, daß Com m on P ra y e r
als der eigentliche und rich tig e und echte A usdruck erscheint, hingegen
das W o r t „G ottesdienst“ als eine ungenaue N euerung der A lltagssprache.

263"
D ie s e scheinbar unbedeutende V erkehrung der geschichtlichen R e ih e n ­
f o lg evon C om m onprayer und Gottesdienst ist ein w eltgeschichtliches E r ­
eignis. Denn ebenso wie C om m onprayer fü r Divine Service ein tritt,
so steht Com m onw ealth bei den Pu ritanern an der Stelle der K irche. B a x ­
te r in s e in e m Christlichen Leitfaden sagt z. B .: „Jed erm an n als G lied von
K irch e oder C om m onw ealth m uß seine K räfte aufs äuß erste brauchen fü r
das W o h l der K irche oder des Com m onw ealth. (W e b e r Archiv X X I , 7 8 . )
Man sieht daraus, daß unsere W o rte Gemeinwesen und Gemeinwohl
längst nich t ausreichen, um die Glaubensfarbe von C om m onw ealth wie­
derzugeben. U nser W o r t R eich (vergleiche etwa aus L u th e rs : „ E in feste
B u rg “ den Vers „D as R eich m uß uns doch bleiben“ ) gibt eher etwas von
dem K lang w ieder, der Com m onw ealth im 1 7 . Ja h rh u n d e rt um schw ang.
Oliver Crom w ells „C om m onw ealth“ ist zwar n u r so kurz gewesen wie Na­
poleons W ü rd e eines K aisers der Franzosen. T rotzdem h a t Crom w ells
Com m onw ealth schließlich und endlich obgesiegt über die W o rte realm ,
kingdom und em pire. Den heutigen V ertretern des britischen E m p ire­
gedankens, den Im perialisten, fehlt die seelische V erw urzelung in ihrem
Volke, wenn sie von E m p ire reden. D ann denkt m an an Zölle. W e r be­
geistern, erw ärm en und Glauben finden will, m u ß in E n glan d a u ch heute
von dem B ritish Com m onw ealth sprechen.

4 . M . P . oder der P arlam entarism us


In dem B axtersch en Z itat begegnet uns n o ch ein zweites unübersetzbares
W o r t : D as W o r t M em ber. E in „M itglied des R eich stag es“ ist du rch aus
n ich t zu vergleichen m it der Funk tion des M. P ., des Gliedes des P a rla ­
m ents in En glan d . U nser W o r t M itglied gib t keineswegs den Sinn des
W o rte s m em ber hinreichend wieder. D as „gem eine W e se n “ und die Glied­
sch aft in ih m ist eben in D eutschland so vernichtet w orden, d aß sie in
D eutschland zuerst au f rein w issenschaftlichem W e g e re sta u rie rt werden
m ußten. Gierkes O rpunbegriff gibt, wenn au ch übersteigert, eh er wieder,
was M em ber bedeutet als das k raftlose W o r t M itglied. Denn ein M itglied
des R eichstages w irkt fü r unser Em p fin d en nich t in erster Linie zusam ­
m en m it der R eichsregieru ng. E in englisches M. P . hingegen bildet zu­
sam m en m it K önig und L o rd s das H ohe H aus des P arlam en ts.
Die M. P ., die Gemeinen sind zusam m en m it der M ajestät des K önigs
und den Adligen aus eigenem N am ensrecht, den L o rd s, die gem einen Ver­
treter aller G rafsch aften von En glan d. Sie haben im P a rla m e n t deshalb
keinen eigenen N am en, sondern werden als der Abgeordnete fü r den und
den W ah lk reis bezeichnet. „N am e h im “ , nenn’ ihn bei N am en, ist dah er
die A u ffo rd eru n g an den S p rech er des U nterhauses, den A bgeordneten
au ß er F u n k tio n zu setzen. W e il er nam enlos ist, deswegen h eiß t er m em ­
ber. Als m an den berühm ten S p rech er Onslow fra g te , was denn die F o lg e

264
sein wurde, wenn er sieh einm al zu solcher Bloßstellung eines M ember
verstiege, soll er erw idert haben: „D er H im m el m ag das wissen“ . Diese
Antwort ist sehr bezeichnend. Ein m it Nam en genannter Abgeordneter
ist einfach kein Glied m eh r der Gemeinen. E r g eh ört nicht zu den Ge­
meinen (denn als Gem einer hatte er gerade keinen N am en). E r steht drau­
ßen, des Bundes verlustig.
Aus dieser E ig en art der Gliedstellung innerhalb der Gemeinen erklärt
sich die gesam te G eschichte ih rer R echte, der Privilegien des U nter­
hauses und seiner W irkungen auf den Geist der N ation.
Denn die C om m ons insgem ein stehen gegenüber dem H ochadel und
den Bischöfen. Von diesen trä g t jed er einen eigenen N am en. D as h a t
z. B . zur F o lg e, daß im Oberhaus ein einzelner L o rd gegen einen B esch luß
des H auses P ro te st zu Protokoll geben kann, d aß hingegen ein Glied der
Gemeinen wie Clarendon in den R evolutionstagen i 6 4 i in den Tow er ge­
w orfen w ird fü r den gleichen S ch ritt.
Die Gemeinen sind eben der geschlossene „U m stan d “ im H ohen Ge­
rich tsh of des Parlam en ts, sie sind alle zusam m en ein einziger Artikel des
Parlam ents gegenüber dessen anderen G liedern, dem K önig und all den
nam entlich berufenen L o rd s. Die Gem einen sind die zwei ritterlich en Ge­
schworenen aus jed er G rafsch aft, die verpflichtet sind, m it zu erscheinen,
wenn der K önig eine „ S p ra ch e “ , d. h. ein P a rliam en t, als C om m unitas Der Sprecher
C om m unitatum , als J u ry aller Ju ry s, als g ro ß es R ü g e g e rich t G esam t­
englands, hält. Seiner M itgliedschaft verlustiggehen kann solch G ro ß ­
schöffe einzig d u rch Annahm e eines K önigsam ts. E in M andatsverzicht ist
in E n glan d u n m öglich ! Die V ollm acht zur S p rach e in diesem P arlam en t
haben an sich nu r der K önig, die L o rd s und d er Speaker der C om m o n s;
dieser Sp rech er der Gemeinen ist ih r einziger n am en tlicher u n d ö ffe n t­
licher S p rech er. S o ist es rech tlich bis heute. In G egenw art des K önigs
und der L o rd s erg re ift au ch heut einzig und allein d er Speaker das W o r t.
E r teilt m it, was die getreuen Gem einen von seiner M ajestät fo rd ern , be­
vor sie ihm die M ittel bewilligen, um die er sie ersu ch t hat. D er S p rech er
bringt die Beschw erden der G em einen vor. N ach u raltem R ech t des Stän­
destaates geht die E rled ig u n g dieser von dem S p re ch e r vorgebrachten
Beschwerden d er Geldbewilligung voraus. N och heut w ird das B ud get erst
in der Schlußsitzung der Session des P arliam en ts bewilligt. D enn alle an­
deren Verhandlungen des P arlam en ts em pfangen ihren Sinn und W e r t
daraus, d aß sie in die V erhandlungen um das G eld eingesch altet sind.
Die A rt, wie die festländischen P arlam en te unter vielen anderen Gesetzen
auch das B u d get erledigen, w iderstreitet m ithin d er G rundlage, auf der
sich das R e ch t des englischen U nterhauses aufgebaut hat. D as U nterhaus
hat n u r R ech te, weil und solange es dem K ön ig die Einnahm en noch
nicht bewilligt hat. W eil dem K ön ig diese G elder von den Gemeinen be­
willigt werden m üssen, deshalb kann ih r S p rech er vor K önig und L o rd s

205
all die anderen Beschwerden Vorbringen, an deren Ausräumung die Ge­
meinen die Geldbewilligung knüpfen.
S taatsrech tlich w iegt also auch heut im letzten und äußersten Sinne
nu r das W o r t des Speakers, das er an der B a rre des Oberhauses vor K ö ­
nig und L o rd s als die M einung des H auses ausspricht.
Alle W o rte im H ause der Gemeinen sind bloße Vorw orte, alle V er­
handlungen V orverhandlungen. Die Sprache des U nterhauses ist die von
V orbesprechungen.
Auf allen den R eden, die im U nterhaus gew echselt werden, lastet also
der D ruck, daß dies H aus am Schluß aller B eratungen nach außen als
E inh eit zur S p rach e kom m en m uß. D ieser D ruck ist vergleichbar dem
D ruck des W assers auf die F isch e darin. Dieselben F isch e, die u n ter dem
D ruck des W a sse rs fröh lich sich tum m eln und um die W e tte schw im ­
m en, sind stum m und ohne Leben in dem anderen A ggregatzustande der
L u ft. Denn h ier feh lt der einigende D ruck von soundso viel A tm osphären.
D er einzelne E n glän d er ist w ortkarg. Aller Geist aber und W itz erw acht
in ihm , wenn er m it seinesgleichen b erät und debattiert. D ann ist der
Geist in ihm gegenw ärtig. Die F re ih e it und die Fein h eit aber auch die
Län ge der D ebatte, die En glan d der W e lt geschenkt h at, entsp rin gt jenem
W ech sel im A ggregatzustand zwischen der förm lichen Einh eit d er C om ­
m ons vor K ön ig und Lord s und ih re r form losen D ebatte unter sich, wenn
dieselben C om m ons beraten, was ih r S p rech er m itzuteilen haben soll. Des
zum Zeichen leg t m an die F ü ß e behaglich au f den T isch des H auses. W o
dieser W ech sel zwischen den beiden A ggregatzuständen au fh ö rt oder
w egfällt, da m u ß d e r P arlam en tarism u s sterben. Denn F ö rm lich k eit allein
und F o rm lo sig k eit allein ist un fru ch tb ar.
Als K arl I. am 5 . Ja n u a r 1 6 4 2 in das U n terh aus ein tritt, um fü n f Glie­
der zu verhaften, da b rich t e r das G ru n d rech t d er C om m ons. A ber dies
G rundrech t besteht n ich t etwa wie d er D eutsche sich es vorstellt in einer
abstrakten R edefreih eit, einer th eoretisch festgelegten individuellen Ab­
geordnetenim m unität fü r jeden einzelnen. Sondern das Privileg des H au­
ses der Gem einen als einer G anzheit ist die U nauflöslichkeit und U n d u rch ­
dringlichkeit des H auses w ährend der freien V orverhandlung und V or­
beratung. W a s nun dazu im einzelnen e rfo rd e rt w ird, entscheidet einzig
und allein das U n terh aus selbst. Die O m nipotenz des P arlam en ts, die
Blackstone im 1 8 . Ja h rh u n d e rt ausfüh rlich d arleg t, ist aus dem einzigen
Satz, den Littleton schon am 2 1 . F e b ru a r 1 6 2 8 fo rm u liert, entw ickelt
w o rd en ! Jed es V o rrech t w ird gegeben fü r das W o h l des C om m onw ealth.
Und das V o rre ch t des P arlam en ts steh t über jedem anderen und n u r das
Parlam ent kann entscheiden, was V o rrech t des P arlam en ts ist, und kein
an d erer R ich te r oder G erichtshof. M ith in existiert kein ein zeln er w äh­
rend dieser V orberatungen. D as H aus ist die einzige P erson , je d e r C om ­
m on er ist n u r O rgan dieser P ersönlich keit des H auses. Zw eihundert

266
Ja h re hat dies Privileg des Hauses der Gemeinen der englischen Gentry
die M acht über England gesichert, ohne daß auch nur einmal ein gewalt­
sam er Schluß der Debatte nötig geworden w äre! (E r s t die irische Ob­
struktion h at das g eän d ert!) Je d e r Abgeordnete wirkt eben positiv m it zu
einem Beschluß des Hauses. E s ist auch nich t etwa so, daß eine M ajori­
tät und eine M inorität sich gegenüberstehen und die Majorität nun m achen
kann, was sie will. Alle Com m ons sind vielmehr gleich viel und gleich
wenig gegenüber der G esam theit des Hauses. E ifersü ch tig werden die
R echte der M inorität geschützt. D er g rö ß te Beweis d afü r liegt in der T a t­
sache, daß F ra g e n der G eschäftsordnung im englischen U nterhause nie­
mals als P arteifrag en behandelt w orden sind.
Seihst der Sprecher w urzelt ganz und g a r im H ause. Bei jenem E in ­
dringen K arls I. antw ortete der S p rech er auf des K önigs G eheiß, die
fünf verräterischen Abgeordneten auszu liefern : ,,Sire, ich habe hier keine
Augen und keine O hren, wenn m ir das H aus es nich t befiehlt.“ Auch kann
kein einzelner Abgeordnete einen A ntrag stellen. E in zweiter m u ß ihn auf­
nehmen und dem ersten sekundieren. A uf diese W eise erh ält d er A n trag­
steller auch n u r ein einziges Mal das W o rt. Je d e r sp rich t n u r einmal zu
jed er Sache.
Diese doppelten D ruckverhältnisse, drauß en in der freien L u ft des Die Opposition
S taatsrech ts und hier in der geschlossenen A tm osphäre der V orberatung
haben den Gemeinen von E n glan d den C h arak ter au fgep rägt. Alle Oppo­
sition im U nterhause ist willkom men. Denn sie hält die D ebatte in F lu ß
und belebt sie. Die Opposition g eh ö rt zum politischen Leben En glands.
Des zum Ausdruck g ilt der F ü h r e r der Opposition im U nterhaus als o ffi­
zielles O rgan der englischen V erfassung. A ber weit d arü b er hinaus reich t
die F reu d e des En glän ders an dem Dasein einer O pposition. E r ist seiner
Sache erst sicher, wenn er w eiß, daß eine Opposition da ist und ihn über­
w acht und zur höchsten Leistu ng anstachelt.
Diese Opposition ist willkommen und deshalb w ird sie fa ir behandelt.
Sie ist ja aber auch n u r Opposition in jenem M ittelraum zwischen Ver­
einzelung und gem einsam er Aktion, in der D ebatte. Ist die D ebatte g e-
geschlossen, und haben sich alle an diesem W e ttk a m p f der M einungen be­
teiligen können, dann ist das R ennergebnis fü r alle verbindlich. D as eng­
lische U nterhaus sch reitet nur dann zur A bstim m ung, wenn das D ebatte­
ergebnis nich t überw ältigend fe stste h i Die T eilung (D ivision) des H auses
heißt eine solche Abstim m ung. Sie gilt also als notw endiges Übel und
nicht wie au f dem Festlande als ein Eigenw ert. Von R ob ert W alpole wird
g erü h m t, daß er einm al w ährend einer ganzen Session im U nterhause nu r
drei Divisions o f the H ouse benötigt habe.
D er Zw ischencharakter der Opposition ist das G eheim nis des englischen
öffentlichen Lebens. D as F estlan d h at d a fü r kein Verständnis.
Schon rein äu ß erlich genom m en, sind alle Parlam entssäle des F e s t-

267
landes zu g ro ß , und falsch, näm lich als Halbkreise, angeordnet. D as eng­
lische U nterhaus ta g t in einem schm alen länglichen R au m , in dem sich
die Parteien gegenübersitzen und in dem m an seine Stim m e nich t zu er­
heben braucht, um verstanden zu werden. Die eigentüm liche Genauigkeit,
Deutlichkeit und G eräuschlosigkeit des englischen D ebatters entstam m en
diesem R aum . Als i 8 4 o der Riesenbau des neuen P arlam en ts begann,
wollte der A rchitekt natu rgem äß den Gemeinen entsprechend viel R aum
darin geben. Aber das U nterhaus hat diesen Plan verhindert und in der
fü r den K ontinentalen unverhältnism äßigen Kleinheit des R aum es gerade
das Grundgesetz seiner D ebatten anerkannt und erhalten.
Tisch des Auch „d er T isch des H auses“ — von dem in allen P arlam enten der
HausesW e lt heut die Rede ist, trotzdem sein englischer Sinn m eist unbekannt
ist — sym bolisiert die körperliche Ein h eit der Gem einen. Denn dieser
l i s c h ist der ein zige T isch des Hauses. D as ist die Pointe jenes Ausdrucks.
Kein A bgeordneter h a t also sein P u lt, seinen T isch fü r sich, in dem e r
sein M aterial aufbew ahrte. V ielm ehr bedeutet der T isch des H auses den
geistigen K om m unism us, der unter den Gem einen h errsch t. H ier d arf nie­
m and etwas fü r sich wissen oder behalten. U nverbrüchlich w altet die R e­
gel, daß was ein A bgeordneter beantragen, ein M inister m itteilen, ein B e­
am ter vortragen will, auf den T isch des H auses gelegt werden m u ß . N ur
dies auf den T isch des Hauses N iedergelegte bildet die geistige N ahrung
des H auses, n ich t die D eb atten ! D ah er werden n ich t etwa die D ebatten
d u rch das U n terh aus in D ruck gegeben — fü r deren D ruck lehnt es jede
V erantw ortung ab! — sondern in D ruck gegeben als P arliam en tary P ap ers
werden die A n träge, die berühm ten R ep o rts, die B erich te und die Ac­
counts, die Abrechnungen. Von den G egenständen, die zu r Diskussion
stehen, sag t m an w ö rtlich : sie seien m atter$. th at are upon the table, also
die M aterien, die au f dem T isch lieg en ! In diesen M aterialien m ateriali­
siert sich das gesam te politische Leben. W a s n ich t au f den T isch gelegt
wird, existiert fü r das politische Leben En glan d s n ich t! D er T isch des
H auses entsp rich t also dem B e g riff der Aktenkundigkeit in D eutschland!
Diese T atsach e ist der glorious revolution sehr zu statten gekom m en.
Die Einlad ung an den F rem d en W ilh elm von O ranien, seine L an d u n g in
E n glan d , seine Ü bernahm e der R egieru n g w urde als ein objektives N atu r­
wunder — es lag j a au ß erh a lb der p o litisch en A rena — unanalysiert ge­
lassen. F in g ie rt w ird, d aß W ilh e lm au f B itte der beiden H äu ser provi­
sorisch die Staatsgew alt übernom m en habe. D enn n u r dieser A n trag liegt
au f dem T isch des H auses. W ie W ilh elm hineingekom m en ist ins Lan d,
darüber h ü llt sich das P a rla m e n t in Schw eigen. In den endlosen De­
batten, ob Jak o b I I. abgedankt habe oder nur geflohen sei, w ird d er E in ­
b ruch des A usländers n ich t erw ähnt! Auch die B edingung W ilh elm s I II .
w ird n ich t erw ähnt, a u f die d och alles a n k a m : der E in tritt E n glan d s in
den K rieg H ollands gegen F ra n k re ich ! f

268
W ir deduzieren unsere Theorien von vollendeten Tatsachen, die wir
selbst geschaffen haben, sagt der englische H istoriker T raill über 1 6 8 8 .
D as ist Cant. Aber die erfolgreiche W echselW irkung zwischen U n ter­
haus und Exekutive beruht auf dieser M aterialisierung alles politischen
Geschehens im R ahm en d er vier W än d e des U nterhauses. Diese vier
W änd e um fassen die englische W e l t ; ,,To be out of Parliam en t is to be
ou t o f the w orld“ konnte 1 7 8 0 A dm iral Rodney schreiben.
Eben weil das U nterhaus diesen W echsel im D ruck der A tm osphären
braucht, h at es den K önig und die L o rd s nie beseitigt. E s lebt gerade von
dem Ü bergew icht seiner Vorverhandlungen über die V erhandlungen, also
über die G esam tsitzung von K önig, L o rd s und Gemeinen.
F ü r sein Übergew icht b rauch t das U nterhaus gerade die beiden ande­
ren Teile des Parlam ents. D as U nterhaus ist ja kein P arlam en t. E s ist
ein D rittel des P arlam ents. Seine eigene Gewalt beruht dah er darau f,
daß die Gewichtsverschiebung stets innerhalb eines P arlam en ts vor sich
gehen kann.
S o g ar als die P u ritan er Revolution 1 6 4 2 ausbricht, fa ß t das P a rla ­
m ent die Beschlüsse, gegen den K önig K rieg zu führen, unter der F ik ­
tion, daß das A m t des K önigs im P arlam en te zugegen sei und daß nu r
die Person des Königs draußen gegen das P arlam en t — v erfü h rt d u rch
falsche R atgeb er — käm pfe. H um e sch re ib t: „ E s erfan d also einen bis­
h er unerhörten U nterschied zwischen dem A m t und der P erso n des K ö ­
nigs und brachte die M acht, welche es w ider den K önig brauchen wollte,
im Nam en des K önigs und seiner G enehm igung a u f.“ Dies ist das R ä t­
sel des englischen R ech tssatzes: D er K ö n ig h errsch t, aber er re g ie rt nicht.
Eben deshalb hat die glorious revolution keinen Augenblick daran ge­
dacht, die M onarchie abzuschaffen. Die A u torität der C om m ons beruh t
d arau f, d aß sie zum g roß en R a t, dem P arlam en tu m d er englischen K ö ­
nige dazu gehören. Also brauchen sie einen K önig. F re ilich haben sie
seine Stellung so unterhöhlt, d aß e r m eh r und m e h r zum ersten G en tle­
m an geworden ist, das heißt, die C om m ons haben es verstanden, den
T rä g e r d er K rone zu einem ihresgleichen zu m achen und die F unktion des
K önigs auszuhöhlen. Aber n u r als th eo retisch er G egenspieler der K ron e
bleibt das H aus d er Gemeinen in seinem R ech t. N ur wenn es einen K ön ig
gibt, kann die R ittersch a ft von E n glan d , die G entry aus den Gounties, C ountry
den G rafschaften, gegenüber dem absoluten K ön ig die C ountry verkör­
pern. D er C onfluxus der R itte r aus den G rafsch aften (und der wenig
zahlreichen Sch öffen aus London und den anderen alten Städten) in die
C om m unitas C om m unitatu m , in die potenzierte G ran d ju ry des P a rla ­
m ents h at den B e g riff der C ountry geschaffen. C ou ntry ist selbst ein In­
b eg riff, die alle G rafsch aften einbegreifende G esam tg rafsch aft sozusagen,
das was w ir D eutschen L an d nennen. Die C om m ons aus den einzelnen
G rafsch aften werden so zu den Ständen des Landes. N och im 1 7 . J a h r -

269
hundert schwankt der Sprachgebrauch von Country, zwischen Land
schlechthin und einzelner G rafschaft. In der g roß en R em onstranz von
1 6 4 2 h eiß t die einzelne G rafsch aft country. Aber m it dem Sieg der
Com m ons steigt die Gewalt des W o rtes Country. K ing and C ountry wer­
den nun zwei nebeneinandertretende W erte. Und die Gemeinen stehn fü r
das Land. In d er V orrede zu der E p hem eris des P arlam en ts vom Ja h r e
i 6 5 4 , also in einem und demselben T exte, bedeutet ,,C ou n trey “ abwech­
selnd England, „das es als Insel und eine kleine ganze W e lt m it R om und
G riechenland au fn im m t,“ und die H eim at, „in die der G entlem an nach
besonnener A bstim m ung zu w ohlverdienter R uhe zurück kehrt“ . So m i­
schen sich zwei politische Elem ente.
In der Revolution der C om m ons kom m t also der C ountry gentlem an
zur absoluten H errsch aft. Und es sind die W esenszüge des Landedel­
m anns, die seitdem in En glan d trotz aller industriellen und politischen
Um wälzungen herrsch en und den Ton angeben. In der O ceana des J a ­
m es H arrin gto n w ird En glan d m it Altitalien verglichen, denn „R o m
nahm die g rö ß te R ücksicht auf seine Landbezirke und holte seine K on­
suln vom P flu g e. U nd im W eg e der P arlam en te sind M änner ,o f C ountry
Lives‘ (also M änner, die ein Landleben führen) m it den g rö ß ten D ingen
b etrau t w orden.“ „D as Ideal der Englischen K irch e w ar, m it einem an ­
sässigen G entlem an jedes P farrsp iel des K önigsreichs zu versorgen“ ,
schreibt S tra tfo rd in seiner G eschichte des englischen P atriotism u s. D er
erste förm liche P rem ierm in ister von E n glan d , R ob ert W alp o le, nannte
sich selbst n ach seiner Abdankung einen einfachen C ountry gentlem an.
Und er w ar auch d er Typ dieses trinkfreudigen, jag d eifrig en , niem an­
den die A ntw ort schuldig bleibenden Landjunkers. W alpoles Jag d leid en -
Weekend sch aft zuliebe h a t das P arlam en t das W eekend eingeführt. Dies W eekend
verkörpert j a n u r den Respekt d er S tad t vor den Sitten des Landes. Einen
Landsitz zu haben und ihn seinen F reu n d en zu öffn en , ist das W a h r ­
zeichen jedes En glän d ers, d er m itzählen will. N ur wenn e r einen L an d ­
sitz in die Sphäre seines gesellschaftlichen V erkehrs einzubeziehen ver­
m ag , w ird der E n glän d er selbst zum G entlem an.
O xford und Die G entry w ird in O xfo rd und C am bridge erzogen. A ber au f diesen
Cambridge U niversitäten studiert m an n ich t wie in D eutschland. Die englischen U ni­
versitäten dienen satzungsgem äß dem N achw uchs fü r den D ienst in S taat
und K irch e. Seine E rzieh u n g geschieht in den Colleges. H ier entwickelt
sich die „effo rtless superiority“ , die Asquith solch einem O xford m an n
n ach rü h m te. H ingegen haben die w issenschaftlichen F ak u ltäten als sol­
che keinen E in flu ß a u f die B ildung der öffen tlichen M einung. Z. B . haben
die juristisch en F ak u ltäten bis heut (w o das viel beklagt w ird) keinen
E in flu ß a u f die R echtsentw icklung genom m en. Eben deshalb gibt es z. B .
in E n glan d kein V erw altungsrecht, wie erst kürzlich ausgesprochen w urde
(New Statesm an 6 . 7. 1 9 2 9 ) . In Philosophie und Theologie ste h t es äh n -

270
lieh. An einen englischen Gentleman tra t die zünftige W issen schaft nicht
heran.
Sondern wo es auf W issen schaft ankommt und wo wir an die Hohen
Schulen denken, da spricht m an höchstens — von den B isch ö fen !
So heiß t es in der großen Sitzung, in der sich zuerst Parteien gegen­
überstanden, statt dessen: „ L a ß t uns das B isch ofsam t aufrechterhalten
neben der Kanzel, als universale Streitm acht der G ottesgelehrsam keit,
k raft deren w ir fähig bleiben aus eigener K ra ft und innerhalb unserer
glücklichen heim atlichen Insel, den Mund aller Irrtü m e r und m öglichen
Ketzereien zu stopfen. Niemals, niem als soll m an sagen dürfen, daß die
K irchenlehre in ih rer einen wesentlichen H älfte in En glan d unversorgt
bleibe. . . W ir brauchen S treiter fü r die w ahre R eligion“ (Ed w ard D e-
rin g ). Alle reform ierten Gebiete liefern die w issenschaftliche Bildung
den örtlichen Gewalten aus. Die Landeskirche der deutschen O brigkeit
schickt L e h re r und P fa rre r in jedes D o rf. In der freien Schweiz sind hin­
gegen L eh rer und P fa rre r in der Gewalt der D orfgem einde. Zu noch viel
tolleren M ißbräuchen h at das in E n glan d g efü h rt, wo der P a tro n , d er
gentlem an allm ächtig ist. D er „Vikar* o f W akefield“ schildert die F o l­
gen, wenn die T räg e r des W o rts zur K lientel des G rafschaftsadels her­
absinken.
. D er G rund fü r diese V erschiedenheit liegt in der U nm öglichkeit, das
deutsche System der R eligionsparteien n ach E n glan d zu übertragen. D er
Adel ist es, d er dem K önig gegenüberstand, nich t Professoren . Die L an d ­
edelleute haben die F ü rsten gezwungen, ihren R a t anzunehm en. D en
Stuarts tritt der Landedelm ann Oliver Gromwell ebenbürtig entgegen.

5. D as P edigree der Stuarts u n d der Cromwells


In den S tu arts, aber auch in den Crom w ells floß n ach dem Glauben des
1 7. Jah rh u n d erts englisches, schottisches und wallisisches B lut. Die C ro m -
wellsche Schottenherkunft ist falsch, w urde aber dam als geglaubt. Die
wallisische H erkunft der Crom w ells erschien fast nobler als die der T u -
dors. D er Stam m baum spielt j a eine unendliche R olle in E n glan d wie in
jedem Adel. Den der C hurchill, Salisbury, R ussell m u ß m an kennen, um
die englische V erfassung zu begreifen. Die beiden Stam m bäum e stehen
also n u r als ein Beispiel fü r dieses ungeheure K ap itel d er europäischen
G eschichte, die G enealogie, weil sie hier einen B e itra g zur Revolution
liefert.
„ W a s sein Ped igree angeht, so könnten sich wenige höherer Abkunft
rü h m en “ , sagt Prestw ich in seinem K ap itel über den „Stam m b au m der
H erkunft seiner H oh eit des allergnädigsten und allererlauchtesten Oliver
Gromwell“, in einem B u ch , das gleichzeitig (s. S. 2 2 8 ) stolz die B efrei­
ung des C om m onw ealth von Sklaverei und W illk ü r d u rch die „glorious re -
volutions o f ou r m o n a rch y “ preist. Adelsblut und F re ih e it stehn im Bunde.

271
D ie S t u a r t s
englisch w allisisch schottisch

rH em n ch V. op M ergent aus W ales


IKatarina v. Välois N

Heinrich V I. Edm u nd T u d or — M argarete L a n ca ste r


* .. ..
... .. '
............ -|| — ... ...

H einrich Y I I . i 4 8 5 — i 5 o 9

H einrich V III. i 5 o § — i 5 4 ü M arg arete Jakob IV . v. S c h o ttla n d


/ I \ \ I
Eduard Marie Elisabeth Maria Stuart f *587

Jak o b I. i 6 o 3 — 1 6 2 b
I
K a rl I. 1 6 2 5 — 1 6 4 9 * 3 o.

Jak o b I I. 1 6 8 5 — 1 6 8 8
I
K a rl I I. 1 6 6 0 — 1 6 8 5

W ilh elm I I I . 1 A n n a T 7 0 2 — ~ iy t 3 ~ "Prinz o f W a le s, geh. 1 6 8 8


M arie *j* 1 6 9 4 J
1 6 8 8 N ovem ber 5 .— 1 7 0 2
Ausgestorben 1 8 0 7 .

272
D ie C ro m w e lls
englisch w allisisch schottisch
I. Blethin op Kynvyn
Prive of Pow is
I
VI. Lord o f Kibion

W a lte r Crom well angeblich


G astw irt in Putney sch ottischer H erkunft

Thom as Crom w ell C aterine — X I I I . W illiam R ob ert Stew art


E a rl o f E ssex M organ aus W ales Dean o f E ly
D er H am m er der M önche E r erfindet bereits
G roßsiegelbew ahrer seine schottische V er­
1 5 3 5 als N achfolger w andtschaft m it den
des M orus „ S tu a rts !“
i 485— i 54o
I
G regory Crom w ell R ich ard W illiam s
genannt Crom w ell

Edward Cromwell R ob ert Crom w ell Elisab eth S tu art


I -
T hom as Crom w ell Oliver Crom w ell
E a r l o f A rdglass in Irland 1599— i 658
R oyalist, -j* i 6 5 3 |
R ich ard , geb. 1 6 2 6 H einrich, *{* 1 6 7 4
L o rd P ro te cto r 1 6 5 8 — 5 9 Vizekönig in Irlan d
•j- 1 7 1 2

au sgestorben 1 8 2 1

(vgl. W a lte r R ye, Tw o C rom w ellian M yths 1 9 2 b ; J . P restw ich, R espublica


1 7 8 7 p. 2 3 )

18 Rosenstock
6 . Realrn oder der S ta a t
Die Bew ohner Englands sind kein seefahrendes Volk von H aus gewesen.
Sowenig wie die Deutschen B ü cherw ü rm er vor der R eform ation gewesen
sind. Die B riten sind zur See gegangen, um sich ih r eigenes Land neu zu
gewinnen. Denn erobert worden w ar ih r Land zuvor m ehrm als von außen,
weil die Inselbewohner die See nich t beherrscht hatten. R öm er, Angeln
und Sachsen, dann D änen haben in England F u ß gefaß t. W ir aber kön­
nen gleich einsetzen m it dem Ereignis, das En glan d zu einer N ation des
Der Norman- Abendlandes und E u ro p as g ep rägt h at — m it der norm annischen E ro b e-
nenstaat ru n ^ ^yg g en(jj£ng (jes Papstes und d u rch zweideutige V erträge berech­
tig t zieht 1 0 6 6 W ilh elm von der N orm andie übers Meer. Mit K önig
H arold fällt der letzte einheim ische K önigssproß . U nd die Blüte des
Adels fällt m it ihm . Die N orm annen aber vereinheitlichen die H errsch aft
über die Insel. D as K önigtum h at m it seinem norm annischen L eh n rech t
und seinem röm ischen K irch en rech t Englands E in h eit von außen ersch af­
fen. Je d o ch diese E in h eit g reift übers M eer! Seit der Sch lach t bei H a ­
stings ist es das Schicksal Englands, daß eine auch auf dem K ontinent
herrschende Dynastie es zusam m enschw eißt. Seine K önige sind Auslän­
der und seine D ynastien stellen die Verbindung En glan ds m it dem F e st­
lande d ar. Z u r R öm ischen K irche und zu den Festlandsreich en fü h rt
d er W e g fast allein über das K ön igtu m , m e h r als in irgendeinem
anderen Lande. N och H einrich V II. fü rch tete eine E m p ö ru n g der N a­
tion, wenn er die N ordküste F ran k reich s endgültig auf g ä b e ! K ein W u n ­
d er dah er, d aß d er Augenblick, in dem H einrich V III. (seit 1 6 0 9 ) den
v ie rh u n d e rt ährigen Besitz in F ra n k re ich nich t län g er zum A ngelpunkt sei­
n er Politik m ach t, das W esen dieses K önigtum s ändert. N och sein V ater,
H einrich V II., h atte sein T h ro n rech t (n ich t anders als d er E ro b e re r von
H astings) in erster Linie auf das K rieg srech t des Siegers gestützt. „D ein
Besitz der K rone hebt alle M ängel“ urteilten die von ihm befragten R ich ­
ter. Je tz t aber re g ie rt ein an g estam m ter und zugleich au f E n glan d be­
sch rän kter K önig. E in zig das sech zeh n te J a h rh u n d ert sieh t ihn. Seit i 6 o 3
werden wieder F re m d e , die K önige von Sch ottlan d, zu K önigen von E n g ­
land, und ihnen folgten O ranier und W elfen und K o b u rg er bis heute.
Von den einheim ischen M onarchen des 1 6 . Ja h rh u n d e rts aber w ar die
gefeierte E lisab eth ih rer P erson n ach eine A usnahm eerscheinung. Denn
sie op ferte bew ußt — anscheinend d u rfte d arü b er nich t gesprochen w er­
den — der S taatsräson alle H eiratspläne, um das G leichgew icht d u rch
ausländische V erbindungen n ich t zu ersch ü ttern . E in absichtlich erbloser
H errsch er ist ein W id e rsp ru ch in sich. E r fällt über sein eigenes R egi­
m ent das U rteil des A norm alen. E r sch altet als Glied in d er K ette aus.
T atsäch lich w urde auch schon seit dem Tode H einrichs V III. d er Plan
einer V ereinigung m it Sch ottlan d in beiden R eichen offen e rö rte rt, und

274
so lag über dem ganzen R egim ent Elisabeths die Spannung einer Zu­
kunftserw artung, d u rch die der Glanz ihres Zeitalters ein sehr bedingter
wird. Die G efahr der Frem d h eit der Dynastie äu ß ert sich auch gerade im
Verhalten der jungfräulichen Königin. Und die H errlichkeit des E lisa-
bethanischen Zeitalters ist teuer m it dem Aussterben der Dynastie e r­
kauft worden.
D er N orm annenkönig hatte eine frem de Sprache m itgebracht. Von P a r -
liam ent, council und co u rt angefangen, sind alle W o rte des englischen
Staatsrechts norm annisches Fran zösisch . Auch Budget, die Ledertasche,
ist altfranzösisch.
W enn heut 1 9 2 9 der englische K önig (in W irklichk eit sein P rem ier)
einen B isch of ernennt, so geschieht das in der Scheinform d er K apitel­
wahl. U nd das h eiß t bis heu t „ d ro it d ’elire“ . W en n das B ud get vom P a r ­
lam ent beschlossen ist, so lautet die N orm annenform el bis h e u t: „ L e ro i
rem ercie ses bons sujets, accepte leu r bene volence et ainsi le veut.“
»Oy ez“ ru f t der H erold vor den Schranken des G erichts. Die S taats­
sprache und die Volkssprache von E n glan d bleiben im R eiche der P lan ­
tagenets getrennt, T rä g e r aber der neuen w älschfränkischen, d er Staats­
und H eeressprache, der französischen K om m andos, ist ein norm annischer
Adel, der W ilh elm begleitet und d er die L o rd s in H eer und K irch e stellt.
In der englischen H eerschildordnung ist d er Schild des hohen Adels n o r-
m ännisch.
Mithin ist die erste R angstufe, die grundsätzlich eingeborene E n glän d er
einnehmen, die des niederen Adels, der die R itte rg ü te r in der Leh nspyra­
mide besitzt, d er gentry.
Auch d er K lerus, B isch öfe und K önigsäbte, sind keine E n glän d er zu - Die Gentry
nächst, das Kirchenvolk En glan ds und das Heervolk En glan ds h at einen
frem den K lerus und frem de W a rlo rd s, frem de „ K rieg sh erren “ . D as ko­
mische Entsetzen des En glän ders über „den obersten K rie g sh e rrn “ , diesen
Titel de.s deutschen K aisers, h at h ier schon u ralte W u rzeln . U nd die n o r-
m ännischen B isch öfe und ih re N ach folger halten ih ren niederen K lerus
in strenger Z u ch t, fern den Gem einen des U n terh auses, so daß e r m it
diesen nich t zusam m enw achsen kann. Die erste genuin angelsächsische
Schicht aber, der G entryheerschild und die Städte E n glan d s vertreten zu­
gleich ihre B auernsam e, die Y eo m an ry, das ganze freie Landvolk der In­
sel m it, wenn es zu Verhandlungen m it „ob en “ , m it K önig und Bischöfen
und P eers o f the R ealm kom m t. D ie G entry sind j a die O ffiziere d er Y eo­
m anry. Die frem den F ü rste n drücken also die gesam ten Landeseingebore-
nen unter ein straffes und ration ales R ech t. Schon 1 0 8 6 , zwanzig Ja h re
nach der E ro b eru n g , h a t die königliche G ewalt in E n glan d die steuerliche
B elastung jedes G rundstücks sch riftlich fixiert. D as Domesdaybook setzt
m die Lücke zwischen norm ännisches S taatsrech t und englisches L a n d -
rech t die Zahl. Seitdem ist es dem E n g län d er geläufig, eine Q u ersch ich-

18 * 275
tung im Aufbau der Nation sich vor Augen zu halten. E s w ar deshalb in
En gland, daß Disraeli das W o r t von den zwei Völkern prägen konnte,
die sich auch im 1 9 . Ja h rh u n d e rt wieder neu zwischen K apital und Ar­
beit herauszubilden drohten. Denn das people o f En glan d steht den Sta­
tes of the R eahn, den norm annisch-französischen K önigsständen ent­
gegen. R ealm und G hurch zusam m en sind etwa das, was w ir bei uns
R eich nennen; dies R eich aber ist frem d — halb norm ännisch, halb rö ­
m isch. „ P o p u lä r“ kann in En glan d also nur das werden, was w ir D eut­
schen, was etwa der B ay er bei seinem Einzelstaat em pfindet, die Ge­
wohnheiten des people o f this country. Auch das W o r t people ist ein
Lehnw ort, aus populus. Aber es bezeichnet eine geistige E h re des gem ei­
nen M ann es: es ist n äm lich das Christian people innerhalb der K irch e, das
dem K lerus zügesellte Kirchenvolk (G ongregation). Die erste S ch ich t die­
ses angelsächsischen Kirchenvolkes bilden w iederum die M ilizoffiziere der
Gentry. Sie stehen dah er schlechthin fü r den gem einen M ann, fü r die
C om m ons o f E n glan d innerhalb des norm ännischen P arlam en ts.
Die C om m ons sind die Klasse, die zwischen R ealm und people, S ta a t
und K irch e einerseits, Volk andererseits, verm ittelt. Sie gehören dem
R ealm an dad urch, daß sie im P arlam en t vertreten sind. Sie gehören aber
eben, weil sie d o rt als En glän d er zunächst stum m sind, ausgesprochener­
m aßen und von vornherein auf die rein englische Seite. U n ter den N or­
m annen gibt es „ E n g la n d “ n u r k ra ft der V ereinigung aller Teile des L an ­
des im königlichen P arlam en t. Aber „es leidet n u r passiv, dies E n glan d ,
es handelt n ich t“ (P o lla rd ).
Den H andel verm itteln im M ittelalter die g roß en Gilden des F estlan ­
des. N icht der E n g län d er selber vertrieb seine W a re n , vor allem die be­
rü h m te englische W o lle, au f dem Kontinent. Sondern der deutsche K au f­
m ann hatte sein privilegiertes H andelshaus in London, den Stahlhof. D er
G esichtskreis des einzelnen En glän ders ist im M ittelalter seine G rafsch aft,
der shire. E s bedurfte der R evolution, um den B e g riff d er counties, d er
G rafschaften, eindeutig um zuprägen in den einen g roß en der coun try
fü r die ganze Insel. Bis dahin ist der Festlandsbesitz der englischen K ro n e
das M ittel, ohne eigentliche S eeh errsch aft E n g lan d zu sichern. D as R ealm
h a t auf diese W eise eine L an dgren ze innerhalb des französischen F e s t­
landes und keine Seegrenze. D er französisch-englische h u n d ertjäh rige
K rieg h a t diesen tiefen Sinn. A uch auf der Insel selbst besteht eine L a n d ­
grenze am Tw eed gegen Sch ottlan d zu. So en tsp rich t sich der V ersuch,
eine L an d m ach t darzustellen, im Süden au f französischen und im N or­
den a u f b ritisch em Roden. Im m e r wieder fallen die Schotten ins L an d ,
so daß noch H ein rich V III. als einen P u ffe rsta a t die G renzm ark B e r -
wick einrichtet.
Von diesen V oraussetzungen aus ist d er A blauf der englischen R evo­
lutionen zu verstehen. Ih re A ufstauung g eh t zurück au f das J a h r i 5 3 5 .

276
Ih r zweistufiger V erlauf i 6 4 o — 1 6 6 0 und 1 6 8 5 — 1 6 8 9 sch afft die coun­
tries der Insel En glan d um zur einen H eim at des Christian people of this
country, rückt England hinaus in die See m it Meeresgrenzen und setzt
in die Herrschaft und Repräsentation über diese neue W e lt ein die C om ­
m ons, das Unterhaus der königlichen Parlam ente. Parlamente
B is in das 16 . Jah rh u n d ert ist der G ehorsam gegen das Aufgebot des
K önigs, unter dem groß en Siegel ein P arliam entum zu besuchen, eine
schwere L ast, je weniger P arlam en te, desto besser. Man seufzt unter den
Kosten, die eine solche Tagsatzung verursacht. D ie Generalstände des
K önigsreichs sind fro h , wenn sie zu H ause bleiben können. 1 6 8 9 der
w ichtigste Satz in W ilhelm s III . V erbriefung der Revolutionserrungen­
schaften : daß h äu fig P arlam entstagungen sein m üssen. Aus der L a st ist
ein Privileg geworden. W ie ist es dazu gek om m en ?
K önig H einrich V III. m ach te sich i 5 3 4 unter dem B eifall s e in e r S up rem acy
Stände die Privilegien der protestierenden R eichsfürsten zu eigen und
stieß den P ap st aus dem A ufbau d er K irch e aus. E r ließ i 5 3 9 den A ct
Suprem acy d u rch sein P arlam en t zum Gesetz erheben und jed er E n g ­
länder beschw or fo rtan , es sei d er K ön ig die alleinige O brigkeit in R eli­
gionssachen. A uf einer Münze nennt e r sich in säm tlichen liturgischen
Sprachen der alten K irche, hebräisch, griechisch und la te in isch : „A uf E r ­
den der K irch e von E n glan d und Irlan d unter C hristus oberstes H a u p t“
E r säkularisierte die K löster und verschaffte sich dam it die M ittel zu einer
königlichen Zivilverwaltung ganz wie die deutschen F ü rsten und er erm ög­
lichte sich persönlich die Ehescheidung,, j a die willkürliche Festsetzun g des
T h ro n fo lg erech ts! D am it w urde aus dem H eerkönig, der auch ein S ch at-
zungsrecht hat, das O berhaupt zugleich der Landeskirche. Dank der drei
K inder aus drei E h en dieses V erteidigers des Glaubens sieht m an „diese
edlen L o rd s u n ter vier R egierungen ihren Glauben vierm al än d ern“ . Seine
T o ch ter E lisab eth lä ß t dem P arlam en t eröffnen, in Religionssachen habe
es n u r J a oder Nein zu sagen, nich t zu debattieren.
Dann k o m m t im J a h r i 6 o 3 die schottisch-englische Grenze zum V er­
schwinden. Zugleich ab er wurde ein sch ottischer S tu art, w ieder kein E n g ­
länder also, Jak ob L , K önig. Also in demselben Augenblick, wo eine H aupt­
ursache fü r eine starke K ö n igsm ach t entfiel, e rg riff ein N ichtengländer
von ih r Besitz.
Jak ob I. ( i 6 o 5 — 1 6 2 5 ) ist ein P ed an t gewesen, der eigentliche T heo­
retiker der protestantischen K önigsrech te. Aus dem K reise der deutschen
F ü rsten , in dem er eine Zeit zugebracht, hatte e r das V ollrecht, die „ P r ä ­
rogative“ , die d er deutsche E in zelfü rst beanspruchte, kennengelernt. K ei­
ner h a t so wie er die A nsprüche des europäischen hohen Adels au f seine
L ib ertät verfochten. D ie F ü rste n w ürde F rie d rich s des W eisen und Lu d ­
wigs X IV . h at in Jak o b I. ihren A pologeten gefunden. N och e rtru g m an in
E n glan d seine Schrullen, weil es Schrullen sein konnten. Als aber sein

277
besserer N achfolger, K arl I., ein Schrullen freier, edler C harakter, nich t
anders regieren konnte, stieß England den F ü rsten staat der R eform ation
ein erstes Mal aus. Die Unterschiede gegen D eutschland in der L ag e
w aren zu g ro ß .
i 6 4 8 hatten die Religionsparteien D eutscher Nation die Obrigkeiten
erneut über die R eligion g estellt: D er w estfälische F ried e bestim m t, daß
die T hronfolgefähigkeit nirgends im R eiche d u rch die Zugehörigkeit zu
einer der drei Konfessionen beeinträchtigt werden dürfe. Diesen Satz zer­
brechen die En glän der.
Im Ja h re 1 6 8 0 bildete sich zum zweiten Male eine R eligionspartei im
L an d e; sie wollte den katholischen H erzog von Y o rk von der T hronfolge
ausschließen. Zw ar dran g sie nich t gleich du rch , diese P a rte i der W h ig s.
D er H erzog bestieg n och dank der Z ustim m ung der T ories als Jak o b II.
den T hron im Ja h r e 1 6 8 5 . Aber 1 6 8 8 , als ihm ein Sohn geboren w ar,
wurde er vertrieben und sein Sohn des T hrons verlustig erklärt. Und ein
Gesetz bestim m te, d aß die T hronfolge n u r einem protestantischen Zweige
des K önigsgeschlechts zustehe. Man m achte aber statt dessen Jak ob s
Schw iegersohn zum K önig. D as L an d änderte also den Glauben des K ö ­
nigs. E s w ar H e rr gew orden über ihn. E r stand nun in der anglikanischen
K irch e, n ich t über ih r.
U nd das alles ta t m an unter B eru fu n g au f das ,,alte“ R ech t.

7. D as Große Siegel. M o ru s.
W a s w ar denn das alte R e c h t?
Ü ber den nüchternen Steuerzahlen, die zwischen G ountry und R ealm
seit W ilh elm dem E ro b e re r verm itteln, waltete von je h e r ein Sym bol: das
G roß e Siegel von En glan d. D er N orm annenkönig d a rf n u r u n ter dem G ro­
ßen Siegel von E n glan d seine englischen Lan d e regieren, belasten, laden
und aufbieten. D ad u rch ist gew ährleistet, d aß sein B efehl aus der eng­
lischen Kanzlei stam m t und d aß der englische Lan desbrauch in dieser
Kanzlei zu seinem R e ch t kom m t. Zwischen B ra u ch und R ech t verm ittelt
das G roße Siegel. D er F re m d h e it der D ynastie en tsp rin gt die B edeu tung
dieses G roßen Siegels. In zwei entscheidenden Stunden d er englischen Ge­
schichte h at die F r a g e d er F ü h ru n g dieses G roß en Siegels das Schicksal
des Landes entschieden, i 5 3 5 und 1 6 8 8 . D eshalb m u ß m an die G efühle
d er V erehrun g und heiligen Scheu kennen, die den gem einen M ann, C om ­
m ons und people o f the G ountry, angesichts des G roßen Siegels erfü llten .
Zwischen W illk ü r und R e ch t des K ö n ig -E ro b e re rs stand n u r das G ro ß e
Siegel. Denn sein F ü h re r, der K an zler sollte ein E n glän d er sein und kein
N orm anne. E r w ar d ah er kein erblicher L o rd und e r ist es bis heu t n ich t.
E r ist ein B eam te r, aber ein einheim ischer, d er G aran t des V olksrechts
im R a t der K rone. E r leitete die V erhandlungen des P arlam en ts, au f dem
W ollsack im Haus der L o rd s sitzend. W eg en dieser seiner Stellung zwi-

278
Das große Siegel des sakralen Realm bis 1640 (mit London)
(A us W y o n , A. B . u n d B ., 1 8 8 7 )
(Text S. 12 ff., 187, 278 ff., ,397)
sehen dem K önig und dem Lande hieß der K anzler von England nicht nu r
G roßsiegelbew ahrer. E r hieß zugleich „B ew ahrer des K önigsgew issens 1“ Das Gewissen
(K eeper of the kings conscience.) des Kowgs
Diese Stellung erm öglichte dem K anzler, in foro conscientiae, also d o rt
wo die Billigkeit es verlangte, fü r den K önig R ech t zu sprechen über das
L an d rech t hinaus. Diese den kirchlichen Kanones entstam m ende nur im
Gewissen gebundene R echtsprechung des K önigs w ar das Palladium des
englischen Volks im späten M ittelalter.
Als H einrich V III. das O berhaupt der K irche von England du rch a ct
o f P arliam en t w urde, versagte sich diesem V organg der populärste K anz­
ler Englands T hom as M orus. D as G ew issen des K ö n ig s ging n ich t m it h in ­
ein in die neue Z e it der R efo rm a tio n / D er G roßsiegelbew ahrer sandte
sein Siegel zurück. E r wurde nich t m üde, auszusprechen und seinem N ach­
fo lg er einzuschärfen, daß m an dem F ü rste n n ich t sagen solle was er alles
könne, sondern n u r das was er solle. M orus ist wohl eine der g roß artig sten
Erscheinungen aller Zeiten und aller Völker. Aber er h at fü r die eng­
lische G eschichte eine ganz besondere Bedeutung. Mit ihm erlischt die
M acht des K anzlers über das Gewissen des K önigs. M orus wird fü r seine
Standhaftigkeit hingerichtet und beendet dam it das englische M ittelalter.
D er heilige T hom as a B ecket von C anterbury, den H einrich II. hatte er­
schlagen lassen, hatte als M ärtyrer die F re ih e it der K irch e von E n glan d
erstritten und seitdem w ar bis zu T hom as M orus die katholische K irch e in
E n glan d ein Bollw erk gegen die T yrannei der K önige gewesen. M orus
w ußte um diese seine Lage. E r ging aus dieser W e lt an eben dem T age,
den er sich d afü r am m eisten gew ünscht h atte, näm lich am T hom astage.
D er englische K anzler kann eben das Gewissen des K önigs n u r als katho­
lisch er K anzler sein. Denn nu r solange steht h in ter diesem B e g riff des
königlichen Gewissens eine ganze W e lt von unabhängigen Leh ren , E in ­
richtun gen , R egeln, Personen, Schulen und kann diese Gewissen in allen
G eschäften des Staatslebens form en und inform ieren, als die gesam te
K irche. D er K an zler w ar m ithin das V erbindungsstück, d u rch das G eist
und N orm des m ilden kanonischen R ech ts dem norm ännisclieii F re m d ­
h errsch er zu gefü h rt wurde.
Mit M orus H in rich tu n g verlor diese F unktion ihren Sinn. D as Ge­
wissen des K önigs schöpfte nun n ich t m e h r aus d er K irch e seine K ra ft­
ström e, sondern aus d er physischen P erso n des F ü rste n . An die Stelle
d er K irche tritt d er einzelne F ü r s t selber.
In E n glan d konnte auch n ich t wie in D eutschland die L eh re der R eli­
gionspartei und d er U niversitäten ein G egengew icht gegen die Selbstüber­
hebung des F ü rsten sch affen .
So ist seit 1 5 3 5 E n glan d in G ärung. A uf d er einen Seite besteht die ge­
heimnisvolle M acht des G roßen Siegels noch äu ß erlich fo rt. N och im
1 7. Ja h rh u n d e rt h e iß t der englische K anzler „d er M und, das O hr, das

279
Auge und das eigentliche Herz des Fürsten, sein Gericht des K ö n igs H o ­
her Gerichtshof des Gewissens, an kein Herkom m en gebunden“ 1 und
Coke nennt das Große Siegel den „Schlüssel des R eichs“ 2. U nd eine der
berühmtesten richterlichen Entscheidungen, die den Ausbruch der P u ri-
tanerrevolution m it verschuldet hat, stützt sich auf die V ollm acht des
G roßen S ie g e ls : „ W ir meinen, daß wenn das W o h l und die Sicherheit des
Königsreichs im ganzen betroffen werden und das K önigreich in G efahr
ist, kann Eure M ajestät durch Ausschreiben unter dem Großen Siegel von
England allen Untertanen gebieten, so viel S ch iffe usw. auszurüsten als
Sie fü r nötig halten und d arf das erzwingen. W ir glauben ferner, daß in
solchem F alle Eure Majestät der einzige Richter ist sowohl über die Ge­
fahr seihst, wie über den Zeitpunkt und die M ittel zu ihrer Abwehr, und
V erhütung.“ Män erm ißt, was der A u sfall der K irche und des Gewissens­
bewahrers angesichts dieser V ollm acht bedeutete.
O hne G ro ß es Siegel schien das Land unregierbar. In dieser H o ffn u n g
hat Jakob II., als er 1 6 8 8 die F lu c h t erg riff, das G ro ß e Siegel von E n g ­
1
land in die T hem se gew orfen 3 M an h at das Jakob besonders vorgew or­
f e n 4 und erklärt, ein K ö n ig, der das Land ohne G ro ßes Siegel zurücklasse,
danke dam it ab. A u ch war man eben deshalb in gro ß er Verlegenheit. W ie
wollte man das Schatzam t an w eisen? W ie sollte m an W ah len ausschrei­
b en ? D er Prinz von Oranien hat dann die Anweisungen an das Schatzam t
eigenhändig „ L e t this be paid“ unterschreiben müssen. N o ch am E n d e
des 18. Jahrhunderts h at das G ro ß e Siegel zu einer staatsrechtlichen F ik ­
tion herhalten müssen, um trotz der Geisteskrankheit des K ö n igs die K o n ­
tinuität der Staatsgeschäfte vorzutäuschen. A ber die V o llm ach t des Siegels
und seiner Bewahrer w ar längst gebrochen 5.
Jene oben ausführlich m itgeteilte E n tscheidun g zugunsten der Steuern
unter dem G ro ßen Siegel h at gerade die Revolution m it hervorgerufen.
U nd im 1 7 . Jahrhundert tritt an die Stelle des Lordkanzlers, der bei den
Lords den Vorsitz hat, als der w ichtigste M ann der R egieru n g der Erste
L o rd des Schatzam tes, der im Unterhause das B u d g et einbringt.
D as „G ew issen“ des K ö n igs ist zerstört. Aber nicht klaglos hat das en g­
lische V olk die H inrichtung Thom as M orus hingenom m en. So freu d ig die
O berschicht m it der R eforihatien^m itging, so bedeutsam ist die W ir k u n g
M orus, des standhaften Katholiken, a u f die F olgezeit. M orus Leben ist

1 Egerton, Certaines observations, 1651. 2 F. J. c. 8. 8 Die Anfertigung dieses Siegels


hatte 1686 die ungeheure Summe von 212 £ gekostet. State Papers Calendar of Treasury
Books 8, 628. 4 without so much as leaving a Guardian or Great Seal behind him.
22. 1. 1689. State Tracts I, 234. 5 Immerhin sagte der demissionierende Lordkanzler
Haldane noch am 4 - Nov. 1924: The great Seal under the Constitution of this country
was an extraordinary instrument. Whoever had it in bis possession was Lord Chancellor
with all the powers of the Lord Chancellor. Constitutionally he could exercise them.
It might require a Statute to undo things which he could do at that moment if evilly
mindet. County Library Conference. ?

28 0
näm lich die erste englische Biographie geworden. U nd in dieser B iogra­
phie quillt zuerst die englische Beredsam keit des D ialogs. Thom as M orus
Hausgespräche und seine B riefe sind die ersten Belege dessen, was wir
unter englischem W itze verstehen. „U n d welchen Scherz er im m er vor­
brachte, so lachte er nie selbst bei irgendeinem , sondern sprach so ernst­
haft, d aß nur wenige an seinem Blick unterscheiden konnten, ob es ihm
Ernst oder S p a ß 1 “ . E r ist der populärste Kanzler gewesen.
Das Volk sang au f den Namen M ore:

A ls ein Jahr Kanzler war L o rd More


R u m o rt’ kein Streitfall mehr.
Solch mores kom m en nie m ehr vor
Bis zu Mores W iederkehr

Aus Ropers M orusbiographie hat Shakespeares D ialogku nst geschöpft,


wie Cham bers erst neuerdings erm ittelt hat. A u ch andere seiner W o rte
leben durch Shakespeare fort, wie das über den Undank der M en sch en :
D er Menschen Gutes schreiben wir in Staub, das kleinste U nrecht aber in
Marmor. D as B lu t Mores h at der englischen Sprache die Z u n ge gelöst. D er
Bürger, der Hausvater, der Einzelne, der Christ, sie haben zuerst an dem
Bewahrer des Gewissens des K ö n igs ein V orbild christlicher Sprache er­
halten. A u f diese W eise drückt sich die W u c h t des Ereignisses aus, das wir
in M orus’ H inrichtung zu sehen haben. E s ist der D ruckpunkt, der P u n kt
des Ärgernisses, der den U m sturz heraufbeschwört. S o steht M orus T o d
neben der A u fh eb u n g des Edikts von Nantes, neben der Verbrennung von
H uß oder neben dem Sturz der Päpste in Sutri. Solche Ereignisse m achen
die dereinstige Revolution bereits unverm eidlich.
Aber es verhält sich freilich m it M orus auch wie m it den anderen T ie f­
punkten. N ic h t die H ugenotten haben die französische Revolution ge­
macht. N ich t ih r G edankengut hat 1 7 8 9 gesiegt. S o hat auch M orus als
Katholik nicht dem neuen Gewissen von E n gla n d seine Sprache übereignen
können.
D as G edankengut des neuen Gewissens entstam m t der Linkspartei der
vorangehenden Revolution, dem Galvinismus. E s ist ein kräftiger Schritt
ins Diesseits, den die Prädestination des Galvinism us bedeutet. A ls W il­
helm III. am 5 . N ovem ber 16 8 8 in Torbay landet, n im m t er den B isch o f
Burnet herzlich an der H and und fr a g t ihn, ob er nicht k ü n ftig an P rä ­
destination glauben wolle. A n ihren F rü ch ten sollt ihr sie erkennen —
das ist, untheologisch ausgedrückt, die Lehre der Prädestination. Ihr seid

1 Witty Apophthegmnes (London 1658).


8 When M o re one year had Chancellor been,
No cause did m o re remain.
The same will never m o re be seen,
Til Morus comes again.
alle endgültig geschaffen. W ie ihr euch tum m elt in dieser W elt, sprecht
ihr das Urteil aus, das G o tt über euch ge fällt hat von Anbeginn.
An die Stelle des Jüngsten Gerichtsurteils tritt also in dieser Lehre das
Ersturteil über den Menschen bei der E rsch affu n g. Von der Apokalypse
zurück bis zur S ch öp fu n g springt das Denken über die B eru fu n g des C h ri­
sten. An sich lä ß t sich eschatologisch in der Erw artung des Reiches Gottes
dieselbe englische H altun g des Mannes rechtfertigen wie m it der Präde­
stination.
Lost D aher ist auch im englischen Puritanism us die Prädestinationslehre nur
ein W e g unter mehreren geworden, den die späteren Sekten, die D issen­
ters, die Nonconform isten gegangen sind. Aber es kündet sich an die W e n ­
dung vom Ende zum A n fan g, vom W eitende hinüber zur W eltsch öpfu n g.
U nd die englische Revolution ist recht eigentlich dieser V o rgan g der W e n ­
dung des Gesichtes der Menschen vom Tode und vom W e ltgerich t zurück
zur Geburt und zum A n fa n g der W elt. Von Eden her deutet er die W elt.
‘Kein deutscher Trauungschoral dürfte lauten wie der von K e h le :

T h e voice that breathed over Eden


T h a t earliest w edding day,
T h e prim al m ariage blessing
it has not passed a w a y . . .
as Eve thou gav’st to A dam
o u t o f his own pierced side.

E in groß es S y m b o l: M iltons Paradise Lost, erschienen 1 6 6 7 , besingt


A dam s F all. D as ist ein deutliches G egenstück zu Dantes W e ltgerich ts­
gedicht. D e r B lick der Menschen vollzieht also eine D rehung. Luthers
deutsche R eform ation hatte Gottes G ericht über die einzelne Seele ergrün­
det und hatte dieses G ericht den Techniken der Röm ischen K irche ent­
rissen. L u th er hatte die Seele einsam vor Gottes Thron gestellt. G o tt und
die Seele lautet Luthers Grundvision. D ie G ip fe l der W e lt, die F ü rsten und
die Staatsm änner hatten in dieser Lehre ihre persönliche L a g e und ihr
einsames Schicksal w iederfinden können. U n d so war ‘d ie R eform ation die
Herzenssache der O b rigkeit geworden.
Paradise Lost, das verlorene Paradies ist M iltons Vision. D en B u n d m it
G o tt w iederzuknüpfen ist das A nliegen der K inder des M enschen. Diesen
B und k n ü p ft nich t der einzelne. Ihn k n ü p ft das Zusam m enwirken vieler ;
den B und, den Adam s F a ll n ö tig m acht, k n ü p ft das auserwählte V olk. E s
spricht „d ie Sprache K anaans“ , die gleich falls die aus der englischen R e ­
volution a u f dem Festland angestoßenen Gem einschaftskreise sprechen.
H ierauf beruht das G eheim nis des christlichen Volkes in E n glan d. D en
R eichtum vieler selbständiger Tätigkeiten zu einem gro ß en Ziele hin zu
vereinigen verm ag diese W e n d u n g von der Seele (des Fürsten) zum B und
(des Volkes). D as ist das, w o rau f es den Puritanern ankom m t. D eshalb

282
brauchen selbst die Quäker den Glauben an die Gem einschaft, an die ge­
meinsame Andacht, an das erfolgreiche Zusammenwirken. A n den Q uä­
kern tritt die radikale Um kehr sehr g u t hervor gegenüber dem Glauben
Luthers. Luthers Glaube bedarf der Bibel, des Katechism us, des Bekennt­
nisses, der Predigt, dam it sich die einzelne Seele des R eichtum s des W orts
bem ächtigen könne. D a fü r ist draußen in der W e lt der lutherische F ü rst
stumm, ohne Sprache, ohne M einungsaustausch, einsam in seinem G e­
wissen. N ach außen beschränkt sich die Seele au f die B erufung, auf ihr
Gewissen, au f ihren Standpunkt, au f ihre W eltanschauung. Eine weitere
Diskussion findet nicht statt. Sie wäre sinnlos. „H ier stehe ich, ich kann
nicht anders.“
Genau um gekehrt sind die Proportionen zwischen dem geistlichen und Quäker
dem politischen Sprachschatz des Quäkers. E r kann seinen geistlichen
W ortreichtum au f ein M indestm aß einschränken, er kann durch gemein­
sames Schw eigen Katechism us, Bekenntnis usw. verdrängen. D a fü r braucht
er die gem einsam e Rede fü r die großen W erke der Kolonisation, der Skla­
venbefreiung, der Gefangenenspeisung, zu denen er au fru ft und in denen
er seine „F reu n d e“ a u f der ganzen W e lt wiedererkennt. W illia m Penn
ist der gro ß e Prototyp dieser sparsamen Theologie und dieses R eichtum s
an politischer Sprachkraft der Quäker. A ber die Q uäker sind ein Grenz­
fall. D ie Puritanische B ew egu ng braucht zwar diese Radikalen, um im
ganzen zu dem E rgebnis zu kom m en, das seit M orus fe h lt; zu einem E r ­
satz fü r das Gewissen des K önigs. Aber keine einzelne Sekte hat dieses
Gewissen ersetzen können. D enn ein solcher Ersatz wäre nicht erreicht
worden, wenn irgendeine, und nun gar eine extrem e Lehre zu festen
Richtschnur der Geister geworden wäre. Etw as anderes w urde benötigt
als Ersatz des Gewissens des K ö n ig s : die S c h a ffu n g der public opinion.
D ie K ö n ige seit H einrich V I II. hatten durch Sondergerichte ihre G e ­
richtsbarkeit in Sitten - und Gewissenssachen aufrechtzuerhalten ge­
sucht. Aber diese Sondergerichte m achten eben seit Morus* Sturz den E in ­
druck nicht der Gew issenhaftigkeit, sondern der W illk ü r und fielen daher
im Ansturm der Puritaner. 1 6 6 5 in der Restoration begegnete es daher,
daß ein Mann trotz schamlosen Benehm ens in der Ö ffe n tlich k eit nicht be­
straft werden konnte. E s fehlte das Gewissensgericht.
H ier nun tritt ergänzend die public opinion ein. Sie ist die gro ß e M acht public
des englischen Lebens geworden, die bald diese bald jene M einung wie in
langsam em vorsichtigem Anschwellen der F lu t hinein w irken lä ß t in die
Gesetzgebung. D iese public opinion ist nicht einfach der Zeitgeist. Sie ist
die christliche Glaubenssprache des people o f E n glan d. D eshalb steht statt
public opinion im 1 7 . Jahrhundert noch das volle W o r t des G lau b en s:
Man spricht von public spirit, von dem Geist, dér den populus durch­
zieht 1.
1 Public spirit zu verbreiten hofft die Vorrede der Ephemeris Parliam. von i 6 5 4 -

283
E s wurde die Geburtsstunde der neuen englischen V erfassung, als das
Parlam ent bew ußt und absichtlich an den public spirit appellierte. G e­
schehen ist das in der G rand Remonstrance von i 64 i .
Diese erste gro ß e K u ndgebung des Unterhauses erging in dem A u gen ­
blick, in dem K arl I. siegreich aus dem Felde gegen die Schotten zurück­
kehrte. D ie Puritaner in dem Parlam ent fürchteten von des K ö n igs neuer
M acht für ihr Leben und beschlossen, sich durch diese K u n dgebu n g zu
schützen.
So ernst em pfanden sie die Lage, daß Gromwell nach der A bstim m ung
erklärt hat, er und seine Freunde würden H ab und G u t verkauft haben
und ins Ausland gegangen sein, falls sie nicht durchgegangen wäre!
D ies ist ein seltsamer Z u g der englischen Revolution, aber ein weittra­
gender. D ie C om m o n s appellieren an die öffentliche M einung, um sich
gegen den K ö n ig zu schützen. Sie stellen also durchaus nicht etwa selber
die öffentliche M einung dar, sondern sie, die Gem einen stehen zwischen
dem people und seinen Überzeugungen einerseits, dem K ö n igtu m anderer­
seits. Diese Zw ischenstellung ist das Geheim nis des Unterhauses. D er
P u blic spirit w ird sozusagen als der Gewissensbewahrer des neuen K in g
in Parliam ent des Unterhauses tätig. W äh ren d der Revolution taucht üb-
^Hüterder rigens charakteristischerweise einen A ugenblick als Ersatz des „Rewahrers
des K önigsgew issens“ (Keeper o f the K in gs conscience) der N am e und das
A m t „Rew ahrer der F reiheit von E n g la n d “ — K eeper o f the liberty o f
E n g la n d — au f!
M it sicherem Instinkt ist hier die Stelle getroffen , wo O liver Grom well
sühnen m u ß , was Thom as Grom w ell angerichtet hat. D en n O liver tr ifft
a u f das Gespenst des Thom as Morus. Thom as Grom well hatte das G ro ß e
Siegel em pfangen, als T hom as M orus n ich t m ehr Bewahrer des K ö n ig s­
gewissen hatte bleiben können. Thom as Grom well hatte darau f den act
o f Suprem acy durchgesetzt. Jetzt aber w eht der P u b lic spirit m achtvoll
durch E ngland, Oliver C rom w ell h at dem K ö n ig tu m den G ladius spiri-
;em Bußtag tualis entwunden. Entsprechend feh lt der landesherrliche B u ß ta g der L u ­
theraner im anglikanischen K a le n d e r! So genau bildet* auch hier der K a ­
lender (oben S. m , S. ib y und S. 2 48 ) die neue O rd n u n g ab.

8 . D as schottische K irch en rech t


D er Einstrom dieser religiösen Sprache in die der Com m ons ist aber recht
eigentlich das Geschenk der Schotten an die Engländer.
D ie D opp elherrschaft über beide R eiche hatte, weil die B edro h u n g an
den Grenzen fortfiel, die K ö n igsm ach t seit Jakob unerträglich gesteigert.
Jetzt teilt sich ebensoviel Zuw achs an M acht, wie ihn die Stuarts zuerst an
sich zogen, den Gem einen m it aus dem religiösen K a m p f der Schotten.
D as kleine Volk der Schotten (m it vielleicht dem fü n ften T e il der E in ­
w ohner E n glan ds) hatte in der Staatsverfassung den E n g lä n d e rn ; nichts

284
zu lehren. D ie Schotten selbst haben denn auch diese politische Revolution
nicht vollbracht; denn dann würden wir ja von den Schotten, und nicht
von Crom w ell und W ilh elm III. die englische Revolution zu datieren ha­
ben. D ie Schotten hatten d afü r aber ihre K irk königsfrei organisiert, Kirk
und zwar radikal. D ies ist ihre w ichtige Beisteuer zur großbritannischen
Verfassung. E s gab in Schottland streng entsprechend Calvins Theorie
zwei „K ön igreich e“ , näm lich eines unter dem K ö n ig, das andere aber war
das K önigreich Gottes I In diesem kirchlichen Königreich, dem Gleichnis
des kingdom o f G o d sei auch der K ö n ig wie ein anderer Untertan, und sei
nicht das Kirchenhaupt. D en Presbytern, die dies geistliche R eich regier­
ten, stand ein Gottesgnadenrecht zu, wie den K önigen in ihrem. D em Adel
sei, so lehrte K nox, da M aria Stuart ihre R eform ationspflicht versäum t
habe, als der nächsten G ew alt unterhalb des K ö n igs die P flic h t zugefallen, Die „unteren“
die K irche zu reformieren. Dieser Ü bergang auf den nächsten Heerschild, Gewalten
die nächste soziale R angstufe wurde noch nicht so begründet, wie das
heut üblich ist, so als ob an die Stelle des K ö n igs „das V o lk“ träte. Einen
so verschwommenen B e g r iff der Beauftragten wäre bei den Clans der
Schotten lächerlich erschienen, wo jeder C lan die G e fo lg sch a ft adliger
Führer bildete. D ie Antithese F ü r st-V olk wurde vermieden oder genauer
gesagt, sie la g außerhalb des Horizontes. Sondern „aus der M acht, wel­
che die Lords in Schottland besaßen, entnahm K n o x, d aß ihnen die P flic h t
zur R eform ation obliege. Denn nicht für sie selbst seien sie Herren, son­
dern um ihre Untertanen und Angehörigen in Schutz zu nehmen. W en n
das oberste Haupt die nach göttlichem Gesetz notwendige R efo rm ver­
zögere, kom m e das R ech t und die P flic h t dazu an die unteren Gewalten'
(Ranke). D am it h at also die schottische K irche zunächst als K irche die
„unteren G ew alten“ des Landes an K ön igsstatt erhoben. U nd das ist ihre
M itgift an die „unteren Gew alten“ E n glan ds geworden. N ach der V er­
einigung der K ronen beider Reiche hätten die K ö n ige ihr englisches K ir ­
chenrecht gern nach Schottland gebracht. Jakob I. h at im H inblick a u f
die schottische Volkskirche das leidenschaftliche W o r t g e p r ä g t: N o bi­
shops no king. O hne B ischöfe schien ihm das K ö n igsam t ein leerer Schat­
ten. E inem m it den deutschen Reichsfürsten sich vergleichenden O ber­
haupt der englischen K irche m u ß te der Zustand in Schottland unerträg­
lich erscheinen.
D er K ö n ig tru g also die Revolution von oben hinein in die K irche von
Schottland. A ls K arl I. gar einen B isch o f zum K anzler von Schottland
machte, haben die Schotten das vergolten, indem sie den Funken der R e ­
volution von unten in das Parlam ent von E n gla n d hineingew orfen haben.
D er A u fru h r des schottischen Gonvenant h at K a rl I. so in die E n ge ge­
trieben, d aß er i 64 o kein G eld m ehr hatte fü r die N iederw erfung der
Schotten. D araufhin berief er notgedrungen nach zw ö lfjäh riger Pause das
englische Parlam ent, in dem seine späteren R ichter saßen.

285
Die Synoden der Schotten haben also nicht etwa zu einer Gonvenant-Be-
w egung in E n glan d geführt. Sondern seitdem bem ächtigt sich das eng­
lische Parlam ent der Verantwortung fü r die Religion. Schotten und E n g ­
länder werfen sich dies Kirchenrecht der „unteren Gew alten“ und das
Geldbew illigungsrecht der Gemeinen gegenseitig zu!
D ie U m w ertung aller W erte in E n glan d unter dem D ruck der neuen
L age illustriert gu t die Denkm ünze, die das Parlam ent 1 6 4 2 nach dem
Bruch m it dem K ö n ige schlagen ließ. D as vollständige Parlam ent ist au f
der einen Seite abgebildet, K önig, Oberhaus und Unterhaus. D er parla­
mentarische Absolutism us der Gemeinen tritt also nicht unm ittelbar her­
vor. Aber die M ünzlegende spricht um so deutlicher durch ihre U m keh-
niaiektik der rung der R eihenfolge. Sie la u te t: „ F ü rReligion, Gemeinde (grex) und
Revolution “ j n dieser R eihenfolge wird die W ertskala der Parlam entsrevolu­
tion klar ausgedrückt. D er K ö n ig steht zuletzt. W ir haben bei M arsilius
von Padua (auf S. 2 1 6 ) eine ähnliche U m kehrung der R eihen fo lge als Zei­
chen seiner revolutionären Gesinnung aufgezeigt. D ie U m w ertu ng der
W erte gehört zu jeder Revolution. A ber noch ist auch fü r die englische
Revolution R eligion der Motor. W ie w enig „hum anistisch“ oder „w elt­
lich “ man dachte, geh t z. B. daraus hervor, daß E n glan d den kirchlichen
5
Jahresanfang des 2 . März (statt des bürgerlichen am 1. Januar) bis 1 7 5 1
aufrecht erhalten hat. R eligion bedeutet aber als Lebensform ein Denken
in der K irche freilich auch innem alb dieser K irche eine B evorzu gung des
Populus, der K ongregation, gegènübeïr dem R ex und dem Klerus.
V orübergehend beseitigt C rom w ell die gesam te B ischofsverfassung,
das P rayer-B o ok und versucht eine Presbyterialverfassung. Aber auch die
Restauration kann die alte K irche nicht wiederherstellen. 1 6 6 2 verlieren
die englischen B ischöfe und ihre Synoden die Finanzhoheit und W aller
konnte d ic h te n :

Convocation (die Synode) continues no longer to sit


Because nobody sees any use fo r it.
i

Das Parlam ent stürzt sich geradezu au f die Religionssachen. D ie K irche


w ird dem Parlam ent untertan. D as ist der Inhalt der Restaurationszeit.
D as Com m onprayer w ird 1662 durch act o f parliam ent w ieder einge­
führt, und zwar wird nun die Fü rb itte fü r das Parlam ent darin au fgen o m ­
m en aber die „G re a tR e b e llio n “ verdam m t! O bw oh l diese Verdam m nis darin
stehen geblieben ist, siegt die G entry doch nicht nur als herrschende
Klasse.
D enn auch der Puritanism us behält den Siegespreis des S a b b a ts : D as
book o f Sports fü r die Sonntage w ird nicht wieder freigegeben, m erry old
E n glan d also kann nicht einfach wieder hergestellt werden. K arls I.
Bem ühen um Leichtsinn und ,good tem per4 der N ation fin det hier seine
Schranke. N ich t K arl I. siegt 1 6 6 2 , sondern der K in g in Parliam ent. A lle

286
Geistlichen werden ausgestoßen, die sich nicht ehrlich zur neuen Litu r­
gie bekennen. Diese 2000 Geistlichen bilden den Grundstock der nun in
Nonkonform isten notgedrungen umgewandelten Puritanerkirche. Im Test­
eid von 1 6 7 2 schließt das Parlam ent von allen Äm tern in K irche und
Staat den aus, der nicht die K irche von E ngland m it dem K ö n ig als Ober­
haupt glaubt, (nur daß man jetzt unter K ö n ig den Scheinkönig „in Par­
liam ent“ verstehen m u ß ).
A u f diesen religionspolitischen M aßnahm en beruht weitgehend die poli­
tische V orm acht der Gentry auf der Insel. N ach alle dem ist die U nion
der Parlam ente im Jahre 1 7 0 7 und der Reiche E ngland und Schottland
unter dem Nam en Great Britain die selbstverständliche F ru ch t der R e­
volution. Crom w ell hat Schottland bereits m it E n glan d vereinigt.

9. W higs u n d T o ries
Seit der B eratung der Great Rem onstrance teilt sich das Unterhaus in die
Partei, die an den K ö n ig sich wendet und sich als des K ö n igs Parlam ent
fühlt, und in die, die an das V olk appelliert.
Kein Program m , sondern diese verschiedene H altung zu den anderen Appell an das
Mächten des englischen Lebens hat den Unterschied zwischen R u ndköpfen Volk
und Kavalieren, den späteren Tories und W h ig s geschaffen. Beide ver­
fechten gem einsam die Rechte des Parlam ents. Aber sie unterscheiden sich
in ihrer W e n d u n g an den K önigsstaat einerseits oder an den popul us
christianus andererseits. W irk lich in ihrer W e n d u n g 1 i 6 4 i erklärt E d ­
ward D erin g bei der A bstim m ung über die R em on stran z: W a s ist das fü r
ein Schriftstück, in dem der K ö n ig in der dritten Person genannt wird?
Die Gemeinen hätten zum K ö n ig zu reden, nicht von ih m ! U n d er lehne
es ab, „n ach unten“ , „dow nw ards“ zu appellieren und dem V olk G eschich­
ten zu erzählen. D erin g blieb nur m it i 48 gegen 1 6 9 Stim m en in der
Minderheit, so neu war das Vorgehen der Revolutionäre. Clarendon nennt
die grand rem onstrance wie D erin g: der Sache nach ein A ppell an das
Volk. D ie Partei dieses Appells an das V olk h at 16 48 fo lgerich tig ver­
boten, sich m it irgen d etwas an den K ö n ig zu wenden!
D iese Zw ischenlage der Com m ons zwischen K ö n ig und V o lk zu si­
chern ist der Inhalt der englischen Revolution. D as U nterhaus ist dabei
vergleichbar einem in einen m ächtigen Strom hineingebauten Schw im m ­
becken. D enn es sucht gleicherweise in seinem B au A n lehn un g an die
Technik und die Form en strenge des Parlam entsrechts des K önigsreichs
wie es andererseits den m ächtigen Strom des Volksgeistes in seinem W o ­
gengang bald m ehr, bald m inder stark in seine W än d e einströmen läßt.
Die Com m ons vertreten aber noch heute nicht das V o lk in dem Sinne
wie das au f dem K o ntinent verstanden wird. Denn sie haben ihre G e­
walt nicht vom Volke, sofern m an die gesellschaftlich entordnete Masse
der Urwähler überhaupt V olk nennen will. Angesichts der grotesken M iß -

287
Verständnisse über den Sinn des Parlam ents und der Repräsentation bei
uns sei Burkes W o r t darüber a n g e fü h rt:
„D a s Haus der Gemeinen ist zweifellos kein Repräsentant des Volkes,
als einer S am m lun g von Individuen. Niem and behauptet das, niemand
kann solch eine Behauptung rechtfertigen.“
Bis heute ist die „U n gerech tigk eit“ des englischen W ahlrechts, das
sich m it relativen Stim m ehrheiten begnügt, fü r deutsche B e g riffe un­
geheuerlich. V om Standpunkt des englischen Staatsrechts versteht sich
diese U ngerechtigkeit von selbst. D enn es handelt sich nicht darum , die
Ansichten im Volke genau proportional abzuspiegeln. E in solches Parla­
m ent wäre ja ein bloßer W iderschein, also ohne eigene Persönlichkeit
und K raft. D ie Gem einen sind aber selbst etwas, auch ohne das V o lk !
D er K a m p f um das neue W ahlrecht, den die Liberalen aufgenom m en
haben, wäre der V erzicht a u f den Parlam entarism us im bisherigen Sinne.
D ie Liberalen selbst haben das klar erkannt und bereits erklärt, d aß dann
die Parteien aufhören m üßten, einander bedingungslose O pposition zu
machen.
D ie E in w irku n g der öffentlichen M einung a u f die Parteien ist eben des­
halb in E n glan d nie durch Parteiprogram m e, sondern durch die reli­
gionspolitischen Bew egungen im Volke geschehen. (W ilb er force!)
D ie G ran d Rem onstrance b rin gt ihre U rheber in Lebensgefahr. U m sie
zu schützen, rüstet das H aus eine Arm ee. D ie Tories verlassen London
und gehen zum K ö n ig. V om ersten T a g e an m u ß nun das P arlam ent
seine Sache dadurch populär m achen, d aß es sie m it der Sache der R eli­
gio n identifiziert. D e r gem eine M ann hätte vielleicht gegen eine starke
K ö n igsgew alt so w enig einzuwenden geh abt wie a u f dem K o n tin en t;
wenn man ih m nicht nachweisen konnte, d aß er auch um seine christ­
liche Volkssprache kom m en werde. D ah er ertönt von i 64 i an ununter­
brochen, sooft das Parlam ent das V olk braucht, der R u f : D as P a p st­
tum kehrt zurück. D ie Rem onstrance ( 64 ) definiert kurz und g u t: „ D ie
Jesuiten wollten die Puritaner vertreiben oder ausrotten; dabei verstehen
sie unter Puritanern alle die, die des Königsreiches Rechte und Freiheiten
zu bewahren und die Religion in ihrer Kraft zu erhalten wünschen.“
D iese D efinition des B e g r iffs Puritaner ist ausgezeichnet, w eil sie die
D o p p elp o ligkeit des K am pfziels selbst klar ausspricht.
D ie G rand Rem onstrance forderte bereits, der K ö n ig wolle geruhen,
n u r solchen Personen Ä m ter in Staatssachen anzuvertrauen, denen das
P arlam ent begründetes Vertrauen schenkt. D ies ist der W e g der P arla­
m entsherrschaft geworden. W a s P y m hier klar vorhergesehen hat, ist
noch zw eim al nach 1 6 8 8 in F r a g e gestellt worden durch das Verbot fü r
D iener des K ö n igs, im U nterhaus zu sitzen. S o w enig theoretisch oder
system atisch ist diese indirekte E in sch n ü ru n g und E n tk räftu n g der kö­
niglichen G ew a lt durch das P arlam en t d u rch gekäm p ft worden.

288
D er B ürgerkrieg 1 6 4 2 — i 648 hat natürlich die Exekutive nur durch
Fiktionen in die Gew alt des Parlaments als eines beratenden, Körpers
bringen können. D ie neue Exekutive, die das Unterhaus aufbietet, das
Puritanerheer, erzwingt schließlich von seiner A uftraggeberin trotz deren
heftigen Sträubens die form elle Vernichtung der alten Exekutive, des
Königs. N icht dem Unterhaus selber, um so m ehr der puritanischen Armee
m ußte an der Legalisierung der eigenen Existenz liegen.
So w ird das Unterhaus gezwungen, seine Souveränität gegenüber dem
K ö n ig feierlich auszusprechen. D ie N atio A nglicana der m ittelalterlichen
W elt, bestehend aus K önig, Geistlichen und weltlichen Lords und C o m ­
mons, w ird nun allein repräsentiert, wie der fast unübersetzbare A us­
druck lautet, d urch the people of this nation (B eschluß vom 6.1. 1649).
Diese eigenartige W en du n g ist den Angelsachsen bis heut vertrau t 1. E s ist
dam it der B e g r iff des populus christianus, der in seiner Struktur aus der
Kirche stam m t, und zwar aus der K irchgem einde, sowie N atio aus der
Gesam tkirche, er ist dam it zum Souverän erhoben. E s ist die letzte kirch ­
liche und christliche M itg ift an die weltliche Politik in der L au fb ah n der
europäischen Revolution.
D er K ö n ig K arl I. kom m t vor den Hohen G erichtshof des Parlam ents.
Die Gem einen sind seine Richter. V ö llige U m kehrung des Parlam ents­
begriffs. K arl w ird verurteilt und hingerichtet, K ö n igtu m und Oberhaus
werden fü r ab gesch afft erklärt. D ie gleichzeitig aufrührerischen W ig g e r
bezeichnen den nie fehlenden linksradikalen kom m unistischen Feuerbrand
der Revolution. (D azu oben S. 1 0 1 . )
A m 19. Mai 1 6 4 9 E n glan d „ m it allen dazugehörigen H errschaf­
ten und G ebieten“ zum Com m onw ealth erklärt. W ir wissen heut, d aß
dies nur das erste Com m onw ealth geworden ist. A ber schon dies C o m ­
m onwealth ge h t aus von jener fraglosen und doch so paradoxen Vorherr­
schaft des Parlam ents, näm lich von der V orherrschaft über die nicht
englischen Gebiete des C o m m o n w ealth !
D ie revolutionäre Exekutive m u ß te sich — ähnlich wie G o ttfried von
Bouillon nicht K ö n ig , sondern Beschützer des heiligen Grabes wird —
außerhalb des Com m onw ealth als „P ro tek to r“ stellen. C rom w ell aber
bringt eben dadurch Schottland, E n glan d, Irland und W ale s alsbald au f
den F u ß der G leichberechtigung. E ine D enkm ünze von i 653 zeigt bereits
nach den Siegen über die H olländer die W ap p en der drei K ö n igreiche
vereinigt an einem Anker. D as R egierungsinstrum ent vom 16 . D ezem ber
i 653 „vereint die drei Nationen innerhalb des C om m onw ealth unter dem
Lord Protektor“ .
Von Schottlands ehrenvoller Schicksalsgem einschaft ist schon die Rede
gewesen. Aber was ist m it Irlan d ?

1 Siehe oben S. 60.

19 Hosenstock 289
1 0 . Irlan d oder die Seeherrschaft
Irland — hier hat bekanntlich die böseste Stelle der englischen R evolu­
tionsverfassung bis 1 9 1 8 gelegen.
Irlands Schicksal ist wie die Geschichte der parlam entarischen R eli­
gionshoheit, gelesen in Spiegelschrift.
D er Absolutism us K arls I. hatte in Irland erfolgreich R uhe und Frieden
hergestellt. D ie A bberu fu n g des geschickten Vizekönigs S traffo rd und seine
A uslieferung an den H aß des Unterhauses durch K a rl I. i 64 o beschwor
fast gleichzeitig den furchtbaren A ufstand der Iren herauf. 2 0 0 0 0 0 P ro­
testanten, m einte m an, seien i 64 i von den Iren erm ordet w orden ! D ie
Katholikentreue Irlands ist seitdem fü r das U nterhaus der Alpdruck. D enn
dieser Stu tzpunkt des Papsttum s bildet fü r jeden englischen K ö n ig einen
denkbaren A usgan gspu n kt neuer M achtentfaltung. H ier g ilt ja nicht das
englische C om m on L aw ! 5 M illionen Acker Land hat C rom w ell den iri­
schen K atholiken abgenom m en. Tausende von irischen Burschen und M äd­
chen hat er an die amerikanischen P flan zer verkauft als Sklaven.
Keine G ew alttat gegen Irland, die n ich t von der A n gst um die Freiheiten
in E n glan d gu tgeh eißen worden wäre. Irland gegenüber haben die Stuarts
größ ere E in sich t bewiesen als das Parlam ent. Aber eben darin sahen die
Gem einen das Staatsverbrechen ihrer K ö n ige. D ie Juristen wiesen nach,
d aß er die englische V erfassu n g verletze, wenn den Iren ih r Papism us
nachgesehen Werde! W a s w ir heut als selbstverständliche P flic h t eines
K ö n igs ansehen, w urde H ochverrat Jakobs II. A lle Gew alt, Z ivil und M ili­
tär, la g in irischen H änden unter ihm . „ H ie ß das handeln wie ein K ö n ig von
E n g la n d ? W a s sollen w ir davon d en ken ! Irland in papistischen H änden!
K ann der K ö n ig dies K ön igreich w egg eb en ?! D as M assaker von i 6 4 i wird
sich gegen uns in E n g la n d wiederholen. K ein papistischer Prinz in Eu ropa,
der n ich t alle Protestanten vernichten w ü rd e !“ S o sprach der 8 7 jä h r ig e
M aynard 1 6 8 9 . W e lch e Ü bertreibung! In D eutschland wurde gleich zeitig
der K u rfü rst von Sachsen persönlich katholisch uncl blieb trotzdem bis
18 0 6 Vorsitzender des C orpus der evangelischen Reichsstände. D as D a ­
sein von Religionsparteien erm öglichte dem einzelnen F ü rsten in D eu tsch ­
land, seine einzelnen Staaten in verschiedenem G lauben zu erhalten. D as
also schien in E n g la n d undenkbar.
Volksgeist H ier rächt sich die H eiligsp rech u n g des englischen Volksrechts. D e r von
der deutschen R om antik so gepriesene „ V o lk sg eist“ glaube h at die irische
T yrannei erm öglicht. D ad u rch wurden die Gem einen aus bloß en L an d ­
ständen das auserwählte L an d und V o lk schlechthin. D ie M agn a C h arta
E n glan d s d uldet keine frem den V o lkstü m er neben sich. D eshalb sind die
unendlichen G reuel in Irland im m er wieder geschehen, denn die eng­
lischen Stände glaubten sich ihrer M ach t n ich t ge w iß , solange der K ö n ig
etwa von Irlan d h er sich der Parlam entskirche von E n glan d entziehen

290
könnte. D ie Iren haben übrigens bis 1 7 9 2 nichts an die Kriegskosten zah­
len müssen, eine vernünftige Konsequenz. Aber es bleibt übrig genau die
Tyrannei, gegen die man aufgestanden war, mindestens so schlim m wie
die Finanzskandale der Päpste in Avignon oder die Serenissim uswirtschaft
der kleinen deutschen Höfe. Schon G e o rg II. rief in der Schlacht, in der er
die Tapferkeit der irischen Freiw illigen beim Feinde bew underte: F lu ch
den Gesetzen, die m ich solcher M änner berauben! W ah rh a ftig , keine dieser
Revolutionen hat vor den anderen etwas voraus. D er englische Parlam en­
tarismus beruht a u f einer naiven V ergew altigu n g der Iren. In dem V er­
einigten K önigreich von G roßbritannien und Irland ist Irland der Sche­
mel, auf den die Briten ihren F u ß stellen, um ihre eigene F reiheit zu er­
höhen. W ilh elm III. hat, Crom w ells Beispiel folgend, N ordirland durch
die „O rangem änner“ besiedelt und dadurch ist auch noch nach dem W e lt­
krieg N ordirland britisch geblieben. Aber die heutige Abtrennung Irlands
entzieht dem englischen Parlam ent seine religiöse Basis. U n d k ra ft dieser
Basis allein hat dies Parlam ent trotz seiner Beschränkung au f England die
W eltherrschaft erstreben und aufbauen können, die sich heut um die bri­
tischen Inseln legt.
W ie konnte ein Parlam ent von E n glan d erfolgreich die Exekutive be- Das aaserwählte
anspruchen und ausüben über C alais und Am erika, K apstadt und In dien ? Volk
Nur wenn es eine religiöse Ü berlegenheit keinen A ugenblick bezweifelte.
Als dem auserwählten Volke E u ropas steht ihm die zweite W e lt, die W e lt
der Meere zu. D ies meinten wir, als w ir betonten, d aß die englische R e ­
volution als eine europäische verstanden werden m u ß . A us dem G eist der
abendländischen Ü berlieferung heraus und nur aus ihm kam den E n g ­
ländern die K ra ft, an die eigene Sen du n g zu glauben. D eshalb ist die euro­
päische H erku n ft dieser englischen W e lt stets lebendig. E s ist keine R e­
densart, wenn Burke von der virtuellen E in h eit Europas spricht, wenn die
Engländer fü r B elgien in den K r ie g ziehen zu m üssen wähnen und wenn
sie für die unbedingte F reih eit in ihrer zweiten W e lt dem N iederländer
W ilhelm III. fast ohne Zaudern ihre „ B e fr e iu n g “ vom Joch des „ T y ra n ­
nen“ m it 20 jäh rigen K riegen zugunsten seines H olland a u f dem Festland
vergelten. E s ist die V erw andlung einer N ation E u ropas in den popu lu s
christianus, dem G o tt wie einst den Juden das L an d der V erh eißu n g, das
gelobte Land gew ähren will. D e r B ritish C om m onw ealth ist das Land, wo
Milch und H on ig fließt.
Diese E rh eb u n g des englischen Selbstgefü hls bew ährt sich eben an der
Blindheit und H ärte seiner irischen Politik.
Burke hat offen von der „ungeschlachten Ü berheblichkeit einer gro ß en
herrschenden N ation “ gesprochen. D ie G le ich gü ltig k eit gegen die B e­
herrschten in der zweiten W e lt außerhalb E u ropas ist das Kennzeichen
der englischen K o lonialpolitik bis heut. Sentim ental gegen das alte Euro­
pa, m it Rom , H eidelberg, dem Escurial und Paris, ist der En glän der im -

19*
291
Stande, die Existenz von Rasse und Glauben in den Kolonien zu ignorieren,
über die er seine Herrschaft erstreckt. Der Brite ist nicht tolerant. Der
Tolerante bezieht sich selbst ein. Der Brite ist der Schiedsrichter der Welt,
aber wohlgemerkt nur dieser anderen zweiten Welt, in die ihn das Abend­
land sendet.
Die Härte der irischen Politik bedeutet, daß England an seinen Auszug
aus Ägypten, an das verheißene Land einer zweiten eigenen ihm allein
verliehenen britischen W elt glaubt. Blitzartig enthüllt sich uns diese Vi­
sion angesichts des Großen Siegels, das nach Karl I. Hinrichtung gefer­
tigt wurde. Bis dahin ist das Siegel hierarchisch, zeigt den König in vollem
Ornat, christliche Embleme usw. Hingegen das Siegel von 1649, schon
künstlerisch ein Meisterwerk, zeigt auf der einen Seite das Haus der Ge­
meinen als den neuen Souverän, auf der anderen Seite aber leuchtet uns
das klare Bild einer englischen W elt entgegen: Die saubergestochene
Karte von England, Irland und der British Sea blickt uns an. Englands
Küste ist nicht länger Englands Grenze, das ist der klare Glaube Englands,
ist sein Pathos Irland gegenüber, ist seine Kraft unter Gromwells erstem
wie später in dem zweiten weltweiten Commonwealth des 19. u. 20. Jhds.
Dieser Glaube an einen neuen natürlichen Raum ist allen Revolutionen
eigen. Der Waldesgrenze des deutschen Einzelstaates, der blauen Ferne
des italienischen Stadtstaats, der Vision der Kreuzzugskirche mit dem Hei­
ligen Grab als Mittelpunkt, der ältesten Landkarte des weltlichen Staates
auf dem sizilischen Siegel Friedrichs II. sind wir schon begegnet.
Hier enthüllt sich uns eine neue Weltansicht: The british Sea. Das
Commonwealth seit der Revolution umfaßt mehr als Land und Küsten­
gewässer der britischen Insel. Es umfaßt Irland und die See der Briten.
Dessen Ausdruck ist das Neue Große Siegel der Revolution. Noch unter
Elisabeth ist der Sieg über die Armada i 5 8 8 auf den Denkmünzen sehr
anders symbolisiert worden. England erscheint damals als die Kirche, eine
Art Fels Petri, oder als Arche oder auch als Lorbeerbaum, denen die spa­
nischen Schiffe nichts anhaben können. Die F lu te n gehören 1 5 8 8 n och
n ich t zu E n g la n d ! Die neue Vision kann eben erst auf dem Höhepunkt der
Parlamentsrevolution zum erstenmal durchbrechen, wo sich das Parlament
eine Grundlage für seine auswärtige Politik verschaffen muß, die unab­
hängig vom Königtum und dessen dynastischen Ansprüchen oder Interes­
sen sind. Es ist die Vision der Gemeinen von England, die in diesem Mee­
reskreis auftritt. In diesem Raum liegt fortan der Gesichtskreis Englands.
Diese Eroberung eines eigenen geographisch angeschauten Meeres­
kreises mit England nur als der Landseite ist der anschauliche Nieder­
schlag des neuen englischen Charakters. Seitdem heißt die W elt außer­
halb seiner Küsten nicht mehr die „frem de“ , sondern die w eite W elt.
„Abroad“ heißt das Ausland. Dank dieses Gegenüber konnte aus all den
Countries Englands nun so rasch der Einheitsbegriff „Country“ Werden.

292
Das revolutionäre Siegel von 1651 mit neuer Ära
„im dritten Jahre der restaurierten Freiheit“
(T ext S. 19, 187, 292, 307, 524)
Wahrlich, es ist ein großer Schritt vom durchschnittlichen Umfang des
deutschen Einzelstaates hin zu der neuen Größenordnung, in die der Flä­
chengehalt Großbritanniens hineingehört.
Glaubt man denn, es habe nicht mehr als gewöhnliche Kraft der Seele
dazugehört, diese Meere sich so zuzueignen, wie es längst vor den Dampf­
schiffen den Engländern eigentümlich geworden ist. Sie haben dazu die
ihnen so tief eingegrabene Scheu durch einen größeren Glauben über­
winden müssen. Und diese Niederkämpfung fixiert den Engländer dauernd
und gibt ihm seinen Eros. Seitdem ist ihm England, die Country selbst, das
unkritisierte geordnete Land. Genau umgekehrt wie den Deutschen, die in
ihrem Lande in Gegenden dunklen Waldes Vordringen, liegt dem Briten sein
Silbereiland hell im Meer. Die deutsche Reformation sieht die Welt in Un­
ordnung, verzaubert, unrein, heut sagt m an: als Chaos, und der Deutsche
räsoniert deshalb immer über seine Vaterländer und schafft gründlich
Ordnung. Der Engländer aber findet die mütterliche Erde umgekehrt stets
in schönster Ordnung. Die Erde dort scheint ihm bräutlich geschmückt.
Der Engländer hängt mit erotischer Gewalt an seinen politischen Einrich­
tungen. Frei ist er selbst. Das Verhältnis von E(rde), M(ann) und W (eib)
auf deutschem und englischem Boden ist darum gegensätzlich. Die Lage­
rung ihrer Revolutionen ruft diesen Gegensatz hervor. Luther setzt die
Seele als Magd und Herrin in ihr Recht ein; aber die Reformation betont
keine Erdherkunft, sondern eine Erdarbeit. Der Mensch soll in Ordnung,
die Erde darf in Unordnung sein.
Der Engländer und die Engländerin sind Gefährten des freien Weges.
Die englische Erde ist Kanaan, das Land der göttlichen, gottgegebenen
Ordnung, zärtlich wortlos geliebt. Land und Mensch tauschen sich aus, für
diesen Austausch gehen alle Liebeskräfte darauf. Unbräutlich bleibt daher
der W eg des englischen Mannes zum englischen W eibe1. Sie haben sozu­
sagen kein Material der Gestaltung. Denn die Erde ist in Ordnung, der
Mensch frei für die Außenwelt. Gegenüber der Außenwelt aber werden die
Wege der neuen W elt abgesteckt in der großartigsten Kundgebung der
Revolution:
„Beschlossen durch das Parlament und Gesetz durch seine Autorität, nie Naviga-
daß vom i. Dezember i 6 5 i ab keinerlei Güter oder Waren nach Ur­
sprung, Herstellung oder F abrikation aus Asia, Afrika oder Amerika oder
einem ihrer Teile oder einem ihnen zugehörigen Eilande, die beschrieben
oder angegeben sind auf den üblichen Plänen oder Karten dieser Plätze,
gleichgültig ob englische Pflanzstätten oder andere, eingeführt oder ver­
bracht werden sollen in dies „Gemeine Wesen“ von England, nach Ir­
land oder in irgendein anderes Land, Eiland, Pflanzstatt, Territorium,
zu diesem Gemeinen Wesen gehörig oder in seinem Besitz, in irgend an­
derem Schiff oder Schiffen, Fahrzeug oder Fahrzeugen als solchen, die
1 Vgl. Eugen Dühren (Iwan Bloch), Der Flagellantismus in England.
Wahrlich, es ist ein großer Schritt vom durchschnittlichen Umfang des
deutschen Einzelstaates hin zu der neuen Größenordnung, in die der Flä­
chengehalt Großbritanniens hineingehört.
Glaubt man denn, es habe nicht mehr als gewöhnliche Kraft der Seele
dazugehört, diese Meere sich so zuzueignen, wie es längst vor den Dampf­
schiffen den Engländern eigentümlich geworden ist. Sie haben dazu die
ihnen so tief eingegrabene Scheu durch einen größeren Glauben über­
winden müssen. Und diese Niederkämpfung fixiert den Engländer dauernd
und gibt ihm seinen Eros. Seitdem ist ihm England, die Country selbst, das
unkritisierte geordnete Land. Genau umgekehrt wie den Deutschen, die in
ihrem Lande in Gegenden dunklen Waldes Vordringen, liegt dem Briten sein
Silbereiland hell im Meer. Die deutsche Reformation sieht die W elt in Un­
ordnung, verzaubert, unrein, heut sagt man: als Chaos, und der Deutsche
räsoniert deshalb immer über seine Vaterländer und schafft gründlich
Ordnung. Der Engländer aber findet die mütterliche Erde umgekehrt stets
in schönster Ordnung. Die Erde dort scheint ihm bräutlich geschmückt.
Der Engländer hängt mit erotischer Gewalt an seinen politischen Einrich­
tungen. Frei ist er seihst. Das Verhältnis von E(rde), M(ann) und W (eib)
auf deutschem und englischem Boden ist darum gegensätzlich. Die Lage­
rung ihrer Revolutionen ruft diesen Gegensatz hervor. Luther setzt die
Seele als Magd und Herrin in ihr Recht ein; aber die Reformation betont
keine Erdherkunft, sondern eine Erdarbeit. Der Mensch soll in Ordnung,
die Erde darf in Unordnung sein.
Der Engländer und die Engländerin sind Gefährten des freien Weges.
Die englische Erde ist Kanaan, das Land der göttlichen, gottgegebenen
Ordnung, zärtlich wortlos geliebt. Land und Mensch tauschen sich aus, für
diesen Austausch gehen alle Lieheskräfte darauf. Unbräutlich bleibt daher
der W eg des englischen Mannes zum englischen W eibe1. Sie haben sozu­
sagen kein Material der Gestaltung. Denn die Erde ist in Ordnung, der
Mensch frei für die Außenwelt. Gegenüber der Außenwelt aber werden die
Wege der neuen W elt abgesteckt in der großartigsten Kundgebung der
Revolution: 1
„Beschlossen durch das Parlament und Gesetz durch seine Autorität, Die Naviga-
daß vom i. Dezember i 6 5 i ab keinerlei Güter oder Waren nach Ur­
sprung, Herstellung oder Fabrikation aus Asia, Afrika oder Amerika oder
einem ihrer Teile oder einem ihnen zugehörigen Eilande, die beschrieben
oder angegeben sind auf den üblichen Plänen oder Karten dieser Plätze,
gleichgültig ob englische Pflanzstätten oder andere, eingeführt oder ver­
bracht werden sollen in dies „Gemeine Wesen“ von England, nach Ir­
land oder in irgendein anderes Land, Eiland, Pflanzstatt, Territorium,
zu diesem Gemeinen Wesen gehörig oder in seinem Besitz, in irgend an­
derem Schiff oder Schiffen, Fahrzeug oder Fahrzeugen als solchen, die
1 Vgl. Eugen Dühren (Iwan Bloch), Der Flagellantismus in England.
wahrlich und ohne Trug nur gehören dem V o lk e (p e o p le !) dieses G e­
m einen W esens oder seiner Pflanzstätten, als Eigentümern und rechten
Eignern und deren Schiffer und Matrosen in der Mehrzahl dem Volke
dieses Commonwealth angehören.“
Die Folgezeit hat diese Navigationsakte Cromwells aufrechterhalten,
die Restoration hat 167/i ihre Anerkennung von Holland erzwungen und
sie ist in Kraft geblieben, bis England sowohl Holland und Frankreich
als auch den früheren Rivalen Spanien genügend weit überflügelt hatte,
um die Akte ohne Nachteil fallen lassen zu können.
Das ist also das neue revolutionäre Vorrecht des populus christianus
des Commonwealth insgemein, das neben das Geburtsrecht jedes Eng­
länders hier kraft der Navigationsakte Cromwells tritt.
Die Wege zwischen den neuen Erdteilen und England werden den An­
gehörigen dieses Volkes reserviert. Das Wegrecht „abroad“ , in der weiten
Welt, gehört seitdem zum britischen Rürgerrecht und zu seinem Staats­
recht. Das berühmte Gedicht, wie über den englischen Matrosen, der im
Ausland enthauptet werden soll, sein Konsul die Fahne wirft und ruft:
„Feuert, aber verletzt nicht die Flagge!“ zeigt nur auf dem Höhepunkt,
was mit der Navigationsakte anhebt: Das neue Imperium, das die Straßen
der zweiten Welt, außerhalb Europas, als die dem Commonwealth ver­
heißenen und verliehenen ansieht und festhält.
Cromweii Aber ein Cromwell war nötig, um dies Reich zu schaffen. Und den­
noch — gerade seine Tat verhehlte sich die öffentliche Meinung. Sie ließ
bis ins 20. Jahrhundert ihn als Rebellen im Book of Gommonprayer
brandmarken. Welch Cant! Deshalb ist Cromwells Problem das Problem
Englands geblieben : W ie kann eine Geburtsaristokratie eine starke Exeku­
tive haben? W eil Cromwell nicht das Parlament selbst, sondern seine
vollziehende Gewalt verkörpert, ist er bis heute nicht populär in einem
Land, in dem alles darauf eingerichtet ist, die Gemeinen über die Behör­
den und über jede Exekutive zu erhöhen. Cromwell ist den Engländern
unbequem. Denn er deckt das Prinzip ihrer Revolution auf und zerstört
die Magna-Gharta-Ideologie. Was soll man zu einem Gentleman sagen,
der Gott geradezu als den „Gott der Schlachten“ feiert, wie Cromwell in
der Schlacht bei D unbar?1
Die Restauration 1660 hat die Konfiskationen und anderen Errungen­
schaften der Revolution aufrechterhalten. Der konstitutionelle Fort­
schritt, den sie brachte, war die — Demobilisierung. Deshalb ist die Re­
stauration ein positiver Schritt für die Festigung der Parlamentsherr-

1 Man hat behauptet, die wildesten Revolutionäre, Cromwell und Pym, Hampden, Lent-
hall, Hutchinson, Undlow, seien keine rechten Gentlemen. Aber der Flecken ist nicht
abzuwaschen. Die Gentry leitet die C lu b s in allen Grafschaften während des Bürger­
kriegs. Alle führenden Gentryfamilien werden von der Revolution als Friedensrichter
eingesetzt oder bestätigt.

294
schaft geworden. Die antikönigliche Armee Cromwells verfiel nun dem­
selben Schicksal wie ihre Vorgängerin! Es ist für den Festländer über­
raschend zu sehen, daß die große erste Rede des neuen Königtums die
Rede eines Ministers über — die E ntlassung des H eeres ist. Das, was die
Revolutionäre Armee dem Parlament nicht hatte gewähren können, wird
die große Gabe der Restauration: E in K ö n ig ohne Heer, die sich in jener
einzigartigen Rede von 1660 darbietet1.
Dabei ist es auch später geblieben. Jakob II. gibt noch, bevor er flieht,
Befehl, den Rest seiner Truppen aufzulösen. Die Flugschriften vor seiner
Flucht aber beschwören die Soldaten, nicht gegen das Parlament sich ge­
brauchen zu lassen. Der Antimilitarismus der englischen Parlamentsherr­
schaft ist ihr Lebensnerv. Ein Heerkönigtum ist ihr unverständlich, weil
sie ihren König-seines Heeres beraubt hat.
Diese Herabdrückung des Staatsbeamten und des Offiziers in den
Dienst unterhalb des Gentleman ist seitdem das Kennzeichen Englands.
Selfgovernment bedeutet vor allem, daß der Adel und die Patrizier re­
gieren als Friedensrichter und Lord-Mayors, und daß das, was wir als
Oberbürgermeister und Landrat respektvoll zu ehren gelernt haben, in
England als townclerk und countrycouncil officers eine kümmerliche
Dienerrolle spielen. Eben deshalb aber stehen die äußeren Formen und
Zeremonien der Staatsverwaltung seitdem fast still. Die äußeren Formen
der Rechtsprechung, der Krönung, der Gesetzgebung sind, weil die Ritter­
schaft die Macht der königlichen Verwaltung gebrochen hat, eben deshalb
die uralten, die den Fremden in Erstaunen setzen.
Ritterschaft und Landstände gab es in allen europäischen Staaten. Die
Ritterschaft und Städte von Mecklenburg haben bis 1918 in ihren Grund­
lagen dem Hause der Gemeinen nahegestanden. Noch heut legt zwar der
Gentleman, der die Antwort auf die Thronrede beantragt, die Uniform
der Landwehr an und erinnert damit daran, daß die Insassen des Unter­
hauses ihrer Herkunft nach die Führer der Miliz, daß sie selber Militärs
sind, genau wie die preußischen Junker oder die württembergische Ritter­
schaft. Aber die Entmilitarisierung der Ritterschaft und die "Entmilitarisie­
rung des gesamten Staatslebens geradezu bis zur Übertreibung ist der In­
halt der englischen Revolution. Die Tatsache selbst ist unbestritten. Seit
der Glorious Revolution hat der Engländer für alles Militär nur Ironie
und Mißtrauen übrig. Das Heer ist ein notwendiges Übel, niemals mehr.
In einem kleinen Gedicht „W aterloo“ wird das lustig aber tiefsinnig illu­
striert. Dem alten Sam schlägt ein Unteroffizier am Morgen der Schlacht
die Muskete aus der Hand, so daß sie in den Dreck fällt. Sam rührt sich
mcht. Der Sergeant befiehlt ihm. Sam antwortet: „D u hast sie hinunter­
geworfen. Du hebst sie auch auf. Sonst bleibt sie eben liegen.“ Der Leut-
nant wiederholt den Befehl. IJ)ie gleiche Antwort. Hauptmann, Major und
Vgl. Revolution als polit. Begriff S. 8.

295
Oberst erreichen ebensowenig bei Sam. Da reitet der Herzog von Welling­
ton vorbei. W a s wird geschehen? Der Herzog löst die V e r w ic k lu n g , indem
er sagt: ,,Sam, nur eben mir zu Gefallen heb die Flinte a u f . “ „Euer
Gnaden,“ antwortet Sam, „ich will Ihnen zeigen, daß ich nichts nach­
trage“ und hebt die Flinte auf. Nun kann die Schlacht beginnen.
W ir werden noch bei der Frage des Budgets auf dieses Ausstößen des mi­
litärischen Kerns aus der Königsgewalt und aus der Staatsordnung zurück­
kommen. Hier gilt es nur die Größe der Kraft aufzudecken, die dem Land­
adel Zuströmen mußte, um ihn in derartigem Ausmaß zu „zivilisieren“ .
W ill man sehen, wie stark sich die englische Gentry von dem Adel
anderer Länder unterscheidet, so muß man an unsere Korpsstudenten
denken und ihre Mensuren. Auch der Gentleman kennt „muscular chri-
stianity“ .A u c h der Besucher eines College in Oxford oder Cambridge
ist stolz auf das Wappen seines College. Aber er trägt kein Rapier, er
handhabt nicht den Stoßdegen wie noch Hamlet. Sondern der englische
Junker ficht sich ein auf die Kunst der Debatte. Das ist der wesentliche
Gehalt seiner Universitätsjahre* daß er den Witz, die Leichtigkeit, die
Geistesgegenwart der Debatten erlernt, die ihn im House of Commons
erwarten. In W itz, Schlagfertigkeit und Blankheit der Rede ist die ritter­
liche Fechtkunst umgeschmolzen. Der englische Gentleman ist zwar be­
geisterter Jäger. Aber die militärische Uniform ist nicht sein sozialer
Ausweis in demselben Sinne wie z. B. der deutsche Reserveoffizier. Rein
sprachlich prägt sich die neue Geistesrichtung darin aus, daß die luthe­
rische nicht hoch genug greifen kann im wörtlichsten Sinn, die englische
aber nicht tief genug in ihren Metaphern.
ochundnieder Obrigkeit, Hoheit, Summus episcopus, Supremacy, Hochgeboren, Ober­
haupt, Superanitas ( = Souveränität), Hochachtung, — das sind die Worte
der Fürstenrevolution. Unten die Untertanen, oben „hoch auf des Lebens
Gipfel gestellt“ , die Obrigkeiten. Diese mögen herablassend, „nieder­
trächtig“ (wie man im Dialekt für leutselig sagt) sein, aber doch eben sind
sie als „die ragenden Gipfel der W elt“ Gott näher als der gewöhnliche
Sterbliche.
Demgegenüber lobt der Engländer die unteren Stufen des Lebens. Er
ist nicht etwa für Gleichheit. Aber er spricht stolz vom Haus der Ge­
meinen als dem „unteren Hause“ und lä ß t au ch in der R ev o lu tio n dem
neuen Souverän diesen Namen des niedrigen (Lower) Hauses, sicher ein
einzigartiger Vorgang, der sich aber gerade aus der Abneigung gegen die
Höhenvorstellungen der Königsgewalt zwanglos erklärt. Das Recht ist
eben, wie Knox gepredigt hat, an die „Unteren Gewalten“ gekommen!
Daß die Menschen unten sind, ist für den Deutschen eine Schande,
für den Engländer nicht. Er ist hochmütig und herrscht, indem er allent­
halben die Könige weiterregieren läßt. Die wirkliche Herrschaft genügt
ihm, die eiserne Herrschaft über sich selbst.

296
11. Die Uberhebung und der Abfall der Kolonien
Mit der glorious Revolution ist der Dienst im Parlament aus einer kost­
spieligen und beseufzten Last endgültig zu einem ersehnten Ehrenziel
geworden. Die Ausartung dieser Gentry erfüllt das 1 8. Jahrhundert. Po­
lizei, Exekutive, Zentralgewalt verkommen. Der Handel blüht. Die Drei­
groschenoper von 1727 ist echt! Der Holländer Wilhelm III. hatte „um
Europas willen“ die Exekutive diesem Adel gestellt. „Ohne England fällt
Europa unter das französische Joch,“ sagte er 1689 und bewilligte alle
Rechte gegen den Eintritt Englands in den Krieg. Marlhorough hat man
den Nachfolger Wilhelms genannt. Seitdem sucht England immer wieder
den Degen auf dem Kontinent. Ohne ihn klafft ein Abgrund zwischen
seinem Reichtum und seiner Exekutive. „England habe nicht die politische
Wirksamkeit, die ihm nach seinen Mitteln zukomme,“ fand Friedrich
der Große. Februar 1749 sagt der Premier, der Bruder des durch seine
jahrzehntelangen Bestechungen das Unterhaus beherrschenden Herzogs
v. Newcastle zynisch: Es ist meine undankbare Pflicht, dem Volke zu
sagen, daß wir nicht in der Lage sind, unsere Feinde zu bekämpfen. So
sehr verkam jede Zentralgewalt im Übermut der Stände. Horace W al­
pole der W hig hatte an seinem Bett zwei Urkunden auf gehängt: die
Charta Magna und das Todesurteil über Karl I., das er die Charta Major,
den größeren Freibrief, nannte I
Der Übermut dieses Parlaments glaubte gleichzeitig Frankreich — in
dem Frieden von 1768 — demütigen und unumschränkt in Jrland und
den Pflanzungen regieren zu können.
Das Jahr 1763 vergleicht sich dem Jahre 1802. Denn dem Selbst­
gefühl Bonifaz VIII. in der Bulle Unam Sanctam kann man es verglei­
chen, wenn Walpole schreibt: „Sie würden ihr eigenes Land nicht er­
kennen. Sie haben es als kleines privates Eiland, aus seinen eigenen Mitteln
sich fristend, verlassen, sie finden es heut die Hauptstadt der W elt.“ Das
Land als Hauptstadt der W elt ist die charakteristische Vorstellung. Alle
drei Worte sind wichtig, Country, Capital und world!
Aber dieser Übermut bat England vollständig isoliert» Rurkes W orte
über diesen Hochmut habe ich bereits oben S. 29 abgedruckt.
Die Rache Frankreichs mehr noch als der Freiheitsdrang Neuenglands
hat diesen Übermut zu Fall gebracht. Denn weniger noch als die Land­
schlachten sind das Geld, die Hilfsmittel und vor allem der Seekrieg
Frankreichs, verbündet mit Spanien und Holland und im Schutze der
gegen England errichteten bewaffneten Neutralität aller anderen Staaten,
die Grundlage des Sieges der Nordamerikaner geworden. Neben Lafayette
muß man daher den Minister Vergennes und den unermüdlichen Agenten
Beaumarchais nennen, um zu begreifen, daß im amerikanischen Unab­
hängigkeitskrieg E u rop a (Frankreich im Bunde mit Spanien) Englands

2 97
Parlament zur Rechenschaft zieht, als es aus purem Leichtsinn mit einem
fast einstimmig (gegen 3 8 Stimmen) gefaßten Beschluß seine Souverä­
nität über die Kolonien durch die Zollgesetze überspannt hatte.
Die Engländer selbst bezeichnen heutzutage, z. B. in der repräsentativen
Cambridge History den Verlust der Vereinigten Staaten als das Ende des
Das erste ersten Empire. Genau wie es die französische Kriegserklärung 1 7 7 8 ver-
Empirelangt hatte: „ein Ende zu machen mit dem tyrannischen Empire, das
England usurpiert hat und beansprucht, über den Ozean auszuübenI“
Es ist aber mehr als das; es ist das Ende des ersten Commonwealth und
der naiven Selbstsicherheit der Gentry; eine gewaltige Demütigungs­
periode hebt an, in der England auf die Probe gestellt worden is t1. Sie
währte bis 1 8 1 5 , unterbrochen von der Ruhe von 1785— 1 7 9 2 . Im In­
land herrschte damals der Belagerungsz ustand, in Irland Aufruhr. Die
Preßfreiheit ist beseitigt. Selbst die Parlamentsberichte waren für das
Publikum in diesen Jahrzehnten praktisch nicht käuflich! Die Konti­
nentalsperre Napoleons erfüllt die zweite Hälfte der Epoche. Die beiden
Pitts leiten und retten England. Aber die Zahlen der Annual Register für
1 8 1 0 , 1 8 1 1 und 1 8 1 2 zeigen, daß England damals fast zugrunde ging.
Und in dieser Epoche wird den Engländern der neue B egriff des
Adam Smith wealth geschenkt in dem Buche von Adam Smith. Sein T itel: The wealth
of nations bedeutet mehr als der Reichtum, er bedeutet auch das W ohl­
ergehen der Nationen. Das Buch ist nur verständlich aus der englischen
Lage als ein Buch der Einkehr und Selbstbesinnung. Es bringt eine Säku­
larisierung des puritanischen Begriffs des Wealth und zugleich seine Er­
neuerung. Das W erk ist nur ein Exkurs, man beachte das, zu der zwei­
bändigen Morallehre des Autors!
Die Lehre des Adam Smith lehrt die Engländer den Zusammenbruch
ihres ersten Reiches überwinden. Denn sie erfahren aus diesem Buche,
daß England nicht als bloßes Handels- und Hafenland seine Macht be­
haupten kann.
England muß durch industrielle Mittel ersetzen, was es kommerziell
verloren hat, das ist die Lehre des englischen Jena und Auerstedt. „D ie
Umwälzungen der Kriege und Regierungen trocknen die Quellen des aus
dem Handel allein entspringenden Reichtums leicht aus,“ schreibt Smith.
Und so erhebt sich England nach der Demütigung als eine neue Insel.
Noch ist die Country der herrschende Begriff, und der Landedelmann
bleibt — wie der Papst in Italien nach Avignon — der führende Typ und
die tonangebende Lebensform. Aber die Päpste Roms nach Avignon sind
Humanisten und Mäzene der Kunst. Auch die Gentry Englands bleibt
im Kern die alte. Sie behält ihren Feuerplatz auf dem Landsitz mit Jagden
und Gastlichkeit bei. Aber England wird die Werkstatt, die „W aren­
fabrik“ (Obst) der Welt. Und sein Reichtum wird die Baumwolle von
1 Siehe dazu oben Seite 28 f.

298
Lancashire. Das Bauerntum wird endgültig aufgeopfert. Dieser Umschlag
aus dem ersten puritanischen Commonwealth des Handels in dieses zweite
der Industrie und damit aus der alttestamentlichen in die nationalökono­
mische Sprache ist das Ergebnis der Demütigung.
Die weise schrittweise Freigabe der Dominions bis zum Weltkrieg hat
in diesem Früchte getragen. Nicht England, sondern das Britische Com­
monwealth hat diesen Krieg geführt, aber noch unter der souveränen
Führung des Hauses der Gemeinen Englands; zum letzten Male vermut­
lich haben die Gemeinen Englands diese unbedingte Autorität über das
Commonwealth ausgeübt, damals als Bonar Law, Asquith und Lloyd
George zusammen die „Regierung ihrer Majestät“ , den Ausschuß des
Unterhauses zur Leitung der politischen Exekutive bildeten.

12. D as B udget
Der Tag der Budgeteröffnung ist in England populär. In keinem anderen
Lande der W elt wird die Rede, mit der der Finanzminister das Täschlein
öffnet, um die Abrechnung auf den Tisch des Hauses zu legen (seit
1733 ist der Ausdruck belegt), als eine Sensation angesehen. In England
ist sie es. Umdrängt von einer dichten Menge bahnt sich der Finanzmini­
ster, der Schatzkanzler, seinen W eg ins Parlament. Die Laufbahn eines
Pitt oder eines Asquith zählt nach den Budgeten, die sie eingebracht und
durchgebracht haben. Die Budgetrede ist der Höhepunkt der Session.
Das Budget ist der Inbegriff der Macht der Commons. Auf ihr ruht
ihre Macht. Ihm entstammt sie. Budget day ist Festtag.
Schon im 1 5 . Jahrhundert steht es fest, daß die Gemeinen es sind,
nicht die Lords, die dem König die Subsidien gewähren müssen. Und
ferner ist es geheiligter Grundsatz seitdem, daß alle Beschwerden vor Ge­
währung der Subsidien erledigt sein müssen. Daraus folgt der Unter­
schied im Budgetrecht zum Festlandsrecht. Die Bitte des Königs um die
Bewilligung der Subsidien eröffnet das Parlament, die Gewährung der
Subsidien schließt die Session. Alle Gesetze sind also eingebettet in das
Budget. Und die Souveränität des Unterhauses ist verkörpert in seinem
Budgetrecht, weil an ihm die gesamte Gesetzgebung hängt. Religion und
Finanz gelten als die höchsten Verhandlungsgegenstände des Unterhauses.
Sie müssen daher nach altem Recht besonders gründlich beraten werden:
Für sie war die Verwandlung der Sitzung in einem Ausschuß des ganzen
Hauses vorgeschrieben I
Die Herrschaft des Parlaments verkörpert sich, wie wir gesehen haben,
in der Abtrennung der Heeresmacht vom König. Des zum Ausdruck wird
alljährlich am Anfang der Budgetberatung der Sold für Offiziere und
Mannschaften provisorisch bewilligt. Es gibt also offiziell keine dauernde
Armee. Entsprechend wird dem König das Kriegsrecht in der Armee
nur jedesmal für sechs Monate zugestanden (Mutiny Act von 1689). ^ er

299
Verfasser einer berühmten Finanzgeschichte des British Em pire, I. Sin­
clair, sagt 8 3 : ,,D er Kriegsdienst verträgt sich
1 o so w enig m it Ehe, K in ­
deraufzucht und einem nützlichen Leben in G ew erbefleiß (industry) und
Arbeit, d aß es gew iß nicht wünschenswert ist, ein einziges Individuum
dieser Art, d a s . nicht wirklich gebraucht wird, der Bevölkerung zuzu­
m uten.“ D as schreibt er m itten in den napoleonischen K r ie g e n !
Gegenüber diesem w ichtigsten Punkte war das Parlam ent in Sachen der
Zivilverw altung freigebiger. Heer und F lotte kosteten aber auch 1688
noch das vier- bis fü n ffach e der Zivilliste 1 D ie zivile V erw altung wurde
anfangs vom K ö n ig frei aus der C ivil L ist bestritten. A ngesichts des S elf­
governm ent der R ittersch aft und Städte blieb dieser Verwaltungskörper
stets unverhältnism äßig klein. D ie genaue F estlegu n g der Ausgabeposten
wurde schon 1 6 6 8 erstrebt, aber sie g a lt dam als als eine schlechthin repu­
blikanische Forderung.
D ie Schlüsselstellung des Budgetrechts m acht auch einen B lick in die
ältere Z eit vor der Revolution lohnend. A ls näm lich H einrich V I I I . die
R eform ation einführte, da wurde er — wie die deutschen Fü rsten — frei
von dem Z w an g, sich Subsidien bew illigen zu lassen! D enn die K o n fiska­
tion der K löster h at ihm die dam als ungeheuren baren Jahresbeträge von
4 o o 000 P fu n d eingebracht. D as Parlam ent war ihm eben deshalb blind
w illfährig, w eil der K ö n ig statt zu fordern, zu geben in der L a g e war.
„ A ll die Fam ilien, die heut als die angesehensten gelten, ob L ords oder
nicht Lords, verdanken ihren A u fstie g den Zeiten der Tudors m it H ilfe
des K losterguts oder anderer kirchlicher G ü te r.“ D e r englische Geschichts­
schreiber H allam f ü g t dieser A ngabe einen Satz hinzu, der das Selbst-
d er-Staat-Sein dieser Fam ilien g u t erläu tert: „ D ie Klasse, der die K loster­
länder zufielen, h at sich im m er und vor allem im ersten Jahrhundert
ihres Besitzes seit i 54 o durch ihre W o h ltä tigk eit und F re ig eb igk eit her­
vorgetan.“ Sie hatte eben eine Funktion zu übernehm en!
A ls diese E in kü n fte verschenkt und vertan waren, sahen sich die K ö n ige
einem A del gegenüber, der einerseits alle seine Parlamentsprivilegien aus
dem Mittelalter ableitet, andererseits aber w egen der H erku nft seines
V erm ögens vor der Rückgängigmachung der Reformation zittert. E in e
nachreform atorische Gentry, gestützt a u f ih r vorreform atorisches B u d ­
getrecht, ist das Paradox der Puritanerrevolution. D ie K ö n ige versuchten
so lange wie m öglich ohne. Subsidien des Parlam ents auszukom m en. Sie
vergaben M onopole, R egalien und die zentrale B edeu tu n g der S c h iffs ­
geldabgabe beru ht a u f der dadurch erm öglichten A usschaltun g der P ar­
lamente. A u ch das S ch iffsg e ld hätte nicht solche E m p ö ru n g erregt, wenn
nicht zu gleich die W iederbelebung alter Lehnstaxen unter K a rl I. — der
dam it ganz parallel zu der m ittelalterlichen H altu n g des Parlam ents vor­
geh t — auch viele L ord s und den A del des ganzen Landes verärgert hätte.
D as Parlam ent selbst aber h a t dann viel w eniger R ü cksich t genom m en als

3oo
der K ö n ig , u n d alle neuen Steuern der absoluten Festlandsstaaten ein­
führen können. Ausgerechnet der W o rtfü h rer gegen K arl I., Pym , ist der
Vater der verhaßten und K arl abgeschlagenen Accisesteuer geworden.
H ingegen besitzt die königliche G ew alt seit 1 6 8 9 kein staatliches V er­
mögen, auch M onopole sind verhaßt, weil sie das B udgetrecht des Unter­
hauses einschränken würden. D er gesam te Staatsapparat wird also wegen
des Budgetrechts der Gem einen insoweit klein gehalten, als er die M acht
des K ö n igs stärken könnte.
W e il der Verkehr m it dem H aus der Gem einen um Geld geht, ver- Das
kehrt die Krone anfangs m it dem H aus durch den Com ptroller, den
Rechnungsführer des königlichen Haushalts. Seit der Revolution aber
tritt an seine Stelle der erste Lord des Schatzes. Seit der Restauration be­
sitzt dies Schatzam t eigene R äum e. Der erste Lord des Schatzamtes —
und dies ist das feingeschliffenste G lied in der so folgerichtigen eng­
lischen Revolutionsgeschichte — ist der — Prem ierm inister Englands.
D er T itel Prem ierm inister ist erst nach 1 9 0 0 am tlich geworden. Ü ber
zwei Jahrhunderte ist der erste Lord des Schatzes eben k ra ft dieses Am tes
der w ichtigste M ann der R e gieru n g und deshalb h eiß t ein Staatsm ann
in E n glan d nach seinen B udgets. D as g e h t bis in alle Einzelheiten. D e r
Rechtsausschuß z. B., der den Prem ier und das K abinett in allen tech­
nisch^ uristischen Arbeiten der G esetzgebung berät, h e iß t Parliam entary
Counsel o f the Treasury!
Diese H errschaft des B u dgets hat nun das D enken der E n g lä n d e r
weitgehend bestim m t.
F ü r ein Parlam ent, das diskutiert, und dessen M itglieder nur durch die
Debatte dieses ihres Hauses und fü r die D ebatte dieses Hauses Sprache,
Denken und B ild u n g em pfangen, ist ein system atisches oder m ethodi­
sches Gedankengebäude langw eilig. System e sind n ö tig fü r Beam te, die
auf entlegenem Posten nach einheitlicher R ichtschnur arbeiten sollen. D ie
einzige N otw endigkeit fü r die Gem einen, zusam m enhängend zu denken,
ist das B u d g et gewesen. A n ihm und seinen Zahlen entzündet sich das
Denken des Parlam ents. Zahlen, Steuern, Steuersätze, G ehälter haben in
E n glan d Reiz und Popularität. Sie sind das S p ra c h g u t der C om m ons und
eben dadurch das G edankengut der ganzen N ation geworden.
Um das B u d g e t h eru m rankt sich das D enken des Engländers. In
einem B ericht über die Finanzen an das P arlam en t fand ich z. B. Unter­
suchungen über die D aten des K riegsbeginns und des K riegsendes seit
1 688. Diese historische U ntersuchung sollte erm öglichen, die Kriegskosten
genau zu berechnen. A m A n fa n g eines g r o ß e n historischen W erks über
800 Jahre englischer G eschichte schrieb G . P eel zunächst den Satz: D ie
europäischen R ü stu n gen kosten E n g la n d die jäh rlich en Zinsen von
1 28 0 000 000 P fu n d . D iese genaue B erech n u n g der Kriegskosten ist ja
das gro ß artig e und frivole Schauspiel zugleich, das an E n glan d o ft kriti-

3oi
siert worden ist. Bism arck genügten die Eindrücke des einen einzigen
Schlachtfeldes von K öniggrätz, um K riegsgegner zu sein. D ie Engländer
brauchten den W eltkrieg, um einzusehen, was D eutschland vorher w ußte,
d aß Kriegskosten nicht berechenbar s in d : N och nach den Napoleonischen
Kriegen haben sie W ellingtons Standbild vor die Londoner Börse g e se tzt
G ro ß artig aber ist die zähe jedesm alige A b tragu n g der Kriegsschulden.
Sie haben niemals die F ü lle der selbständigen Existenzen an die Staats­
krippe gewöhnen wollen. M it der ganzen Staatsm aschine ist auch die
Finanzverw altung der Anleihen m öglich st klein gehalten worden. D er
französische S taat hat genau die entgegengesetzte Finanzw irtschaft g e­
trieben, weil er nicht zur jährlichen B u dgetpolitik gegenüber den G em ei­
nen, sondern weil er zur Rentenpolitik gegenüber der Bourgeoisie ge­
nötigt w ar!
D es jü ngeren 23 jäh rigen P itt Ansehen beruht vornehm lich au f seiner
Sanierung des englischen B udgets nach 1 7 8 8 und der Zusam m enfassung
aller Einnahm en unter einem Generalnenner. Aber deshalb hat er doch
fü r den K r ie g gegen Napoleon 65 o M illionen P fu n d dam aligen W ertes
der Staatsschuld zu gefü gt. D ie pedantische F inanzgebarung ist eben kein
M aterialism us. A lle Poesie des A usdrucks u m gib t die G eldbew illigung.
i 665 teilt der Sprecher des Unterhauses die B ew illigu n g der ersten zins­
tragenden ö ffen tlich en Schatzwechsel dem K ö n ig in diesen Ausdrücken
m it: „ D a m it E urer M ajestät Ausgaben in barem G eld bestritten werden
können, bis die Steuerzuschläge eingehen, haben w ir durch diese B ill eine
zw eifelsfreie Sicherheit fü r alle Personen gesch affen , die ihr G eld in die
öffen tlich e B ank Ihres Schatzes bringen werden. W ie die Flü sse natür­
lich sich ins M eer entleeren, so h o ffe n w ir werden die A dern von Gold
und Silber in dieser N ation reichlich in diesen O zean ström en fü r die
A ufrech terh altu n g von Ihrer M ajestät gerechter O berherrschaft über die
M eere.“
D a ß 1 8 1 6 die A u fh eb u n g der Einkom m ensteuer gegen den W ille n der
R egieru n g den grö ß ten Jubel hervorrief, den die M auern des Parlam ents
je vernommen, ist vielleicht nichts so eindrucksvolles, als d aß es zu gleich be­
schloß, alle B ü ch er und R echnungen, die an sie erinnerten, zu vernichten I
D ie Poesie der Zahlen fin d et sich in tausend Form en in E n glan d belegt.
Jedes Mannes N ach laß wird a u f H eller und P fe n n ig von den Z eitu n gen
veröffentlicht, jedes L e g a t verzeichnet. D ie V erm ögen der R eichen sind
eben Posten im H aushalt der N ation, die alle interessieren. G ew iß kann
jed er G entlem an frei über sein G eld verfügen, aber nicht anders wie der
K ö n ig über das seine auch, näm lich als Selbstregierung. D a ß K ranken­
häuser, Museen, H ochschulen in E n g la n d von Stiftern dotiert und erhal­
ten werden, beru h t a u f der E in reih u n g der g ro ß en V erm ögen des Landes
unter die tragenden Etatsposten des W ealth des Landes. D iese E in reih u n g
als eigene Stationes fisci war m ö glich , weil das B u d g e t und seine Zahlen

3oa
die Nation zum Verständnis der Zahlen überhaupt und zu ihrer neidlosen
W ü r d ig u n g erzogen hat. D er Neid, das gro ß e Laster des Beamtenstaates,
wird dort gezügelt, wo gerade die gem einsam en Angelegenheiten aller in
Geld durchdacht werden.
D ie U rform der Parlam entsherrschaft ist diese M itteilung und die E r­
läuterung der E inkünfte und Ausgaben. E in geheimnisvolles, sakrales, an
die Freiheit des Unterhauses gem ahnenden Etwas um schwebt diese M it­
teilung daher. K ein W under, wenn i 64 i in der gro ß en Rem onstrance
aufgezählt wird, was alles das Parlam ent getan h a t :
109. achtzigtausend P f un d m onatlich fü r die Armee.
i n . Sechs Subsidien haben wir bew illigt und noch ein Gesetz, dessen
D u rch fü h ru n g weitere sechs Subsidien bed eu tet; im ganzen 600 000 P fu n d .
1 1 2 . W ir haben an die Schotten 2 2 0 0 0 0 £ Schulden gem acht.
11 3 . A b gesch afft ist das S ch iffsg eld , jährlich 2 0 0 0 0 0 Pfund.
1 1 5 . A b gesch afft sind die M onopole, die den Untertan über 1 M illion £
jährlich kosteten, näm lich auf
1 1 6 . dié S eife 10 0 000 P fu n d ,
1 1 7 . der W e in 3 o o 000 P fu n d ,
1 1 8 . a u f Led er und Salz, beide m ehr als S eife und W ein .
S o spricht das D okum ent einer Revolution!
K ein W u n d er bei einer solchen Ü berlieferung, wenn P h ilip p Snowden
als Schatzkanzler m it seinen verzwickten Zahlen im H a a g das Interesse
und die B egeisterung ganz E n glan ds auch 1 9 2 9 gefunden hat.
N ich t w egen d er lum pigen 5o M illionen ist das geschehen. Sondern
weil die P olitik in E n glan d in Zahlen gedach t w ird wie in keinem anderen
Lande. D ie Zahlen bedeuteten durchaus n ich t G eld, sondern E n glan ds po­
litischen W ille n !
U nd, um diesen A bschnitt über das B u d g e t zu beschließen, aus diesem
Z u g a n g zu allen Ereignissen des Lebens von der Z a h l her und durch sie
hindurch erklärt sich die R olle der Volksw irtschaftslehre in E n glan d. A ls
D israeli im Unterhause die Fatalisten anprangern wollte, dje K riege fü r
unvermeidlich hielten, brauchte er nur zu s a g e n : sie gleichen den L e u ­
ten, die 5 o/o Zinsen fü r den natürlichen Zins halten. Tosender B e ifall und
Heiterkeit. Ist das in D eutschland überhaupt verständlich? Aber die N a­
tionalökonom ie ist in E n glan d die natürlichste W issenschaft. Sie hat auch
in a u ffälliger W eise ihren besonderen N am en E co n o m y a u f die gesam te
Staatslehre ausgedehnt. D en n diese h e iß t P olitical Econom ics, m it R echt
in einem Lande, dessen Staatsrecht das B u d g e t ist. D ie englische National­
ökonom ie steht an einer ganz anderen Stelle im Geistesleben E n glan ds
als etwa in D eutschland. Sie ist n u r zu vergleichen m it der R o lle der deut­
schen Philosophie und der G eschichtsw issenschaft innerhalb der Sprache
der D eutschen im 19 . Jahrhundert. D em D eutschen fangen erst neuer­
dings die Zahlen ebenso zu sprechen an wie die B e griffe. D em E n glän d er

3o3
sind die Zahlen alltäglich und die B e g riffe unverständlich. Als Beispiel
für den Zusam m enhang von englischer politischer Anschauung und eng­
lischer Volkswirtschaftstheorie ragt hervor der Zusammenhang der poli­
tischen Zentrallehre Großbritanniens von dem Gleichgewicht der großen
Mächte m it der ökonomischen Lehre vom G leichgew icht der Handels­
bilanz im Einzelstaat. Schon 1 7 6 7 weist Forbonnais daraufhin, daß hier
eine einheitliche V orstellung obwaltet. „ G ’est lä que la balance du com ­
merce tient ä la balance des pouvoirs, que Tequilibre m aritim e est la base
reelle de l ’equilibre de l ’E u rope.“
D ie öffen tlich führenden Nationalökonom en in Deutschland sind H i­
storiker gewesen. D ie Rolle von Roscher oder Schm oller zeigt, wieviel
m ehr die Geschichte bei uns g ilt als die Nationalökonom ie. Lists Schick­
sal lehrt dasselbe und M arxens Schicksal zeigt, daß die D eutschen seine
deutschen B e g riffe besser verstanden haben als sein englisches Zahlen­
material.

1 3 . D er E n g lä n d er
Bald nach der D em ütigungsperiode von 1 7 7 4 bis i 8 i 5 erstarrt der eng­
lische T yp . Schon am A n fa n g des 19. Jahrhunderts h at die Skizze ge­
schrieben werden kö n n e n : D er B lick eines Gentlem an. U nd schon begeg­
nen in B yron und Shelley die E m p örer gegen das Erstarren im T yp . U nd
nicht w eniger ausgeprägt erscheint die H altu n g wie der Blick, die H al­
tu n g des gelockerten, fast lässigen, aber dennoch leidenschaftlichen F e ch ­
ters. E n glisch ist der Satz „M a n is essentially a F ig h te r “ . B ei G oethe
würde es h in gegen h e iß e n : E r ist ein K äm pfer. Fech ter und K ä m p fe r ist
zweierlei.
D e r K ä m p fe r f ühl t seine ganze Erdenschwere und Todesnähe. D er
F echter ist leichter. D e r E ngländer ist kein K ä m p fer im deutschen Sinne.
Aber er ist ein Fechter. A ls der K ö n ig G e o rg V. todkrank war, schrieben
die Z e itu n g e n : H e m akes a brilliant fig h t to overcome death. B o u tm y ge­
braucht den schlagenden V ergleich, d aß die B ü rge r von Florenz nach
Portoallegri jauchzend hinauszogen, um Gim abues M adonnenbild zu
feiern, die B ü rger von Liverpool aber i 85 o gen au so begeistert hinaus­
zogen, um den B o xer Saw yer zu ehren. So ist das D erby-R ennen ein na­
tionaler F esttag. Zeitweise h ieß New m arket die R ennhauptstadt Englands.
Lord Rosebery wurde prophezeit, er werde die reichste E rbin heiraten,
werde Prem ier werden und im D erb y gewinnen. D iese Proph ezeiu n g ist
echt englisch. D a ß sie aber auch in E r fü llu n g gehen konnte, z e ig t wie
W ealth , F ü h rersch aft der C om m ons und R ennleidenschaft Zusammen­
gehen. In den R ennen hat sich der R ittersch aft von E n gla n d der A usw eg
geboten, ritterlich und dennoch unmilitärisch zu fechten. D er H a ß gegen
das K ö n igsh eer im Lande und die L eid en sch aft fü r edelm ännisches Leben
kom m en beide a u f ihre R ech n u n g in der R ennleidenschaft der englischen

3o4
tonangebenden Klasse. Das Nichtm ilitärische, Nichtkämpferische all die­
ser Gefechte liegt in ihrem W ettcharakter. D ie Zielsetzung ist im m er der
Ironie offen. E in Engländer hütet sich, seine M einung ohne Selbstironie
vorzutragen. E r fich t als K avalier; der andere fich t auch. Kein Pathos
also, sondern Zähigkeit.
Das V olk von England aber hat bis zum W e ltk rieg an diesen Adel ge­
glaubt wie das deutsche Volk an seine Fürsten. E in M ann wie Disraeli w ar
in die Lebenshaltung der herrschenden Klasse geradezu verliebt. U nd
diese in seinen Romanen sich spiegelnde, fast unbegreifliche Verliebtheit
in die „D u k e s“ erklärt seine Lau fbah n bis zum Prem ierm inister der „ K a i­
serin“ von Indien. Am Glauben an die alten F am ilien des Landes h än gt
die englische Verfassung. D er Einbruch in diese V erfassung begann da­
her fo lgerich tig m it Lloyd G eorges F e ld zu g gegen die Dukes. U nd er setzt
sich fort in dem Protest der Labourleute, vor allem der Fabier, gegen den
T yp des Gentlem an. Aber noch beherrscht die männliche ungezwungene,
geräuschlose und unprinzipielle Fech terh altu n g ganz England. D as be­
kannte W o r t von dem Engländer, der erst ernsthaft ficht, wenn er an die
W an d gedrängt standhalten m u ß , entspricht daher dem anderen vom un­
prinzipiellen „D urchw aten “ (m uddle th ro u gh ). Im Club, dieser Verviel­
fältigu n g des Unterhauses über das ganze Land, holt er sich bei seines-
gleichen die wortlose Stärkun g fü r dieses tägliche Ins-G efech t-geh en .
Der Schauplatz aber dieses Gefechtes ist die W elt. D as W o r t W e lt hat fü r
den E ngländer die religiöse B edeutung des W elttheaters, w o die R ig h t-
eousness seines F ig h t, das gu te R ech t seines G efech ts am E n d e sich her­
ausstellt D e r deutsche Protestant betet „u n d von E w igkeit zu E w igk e it“ .
D as Com m onprayerbuch betet bezeichnenderweise statt dieser W o r t e :
„ Welt ohne Endel“
Balzac, der Franzose, hat die Com edie H um aine gan z in die G egenw art
geschrieben; D antes D ivina Com m edia verlegt die W eltgeschichte in das
W eltgericht. Im E n glan d der Revolution, dem dazwischen stehenden Land
wird — gleichzeitig m it dem W elttheater des Spaniers — der, B e g r iff der
W eltkom ödie au f g e s te llt: H enry Morse ( i 6 i 4 — 1 6 8 7 ) schreibt über diese
W o rld C o m e d y : „ D ie L äu fte dieser W e lt sind wie ein seltsames aber
künstlich verflochtenes Stück. W ir können nicht urteilen über den Sinn
dessen, was schon geschehen ist, noch dessen, was h eu t spielt, vor dem
Eintritt des letzten Aktes, der Righteousness im T riu m p h darstellen soll.
Und ich fü r m ein T eil zw eifle nicht daran, d aß es so vor sich gehen wird
am E nde der W elt. A ber u n geduldig nach R ache schreien fü r jede U ntat
vor dieser Zeit, h e iß t roh die B ühne zerstören vor dem E in tritt in den
fünften A kt, nur weil m an den A u f b a u des Stücks n ich t kennt, und h eiß t
die Feierlichkeit des gro ß en G erichtstages hindern durch nichtsnutzige
und private Vollstreckung.
W e lt ist fü r den E n glän d er daher ein doppeldeutiges W o rt, das ozea-

2 0 Rosenstock
nische und das religiöse K a m p ffe ld seines Lebens gleicherweise um fas­
send. „The world was all hefore them, where to choose their place of rest
and Providence their guide“ , schließt M iltons Verlorenes Paradies. N och
einmal erkennen wir, daß aus der m ittelalterlichen „ W e lt“ des Jüngsten
T ages die W e lt des Ersten Tages geworden ist. D enn nicht der R ichter
des W eitendes, sondern die göttliche Vorsehung waltet über den Kindern
dieser W elt. M an h at den Briten vor geworfen, d a ß K attun und Christen­
tum in unkenntlicher M ischung von ihnen exportiert würden. A ber hüte
dich, den einzelnen fechtenden Mann, der d ir innerhalb des C om m on­
wealth begegnet, fü r das eine oder das andere zu nehmen. D u kannst dich
zu leicht irren. E r w eiß es selbst nicht, wer er ist, und ob er fü r K attun
oder fü r Christentum oder fü r beides ficht, und in dieser uns unbegreif­
lichen U nbedachtheit und Unkenntnis seiner selbst lie g t die K r a ft seines
Glaubens.
„ D e r englische S in n erschrickt instinktiv vor Selbstenthüllungen, denn
er fühlt, d aß sie seine Selbstachtung erschüttern könnten. E r gew innt
seine U rteile durch die R ückw irkungen seiner Eindrücke. D iese sind zu
schattenhaft, um die Theorie einer logischen Beweiskette aufzubauen“
(Sadler). D ah er ist das höchste Lob, das einem englischen Staatsm ann
gespendet w ird, d aß er im N ah kam p f des Unterhauses die S tim m u n g und
M einung des Hauses instinktiv w a h m im m t und diesen Eindruck a u f sein
U rteil zurückwirken lä ß t (Baldwins R ede über A squith). D ie harte nach­
denkliche D enkarbeit wird so ersetzt durch unbewußte Geistesgegenwart.
D e r grö ß te Landedelm ann Englands, der G ründer seines C om m o n ­
wealth, O liver Crom w ell, hat diesem m ännlichen G lauben den erhabensten
A usdruck verliehen, Crom w ell sa gt: Nie steigt ein M ann höher, als wenn
er nicht w eiß, w ohin er geht.

3o6
XV . D E R S IE G D E R V E R N U N FT

I. D ie N a tu r in F ra n k reich
ie steigt ein Mann höher, als wenn er nicht w eiß, wohin er g e h t? “

N Ein Franzose weiß im m er, wohin er geht. Im Jahre 1 7 8 9 erschien


„das kleine Gesetzbuch der m enschlichen V ern u n ft“ von Barbeu d u B ourg.
Darin h eiß t es: D rei D in ge braucht der M ensch zum B o n h e u r: die gute
Gesundheit, der bon sens und das gu te Gewissen. D rei D in ge genügen
dem Menschen zum B o n h eu r: die gu te Gesundheit, der bon sens und das
gute Gewissen.
Sechsm al ist bon die E igenschaft, die genannt wird, aber zweimal ist sie
unübersetzbar, in bonheur und in bon sens!
D er Franzose glau bt an eine H arm onie zwischen dem Geschick und dem
Verstand. W ir müssen a u f deutsch ein „gü n stig es“ Geschick und einen
gesunden Menschenverstand gegenüberstellen, der Engländer goo d fo r­
tune und com m on sense. D e r Franzose allein glaubt, daß G eschick und
Verstand — diese beiden gefährlichsten K lipp en der Seele — beide dem
einzelnen M enschen gut sein können und g u t sind.
Deshalb schaltet er nie den Verstand aus, wenn er dem G eschick ent­
gegengeht. Selbst die Leidenschaften der Sinne durchschreitet er m it kla­
rem Bewußtsein. E r sieht sich im Spiegel, auch wenn er rast und wenn
er sich berauscht. E r spielt nicht Theater, aber sein Verstand ist im m er
so gu t wie sein Geschick. D ie K larheit, die G a r te der V ernunft ist den
Nebeln des M ilieus stets gewachsen. Im m er verwandelt sie die undurch­
sichtigste In trigue in ein klares Schauspiel. Frankreich braucht diese klare
Schau.
Denn Frankreich la g 1 7 8 9 in der M itte E u ropas — D eutschland, S p a­
nien, Holland, E n gla n d haben ihre E m p ö ru n g vollbracht. D ie W e lt der
deutschen Kleinstaaten m it ihrer weiten O stgrenze, die W e lt der Briten
m it dem W eltm eer sind aus dem Ganzen des Abendlandes herausgetreten.
Frankreich liegt in der M itte Europas, so schreibt Vergennes an L u d ­
w ig X V I. U n d diese V o rstellu n g ist ein geographischer M ythus, der heu t
noch K ra ft hat. F ü r ein Land, das so in die M itte ged rän gt wird, ergibt sich
ein neues W e ltb ild : W e r in der M itte ist, der kennt alle Grenzen, der
weiß, wo er steht und w ohin er gehen kann. D en n um diese M itte liegt
lauter Kulturland, lie g t die italienische Zivilisation, das englische C o m ­
monwealth, der deutsche Staat. D ie M itte kann nicht ausgreifen in B ar­
barenland. Sie h at nur einen A usw eg, um die K u ltu rw elt zu verändern,
die Rückkehr nach Innen zur wahren Natur.
B ew ußt und vern ü n ftig der N atur zum S iege zu verhelfen, und d a m it
20*
die alten K ulturen zu verjüngen, die unnatürlich sind, m it dieser Sendung
tritt der Franzose m itten unter die europäische Völkerfam ilie.
D ie unnatürlichen Grenzen, die ihn überall beschränken, m u ß die Ver­
n u n ft besiegen. Sie durchdringt das Universum. Universum wird ein Lieb­
lingsw ort fü r dies eingegrenzte Volk. ,Im Schauspiel kann der G eist das
A ll durchfliegen und trotzdem in der E n ge sich begnügen.' Im Schau­
spiel lernen w ir den S ie g der Vernunft, das T h em a der französischen R e­
volution, zuerst kennen.

2 . V orspiel a u f dem T heater. V oltaire u n d B eau m archa is


In den Jahren, in denen die Engländer den T räge r ihrer K rone erfo lg­
reich zum ersten Gentlem an ihres Landes herabdrückten ( 1 6 8 8 ) , schrieb
Molière seinen Bourgeois-G entilhom m e. In diesem Lustspieltitel trägt
der Adel von Frankreich den gleichen Nam en wie in E n g la n d : G en til-
hom m e. U nd ebenso unangefochten sind hier wie d ort sein R a n g und
seine Privilegien. Bewundernd ahm t ihm die Bourgeoisie, das Patriziat
der Städte, nach. U nd der D ichter des H ofs von Versailles m acht sich dar­
über lustig.
H undert Jahre später fallen K ö n ig und K irch e der W u t gegen den
A del zum O pfer. D er verspottete dritte Stand w ird alles, w ird die Nation.
D er A del m u ß em igrieren, soweit er nicht vernichtet wird. D ie G leichheit
siegt, die Dem okratie.
U nd „der Sohn M olières" — ein Zeitgenosse h a t von ihm g e sa g t: „le fils
de M olière est trouvé" — , der Verfasser des Tollen Tages, des unsterb­
lichen „ F ig a r o " , Beaum archais, gew innt in vier langen Jahren seinen P ro ­
zeß gegen den K ö n ig von Frankreich w egen der K om ödie, die voll Über­
m ut den G ra fe n und die G rä fin a u f die S tu fe eines Kam m erdieners und
einer K am m erzofe herunterzerrt. D en Einzelheiten dieses K a m p fes eines
einzelnen, eines Kom ödienschreibers gegen die Zensur aller M ächte der
bestehenden O rd n u n g fo lg t das neue Prinzip der französischen R evolu­
tion, das R ech t und der S ie g des unabhängigen K äm pfers um sein Recht,
seinen R u h m und seinen finanziellen E r fo lg . A lles drei ist hier in der
w underlichen M ischung verschm olzen, aus der die L eg ieru n g der bürger­
lichen G esellschaft besteht.
Beaum archais ist Bankier, finanziert den französischen A u ftr a g der
K riegslieferu n gen fü r die aufrührerischen K olonien der E n glä n d er in
N ordam erika, h at bereits m it seinem Barbier von Sevilla einen groß en
T h eatererfo lg gehabt. 1 7 7 8 dichtet er die H ochzeit des F iga ro , die geist­
reiche R ach e des w itzigen D ieners an seinem Herrn, dem G ra fe n A lm a­
viva. D ie G ro ß e n dieser E rd e aus der Froschperspektive gesehen, ent­
larvt, a u f ihre M enschlichkeit festgen agelt — sie haben nichts vor den
gem einen Sterblichen voraus. — D iese M oral wird m it Ü berm u t und
Grazie drei Stunden lan g vorgetragen.— K ein Lustspiel bis dahin war so

3o8
lang gewesen. Man prophezeite ihm deshalb den D u rch fa ll; es wurde
fünfzigm al vor ausverkauftem Hause gespielt. D as Publikum konnte sich
nicht satt sehen. Denn das Stück ist die U m kehrung des B o u rg eois-
G entilhom m e.
In dem S ch lu ß ch or des F ig a ro steht eine Strophe, die das zusam m en­
fassend ausspricht.

P a r le so rt de la naissance
L ’un est ro i l’autre est berger,
L e hazard fit leur d ista n ce :
L ’esprit seul peut to u t chan ger.
De vingt rois que l ’on encense
L e trepas brise Tantel,
E t V oltaire est im m o rte l!

Das ist im T od esjah r V oltaires gedichtet, welch eine K u n d geb u n g! Und


„der Zufall der G eburt“ steht seitdem ebenso im W ö rterb u ch der B ü rg e r-
revolütion wie ohne die „W o h lg eb o ren en “ b irth righ ts der englische
Esquire und Gentlem an undenkbar gewesen w ar. M an kennt im F r a n ­
zösischen nich t einm al diese W o rte hochgeboren und wohlgeboren. D er
Glaube an die K ra ft des persönlichen Geistes h at sie ausgerottet. E sp rit
allein genügt, um alles zu wenden.

Die G eburt bestim m t am En de,


Ob e r H irt ob K ö n ig h e iß t;
Z ufall unterschied die Stände,
W echseln kann sie n u r d er Geist.
Zwanzig K önigen, w eihberäuchert,
B rich t d er T od die R au ch altäre,
Niem als sterben wird V oltaire!

W e r ist denn dieser V o lta ire ? M an h a t ihn den N ach folger Ludw igs X IV .
genannt. E r ist der G esetzgeber des französischen Geistes. E r h at die heu­
tige französische O rthograph ie gesch affen , seine Sp rach e und A usspra­
che, die m it d er R evolution den Sieg davon tra g e n üb er die A ussprache
des H ofes von Versailles (z. B . ro i statt roy. Die R oyalisten sprechen noch
heut roy (reu aus, n ich t r o a !) .
V oltaire w ar aber auch der G enius, der nich t m üde gew orden ist, die
G roße Revolution zu prophezeien.
11 se fera sans doute un jo u r une g ran d e revolution dans les esprits
(4 3 , 5o6 , 1765);
o d e r: II s ’est fait dans Tesprit h u m ain une etran ge revolution depuis
quinze a n s . . . E n co re quelques annees et le g ran d jo u r viendra apres un
si beau m atin ( 4 6 , 2 7 4 , 1 7 6 9 ) .

309
vois jette les semences d ’une révolution
und schließlich : T o u t ce que je
qui arrivera immanquablement et dont je n’aurai pas le plaisir d’être
témoin. Les Français arrivent tard à tout, m ais enfin ils arrivent. L a
lumière s’est tellem ent répandu au proche q u ’on éclatera à la première
occasion et alors ce sera un beau tapage ( 4 3 , 175, 1764).
Und bald bekom m t F ig a ro recht. Seitdem ein Voltaire unsterblich ist,
dreht sich alles u m : D ie Privilegien fallen, denen Molières B o u rgeois-
Gentilhom m e n ach g ejag t war. A uch der A dlige m u ß sich Citoyen, B ü rger
nennen lassen, am Ende sogar der K ö n ig. A u f englisch kann man auch
heute als H öflichkeitsfloskel gu t sagen : it is a great privilege fo r m e to
see yo u in m y house. Diese Redensart würde m an a u f französisch m it
einer Grim asse beantworten. D enn Privilegien sind hier aus Sü ß igkeiten
des Adelslandes zu Bitternissen des Bürgerlandes geworden. Privilegien
zu haben oder zu beanspruchen wird eine B eleidigu ng. In Frankreich ist
m an entzückt, belebt und glücklich, jem anden bei sich zu sehen.
Alles, was der E n glän der die alten Freiheiten nennt, werden dem F ra n ­
zosen als Privilegien verdächtig. U n d alle Privilegien sind M ißbräuche.
U nd alle M ißbräuche sind fü r den Franzosen veraltet.
D er K ö n ig von E n glan d wird hingerichtet, weil m an nicht will, daß er die
alten Privilegien des Adels durch seine neuen Gesetze in Schranken halte,
und das, obw ohl das untadlige Adelsblut der Stuarts und Tudors in seinen
A d e m rollt. D em H au pt der königlichen F am ilie der Bourbonen wird ge­
rade um gekehrt die Jakobinerm ütze au fgesetzt und die ganze F a m ilie
wird guillotiniert, weil die Bourbonen „d u rch den Z u fa ll der G e b u rt“
auch die erste Adelsfam ilie Frankreichs sind, während das K ö n ig tu m im
G e fü h l jedes Franzosen die alte E in h eit Frankreichs stolz verkörpert.
In E n gla n d wird nur der K ö n ig hingerichtet. In Fran kreich m üssen
Marie Antoinette, M adam e Elisabeth, P h ilipp É galité, D au p h in und P rin ­
zessinnen m it daran glauben.
U nd nun zurück zu der G eschichte von F iga ro s H ochzeit, zu der K o ­
mödie, die d er französischen R evolution vorangeht.
Beaum archais reicht 1 7 8 1 das Stü ck bei der Com édie française ein, die
das R ech t besaß, über die Annahm e eines Theaterstückes selbst zu be­
schließen. D er Polizeipräsident L enoir wird d arau f um E rteilu n g der
Zensurerlaubnis gebeten. N un rächte es sich, d a ß Beaum archais das S tü ck
m ehrm als im Freundeskreise schon vorgelesen hatte. D as M anuskript
hatte zirkuliert. Parteien hatten sich gebildet. U n d schon 1 7 7 9 wettete
m an 200 Lou is d ’or, es werde verboten werden.
Als daher der von Len o ir bestellte Zensor die Zu lassu n g vorschlug,
w ar schon zuviel L ärm um das S tü ck erhoben worden und der P olizeiprä­
sident wandte sich vorsichtshalber an den K ö n ig . D arau fh in ließen sich
K ö n ig und K ö n ig in den F ig a r o vorlesen. B eim M on olog F igaro s im fü n f­
ten A k t sp rin gt der K ö n ig a u f : D as ist abscheulich. D as w ird nie gespielt.

3io
Man m ü ß te d ie B a stille n ied erreißen , dam it die A u ffü h r u n g dieses S tü k -
kes keine g efä h rlich e Inkon sequen z bedeutete. D ieser M ensch spielt m it
allem, fü r was eine Regierung R espekt verlangen kann.“
Diese Ä chtung durch den H of rief stürm ische N achfrage nach dem
Stück hervor, dessen W irk u n g der Z erstöru n g der Bastille gleichkom m en
sollte. B eaum archais m ußte eine eigene V orrede an die D am en für die
vielen Lesungen in den Salons verfassen. K ath arin a II. will das Stück in
P etersbu rg aufführen. Nun wird d er G roßsiegelbew ahrer angerufen. E in
neuer Zensor ist d er Präsiden t d er Akademie selber, Suard. Su ard ver­
w irft das Stück. Alles scheint zu E n d e. D a bietet m an B eau m arch ais an,
das Stück au f einem privaten F e s t in P a ris fü r Ludw igs X V I. B ru d er,
den G rafen von A rtois, aufzuführen. Am i 3 . Ju n i 1 7 8 3 soll der T a g sein,
zu dem alle G roß en des H ofes, die Prinzen, M inister und D am en, kurz die
A ristokratie geladen werden. D ie Z u fah rtsstraß en sind bereits verstopft
vom G edränge d er anfahrenden W a g e n . D a tr if f t ein B efehl des K önigs
ein und u n tersagt allen Schauspielern die M itwirkung bei S trafe seiner
Ungnade. B eim A ufprall dieser O rd re au f eine so in Spannung versetzte
G esellschaft h ö rt m an die R u f e : T yrannei, U n terd rü ckun g. Aber das Stück
wird n ich t gespielt.
D rei M onate später, am 2 7 . Septem ber 1 7 8 3 , w ird das Stück auf einem
Landschloß dennoch gespielt, und dennoch zu E h re n des G rafen von A r­
tois I B eau m arch ais hatte sich dad urch gedeckt, daß er bei d er Polizei be­
an tragt hatte, die von ihm inzwischen vorgenom m enen S treichu ngen bei
dieser A u ffü h ru n g p rü fen zu dü rfen. Als P ro b eau ffü h ru n g wurde sie ge­
nehm igt! D er neue Z ensor hatte nichts einzuwenden. N och aber bestand
das königliche V erbot. D er K ö n ig fo rd erte neue Striche. Zwei w eitere
Zensoren sollten sie begutachten. D as zweite dieser G utachten und ein
O bergutachten fielen günstig aus.
Schließlich — d a die B eam ten die letzte V erantw ortung scheuten —
rief B eau m arch ais ein richtiges Konzil e in : den Polizeichef, den G ro ß ­
siegelbewahrer, einen M inister, einen d er Z ensoren und zwei K en n er d er
L iteratu r.
Das Konzil sp rich t A nfang 1 7 8 4 das angeklagte Stück u n ter dem E in ­
druck des glänzenden Plädoyers seines V aters, das sich au f jede Einzelheit
erstreckt, einstim m ig frei.
Man sag t dem K önig, alle an stößigen Stellen seien getilgt. M an be­
ruh igt ihn dahin, das Stück werde doch au sgep fiffen w erden. Die Schau­
spieler des T h eaters u m gekehrt petitionieren, m an b rau ch e ein K assen­
stück. Im M ärz 1 7 8 4 zieht d er K ö n ig sein V erbot zurück.
Aber erst die H älfte d er T ragikom ödie dieses Lustspiels ist dam it zu
Ende. Z u n ä ch st: w ird das Stück m it seinen F rech h eiten nich t bei den Leu­
ten von G eschm ack d u rch fa lle n ? D er A u tor und seine F reu n d e sind be­
sorgt. Aber d er B ru d e r des K ön igs b eru h igt sie ; es wird E rfo lg haben.

3i i
Denn m an wird glauben, eine Sch lacht gegen die R egierung gewonnen zu
haben.
Das Stück wird am 2 7 . April 1784 m it solcher B egeisterung au f ge­
nom m en, daß die G egner und Neider sich regen. B eaum archais wird,
während das Stück den Spielplan b eh errsch t — am 2. Oktober ist die
5 o. A ufführung zugunsten eines H eim s fü r uneheliche M ütter — , m it
Pasquillen überschüttet. Sein alter Zensor Suard g re ift ihn in der Akade­
m ie an. D er E rzb isch of von P aris verketzert ihn in seinem Fastenbrief.
Schließlich tadelt ihn Su ard in seinem eigenen B latte, dem Jo u rn a l de
P aris, heftig. Am 2. März 1 7 8 5 antw ortet er in einem offenen B rie f und
ru ft au s: W a s ! Ich habe Löwen und T ig er besiegen m üssen, dam it das
Stück auf die Bühne d u rfte und ih r wollt m ich jetzt n ach seinen E rfo lg e n
dazu verurteilen, W an zen totzusch lagen ?
Die W an ze S u ard erklärte, B eaum archais habe m it Löw e und T ig er
K önig und K önigin gem eint. Am 9 . M ärz w urde d er 5 3 jäh rig e B eau­
m arch ais nach S t. L azare gebracht, dem G efängnis j ugendlicher F ü rso rg e-
zöglinge. D e r K ön ig soll den B efehl beim K artenspiel au f ein Piqu eaß
geschrieben haben.
Die öffen tliche M einung w ar geteilt. D ie ungeheuere D reistigkeit des
Spekulanten h atte ihm viele Fein d e g em ach t. A ber seine V erh aftu n g
wurde n ich t aufrech terh alten . N ach a ch t T agen kam e r frei. E r w eigerte
sich zuerst, das G efängnis zu verlassen, p rotestierte gegen das ih m ge­
schehene U n rech t, verbannte sich selbst zu freiw illigen H au sarrest und
verkaufte sein Fu h rw erk , um zu beweisen, d aß es ih m E rn s t sei. D u rch
seine Petitionen w ird e r so unbequem, d aß A n fan g Ju n i d e r K ön ig B efeh l
gibt, ihn zu beruhigen. M an bietet ihm den M ichaelsorden an, m it dem
d er Adel verknüpft ist. E r besteht d a ra u f, den Adel schon zu besitzen und
verlangt eine Pension aus d er königlichen K asse.
Und was g esch ie h t? D er M inister Galonne m u ß ih m einen schm eichel­
haften B rie f a u f B efehl des K önigs schreiben. E r erh ält die Pension aus
der Privatschatulle. „D ie H ochzeit des F ig a r o “ wird n ach sechsm onatiger
Pause am 1 7 . A ugust vor allen M inistern gespielt. B ei dem Satze des F i ­
g a r o : D a m an den E sp rit n ich t erniedrigen kann, nim m t m an an ihm
d u rch M ißhandlung R ach e, b rich t das ganze H aus in frenetischen B eifall
aus. U nd am 1 9 . A ugust 1 7 8 5 w ird B eau m arch ais ins T rian o n sch lö ß -
chen n ach Versailles eingeladen und die K önigin M arie Antoinette spielt
d o rt m it hinreißendem C h arm e die R olle d er R osine in seinem , B e a u m a r­
ch ais', anderem Stück, dem B arb ier von Sevilla, vor Ludw ig X V I ., K ö n ig
von F ran k reich und vor dem B ank ier und S ch riftsteller C aro n de B eau ­
m archais.
Am 1 4 . Ju li 1 7 8 9 re iß t der Pöbel von P a ris jene B astille nieder, die
Ludw ig bei der L ek tü re des F ig a ro in den Sinn gekom m en w ar. Als d er
H ofm arsch all dem K ö n ig in Versailles davon M eldung m ach t, sag t L u d -

3l2
w ig X Y I. : D as ist ein Aufruhr. — Nein, sagt der Hofmann, das ist die
Revolution.
W ie hatte Voltaire ge sag t? T o u t ce que je vois jette les semences d ’une
révolution qui arrivera immanquablement, et dont je n ’aurai pas le plaisir
d ’être témoin. Les Français arrivent tard à tout. Mais enfin ils arrivent.
L a brumière s’est tellement répandue de proche en proche, q u ’on éclatera
à la première occasion ; et alors ce sera un beau tapage.
U nd auch den W e g hatte Voltaire rich tig prophezeit : „Jam ais vingt
volumes in folio ne feront de révolution, ce sont les petits livres portatifs
à trente sous qui sont à craindre.“
D azu aber tritt das Theater. E s wird die m oralische Anstalt der R evo­
lution, wie der Dichter, den der G eist der Revolution in D eutschland am
tiefsten gepackt hat, die Schaubühne genannt hat.
D ie Schauspieler spielen nicht nur den Tollen T ag. Eine Schauspielerin
spielt auch die G öttin der V ernunft bei dem F est a u f dem M arsfeld 1 7 9 4 .
Ein Schauspieler trägt auch die erste Sansculottentracht. Acteur und A c­
trice geben der französischen Revolution etwas m it von der theatralischen
Geste, dem deklam atorischen Schw ung, der Verve und dem Enthusiasm us.
Die französische Revolution hat das B eifallklatschen aus dem Theater in
das öffentliche Leben eingefü hrt, in dem es früher verpönt war. D er Erbe
aber der politischen Leidenschaften von 1 7 8 9 , Georges Clém enceau, h at
sich hund ertund fü nfzig Jahre nach der E n tsteh u n g des Stücks eine alte
Ausgabe des „ F ig a r o “ ins G rab legen lassen.

3. D ie H errscha ft der Id een von 1 7 8 9


D ie f r a n z ö s i s c h e R e v o l u t i o n s t e h t u n s z u n a h
Die französische Revolution ist noch heut in aller Munde. Zw ischen ihr
und der russischen Revolution steht die europäische W elt. D er einzelne
Europäer m u ß seinen Standpunkt wählen im bürgerlichen oder im n ich t-
bürgerlichen Lager. D as bürgerliche L a g er aber ist das L ag er der Ideen
von 1 7 8 9 . E s ist das L a g er der liberalen G rundsätze von Freiheit, G leich ­
heit und Brüderlichkeit. D er bürgerliche B ew ohner unseres Erdteils lebt
also unter der B ü rgsch a ft der bürgerlichen Revolution.
Aber auch der unbürgerliche Sozialist oder K o m m u n ist oder Bolsche­
wist sieht die W e lt im Lichte der G esellschaftsordnung von 1 7 8 9 . E r be­
käm pft die bürgerliche Gesellschaft. E r b ek äm p ft sie als die letzte K las­
sengesellschaft, als den In b e g riff aller Klassengesellschaften. Sie b egreift
ihm die gesam te V ergan gen heit in sich, aus der er die Z u k u n ft heraus­
zuschlagen h o fft. A u ch ih m verstellt also die K ulisse der französischen
Revolution die älteren H intergründe unseres Geschicks.
D ie B lendu ng durch das L ic h t der französischen Revolution hat sowohl
den Sinn des Papsttum s, des deutschen Einzelstaats wie des englischen

3i3
Adelslandes verdunkelt. W elch e Mühe hatten wir in den frü heren Ab­
schnitten, die Papstrevolution herauszuarbeiten. Denn die gesam te liberale
G eschichtsauffassung sieht in Papst und K irch e den R eaktionär, und in
der italienischen G eschichte legt sie den H auptakzent au f die F r a g e der
nationalstaatlichen Einh eit Italiens. H inter dieser Ideologie m u ß te unsere
Revolutionsgeschichte dringen, um den Quellpunkt d er politischen Revolu­
tionen gerade beim Stuhle P e tri in R om zu finden.
Die deutschen Landesuniversitäten von heut werden ebenfalls m eistens
im Lichtkegel des französischen Freih eitskam pfes gesehen und gedeutet.
Denn gerade ih re Anwälte fühlen sich als die N ach folger der H um boldt,
F ich te oder Sch leierm ach er, d. h. der N eugründer der U niversitäten nach
1 8 0 0 . Diese N eugründ er handelten aber im Banne des Zeitgeistes. Sie
waren in ih re r S taatsau ffassu ng und in ihrem W eltbild ideegläubig. Und
sie verdanken diesen Glauben an die kraftbew ußten B ild er und bew ußte
Bildung der M acht, die 1 7 8 9 hervorgebrochen w ar. Die neue U niversität
des Idealism us unterstellte sich d er G ro ß m ach t der Philosophie. Die erste
und einzige philosophische und idealistische W eltrevolution ist aber die
Revolution von 1 7 8 9 .
F reilich h ü tet eine eifersüchtige nationale G eschichtsschreibung das B il­
dungsideal des deutschen Idealism us und w ehrt den V erd ach t ab, als segle
er im Schlepptau welschen Zeitgeistes. A ber auch wenn sie re ch t h at,
so ist eben die nationale G eschichtsschreibung selbst eine F r u c h t d er fra n ­
zösischen Revolutionsgedanken. D ie neue weltliche N ationenideologie ist
gerade die M itgift d er g ro ß en R evolution von 1 7 8 9 an alle N ationen,
auch an die deutsche.
Die tiefsten religiösen Verbindungen von F ü r s t und P ro fe sso r m it der
Landeskirche erschließen sich dah er n u r dem , der weit h in ter die philoso­
phische U m bildung des deutschen Akadem ikerstandes um 1 8 0 0 zurück­
g reift. Die T aten d e r g roß en deutschen Idealisten um 1 8 0 0 enthüllen sich
dann als A npassungsvorgänge des deutschen Erbguts an den Z eitgeist.
Die A npassung des Idealism us an die Ideen von 1 7 8 9 w ar notw endig,
um die deutschen Staaten d e r R efo rm atio n vor dem Z usam m enb ru ch zu
r e tte n ; m it dem Z usam m enb ru ch aber bedrohte sie N apoleon als d e r
V ollstrecker d e r französischen Revolution.
Am schlim m sten h at vielleicht die französische Revolution den E n g ­
ländern m itgespielt. An die Stelle d e r W h ig s und T ories, d er K ö n ig s­
gem einen und der Landesgem einen des P arlam en ts sind u n ter dem gei­
stigen D ruck d e r französischen R evolution L iberale und Konservative auch
in E n glan d getreten . D as gem eine alte H erkom m en des Landes, das klare
und h ö ch st bestim m te Stich w ort d e r englischen Revolution h atte den
Ständ estaat gegen K önigsw illkür geschützt. 1 7 8 9 verwandelte e r sich in
den S am m elb eg riff des ancien régim e, d e r sta tt des „ alten “ und unwill­
kürlichen n u r das V eraltete und A bstruse am S tänd estaat betont.

3 14
Aber nicht n u r der Sinn der alten Ereignisse wird so seit 178 9 bür­
gerlich national liberal abschattiert. Auch der äußere Ablauf der älteren
europäischen Revolutionen verblaßt vor der Bew ußtseinshelligkeit der
französischen Revolution. H ier fallen nicht die m eh r theologische und die
m ehr politische Revolution auseinander wie in dem England von i 6 / * 9
und 1 6 8 8 . H ier lä ß t m an nich t das B lutvergießen der Adelsfehden oder
des Bauernkrieges (V endée!) aus d e r strengen Logik des Gesam tprozesses
heraus, wie in d er deutschen R eform ation .
H ier ringen nicht Menschen des Zeitalters um den Ausdruck des Revo­
lutionsprogram m s wie in dem P ro zeß , den die Päp ste gegen Philipp von
Schwaben, gegen F rie d rich II. und gegen K onradin im m er wieder aus­
tragen m üssen.
Von 1 7 8 9 an weiß m a n : die Revolution ist da. Und auch ein Napoleon
kann nichts tun, als sie vollstrecken, indem er ihren Sam en in alle L än d er
E u ro p as aussät, in Italien und in Polen, in D änem ark und in Spanien, in
Irland und in P reu ß en , aber sogar in Byzanz und Buenos Aires zündet d er
revolutionäre N ationalstaatsgedanke in den Gluten d er napoleonischen
K riege.
Diese überklare E in h eit d er französischen Revolution erschw ert den
Vergleich m it ihren älteren G eschw istern. Aber trotzdem zerfällt auch die
französische Revolution in zwei g ro ß e Abschnitte. Auch die französische
Revolution b rich t aus in dem Lande, das am tiefsten u n ter den F o lg e n d er
vorhergehenden, d er englischen Revolution leidet. Auch die französische
Revolution antw ortet m it einer Sp rach e au f die K lagen d er Zeit, die in
der R eihe der europäischen W eltsp rach en nun „ d a ra n “ ist. N ur als Glied
unter M itgliedern, nu r als französischer W id e rsp ru ch gegen die englische
Sprachweise und n u r als überwältigende und überraschende Notwendig­
keit fü r die M enschheit verdient die französische Revolution die g ro ß e
Revolution zu heißen. Denn n u r diese drei Eigen sch aften reinigen sie von
dem V erdacht, dem K o p f w illkürlicher D enker als Spiel der Einbildung
und des V erstandes entsprungen zu sein. G erade d er R ationalism us und
die philosophische Ausdrucksweise d er französischen Revolution könnten
den V erdacht erwecken, als sei die französische Revolution eine einm alige
E m p ö ru n g und Selbstüberhebung d er H ure V ernu nft. Alle G egner d er
Ideen von 1 7 8 9 haben m it diesen A rgum enten die französische R evolution
gebrandm arkt. V o r einiger Z eit aber schon h a t ein K atholik den V ersuch
gem acht, die französische Revolution als ein „k atholisches“ E reig n is zu
erweisen. Ein e ew ig-m enschliche F r a g e sei d u rch sie neu gestellt und d er
M enschheit an das H erz g eleg t w orden. D er V ersuch erk lärt sich daraus,
daß dieser K atholik ein F ran zo se ist, d er in E n glan d eingebürgert lebt.
Anders als seine R eligionsverw andten in F ra n k re ich selbst em pfand er das
Unverständnis d er B riten fü r die Ideen von 1 7 8 9 als doch noch g o ttlo ser
denn die philosophisch-antikirchliche Sp rach e d er Revolution seines U r -

3i5
sprungslandes. Von H ilaire Belloc — er h at diesen V ersuch unternom ­
m en — unterscheidet m ich nur, daß ich nicht von dem F o ru m R om s die
Franzosen gegen England zu rechtfertigen hab e; ih r Stichw ort fällt für
m ich innerhalb eines D ram as, in dem auch R om nicht außerhalb der
Bühne als K ritik er sitzt, sondern in dem R om eine Rolle spielt wie w ir
alle.
Schon dam it ist gesichert, daß es sich auch 1 7 8 9 um der M enschheit
g roß e Gegenstände, um die G estalt des M enschen in unserer Z eit handelt.
Deshalb gehören auch die Anklagen gegen das E rgebnis der franzö­
sischen Revolution erst in die G eschichte d er nächsten Revolution, der
russischen. W ir m üssen versuchen, die ewige Stim m e der M enschlichkeit
auch in d er französischen Revolution zu vernehm en, trotzdem sie den
Deutschen seiner V ergangenheit, den C hristen seiner K irch e und den
Erdensohn, das P ro le ta ria t, seiner Arbeit entfrem d et hat.

3i6
XVI. DIE ISL E DE FRANCE
UND DER NATIONALSTAAT

1. Versailles
er R uhm des deutschen K aisers und des ewigen R om h at die N ach­
D folger der w estfränkischen K arolin ger nie ruhen lassen. Ih r Lan d
m ußte m indestens die älteste T o ch ter d er K irch e heißen, die gallikanische
K irche genoß seit Philipp dem Schönen im m er besondere V orrechte. Und
als die m ilitärische M acht d er K önige erstarkte, h a t sie sich gleich gegen
das alte K aiserland Italien gewendet. K a rl V III., Ludw ig X I ., F ra n z I.
käm pfen um Mailand gegen den K aiser und hängen d ergestalt an den
letzten T räum en des abendländischen R eichs nich t anders wie K aiser
K arl V., dieser letzte K aiser des M ittelalters. _
A uf F ra n z I. fo lg t sein Sohn H einrich II. Und wieder lag die trau rig e
L ast des K rieges in Italien au f ihm , dieses K am pfes aus P restige. G eopo-
litisch w ar die Schw äche des Landes F ra n k re ich anderswo. Indem d er
deutsche K aiser das H erzogtum L oth rin g en , das E lsa ß und die F re ig r a f ­
sch aft B u rgu n d beherrschte, kam e r bedrohlich nahe an P a ris heran. Im
Oktober i 5 5 i fand nun ein folgen reich er französischer K ro n ra t statt.
Man w ar des Glaubens, K a rl V. wolle T ruppen nach Metz, T oul und V er­
dun legen. D a rie t der M arschall von Vieilleville, d er K önig von F ra n k ­
reich solle K arl zuvorkom m en. D as E rg eb n is w ar, daß H einrich I I. sich
aus d er unseligen V erfü h ru n g von Italien riß und die französische Politik
Italien den Rücken kehrte.
Die K önige von F ran k reich entsagen also den n och aus der kirchlichen
Einheitsw elt stam m enden M achtträum en. W a s w ar aber dann ih r Gebiet
auf der L an d k a rte ? D as, was w ir heute F ra n k re ich nennen, gab es nicht.
D as A relat und B u rg u n d w aren K aiserlehen. E n glän d er saßen an d er
Küste. Ganz F lan d e rn w ar spanisch. Die H e rrsch e r d er Isle de F ra n ce
brauchen ein neues K ad er fü r ihren veränderten politischen R au m . Die
Epoche d er deutschen R eligionsparteiung e rö ffn e t diesen R au m . M oritz
von Sachsen hatte ihnen gleich i 5 5 2 Metz, T oul und V erdun ausgeliefert.
D er D reiß ig jäh rig e K rie g d er deutschen P ro testan ten und K atholiken er­
öffn et der französischen politischen. Spekulation eine vorher nie erträu m te
M öglichkeit. Und die Ph antasie sieht eine neue L an d k arte vor s ic h : L a
F ra n ce, die K arolingische D ritteilserb schaft w ird gleichgesetzt m it dem
Gallien C äsars! F ü r das M ittelalter ein ganz ab su rd er G edanke! D am als
berief sich d er E rzb isch o f von T rie r fü r die M otivierung seiner K urw ürde
im D eutschen R eich au f sein P rim a t in „G allien“ und w ar deshalb K anz­
ler auch fü r A relat und B u rg u n d in d e r deutschen R eichsregieru ng.
A ber nun w ar m an in E u ro p a , im w eltlichpolitischen R au m , und nah m

3i 7
keine R ücksicht au f Kirchenprovinzen. Und so konnte Richelieu sagen :
„ L e but de m on ministère à été de rendre à la G aule les frontières que
lui a destinée la nature, de rendre aux Gaulois un roi gaulois, de con­
fondre la Gaule avec la France et partout où fu t l ’ancienne G au le d ’y
rétablir la nouvelle.“
D am it hat das K ö n igtu m seine kirchlich-karolingische A u fgab e m it
einer weltlich-europäischen vertauscht. Sie ist weltlich und ist europäisch.
Cäsars Gallien m it der Rheingrenze — aber w ohlgem erkt ohne die poli­
tische Zerrissenheit, in der es Cäsar an trifft — , soll jetzt das L an d d er
K ö n ige von Frankreich werden. D ie K riege gegen Spanien, gegen die H ol­
länder, gegen das D eutsche R eich dienen diesem Ziele. Religionskriege,
Revolutionskriege und Reunionskam m em , E rbfolgekriege — alles sind
bloß untergeordnete M ittel zu einem Zwecke, der aus einer Totalvision
genährt w ird ; und diese Vision h eiß t n ich t a u f Erbrecht beruhende N ach­
fo lge an die K rone des heiligen L u d w ig, sondern Gallien l D as franzö­
sische V olk soll also von T a g zu T a g w eniger einem angestam m ten M on­
archen gehorchen als hineingehören in eine geographische Renaissance­
größ e, in die wiederhergestellten natürlichen Grenzen Galliens.
D e r B e g r iff der natürlichen Grenzen wird von R ichelieu nicht fü r la
France g e b r a u c h t D a s wäre dam als lächerlich gewesen. D enn natürliche
Grenzen h at n u r das alte G allien! D ie A ntike hat eben die wahre N atur
schon einm al offenbart. Als O ffe n b aru n g der hum anistischen Antike ist
dieses Sch lagw o rt von den natürlichen Grenzen in die P olitik eingedrun­
gen und beherrscht seitdem alle von den Ideen von 1 7 8 9 faszinierten
G eister!
Frankreich kann also nur dann natürliche Grenzen bekom m en, wenn es
m it dem antiken G allien identisch wird. E ben dies geschieht nun im G eist
und in der T a t 1 7 8 9 . D am als werden die H olländer zu Batavern, die
spanischen N iederlande werden zu Belgiern. In der Vokabel B elgien h at
sich diese klassizistische R aum ideologie bisher sogar allein verewigt. D enn
die Franzosen haben ihre douce Fran ce doch n ich t in G allien u m getau ft.
H ingegen die Bew ohner gerade der fränkischen Sitze, die relativ blut­
reinsten N achkom m en der salischen F ranken haben heu t tatsächlich einen
keltischen N am en der B elgier!
D ie Richelieusche Hum anistenvision vom antiken G allien triu m phiert
in der G rü n d u n g Belgiens ( 1 83 o ). D ieser T riu m p h schien zunächst u n m ö g­
lich. D en n die christlich-abendländische Tradition Frankreichs stand ent­
gegen. A ber m it H einrich III. hat der K o n flik t der beiden Traditionen be­
gonnen. D ie T rä g e r des K o n flikts sind das K ö n ig tu m und Paris. A m A n ­
fa n g ist das K ö n ig tu m hum anistisch und Paris katholisch. D ie K ö n ig e
sind aufgeklärt, die Sorbonne ist orthodox. G o tt behüte uns vor des K an z­
lers Messe, sagte m an von des K ö n ig s weisem M inister M ichel de l ’H o p i-
tal. H einrich IV . ist dann der gu te weltliche K ö n ig , der trinken, fechten

3i8
und galant sein kann, der will, daß seine Bauern Sonntags ein Huhn im
Topfe haben, d er seine K inder höchst unköniglich auf sich reiten lä ß t —
Paris aber erzwingt seine Bekehrung. Das Königtum will tolerant sein.
Die Pariser m achen daraus die Greuel d er B artholom äu snacht.
Ausdruck dieser klassizistischen Pionierstellung des K önigtum s wird
der B au von Versailles. H ier wird d er K ö n ig frei, um sein neues .W elt­
bild auszudrücken. Versailles erw ächst zum P alais du Soleil aus dem G ar­
ten. Die G artenfeste eilen um ein Ja h rz e h n t dem Sch loß bau voraus. Sie
bereits m achen Versailles berühm t. H ier w erden die W asserkünste einer
wasserlosen Gegend abgezwungen. D as h errlich e V ergnügen, die N atu r zu
bezwingen, wie es d e r H erzog von S t Sim on nennt, h a t Ludw ig X IV . zu
der reizlosen Gegend von Versailles verfü h rt und an sie gekettet!
Seit dem 6 . M ai 1 6 8 2 ist Versailles die ständige Residenz. E s b irg t 2 2 0 0
P ferde, 1 5 o o O ffiziere und B eam te, 1 0 0 0 0 0 K erzen brennen bei den F esten.
Schon 1 6 8 0 h eiß t es, Italien m üsse nun seinen R u h m in d e r A rch itek tur,
Skulptur, M alerei, G artenbau, W asserkü nsten an F ra n k re ich abtreten. „ V e r ­
sailles seu l s u f f i i p o u r assu rer ä jam ais ä la F ra n ce la gloire qu’e lle a ä p ré­
sent de surpasser tous les au tres ro yau m es.“ „G ’est une ville, c ’est un m onde
que ce palais.“ Und dieses Sch loß , das eine ganze W e lt bedeutet, ist allen
sichtbar. M an kann selbst die R äu m e d e r königlichen F am ilie und diese
selbst sehen. Alle G itter fallen an den Sonntagen. U nd „le g ran d ob je t oü
était le ch arm e, c ’est le ro i“ . D ieser K ön ig h at ein Leben d er Ö ffentlichkeit
gelebt wie wohl niem and vor ihm und nie w ieder n ach ihm . E r ist buch­
stäblich zu Lebzeiten ganz so in Glas ausgestellt w orden wie Lenins
Leiche im K rem l. Vom königlichen N achtstuhl, S ch nup ftu ch und V apeur
angefangen, entging nichts d er öffen tlichen Teilnahm e. B eim Lever du
roi ist ganz F ran k re ich im Oeil de Boeuf, im V orzim m er versam m elt.
La se tiennent chaque jo u r attendant le lever du ro i ceux qui p a r leu r
naissance, leu r ch arg e, ou la volonté du souverain on t d ro it au x diverses
entrées sans p arie r de la foule des gens de qualité, card in au x, archevêques,
am bassadeurs, ducs et pairs, m aréch au x de F ra n c e , gouverneurs de p ro -
vince, lieutenants gén érau x, présidents de P a rla m e n t qui* viennent faire
leur cou r. Tóutes les gloires de la F ra n c e geben sich hier Rendez-vous.
Das Genie dieses neuen gallischen R eiches d rü ck t sich aus in den fran zö­
sischen In sch riften des Spiegelsaales, die von R acin e und B oileau v e rfa ß t
sind und die an die Stelle d er lateinischen treten . A ber auch das Schick­
sal des R eiches spiegelt sich hier. F ü r den K rie g ließ Ludw ig X IV .
zwischen dem 3 . D ezem ber 1 6 8 9 und de m 19. Mai 1 6 9 0 2Öoo Gold-
und Silbergegenstände aus V ersailles in die M ünze bringen und ein-
schm elzen!
D ieser H o f des Sonnenkönigs z e rstö rt alle ö rtlich en Residenzen und
Schlösser. D enn d er gesam te Adel des Lan des m u ß sich in Versailles an ­
siedeln. D er d ritte H erzog von L a R ochefou cauld verbringt in 5 o Ja h re n

3 iq
n u r 2 0 N ächte außerhalb von Versailles. Die Schlösser des Adels werden
zu Som m ersitzen oder zu Jagdschlössern herabgedrückt. Die Intendanten
des K önigs regieren das Land. D as adlige F ran k reich , die gesam te regie­
rende Klasse wird zentralisiert in d er neuen Residenz.
Versailles, das heute keine 3 o o o o Einw ohner zählt, kam dam als auf
über i o o o o o !
Derselbe K önig, der noch einen Aufstand des Adels erlebt hatte, bricht
so jeden W iderstand . E r sch ü ch tert d u rch die G röß e seiner H altung ein,
er heißt le gran d m onarque, sein erster F e ld h e rr h eiß t d er g ro ß e Condé,
die geistvolle H erzogin von O rléans h eiß t die g ro ß e M ademoiselle, sein
Zeitalter h eiß t le gran d siècle. A u ß er V ergleich m it aller T radition tritt
dadurch alles, was in Versailles geschieht. Die neue politische N atu r des
Staates b rau ch t einen n u r dieser N atur des Staates vorarbeitenden, diese
neue N atur herbeiführenden M ittelpunkt. Dieses Z entrum ist selbst nicht
natürlich. Denn es will die N atu r j a erst schaffen. E s ist das die N atu r
heraufzw ingende Z entrum . Aber es ist au f die N atu r angewiesen. Seine
christliche T radition allein kann ihm die neue A u torität nicht verschaffen.
Die R ückkehr zu r N atur, au f der die französische R evolution beruht, be­
ginnt eben m it den klassischen Spielen a m H ofe Ludw igs X I V ., an denen
d er K ön ig m itspielt, und R ousseaus Ideale haben nirgends liebevollere
V erkörperung gefunden als in dem dörflichen Idyll, das M arie-A ntoinette
fü r sich und ih ren H o fstaat im P a rk des T rianonsch löß chen s h a t aufbauen
lassen.
Derw eil ist P a ris eine häßliche, winklige S ta d t; aber m it einer halben
Million Einw ohnern ( 1 7 8 9 h at es 6 0 0 0 0 0 ) ist es die volkreichste S tad t
E u ro p as. Indes fast ohne K unstbauten, ohne Schönheit b eh erb ergt sie die
vielen geschickten H andw erker, diese vielen K au fleu te, P riester, M önche,
G elehrte, B ankiers, Advokaten und ihren A nhang. Von 1 6 7 5 bis 1 8 0 5 ist
am Louvre n ich t gebaut w orden. Von i 6 4 5 bis 1 6 8 7 stand im Stadthaus
von P a ris ein Standbild Ludw igs X IV ., wie e r einen au frü h rerisch en P a ­
riser unter die F ü ß e tritt. P a ris ist in U ngnade. Eben deshalb kann Ver­
sailles trium phieren. A ber P a ris behält etwas voraus vt>r dem neuen g al­
lischen M ittelpun kt: P a ris ist kein P ro d u k t d er französischen K önige. E s
ist u rsprün glich wie sie. Alle andern Gewalten d e r L än d er d er französi­
schen K ron e verblassen vor den S trahlen d er aufgehenden S o n n e : Adel
und B isch öfe und — m it d e r A ufhebung des E d ik ts von N antes i 6 8 5 —
die H ugenotten. Die neue, g ro ß e , aber gew altsam e B egrü n d u n g des K ö ­
nigtum s entw urzelt alle noch so festgegründeten O rdnungen des ancien
régim e. D a w ird P a ris ein fester B lock einer G egenrichtung. Seit d er
V erlegung des H ofes n ach Versailles bildet sich in P a ris die geistige
G egenbew egung aus, die Versailles überversaillen, die dortige R ückkehr
zum H um anism us, zu r N atu r, zu r Antike überbieten w ird, um sich selbst,
um P aris zu regenerieren. D ie W ied erg eb u rt von P a ris beginnt ip dem

3 2 0
Augenblick, wo Paris modern wird und moderner werden will, als Ver­
sailles ist und je werden kann.
1 6 8 0 ist der Hof der Ausgangspunkt aller N euerungen. Paris ist o rth o ­
dox und konservativ. 1 7 8 0 hat sich das Verhältnis um gekehrt. P aris hat
sich entschlossen die Visionen Richelieus und d er K önige zu eigen g e­
m acht und ist bereit, sie zu übertreffen. P aris will an der Spitze der Zi­
vilisation m arschieren. D er K önig von F ran k reich aber, der revolutio­
näre Schöpfer von Gallien, verschwindet vor den Blicken der P a rise r in
dem G edränge des Adels von Versailles. Nicht den H of, nur noch die
Höflinge sieht m an. Die M assierung d er A ristokratie h at den Geist er­
stickt, der das K önigtum nach Versailles g e fü h rt hatte, diesen Geist der
Schöpfung einer neuen N atur aus dem N ichts. Seltsam e Um w älzung gegen
das 1 7 . Jah rh u n d ert. H einrichs IV . R echtgläubigkeit w ar im m erhin zer­
brechlich gewesen. Jedes Ja h rz e h n t des 1 7 . Jah rh u n d erts betont stärker
an dem C äsar von Versailles seine A bstam m ung von Ludw ig dem H ei­
ligen. D er Geist des heidnischen R o m hatte den C äsar in Versailles g ro ß
gem acht. Je tz t verblaßt Versailles vor dem neuen Athen, dem republikani­
schen P aris.
D er Gedanke des einheitlichen, des gallischen F ran k reich w ar ein neuer,
europäischer Gedanke gewesen. V or ihm hatte die katholische T radition
des christlichen F ran k reich kapitulieren m üssen. An ihn, an dem G eist
von Versailles hatte die katholische H ochschule von P a ris ihre geistige
Rolle in der m ittelalterlichen Geisteswelt abgetreten. J e m eh r Versailles
zum In b egriff des H erkom m ens, d er M ißbräuche des Adels herabsinkt,
desto sinnloser wird diese A b tretun g an die künstliche S ch öpfung L u d ­
wigs X IV .
Deshalb gehen alle A n griffe der französischen A ufklärung n u r gegen
das H erkom m en und den Z ufall d er G eburt. „ H e rr G raf, weil I h r ein
g ro ß er H e rr seid, haltet ih r E u ch fü r ein G en ie? I h r habt E u ch d ie M ü h e
gegeben, geboren zu w erden, sonst nichts. Im übrigen seid Ih r ein recht
ordinärer M ensch“ (F ig a r o ). H ingegen begeistert, j a identifiziert sich V ol­
taire m it Ludw igs X IV . Lebenswerk. Die französische R evolution h a t be­
kanntlich den Stil ih re r K önigszeiten nich t au sro tten können. Die Stile
Louis X V . und Louis X V I. w erden in dem bü rgerlich en F ra n k re ich des
19. Ja h rh u n d erts eifersüchtig konserviert. N ich t das, was „ g ra n d “ ist an
Versailles, will m an tre ffe n m it d e r K ritik. D enn das G r o ß e ist gerade
das naturalistisch-revolutionäre E lem en t des K ön igtu m s. M an will das
katholisch-feudale E lem en t vernichten, das m an so lange — gegen Valois
und gegen die B ourbonen — einst g erad e in P a ris selbst verteidigt hatte.
Die berühm te A ufhebung des E d ik ts von N antes i 6 8 5 zeigt rech t deut­
lich die seltsam e D urch ein an d erw irru n g der G rundhaltung beider M ächte,
des K önigtum s und des B ü rg ertu m s.
Als H einrich IV . 1 5 9 8 dies E d ik t erließ, d a w ar e r um d er S ta d t

21 Rosenstock 3 2 1
P aris willen wieder zur Messe gegangen. Den m ächtigen hugenottischen
Adel d rau ß en im Lande schützte e r m it dem Toleranzedikt.
Bis i 6 8 5 aber w ar ein Adliger nach dem anderen um der H ofgunst
willen katholisch geworden. N ur noch B ü rg er, und zw ar gerade die flei­
ßigsten und geschicktesten, tra f deshalb seit diesem Ja h re die fu rch tb are
H ärte der D ragonaden und der Verbannung. In P a ris aber hatte ein
Jah rh u n d ert den G laubensfanatism us abgekühlt. Die unteren Stande tru ­
gen nicht m eh r den alten R eligionshaß. Man glaubte — dank dem Bei­
spiel des H ofs, d e r seit Richelieu j a die ausländischen Protestan ten unter­
stützte — nich t m eh r an das D ogm a, daß Staat und K irche schlechthin
identisch sein m üßten. Und so kam zw ar die A ufhebung des Edikts von
Nantes, als letzte Konsequenz des Ü b ertritts H einrich IV. neunzig Ja h re
zuvor, von der Seite des K önigs h e r ganz folgerichtig. Aber P aris forderte
nun diese Konsequenz nicht m eh r, sondern begann gerade, gereizt durch
Versailles, au f den neuen Geist der vernünftigen N atu r, der von d o rt aus­
ging, sich üm zustellen! P a ris nahm genau die G egenpartei als u n ter Hein­
rich IV. D as E d ik t von Versailles ist in ganz F ra n k re ich g rau sam voll­
streckt w orden, n u r in P a ris n ich t! H ier fü rch tete m an , die K lagen m ö ch ­
ten zu laut w erd en ! Zehntausende von H ugenotten (m an h at behauptet
über i o o o o o ) lebten also hier rechtlos im S taat, geschü tzt n u r d u rch
die Sitten von P a ris ! P a ris blieb auß erh alb der V erfassung.
Die A ufhebung des Edikts von N antes ist deshalb die W en d e d er Zeiten,
ist d er D ruckpunkt fü r die französische Revolution gew orden, weil das
K önigtum h ier neben sein neues „gallisches“ Prinzip au f sein altes, frän ­
kisches zurück greift. Ludw ig X IV . ist ziem lich achtlos a u f dieses E d ik t
von Versailles eingegangen, ohne zu ahnen, d aß sein Versailles d ad urch,
daß dies E d ik t au ch „von V ersailles“ genann t w ird, dauernd beschm utzt
werden w ürde.
Aber gerade diese A chtlosigkeit ist bezeichnend. E s ist das erstem al,
d aß in Versailles selbst der alte christlich e G eist des K ön igtu m s H e rr
werden konnte über den neuen G eist d er „ G rö ß e “ ! M an h a t den K ö n ig
weitgehend üb er die üblen F o lg en seines E rlasses im U n k laren gelassen.
E r glaubte, geradezu den W ü n sch en vieler H ugenotten entgegenzu­
kom m en.
Versailles bot also keine Sicherheiten gegen die H interhalte des alten
F ran k reich . E s ist Ludw ig X IV . u m gekehrt gegangen wie dem Z aub er­
lehrling. D ieser w eiß, d aß e r m äch tige G eister r u f t und wird sie dann
nich t los. Ludw ig glaubt, die G eister d er V orzeit schw ach zu sehen. E r
g etrau t sich, die bisherigen T rä g e r dieser G eister, Adel und K leru s, an
seinen Sonnenw agen zu ketten. E r ru ft die T rä g e r zu sich, weil e r über­
zeugt ist, d aß sie keine selbständigen G eister m e h r sind, d aß sie n u r von
der Sonne seines Geistes k ü n ftig sich n äh ren und W eisu n gen em pfangen
werden. A ber sein G eist w ird selbst schw ach. In den G estalten, die e r um

322
sich sammelt, in den Tausenden von H erzogen, G rafen, Edelleuten, B i­
schöfen und P riestern und in all den schönen F ra u e n seines H ofes brechen
seit i 6 8 5 , also noch unter seiner H e rrsch a ft die alten G eister hervor,
die jedem Stande, jedem B erufe, jed er K lasse der G esellschaft ein fü r
allemal eigentüm lich sind. Sein „N ach fo lg er“ Voltaire e rst h at diese Reve-
nants in die G räber zurückgescheucht. V oltaire aber residiert nicht m eh r in
Versailles.
Die beiden ersten Stände, K lerus und Adel, sind in Versailles ver­
sammelt. Das fleißige, schaffende, handeltreibende B ü rg ertu m , die Bauern
auf ihren Ä ckern hatte der K ön ig nich t in Versailles konzentrieren kön­
nen. Kein Zweifel, daß dieser Z entralist es sonst getan hätte, wenn es n u r
eben m öglich gewesen wäre. Die N ichtbeteiligung des Landes an dieser
Zentralisation äu ß e rt sich sehr handgreiflich. Im 1 8 . Ja h rh u n d e rt über­
nim m t die Zentralverw altung aus den nichtfranzösischen Län dern der
„Raubkriege“ , aus Län dern also, die d u rch die „natürlichen G renzen“ -
politik neu an die Isle de F ra n ce anzugliedern sind, die S traß en fro h n .
Diese S traß en fro h n aus dem A rtois, Loth rin gen , der F re ig ra fsch a ft und
dem E lsaß verbreitet sich binnen zwanzig Ja h re n d u rch das ganze Lan d.
Adel und Geistlichkeit sind von dieser „G orvee“ befreit. Sie ist eine neue
Arbeitsdienstpflicht, d u rch die F ra n k re ich ein Straßenn etz erh ält! 2 8 S tra­
ßen führten am En de des achtzehnten Ja h rh u n d e rts von P a ris an die
G renzen: Sie messen i 5 0 0 0 km . 9 7 S traß en , trotz ih re r g rö ß e re n Zahl
nur 17 0 0 0 km lang, führten von Grenze zu Grenze ohne P a ris zu berüh­
ren. Diesen 3 2 0 0 0 km S traß en fü r zentrale Staatszwecke standen n u r
2 0 0 0 0 km B inn enstraßen gegenüber.
D er zweite g ro ß e T rau m w ar die K an alisieru ng des Landes. W ie m an
in dem w asserarm en Versailles die N atu r bezwungen hatte, so ja g te ein
Projekt das andre, um „ein allen Provinzen gem einsam es A usfallstor durch
das Zentrum des R eich s“ zu finden, etwas „dem K anal des R eichs d er
Mitte ähnliches, das alle Provinzen direkt in V erbindung b rin g t“ (G rivel
1 7 8 3 ) . O d er: „E in e V erbindung des M ittelm eers m it dem O zean“ w ieder
„durch das Z en tru m des R eichs und die H au p tstad t“ (Bilistein 1 7 6 4 ) .
„V or lauter E if e r um das zentrale K analsystem ließ m an die n atürlich en
Flüsse, die es verbinden wollte, versanden“ , sag t L etaco n n au x.
Die N atur, die m an sch affen will, ist eben eine künstliche, klassizistische
Natur. Die neuen L asten d a fü r tr ä g t der B au er und B ü rg e r. D er Adel und
der K lerus gen ieß t die F rü ch te .
Als der Sonnenkönig und seine N ach folger das K onzentrationslager der
herrschenden S ch ichten in Versailles n ich t m e h r in Schranken halten
konnten, — und d aß dem so sei, zeigte sich eben zuerst beim E d ik t von
Versailles — d a m eu terte d er Teil seiner Lan dständ e, den er in dies L a ­
g er nicht hatte einbeziehen können, an ih re r Spitze d er tiers etat, die B ü r ­
gerschaft. Denn d aß die G eneralstaaten des K önigreichs seit 1 6 1 4 n ich t
21* 323
m eh r zusam m engerufen wurden, tr a f den tiers état allein m it voller
W u ch t. Und so verband sich dieser m it dem einzigen noch übrigen U r­
sprungsfaktor von F ran k reich , m it P aris.
Von vorneherein w ar der K am p f fü r Adel und K lerus aussichtslos,
Denn n u r als Gespenst war ih r Geist in Versailles lebendig geblieben.
Ih re r natürlichen Funktionen in den Provinzen beraubt, waren sie nich t
m eh r weder die R ich ter noch die Seelsorger des Landes. Als Stellen- und
P frü n d en jäg er erschien diese Sch icht dem 1 8 . Jah rh u n d ert.
Man wird fragen , weshalb diese gespenstische A braum schicht des ancien
régim e überhaupt ein Ja h rh u n d e rt überdauert, weshalb sie das K önig­
tum in ihrem Sturze m itgerissen h a t? H at doch die Revolution von 1 7 8 9
bis 1 7 9 2 das K önigtum im m er wieder zu konservieren versucht. W ie we­
nig ihm ih r A nsturm galt, beweisen die Gestalten Napoleons des I. und
des I II . und des B ürgerkönigs Louis Philipp. E s gibt allerdings ein b e ­
stim m tes E reig n is, das erst den Sturz der ausgehöhlten A ristokratie und
die Hineinziehung des K önigtum s in die K atastro p h e unverm eidlich ge­
m ach t hat.
U m au f dies E reig n is zu stoßen, m u ß m an a u f die L ag e des fran zö­
sischen K önigtum s innerhalb d er christlichen Staatenw elt blicken. D ie K ö ­
nige von F ran k re ich waren christliche K önige geblieben, als sie H u m a­
nisten w urden. D as bedeutete etwas seh r R eales, näm lich daß sie einer
R eligionspartei des Abendlandes angeschlossen blieben. D en beiden R eli­
gionsparteien d er katholischen und protestantisch en O brigkeiten des
1 6 . Jah rh u n d e rts g em ein sam . w ar näm lich zunächst aus dem M ittelalter
die unbestrittene G liederung der G esellschaft unterhalb der O brigkeit des
F ü rsten in Geistlichkeit, Adel und B ü rg e rtu m . Die K önige von F ra n k re ich
gründeten ih re Stellung wie alle F ü rste n , K atholiken und P rotestan ten ,
au f ihren Stam m baum . Aber H einrich IV . w ar n u r im 2 0 . G rad m it den
Valois verwandt. D eshalb hatte e r die zweite Stütze d e r L e g itim ität ge­
brauch t, die sakrale W eih e als k atholischer H errsch er. Sie w aren k atho­
lisch. Die sakram entale W eih e m it dem ö le des heiligen Ludw ig — die
K rön u n g h eiß t französisch noch heute le sa cre ! — m a ch t den K ö n ig von
F ran k reich . Diese ihre kirchliche W u rz e l w ar freilich län gst angekrän­
kelt. B ereits F ra n z I. h atte sich gegen das O berhaupt der C hristenheit, den
K aiser, m it dem Sultan verbündet! Die K önige, die im D reiß ig jäh rig en
K riege die P ro testan ten schützten und die von Versailles aus m it dem
P ap st aufs h eftigste um die galükanischen F reih eiten ih re r K irch e foch ­
ten — u n ter Ludw ig X V . w urde das B reviergebet a u f G reg o r V II. in
F ran k reich verboten — w aren fast so wenig katholisch wie irgendein an­
d erer F ü r s t in E u ro p a . N u r an einem Punkte zeigte diese W u rz e l n o ch ihre
K r a f t : im Pu nkte d e r gem einsam en Schulung der G eister, in d e r L eh re.
Die T ru p p e nun, du rch die das abendländische P ap sttu m seine L e h re in
dem neu sich bildenden w eltlichen R au m von E u ro p a noch verbreiten

32 A
konnte, waren die Jesuiten. E s ist die g ro ß e T a t der Spanier, das Abend­
land um volle zwei Jahrhunderte in E u ro p a aufreehterhalten zu haben.
Die Jesuiten haben das m it ihren glänzenden lateinischen Schulen, T hea­
terstücken und Schriften in allen Län dern verm ocht. Ohne reale Träger
wird jede geistige Arbeit eine leere P h ra se und löst sich in D unst auf.
Ohne Jesuiten hätte die natürliche L ag e die Nationen auch viel schneller
seit der R eform ation zersetzt als es so schon geschehen ist.
Die Jesuiten stellen dah er im R egierungssystem der französischen K ö ­
nige einen wichtigen F a k to r dar. Sie allein beweisen, — alles andere w äre
papierene D eklam ation gewesen, — d aß die K önige des neuen Gallien ih r
Reich nich t allein im werdenden E u ro p a suchen, sondern auch aus dem
Abendland w eiter herleiten wollen.
In den Anfängen Ludw igs X IV ., d e r den Adel lahm gelegt, wird auch
der Jesuitism us angesichts d er g ro ß e n N euerungen des Z entralstaats über­
sehen. Die Nation liebt den K önig. Seit der A ufhebung des Edikts von
Nantes, seit dem Erw achen eines W iderstand es der Nation, wird m it dem
Instinkt des H asses auch d er K a m p f gegen die Jesuiten eröffnet. Z u erst
kam die fürchterliche S atire Pascals. D ann wurde ihre genialste T at, die
Ausbildung der chinesischen R iten — heute G em eingut aller christlichen
Missionare — denn diese R iten bedeuten nich t m eh r und nich t w eniger
als die entschlossene En tn ation alisieru n g des C hristentum s — in einem
fast hundertj ährigen P ro zeß so lange angeklagt, bis der P a p st die R iten
verurteilte. E r s t lächerlich gem acht, dann verurteilt, ging d er O rden zu­
grunde. 1 7 6 2 werden die Jesu iten d u rch S p ru ch des P a rise r P arlam en ts
aus F ran k reich ausgewiesen. 1 7 7 3 erreichen die katholischen F ü rste n
beim P ap st die Aufhebung des O rdens. W o h lg em erk t, es w aren die ka­
tholischen. D er protestantische K ö n ig von P re u ß e n und der orth odoxe Z a r
boten ihnen Asyle an.
In diesem Augenblick h ö rte also F ra n k re ich au f in einer geistigen E in ­
heitswelt zu liegen. 1 7 6 1 ist n u r noch E u ro p a da.
Dies E u ro p a aber ist an sich n u r erst ein geograp h isch er B e g riff. Ohne
gemeinsame geistige O rgane, ohne gem einsam e L eh re, M issionäre, Sol­
daten, L eh rer und Sp rach e, ohne Schulen und Ä m ter, m u ß dies E u ro p a
unfehlbar in K rieg en , M ißverständnissen, G egensätzen sich zerfleischen —
so wie es sich dann von 1 9 1 4 bis 1 9 1 8 zerfleischt h a t — wenn nich t eine
europäische E in h eit an die Stelle d er abendländischen treten kann. Die
Franzosen, in ih rem Staatsgedanken G allier, sind die geborenen E u ro p äer.
Alles Neue an ih re r Existen z d rä n g t sie d arau f, E u ro p a zu repräsentieren
und für E u ro p a die unentbehrlichen O rgane zu sch affen . Das haben sie
auch geleistet. Sie e rst haben den rein w eltlich-geographischen M ythus
E u ro p a durchgesetzt, nachdem er d u rch Ja h rh u n d e rte vorbereitet w or­
den war.
Aber das K önigtum kann da nich t m it. E s w ar vornational-abendläii-

3a5
disch gewesen und national-blutstolz und hatte zu beidem hinzu den
T rau m von den natürlichen Grenzen Galliens träum en können. Aber in­
ternational konnte das K önigtum von Versailles nicht werden, weil es
d u rch die L egitim ität festgelegt w ar a u f das legitim e C haos der Dynastien.
Denn w orauf sollte sich sonst ein K önig von F ra n k re ich stützen seit 1 7 6 1 ?
Seine Aufgabe, ein werdendes Gallien zu regieren, m ochte er im m erhin
wie Richelieu „n atü rlich “ erklären. Sein Dasein als K önig, seine H erkunft
als M onarch w ar so nich t zu rechtfertigen .
Solange also die Jesuiten du rch alle L än d er hindurch lehrten, w ar das
K önigtum noch d u rch ihre universale D oktrin m itgetragen . Mit der Auf­
hebung des Jesuitenordens blieb dem K önig einzig und allein die B e ru ­
fung au f seine L eg itim ität übrig. D as bedeutete aber nichts anderes, als
daß seit diesem J a h r e 1 7 6 1 das K önigtum sein G eschick au f Gedeih und
Verderb an das des A d els überhaupt knüpfen m u ß . 1 7 6 1 verliert das
S acre des K önigtum s endgültig seine sakram entale, seine überblutsm äßige,
geistig-am tliche und universale B egründu ng. D er K önig ist n u r noch als
d er erste Adlige, als einer dieser privilegierten A ristokraten als der M ann
der H absburgerin M arie Antoinette, also aus irrationalen G ründen in sei­
nem D asein zu begreifen. Die universale W u rzel seiner M acht ist d u rch ­
schnitten. D as M oderne seiner Z entralstaatsleistung und seiner Politik der
natürlichen G renzen wird von P a ris übernom m en, das den d ritten Stand
m it sich re iß t und das in universale G ültigkeit hinausstrebt. D as K önig­
tum g eh t an seiner bloßen L eg itim ität zugrunde. Die R oyalisten des
1 9 . Jah rh u n d e rts, die sich Legitim isten nannten, w aren k ra ft dieses W o r ­
tes viel w eniger A nhänger des K önigtum s als der A delsvorrechte. — D er
Gesetzgeber ist nie legitim . D en H errsch er legitim iert sein U rsp ru n g aus
geschichtlicher Notwendigkeit, aus den U rgrü n d en des Geistes. U nd er
legitim iert dann erst alles andere. In der L eg itim ität versteift sich also
re ch t eigentlich der W id erstan d der Adelsrevolution, die E n glan d fü r
E u ro p a du rch gek äm p ft hatte, gegen die B ürgerrevolu tion . D as K ön igtu m
segelt dabei im Schlepptau des A d els! E in B rie f des Enzyklopädisten
D iderot bem erkt, daß m it d er A ufhebung des Jesuitenordens die absolute
M onarchie in F ra n k re ich zu E n d e sei.
Die französische N ation im ganzen h at n och lange die Folgerungen
nicht ziehen wollen. Die neue B ew ußtseinsbildung h at in F ra n k re ich eine
W eile geb rau ch t. W ie in D eutschland n ach i S a i im m er wieder von K on ­
zilien die R ede ist, so in F ra n k re ich n ach 1 7 8 9 von K önigen und von V er­
sailles.
D er Pöbel von P a ris h a t bekanntlich den K ö n ig aus Versailles gew alt­
sam en tfü h rt. D er Instinkt d er M asse hatte R ech t, so sch eußlich die A uf­
fü h ru n g d er M arktw eiber, der dam es de la halle, gewesen sein m a g . E r
sollte herau s aus dem A d elsh ag; n u r wenn das m öglich w ar, konnte m an
beim A usrotten des Adels und der Privilegien den K ön ig schonen.

326
Aber eine solche Trennung von K önig und Adel, die an sich m öglich ist
— etwa in P reu ß en ist sie eine Z eitlang gelungen — , erweist sich als un­
m öglich du rch die königliche Fam ilie.
Nach dem Bastillesturm sind Prinzen die ersten Em igran ten . D aß nur
der A ristokrat noch übrig w ar, zeigte sich im Augenblick der F lu ch t nach
Vincennes, in dem em pörten Aufwallen der K aiser und K önige der L egi­
tim ität im ersten Koalitionskrieg. D as M anifest des H erzogs von B rau n ­
schweig bedeutet deshalb die W ende in d er französischen Revolution. Die
letzte unbestrittene Funktion des K önigs entgleitet ihm dam als, die R uh­
m estat, d u rch die das m oderne F ra n k re ich geschaffen wird, die K riegs­
führung m u ß ohne K önig stattfin d en ! D er K önig und seine Sippe sind
im Gegenteil m it ihrem H erzen im L a g e r der Alliierten. D am it ist sein
Schicksal und das seiner F am ilie entschieden. Die w ichtigste T ätigkeit des
Gründers von Versailles geht in die H ände der N ationalversam m lung über.
Sie h at das K unststück, als vielköpfige V ersam m lung den K rieg zu füh­
ren, so lange fertiggebracht, als der F ein d auf gallischer E rd e stand. Die
Vision Gallien h a t sich 1 7 9 2 stark g en u g erwiesen, einm al das U n m ög­
liche m öglich zu m achen. E s ist das die F eu e rta u fe der Revolution. H ier
erst entdeckt sie ihre Aufgabe, R ichelieu und Versailles zu beerben, deren
Geschichtsbild zu vollstrecken.
Als es gilt, das Ausland diesem Bilde nach zu gestalten, erlah m t die re­
volutionäre F lam m e, die das B ündnis zwischen dem Volk von P a ris und
dem Tiers etat zum Siege b efähigt hat. N apoleon tritt au f und sch afft zu
Gallien hinzu das m oderne E u ro p a , in dem Gallien b eruh igt leben kann.
Die ersten O rgane dieses neuen E u ro p a können sich u n ter ihm bilden, die
politischen P arteien , die au f ein abstraktes P ro g ra m m in einem wie im
anderen Lande schwören. Gallien h at d er Konvent, E u ro p a h at Napoleon
geschaffen.
Die K om bination N ationalversam m lung— N apoleon w iederholt sich
noch einm al, n u r in d er R eihenfolge N apoleon 1 9 . Ju li bis 2 . Septem ber
1 8 7 0 , Thiers und G am betta und Ju le s F a v re in den d arau ffolgen d en
sechs M onaten. Im m e r rettet die Invasion die republikanische V erfas­
sung, so auch 1 9 1 4 . Auslandskriege sind die S ach e L o u is Philipps o d er
Napoleons I I I . Soviel über die B eerbun g des K ö n igtu m s in d e r F ü h ru n g .
Aber auch von Versailles bleibt etwas übrig. U nd zw ar h at wohl der
kriegerische Z usam m enstoß m it d e r A ußenw elt den F ran zo sen die Augen
fü r seine Rolle geöffn et. Versailles w ar to t, ein M useum . D a kam 1 8 7 0 .
Als m an R anke nach dem Sturze N apoleons fra g te , m it wem D eutschland
denn den K rieg fü h re, h a t d e r D eutsche, dem kein Zoll b reit von den „ n a ­
türlichen G renzen“ abgetreten w erden sollte, nich t w ohl anders antw orten
können a ls: „M it Ludw ig X I V “ . V ielleicht d aß d u rch solche Ideen die
deutsche K riegsp rok lam ation in Versailles am 1 8 . Ja n u a r 1 8 7 1 zustande­
gekom m en ist. Sie h a t F ra n k re ich im T iefsten au fg erü h rt, w ahrscheinlich,

327
zur g roß en Verw underung der adligen und protestantischen P re u ß e n ;
aber w er die E rb folge aus dem Abendland der K aiser und Päpste über
Versailles zu dem Frankreich von 1 7 8 9 geistig du rch schritten hat, m uß
selbst als Ausländer diesen A ffron t nachfühlen. Im F ü h re r du rch Ver­
sailles von B eaugré ( 1 9 2 4 ) steht zu lesen über den S p iegelsaal : „Ge fut
ce lieu tout frém issant de toutes les gloires frangaises que p a r un défi
au jou rd ’hui vengé Guillaum e Ier, roi de Prusse choisit pour y ceindre la
couronne im périale, le 1 8 . janvier 1 8 7 1 . E n fin le 2 8 . juin 1 9 1 9 F a c t e . . .
brisa Fhégém onie germ anique au lieu m êm e oü quarante années au p ara-
vant s’exalta son orgu euil.“
In P aris ist dam als K om m unistengefahr. D a h at von 1 8 7 1 bis 1 8 7 9 in
Versailles das französische P arlam en t residiert. H ier ist m it einer Stim m e
M ehrheit die republikanische S taatsfo rm votiert w orden und die E rh e ­
bung des i 4 . Ju li, des T ages d er Bastille zum N ationalfeiertag.
Und in d er heutigen französischen V erfassung steht d er Satz, daß die
W ah l des P räsiden ten d er Republik d u rch Senat und K am m er in Versail­
les stattfinden m u ß statt in P aris. W e r w eiß, ob in dem G estürm von P a ­
ris 1 9 1 9 nich t Glém enceau, d er V ater des Sieges, so wie m an ihm ver­
sprochen, die P räsid en tsch aft erru ngen hätte. In dem ruhigen Versailles
wurde der ru h ige B ü rg e r und P araly tik er D eschanel gew ählt. D ie bloße
L eg itim ität d e r Republik verschanzt sich auf diese W eise heut in V er­
sailles, wie einst die d er K önige. Denn Versailles ist eine fran zösische
Lan dsstadt inzwischen gew orden. P a ris aber ist selbst heut n ich t einfach
eine S tad t des französischen Landes.

2. D ie hohe Schule von Paris


P aris h at schon H einrich IV . 1 6 8 9 l ’abrégé et le m iro ir F ran k reich s ge­
nannt, ein V ers seiner A nhänger aber so g a r Farne et le coeur (H erz und
Seele) de la F ra n ce . D ennoch oder gerade deshalb ist P a ris keine franzö­
sische Stadt. Denn den N am en „ F ra n z o se n “ tragen gerade u m gekehrt
die Bew ohner Galliens deshalb, weil sie die von der Isle de F ra n c e und
ih rer H auptstadt P a ris aus beherrschten Provinzeinw ohner sind, P aris,
heut das „M ekka d er Zivilisation“ , fü r die reisenden A m erikaner, Asia­
ten, Balkanbew ohner und fü r die R om anleser, die jede Gasse in P a ris
aus den R om anen besser kennenlernen als ih re eigene H eim at, ist auch
schon im M ittelalter die geistige H och b u rg des gesam ten Abendlandes.
D as Im p eriu m aus der H and K arls des G roß en w ar dem unverwälschten
Teil des fränkischen Heervolkes, dem „d eu tsch “ , d. h. königsfränkisch
sprechenden und seinem A nhang unter den Stäm m en das Im p eriu m ver­
blieben. In Italien lag R om , das m it L ateran und Vatikan das Sacerd otiu m
verkörperte. A ber in Gallien lag die E rb in d er A achenschen und Gluny-
schen Theologie, die H och b u rg des Studium s, lag P aris.
Die hohe Schule von P a ris ist im Z eitalter der K reuzzüge entstanden.

32 8
D er w estfränkische Adel hatte Jeru salem erobert und das Heilige G rab
schien der M ittelpunkt des Abendlandes werden zu können. In Italien
gewann der P ap st den V orrang vor dem K aiser in der H errsch aft über
den K lerus. Die deutsche kriegerische M acht wandte sich erneut m issio­
nierend und au ch kreuzzugbegeistert dem osteuropäischen Binnengebiet
zu. Die N orm annen richten ih r Lehnsreich in En glan d ein. Spanien w ird
von Toledo aus dem christlich-päpstlichen Abendlande wiedergewonnen.
Die alten Überlieferungen der karolingisch-fränkischen Zeit lösen sich d a­
m it auf. U ngern nim m t m an von ihnen Abschied. D a, um 1 1 2 0 w ird in
dem m ächtigen Sagenkreis um K arl, im Rolandslied, wird die alte frän ­
kische Reichseinheit noch einm al verklärt, die Zeit, da der fränkische
Stam m , deutsche und wälsche H älfte ungeschieden, auf der Insel der
Franken in der Seine und in R eim s ebensogut h errschte wie in Aachen
und F ra n k fu rt, wo Gallien, G erm anien, Spanien und Italien einem Z epter
und einem Schw ert gehorchten, dem des christlichen K aisers K arl.
Die geistige V erklärung dieses „altfränkischen' ‘ W eihekaisertum s ist
das französische Rolandslied. Die rom anisierten Bew ohner der R ö m er­
provinz Gallien bekennen sich in ih m als U ntertanen des von den F r a n ­
ken den Nam en tragenden F ran cien . Aber gerade weil die N ichtfranken
in Gallien überwiegen, h aftet der N am e der F ran k en im Vollsinne an der
Isle de F ra n ce , an dem Gebiet von P a ris. H ier sitzen die echten F ran k en ,
die F ra n c s de F ran ce . W e r dem H errsch er dieser Isle de F ra n c e untertan
ist, wird kü nftig zu den Fran zosen rechnen. Ganz F ra n k re ich wird als
lehnbar von dem K önig der Isle de F ra n ce fin g ie rt: Nulle te rre gans
seigneur. Die ganze L an dfläche zentriert um die Isle de F ra n ce . U m ein
bestim m tes H auptgebiet also gru p p iert sich die Idee des französischen
Volkes schon dam als, wo anderw ärts noch personale Stam m esnam en (S ach ­
sen, N orm annen usw.) herrschen.
Ü bersichtlich im R au m ordnet bereits d er A h nherr der H ochschule
von P aris, A bailardus, den W issen ssto ff eines Jah rtau sen d s. In seiner Abaiiard
Methode des Si,c und Non, des J a und Nein, e rsch a fft er das philosophi­
sche R äsonnem ent über den Geistesschatz der christlichen Antike. D er
Stoff liegt vor ihm zeitlos — gleichzeitig ausgebreitet von P au lu s bis zu
Alkuin, von den B eschlüssen des Apostelkonzils bis zu denen des 8 . uni­
versalen Konzils von 8 7 0 . Dieses Stoffes gilt es nun inne zu w erden, und
in diesem Innew erden m u ß m an ih n in Eink lang bringen m iteinander, in
Konkordanz. In B o logn a ist die g ro ß e K onkordanz des K irchen rechts
entstanden. F ü r das R eich der Gedanken, D ogm en und Ideen hat A bä-
lard das g ro ß e Beispiel der neuen M ethode gegeben. Diese Methode ist
w eltlich-räum lich. Sie ist gleichgültig gegen die Zeit, zu der ein W o r t
fällt. D er Gedanke steht im R au m der Gedanken neben allen anderen
Gedanken, B e g riff neben B e g riff steht u n an greifb ar hier im Gedanken­
gebäude der Schule, der Scholastik. Diese B e g riffe sind m eh r als f#in

329
ziseliert, sie Schnörkeln und winkeln und überschneiden einander, um die
i o o o o Vaterstellen zu harm onisieren. Aber so künstlich die A rchitektur
dieser B eg riffe ist — es ist A rchitektur, d. h. diese M ethode stellt den
Geist vor als gleichm äßig und gleichm ütig. Ebenm äßig in jedem Gehirn
und in jedem M om ent präsent, gegenw ärtig. Identisch ist B e g riff und
B e g riff in allen Gehirnen, die in diese Schule gehen. D er Gedanke ver­
bindet jeden Denkenden m it jedem anderen. W en n Baukunst gefrorene
Musik ist, so ist Philosophie stehender G eistesstrom , dauernde W a h r­
heit, fü r alle gleich, fü r alle eine, verallgem einernd, generell. Abälard ist
der V ater d er scholastischen Methode. W en n er n ach dem Unglück seines
Lebens, d er brutalen T rennung von Heloise, ein K loster dem P araklet
stiftet, dem T rö ste r Geist, so ist dieser T rö ster der T rö ste r der Denker,
der G ott, d e r in bedenklicher G efahr ist, m it der konzentrierten m ensch­
lichen G eisteskraft verwechselt zu werden. D er Satz G ott sei Geist wird
im R eich d e r Schule und der Denker fa st stets verkehrt in den S a tz : D er
Der Geist ist Geist ist G ott. W o d e r G eist der W issen sch aft h errsch t, d rin gt der K ult
des Genies, des E sp rit, des M enschengeistes h erauf. In der alten K irche
w ar aus dieser S orge vor aller Gnosis, d . h . vor dieser Selbstvergötterung
der Philosophen verboten, daß ein G otteshaus dem Heiligen G eist allein
geweiht werde. A bälard überschritt m it dem Nam en seines K losters diese
Schranke. Als seine Leh re kirchlicher Z ensur verfiel, blieb das Sic et Non,
sein H auptw erk, unangetastet und ebenso das K loster Paraklet. Innerhalb
des Johanneischen Geistesstrebens aller Revolutionen des zweiten J a h r ­
tausends h a t die Französisch e Revolution den subjektiven G eist der Denr
ker und K ü n stler, den em pfänglichen Genius, vergottet. Die sinnliche
L eid en sch aft w ird h ier heraufgesteigert zu geistiger E m p fän g n is. Die
Gluten des E ro s entzünden die Z eugun gskraft des gereizten Geistes. Und
nun steht schon am E in g an g d er G eschichte der H ochschule von P a ris
der B riefw echsel zweier L ieb en d en : eben Abälards und Heloise. Die Sippe
der Geliebten lä ß t den Abälard überfallen und g rau sam entm annen. Nun
erhebt sich Abälards S ch affen zu genialer H öhe. Z ehn - oder zwanzig­
tausend S ch ü ler soll A bälard au f dem B e rg d er heiligen Genoveva ange­
lockt haben d u rch seine geistvollen V o rträge. Die offizielle K irch e m it
ihren K ath edralschulm eistern steht v o r einem R ätsel, dem R ätsel der W ir ­
kung des Genies. U nd geniale und korrekte L eistu n g stoßen aufeinander.
D ies ist seitdem das geheim ste U nterscheidungszeichen von P a ris ge­
blieben.
A achen w ar die Schule des H ofklerus und einer H oftheologie, die dem
K önig und ch ristlich sten K aiser, dem neuen Salom on, die E rn e u e ru n g
d er R eich sk irch e erm ö g lich t hatte. D as Cluny des 1 1 . Ja h rh u n d e rts w ar
eine K lostersch u le. In P a ris h e rrsch t vom ersten T age an die M ehrzahl.
Die H o ch sch u le von P a ris b eru h t au f dem W e ttk a m p f m eh rerer Schulen,
st. Genevfeve Gegen Abälards un erh örte L e h re rfo lg e a u f dem M ont St. Genevieve, also

33o
links der Seine, ums Ja h r 1 1 2 5 erhob sich eine andere Schule am ande­
ren U fer im Schatten von N otre D am e. Die M ehrzahl der Schulen blieb,
als d er König sie dem Schutze des B isch ofs von P a ris unterstellte. Notre -
Dam e und St. Genevieve blieben voneinander selbständig. Von daher blieb
der R eichtum der Meinungen, die M ehrzahl der Interessentenschichten,
die in P aris ihre R echnung fanden. D as, was zum U nterschied von allem
„geistlichen“ ein rein geistiges Leben ist, das h at P aris entwickelt und
verm ittelt es bis heut. D er Geist setzt eine zweite W e lt neben die wirk­
liche W e lt: die W elt der Spiegelbilder, die den K o p f erfüllen, der sich
über das Gewimmel der W e lt beugt und sie auf sich wirken läßt. Das
W o rt „Spiegel“ und „Spiegelbild“ ist ein Lieblingsw ort fü r die groß en
B ü ch er d er Scholastik. Diese Luftspiegelung der E rd e im K opf des Men­
schen hat leider diesen g u t scholastischen Nam en nicht behalten. W ir
müssen griechisch „Id ee“ oder lateinisch „R eflexion “ nennen, was der
französische K opf in tausen dfacher F acettieru n g seines P rism as an E sp rit
über die W e lt hervorbringt.
Die w etteifernden M eister der P a rise r Schulen aber nannten ihre
Schriften Specula. Die „Spekulationen“ der Philosophen und der M ysti- Speculation
ker, d er Theologen und der Physiker, sind also Spiegelungen der W a h r ­
heit. N ur in der E n tartu n g des W o rts „Sp iegelfech terei“ erin n ert leider
unsere Sprache an diese g ro ß e T atsach e. Den Fran zosen ist das P rism a ­
tische d er Ideen im m er bew ußt geblieben. Die K u nst h at einer ih rer
G roßen definiert als „die N atu r, gesehen d u rch ein T em p eram en t“ .
Die geistige W e lt m u ß ab er im m er anders sein als die w irkliche, die
sie spiegelt, weil sich das L ich t in den K öpfen prism atisch bricht. Aller
Geist ist dialektisch. D as geistliche Leben d er K irch e kennt keine Dialek­
tik. E s lebt im P arad o x . D as sogenannte G eistige aber lebt von den E in ­
seitigkeiten d er F acettieru n g . Die Dialektik ist eine m enschliche E ig en ­
schaft unseres irdischen Verstandes. Sie ist die F o rm , in d er unsere V er­
nunft tätig w ird. D o rt wo die N atur vom absoluten K ältepol bis zur Son­
nenglut unm erklich tausend G rade abstuft, da setzt unser Geistesspiegel
kühn seih W a rm oder Ka l t ; ebenso setzt er sein Schw arz oder W e iß , sein
J a oder Nein. Aber an sich ist nichts weder g u t n och böse, das Denken
m acht es erst dazu. In P a ris w ird diese D ialektik in g roß en Schulen g e- Dialektik
lehrt. Alle wichtigen D inge, die m öglichen W e rtre ih e n des G ut und Böse,
W a rm und K alt, J a und Nein, werden in Schulen verkörp ert und gegen­
einandergestellt. H ier lebt nun die W irk lich k eit in diesen dialektischen
W ah rh eiten m eh rerer Schulen. G erade dank ih re r Gegensätzlichkeiten
können also die Schulspiegel die ganze W a h rh e it zu um fassen glauben.
Denn jed er Satz r u f t seinen G egensatz. N ur w o alle Sätze rep räsen tiert
werden, d a rf u n g estraft der G eist räsonieren. Die ungeheure K ühnheit
des französischen Geistes b eru h t auf dem R eich tu m der R eflektoren und
R efrak toren , in denen sich von jeh er in P a ris die W a h rh e it spiegelt und

33i
bricht. P a ris ist die H ochschule der m ittelalterlichen W e lt nur solange
geblieben, als es diesen prism atischen C harakter behauptet hat. Solange
blieb bei Fran k reich s Nation innerhalb der K irche das „Studium “ , als
P aris m eh r als eine Schule in sich verkörperte. P aris konnte das G ehirn
der W e lt des 1 2 . und des 1 3 . Jah rh u n d erts sein, weil es Abälard und
N otre-D am e, Episcopale und M önche, D om inikaner und Franziskaner
in seinen M auern gegeneinander lehren ließ. K ra ft dieser Tradition leistet
die Stadt der königlichen Frankeninsel etwa Einzigartiges in der Arbeits­
teilung d er abendländischen K irche. Sie ist die V orbereiterin, Vordenke­
rin, F o rsch erin fü r das, was später in R om form u liert, kanonisiert und
dogm atisiert werden kann. K aiser, P ap st und P a ris sind die drei F a k ­
toren der m ittelalterlichen K irche. P a ris ist im ter diesen dreien m achtlos.
Denn die D enker lähm en einander stets d u rch die Dialektik, den Zwie­
spalt des F ü r und W id er, au f dem alle Philosophie beruht. A ber wenn es
m achtlos ist, so ist es deshalb nich t ohnm äch tig. M it d er F ack el des Gei­
stes leuchtet es in den Schatzkam m ern des christlichen Geistes die Gänge
ab, in denen unerschlossene G oldadern zu finden sind. W eil alle F in d e r­
leidenschaft in diesem Bergw erk sich als E rin n eru n g an alte L eh re, als
geistiger Ahnenkultus einkleiden m u ß , deshalb kann der V erstand und
das R äsonnem ent der Scholastik die Rolle des rückw ärts gewandten P r o ­
pheten im m ittelalterlichen D ram a spielen. U m ein bis zwei G enerationen
denkt P a ris den Zentralinstanzen in R o m vorau f. D as berüh m te Beispiel
d afü r gibt das V erhalten des R öm ischen Stuhles zu dem Studium des A ri­
stoteles in P aris. i 2 3 o w ird es vom P ap st den P arisern verboten, 3 o Ja h re
später ist diesselbe Studium die G rundlage des Schem as des D o cto r ange-
licus, des göttlichen T hom as von Aquino, d er seit 1 2 ^ 8 in P a ris le h rt und
den die K irch e heut „divus“ nennt.
E in solcher U m schw ung setzt zweierlei v o rau s: die A u torität des V er­
bietenden einerseits, die E n erg ie des Pion iers, der w ährend d reiß ig J a h ­
ren unverstanden bleibt, andererseits. In R o m b estim m t m an das Zeit­
m a ß ; in P a ris eilt m an d er Zeit vorau f und m an weiß aus jah rh u n d erte­
langer E rfa h ru n g , d aß es M ärty rer des Geistes geben m u ß . D er B e g riff
des V orläufers ist ein unentbehrlicher. A uch die antike K irch e hatte in
A lexandrien, in A ntiochia und anderw ärts solche Stätten g eistiger V or­
w egnahm e besessen, die dann von R om h er in ih rem A u fm arsch kontrol­
liert und tem p eriert w urden — m an denke n u r an das Schicksal des O ri-
genes. K arl der G roße hatte n ich t n u r in R o m die K aiserw ürde em p fan ­
gen, er hatte auch seinem H ofklerus den A ufbau einer eigenen K apellen­
theologie erm ö g lich t, die au f R o m antreibend wirkte. In der G estalt des
m ittelalterlichen P a ris sind diese Ansätze zu einer A rbeitsteilung im L e ­
ben d er K irch e au fs höchste gesteigert w orden.
Aber kaum einen Augenblick ist das G leichgew icht der K rä fte zwi­
schen P ap st, K aiser und P a ris w irklich dreiteilig. Die D em ütigung des

332
Papsttum s in Avignon steigert das Gewicht von Paris. Auf den Konzilien
des ausgehenden M ittelalters glauben die D oktoren der Sorbonne (so hieß
die Theologenfakultät nach ihrem w ichtigsten K olleg) zu trium phieren.
Ih r Ideal ist die D oktorenkirche. Und die Konzilien scheinen diese H err­
schaft der „G eister“ zu verwirklichen in dem beschränkten, m enschlich­
vernünftigen Sinne, der den Schulgeist und die D enkkraft m it dem Spi­
ritus Sanctus der K irche fast gleichsetzt. E sp rit h at im Französischen
eine viel um fassendere Bedeutung als bei uns, weil es die objektive
Geistesfülle und den subjektiven G eistesreichtum beides ausdrücken
kann.
Die Konzilien (von 1 4 0 9 , i 4 o 4 — 18, i 4 3 i — 4 9 ), diese P rofessoren ­
parlam ente des m ittelalterlichen 1 8 4 8 , sind der Versuch der Selbstver­
götterun g von P aris. Selbstanbetung ist stets der A nfang vom E n d e ; sie
tritt ein, wenn d er ursprüngliche T rieb bereits erlahm t. D ieser u rsprün g­
liche Trieb aber w ar die K o n k u rren z der G eister, die R ivalität zwischen
E sp rit libre und E sp rit de corp s, zwischen M eisterlehre und Schulunter­
richt. D ieser Trieb geht m it dem Überspringen der H ochschulgründungen
auf D eutschland und den ganzen O sten d er P ariser H ochschule verloren.
Sie verarm t an europäischen Spannungen. Sie verliert viele selbständige
Geister an die neuen Fürstenuniversitäten (P r a g , H eidelberg usw .). U nd
schließlich m it d er G ründung des Jesuitenkollegs in R o m i 5 8 i h ö rt die
Sorbonne sogar auf, faktisch die erste päp stlich e theologische F a k u ltä t
darzustellen. P aris w ird das Ck>fer d er R efo rm atio n und G egenrefor­
m ation. F ran k reich blüht auf, P a ris aber d ro h t ganz in F ran k reich hin­
einzufallen.

3. D ie Erbschaft aus dem Mittelalter


Aber hier in eben diesem Z eitalter, in dem die Sorbonne ihre in ter­
nationale B edeutung endgültig einbüßt, zeichnet sich doch bereits die gei­
stige E rb sch a ft sch a rf ab, die aus der m ittelalterlichen O rdnung dem
französischen P a ris verbleibt. Diese E rb sch a ft h at einen doppelten Inhalt.
Die eine rich te t sich a u f den kleineren nationalen R au m der „ F r a n c e “ .
Die M einung von P a ris entscheidet zw ar nich t m eh r üb er die G eistes­ Heinrich
Bourbon
entwicklung d er C hristenheit, aber sie entscheidet über die politische
H altung von F ran k reich . Die Sorbonne zusam m en m it dem P ap st k äm p ft
gegen den refo rm ierten H ein rich von N avarra. H ein rich IV . m u ß P a ris
m it einer Messe erkaufen. D ieser O rt kennzeichnet sich d ad urch als viel
m ehr als ein O rt in seinem K önigreich. E r ist ein K leinod eigener L eu ch t­
kraft, ohne dessen L ich t kein ech ter K önigsglanz sich bilden kann. P a ris
ist keine Sch öpfung d er K önige von F ran k reich . D as ist sein Geheimnis.
P aris liegt im A bendlande; genau wie die K önige selbst ist es vorfranzösi­
schen U rsp ru ngs. Die K önige d er Isle de F ra n ce und die H ohe Schule der
Isle de F ra n ce sind beide M itschöpfer F ran k reich s. Aber d er abendländische

333
Charakter der Stadt welkt dahin: Am 1 4 . Mai 1 6 9 0 war noch ein feier­
licher Z ug von 1 3 o o Klerikern du rch die S tadt gezogen, m it dem R ektor
an der Spitze, um gegen H einrichs von N avarra Königtum zu protestieren.
Die Prozession sollte die g ro ß artig e A ntw ort der Sorbonne u n terstreich en :
,,qu’ H enri de Bourbon etant her& ique, relaps et nom m em ent excom m u -
nie, ne pouvait etre reconnu pou r ro i, m em e s’il obtenait son absolution
du Saint Siege, vu que la perfidie et la dissim ulation etaient ä craindre de
sa p a r i“ H einrich von Bourbon als K etzer, rück fällig und nam entlich ex­
kom m uniziert kann als K önig nich t anerkannt werden, selbst wenn der
P ap st ihn absolviert! So hatte die Sorbonne erklärt.
Und nun w ar H einrich B ourbon doch K önig geworden. E r hatte zwar auf
die Vollgewalt d er F ü rsten verzichtet, die Religion des Staates von sich
aus zu bestim m en. E r w ar also katholisch gew orden, wie P a ris katholisch
geblieben w ar. Aber die Sorbonne hatte nich t m eh r über seine P erson zu
befinden gehabt, so wenig wie m an ih r erlaubt hatte, die Zulassung der
Jesuiten zu hindern.
H ier w urzelt der tragisch e K onflikt zwischen dem K önige von F ra n k ­
reich und dem G eist von P a ris, der das 1 7 . und 1 8 . Ja h rh u n d e rt d u rch ­
ziehen w ird. Rein räu m lich werden w ir ihn im K am p f zwischen Versailles
und P a ris verfolgen. Aber auch geistig h a t d er K onflikt einen Ausdruck
gefunden in dem K am p f zwischen den Jesu iten und P o rt-R o y a l. In diesem
groß en K am p f ist P aris als solches ausgem erzt. M it unnachahm licher
T reffsich erh eit h a t P ascal seine K am p fsch rift L ettres Provinciales ge­
nannt. A uch die Jansenisten ih rerseits sind Geist der kleinen Städte, sind
nich t R epräsentanten von P aris. U nd hier liegt dah er der D ruckpunkt,
das erregende M om ent in der G eschichte der französischen Revolution,
in d er A usschaltung von P aris.
Einen instinkthaften V ersuch, diese A usm erzung aufzuhalten, h at der
Descartes erste „P h ilo so p h “ des m odernen F ran k reich s unternom m en. R ene D escar-
tes, d er erste freie D enker F ran k reich s ( 16 9 6 — i 6 5 o ) geht an die freie
Universität in dem refo rm ierten H olland, wie schon vor ihm Salm asius,
um frei zu sein. A ber er w idm et seine S ch rift noch der Sorbonne von
P aris. Und in dieser W id m u n g lebt n och einm al die B eziehung zu der
H ochschule von P aris auf, die bis dahin fü r alle G eistestaten verpflichtend
gewesen w ar.
R ichelieu h a t dann in seiner S tiftu n g d er Akademie eine neue F o rm
dieses geistigen U niversum s fü r P a ris zu finden versucht. D er g ro ß e K a r­
dinal w ar w eitsichtig genug, auch H ugenotten in die Akadem ie cinzu-
einzulassen. D e r Gedanke eines Pan th eon s d er G eister beginnt sich dam it
hier G estalt zu geben jenseits d er Schranken d er K irch e des M ittelalters.

334
4. D ie Salons
Aber ehe dieser Gedanke des Pantheons geläuterte G estalt annehm en kann
auf P ariser E rd e, m u ß noch ein Leidensweg durchschritten werden, eben
der W e g der französischen Revolution. Die Ausm erzung von P aris fü h rt
zu einem ursprünglichen A ufbruch des Geistes außerhalb der Schule.
Einer neuen Behausung bedarf dieser Geist. An die Stelle der Schule und
ihrer zünftigen K atheder tritt eine andere gesellschaftliche F o rm . Voltaire
schreibt sein „Tom beau (G rabm al) de la Sorbonne“ . Diese h at verspielt ;
aber die g roß e Stadt P aris, die 1 7 8 9 schon 6 0 0 0 0 0 Einw ohner zählt,
gibt den starken und freien originalen Geistern andere H eim stätten : sie
erinnert sich der K ra ft des E ro s, die schon Abälards Schaffen beflügelt
hat. Die F rau en werden die Schützerinnen der W issenschaften und Künste.
Ihre Salons werden die geistigen M ittelpunkte des 1 8 . Jah rh u n d erts. H ier
kann sich wiederholen, wovon das m ittelalterliche P a ris gelebt h a tte : die
W elfalt und Vielstim m igkeit der Talente. Die Salons w etteifern unterein­
ander, Talente und Genies zu förd ern , zu lancieren, zu protegieren. D as
Zepter der H ausherrin vergibt in diesen kleinen geistigen Zirkeln die
W ürden des Parnasses. In diesen G artenbeeten entfalten sich alle B e­
rühm theiten des revolutionären F ran k reich s. Von V oltaire bis zu Anatole
Fran ce ist fast kein Talent ohne solche Eingepfianztheit unter die P ro tek ­
tion eines weiblichen Salons zur E n tfa ltu n g gekom m en. Die R eizsam keit
der groß en Liebenden und die W ü rd e der g roß en D am e vereinigen sich,
um aus diesen Salons M innehöfe eines geistigen Sängerkrieges zu m achen.
Die weibliche Grazie ist es, die hier die entgegengesetzten G eister auf ein­
ander abstim m t und das U nm ögliche m öglich m ach t. Alle diese G eister
müssen sich liebensw ert und liebensw ürdig erzeigen d u rch die Rezeption
in dem Salon einer D am e wenigstens. D ies rezipiert den Provinzialen,
den Ausländer, den B arb aren in der P a rise r G esellschaft und m a ch t ihn zu
einem B ü rg er dieser Stadt. U nd kein E in h eim isch er kann ohne diesen B ü r­
gerbrief in das geistige P aris eintreten. Ü ber den zahllosen Q uartieren und
Vorstädten, in die das g roß e P a ris von je h e r bis heute zerfällt, erhebt sich
so ein zweites P a ris, der von den F ra u e n präsidierten höheren Zivilisation,
der P ariser G esellschaft, und E ro s vergibt hier den L o rb e e r und die P alm e
nur an T alent, E sp rit und Genie.
Diese W e lt der Zivilisation b ran d m ark t nich t wie die P rü d erie des eng­
lisch-christlichen G entlem an oder des deutschen B eam ten die freie Liebe.
Sie weiß zuviel um ih re Verdienste fü r das geistige Leben der Gesell­
schaft. Von Manon L escau t bis zu r D am e au x cam elias ist die M aitresse,
die Geliebte ein anerkanntes M itglied.
In der W e lt des täglichen gesetzlichen bü rgerlichen Lebens verfeh m t
hier wie überall, h a t sie d och Z u tritt in die Bezirke geistigen Schaffens*
Die Fav oritin des K önigs w ird eine offizielle W ü rd e am H ofe Lud-?

335
wigs XV. , nachdem sie es offiziös schon bei seinem großen U rg roß vater
gewesen war. V or der M acht der F rau en beugt sich die N ation. L u d ­
wig X IV . zog den H ut vor dem letzten Z im m erm ädchen in Versailles.
Nur eine höfisch-städtische Zivilisation d a rf es wagen, dieses heilig­
öffentliche Geheimnis des Lebens, den E ro s, so offen zu kultivieren. Sie
verdankt ihm m eh r als andere Lebensordnungen. Die englische W e lt
außerhalb der Insel wird von M ännern, die d rau ß en w etteifern, in B e­
sitz genom m en. Von ihnen gilt das Lied der A usw anderer: „D aß w ir uns
in ih r zerstreuen, d aru m ist die W e lt so g r o ß .“ Die Engländer entdecken
die W elt.
Aber das G eheim nis der französischen W e lt ist die V erdichtung des
räum lich engsten K reises zu der erotischen Spannung, in dessen „ In tim i­
tä t“ der Funk e des Genius sich entzünden kann zum E r fin d e n . Die F r a n ­
zosen erfin d en die W e lt, wo die E n glän d er sie entdecken. D er gew agteste
Ausdruck dieses Genies zur W elterfin d u n g ist j a V oltaires W itz : W enn
G ott nich t w äre, m ü ß te m an ihn erfinden. Sobald in F ran k reich das bür­
gerliche H aus zur H errsch aft k om m t, werden die Franzosen auch tech ­
nisch erfinderisch. Man w eiß, d aß die Fran zosen d er ganzen W e lt den
B e g riff des R affinem ents geliefert haben. Sie intensivieren eben das L e­
ben. E s kann einem nich t besser gehen, als „G o tt in F ra n k re ich “ . D er
F ran zose m a ch t aus der englischen m onde, die d rau ß en jenseits d er M eere
ein fernen Erd teilen liegt, in Neuseeland, dem K apland und K an ada, die
intim e W e lt, in d er e r das intim e Z en tru m eines nach ihm gravitierenden
Universum s sich fühlen kann. D er F ran zo se reist n ich t viel, e r ist n ich t
zu H ause, sondern chez lui, bei sich selbst. H ier entdeckt seine leicht ent­
zündliche E inb ildungsk raft die ganze W e lt eben aus den F a lte n des eige­
nen H erzens, den Einfällen des eigenen H irns. E in W itz w o rt s a g t: Als
ein E n g län d er und ein F ran zo se ein B u ch über den E lefan ten schreiben
sollten, fu h r jen er n ach A frika und schrieb ein B u ch H ow to b u n t the E le ­
f a n t; der F ran zo se aber veröffentlichte sein geistvolles B u ch über die E r o ­
tik des E lefan ten , nachdem e r ih n im P a rise r Ja rd in des Plan tes studiert
hat. E r h at eben in P a ris sein „A telier“ , seine „ W e rk sta tt“ .
Diesen C h arak ter des Intim en, R affin ierten , Veredelten h at au ch das,
was d er F ran zo se Industrie nennt. A uch bedeutet dasselbe W o r t fü r die
anderen Völker etwas viel H ärteres, B arb arisch eres als fü r den Fran zosen .
D arau s erk lärt sich die E rträ g lich k e it d er bü rgerlichen G esellschaft in
F ra n k re ich bis zu einem gewissen G rade. Industrie ist n äm lich d o rt d u rch ­
au s n ich t traditionslose Produk tion fü r den W e ltm a rk t, K attu n au s M an­
ch ester, K ohle aus R u h ro rt. D ie Konsuln haben seit 1 8 0 0 in P a ris die er­
sten „ Industrieausstellungen* * veranstaltet. A uf diesen E xp osition s des p ro -
duits de 1’Indu strie sah m an in erster Linie Möbel, Schm u cksachen, Gobe­
lin s! So klingt in dem W o r t Indu strie die bü rgerlich e K leinkunst d u rch ­
aus noch m it a n ; eine individualistische A rbeitshaltung zeichnet noch

386
heut den französischen Industriearbeiter aus und m ach t ihn im m un gegen
unintime bloße Massenbewegungen. T rotz des Zentralism us von Paris h at
also F ran k reich diesen Reiz des Intim en überall behalten.
Sieben Achtel der Nation sind ja Landbew ohner, drei Viertel sind B au ­
ern. D er einzelne Abgeordnete wird in relativ kleinen W ahlkreisen
gewählt; 6 0 0 Abgeordnete auf 4 o Millionen Einw ohner, also einer auf
66 0 0 0 , dabei kein F rauen Wahlrecht!
Aber ein Viertel des französischen beweglichen Verm ögens w ar 1 9 1 3
laut d ’Avenel in der Isle de F ra n ce konzentriert. D er französische K apita­
lismus ist daher rech t eigentlich G apitale-ism us. Denn das K apital ist zu­
gleich das über die Capital, die H auptstadt, geleitete Geld.
D er französische K apitalism us h at also bis zum W eltk rieg nich t die
V erstädterung des ganzen Landes bedeutet, sondern die F ü h ru n g eines
Land bleibenden Landes du rch einen zivilisatorischen M ittelpunkt. D er auf
den F rem d en o ft ungeheuer wirkende staatliche Zentralism us w ar in
Fran k reich die Existenzbedingung d afü r, daß überhaupt die Spannung
zwischen B retagn e, Auvergne, N orm andie einerseits, P a ris andererseits
tragb ar blieb. D ieser Zentralism us ist deshalb ein M inim um , und kein Ma­
xim um , weil P a ris ein geistiges Z en tru m geblieben ist. E s h a t also keine
realen M achtm ittel, das Leben in den Provinzen zu verändern. U nd es ver­
ändert sich eben deshalb in diesen Provinzen auch unglaublich wenig.
P aris kann n u r jah rau s jahrein aus Provinzialen P a rise r m achen. E s kann
ihnen eine R ich tu n g au f den K am p f d er G eister geben. E s entzündet sie.
Aber m eh r als die R ich tu n g gibt es nicht.
Die P ariser werden von der Provinz als eine A rt geistige E lite anerkannt,
wie das kein Liverpooler dem Lond on er, kein W e im a ra n e r dem B erlin er
zugestehen würde. Die B eschreibung der F e ie r zur E n th ü llu n g eines W a t­
teau-D enkm als im Ja h r e 1 8 6 5 in N ogent an der M arne endet m it folgen­
dem S a tz e : „D ie Nogentesen w aren stolz d arau f, sich gew ürdigt und an­
erkannt zu sehen d u rch die E lite dieser Bevölkerung von P a ris, die E u ­
ropa seit langem fü r die geistvollste der W e lt erk lärt h a t.“
Aber die P a rise r m üssen diese Provinz im w esentlichen lassen wie sie
ist oder wie sie selber sein will. Sie m u ß also fa st alles, was m an in dem
P aris der Zivilisation fü r V orurteil hält, in dem P a ris des Volkes von P a ­
ris und in den Provinzen schonend behalten. T aines Entsetzen w ar g ro ß ,
als er den Stum pfsinn des B au ern vor den T oren von P a ris erm ittelte.
Aber e r nim m t ihn als unabänderlich.
Die H errsch aft in P a ris enthüllt sich als H e rrsch a ft n u r in dem einzigen
Punkte, wo sie m it der E xisten z eines geistigen Fran zo sen tu m s sich m it
R echt identifizieren k an n : in d er unbedingten V orrangstellung von P a ris
vor anderen geistigen Zentren.
N ichtfranzosen begreifen o ft schw er die Leiden schaft, m it der fro m m e
französische K atholiken katholische O rganisationen fü r ih r L an d ableh-

22 Rosenstock 337
nen. D ie Laiengesetzgebung eines W aldeck-R ousseau b a t z w a r a n g e b lic h
,,die Sterne am H im m el ausgelöscht“ . Aber die Voraussetzung dieses V i -
vianischen B onm ots m uß m itgeh ört w erd en : D er Stern von P aris bleibt
ü b e r F ran k reich stehen, d er da w ar, ist und sein wird. W ie Clem enceau
sich ausgedrückt hat : P aris est reste ce qu’il a to u jo u rs ete, ce qu’il sera
to u jo u rs : le grand point de concen tration de la pensee frangaise. E s ist
nich t ph rasen haft, wenn P aris die L ich terstad t heißt. P aris gibt den Geist.
Auch das K atholische kann in F ran k reich seine H eim at behalten, wenn
es in P aris rezipiert ist.
Die drei ersten organischen Artikel des K onkordats von 1 8 0 2 verbie­
ten E m p fan g , D ruck und B efolgung einer päpstlichen Bulle eines Breve,
D ekrets usw. ohne G enehm igung von P aris. Kein B e a u ftra g te r des P a p ­
stes kann irgen d etwas ohne die gleiche G enehm igung in F ran k reich un­
ternehm en. U nd selbst die ökum enischen Konzilien dürfen ih re Stim m e
nach F ran k reich n ich t ohne P a rise r Erlaubnis dringen lassen.
Via P a ris m ag der P ap st wirken, aber niem als an P a ris vorbei. D as ist
das gallikanische K irch en rech t. D o rt in P a ris m u ß d er Katholizism us sich
au f dem P a rk e tt bewähren. Dann ist er willkom m en. So dachte auch der
französische K atholik.
Mit d er g rö ß ten Selbstverstandlichkeit ist fran zösischer K atholizism us
dah er ein M ittel gew orden, die französische N ation zu regenerieren. Die
B arres, M aurras usw. m ögen dabei über das heutige P a ris eifern , sie m ö­
gen so g ar R e g io n a lste n sein. A uch ih r Gegenbild eines w ieder katholi­
schen F ra n k re ich s ist ein von d er Isle de F ra n ce aus geeintes F ra n k re ich ,
ist ein geistig von P a ris aus, dieser E rb in des „S tu d iu m s“ erleuchtetes
V aterland.
P a ris selbst ist die g ro ß e anarchische Individualität, die um sich herum
den vernünftigen französischen S taat gebaut h at, aber selbst m eh r ist
als er.
P a ris ist die K önigin des republikanischen F ran k reich s. Denn sie steht
außerhalb seiner p ap iem en V erfassung und hält sie ihrerseits in Bew e­
gung.
D as A narchische in dieser K öniginnenstellung der Capitale ist o ft als
ein W esenszug der R om an en angesprochen w orden. E s g e h ö rt aber zur
B ürgerrevolution. Denn diese Revolution lä ß t eine ganze H älfte des L e ­
bens ohne V erfassung. D o rt wo die Passion h e rrsch t, h ö rt das R e ch t auf.
Die Passion versetzt den M ann in die L a g e des Abhängigen, Leidenden und
U nselbständigen. H ier beginnt dah er das R eich der F r a u !
Die Frau enbew egun g des 1 9 . Ja h rh u n d e rts verdankt ih re E n tsteh u n g
der einseitigen bürgerlichen G esellschaftsordnung, die von M ännern fü r
M änner g e m a ch t ist. Aber au f der anderen Seite gibt es in dem L an d e der
B ü rgerrevolution seihst, in F ra n k re ich keine ernsthafte Frauenbew egun g.
Dies ist ein W id ersp ru ch , der d er A ufklärung bedarf. D as V erw irrende

338
klärt sich auf, wenn der E rn st gew ürdigt wird, den der Franzose der P as­
sion einräumt. Sowohl P aris wie auch die Fran zösin steht außerhalb der
geschriebenen Verfassung des Landes. Aber beide sind deshalb nicht etwa
P arias und rechtlos, sondern sie sind die eigentlich Unverletzlichen und
unverantwortlichen Persönlichkeiten der G esellschaftsordnung.
§ i dieser Souveränität lautete bis 1 9 1 4 : D er G oldstrom des Geldes
der ganzen Nation wird in P a ris zentralisiert und thesau riert und strö m t
von d o rt bewässernd und befruchtend zurück ins Land. Dies ist die still­
schweigende aber selbstverständliche Funk tion der P ariser H aute finance,
die ih r ohne jeden V erfassungsparagraphen die H egem onie sichert. § 2
ebenfalls bis 1 9 1 4 — b esag te: Die P ariserin lanciert das Talent. Sie hält
Haus, em pfängt und eröffn et einen Salon. Sie also wählt aus, wer w ürdig
ist, zur G esellschaft zu gehören. Die Pariserin bestim m t den R an g des ein­
zelnen in d er G esellschaft und sie kooptiert und ballotiert die Neulinge d er
Gesellschaft. D am it aber übt sie die w ichtigste politische Entscheidung im
Leben der N ation a u s : sie bestim m t den K reis der A nw ärter in Politik, L i­
teratur und W issen schaft. D as S tim m rech t d er W ä h le r kann zu diesen
Anwärtern, die ihnen die P a rise r Salons anbieten, noch J a oder Nein sa­
gen. Aber die P ariserin ist an diesem sekundären S tim m rech t des bloßen
W ählers n atu rg em äß nich t interessiert.
F rau en stim m rech t m u ß es d ah er n u r in den L än d ern geben, die den
Kreis der A nw ärter ohne Frau en ein flu ß bestim m en. In dem Lan de, in dem
die M ännerklubs allein unter sich ballotieren, in En glan d, h at dah er eine
fanatische Suffragettebew egung sich ausrasen m üssen. Denn hier zerstörte
die E in fü h ru n g der französischen N ationaldem okratie die Z ugehörigkeit
der Engländerinnen zum K ö rp e r der N ation.
In F ran k reich leben die F ra u e n geborgen in dem konkreten d u rch keine
abstrakten P arag rap h en angetasteten ungeschriebenen Teile der V erfas­
sung, in der P a rise r G esellschaft.

5. Der Konvent
*
Die französische Revolution h a t ih r W eltan tlitz in d er convention nationale
1 7 9 2 — 1 7 9 4 gep räg t. D as D enkm al, das den Freih eitssch w u r der Advo­
katen im Konvent und die aus diesem Schw ur herausw achsende Levee en
nxasse des Volksheeres darstellt, steht m it R e ch t im M ittelpunkt des P a n ­
theons in P aris. D as Pan th eon aber ist die 1 7 8 9 eben fertig gew ordene
K irche von St. Genevieve. A uf Abälards B e rg also w ar diese K irch e eben
von Ludwig X V I. erbaut w orden, als die Revolution die heilige Genoveva
du rch die G ötter von H ellas und R o m verdrängte. M ars und Zeus, Athene
und Apoll halten h ier ihren E in zu g . U nd dieser Tem pel des selbstbewußten
Menschen verh errlich t den K onvent, die überm enschliche Leistung der B e ­
geisterten, d u rch die sie die F u n k tion des K önigtum s, die K rieg fü h ru n g
an sich rissen.

22*
339
W e r kennt nich t die Namen M arat, D anton, R obespierre, Cam ille D es-
m oulins, St. J u s t ? W a s verkörpern sie ? Die Verschm elzung von Versailles
und P aris. B is zum Konvent fäh rt die französische Revolution drei Ja h re
lang auf zwei Gleisen einher. Nebeneinander handeln der französische
Staat und die S tad t P aris. Z. B . die G eneralstände versam m eln sich in
Versailles Ballhausschw ur am 2 3 . J u n i; die Bastille in P aris wird ge­
stü rm t; 1 4 . Ju li. O d e r: Adel und Geistlichkeit verzichten au f ihre Privi­
legien am 4 . August. D er dritte Stand scheint in Versailles allm ächtig. Da
erzwingt das Volk von P aris am 5 . O ktober die Übersiedlung des K önigs
und dieses allm ächtigen dritten Standes n ach P aris.
Die Abgeordneten sind noch ganz im Banne des Abbe Sieyes und seiner
V erherrlichung der A llm acht des tiers etat. Sie geben eine V erfassung,
nach der 8 3 D epartem ents wie K antone selbständig werden. D ieser tiers
etat will n u r dem K önigtum R echte wegnehm en. E r will das K önigtum
schw ächen, statt es zu beerben. D as W e rk von Versailles soll vernichtet
werden. D as P a triz ia t der bourgs will daheim regieren so wie die G entry
in ihren W ah lk reisen , ihren boroughs, in E n glan d regiert.
Vergebliches Beginnen, das W e rk Richelieus und M azarins und L u d ­
wigs X IV . rückw ärts zu revidieren. Diese neue V erfassung ist ein totgeb o­
renes K ind. K ein er ih re r V äter d a rf in die neue gesetzgebende V ersam m ­
lung w iedergew ählt werden bestim m t m an. Eine wahnwitzige B estim m ung,
scheint es. U nd doch ist sie eigentlich geniale T a t R obespierres. D enn in
dem tiers etat von 1 7 8 9 hatten die eigentlichen R evolutionäre gefehlt, die
Transversaillisten. K ehrten die altm odischen Föd eralisten zurück, dann
w ar jede wirkliche E rn eu eru n g des Staates unm öglich, dann blieb m an im
D unstkreis d er englischen Revolution.
Aber im S o m m er 1 7 9 2 b rich t der K rieg gegen Ö sterreich aus. Am 1 0 .
August stü rm t das Volk von P a ris die Tuilerien.
Nun — d er F ein d steh t vor den T oren — w ird dem K önig der P ro zeß
gem acht. Seine Sippe verrät ihn. M it der einen Stim m e M ehrheit des H er­
zogs von O rleans w ird das T odesurteil gefällt. Ludw igs X V I. Guillotine
steht au f dem Platz der heut P lace de la C oncorde heißt. In der T a t : Die
E in tra ch t zwischen dem S ta a t und der S tad t ist d u rch die H in rich tu n g
des K önigs m öglich gew orden. R obespierre h ält die Mitte zwischen dem
P a rise r S ta d tra t und dem nationalen K onvent d er B ourgeoisie. E r ist diese
M itte. D as ist seine G röß e. E s ist K rieg. W e r w ird K ö n ig ? W ie kann m an
ohne K ö n ig K rie g fü h re n ? E r ist ohne K ön ig g e fü h rt worden. D ie R eak­
tionäre verspotteten gern die B o u rg e o isie : Sie sei eine diskutierende
K lasse. D er französische D eputierte diskutiert. T rotzdem h a t der K on­
vent K rieg g e fü h rt! W e r h at den D eputierten dazu b e fä h ig t?
Diskussion Die W o r te , die er sp rich t, sind Plädoyers, die Beredsam keit des fra n ­
zösischen P a rla m e n ta rie rs ist eine andere als die des englischen M. P .
D ieser m otiviert wie ein G eschw orener seine persönliche A bstim m ung.

34o
D er Franzose fü h rt ein ganzes Feuerw erk auf, um die anderen um zustim ­
m en. D ebattieren, fechten, ist der englische Ausdruck, discuter der franzö­
sische. Die W o rte sollen erschüttern, die L u ft, die Herzen, die Tribünen.
D as Plädoyer will hinreißen, rühren. D er Franzose, der diskutiert, ist
nicht hinten im Beratungszim m er, wo der W ah rsp ru ch der Geschworenen
gefunden wird, sondern er lehnt vorn vor dem Publikum , an der B a rre ,
wo der Thing sich teilt in G ericht und H ö rersch aft, zwischen den B eru fe­
nen- und U nberufenen, zwischen den Sachverständigen und den Laien.
D ort steht der Anwalt und plädiert um das Leben seines Klienten. D o rt
m uß er hin und her stürm en m it seinem Gedankenflug zwischen den Lei­
denschaften des Publikum s und der unerbittlichen Logik des G erichts­
hofes.
Alle französische Sprechkunst ist seitdem auf dieser schm alen Scheide­
linie der Leidenschaften und der Logik zu H ause. D as W o r t zergeht auf
der Zunge wie eine unendliche Süßigkeit und es schm eichelt den O hren
der U nw issenden; die Gestikulation und die Pose verblüffen, und gleich­
zeitig schneidet der abstrakte Gedanke m it un erh örter S ch ärfe d u rch das
Gestrüpp aller Unklarheiten und V erw orrenheiten. D ie Reden Lassalles
sind solche „französische“ Plädoyers in deutscher Sprache.
Diese Sprache wird der A bgott der N ation. D er selbstbewußte M ensch
dieser Revolution h at eine geistige L e id e n sch a ft: la langue. Kein Volk ist
so vern arrt in seine Sprache. U nd zw ar n ach jed er R ich tu n g. D er K ultus,
den der H o f und P aris von je h e r m it ih re r Sp rach e treiben, ä u ß e rt sich
in dem S p rach rich teram t der französischen A kadem ie; aber e r geht au f
die Nation über. E r äu ß ert sich in dem besonderen G rabe d er Ecrivains,
der Schreiber dieser geliebten Sp rach e, die im W eltk rieg gefallen sind,
im P a n th e o n ; er zeigt sich darin, daß bei der E rw äh n u n g eines g roß en
Mannes nie eine Zensur über seine Diktion und seinen Stil fehlen w ird.
D ieser Sprachkultus ist aber zugleich die W u rzel des N ationalism us
aller europäischen Völker geworden. Diese freigew ordene B ü rg e rn a tu r
huldigt nun allenthalben der natürlichen Gabe der Sp rach e. L etten und
U ngarn, Tschechen und Finnen entdecken diese n atü rlich e Gabe und so­
weit sie den Ideen von 1 7 8 9 erliegen, beginnt ihnen der K ultus zum G öt­
zendienst zu werden. D abei bedeutet der S p rach kult von P a ris z. B . fü r
die U ngarn eine K etzerei. In P a ris d arf die Sp rach e m e h r bedeuten als in
U ngarn! Die U n garn sind aber n och 17/41 in P re ß b u rg m it dem latei­
nischen R ufe vivat re x fü r M aria T heresia au f g eb roch en ! E u ro p a ist seit
1 7 8 9 krank am Nationalism us.
Je d o ch in ih rem U rsprungslande sind die Lan gu e frangaise und der
französische N ationalism us ungekünstelt zu G öttern gew orden. Haben doch
sie allein das W u n d er der Revolutionskriege bewirkt. Die H ydra der R e­
volution, vielköpfig, p arteiisch, h a t doch dem W o h lla u t des Plädoyers sich
gefangen gegeben und unter den D eklam ationen der Advokaten an der

34i
B arre ist der angeklagte ausw ärtige Fein d von der hingerissenen M enge
unter Leitun g des G erichtshofes v erjagt worden. Die Sprache allein hat
hier diese Verbrüderung der freien E sp rits erm öglich t, die der Sinn dieses
R ufes fratern ité ist. In Individuen aufgelöst, findet sich die N ation in
der Begeisterung wieder zusam m en. D er Konvent verwirklicht die Vision
Rousseaus von der volonté générale, die nichts zu tun habe m it dem bloßen
W illen jedes Einzelnen. Die Gleichzeitigkeit erzeugt hier den Gem eingeist.
Die französische Revolution entdeckt das G öttliche des Zeitgeistes. D er
Konvent adelt die Conversation spiritual zum E n thu siasm u s d er N ation.
Rousseau Jean Jacq u es Rousseaus K am p f gegen das P räju d iz, die alten Konven­
tionen, das bloße H erkom m en, seine „R ückk ehr zur N atu r“ verw arf allen
Volksgeist d u rch die F o lg e der G eschlechter. Die sechzig Seiten seines
C on trat social wollten zeigen, d aß alles H erkom m en unnatürlich sei, daß
nu r die F am ilie in der N atur wurzele. Aber selbst der m ündige Sohn sei
nu r n o ch freiw illig ih r Glied. Schon h ier also beginne das R eich der ge­
sellschaftlichen E n tsch lu ß freih eit. Keine G eneration d a rf d er nächsten
G eneration Gesetze vorschreiben, ergin g dam als ein G esetz! Denn wo auf
Freiw illigkeit gebaut wird, da sei selbständiger, freier W ille. Ihn also
m u ß m an w achrufen zum A ufbau des Gesam tlebens. D er freie W ille m u ß
sich d u rch eine B ildung ins allgem eine veredeln. D ann wird e r den rech ten
Gesamtwillen m it erzeugen. Rousseaus T rau m tr if f t au f die M öglichkeit
P aris.
Die P a rise r G esellschaft kann diese veredelte B ildung den Individuen
unm erklich abringen. D er P a rise r K onvent realisiert R ousseaus T ra u m
einer volonté générale, weil die Musik der S p rach e, die G esellschaft von
P a ris und das Vorbild von Versailles in den Individuen dem allgem einen
W illen des Augenblickes zum Siege verhilft. D er K onvent erlebt die eini­
gende M acht auch des traditionslosen ungeschichtlichen Geistes, des Z e it­
geistes. E r kann sie aber n u r erleben, weil die G rundlage solchen Zeit­
geistes, d er einheitliche G eistesraum P a ris, ih m die E in h eit in d er D ia­
lektik der G eister in den S ch oß w irft. D ieser Sieg* des Zeitgeistes wird
festgehalten. D er T rä g e r der volonté générale, der Konvent hebt die föde­
ralistische V erfassung auf. E r stellt die starke Z entralgew alt des K önigs
wieder her. E r beerbt also das K ö n igtu m , sta tt es zu schw ächen. E r sp rich t
die S p rach e, une et indivisible, F ran k reich s. U nd ihm gelingt es, n och ge­
rad e die „n atü rlich en “ Grenzen Galliens zu erreichen und gegen P re u ß e n
zu sichern. D ie G eister der Isle de F ra n ce, P a ris und Versailles sind in
dem K onvent dank dem Genius d er S p rach e w iedergeboren.
F ü r den K rie g jenseits der Grenzen setzen sie N apoleon ein zu ih rem
V ollstrecker.
N och in den B ulletins N apoleons zitte rt der Schw ung und die schnei­
dende S ch ärfe der Sp rach e des Konvents nach. Napoleon bleibt entspros­
sen dem Bunde von S ta a t und G esellschaft a u f d e r Isle de F ra n c e , bis hin

342
zu der Grabinschrift, die er sich selbst gewählt und die dem Volke der Isle
de F ra n ce huldigt, M ars der Athene. Die Sprache d er Revolution h at be­
kanntlich alle historischen Nam en der Provinzen vernichtet. Sie nennt die
D epartem ents m it Flußn am en . D adurch liegen Versailles und P aris im
D epartem ent „Seine“ zusam m en.
Deshalb nennt die In sch rift im D om e des Invalides, im Tem pel der
K riegsopfer zu P a ris weder F ran k reich noch P a ris, sondern sa g t: N apo­
leon habe gebeten, sein Leib m öge ruhen an den U fern der Seine inm itten
jenes Volkes, das er so sehr geliebt.

6. D er Nationalstaat in Europa
F ran k reich würde in seinen „n atü rlich en “ Grenzen über 6 0 0 0 0 0 qkm
bedecken. G roßbritannien, der Schauplatz der vorangehenden Revolution,
zählt 2 1 7 0 0 0 qkm. Aber m it diesen Zahlen ist n u r der kleinste Teil des
Zuwachses in der G rößenordnung von der englischen zu r französischen
Revolution bezeichnet. Denn wenn selbst das schw ach bevölkerte Sch ott­
land m it seinen 6 7 0 0 0 qkm au f englischer Seite nicht abgezogen w ird,
so ist doch kein Pu nkt d er britischen Insel im D u rchschnitt w eiter als
fünf In fan terie-F u ß m ärsch e, d. h. ein bis zwei P o sttag e vom M eere ent­
fernt. N ur an einer einzigen Stelle b eträg t die E n tfern u n g von Osten n ach
W esten 4 8 2 km . 5 5 o km hingegen sind die geringste E n tfern u n g vom
Meer bis zur Ostgrenze in F ra n k re ich , sie steigt an bis zu 8 8 8 km .
Den Plan der Bew ältigung dieser 6 0 0 0 0 0 qkm w ürdigt m an erst im
Vergleich m it den Einheiten älterer Revolutionen. D as K u rfü rsten tu m
Sachsen-Thüringen hatte i Ö 2 i etwa 2 0 0 0 0 qkm F lä ch e , R o m und die
Republik Siena um i 3 o o 3 0 0 0 qkm. G roßbritannien bietet wie gesagt,
als Insel solche besonderen E rleich teru n gen , d aß m an es wohl genau in
die Mitte zwischen T hüringen und F ra n k re ich rücken kann. M an w ird
also den Sp ru ng, den F ra n k re ich 1 7 8 9 vollziehen m u ß , als ebenso g ro ß
bezeichnen dü rfen , wie vom italienischen F re is ta a t zum deutschen F ü rsten -
staat und wie den vom O brigkeitsstaat zum englischen C om m onw ealth.
U n erh ört w ar d ah er die V erw altungsaufgäbe, vor die sich die P a rise r
R egierung 1 7 9 2 gestellt sah. Die alten E rb re ch te des K önigs in den ver­
schiedenen L än d ern der K ron e gaben m it seinem Sturz keine A u torität
m ehr. Die in E n glan d gegen die K ö n ig sm ach t ausgedehnte, regionale
Selbstregierung p aß te fü r eine Insel und w ar a u f dem Festlan d bereits
von den F ü rste n zerstö rt.
Die französische Revolution konnte also w eder an den K önig noch an
den Adel anknüpfen, um das L an d zum W id erstan d zu organisieren.
So hing sie alle R ech te am Gesetz au f, an d er K onstitution. K onstitu­
tion ist das B la tt P ap ier, das sta tt des H erkom m ens und des K önigs re ­
giert. D as W o r t O rganisation ist das Z aub erw ort d er französischen R e­
volution. K an t h a t es dem deutschen S p rach schatz einverleibt. Die A n -

343
hanger der alten O rdnungen von Fürsten und Adel haben diesem W o r t
alsbald den des O rganism us entgegengesetzt. Die deutschen P atrio ten
haben sich gegen Napoleons organische Artikel auf den Organismus des
Volksgeistes berufen. Auf diese W eise wurde im 1 9 . Ja h rh u n d e rt in
Deutschland das W id erw o rt O rganism us häu figer gebraucht und m eh r
geliebt als die W o rte O rganisation und O rgan, denen es sich entgegenw irft.
Man sprach in unserer Staatslehre lieber von dem „M echanism us“ des
französischen Staatsgedankens, von seiner flachen rationalistischen Struk­
tur, vermied aber m eistens das W o r t O rganisation. E r s t 1 9 1 4 ist das
„O rganisieren“ in D eutschland Mode und sogar populär gew ord en; aber
1914 haben wir als einheitlich belagerte F estu n g die L ag e der Franzosen
des Ja h re s 1 7 9 2 nachleben m üssen, seit 1 9 1 4 lä ß t unser h u ndertjähri­
g er W id erstan d gegen die Ideen des französischen N ationalism us bereits
nach. Seitdem sind wir im B e g riff, selbst die Ideologie der französischen
Republik (E r s t die Trikolore S ch w arz-W eiß -R o t, nun die T rikolore
Schw arz-R ot-G old) fü r unser R eich zu adoptieren.
Auf diese W eise ist aber das Z auberw ort O rganisation bereits in seiner
A ltersform zu uns gekom m en und das heiß t, ohne den B lütenschm elz,
der 1 7 9 2 au f ihm lag. N ur dieser Frühlin gszau b er erk lärt aber die unge­
heure Leiden schaft, m it der sich das französische Volk 1 7 9 2 h a t „o rg an i­
sieren“ lassen.
D er K önig, abhängig von der H absburgerin, der Adel verbündet m it
den Feinden des Landes, dies Lan d ohne G lieder, ohne W erkzeug, ohne
Adern und Muskeln, gestaltlos.
D er O rganism us ist zerstört. E r m u ß aber au f d er Stelle neu ins Leben
treten oder F ra n k re ich ist verloren. W e r verm ag d a s? N ur die m enschliche
V ernunft kann in T agen, bestenfalls in M onaten, eine am orphe M asse
künstlich wiederherstellen. N ur die Gedanken des M enschen können U n­
verbundene verbinden, die verw orrene L a g e klären, die U n ordn ung re ­
organisieren.
Die O rganisation ist also die O rdnung zweiten G rades, die den verstän­
digen M enschen gelingt. Soll sie aber gelingen, so fo rt und auf der Stelle,
so m u ß diese O rdnung die aller einfachsten W ah rh eiten verkörpern. Denn
n u r die einfachsten Prinzipien können von allen verstanden w erden. N u r
die faßlichsten G rundsätze verm ögen alle F ran zo sen zusam m enzufassen.
N ur wenn jedes Individuum verstehen kann, wie die V erfassung gem ein t
ist, kann es den V erstand m it bilden, der den K rieg führen m u ß , den V er­
stand der N ation. D er W ille aller, die volonté générale, wird benötigt, um
den Sinn aller bisherigen E rfo lg e über den Adel festzuhalten. D azu m u ß
sich dieser W ille seine G rundsätze sch affen, aus denen er sich täg lich
ableiten läß t. D ie Ableitung der Volonté générale aus einfachen G rund­
sätzen der Individuen wird erfo rd erlich . Die nationale V erfassung, m u ß
aus faßlichen Prinzipien jed em F ran zo sen verständlich her vor gehen. N ur

344
au f diese W eise kann der am orphe Bürger der Nation hineingerissen w er­
den in den unm ittelbaren Daseinskampf der Revolution.
Die Prinzipien der französischen Revolution sind m ithin keine hohlen
Deklamationen oder leere B egriffe, sondern G reif arm e und Hebewerke,
um der Auflösung der bislang im ancien régim e geordneten Franzosen
H err zu werden. Kein K önigsw ort und kein besonderes H erkom m en w ar
m ehr verbindlich. Myriaden W assertrop fen einer gleichförm igen Spring­
flut sind die Millionen Fran zosen gew orden. N ur die Logik kann diese
Massen im Nu ordnen, teilen und zusam m ensetzen. Denn nu r sie ist zwin­
gend und verbindlich fü r jederm ann.
Jederm ann ist die neue Einh eit der französischen Revolution, eine G rö - „Jedermann“
ße, die es bis dahin nicht gegeben hatte. E s hatte Katholiken gegeben,
Christen, Engländer. Die französische Revolution e rsch afft den Menschen
Jed erm an n , den einen, gleichen, auswechselbaren B ru d er aller B rü d er.
F e m e und Nähe sind nich t m eh r zu unterscheiden. „Seid um schlungen
Millionen, diesen K u ß der ganzen W e lt“ , ist der A usruf, der die fra n ­
zösische Revolution über die G efahr hinausreißen will, unter den F r a n ­
zosen haltzum achen.
Im F ran k reich von 1 7 9 2 hat m an Schiller das französische B ü rg e r­
recht verliehen. Man hat dem G enfer R ousseau vor dem Pantheon ein
Denkmal gesetzt, weil er, der L e h re r der volonté générale, sich um die
„M enschheit“ wohl verdient gem ach t habe. Aber in erster Linie stand die
Brüderlichkeit, G leichheit und F re ih e it derer, die in R eih und Glied der
Revolutionsarm een käm pfen wollten. In diesen Arm een tru g d er H e rr
Jederm an n den M arschallstab im T orn ister. In diesem H eere fanden sich
Elsässer und K orsen, M arseiller und B retonen zusam m en m it P arisern
in einem R egim ent.
Die Levée en Masse von 1 7 9 2 , die N ationalgarden und die allgem eine
D ienstpflicht sind die ersten W u n d er, die der Geist d er französischen
Revolution vollbringt. Jed erm an n w ird Soldat. Und jederm ann g eh ö rt in
Kom panien, Bataillone, R egim enter, B rigaden, Divisionen und K orps.
Die französische D em okratie ist kriegerisch insofern, weil sie den ra d i­
kalsten Ausdruck ih re r G rundsätze im H eere geben kann. D ieser W e g
geht am schnellsten. Sie hat die E u ro p ä e r geleh rt, die W e h rp flich t zur
Eigenschaft jedes Staatsb ü rgers zu erheben. W e r F ran zo se werden will,
m uß im H eere nachdienen (sonst w ird er nich t n atu ralisiert). In Am erika
knüpft m an heu t die „N ationalisation an ein E xam en in Staatsb ü rger­
kunde. Man sieht den U nterschied gegen die der ersten N ot des K rieges
entsprungene P flich t dessen, dem das F ran zo sen tu m zur zweiten N atu r
werden soll. W ie weit ist m an von den „G eb u rtsrech ten “ des E n glän d ers
in dieser organ isierten und n aturalisierten W e lt e n tfe rn t: D er in Frank­
reich geborene Sohn ausländischer E ltern m u ß im H eere dienen.
Aber eben deswegen ist die allgem eine W e h rp flich t nu r die erste Ä u ß e-

345
r a n g dieser neuen Logik der Dinge. Die Logik versucht sich so fo rt an der
dauernden B efriedung des Landes; wie soll aber der Verstand da ver­
fah ren ? D er Verstand ist j a n u r diskursiv tätig . E r kann logisch teilen
und zusam m ensetzen, was ihm vorgelegt wird. Aber die Grenze des Ver­
standes läuft d o rt, wo m an nich t weiß, ob geteilt oder zusam m engesetzt
werden soll. Kein V erstand kann bezeichnen, ob etwas ein Ganzes ist oder
ein bloßer Teil. Ob S traß b u rg , ob das E lsa ß , ob E lsa ß -L o th rin g e n , ob
Fran k reich , ob E u ro p a , ob die W e lt zusam m engefaßt werden mu ß , das
entscheidet sich jenseits der Logik.
D er logische P ro zeß h at F ran k reich in D epartem ents und A rrondisse­
m ents ganz gleichen R echts geteilt. E r liebt die klaren einfachen F o rm e n
der Place de l’E toile, des E iffeltu rm s, der Boulevards. D er erste und g rö ß te
K riegsm inister d er Republik ist nich t zufällig einer der g röß ten M athe­
m atiker, G arnot, gewesen. D escartes, P ascal und G arnot bedeuten fü r die
französische Entw icklung, d aß eben dem M athem atiker sich in die Na­
tion hinein ein unm ittelbarer Z u gang öffn et.
Aber vor aller dieser Logik und M athem atik der französischen K onsti­
tution steht die Entscheidu ng über die G anzheit, an der alles gemessen,
w ird, die Ganzheit, die der Teiler fü r die S traß en und die D epartem ents
nach unten, fü r E u ro p a und die C hristenheit n ach oben w ird, die der
treulosen „H u re V ernu nft“ sich ein fü r allem al versichert. Diese Ganz­
heit w ar zu Beginn n u r im K önigtum verkörp ert. S o g a r „R obespierre und
Napoleon w aren beide 1 7 9 1 M o n arch isten ! D enn m an kannte n u r aristo ­
kratische Republiken wie G enua und Venedig oder Föderativstaaten wie
die Schweiz und N ordam erika. A ristokratie und Fö d eralism u s w ar den
Franzosen gleich v erh aß t“ (A u lard ). So versteht m an G ondorcets A u sruf
am 2 3 . J u li 1 7 9 1 : „ E in e N ation von 2 5 M illionen, a u f einer F lä ch e von
2 7 0 0 0 Meilen — kann sie eine Republik b ild en ?“ Zwei T age n ach dem
Bastillesturm h e iß t e s: „ u n royaum e m editerrane wie F ra n k re ich zwi­
schen furch tb aren G roß m äch ten b rau ch t eine Exekutive, die völlig in den
Händen des K önigs lie g t!“ D a w ird die neue V erkörp eru ng m it einem
frenetischen Ju b e lru f in jenen J a h r e n entdeckt und ausgesprochen. E s
ist la F rance u n e et indivisible.
D ieser Zusatz des une et indivisible ist das E n tscheidu ngsw ort des fra n ­
zösischen Staatsgedankens. D ie w ah rh aft k ö rp erlich e In te g ritä t d er N a­
tion wird d u rch diese beiden W o r te gesichert. Sie tragen m ath em atisch e
und logische P rä g u n g und stehen dem nach beide p rälogisch vor dem B e­
ginn d er R ech n u n g als vorw eggenom m enes E rgeb n is. D as ist d er fra n ­
zösische R adikalism us.

7. K ultur und Zivilisation


D as arm e W o r t Zivilisation w ird in D eutschland übel zersaust. M an h a t
es m it dem W o r t K u ltu r k o n fro n tiert, einem sch arfen K reu zverh ör u n ter-

346
worfen und gegenüber den inneren W erten der „ K u ltu r“ ist die Zivilisa­
tion als E u ro p as übertünchte H öflichkeit entlarvt worden. Dies ist ein
Spiel m it W o rten , weil K u ltu r dem Deutschen ebenso in den O hren klingt
wie den Franzosen Zivilisation. D er deutsche U n tertan bewundert die ein­
zelne Landeskultur und Volkskultur, die er als O ffizier und B eam ter sei­
nes F ü rsten verbreiten d arf. D er F ran zose em pfindet die O rdnung des
G roß territo riu m s zu einer nationalen B ü rg erstad t als seine G roß tat. Die
B ü rg er Fran k reich s sind daher genau so wurzelecht wie das angestam m te
deutsche F ü rsten tu m . In P a ris haben sie bereits 1 7 9 0 gegen das eigene
P atriziat und gegen Lafayette, den vergötterten F ü h re r der N ational­
garde aufbegehrt und ihnen die Befehle zurückgeschickt. Denn die Zivi­
lisation ist ebeji entsprungen der spontanen B ürgerleid ensch aft. M it der
bloß vorschriftsm äßigen Landeskultur h at sie nichts zu schaffen. W ill
m an sie begreifen, so m u ß m an bedenken, was sie beseitigt h at und besei­
tigen w o llte: Die Zivilisation stü rzt das adlige H erkom m en , die gentle­
m anlike T radition der adligen und patrizischen Sippschaften! Deshalb ist
das Lieblingskennw ort des Republikaners von 1 7 8 9 das W o r t „rad ik al“
geworden. D er zivilisierte E u ro p ä e r sucht andere W urzeln (R a d ix !) seiner
K ra ft als die der bloßen A bstam m ung wie der geburtsrechtbesessene B rite .
Radikal ist ein unübersetzbares W o r t der französischen Politik. Die M ehr­
heit d er Franzosen h a t sich bekanntlich d arau f n ach 1 8 7 1 vereinigt,
radikal zu sein. W a s h eiß t d a s? Die W u rzel der Zivilisation sollen die
Ideen von 1 7 8 9 sein, n ich t die adlige Abkunft oder ehrw ürdige H er­
kunft einer Sache oder eines M enschen. Radikal steht gegen C om m on Law
und gegen die R asse, auf die der B rite so stolz ist und die d er F ran zo se
entlarvt hat. Deshalb verteidigen sich D eutschlands G eschichtsgeister ge­
gen den E in b ru ch der Fran zosen , wenn sie K u ltu r gegen Zivilisation au s-
spielen. Aber an Zivilisation klebt ebensoviel B lu t und ebensoviel O pfer­
geist wie an d er deutschen K u ltu r. M an sollte also diesen billigen W o r t­
streit lassen.

D as A u s la n d
Aber sicher ist die Zivilisation kein W o r t fü r uns. U ns bed roht sie. D enn
nach oben und n ach unten entschied diese neue unteilbare E in h eit über das
Schicksal des W eltbildes der B ü rg e r des 1 9 . Ja h rh u n d e rts.
Die m aßgebende Ein h eit ist weder das Abendland n och E u ro p a. Gle-
m enceau h at das klassisch fo rm ie rt, als er 1 9 x 9 sa g te : Die M enschheit ist
schön, aber F ran k re ich ist schöner. E u ro p a ist n u n m eh r n u r noch die
nach d em M uster F ra n k reich s geordnete W e lt b ü rg erlich er N ationalstaa­
ten. E u ro p a ist eine Sum m e selbständiger Teile. V ergebens stellen R om an ­
tiker wie Novalis die C hristenheit oder E u ro p a als übergeordnete G anz­
heiten diesem W eltb ild gegenüber. Vergebens nennt B urke E u ro p a virtuell
einen einzigen S taat.

347
Und dieselbe Entscheidung fällt nach unten. Innerhalb der Nation gibt
es keine B retagne und kein E lsaß . Die Südfranzosen haben ihre berühm te
Tischgesellschaft in Paris. Aber der tiefere B e g riff der Autonom ie ist seit
1 7 8 9 unfranzösisch. D as Selfgovernm ent der Stände wird derm aßen aus-
g erottet, daß C ondorcet sagen k an n : W ir haben den Staat so hoch über
alle einzelnen erhoben und die Individuen so geschw ächt, daß wir daran ­
gehen können, diesen Individuen wieder R echte zu geben.
Auch daß jedes Lan d eine und n u r eine H auptstadt haben könne, ist eine
Erfin d u n g der französischen Revolution. K apitalism us und N ationalism us
fallen nur in F ran k reich so zusam m en, daß der geistige G ehalt der N a­
tion in die H auptstadt, der K apitalism us aber in das staatliche Zentrum
von allen Staatsb ürgern hineingesehen werden. N ur in F ran k reich gibt es
daher den B e g riff des Staatsbürgers. Im Deutschen w irkt dies W o r t noch
heut fade und gekünstelt. D er E n glän der nennt sich B riton , wenn er die
Verfassung des Vereinigten K önigreiches andeuten will. D er Fran zose al­
lein hat den Citoyen kurzweg zum geistigen P rägestem pel seiner ganzen
Nation verwenden können.
Diese G leich u n g : ein Lan d = eine H auptstadt, h at nun fü r die Politik
wie sie von F ran k reich aus gesehen w ird, die schwerwiegendsten Folgen .
Von F ran k reich aus besteht die N eigung erstens d o rt, wo eine H auptstadt
ist, eine souveräne Staats-N ation zu postulieren, zweitens d o rt, wo eine
Nation sein soll, eine H auptstadt zu schaffen.
Plebiszit Die preuß ische, die bayrische und die w ürttem bergische „N atio n “ sind
so am A nfang des 1 9 . Jah rh u itd erts u n ter dem E in flu ß d er Ideen von
1 7 8 9 gezüch tet w orden. P ra g , A gram , B udapest und W a rsch a u schrieen
vom französischen Standpunkt aus nach ih rer sinnvollen E rfü llu n g in sou­
veränen Staaten. D er m oderne Gedanke d er V olksabstim m ung ist im
G runde auch n u r verständlich aus d er französischen Idee, daß m an sich
fü r den o d er jenen M ittelpunkt entscheide. D enn bekanntlich ist die U n ter­
lage jedes Plebiszites die klare A bgrenzung des A bstim m ungsgebietes.
Soll die S tad t T riest abstim m en oder ganz I s t r i e n ? ‘Soll T rien t abstim m en
oder Südtirol, O berschlesien oder ganz S ch lesien ? Und entscheidet die Ab­
stim m ung über ganz O berschlesien oder über seine Teile g e tre n n t? D as
E rgeb n is w ird jedesm al entgegengesetzt ausfallen.
F ü r die französische M entalität bestehen hier keine Problem e. D enn fü r
den Fran zo sen haben die Bew ohner von P le ß und Rybnik einerseits, K a t-
towitz und Beuthen andererseits kein sie untereinander verbindendes Band,
Je d e r O rt und jed er Einw ohn er w ählt vielm ehr direkt B erlin o d er W a r ­
schau. D aß e r O berschlesien, ein L an d ohne Zivilisationsm ittelpunkt w äh­
len könnte, findet in dem politischen R äsonnem ent von 1 7 8 9 keinen Platz.
Und doch hatten die O berschlesier Oberschlesien im S in n e!
Die Fran zo sen haben aber k ra ft ihres aufklärerischen V orurteils diesen
rationalen B e g riff E u ro p a gesch affen , der heut die K öpfe b eh errsch t (vgl.

348
„den politischen H orizont“ ). l\2 Nationen, 4 2 H au p tstäd te; alle zusam m en
bilden eine Gesellschaft oder einen Verein, die Societe des Nations in Genf.
Im G enfer Telefonbuch stehen die Gesellschaften, die selbständigen Zu­
sam m enschlüsse selbständiger Personen, und m itten unter ihnen wird au f­
g efü h rt die Societe des Nations. D as, was wir gefühlvoll Völkerbund nen­
nen, ist eben ein Verein von N ationalstaaten! Die Vereinsbrüder sind die
letzten Einheiten, nich t der Verein. Atom istik des politischen Denkens,
rein räum liche Ansicht der W e lt. P rim a t der G eographie. Ein Additions­
exem pel m it dem R esu lta t: E u ro p a. B is ins kleinste ist diese Lehfw eise
das Erb teil von 1 7 8 9 . D abei ist das bezeichnend: Die ersten V äter dieses
Planes, der französische Abbe St. P ierre und der A m erikaner W illiam Perin
haben den europäischen G enfer Staatenverein schon am Ende des 1 7 . J a h r ­
hunderts geford ert. Die am erikanische und die französische Lehrw eise in
bezug au f den E rdteil „ E u ro p a “ sieht identisch aus.*
Die E rd e „zerfällt“ — zerfä llt ist das richtige W o r t — in lau ter ab- Dezimalsystem
strakt feststellbare F rag m en te. N icht die Taten der M enschen schaffen ihre
Reiche und Bereiche, sondern die abstrakte B erechnung der V ernunft ver­
weist jeden in sein N aturreich. B is 1 7 8 9 w ar das M aß fü r die E rd e ein
Jo c h oder ein M orgen, also das, was der B au er m it seinem Gespann O ch­
sen an einem T ag um pflügen konnte. E lle und F u ß w aren gebunden an die
reale E rsch einung des M enschen als des m aßgebenden W esens. D er E r ­
satz dieser M aße d u rch M eter und H ektar n im m t B ezug au f den E rd q u a­
dranten. Ein M eter ist der vierzig M illionste Teil eines Erdq u ad ran ten . D as
N orm alm eter wird in P a ris aufbew ahrt. D er m enschliche Geist u n terw irft
sich hier m it einem S ch lage die ganze E rd e von P a ris aus. Die französi­
sche Revolution enthüllt hier ihren w eltbü rg erlichen C harakter. Sie h at
eine die ganze W e lt ergreifende Seite. Alle Völker m üssen so werden wie
F ran k reich unter d er F ü h ru n g von P a ris. F ra n k re ich ist das N orm alland
aller L än d er, F ran k reich ist die g ro ß e N ation u n ter den N ationen. W e n die
P ariser G esellschaft rezipiert, der w ird dam it zum W e ltb ü rg e r, hinzu zu
seiner polnischen, russischen N ationalität wird e r nun quasi P ariser,
B ü rg er d er vernünftigen W e lt, d u m on d e civilise, wie d er A usdruck
lautet.
W ie P a ris F ran k reich n u r geistig und seelisch beherrschen kann, nicht
eigentlich m ilitärisch oder institutionell, so b eh errsch t das P a rise r N or­
m alm aß die frem den G ehirne. E s g eh ö rt in die Gesetze der Revolutionen,
daß En glan d allein dieser W e lth e rrsch a ft der N o rm alm aß e von 1 7 8 9
nicht nachgegeben hat, wohl aber A m erika. Im m er das L an d m it der
nächstfrüheren Revolution leistet den unerbittlichen W id erstan d , so hier
England gegen das D ezim alsystem . A ber um gekehrt g eh ö rt dies D ezim al­
system unter die M ittel der W eltg eltu n g der französischen Revolution. E s
hat in allen anderen Staaten Münze, Gewicht, H o h l- und L än gen m aß e ;
entnationalisiert und n o rm alisiert, h a t alle Nationen d am it unm erklich an

349
die französische Denkweise gewöhnt. Dabei war der K am p f im eigenen
Lande langw ierig. E r s t i 8 4 o hat der französische B au er seine K lafter­
rechnung aufgeben müssen. D er K am p f geht n ach innen und nach außen.
Normal Denn das N orm ale ist das Internationale und das Französisch-Nationale
zugleich, au f das m an als Fran zo se besonders stolz sein darf.
Die erste Schule des Landes kann daher in F ran k reich die E co le N or­
m ale heißen. „N orm alien“ zu sein, ist eine Auszeichnung, wie fü r den E n g ­
länder die public school. D as B este, E rste , V ornehm ste verbirgt im Lande
der G leichheit seinen H errschaftsansp ru ch in der unangreifbaren H ülle
des N orm alen, d. h. fü r jederm ann Verbindlichen und V ernünftigen. Aber
dieser H errsch aftsan sp ru ch besteht, n ach innen wie n ach außen. D er deut­
sche D ualism us, Katholiken und Protestan ten , ist fü r einen Franzosen
anorm al. D as W underw erk Ö sterreich-U ngarns ist n ach den französischen
Schulbüchern von 1 9 0 0 un contresens dans l’E u ro p e m oderne. Die eng­
lischen B räu ch e sind „idiotisch“ . Auch d er berühm te französische K enner
Am erikas, A ndre Siegfried, kann En glan d n ich t g erech t werden. Selbst in
den Gedanken dieses g ro ß en F o rsch e rs h errsch en die Ideen von 1 7 8 9 .
Sie verwandeln alles in unnorm ale Sinnlosigkeit, was n ich t nach der ab­
strakten N orm des W eltm aß es von P a ris gem essen werden kann.
Jed e Revolution erhebt die bisherige A usnahm e zur R egel, erniedrigt
die bisherige R egel zur Ausnahm e. Die französische Revolution wendet
sich gegen die englische. Diese hatte das C om m on Law , das H erkom m en
des Landes v ergöttert, das in jed er G ra fsch a ft besonders ist, das unver­
nü n ftig aber angeboren ist. D er F ran zo se zerstö rt die G outum es in den
Ländern d er K ron e. An die Stelle der königlichen Gewalt tritt die ab­
strakte N orm . Sie stem pelt alles abstrakt U nbegreifliche zu r kau m er­
träglich en Ausnahm e. Und in h u ndertund dreißig Ja h re n von 1 7 8 9 bis
1 9 1 9 verwandelt diese scheinbar so gewaltlose L eh re die L an d k arte von
E u ro p a in jenes n orm ale aber un erträglich e S ch ach b rett von N ational­
staaten, die heut an ih re r N orm alisierung verhungern. D as von P a ris aus
fü r norm al E r k lä r te : Je d e r H auptstadt ih r S taat, h a t die B alkanisierung
E u ro p as bewirkt, aber es h a t F ra n k re ich zur unbestrittenen geistigen H e rr­
sch aft über das 1 9 . Ja h rh u n d e rt verholfen.

8. Das Privateigentum
D as R ech t, in dem sich die F u rch tlo sig k eit des Staates vor jed er K o n ­
kurrenz au ssp rich t, ist die V ereinsfreiheit. Societes, G esellschaften kann
d er liberale S taatsb ü rger nun gründen , soviel er begehrt. D as Leben der
G esellschaft w ird unm ittelbar d u rch die R evolution entfesselt. M an m u ß
diesem m ath em atisch E rfa ß te n und logisch G eordneten ein dem Ganzen
un gefährliches Tätigkeitsfeld einräum en. M an m u ß ih m die unbedingte
G leichheit, in die es willigen soll, vergelten d u rch eine gleiche unbedingte
F reih eit. U nd diese eigene F re ih e it des Individuum s findet sich in dem ,

35o
was die Sprache schon im m er als seine eigene Sphäre bezeichnet h a t: im
Eigentum .
Je d e r fü r sich, G ott für uns alle ist dah er der Grundsatz der Gesell­
schaft ; die G esellschaft besteht aus Eigentüm ern. V or dem Gesetz des
Staates sind alle Franzosen gleich. Deshalb dürfen sie als G esellschafts­
m enschen desto eigentüm licher leben. D er Fran zose ist nich t nu r selbst
eine Individualität, sondern er zieht in den K reis dieser Individualität m it
besonderem N achdruck alles, was sein ist. Diese Ichsu cht vom Eh rgeiz bis
zur schm utzigen H abgier ist das eigentliche B ü rg erlaster. Ins E gozen tri­
sche und Egoistische (egotistisch sa g t d er F ran zo se) gleitet der M ensch
am häufigsten im 1 9 . Ja h rh u n d e rt ab.
In dieser bürgerlichen G esellschaft w ird der neue B e g riff „das Ic h “ ge- Das „ich“
prägt, den frühere Zeiten nich t verstanden hätten. Denn alle Persönlichkeit
der Menschen knüpfte sich frü h e r an die politische V erantw ortung in ei­
nem K reis von m ehreren M enschen. Adel und F ü rsten und K leriker w er­
den freie Persönlichkeiten, weil sie fü r andere M enschen, fü r K aiser, Un­
tertanen, Volk und H intersassen verantw ortlich sind. D er B ü rg e r trä g t
V erantw ortung n u r fü r sein E ig en tu m und — dies aber schon n u r unaus­
gesprochen — fü r seine F am ilie. N iem als in der G eschichte d er M ensch­
heit w ar der Geist so herausgelöst aus den politisch-kirchlichen Gem ein­
schaften jedem leiblich ausgewachsenen Individuum zuerkannt worden als
jetzt. D as Individuum entschied über sein E ig en tu m . Und alles N ichtnatio­
nale fiel in diesen B ereich des E ig e n tu m s: also w anderte ab in das P riv at­
leben der Individuen die F ra g e d er christlichen K irch e. Religion wird P r i­
vatsache. E s w andert ab die E n tscheidu ng über die L eh ren d er W issen ­
schaft. Die W issen sch aft und ih re L eh re sind frei. „ W e lch eine Ph iloso­
phie sich jem an d wählt, das h än g t davon ab, was fü r ein M ensch e r ist.“
— E s w andert ab ins Private die En tsch eid u n g über die B ew irtschaftung
des Bodens. Die B auern werden freie E ig e n tü m e r auß erh alb jedes F lu r ­
zwangs.
D er Philosoph kann dah er die französische Revolution fü r sich in An­
spruch nehm en. N icht um sonst verehrt sie a u f ih rem H öhepunkt die G öt­
tin V ernunft. D er Leib des einzelnen M enschen w ird zum T rä g e r des Gei­
stes gestem pelt. Deshalb w ird die W issen sch aft und im besonderen die
Philosophie die G öttin des Zeitalters. Denn sie ist die L e h re von der in­
dividuell gültigen, d er bewußten und w ißbaren W a h rh e it. Die Russen
räum en heut diesen T h ron der W a h rh e it fo lg erich tig der Medizin ein und
treiben einen ausgedehnten K ultus der Medizin — wie sehr viele E u ro p äer.
Aber der Medizin vorangehen m u ß te in d er H e rrsch a ft die Philosophie.
Denn au ch sie su ch t im einzelnen Ich den letzten H alt. Allerdings fa ß t
sie den einzelnen als Kopfw esen auf, n ich t als M aterie. A uf diese W eise
kann sie ihn teilnehm en lassen an allen E h re n und W ü rd e n , die bis dahin
den T räg ern des Geistes allein zustanden. Jed erm an n ist nun solch ein

35i
T räg er. So wird er Papst und K önig und L o rd in einer Person. „D as Ich
ist die K irch e “ ist ein Satz des 1 9 . Jah rh u n d erts. D er französische B o u r­
geois vertritt F ran k reich , wie das weder der deutsche noch der italienische
B ü rg er im Auslande fertig bringen. Auf den B ü rg e r ist in F ran k reich die
volle R epräsentation aller geistigen M ächte übergegangen.
Personen- U m den G riff nach dem Geist, um den Idealism us der bürgerlichen Ge­
sellschaft zu w ürdigen, m uß m an auf die Privilegien blicken, die sie sich
aneignen wollte. W a s bisher in einem G eflecht von Ä m tern — m an denke
an die Fried en srich ter, B ischöfe, Geschw orenen, A lderm en in E n glan d —
als G eistestätigkeit geübt worden w ar, das gab den M andataren dieses Gei­
stesleben Noblesse, N am haftigkeit. Alle B eru fe haben ihren T räg ern daher
den Nam en au f g e h e fte t: wir haben sie nu r vergessen : Schneider, B ecker,
R ich ter, Schultze und M üller, aber auch G raf, H erzog und F ü r s t sind
Am tsbezeichnungen. Die Funktion teilte dem Individuen den Anteil am
Geistesleben des ganzen zu und gab ihnen deshalb den N am en. Die jungen
Söhne des englischen Adels werden des N am ens ihres V aters nich t teilhaf­
tig, weil sie seine Funktion nich t erben. D er Sohn von L o rd H alifax h eißt
Mr. W o o d .
In d er bürgerlichen G esellschaft d reh t sich dies V erhältnis um . Die
K ra ft zur N am engebung bleibt nich t länger dem Ganzen. In einer R epu­
blik kann niem and m eh r neue Adelsnam en austeilen! Die G eisteskraft ist
abgew andert zu den Individuen. Sie können sich nun nennen, wie sie
wollen. Verbindlich kann eine solche N am engebung n u r w erden, wenn sie
m it ih rer G eisteskraft ihrerseits die N ation bezwingen. D ann kann aus
A rouet V oltaire werden, aus D uvem et G eorge Sand. J a , d er S ch rift­
steller kann sich sogar m it seinem Lan de identifizieren. So ist der N am e
Anatole „ F r a n c e “ als Pseudonym m öglich gew orden. Aber diese um ge­
kehrte R ich tu n g des N am enstrom s zerstö rt nun die gesam te Vorstellungs­
welt leihweiser B erechtigungen und A nsprüche. D er Feudalism us hatte
jederm ann das Seine zugeteilt und m itgeteilt. W e m P flich ten oblagen, der
brauchte dann dazu auch G erechtsam e, Privilegien.* Denn wie sollte er
sonst seinen P flich ten n ach k o m m en ? Aber alle G erechtsam en flössen dem
einzelnen zu von G ott, vom K ö n ig und aus d er Ü berlieferung.
Davon will d er B ü rg e r nichts wissen. E r h a t zuerst R echte. N u r d er N a­
tionalnam e „ F ra n z o se “ , „D eu tsch er“ w ird ih m von der N ation verliehen.
D aß m an diese n u nm ehr einzige N am ensgebung „N atu ralisation “ nennt,
betont die Stärke dieser nationalen „ N a tu r“ ; im N am en, den m an im „N a-
tio n alk ataster“ trä g t, sam m elt sich, was bisher in K irch e, S tam m , Ge­
m einde und S ta a t zu vielfältiger B enennung g e fü h rt hatte. D as G egengew icht
gegen diesen N ationalism us ist d er K apitalism us. Denn wenn die Nation
den N am en den Personen gibt, so geben die Personen ihren N am en den
Sachen. D ie ganze unpersönliche N atu r w ird zum P rivateigen tujn . Dies
P rivateigen tum ist unverletzlich. H inter den R echten kom m en die P flich -

352
ten. Das Eigentum ist nicht verliehen. E s lä ß t nur hinterher sich vom
Staat besteuern und schlim m stenfalls beaufsichtigen.
E rs t R echte, dann Pflichten — das ist die kopernikanische D rehung, die
der Idealism us vollzieht, weil er den Menschen in seiner ganzen G röß e
und als die einzige G röße unterhalb der Nation anerkennt.
D araus erklärt sich die o ft bem erkte Tatsache, daß der B ü rg e r viel leich­
ter sein Leben als sein Eigentum fü r die Nation aufopfert. Mit dem Leben
bejaht er die Nation. Und sie hat die gleiche Geburtsstunde wie seine eigene
Persönlichkeit. Aber m it dem Eigen tu m verleugnet er seine bürgerliche Das Erbrecht
Existenz, und diese ist ja n u r die andere Seite des nationalen Lebens und am Vermogen
unm ittelbar m it seiner R echtsordnung m itgegeben.
D ieser Punkt bedarf noch der weiteren A usführung in bezug auf den
K rieg.
K riege bewähren O rdnungen. Entw eder sie verteidigen alte Ordnungen
wie die Koalitionskriege von 1 7 9 2 oder — wie die Glaubenskriege und
Revolutionskriege — sie breiten neue O rdnungen aus. Diese Aufgabe kann
sich ein Volk oder die M enschheit n u r solange stellen, als der K rieg er sich
als das Zwischenglied zwischen seinem V ater und seinem Sohn innerhalb
ein und derselben O rdnung fühlt und w eiß. W en n ich bestim m t w eiß, daß
meine N achfahren nichts von der O rdnung halten werden, in die ich selbst
eingerückt bin, dann werde ich nich t fü r diese O rdnung m it m einem L e ­
ben m ich einsetzen. Denn d u rch m einen Tod soll doch etwas überleben,
und das ist eben die O rdnung von G eschlecht zu G eschlecht.
J e veränderlicher also eine O rdnung, desto sinnloser w ird der K rieg.
Denn desto unw ahrscheinlicher wird der Sinn m eines oder deines O pfers.
Nun sch affte die Revolution alle verjäh rten R echte ab. D as Alte g alt als
veraltet. J a , die V äter der Revolution erließen ein D e k re t: keine Gene­
ration d arf einer künftigen Gesetze vorschreiben. Die Mode und die L au n e
des Zeitgeistes regieren die bürgerliche G esellschaft. Von Sensation zu
Sensation schreitet das Leben vor. D er ständige W ech sel d er Lebensfor­
men wird eben wegen des Hasses gegen die D um m heit der T radition zum
Kennzeichen der freien Geister.
Die B ohèm e wird gefeiert, le P ro g rè s und eine N ouveauté zu sein g e­
nügt schon als Em p feh lu n g. D enn das Neue ist sich er besser als das
Alte.
D a b rau ch t es ein ungeheures G egengew icht, um standzuhalten im S tru ­
del der N euerungen. E in e O rdnung des Lebens w enigstens m u ß d u rch ­
gehen du rch alle Änderungen der S taatsfo rm en , wenn der Franzose sich
selbst wiedererkennen soll im W ech sel d er Moden. Man denke an den
W echsel der V erfassungen von 1 7 8 9 , 1 7 9 0 , 1 7 9 2 , 1 7 9 b , 1 7 9 9 , 1 8 0 1 ,
1804, 18 14, 1 8 1 5 , i 8 3 o, 1 8 4 8 , i 8 5 i , 18Ö2, 1 8 7 0 , 1 8 7 b und m an w ird
die Ü bersättigung, ja den Ekel des Fran zo sen an absoluten S taatsp ro g ram -
men verstehen. U m so u n zerstörbarer h än gt er an seinem E ig en tu m , um so

23 Rosenstock 3 b3
heiliger ist das E rb re ch t ins Verm ögen. H ierauf allein kann der französi­
sche N ationalstaat in der europäischen Staatenw elt fest zählen.
Socigts Die Societe, die bürgerliche G esellschaft eigentüm licher Individuen ist
dah er von Jah rzeh n t zu Jah rzeh n t deutlicher das F undam ent der Nation
gew ord en; und im J a h r 1 9 1 4 nach der M arneschlacht lief das W o r t in
P aris u m : D er S taat hat versagt, die G esellschaft h at uns gerettet. Aber
schon der populäre V erteidiger von P aris, T ro ch u , der seit 1 8 6 7 preu­
ßische H eeresverfassung den Franzosen em pfohlen hatte, wählte fü r eines
seiner B ü ch er den Titel „ L a Societe, l’E ta t, VA rm ee“ . E in solcher Titel
und eine solche R eih en fo lge: G esellschaft, S taat, H eer h a t nu r in F ra n k ­
reich der bürgerlichen G esellschaft Sinn. In D eutschland z. B . w äre diese
Dialektik (S. 2 1 6 ) unverständlich geblieben; hier ist der S taat „sozial“ !
D as E igen tu m sch a fft das dauernde Interesse des B ü rg e rs an der R ech ts­
ordnung des Staates, dessen übrige Lebensform en ständig schwanken. D as
Eigen tu m erleidet d u rch diese H eraushebung aber eine g ro ß a rtig e V er­
änderung. E s w ird von allen politischen Bindungen frei und eben dadurch
wird es bewegliches, rein w irtschaftliches V erm ögen.
Derfranzösische Die Entw icklung des K apitalism us beschreitet dank der Ideen von 1 7 8 9
Kapitalismus Yyeg e> jj[e sowohl in dem En glan d, das Adam Sm ith neu ersch affen , wie in
F ran k reich eingeschlagen, aber n u r in F ra n k re ich ganz radikal d u rch g e-
fü h rl werden. Diese Stufenbildung am En d e des 1 8 . Ja h rh u n d e rts im Ab­
lauf des K apitalism us m u ß gesehen w erden, weil von ih r die eigentüm liche
G estalt d er französischen V erfassung und der Typ des französischen R en t­
n ers abhängen.
Crom w ells N avigationsakte hatte dem E n glän d er die W e g e d er W e lt er­
öffn et. Die freieste und rücksichtsloseste Ausbeutung geschieht also in der
F rem d e. D er E n glän d er ist in Indien am eindeutigsten kapitalistisch. Denn
hier lebt er au ß erh alb d er eigenen Lebensgem einschaften. D as W e se n des
K apitalism us ist aber diese Selbstentfrem dung der Lebensgenossen. D as
R entabilitätsprinzip gilt n u r d o rt, wo K ä u fe r und V erkäufer einander frem d
sind oder als F re m d e behandeln. D o rt wo zwischen K ä u fe r und V erkäufer,
oder Arbeitgeber und A rbeitnehm er h ierarch isch e, n ach barliche, feudale
und fam iliäre R ücksichten obwalten, ist der K apitalism us n ich t rein d u rch ­
g efü h rt.
Die englische Revolution b rin g t nun den E u ro p äern die dauernde und
plan m äß ige Ausbeutung des V erkehrs fü r F re m d e und m it F rem d en . Die
ersten wirklichen Aktiengesellschaften sind eben deshalb Kolonialgesell­
schaften (O stindische und W estindische K o m p ag n ien ). Die W u rzeln des
kapitalistischen H andelsrechts liegen daher in den K olonien. A ber die er­
sten englischen Kolonien tra g e n in der M ehrzahl nicht den C h arak ter im ­
perialistischer A usbeutung. D er E n g län d er grü n d et drauß en sein C om ­
m onw ealth. E r s t seit dem En d e des 1 8 . Ja h rh u n d e rts blickt m an d e r Aus­
beutung d er K olonien ohne V erbräm ung ins G esicht.

354
Das Neue aber ist die R uckü bertragun g dieser Selbstentfrem dung auf
das g röß te Eigengebiet, das die E ig en tü m er sich zurechnen können. Und
das ist eben die N ation! Montesquieu h at gesagt, er wolle die europäischen
Staaten so schildern, als seien sie M adagaskar. W en n also Sm ith die Na­
tionen betrach tet, so betrachtet e r sie bereits m it dieser kapitalistischen
Selbstentfrem dung des Geistes von oben abstrakt. Deshalb w ar eines der
geistigen H ilfsm ittel der A ufklärung, um diese Selbstentfrem dung des Ich ,
des B ü rg ers von seiner H eim at und Scholle, seiner A bstam m ung und sei­
nen religiösen Bindungen zu schaffen, die Einkleidung der Gedanken in
ausländisches Gewand. M ontesquieu sch reib t die L ettres persanes. C hristian
W o lff hält jene R ede, fü r deren Geistesrevolution er aus Halle bei S trafe
des Stranges verbannt wird, über die L eh ren des K ungfutse. Chinesische
Gärten entstehen überall. W ä h re n d des ganzen 1 8 . Jah rh u n d erts spielt die
Verkleidung auch sonst eine hervorstechende R olle. Die Gem älde W a tte a u s
zeigen den Trieb der führenden G esellschaft, sich selbst gegenüber D istanz
zu gewinnen einander frem d zu werden und frem d gegenüberzustehen, zu­
nächst in bestim m ten R ollen, dann in im m er unkenntlicheren Verkleidun­
gen; die geheim en O rden schießen hervor. 1 7 2 8 w ird die schottische
M aurerei gegründet. B is zu C agliostro und M ozarts Zauberflöte g eh t die­
ser Spuk.
E r erlischt, als ihm in d er französischen Revolution das Ventil geöff­
net w ird : D as B ü rg ertu m sch afft die unterscheidende T ra ch t ab, die jeden
Stand und jeden O rt d u rch jederm anns E rsch ein u n g verrät. Die Sansculot­
ten gleichen ja n ich t n u r alle U ngleichheiten aus. Sie befreien m it ih re r
neuen T ra ch t auch alle B ü rg e r von der E rin n eru n g an die nahen oder fe r­
nen Bindungen. D er B ü rg e r w ird d u rch seine T ra ch t W e ltb ü rg e r, K osm o­
polit. Und B ü rg e r wird auch der B au er. Die T ra ch t ist aber m eh r als^ein
Kleid. Sie d rü ck t die wirkliche L a g e dieses neuen W eltb ü rg ers aus. Avenel
betont diese m eist übersehene Revolution sehr g u t, wenn er s a g t: „ B lick t
m an auf die einfachste B auernfam ilie in ih rem D o rf, so b em erkt m an , d a ß
vieles, was sie verbraucht, von fern h er k om m t, und d aß vieles, w as sie selbst
produziert, wie K o rn o d er H olz, doch um n ich t zu ih rem eigenen Schaden
zu teuer zu kom m en, deren ferne Z ufuh ren vervielfacht werden m ü ß ten .
F ü r den täglichen V erzehr b rau ch t diese B au ern fam ilie K affee aus B rasi­
lien, Zucker aus dem D epartem ent Aisne oder P as-d e-C alais, d er Stock­
fisch kom m t aus N eufundland, P etro leu m vom Indischen Ozean oder dem
Schwarzen M eer, seine K erze w ird aus internationalen F eilen, aus chem isch
bearbeiteten Abfällen gem ach t, seine M ähm aschine k o m m t aus A m erika,
aus L othringen die S ch ar seines P flu g s und der S tahl in den Achsen. D as
Band auf der Stirn der Mütze ist aus M anilafaser und R ig aer H anf, P la n ­
ken und Balken am D ach aus Schweden oder Norw egen fertiggeschnitten
und eben d ah er das P a p ie r seiner Z eitung. Sein H em d und seine H and­
tü ch er stam m en aus T exas, sein R ock tu ch vom K ap o d er A u stralien .“

23* 355
Das was heut durchgedrungen ist, die einförmige Gleichartigkeit aller
G roßstädte der ganzen W e lt, das h at zur Vorbedingung die Aufhebung der
O rts- und Standestrachten durch die französische Revolution. Den Welt­
bürger gibt es seitdem als soziale Tatsache. Deshalb liegt aber in der Vor­
h errsch aft der P ariser Mode ein politischer Sieg Frankreichs beschlossen.
Denn k raft der Einh eit der Mode wird der Typ des Gitoyen nun m aß g e­
bend nicht n u r fü r die französische N ation, sondern fü r alle Nationen.
G rundsätzlich billigt die französische Revolution allen Nationen die gleiche
F reih eit zu wie der eigenen N ation. Aber dennoch ist da ein him m elw eiter
europäische U nterschied zwischen den vielen europäischen Nationen der Polen, Ita -
vokabuiar |-e n e r ^ j ) eutgCh en, Finnen und der „G roß en N ation“ . L a grande Nation ist
eben m aßgebend n ich t nu r fü r ihre eigenen B ü rg e r, sondern fü r die B ü r­
g er der ganzen W e lt. Sie schreibt ihnen die T ra ch t v o r! Sie sch afft in
P aris den M ittelpunkt des B ü rg ertu m s und d er bürgerlichen W e lt „das
Mekka der Zivilisation“ . Dies H ugosche Sch lagw ort ist in m eh rfach er H in­
sicht interessant. Mekka ist auß erch ristlich und exotisch und tritt dam it
zu dem , was die Fran zosen im 1 8 . Ja h rh u n d e rt besonders beschäftigt hat.
China und Persien in W ettbew erb. Nun holt m an dies geistige F rem d w o rt
hinein in die europäische W e lt, um sich ganz zu verweltlichen und dem
christlichen Sprachschatz P aro li zu bieten ,* es ist d er kosm opolitische Z ug
der Ideen von 1 7 8 9 , der dies W o r t p räg t. N icht die H auptstadt d e r platten
V ergnügungen fü r den lüsternen A usländer w ird m it diesem Schlagw ort
bezeichnet. Denn der R an g der S tad t w irkt sich oben wie unten, in allen
Schichten des W eltb ü rg ertu m s aus. D er K ü nstler E u ro p as lern t im
1 9 . Ja h rh u n d e rt hier m alen, der S ch riftsteller b egreift hier, was Schreiben
h eißt. V or allen Dingen aber arbeiten hier alle N ationen p raktisch an der
V orbereitung ihres N ationalstaates. D as ju n ge Polen und das junge
D eutschland, Ju n g u n g a rn und Ju n g g riech en lan d haben in P a ris ih re V or­
studien getrieben fü r das „ ju n g e “ , das nationalgegliederte E u ro p a . Die
Bom be des italienischen R evolutionärs, des G rafen O rsini, die i 8 5 8 N a­
poleon III. bedrohte, erinnerte den K aiser, daß P a ris nicht n u r die H aupt­
stadt d er Fran zosen , sondern d aß auch die Sache des europäischen N a­
tionalism us in P aris ih re H au p tstad t habe. U nd Napoleon h at sich dieser
M ahnung an den Heiligen K rieg des 1 9 . Ja h rh u n d e rts, an den N ational­
krieg fügen m üssen, weil e r K aiser der Revolution von 1 7 8 9 sein m u ß te.
1 8 5 9 m arsch ierten seine Soldaten fü r die B efreiu n g Italiens, denn, so er­
klärte er, „ n u r eine N ation in E u ro p a fü h rt K rieg fü r eine Idee, F ra n k re ich “ .
So k o m m t es, daß die französischen W o rte Citoyen, S taatsb ü rger und
K osm opolit, W e ltb ü rg e r, fern er liberal, konservativ, national und Revolu­
tion är, Sozial und D em ok rat, K apital und B ourgeois, n ich t französisch
bleiben, sondern das europäische Vokabular bereichern. D as U nglück ist
nur, daß die W o rte exp o rtie rt worden sind ohne die französische Gesell­
sch aftsord n u n g ! D enn der K apitalism us h a t in F ra n k re ich bis zum W e lt-

356
krieg andere Formen aufgewiesen als in England oder Deutschland. In
England ist der W eltm ark t draußen der Anreiz zur industriellen Revolu­
tion. Hingegen die Insel hat bis 1 9 1 4 im m er den A nstrich eines Adels­
landes behauptet. Die „groß en F am ilien “ nahm en spontan die Pflichten
der regierenden Klasse auch ohne Gesetze w ahr. D aher der englische bü r­
gerliche U nternehm er von brutaler Rücksichtslosigkeit gleichzeitig in
größ tem U m fang Stifter und Spender w urde zur Abhilfe fü r alle m ö g ­
lichen Übel des englischen G esellschaftskörpers. E r verdiente als K ap ita­
list vier Millionen Pfun d und verschenkte als Gentlem an drei Millionen
davon, wie S tu rge von B irm in gh am zum Losk auf der Sklaven.
D er Franzose verdient im allgemeinen weder vier noch stiftet er drei
Millionen Pfund. E r h at keine A delsherrschaft zu konservieren oder zu
m arkieren als vorkapitalistischen R est. E r h at den Adel ausgerottet. E r ist
B ürger und nu r B ü rg er. Die französische Revolution w ar vollstreckt, als
Frankreich i 8 3 o seinen roi-citoyen bekam und als dieser B ürgerk ön ig
der Bourgeoisie zurufen k o n n te: Enrichissez-vous. B ereich ert euch. Aber
dieser französische K apitalism us h at trotzdem eine besondere F ä rb u n g
durch die A rt, in der sich der S taat m it der Masse der kleinen Besitzenden
finanziell zu identifizieren verstanden h at. D er französische S taat hat seine
inländischen Anleihen nicht am ortisiert wie der englische. ( 1 9 1 4 w urde
der letzte R est der englischen K riegsschuld aus den Napoleonischen K rie­
gen g e tilg t!) D er französische S ta a t h at vielm ehr die ganze B ourgeoisie
dauernd an die französische S taatsrente gebunden. Die Ersp arn isse des
französischen Provinzialen sind nich t direkt ins Börsenspiel oder in die
Industriekredite der Banken hinübergew andert. Sondern sie wenden sich
zuerst der R ente zu. D er S taat selbst ist die g ro ß e Sparkasse, auf deren
Gedeihen m an setzt. D er S ta a t w ar nach sich tig in den Steuern und pum pte
das Geld lieber d u rch die Anleihen aus den Strü m p fen d er B auern h er­
aus. D afür behielt das G roß b ü rg ertu m , die eigentliche K apitalistenklasse,
entsprechend m eh r fü r Neuinvestitionen übrig.
Dies bedeutet psychologisch einen gew altigen U n te rsch ie d : D er D u rch ­
schnittsfranzose konnte so K leinbürger bleiben, m e h r S p arer und R en tn er
beim Staat als K apitalist. Die M entalität blieb also geizig, einfach, fru g al,
individualistisch einerseits, andererseits genügte es den Individuen, bis hin
auf den S taat und das Fortb estehen seiner Staatskasse zu blicken. D er K a­
pitalismus konnte jenseits dieses H orizontes von K leinb ürger und S taat
bleiben. E r blieb anonym , so wie ja die eigentliche K apitalsgesellschaft in
Frankreich Société anonym e h eißt.
Der Nationalism us der Fran zo sen h a t dah er allerdings einen m etalli­
schen Beigeschm ack. H ier in diesem Lan de fixiert den H orizont des Indi­
viduums der Blick a u f den Zinsen zahlenden N ationalstaat. H ier in F ra n k ­
reich ist die Id ee des Staates allerdings eine H ülle, die den Aufbau d er
französischen G esellschaft verhüllt. L ie st m an R aym ond Poin carés B u ch

3 5 7
von 1 9 1 2 : W ie F ran k reich regiert w ird ?, so ist da in der T at n u r von
der dem okratischen Algebra der freien U rw ähler die Rede, deren 4 o Mil­
lionen die Abgeordneten wählen. N ichts von den w irtschaftlichen Fesseln,
in denen die R egierung dam als schm achtete. Ebensow enig aber ein W o rt
von der Existenz von P a ris oder den K olonien, aus denen der S taat sich
bereicherte. B ei P oin care ist der S taat so rein ideologisch das einzige
Kollektivum fü r alle Franzosen, d aß es gleichsam Zufall sein könnte, daß
gerade P aris die H auptstadt dieses Landes ist. Und doch verdankt P o in ­
care selbst seinen Aufstieg der Zugehörigkeit zu einer Fam ilie von Ge­
lehrten P a rise r F o rm a ts und erklären sich die politischen K risen seines
eigenen Lebens aus den gesellschaftlichen Problem en d er P a rise r F in an z-
und Geisteswelt.

9. D ie Phibsophie des Fortschritts


R äum lich geograph isch ist die Idee F ran k reich s und ist der P atrio tism u s
d er Franzosen. D as unterscheidet ihn von d er persönlichen V aterlands­
liebe d er D eutschen. E lsässer, B retone, F la m e und Baske sind Fran zosen ,
weil sie in dem douce pays de F ra n ce wohnen. W e r in F ra n k re ich g e ­
boren w ird, m u ß im französischen H eere dienen. Die deutsche V aterlands­
liebe w ürde genau um gekehrt sagen und h a t stets um gekehrt g e s a g t: W e r
im deutschen H eere gedient h at, w ird D eutscher.
N ur der F ran zo se philosophiert über die sinnlich greifb are W e lt d er
fü n f Sinne m it der gleichen K u n st wie andere Völker über die U nsterb­
lichkeit.
Die Philosophie des Franzosen ist W eltan sch au u n g im w örtlichen Sinne
dieses viel m ißbrauch ten abgenutzten W o rte s. Sie ist näm lich A nschauung
d er sinnlichen räum lichen, g re if- und fühlbaren, m e ß - und w ägbaren
W elt. Sie ist die E in rich tu n g des subjektiven Glückes innerhalb der ob­
jektiven W e lt der D inge. N ichts von dem schwülen P ath o s deutscher W e lt­
anschauungskäm pfer, die in den Nebel letzter W ah rh eiten entfliehen, wenn
sie sich au f ih re W eltan sch au u n g berufen. D er H interg ru n d ist d er O rt
d er W eltan sch au u n g der D eutschen. D er V ord ergru n d ist d er P latz, auf
dem die Philosophie des Fran zosen sich zu bew ähren hat. W en n ein klei­
nes M ädchen in P a ris au f der S tra ß e abschlägigen Bescheid erh ält, so
kann sie dem Asketen z u ru fe n : Quel philosophe! In keiner anderen S p ra­
che der W e lt w ird ein M ädchen ih re E n ttäu sch u n g in diese W o rte kleiden.
D ah er bedeutet das W o r t Philosophie im Französischen etwas ganz
anderes als im D eutschen. Alle deutsche Philosophie ist im G runde T h eo ­
logie geblieben. H egel, Schelling, F ich te , S ch openhau er und N ietzsche, M arx
und R ich a rd W a g n e r sind alle viel eher P f a r re r , P rop h eten , P rie ste r und
H eilige, P re d ig e r und M ärtyrer als Philosophen im Sinne d e r F ran zo sen
und d er französischen R evolution. Alle diese D eutschen haben n u r dem
V okabular d e r französischen Revolution R ech n u n g getrag en , wenn sie sich

358
Philosophen nennen und als Philosophen ausgeben, ja wohl auch selbst
fü r Philosophen halten. Sie sind aber deshalb noch lange keine Philoso­
phen im Sinne d e r französischen G eistessprache und der französischen R e­
volution.
Hingegen sind selbst die größten französischen Theologen noch Philo­
sophen gewesen. Und diese qualitas occu lta der räum lich-w eltanschau­
lichen Denkweise offen bart sich gleicherweise in den g roß en Helden des
m ittelalterlichen P aris wie des m odernen F ran k reich . D er W e g der fran­
zösischen G eschichte ist im B ereich der Ideen der gleiche wie im B ereich
der Politik. Innerhalb der m ittelalterlichen christlichen W e lt betonen die
Pariser Theologen die klaren R aum ordnungselem ente. Die freien D enker
des m odernen F ran k reich s verabsolutieren dann diesen K ultus der R au m ­
ordnung als den Genius und E sp rit ih re r R asse. Ebenso aber v erfäh rt
die französische Politik. Sie ist anfänglich bereit, die te rre n a civilitas, die
m ittelalterliche Zivilisation um das Heilige Grab zu zentrieren und will
seine abstrakte, näm lich gedankliche O rdnung der gegebenen W e lt her­
stellen. Als diese m ittelalterliche W e lt sich auflöst, da b rich t in dem g ro ­
ßen K ro n ra t von i 5 5 i die W en d u n g zu einer weltlichen R au m ord n u n g
durch. W ie schon erw ähnt, beschließt m an, von den M ittelm eerplänen der
französischen K önige des M ittelalters Abschied zu nehm en und P a ris, den
eigenen französischen M ittelpunkt auch zum M ittelpunkt d er A ußenpoli­
tik zu m achen.
Die Zivilisation ist dann die letzte P rä g u n g d er W eltan sch au u n g, die
sich in der sichtbaren W e lt endgültig einzurichten beschließt. P a ris ist
ein Kunstw erk m enschlicher G eisteskraft. M an g eh t n ach P a ris, m an
beschließt sein Leben in P a ris. A ber m an beginnt dies Leben in der P r o ­
vinz, in den fru ch tb aren und gesegneten G efilden dieses schönen Landes.
Paris ist die Zielgestalt eines Volkes, m it dem dies Volk ein philosophi­
sches Mekka an die Stelle des christlichen R o m s, die geistig-idealische
Kunstgestalt an die Stelle der offenbarten geschichtlichen O rdnung ge­
setzt hat. Die französische Revolution ist die Revolution der Philosophen,
die Revolution d er Ideen. Die W e lt versuchte in ih r, sich einm al b u ch ­
stäblich au f den K o p f zu stellen. Deshalb g e h ö rt zu ih r ein abstrakt ide-
alisches Ziel, eine klare R au m ord n u n g der W e lt, ein philosophisch-theore­
tisches S taatsrech t.
Vorbedingung dieser Revolution aus Ideen aber w ar der Sieg des R au m ­
denkens. D er C artesianism us erm ö g lich t den F ran zo sen aus dem Bann
des Abendlandes herauszu treten , ohne P ro testan ten zu werden. Die L e i­
denschaft, die L u th e r der Seele w idm et, w eiht D escartes und ihm n ach
seine Nation d e r W e lt.
René D escartes, der erste freie D enker F ra n k re ich s, von dem L a fo n -
taine, das E ch o d er öffen tlichen M einung, dich tete, ce m ortel dont pn eüt
fait un dieu dans les siècles passés, et qui tien t le m ilieu entre T hom m e et

359
vLesprit, stellt sich m it seinem D iscours de la Méthode neben Ahälards Sic
et Non. Descartes will nicht nur die W ah rh eit, sondern die G rade der
einzelnen W ah rh eit erm itteln. E r will vom Sicheren zum weniger Siche­
ren fortschreiten. Zwei m al zwei ist vier, ist „w ah rer“ als eine kom plizier­
tere Erkenntnis. D er m ethodische Zweifel wird von ihm eingeführt in das
R eich der V ern u n ft Und m athem atische Vorstellungen tragen fortan die
Systeme der Philosophen. D escartes ist nicht nur d er Schöpfer eigener
m athem atischer Leh ren , w ichtiger ist er als der A hnherr der m athem ati­
schen Philosophie. Ohne D escartes ist Spinozas Denkweise m ore geom e­
trico nicht denkbar. Und Leibniz ist sein Enkel m it seiner W ah rsch ein ­
lichkeitsrechnung. D as ganze N aturrecht baut au f diesen sinnlich-visuel­
len R aum vorstellungen zum ersten Male auch die politische W e lt auf. D er
Staaf wird nun definiert als der feste Bezugskörper, in dem alle einzelnen
Individuen ihren festen O rt und ihren dauernden R au m haben. K urz,
R cné D escartes ist der A hnherr einer reinen, näm lich einer rein diesseiti­
gen Anschauung d e r W e lt, einer d u rch gefü hrten philosophischen Erk en n t­
nis der W elto rd n u n g . M ensch und G ott werden m it in diesen fixen W e lt­
rau m hinein ged ach t; zu diesem Zwecke erbt bei D escartes die W e lt vom
G ottesbegriff her die U nerm eßlichkeit und die Unendlichkeit. Die koper-
nikanische W en d u n g , die unsere E rd e aus ih re r zentralen Stellung her­
ausw irft, w ird nun dazu benutzt, das W eltall fü r m ittelpunktlos und un­
endlich zu erklären und eben d am it alle Entw icklungsm öglichkeiten in
dies W eltall selber hineinzudenken. D er Theism us und der D eism us w ur­
zeln in diesen Erkenntnissen. Die W e lt fo lg t ih rem eigenen Gesetz. D er
g ro ß e W eltb au m eister h at in seinem H ause nichts m eh r zu sagen, seit
es fertig steht. D ieser D eism us ist nun der T rä g e r der französischen R e­
volution gew orden. V oltaire sagt d a rü b e r: „M an kann die W eltm asch in e
nu r au f zwei Arten philosophisch e rk lä re n : En tw ed er G ott h a t sie einm al
geregelt und die N atur g eh o rch t im m er. O der G ott gibt unablässig jedem
sein Dasein und alle V eränderungen des Daseins. E in d ritter Standpunkt
ist u n erk lärlich .“
In diesen Sätzen verkörpert sich der Geist der französischen A ufklä­
ru n g. Sie hielt diesen D ualism us fü r unw iderlegbar. Und sie gab nun den
N aturgesetzen, die unw idersprechlich walten, die B ah n frei, w arf W u n ­
der, Zufall, M ythen, Aberglauben heraus aus dieser w ohlgeordneten W e lt.
Sie fo rd erte jederm ann auf, diese allgem ein gültigen Gesetze nachzutasten
und abzugreifen. W e r Augen im K opfe h at, m u ß sie j a sehen. Und dam it
ist der B au der W e lt entzaubert, gerein igt von allen bösen oder guten Gei­
stern, beständig und fertig aus G ottes H and abgegeben. D as W eltall ist
das einzig gültige U niversum geworden. Univers ist ein populäres W o r t im
Französischen . D e r elendeste Provinzgasthof kann sich H otel de 1’Univers
nennen. E s d rü ck t eben diese Hinw endung alles Interesses auf die geo rd ­
nete W e lt aus.

36o
Die Geschichte der Revolutionen selbst w iderlegt die Voltairische D ia­
lektik. D ie S ch ö p fu n g der W elt ist durchaus n icht abgeschlossen. Die
E rd e entwickelt sich keineswegs nach bloßen N aturgesetzen, seit sie vor
Millionen Jah ren einmal als U rschlam m da war. Unsere eigenste E rfa h ­
rung widerlegt diese Auffassung. In jedem Augenblick stehen ursprüng­
liches (werdendes) und entwickeltes (beharrendes) Leben nebeneinander.
Alles revolutionäre Leben ist Fo rtsetzu n g des Schöpfungsvorganges, denn
es ist ein ursprünglicher Ansatz zu etwas unerhört Neuem. N ach harten
Prüfungen erst wird dies neue Leben der W e lt einverleibt und läu ft nun
in ih rer Gesetzm äßigkeit ab, solange es seinem U rsp ru ng treu bleibt. W ir
kennen es dann als V olkscharakter, als N ationalkultur, als geschichtliche
Institution. Auch der W eltrau m ist n ich t unerm eßlich oder unendlich.
Das m oderne physikalische W eltbild b rich t in gewissem Sinne m it diesen
aus Kopernikus gezogenen F o lgeru n gen . Jedenfalls existiert die W e lt ge­
rade in jen er dritten von V oltaire fü r unerklärlich gehaltenen V erfassung,
Ordnung und Chaos, M aschine und F re ih e it beides in sich zu bergen. D as
hat F ried rich Schlegel dem R ationalism us entgegengehalten. E r u n ter­
scheidet die beharrlichen Eigen sch aften des M enschen und die qualita­
tiven „V eränderungen des M enschen“ , d u rch die etwas Neues geschicht­
lich gegen V oltaires M einung hinzutritt, und neuerdings drück t ein deut­
scher N atu rforsch er das seh r g u t a u s: „N u r eine heidnische R eligion
bringt es fertig, ihrem G ott die R olle eines B eam ten im Ruhestande zu-
zuweisen, oder die des gefangenen Sim son, der blind im D ienste der P h i­
lister die Mühle dreht (K lein sch m id t).“ (D azu unten S. 4 ^3 .)
Aber die Leidenschaft des D escartes und V oltaire fü r diese reine W e lt­
m aschine ist eine g ro ß e Leidenschaft. U nd diese G röß e gilt es nun noch
zu würdigen. In der Linie d e r deutschen Mystik von T au ler und Suso bis
L u th er ist wohl m ehr Innigkeit, aber d a fü r w eniger O pferm ut, w eniger
Kühnheit, als in den Denkern von D escartes bis zu V oltaire und R ousseau
und zu R ich et und R ergson. Beide R eihen bedeuten nationalgeschichtlich
das g leich e: Sie graben den E n ergien der N ation das F lu ß b e tt, in das hin­
ein sie sich ergießen können, als die A nstauung d er F lu ten d o rt 1 6 1 7
hier 1 7 8 9 un erträglich gew orden w ar. Die G röß e d er französischen A uf­
klärung beruht au f der T reue, m it d er sie die g ro ß e n Id een festgehalten
hat: G ott, F reih eit, Unsterblichkeit verkündete R obespierre. G ott und
F reih eit w ar der W ah lsp ru ch V oltaires, a u f den hin e r 1 7 9 1 feierlich ins
Pantheon aufgenom m en w urde. N ature et V erite w aren die Ideen R o u s-
seaus, die ihm die gleiche H uldigung ein trugen.
W ir sind heut m eh r als m iß trau isch gegen Ideen. Sie erscheinen uns
als Opiate, als B etäubungsm ittel. Keine Revolution ist heut so abgenutzt
in ihren Requisiten fü r unser G efühl als gerade die französische. B eg reif­
lich, denn keine h a t sich gerade eben so ersch ö p ft als diese letzte vor d^r
unserer eigenen Zeit, vor d er russischen. U m so vorsichtiger m üssen w ir
diesen Idealism us von 1 7 8 9 prüfen, je m ehr w ir ihn als eine höchst bü r­
gerliche Angelegenheit heut verm odern sehen.
E r w ar ein Vokabular, eine Sprache, die eine ganze W e lt begeistert und
in Flam m en gesetzt hat.
Und hierin liegt wohl sein Geheimnis. W eshalb sind denn diese freien
G eister g a r nich t so haltlos, wie sie der deutsche Sp ieß er des 1 9 . J a h r ­
hunderts o ft vorgem alt e rh ielt? W eshalb hält V oltaire an der Gottesidee
fest, weshalb blieben W ah rh eit, Unsterblichkeit, F re ih e it die unbestritte­
nen W erte, wenn diese G eister nu r Skeptiker, Zyniker, F reig eister, Ge­
nießer sein w ollten? W elch er M ensch von heut steigt denn fü r diese Ideen
der bürgerlichen W e lt au f die B arrikaden. F re ih e it? In Italien verstum m ­
ten 4 7 Millionen, in R u ß lan d i 5 o. U nsterblichkeit — eine H ieroglyphe?
G ott — m an lä ß t sich heu t nicht fü r ihn guillotinieren.
Und noch vor 1 0 0 Ja h re n diese G lut, diese B eg eisteru n g ? D escartes
und V oltaire hätten nich ts ausgerichtet ohne diese Ideen. E s w ar ihnen
ernst dam it, daß der B ü rg er dieser W e lt d u rch die Idee desselben Auf­
schwungs fähig w erde, den m an bis dahin n u r der R eligion zugeschrieben
hatte. D er B ü rg e r des 1 8 . Jah rh u n d erts, d u rch eigene A rbeit w ohlhabend,
seines Talentes fro h , m it seinem Pfun de w uchernd — , (so wie ihn G roet-
huysen m eisterh aft schildert) sieht, wie weit m an es d u rch eigene An­
strengung bringen kann. E r glaubt, d aß je d e r seines Glückes Schm ied
sein soll und deshalb — von dieser bürgerlichen Perspektive aus m it R ech t
— m u ß später in der Revolution des B ü rg e rs jed er Soldat den M arschall­
stab im T o rn ister tragen . F re ie B ahn dem T üchtigen ist die eine B o u r­
geoisdevise, die in F reih eit, G leichheit und B rüderlichk eit n u r eine V ari­
ante hat. D er B ü rg e r ist liberal. E r b rau ch t Ellenbogenfreiheit. Die bü r­
gerlichen D enker begeistern sich d ah er fü r jede F re ih e it, G ew erbefreiheit,
G edankenfreiheit, Pressefreih eit, G laubensfreiheit, V ereinsfreiheit, W a h l­
freiheit. So feiert z. B . V oltaire einen unbedeutenden Ju riste n Collet, weil
er fü r die Z insfreiheit eingetreten w ar. A ber um nun Volk und M ensch­
heit fü r die Sache d er Ellenb ogen freiheit des Bürgers* zu gewinnen, m u ß te
die b ü rgerliche F re ih e it eine A ngelegenheit aller werden. U nd dies w ar
sie n u r dann, wenn diese F re ih e it ein allen verständliches Ziel sicherte.
Dies Ziel nun drücken die Ideen G ott, W a h rh e it, N atur, U nsterblichkeit
aus.
Denn sie sollen besagen, d aß d er B ü rg e r die R an gord n u n g d er W e rte
stehen lassen will, aber e r will sie aus eig en er K r a ft verw irklichen. An
die Stelle der A u torität soll die F re ih e it treten , und zw ar die F re ih e it jedes
einzelnen B ü rg e rs n ach seinem V erm ögen. D aß d er M ensch verm ögend
sei, w ird dabei vorausgesetzt. A ber es w ird auch vorausgesetzt, d aß e r
nichts anderes wollen könne, als dieselben Ziele frei zu verw irklichen, die
bisher falsche M ittel von ih m zu erpressen versucht hätten. D e$ verm ö­
gende idealische W ille ist das beherrschende P a ra d o x d er französischen

362
Revolution, das sich auch in der zeitgenössischen deutschen Philosophie,
etwa bei K an t, getreulich spiegelt.
Auf dem W e g e der K inder der W elt, au f dem W ege der F re ih e it sollen
Gott, W ah rh e it, Unsterblichkeit auch zu ihrem R ech t kom m en. Ohne diese
Ideen R atte m an ein M enschlich-Verbindliches preisgegeben, den M aßstab
für das, was auch du rch die F re ih e it m öglich sei. K irche, K önigtum , H er­
kommen und verjährte R echte und Pflichten hatten das Leben geordnet.
Nun sollte es auch geordnet werden, aber als natürliches Leben ohne K ö­
nig, K irch e, Adel und Zw ang. Diese N atu r sollte aber V ollnatur alles
Guten, Schönen, W ah ren sein und bleiben. D as R egim e der N atu r tritt an
die Stelle des ancien régim e.
N ur wegen d er unverrückten idealischen Zielsetzung haben die Auf­
klärer bei dieser R ückkehr zum R egim ent der N atur ein so gutes Gewissen
haben können. N ur weil er die W illensfreiheit bejahte, w agte D escartes
die W e lt so frei zu setzen. D as ancien régim e h at versagt. Die N atu r m u ß
helfen. D er m oralische M ensch soll b efreit werden, der M ensch, dessen N atu r
gut ist d u rch V erm ögen, V ernunft und Aufklärung. D em M enschen wird
daher das G esicht des freiheitsbedürftigen B ü rg ers der französischen
Städte au fgep rägt. D er gute M ensch ist die Erw eiteru n g des B ü rg e rs z u r
M enschheitsidee. E r s t als m oralische Revolution, als Revolution, die aus
dem Geist individueller E thik in jedem einzelnen H irn ged ach t und ge­
wollt w ird, kann die B ürgerrevolution gelingen. Die B ürgerrevolution
braucht R evolutionäre. Sie kann nich t vom H im m el fallen wie die eng­
lische. Sie m u ß den Menschen a u f d er H öhe der Situation finden. Men­
schen m üssen sich d u rch sie begeistern lassen zu einer Leb ensführun g,
die bisher n u r d er B eichtstuhl oder die Z ensur erzwangen. Aus den Sitten
des ancien régim e wird nun die bü rgerlich e Sittlichkeit, aus den Moeurs,
den Gesellschaftszuständen steigt auf ein K odex b ü rgerlich-ph ilosop hi-
scher M oralbegriffe.
Die Säu re des M oralin ist freilich dem Augenblick d er Revolution noch
frem d. Sie lebt ganz in dem A ufschw ung von alter Sitte zu neu er freier
Sittlichkeit. A ber „das M oralische versteht sich fo rtan in der bürgerlichen
Gesellschaft von selbst“ . D ieser fü rch terlich en F o lg e ru n g verm ag sich die
französische Revolution nich t zu entziehen, weil sie eine andere Instanz als
den A ufschw ung des einzelnen zu r E rre ich u n g des Ideals n ich t m e h r
übriggelassen h at. Die Ideale w erden d u rch Selbstschöpfung v erw irk lich t
Prom etheus, der .Genius der M enschheit, d e r reine volle M ensch m it dem
Palm enzw eige sind die A llegorien, in denen die deutschen D ich ter diesen
heroischen Aufschw ung von 1 7 8 9 m itleben. D as W a h re , Gute, Schöne
werden die philosophischen L eitstern e aller von 1 7 8 9 ergriffenen G eister.
W o im m er w ir diese Stichw orte, bei M enschen o d e r E inrich tungen, Syste­
men oder P arteien tre ffe n , können w ir sich er sein, auch Liberalispius und
N ationalism us in d er N ähe zu finden. D er ewige und der vergängliche G e­

363
halt dieser Revolution lassen sieh so wenig trennen, wie der englische
Sonntag vom englischen Gentleman.
Alle Spielarten des Philosophen spielen uns die H eroen der französi­
schen Revolution vor. Und die Asketengestalt des unliebenswürdigen Ro-
bespierre steht am Ende der R eihe, die der däm onische G enußm ensch
M irabeau eröffnet hat. Aber beide, M irabeau und R obespierre, so extrem
sie in dieser Reihe wirken, leben von dem Aufschw ung individueller Gei­
steskraft, von der B egeisterung im Sinne individueller eigenwilliger E n t­
schließung. Sie bejahen die N atur, sie bejahen die W e lt, die fü r alle eine
und die gleiche, jedem Verstand offene ist. Sie bringen die Stim m e d er
reinen Göttin V ernunft zu G ehör. N ichts von Schicksal, nichts von D em ut,
von höheren M ächten, von gottgew ollten Abhängigkeiten. D as einzige
Schicksal ist der K rieg gegen die D um m heit, die L ü ge, wider die alte W e lt
angeblichen Aberglaubens und P faffen tru ges, gegen den alten P lu n d e r;
K rieg den Palästen, F ried e den H ütten hieß das F eld g esch rei der Sans­
culotten. In ih re r T ra ch t schon verkündigten sie die R ückkehr zur N atur.
Die neue Mode, die d er Schauspieler C henard am i 4 - O ktober 1 7 9 2
nach einem E n tw u rf von S ergent kreierte, sollte nichts anderes sein, hieß
es am tlich, que l’habit jo u rn alier des hom m es de la cam pagne e t des a rti-
sans de villes. II n ’y a avait de différen ce entre les citoyens que p o u r la
qualité des étoffes.
régime Die Privilegien müssen fallen. Die Privilegien sind alt und werden fü r
noch älter ausgegeben. Also m u ß das Alte fallen. Die französische Revo­
lution kom m t au f diese W eise in ein besonderes V erhältnis zum Alten und
zürn Neuen. D as an eien régim e ist unvernünftig. Also em p fän gt von d a
alles Neue den S ch im m er d er W a h rh e it, d er V ernunft, des F o rtsc h ritts .
Alle Revolutionen bis dahin hatten einen geschichtlichen Zustand erneu­
ern wollen, die alte K irch e, das C h risten tu m , das alte H erkom m en der
freien Volksgenossen. Diese Revolution tu t das n ich t m ehr. K ein g e­
schichtlicher Zustand soll erneuert w erden. D as W o r t neu verbindet sich
vielm ehr m it d er N atur. Die N atu r soll ern eu ert Werden, nich t die Ge­
sch ichte! N ichts m eh r von Revolution und R efo rm atio n , von R estau ration
und bloß astronom ischer R evolution. Die g ro ß e Revolution ist verfassung­
gebend. Die K onstituante, das Geben einer geschriebenen V erfassung
allein kann reinen Tisch m achen m it dem alten. N u r sie verbürgt die wirk­
liche Neuheit. N ichts, was nich t in sie übergeht, gilt m ehr. E s gibt wirk­
lich ein J a h r 1 d er Republik, d am it nichts Altes diese Republik vergifte.
Und sich selbst g etreu huldigt diese Revolution auch w eiterhin dem
F o rtsc h ritt. N ouveauté und P ro g rè s sind beides seit 1 7 8 9 W e rtu rte ile —
was sie bis dahin du rch aus nich t w aren. Denn fü r den ungeistigen M en­
schen w ird die W e lt nich t besser, sondern eher schlechter. F ü r die Seele
ist jed er Augenblick gleich schw er zu leben, gleich nah und fern zu G ott.
Anders d er G eist. Sein R eich ist im m er die Zukunft. E r ist im m e r d en

364
Zeitgenossen vorauf. D er Geist muß modern sein. „M odern sei der Poet,
m odern vom Scheitel bis zur Sohle.“ D as m oderne F ran k reich stellt sich
gegen das ancien régim e, als das nicht nu r einm al neu gewordene, sondern
als das im m er weiter an der Spitze der Zivilisation m arschierende Land
des F o rtsch rittes. W e r im 1 9 . Ja h rh u n d e rt ohne dies Narkotikum des
Fortschrittglaubens in E u ro p a leben will, wird als R om antiker stigm ati­
siert. Modern oder rom antisch, so teilt sich die geistige W e lt seit i 8 i 5 ,
seit dem Ende der Revolutionskriege ein, so wie die politische W e lt seit­
dem ins Liberale und Konservative zerfällt. R om antisch und konservativ
heißt dabei alles und jedes, was nich t bürgerlich, aufklärerisch, fo rt­
schrittlich gesonnen ist. L u th eran er, Katholiken und P u ritan er kom m en
dabei in eine unerw artete N achb arschaft, bloß weil sie von außen alle in
den einen T opf des Feudalism us und der Reaktion gew orfen werden. On
est toujo u rs le réactionnaire de quelqu’un.
W ehe wenn der ,,F o rtsch rittsglau b e fällt. Keine Nation ist dann so
gefährdet wie die französische. Denn sie huldigt dem Raum denken, gegen
das seit i o 5 o alle Revolutionen ausgebrochen sind. Im K am p f zwischen
Zeit und R aum d a rf nur „die Z e it als der R aum d er M enschheits­
geschichte“ (M arx) die Oberhand behalten. Am „ F o rts c h ritt“ hängt also
die Zugehörigkeit der Ideen von 1 7 8 9 zu der einen g roß en T o talität der
Revolutionen der W elt.
Die Ep oche des Ü berm uts von i 8 3 o — i 8 4 8 bezeugt die R eligion des
F o rtsch ritts d ra stisch : „L a m a rtin e h a t die tragisch e W a h rh e it herau s­
gesagt : F ran k reich langw eilte sich u n ter dem R egim e des ju ste m ilieu.
D arum brach diese vernünftige Politik zusam m en. Alle ihre Verdienste
waren nich t im stande, dem unbefriedigten R uhm bedürfnisse das G egen­
gewicht zu halten“ (A ndrassy).
D adurch, d aß auch die Sozialisten vom französischen B ü rg ertu m diese
billige Einheitsm ünze F eudalism us-Ancien régim e-R om an tik übernom m en
haben, ist die europäische G eschichte in den Lichtkegel der Revolution von
1 7 8 9 gebannt worden. Die m eisten Sozialisten wissen nich t, wie ab ­
hängig sie in ihren K ategorien von den K apitalisten und Liberalen sind.
Aber die Menschen nach ihren politischen G rundsätzen einzuteilen, ist
überhaupt eine W irk u n g der Ideen von 1 7 8 9 . Ideologien, P arteip ro ­
gram m e entspringen aus diesen Ideen. Ih re G egner, die vor 1 7 8 9 die
W urzeln ih rer K ra ft haben, sind genötigt, au ch D oktrinen, auch P artei­
program m e zu erfinden, um im D ickicht d er Ideologien ih re A nhänger
bei der Fah n e zu halten. In F ra n k re ich ist die Scheidung in liberal und
konservativ unter der M onarchie m aßgebend geblieben. Seitdem in der
Republik fast alles liberal geworden w ar, zerfielen die Liberalen wieder in
Radikale und G em äßigte. Schließlich treten die Sozialisten au f und stel­
len sich den B ürgerlich en gegenüber. W i r beobachten zunächst ein Ge­ ^Gesetze der
Parteibildung
setz aller ideologischen P a rte ib ild u n g : Die alte G ruppe bekom m t N am en

365
und Ideologie erst im Kampf gegen die neue. Die Konservativen werden
also später zur P a rte i als die Liberalen, die G em äßigten später als die
Radikalen. Denn sie brauchten zuvor keine eigene Ideologie. D as zweite
Gesetz ist die unausgesetzte Absplitterung neuer G ruppen. Diese A rt ideo­
logischer Parteibildung hat sich von F ran k reich auf die übrige W e lt über­
tragen. Bis zum W eltkrieg haben die E n glän der W iderstan d geleistet und
ih r unideologisches, un program m atisches Zw eiparteiensystem behalten,
das bekanntlich nichts m it dem französischen zu tun hat. E r s t das Auf­
treten vom L ab ou r als d ritter P a rte i bedeutet den Sieg französischer P a r ­
lamentsidee auf englischem Boden.
Die Zersplitterung in viele G ruppen ist doch wohl ein E rgebnis der
Tatsache, d aß diese Abgeordneten zum eist in P a ris leben und daß sie wie
alle G roßstadtideologen d u rch gesellschaftliche Beziehungen leicht um ­
gruppiert werden können. Die 6 11 M itglieder der K am m er bedeuten d o rt
von jeh er ebensoviel wie die offene A rena. D as m ilitärische M annen­
gefühl der deutschen Abgeordneten h at der französische D eputierte d u rch ­
aus nicht. E r ist selbst eine P a rte i fü r sich. Sogenann ter Fraktionszw ang
wird selten geübt und auch dann o ft nich t eingehalten. Die F rak tion en
sind C am araderien. N atürlich stehen auch w irtschaftliche Interessen hin­
te r ihnen, aber bei der Masse der Abgeordneten aus den Landkreisen w ar
die Ideologie bis zum W eltk rieg , ja bis heute, 1 9 8 0 , eine R ealität. Denn
diese Ideologie reg elt nun das V erhältnis zwischen P a ris und der Provinz.
Schule, K irch e, Verkehr, die K äm p fe um die O rden spalteten die Men­
schen. D em gegenüber traten die direkten W irtsch a ftsfra g e n n ich t so tren ­
nend hervor. Die Sozialisten des P alais B ourbon haben stets die A grarzölle
bewilligt!

10. Ausstellung und M useum


M odern und alt
Die E p och e d er französischen V o rh e rrsch a ft h a t ein besonderes M ittel
ausgebildet, ih re W e lt anschaulich auszubreiten und d ad u rch zu p ro p a­
gieren, daß die B ild h au er diese W e lt g re ifb a r und sich tb ar vor sich h in -
gestellt sehen. Alles, was diese b ü rgerliche W e lt im Innersten zusam m en­
hält, die M aschine und die M oralstatistik, die H ygiene und die K olonial­
w aren, die H äu ser und die P resse, w erden zwischen 1 7 9 2 und heute im ­
m e r w irksam er ausgestellt. E in w ahres A usstellungsfieber h a t in den J a h ­
ren nach dem K riege z. B . D eutschlands Städte heim gesucht. D ie Aus­
stellungen sind d er W eltan sch au u n g des B ü rg e rs genau so verw andt wie
die W irts c h a ft des K apitalism us.
Die A usstellungen beruhen au f einer G leichgültigkeit gegen den Z eit­
punkt, zu dem es notw endig ist, etwas kennenzulernen. In d er B eg egn u n g
m it den D ingen su ch t d e r B ü rg e r sein Schicksal nich t. E r fab riziert sie
j a selber. E r will sie verkaufen. Sie sind seine G esch äfte und sollen W a -

366
ren werden. D er unbürgerliehe M ensch begegnet auch den Dingen d er
W e lt dann, wenn es Zeit ist. E r lernt sie kennen, weil sie sich ihm auf drin­
gen d u rch irgendein Bedürfnis. E h rfu rc h t vor den Dingen haben, heißt, sie
stehenlassen, wo sie stehen. Ausstellen ist das Gegenteil davon. Die D inge
werden num eriert, m assiert, katalogisiert, angeboten und feilgehalten wie
auf dem M arkt. Das w äre an sich nichts Besonderes. Die Messen und
die M ärkte sind eine universale E in rich tu n g aller Zeiten und aller Völker.
Die Ausstellung der m odernen bürgerlichen W e lt aber ist m eh r. Sie stei­
g ert den Gedanken d er Schaustellung und d rä n g t den unm ittelbaren
K aufverkehr zurück. D a fü r soll eine ganze W e lt ausgestellt w erden, eine
ganze „K ollection“ . Die Ausstellung h a t m it dem Sam m eln gem ein das Der sammei-
Ideal einer gewissen Vollständigkeit des Gegenstandes, dem sie g ew id m ettrieb
ist. D ieser Trieb des Sam m elns findet sich in jedem französischen R e n t­
ner wieder. Je d e r dieser B iederm änner in P an toffeln , m it d er M ütze und
der Pfeife, pflegt daheim seine S am m lung zu haben, echter oder un echter
Münzen, B ilder, Stiche, Reliquien aus d er D o rf- oder Landesgeschichte,
Bücher, Steine, B riefm arken — irgen d etwas wird e r sam m eln. D er Sam ­
meltrieb ist überall a u f d er W e lt zu finden. Aber überall entsp richt er
einer besonders bürgerlichen H altung. Die G em äldegalerie eines Schlosses
hat noch n ich t diesen C harak ter. Denn dieser C h arak ter stellt sich erst d a
ein, wo die B eg riffe der Vollständigkeit und d er Tadellosigkeit über die
Anlage d er Sam m lung H e rrsch a ft gewinnen.
Dann enthüllt sich in dem Sam m eltrieb seine geheim nisvolle V erw andt- Der Ahnenkult
schaft m it der geschlechtlichen L eiden schaft. E in Gebilde besitzen zu w ol- der Dmge
len in allen seinen A barten und Spielarten, ja in seinen E n tartu n g en , die
Species d er einen M eißner Tasse zu erw eitern zu d er ganzen F a m ilie alles
M eißner Tassenwesens, die V ervielfältigung d er einen in seinem S tam m ­
baum, seinen W u rzeln , seinen Abzweigungen, seiner K urve, diese Leiden­
schaft verrät, wie doch d er ganz ungläubige b ü rgerliche M ensch d er A uf­
klärung an diesem Punkte tief in Ahnen und S tam m baum einfluß h ä n g t
E r , der W eltb ü rg er, h a t Adel und K ö n ig tu m ab g esch afft und tr ä g t stolz
die Jakobinerm ütze. A ber das G eheim nis des M enschengeschlechts spiegelt
sich fü r ihn in den Entw icklungslinien d er toten D inge, d er Schöpfungen
des M enschengeistes. H ier ist e r K en n er. H ier in den D ingen d a rf plötz­
lich das Schicksal Gewalt gewinnen üb er das einzelne Glied in d er K ette.
In d er S am m lung v errät näm lich jedes D in g seinen chronologischen O rt.
D er K enner d atiert es m it u n trü g lich er Sich erh eit, ob U h r, ob Bild, ob
Spitze o d er Glas. D enn jedes D ing h a t seinen S til. Stil und Stam m baum
bezeichnen die innere Sich erh eit einer E rsch ein u n g , ih re G eborgenheit im
Schoße einer F am ilie. Die Sam m lungen des Einzelnen w erden bekannt­
lich ergänzt d u rch die M useen. Die Museen sind — wie die Ausstellungen
— re ch t eigentlich E rzeugnisse d er bü rgerlichen W e l t : sie sind die Aus­
stellungen des Gewesenen, die tra u rig e n F ried h ö fe versunkener Stile, ab -

367
gelaufener Schaffungsepochen. W o frü h er eine Madonna in je einer
K irche hing, da hängen 20 M adonnen in einem M useum. J e m eh r Museen
eine Zeit h at, desto w eniger Stilsicherheit kann sie selber haben. D as
neunzehnte Jah rh u n d ert wird das Jah rh u n d ert des Inhaltsverzeichnisses
aller Stile (W ittig ). E s m ach t die Inventur gewesener Stile. E s sam m elt.
N ur in F ran k reich ist die Spannung zwischen M useum und Ausstellung
bodenständig geblieben und h a t deshalb das Land vor der Stillosigkeit be­
w ahrt. Die Ausstellung in F ran k reich näm lich ersetzt fü r die M oderne die
Sicherheit, die im ancien régim e der Stam m baum gab. D er Fran zo se ist
nicht so stillos gew orden wie die bürgerliche K u nst Italiens oder D eutsch­
lands (Pseudogotik, Pseudorenaissance usw.) Denn die Ausstellung hat
h ier eine n atü rlich e W u rzel behalten in dem Sch affensbereich des Schönen.
Der Zeitgeist W eltausstellungen, Kunstausstellungen, Gewerbeausstellungen haben
En glän der, A m erikaner und alle Völker den Fran zosen nach gem ach t. Aber
nirgend besteht die Urzelle des Ausstellungswesens, die dem Ganzen den
Sinn gibt, d e r P a rise r Salon. In diese jährlichen Ausstellungen der M aler
m arsch iert d er G eist der Zeit. An die Stelle d er K unstschulen tritt in den
Salons jah ra u s jah rein der Geist d er lebenden G eneration korporativ ge­
schlossen hervor. D ie Zeitgenossen stützen einander, regen einander an.
D as Gegenseitige g e h ö rt zusam m en. D er K ü nstler, d er im Salon aus­
stellt, m u ß sich nich t einfügen in das langsam e W a ch stu m eines S tad t­
bildes, in den Entw icklungsgang einer leiblich-örtlichen oder fam ilien-
haften Ü berlieferung. D as Milieu d er Ausstellung löst ihn von dem Alp­
druck der bloßen T radition. Denn dies Milieu ist rein aktuell, rein zeit­
genössisch. K ein M aler des 1 9 . Ja h rh u n d e rts h a t an P a ris Vorbeigehen
können. Denn h ier ist die bildende K u n st rein aktualisiert, werdendes,
zeitgenössisches Leben. H ier w ar sie m odern im Vollsinn des W o rte s. D er
Geist der Ju g en d g em ein sch aft erk lärt die K u n st des 1 9 . Ja h rh u n d e rts. In
Ja h rg ä n g e n brechen diese K ü n stler au f, Parnassiens, Sym bolistes, Im p res­
sionisten usw. usw. Als Zeitgenosse steht sie u n ter einer Devise, u n ter einer
Idee. — Schon V oltaire stellt eine seltsam e R egel auf, die gerad e dad urch,
daß sie falsch ist, L ich t w irft a u f die Leid en sch aft des F ran zo sen fü r die
A usstellungsfähigkeit und d am it fü r die A llgem eingültigkeit seiner K u n s t:
V oltaire gibt zu, „d aß der G esang national sein m ü sse“ , weil der Geist
d er Sp rach e andere n ich t zuläßt. „A ber die M aler“ , fä h rt e r fo rt, „m üs­
sen die N atu r darstellen, die in allen L än d ern d ie g leich e ist u n d d ie m it
denselben A u g en gesehen w ird !“
E in so lch er Glaube an die G leichheit d er Augen b ed arf der K o rre k tu r
d u rch den Gedanken der G leich zeitig k eit des G eschm acks. Z u einer und
derselben Z eit g efällt allen dasselbe, ist Voltaires A xiom , das A xiom
des jäh rlich en G esch m ack sb arom eters, des Salons. D ieser Glaube an die
G leichzeitigkeit liegt aber au ch den Ausstellungen zugrunde. D e n n dies
unterscheidet j a die A usstellung vom M useum , d aß die A usstellung m o -

368
dem und aktuell sein will, sie bringt den dernier cri, die letzte Ausdrucks­
form und die Spitzenleistung, den R ekord und das Nonplusultra.
Die alten Dinge, die m üssen da sein, bevor sie ins M useum kom m en Die Mode
können. Das Moderne hingegen wird o ft erst d u rch die Ausstellung ange­
reg t werden. Denn vieles von dem Neuen wird n u r du rch seine Zusam m en­
stellung m it dem Neuen m öglich. In d er Ausstellung gewinnt näm lich das
viele einzelne Neue sein Milieu, in dem es so zwingend wirkt, wie einst die
traditionale Leistung du rch das traditionelle Milieu gestützt und beglau­
bigt wurde. Das Milieu des konzentrierten R aum es ersetzt m ithin die ge­
schichtliche Beglaubigung des H erkom m ens. W ir sind so abgebrüht, von
der Ja g d nach Neuem, d aß w ir leicht unterschätzen, wie schw er der
K am pf m it dem H erkom m en und dem V orurteil dem einzelnen wird. D ie
G eschm acksunsicherheit, Stillosigkeit, W illk ü r und Schw äche d er einzel­
nen Neuheit wird also beschw ichtigt d u rch d ie G em ein sch a ft der N eu h ei­
ten, in d er sie sich n u r zu behaupten brau ch t. E n trü ck t dem V ergleich
m it Ä lterem kann sie noch so verrückt sein ; wenn sie n u r m it der Mode
geht, wird sie schon hingenom m en werden. An diesem Punkte kann ein
jeder selber ein R äsonnem ent über die M acht der P a rise r Mode anschlie­
ßen, die vom R egenschirm des Sansculotten an bis zum P y ja m a der D a­
men unbestritten geblieben ist.

F r e u n d s c h a f t und Z eitu n g
Auch die ahnenlosen M enschen des bü rgerlich en Z eitalters, die Kanaille,
braucht eine solche G em einschaft d er N euheiten fü r die hom ines novi.
Das 1 9 . Ja h rh u n d e rt ist unerschöpflich in solchen Individualisierungsver­
suchen der jeweils lebenden G eneration. N icht n u r Goethe konnte verächt­
lich f ra g e n : „G estern ? W a s ist denn G e ste rn ?“ D as ganze 1 9 . Ja h rh u n ­
dert versucht einem jeden ein einaltriges Leben zu bereiten. E in a ltrig ist Emdtriges
ein Leben, dessen Bew ußtsein vom Ausleben des eigenen Z eitalters aus­
gefüllt ist, das n u r widerwillig das H ereinragen von A hn und Enkel in die
eigene Zeit erträg t. M ehraltrig sind Lebensform en, die vom V erzicht a u f
das Ausleben d er eigenen Zeit ausgehen, wie alle O rgan e d e r K irch e, des
Adels, m an ch er W issen schaften, kurz wie die M u ttersch aftsform en aller
Art. Sie sind gegen das Ausleben des einzelnen Zeitgeistes verhältnism äßig
gleichgültig. Die V erfügung vieler Z eitgeister ist ih r Anliegen. Die bür­
gerliche W e lt hingegen glau b t an den F o rts c h ritt. Sie k o m m t nicht aus
der entfernten barbarischen N atu r, sondern sie sch reitet im m e r m eh r auf
die N atu r zu. Sie h a t also keine A ngst vor dem V erlust ihres G edäch t­
nisses. Sie w irft alle geschichtlichen F o rm e n sowie d as R ech t, das dem
Ja h r e 1 ih re r V erfassun g vorau fgeht, au f den K erich th au fen der Museen
fü r alte V olkstrachten, d e r Archive fü r alte U rkunden, der Bibliotheken
fü r alte Gedanken. Sie w eiht sich ein altrig dem G eist d er Zeit. Die Z eitu n g ,
erg reift jeden T ag in E u ro p a h u n d ert M illionen M enschen und liefert

24 Rosenstock 369
ihnen täglich alle B eg riffe, die sie zum Leben brauchen. N ur als Neuig­
keiten d er Z eitung werden heut die ältesten W ah rh eiten noch g e g la u b t
U nter „letzte N achrichten“ kann m an d o rt vielleicht erfah ren , daß wem
da hat, gegeben wird, oder daß der Geist weht, wo er will. Denn n u r als
neueste W a h rh e it kitzelt die W a h rh e it die Sinnlichkeit des Individuums,
seine Sensationslust. Kein M ensch e rträ g t j a die abstrakte W ah rh eit. Zu
jedem m uß sie in der Hülle einer sinnfälligen Einkleidung kom m en. Als
K u ltfo rm , als Sym bol, als Sitte kam en die W ah rh eiten frü h er zu den
Menschen. Die Liebesgem einschaft wird in der Prozession von F ro n leich ­
nam dargestellt, die T reue im E h erin g , die H öflichkeit im Abziehen des
Die Sensation Hutes. D er Philosoph hält von allen diesen F o rm e n nichts. E r ist zu a u f-
des phiwens geklärt fü r sie. E r d u rch sch au t sie. E r will die W a h rh e it an sich. E r will
nicht G ott in allen seinen Ersch einungen , sondern n u r als „d as höchste
W esen “ , als „seinen G eist“ , wie es V oltaire nich t m üde w ird, zu ford ern .
Aber der philosophierende M ensch bleibt genau so gefangen im Netze d er
Sinnlichkeit wie K ind und Bäuerlein und Priesterzöglin g. Die sinnliche
Hülle näm lich, in d e r allein den denkenden M enschen die W a h rh e it wirk­
lich erg reift, ist die Neuigkeit. Viele W a h rh eiten gleiten leblos vorüber im
Schulbuch oder L e h rv o rtrag . Aber das Neue begeistert und entzündet. E s
ist das einzige, was e rg riffen und verdaut w ird, das einzige, was ein­
sch lägt und „ F u r o r e “ m ach t. U nd ohne F u r o r bleibt alle W a h rh e it gleich­
gü ltig und tot. So w irkt die W a h rh e it im 1 9 . Ja h rh u n d e rt und in d er bü r­
gerlichen G esellschaft dad urch, d aß sie die letzte W a h rh e it zu sein vor­
gibt. F o rsch u n g , Entdeckung, E rfin d u n g , neueste Ergebnisse m u ß m an
haben d o rt, wo das Denken, wo die V ernu nft h errsch en sollen. Die V er­
fassun g von 1 7 9 2 enthielt den S a tz : keine G eneration d a rf d e r n äch st­
folgenden Gesetze vorschreiben! Dies entsp richt dem fanatischen Glauben
an die W a h rh e it von m orgen . D er S in n en k itzel des reinen Denkens ist
die angebliche N euheit eines Gedankens.
W o alles so unsicher ist zwischen g estern und m o rg en , d a w ird das
H eute n u r d u rch das W u n d e r der G esellschaft erträg lich . E s gibt n u r
eine Gesellung im H eute fü r das 1 9 . Ja h rh u n d e rt. D er Verein ist die reine
G esellungsform des B ü rg e rs. E in ä h rig e Interessen führen zusam m en. K e­
geln, Singen, Reisen, M enschenrechte, G oethe, V ölkerverständigung, W is­
senschaften kann m an d u rch Vereine und G esellschaften pflegen. Sie
schießen wie die Pilze nach 1 7 8 9 aus d er E rd e . Sie werden im m er locke­
re r, im m e r vergänglicher, diese Societes. M an sieht das re ch t deutlich,
wenn m an sie m it ihren V o rläu fern vergleicht. Die V o rläu fer sind die
Freimaurerei B rü d ersch aften des 1 8 . Ja h rh u n d e rts, vor allem die F re im a u re re i. D a
über diese so viel gefabelt w ird, so ist es notw endig zu sagen, d aß sie
erstens genau zwischen englisch er und fran zösischer Revolution m itten
inne steht, und d aß sie zweitens am besten aus M ozarts Z aub erflöte er­
kannt wird. Sie ist die Leib gard e der Ideen von 1 7 8 9 .

370
Die F reim au rere i h at nichts m it den m ittelalterlichen B auhütten zu tun.
Sie ist eine englische K lubform beim Ü bergang vom kirchlichen Leben
zum Deism us. Als der G ott Zebaoth den D enkern des N aturrechts zum
W eltbaum eister wurde, da begannen einige Schotten in London als seine
freien M aurer zusam m en zu essen. D as w ar in den zwanziger Ja h re n des
18. Jah rh u n d erts. D er Ü berschuß der englischen Revolution h at M ontes­
quieu und V oltaire ern äh rt und g e fo rm t, so wie die P u rita n e r von dem lin­
ken Flü g el d er R eform ation abstam m en. So h a t auch die englische F r e i­
m aurerei als Linksopposition der untergehenden Revolution Bedeutung
recht eigentlich in F ran k reich erlangt. H ier ist sie als L o g e das M ittel ge­
worden, die privilegierten Stände m it der Bourgeoisie aus den verschiede­
nen Konfessionen zu verschm elzen und dieser selbst das B ehagen eines
philosophischen R ituals zu verschaffen.
Mit der g ro ß en Revolution gew innt die L o g e an Bedeutung in den L ä n ­
dern, die d er A ufklärung sich n o ch verschließen, wie Italien. F ü r F ra n k ­
reich, das ja kaum P rotestan ten zählt, bedeutet die L o g e einen T re ffo rt
zwischen em anzipierten K atholiken und em anzipierten Ju d en .
Aber d er H auptstrom d er e im ltr ig e n , gewillkürten V erein igu n g teilt
sich seit 1 7 8 9 , und diese T eilung b eraub t die F re im a u re re i allm ählich
des M onopols als Vertriebstelle fü r die Ideen von 1 7 8 9 . D er eine S tro m -
arm fü h rt zu jenem oben geschilderten A rchipelagus von nüchternen
nützlichen V ereinen; d er zweite S tro m a rm w ah rt das P ath o s d er M aurereL
E r fü h rt zum Freundschaftskult. D as b ü rgerliche Z eitalter b rau ch t die
W ärm e d er F reu n d sch aft. D er F re u n d ist das W u n d e r im H aush alt d e r
vereinsamten Individualität. Die m oralische Persönlichkeit, so sahen w ir,
h at als ihren täglichen R itus die N euheit des Gedankens, den sie selber
forschend erarb eitet oder in d e r Z eitung geliefert erhält. D er F re u n d
aber ist das S ak ram en t in diesem w eltlichen Universum . D aß er da ist,
ist das einzige Irratio n ale in dieser sonst so eindeutig ration alen W e lt.
Ami, am ical und am itie, fratern el, fratern ite sind Stichw orte, ohne die
keine französische G esellschaft denkbar ist. N icht n u r K a sto r und P o llu x
oder O rest und Pylades werden gefeiert. D as g ro ß a rtig e „Soyons am is,
Cinna“ des R acine leuch tet dieser E p och e vorau f, das Lied an den alten
Freund, den M antel, oder die H istoire des Treizes von B alzac verklären selbst
bizarre A usläufer dieser F reu n d sch aft. W i r finden in d er gleichzeitigen
deutschen L ite ra tu r genug E n tsp rech u n gen dieses Freundschaftskuites.
Seihst die Frauenliebe w ird von diesem R au sch d er F re u n d sch a ft o f t
überschattet. Die B eziehungen zwischen M ann und F r a u sollen nun auch
als freundschaftliche gedeutet w erden. Die F r a u h ält dem Manne die
G rabrede im bü rgerlich en W e lta lte r! Die F re u n d sch a ft ist d er Souverän.
Sie teilt den anderen Lebensgebieten ih r eigenes Gesetz m it, wie dies
stets das K ennzeichen des Souveräns einer Z eit ist. A ber F re u n d und
F reu n d sind ein typisch ein altriger B un d wie der Verein. Selbst d o rt, w o
24*
S7 i
die F reu n d e ungleichen Alters sein m ögen, fingiert die F reu n d sch aft ihre
seelische Gleichstellung in ein und demselben Z eitalter. N icht L e h re r und
Schüler, nich t V ater und Sohn, nicht Innozenz und Franziskus, nich t Ahn
und Enkel, also keine ungleichaltrigen O rdnungen, welcher A rt im m er
haben das Urbild abgegeben, das den Menschen des 1 9 . Jah rh u n d erts das
geistige Leben zum täglichen Sakram ent g em ach t hat, sondern die F reu n d ­
sch aft von G efährten, von W e g - und A lters- und Zeitgenossen.
Deshalb gibt es n u r m odern oder altm odisch, Ausstellung oder M u­
seum , Revolution o d er R estauration fü r den Franzosen als Alternative.

11. D ie Judenemanzipation
D er Stolz des M enschen s a g t: Die m oralische K ra ft d er einzelnen kann die
W e lt auch ordnen und besser ordnen als die M ächte des ancien régim e.
W en n das w ah r ist, so m u ß d er m oralische M ensch an sich zum B ü rg e r
dieser W e lt befähigt sein. Die Revolutionen des Auslandes w aren ch rist­
liche Revolutionen gewesen. D as w ar notw endig deshalb, weil sie alle eine
A ntw ort geben wollten au f die Mission d er K irche. Alle Revolutionen sind
d er W id erh all aus d e r Völkerwelt au f die christliche P red ig t. Die Völker
sind getau ft w orden. Nun sind sie begierig, ihren M enschen hervorzubrin-
gen, das verheißene Ebenbild. K ein W u n d er, daß dieser W id erh all im
K reuzzugszeitalter, im K am p f von Ghibellinen und G uelfen, in d er R e­
fo rm ation christliche Züge trä g t. D ankbar erw idert m an in d er S p rach e
des Einladenden. Und doch w ar schon das V okabular innerhalb dieser
christlich en N ationalantw orten m itnichten einheitlich gewesen. K irch lich
sprach Innozenz I I I ., wie ein K irchen vater, evangelisch will L u th e r spre­
chen. A lttestam entlich reden die P u ritan er. F ü h lt L u th e r sich als d er
w iedergekehrte Apostel Paulus, so wollen die E n g län d er so etwas wie die
verlorengegangenen zehn Stäm m e Israels sein. V or m ir liegt der S p ectato r
vom 2 4 . M ai 1 9 8 0 , wo d e r A ngloisraelitism us in einer Anzeige von zwölf
Spalten erneut p ro k lam iert wird.
A u ch . die französische Revolution gibt A ntw ort. Auch sie will voll­
enden, was verheißen ist. D ie g ro ß e n Ideen d e r M enschheit sollen W irk ­
lichkeit werden. W e r kann T rä g e r d er Ideen von 1 7 8 9 se in ? P a tri­
stik, Altes und Neues T estam ent sind verbraucht. A uf die O ffen b aru n g
kann diesm al n u r eine Sp rach e antw orten, die selbständig der religiösen
Sp rach e entgegentritt. Jed e Revolution übersetzt die frohe B o tsch a ft in
ihre S p rach e. N icht n u r L u th e r h a t die Bibel übersetzt. G iotto und C ro m ­
well haben das au ch getan. A uch die französische Revolution übersetzt —
Humanität sie übersetzt in die S p rach e d er M enschlichkeit. Die H um an ität w ird die
R eligion von 1 7 8 9 . Die M enschenrechte sind ihre D ogm en. D iese Sp rach e
d er M enschlichkeit ist eine V erbindung philosophischer G edanken aus
Hellas und R o m m it m oham m ed anisch deistischen Vokabeln. G oèthe dich­
tet ganz im Sinne d e r W e ltb ü rg e r von 1 7 8 9 : Allah b ra u ch t n ich t m e h r zu

372
sch affen ; wir erschaffen seine W elt. P aris, die alte christliche Theologen­
hochburg, wird das „M ekka“ der Zivilisation. D er g ro ß e W eltenm eister
taucht in Schillers Lied an die F reu d e auf. Überall wird der christhch-
rehgiösen Sp rach e ausgewichen.
Daneben g reift m an au f G riechen und R ö m er z u rü ck : Napoleon wird
Cäsar, Andre C henier dichtet wie H oraz und Tibull, Xenien, D istichen,
Elegien, E p igram m e beherrschen die schöne L iteratu r. W inkelm anns
Klassik bleibt kein B uch. Sie ist die g ro ß e Mode in den P a rise r Salons
des Em pire.
Aber die H um anität h errsch t, und die Klassik dient ih r n u r als Ausdrucks­
m ittel I W o d ah er Klassik und N atu r in W id erstreit geraten , m u ß die
Klassik d er N atur weichen. B ald wird die Klassik so g ar von den R om an­
tikern benutzt, um die F lam m en der Revolution zu däm pfen, die H um a­
nität kann dann auch ohne Klassik auskom m en. Sie entwickelt im m er rei­
ner eine „m ensch hche“ Sprache des W a h re n , G uten, S ch ö n en ; abgelöst
von antiken oder außereuropäischen A ttributen w irkt sie um so re ife r und
selbstsicherer. F a s t alle nichtrussischen Sozialisten E u ro p as sprechen heut
diese hum ane S p ra ch e ; R am say M acD onald, B riand, E d u ard B ernstein
sind die letzten g ro ß en H um anisten.
FreiH ch diese ethische Sp rach e des H um anism us bleibt eine halbe S p ra­
che, wo sie nich t Anleihen bei Apollon, den G razien und M usen, Allah
oder Z arath u stra aufnehm en kann. Sie h at nämHch keine N am en. „ Ic h
habe häu fig die B em erkung g em ach t, d aß die gegenw ärtige G eneration
die Gabe, Nam en zu geben, verloren h a t . . . W a s fü r ein T alent ist denn
besonders erfo rd erh ch , um einen N am en zu geb en ? Eine gewisse geniale
Einsicht, d e r sich irgendeine w ahre E ig en sch aft des D inges o ffen b art.
Sehr wenig g e n ü g t; aber ein wenig m u ß davon dasein. W ir können je tz t
nicht einm al m eh r Spottnam en erfin den“ (G arlyle). In einer W a re n p ro ­
duzierenden, P roduk te ausstellenden und G üter konsum ierenden Gesell­
schaft bleiben alle D inge nam enlos abstrakt. Und deshalb ist die S p rach e
dieser Ideahsten, E th ik er, Pazifisten g efü llt von G em einplätzen und ohne
F arb e. Von R obespierre bis zu G am betta und C lem enceau sp rich t m an
leicht diese S p rach e d er abstrakten Tugenden. A uch V iktor H ugo ist
im m er wieder dieser Klippe der D eklam ation erlegen. D ie „m en sch h ch e“ ,
die hum ane S p rach e ist eine S p rach e, aus deren Zauberkreis alle D inge
draußen bleiben m üssen. Die rein m enschliche W e lt kann sie um fassen.
Aber w ährend die S ch ö p fu n g d rau ß en au ch N am en tru g , Tausendgülden­
kraut, MaßHebchen, O chs und E sel, kann d e r B ü rg e r die D inge entweder
n u r griechisch -röm isch oder statistisch erfassen. Jen es ist eine au f W a re n
au f geklebte E tik ette, dieses eine abstrakte Zahl.
Aber dieser M ensch von 1 7 8 9 bleibt kein A bstraktum . Die „ h u m an e“
A ntw ort der F ran zo sen a u f die ökonom ische M ission des Christentum ^
wird sans phrase gegeben. D en M enschen abzüghch seiner ReHgion, den
moralischen Menschen gilt es vorzuzeigen: Adam, der natürliche M ensch,
wird als T rä g e r der M enschenrechte im 18 . Ja h rh u n d e rt gern angefü h rt.
Adam , d er Mensch vor d er R assentrennung, vor A braham und N oah.
Je d e r ist dieser natürliche Mensch. Man w eiß, wie sehr die Franzosen ih re
Schw arzen kajoberen. Keine N ation ist so w eitherzig in der N egerfrage.
A ber zuerst wurde sie au f eine direktere P robe gestellt. D ie „n atü rlich e“
Revolution stö ß t an das g ro ß e Ä rgernis d er Christenheit. Und, treu ih rer
Sendung, em anzipiert die französische Revolution die Juden . D am it und
vielleicht n u r dam it h at sie die R ückkehr ins ancien régim e endgültig ver­
eitelt. Als Napoleon i 8 o 4 K aiser wurde, da bestand die G efahr, d aß e r
selbst — vom P ap ste gew eiht — legitim wie ein B ourbone enden könnte.
Sein neuer Adel, sein K onk ordat m it R om , alles wies in diese R ich tu n g.
Aber Napoleon ist ein K ind der Revolution. Die g ro ß e L eiden schaft zu
Josephine tr ä g t ihn em por. Man h a t von ih m sagen k ö n n en : seine F e ld ­
züge in Italien seien n u r ein einziges Geschenk d er Liebesrasered, ein g ro ­
ß e s H uldigungsgedicht an Josephine. E r ist also genial wie d er G eist
von 1 7 8 9 , e r ist ein M ensch des eigenen V ollbringens: „ I n deiner B ru s t
sind deines Schicksals S tern e.“ Napoleon also beweist die Allgem eingültig­
keit des M enschentum s. E r b eru ft i 8 o 3 den g ro ß e n Sanhedrin der J u ­
den — die am zahlreichsten im E lsa ß w aren, im ganzen n ich t 1 0 0 0 0 0 —
und gibt ihnen die staatsbürgerliche G leichheit. E r re ih t sie ins H eer ein.
B örn e kann B ea m te r werden u n ter der F ran zo sen h errsch aft, w ährend ihn
die deutschgew ordene R eichsstad t erneut ins G hetto verschicken will. D er
V ater von K arl M arx kann N otar w erden in T rie r, ohne d aß diese M änner
ihren Glauben abschw ören m üssen. Viele von ihnen lassen sich aber aus
D ankbarkeit tau fen . Die Judenem anzipation in E u ro p a beginnt. R ica rd o
und M arx erfo rsch en das W irtsch aftsleb en . D israeli und K ardin al New-
m an erneuern das alte Leben in E n glan d , G abriel R ie ß e r, E d u a rd von
Sim son, Ludw ig Stahl, E d u ard L ask er w erden V ork äm p fer des m odernen
N ation- und Staatsgedankens in D eutschland. In F ran k reich s politisches
Leben ist au ß er G am betta wohl kein M ann ersten R anges aus dem jü d i­
schen L a g e r gekom m en. In diesem Lan de w ar aber die Juden em an zip ation
das Siegel u n ter die R eligionsfreiheit von 1 7 8 9 . Die Ju d e n erlangen n ich t
wegen d er Verdienste einiger tü ch tig e r Ju d e n die Em an zip ation , w eder
Moses M endelssohns noch d er, R oth schilds n och H ein rich H eines w egen.
Diese ganze E rö rte ru n g über F e h le r und V orzüge einzelner von ihnen
schied ganz aus. Sie sind im ganzen em anzipiert w orden als M enschen,
als die ersten N ichtch risten, deren m an h ab h aft w erden konnte, um d ie
R edlichkeit d er eigenen H u m an ität zu erweisen. So wie d 'A lem bert dem
alten F ritz w egen Moses M endelssohn das W itz w o rt schrieb, e r sende ih m
„co m m e philosophe m auvais catholique au philosophe m auvais p ro testan t
un philosophe m auvais ju if “ . d ’A lem bert irrte sich in M endelssohn, aber
d er Z eitgeist d e r philosophischen R evolution h a t so arg u m en tiert. N atu r­
lieh kam d er Em anzipation die w irtschaftliche Z uordnung von Ju d en
und G roß b u rgern zustatten. Aber sie allein hätte ja genau so gut im ent­
gegengesetzten Sinne wirken können, näm lich im Sinne d er N iederhaltung
der Konkurrenz. W ie haben die lutherischen P atrizier d er R eichsstädte
etwa die refo rm ierten K aufleute als K onkurrenten niedergehalten und schi­
kaniert I E r s t 1 7 8 0 — also fast gleichzeitig m it dem B astillesturm —
durften die reform ierten reichen H andelsherrn sich in F ra n k fu rt eine
K irche bauen. Die K onk urren zgefahr hätte also auch den Ju d en gegen­
über sicher die nun herrschende K lasse, die Bourgeoisie, bewegen m üssen,
die Ju d en nich t einzubürgern. M an erk lärt heut gern das W esen d e r
Juden durch ihre w irtschaftliche F u n k tio n als Händlervolk. D as stellt die
Tatsachen au f den K opf. Denn im H andel haben die Ju d en stets ch rist­
liche K onkurrenten gehabt, auch im G eldgeschäft. Sondern d er H andel
war die nächste Lebensform , um sich unter den Völkern dieser E rd e als
erdloses Volk zu behaupten. Die F o rtd a u e r d e r Synagoge, des ewigen
Juden, des Volkes Israel ist aus keiner W irtsch aftsfu n k tion allein erklärt.
Essen m u ß ten sie natürlich . Und so haben sie die verküm m ertste und all­
gemeinste Fu nk tion erg riffen . A ber um als Ju d en zu existieren, n ich t um
als W irtsch aftso rg an e zu funktionieren. Niem and h a t übrigens g rim m ig er
über den Ju d en als W irtsch a ftsfa k to r geurteilt als K a rl M arx. E r , d er
Zögling d er französischen A ufklärung, verdam m te ih re kapitalistische
Funktion und erkannte eine andere, die jüdische, so w enig an wie seine
Lehrm eister. Auch e r verlangt d a h e r das Verschw inden des Ju d en . Die
Rolle der Ju d e n in d er W irts c h a ft en tsp rin gt aber d e r Aufgabe d er J u ­
den. Man kann kurz s a g e n :
W enn die Ju d e n eine M ission haben, m üssen sie sich irgendw ie au ch
erhalten. T ro tzd em sie hierbei K onk urren ten d er C hristen sind, werden sie
em anzipiert.
Denn n ich t die Selbstsucht ist die M u tter d e r Revolutionen, sondern
die Selbstvergessenheit. Die B ourgeoisie fo rd erte das O pfer aller P rivi­
legien am 4 . A u gu st 1 7 8 9 von den ersten Ständen. Und Adel und K leru s
entsagten ihren V orrechten. D er d ritte Stand konnte d ah er n ich t m u rre n ,
als auch e r sein P rivileg o p fern und in V erfolg d e r eigenen G rundsätze
nun den jüdischen K onkurrenten einlassen m u ß te. E r konnte n ich t mur­
ren. Einzelne haben g e m u rrt. Alle K lein b ü rger sind Antisem iten. D er
Antisem itism us w ird w eitgehend g en äh rt von dem W u n sch e, einen über­
legenen, fleißigen, gefälligen K onk u rren ten zu däm p fen und zu hindern.
Aber der dritte Stand als ganzer w ar an seine G laubenssprache gebunden.
Sein K atechism us d e r M enschenrechte duldete keine A u snahm en; d o rt wo
Verm ögen und M oral sind, d o rt w ar au ch der B ü rg e r des neuen G em ein­
wesens gegeben.
Die g ro ß a rtig e w eltgeschichtliche F o lg e d e r Judenem anzipation w ar —
wie im m er das G ro ß a rtig e — F o lg e , n ich t A bsicht dieser T at. D as erste,
zweite und dritte M enschenalter hat geglaubt, die Ju d en frag e sei nun ge­
löst. Die Ju d en gingen unter den Völkern auf. Das ist nich t geschehen.
Denn die Ju d en sind ja den Völkern dieser W e lt beigesellt, solange bis
diese wirkliche C hristen gew orden sind. Solange wird es Ju d en , C hristen
und Heiden nebeneinander geben. D as G roß e seit 1 7 8 9 ist nun, daß die
O ffenbarung an die Heiden nich t m eh r allein d u rch die K irche heran­
gebracht wird, sondern auch und unm ittelbar d u rch die Juden. Die Ju d en
sind den Christen gleichzeitig gew orden. B is 1 7 8 9 w aren sie durchaus
n u r Zuchtm eister au f Jesu s C hristus hin, den die K irch e den M enschen
brachte. Die K irch e h at weitgehend au fg eh ö rt, als O ffen barungsträgerin
an die M enschen heranzukom m en, aber an die, die die K irch e verw erfen,
kom m en die Ju d e n heran, zu Liebe und zu Leide, im m er als h a rte T a t­
sache. D as D asein d er Ju d e n ist so tatsäch lich, wie das eines röm ischen
K ardinals o d er eines M önches. Die Philosophen und das Ja h rh u n d e rt d er
bürgerlichen Philosophie, das neunzehnte, haben von der K irch e keine
B elehrun g m eh r angenom m en. D as D asein einer jüdischen F r a g e gibt die
M öglichkeit, den G eist d er Philosophen von einer ihnen ganz unerw ar­
teten Seite h e r zu m issionieren, näm lich den Glauben der C hristen an den
lebendigen G ott, d e r d a sein w ird, d e r e r sein w ird, in der v erach teten
jüdischen Synagoge w ieder zu entdecken, so wie es gerade in F ra n k re ich
dem katholischen Palliere ergangen ist. E r entdeckte, d o rt wo die Revolu­
tion Adam g esu ch t hatte, „das unbekannte H eiligtu m “ .
Die Judenem anzipation h a t aber noch eine andere W irk u n g gehabt. Sie
h a t neben die S ch ich tu n g in L an d sch aften und Lan dsm annschaften in
dem jüdischen M enschenschlag je d e r N ation einen „G ren zstam m “ , wie
ihn ein Ju d e genann t h at, beigesellt, einen G renzstam m , d e r sie tatsäch ­
lich au f ih re allgem eine m enschliche, ihre ökonom ische W eltb ed eu tu n g
festlegt. D e r Ju d e wird fran zösischer, englisch er, d eu tscher Ju d e. U nd
jede N ation h a t die Ju d e n , die sie verdient. A ber je d e r Ju d e genau w ie
jed er C h rist ist m e h r als F ran zo se, E n g län d er und D eutscher. A uch d er
englische C h rist, d er französische C hrist, d er deutsche C hrist w aren in
den Zeiten, da das C hristen tu m lebendig w ar, m e h r als bloße A n hänger
ih res Clans und ih re r Volkssippe. Sobald das C hristentum n u r ausnahm s­
weise das volle Leben d e r Seele dem einzelnen Volksgenossen spendet, ist
ein an d erer A u fru f und Anruf zu r V ollm enschlichkeit vonnöten. E r ist im
Dasein des Ju d e n gesetzt, denn e r zw ingt den Eingeb orenen dazu, das
M enschliche jenseits des tierischen zu suchen. A uf d er B asis des bloß
N atürlichen bleiben sich Ju d e und Heide frem d . In d er Seele können sie
einander begegnen.
Die französische R evolution h a t den weltlichen S taat gesch affen . Im
W eltk rieg b ean spruch te die französische Republik keine Gebete f ü r den
Sieg ih re r W a ffe n — wie die französischen P ro testan ten uns D eutschen
wegen unseres „d eu tsch en “ G ottes g ern vorgehalten haben. — D ieser

376
weltliche S taat bew ährt sich also im konkreten Falle daran, ob er gleiches
R echt bei C hristen und N ichtchristen gew ährt. Deshalb ist die A ffäre
Dreyfus von solcher W ichtigkeit geworden. U m einen geschehenen Ver­
rat zu decken, wurde ein unschuldiger, aber jüdischer H auptm ann als
Spion verurteilt. Alle alten M ächte F ran k reich s, Royalisten, Adel, M ilitär,
Klerus, das ancien régim e stand geschlossen gegen D reyfus. Alles Mo­
derne, alles Republikanische, Zola, F ra n ce , die L ig a fü r die M enschen­
rechte standen fü r D reyfus. L ’hum anité hieß die Zeitung, in der Zola
sein J ’accuse veröffentlichte. Die Ideen von 1 7 8 9 trium phierten keines­
wegs in vollem U m fange — D reyfus ist zuerst n u r begnadigt w orden I
Das katholische F ran k reich , H eer und K irch e zeigten, wie m äch tig sie
noch waren. Aber das bürgerliche F ran k reich hatte dennoch in der A ffäre
seine P rob e bestanden, daß es ih m ern st w ar m it seiner Idee der H um a­
nität, m it seiner V erw irklichung d er Judenem anzipation.

12. Das Individuum


Die Rolle, die das Individuum in d e r bürgerlichen G esellschaft spielt, ver­
dankt es dem E in flu ß seiner persönlichen Gaben und Eigenschaften. Diese
persönlichen E igenschaften sind die „sozialen“ T rä g e r seines D asein s; da
der B ü rg e r ja politisch allen B ü rg e rn gleichsteht, so behält e r seine
Eigentüm lichkeiten nu r in der sozialen Sphäre übrig. (V gl. S. 4 4 o .)
E r h at politisch niem andem etwas zu b efehlen; denn alle G eburtsvor-
rechte sind abgeschafft. D as „ P riv ileg “ ist vernichtet. Aber e r kann jed er­
m ann „im ponieren“ d u rch seine persönlichen Verdienste.
Und diese gesellschaftlichen Verdienste, E ig en sch aften und persön­
lichen Gaben jedes Individuums m achen zusam m en seine „Individuali­
tä t“ aus. In d e r Individualität verschm elzen sich Geld und G ut, Verdienen,
Habe und M itgift m it dem T alen t, den G eistesgaben und V erdiensten
und m it d er H andhabung eines B e ru fs ununterscheidbar. Aus beidem zu­
sam m en, aus Verdienen und Verdiensten gew innt der französische B ü rg e r
ein Leben (g ag n e r la viel). D er W o h lstan d , le bien être, das V erm ögen
des einzelnen u m fa ß t alles, w oraus e r F r u c h t und N utzen ziehen kann.
Die „zivilen F r ü c h te “ , die d er Gitoyen oder B o u rg eois oder die P riv a t­
person aus ih rem V erm ögen zieht, sind d er A usdruck d er gesellsch aft­
lichen Stellung des Individuum s.
Geld und T alent sind dah er die beiden sichtbaren E rsch ein u n gsform en
der bürgerlichen Persönlichkeit. N iem als ist die B ourgeoisie m it einer
dieser beiden G rundlagen zufrieden gewesen. Im m e r h a t der Geldsack
auch die G eistesgaben resp ek tiert und herangezogen. D er „ S ch riftsteller“
bildet in F ran k re ich einen Teil der herrschenden S ch ich t. Ü ber dem G egen-
satz d er K onfessionen und d er P arteien hu ld igt die N ation den G aben des
Genius. Das génie gen ieß t die E h re n , die dem Adel in En glan d vom Volk
d arg eb rach t werden. Sch on die Akadem ie, die R ichelieu 1 6 ^ 2 g rü n d ete,

377
setzte sich aus Katholiken und R eform ierten zusam m en. N icht d er Inhalt
also, sondern d er R ang der persönlichen Leistu ng sollte den A usschlag
geben. Die E in h eit des französischen N ationalgeistes wird n u r d u rch den
einheitlichen Sinn fü r Q ualität gesichert.
Alle anderen Um stände leiten a u f einen K am p f aller gegen alle, au f
einen P arteifanatism us d er Prinzipien und des bew ußten P ro g ra m m s.
Die Selbstzerfleischung d er französischen R evolutionäre selbst ist n u r ein
A usschnitt aus d e r G efah r d er Z ivilisation: Die Leidenschaften werden
d u rch das Bew ußtsein in den K o p f getrieben, der an sich die Stelle d e r
nüchternen K ritik ist. Die Ü berhitzung aller Leidenschaften ist die F o lg e .
H eiß er K o p f und kalte F ü ß e sind die G efahren des alternden M onsieur
Chauvin. Die in den K o p f hinaufgetriebene Leidenschaft verwandelt sich
in G rausam keit. M it einem Z u g G rausam keit ist die französische Ge­
schichte d u rch den P a rise r E in flu ß geschlagen. Seit d er B arth olom äu s­
n ach t von 1 6 7 2 bis z u r P a rise r K om m une von 1 8 7 1 gilt d er V ers des
D ich te rs: „Sie m ord en sich, es ist P a ris .“ Die vom B ew ußtsein überhitzte
Parteiw ut erleich tert den B lutrausch. G erade die bü rgerlich e G esellschaft
steht so vor d e r G efah r des B ü rgerkrieges.
Diese G efahren des bü rgerlichen N ationalism us werden in S ch ach g e­
halten d u rch den K u lt des Genius und die A chtung d er Talente. Im P a n ­
theon haben die S ch riftsteller F ran k reich s, die 1 9 1 4 — 1 9 1 8 gefallen sind,
ihre besondere Stelle. Diese H eraushebung d e r A nteilseigner des G enius
d er N ation w äre in D eutschland unverständlich. D enn h ier suchte d er In­
tellektuelle gerade im M ilitärrock sich auszulöschen und einzutauchen in
das H eer und seinen K orpsgeist. In d e r französischen R epublik ab er
sch im m ern selbst d u rch den Glanz d e r M arschallu niform die Strahlen des
Geistes. E s m a g w enig bedeuten, d aß F o c h als M itglied d e r A kadem ie
s tir b t A ber N apoleons V erg ö tteru n g b eru h t m it a u f seinem B ündnis m it
den W issen sch aften und K ünsten. D e r R au b d e r italienischen K unstw erke
und d er berü h m te Stab von G elehrten a u f seiner F a h r t n ach Ä gypten
waren nich t W illk ü rak te. E in N ach fo lg er des g ro ß e n M athem atikers G ar­
n ot, ist N apoleon selbst d e r V ater d er V erw issenschaftlichung des O ffizier­
korps. G eneralstab und G eniekorps d e r europäischen A rm een gehen a u f
ihn zurück. L u d en d o rff ist wie die K riegsakadem ie von 1 8 1 1 „tech n isch ,
b ü rg erlich “ . Napoleon ru f t auch auf der anderen Seite die neue F o r m des
College de F ra n c e ins Leben.
U nd h ier nun setzt sich d er Gedanke der E lite d u rch . Je d e Individuali­
tä t, deren G aben ihn über den D u rch sch n itt herausheben, wird in F ra n k ­
reich ihren R u h m , ih r Piedestal, ihren W irk u n gsk reis finden. Irg en d ein
Salon wird a u ch den radikalsten N euling lancieren. Und so w ird e r in
d er G esellschaft Anteil erhalten an dem R u h m , den sie als zweite A u f­
zeichnung neben dem V erm ögen zu vergeben h at, ohne R ü ck sich t a u f
seine „A n sichten“ .

3 78
Dies ist die G erechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, du rch die sie
die H errsch aft d er groß en m obilen V erm ögen erträglich m ach t. Die g ro ­
ßen Geldinteressen regieren anonym . Sie um kleiden sich m it dem R egi­
m ent des Talents. D as Brillantfeuerw erk des Geistes verdeckt das solide
G erüst der kapitalistischen M acht und veredelt es. Das spiegelt sich selbst
( i 8 3 o — 18 ^ 8 ) in dem Z eitalter d er brutalsten H errsch aft des R eich­
tum s. Die B ourgeoisie, die schon im Jakobinerklub von 1 7 9 2 über zwei
D rittel d er M itglieder verfügt h atte, gelan gt i 8 3 o zu r A lleinherrschaft.
D er Sohn des „G leichheits“ orl6ans, des Philipp E g alite, wird i 8 3 o d er
B ürgerkönig. Als Em blem trä g t e r das G erät, das dem Z eitalter des Adels
und seines Stoßdegens schlechthin w iderstreitet, und das d ah er in E n g ­
land lange verpönt blieb, das nichts als bü rgerliche In strum ent des R egen­
schirm es.
D ieser K ön ig sp rich t das berü ch tigte W o r t a u s : Enrichissez-vous, be­
reich ert euch, das die G esinnung vor d er Februarrevolution so k raß aus­
spricht wie die Bulle „U n am S an ctam “ unm ittelbar vor dem tiefsten F a ll
des P ap sttum s erlassen ist. E in Zensusw ahlrecht stu ft die B ü rg erstim m en
ah nach dem V erm ögen und sch a fft d am it vom S taat aus und fü r den
Staat den B e g riff d er K la sse n : G roßgrundbesitz und H ochfinanz, M ittel­
klasse und P ro le ta ria t werden als gesellschaftliche U nterschiede vom S taat
anerkannt und arbeiten d am it d er T heorie vom K lassenkam pf vor. V icto r
H ugo und Balzac, L am m enais, M ontalem bert und G eorge Sand wirken
gleichzeitig und reiß en gleichzeitig zur Bew underung hin.
Das Leben wird in diesem P a ris gelebt in m enschlichen E in zelp erson - Esprit
lichkeiten. Ih re Leidenschaften sind das Pu m pw erk, d u rch das sich d er
G esam tkörper d er N ation allein erhält. D er S tro m aller T raditionen und
der K reislauf aller transpersonalen K ö rp e r des Nationallebens ist unter­
brochen. W e d e r die K irch e noch die A rm ee noch die Lan dsch aften haben
fü r die N ation im Ganzen m e h r ausschlaggebende Bedeutung. Sie sind zu
F rag m en ten gew orden, deren nationale B edeu tung n u r noch von der K r a f t
einzelner Individualitäten in ihren R eihen abh ängt. Diese *Abw anderung
des Geistes aus den G em einschaften hinein in die Individualität erklärt das
eigenartige Schicksal des W o rte s E s p rit im Fran zö sisch en . E in verglei­
chender Rückblick zeigt das. D er Sp iritus San ctus d e r K irch e hatte sich in
Italien im P ap st d e r Papstrevolution konzentrierte G estalt gegeben, dam als,
als der W ille des P ap stes auch ohne Synode und K onzil zu r bew ußten
G esetzesschaffung auszureichen begann. Die F ü rste n der deutschen N ation
„vergeistigen“ ih r A m t d u rch die R efo rm atio n sp flich t. Indem sie Herren
der gesam ten G eistlichkeit w erden, m üssen sie dem deutschen Geist an
ihren Landesuniversitäten die F re is ta tt fü r seine System e bereiten. Der
deutsche Geist ist system atisch, weil e r den B eam ten staat des F ürsten
geistig aufbaut und leitet. D ie englische W e lt kennt den public spirit als
den Gemeinsinn, d er gegenw ärtig au fb rich t in d er G erichtsgem einde des

379
P arlam en ts und der Ju ry . In die G eistesgegenw art der D ebatte wendet der
En glän d er die geistige E rb sch aft der K irche.
Des F ran zo sen E sp rit konzentriert den Geist im einzelnen Ich. Der
g ro ß e Individualist der Philosophie Arthur Schopenhauer, dessen W e lt­
bild gerade die napoleonischen K riege, also der Siegeszug der Ideen von
1 7 8 9 , gep rägt haben — er durchreiste dam als E u ro p a — , spricht von den
vielen einzelnen Individuen als den M yriaden Lich tstüm pfchen , die einsam
ihren W e g d u rch das W eltall suchen. Schopenhauers Bild charakterisiert
den B eg riff des Geistes in d er bürgerlichen G esellschaft. Aber auch
Treitschkes „M änner m achen die G eschichte“ sta m m t typisch aus dem fra n ­
zösischen Geist, d er j a in der T a t einen Napoleon herausstellte; und d er
K orse h at G eschichte gem acht. A uf D eutschland h at dieser K u lt d er In­
dividualität m äch tig gewirkt. W e d e r B ism arck noch M arx noch R ich ard
W a g n e r sind ohne ihn begreiflich. Sie unterliegen dem N apoleonischen
des Jah rh u n d erts. Diese Überm enschen sind n ich t vom H im m el gefallen.
F o n tan e h a t seh r g u t geschildert, wie das französische Vorbild ganze
S ch aren solcher „Individualitäten“ um i 8 4 o erzeugte. In dieser Gesell­
sch aft h at n ich t d e r G eist den einzelnen, sondern d er einzelne „ h a t“ Geist.
E r ist „spirituell“ , kann m an n u nm ehr sagen. D ie Individualität wird
E ig en tü m er des Geistes und e rre g t nun ihrerseits B egeisterung. Je n e B e­
geisterung, die 1 0 9 5 den gladius „spiritu alis“ erreg t, die m it Bibelüber­
setzungen in die Volkssprachen hinein die L än d er der R efo rm atio n er­
g reift, erzeugt im 1 9 . Ja h rh u n d e rt das g ro ß e Individuum . D er K ü n stler
enthusiasm iert die M enge. Die P rim ad o n n a oder der R ed n er begeistern
das Publikum . D er Einzelne wird d e r g ro ß e Z aub erer, dem ein P a rla m e n t
oder ein A uditorium begeisterte H uldigungen darbringen, weil er die g ö tt­
liche K ra ft des Geistes ihnen verm ittelt. D er K ultus d er Persönlichkeit im
1 9 . Ja h rh u n d e rt b eru h t a u f dieser H ineinverlegung alles Geistes in die
geistreiche Persönlichkeit. Anders scheint sich G eist n ich t bilden zu kön­
nen als in selbständigen, sch a rf gegeneinander abgegrenzten Individuali­
täten. Die philosophischen M onaden des Leibniz, die zueinander keine
F e n ste r haben, werden von den Individualitäten d er G eistesm änner seit
1 7 8 9 als die L eb ensform des N ationalgeistes verkörpert. D er Ph ilosop h
h errsch t, insofern als d er Philosoph der M ensch ist, der geistig selbständig
und reich ist. Stolz und tro tz ig sch reib t Beethoven au f die R ückseite der
V isitenkarte seines B ru d ers, d e r sich G utsbesitzer genann t h a tte : Ludw ig
van Beethoven, H irnbesitzer. D ieser Beethoven, der dem Genius d er
M enschheit und dem H eroen N apoleon huldigen wollte, aber n ich t dem
K aiser der F ran zo sen — e r strich die W id m u n g d er E ro ica d u rch — ist
d er P leb ejer und Genius zugleich, d er M usiker der him m elstürm en den
p rom eth eischen Individualität.
So m u ß aber au ch aller G eist im bü rgerlich en Z eitalter individuell l|erauf^
gep u m p t werden. D er K ü n stler m u ß seine eigene R eligion, seine eigene P h i-

38o
losophie, eigenen Problem e in sein Oeuvre hineinlegen. Keine liebende Ge­
m einschaft bindet ihre Auf träge länger an geistige Traditionen. Die Über­
lastung d er persönlichen S ch affenskraft setzt ein, in der jeder einzelne das
ganze Universum beherrschen und verantw orten soll. „D as Ich ist die
K irch e“ , wird d er Satz, der den W and el des B egriffes E sp rit am kürzesten
ausspricht.
Und h ier ist nun der F ran zose m eh r in seinem E lem en t als irgendein Subjektivität
anderes Volk. Die Beredsam keit des Fran zosen zaubert aus dem N ichts
ein Plädoyer hervor, in dem alle Leidenschaften der H ö rer erg riffen wer­
den. Die B ild k raft des P arisers setzt m it wenigen W o rte n die Szene vor
die Z uschauer, die Gesten ersch affen eine ganze W e lt; fü r einen Augen­
blick n u r vielleicht, aber in diesem Augenblick fasziniert der subjektive
Ausdruck der Leidenschaften alle. Die K u n st des P a rise rs ist durchw eg
die, aus nichts etwas zu m achen. Die W e lt, sie w ar nich t ehe ich sie e r- 1
schuf. Die K ochkunst ist eben deshalb n u r in F ran k reich eine K u nst ge­
worden. N ur hier werden selbst Fleisch und Gemüse und B r o t und E ie r
zu einem bloßen M aterial in d er H and des K ünstlers. Die M aterie ver­
wandelt sich in P o esie ; die französische K üche ist deshalb D ichtung, weil
„P o esie“ , Schaffen des Genius, d er gem einsam e V organg aller K ünste ist.
Aber weil die M aterie des Essens und Trinkens soviel schw erer zu vergei­
stigen ist als die gottnahe S p rach e des M enschen, deshalb beh errsch t die
französische K ochkunst die ganze W e lt. D as Individuum ist das Subjekt
des Geistes. A uf den einzelnen lä ß t sich d e r G eist nieder. Also tritt das
Individuum auch im geniert m it seinen Leiden schaften ins L ich t der Ö f­
fentlichkeit. Die Subjektivität feiert im 1 9 . Ja h rh u n d e rt ih re T rium phe.
Biographien, Briefw echsel, Lebenserinnerungen, Tagebuchblätter sind die
Dokum ente d er bürgerlichen K u ltu r. Am iels Jo u rn a l Intim e ist eins d er
stärksten seelischen D okum ente dieses E in zelm en sch en , weil es im Gegen­
satz zu Augustins Confessiones die ganze Eingezogenheit des Einzigen und
seines Eigentum s zeigt. Die „ In tim itä t“ ist ihnen ohne Auslaß und Aus­
druck, Isolierung und Alleinsein erzw ingen völlige R esignation. K eine
Brücke fü h rt von M ensch zu M ensch. W ie d e r aber tr ä g t d er Franzose,
diese B ürd e leichter als die von ihm m itgerissenen W e ltb ü rg e r an d erer
Nationen. E r ist u n gen ierter als sie. E r gesteht sich seine Leidenschaften
ein. E r gesteht sich die Triebe ein, deren W a lte n D eutsche oder E n glän der
zur Verzweiflung bringt. D er F ran zo se h a t alle anderen E u ro p ä e r den
persönlichen Leidenschaften unterw orfen. N ur e r aber h a t diese seine P a s­
sionen hüllenlos und unsentim ental herausgelebt. Deshalb gibt es in F ra n k ­
reich die verklem m ten Leidenschaften n ich t, die bei uns die Psychoanalyse
notwendig g em ach t haben. Die Psychoanalyse ist gew isserm aßen ein H eil- 1
m ittel fü r die den G iften und Einflüssen d er französischen Bourgeoisie n ich t
gewachsenen V olksnaturen. D er F ra n z o se fühlt sich den Leidenschaften g e - *
wachsen. E r bekennt sich zu ihnen. D enn er bekennt sich zur Sinnlichkeit.

38i
13. D ie Dekadenz der Liebe
Leidenschaft, K rankheit, Laster
Die W e lt d er Sinne lebt aus der K ra ft d er Sinnlichkeit. Die feinste Sen­
sation ist der G eruch. Das P a rfü m ist eine französische Schöpfung. E s
belebt, denn aller G eruch bezeugt die Lebensstärke des uns begegnenden.
D er G eruch ist uns geradezu dazu verliehen, dam it wir Blüte, R eife,
F ru c h t, Fäulnis und Tod w ahrnehm en können. Ich kann den K erl n ich t
riechen, heißt, ich kann m it ihm nich t leben, e r m a ch t m ich krank, ja er
tötet meinen Lebensinstinkt. Die M eister der Sinnlichkeit, die F ran zosen ,
sind also auch die M eister des P a rfü m s gew orden. Sie haben es zu r
K unst gesteigert. A ber die französische Zivilisation h at sich dem ganzen
B ereich d ér sinnlichen Genüsse zugewendet, vor allen D ingen d er a rs
am andi. E s ist die französische Lebenskunst kein g erin g er E x p o rtartik el
des Landes. D er P a rise r R om an oder seine schlechte N achah m u ng wird in
Spanien und R um änien genau so die M ußestunden d er wohlhabenden rein
bürgerlichen F r a u ausfüllen, wie in G riechenland oder Brasilien. F re n ch
letter — einen B rie f aus F ran k reich nennt d er E n glän d er jenes G erät, das
den Liebesgenuß folgenlos läß t. N u r eine französische K okotte kann die
Zynik und E leganz so kom binieren, d aß sie von ihrem A ufenthalt in N ord­
afrik a s a g t: „ J ’ai civilisé les q ..........m arocain es. Die unverständliche W ich ­
tigkeit, m it d e r die ganze g ro ß e Liebesleidenschaft zugespitzt w ird a u f die
Sekunde des G eschlechtsverkehrs und die sich in d er P a rise r Schleuder­
w are einer C olette, Guyp usw. spiegelt, entsp rin gt doch au ch aus dem g ro ­
ß en W illen, bew ußten G eschm ack und überlegene Kirnst gerade in die
kleinsten Ä ußerungen des T ages hineinsiegen zu lassen. Die Liebe w ird
Selbstzweck, sie w ird nich t d er geheim bleibende K u n stg riff d er G attung,
sich d u rch die einzelnen hindurch fortzupflanzen. Sie w ird ein D ing au
sich, ohne V o rh er und ohne N achh er. Sie w ird wie alle D inge im b ü rg e r­
lichen Z eitalter ein einaltriges, augenblicksverhaftetes G eschehen.
So w agt sich die g ro ß e K u n st hinein in das feinste. G eäder des g ro ß e n
Strom system s, das den Lebensbaum d e r M enschen treibt, in das d er Liebe.
Venus ist die G öttin, d e r das höh ere P a ris huldigt. A ber A phrodite ist
eine G öttin. Und so ist ih r R eich so m an n ig faltig wie jedes R eich eines
G ottes. D as H öchste und T iefste u m fa ß t sie, die Venus vulgaris und die
opfernde Liebe.
V or d er Liebe beugt sich d er F ran zo se. M adam e C aillaux w ird von den
G eschw orenen freigesp roch en. D enn die Liebe zu ih rem M anne h a t den
Revolver gegen C alm ette geladen. Die M örderin aus ech ter E ife rsu ch t
bleibt d u rch w eg stra ffre i vor einem französischen G ericht. D e r g ro ß e
C hem iker B erth o let und seine F r a u wollen au ch im Tode vereint bleiben.
Ih re Liebe bew irkt, d a ß sie an einem T age sterben. D ie Republik b eu g t
sich vor ih re r Liebe und beschließt, d aß ausnahm sw eise n ich t d e f g ro ß e

382
Genius allein, sondern beide, Mann und F r a u vereint, im Pantheon bei­
gesetzt werden, in dem F ran k reich s g ro ß e G eister ih re Unsterblichkeit ge­
nießen sollen.
D as F e u e r der Liebe wird m diesem Lande überall w ahrgenom m en und
verehrt. D er from m e K atholik Hello schreibt eine hinreißende Bibelaus­
legung : Paroles de Dieu. Die Tränen, das Elend, d er Glaube des M enschen
werden in reinen Tönen verklärt, die unter allen H im m elsstrichen ih r E ch o
finden können. Aber das letzte W o r t des B uches ist doch französisch. E s
würde an sich und theoretisch auch in einem englischen oder deutschen
Erbauungsbuch stehen können. A ber es stände d o rt gew iß n ich t als das
letzte W o r t. Denn wie w ird G ott h ie r g en an n t?
Dieu qui est feu b rulant, Am en, Amen.
Als verzehrendes F e u e r brennt die g ro ß e und die kleine Leiden schaft,
die Liebe zu G ott und den M enschen in dem , d e r sich in das Z e n tra l­
geheim nis des Lebens hineinw agt m it allen Sinnen und allem V erstand.
Dies wird ein neues W eltreich . D er K o p f bem ächtigt sich bew ußt der L ei­
denschaft des Herzens und d er Sinne. D ie Passion wird zu r K unst, zur
Vision, zu r Em pfängnis des Geistes gesteigert. Dies H irn erlebt alle Sen­
sationen d er körperlichen W e lt. D as W eibliche des K ünstlers, des Ge­
lehrten, des Ekstatikers schw elgt in den W o n n en geistiger K onzeption.
Die französische Revolution erhebt diese weiblichen K rä fte des Genius,
seine F ru ch tb ark eit, seine Im pressionabilität, au f den T h ron . D er Genius
wird der w ahre M ensch, weil e r in den m ännlichen V erstand K rä fte des
weiblichen Schoßes m it hineinnim m t, weil e r geb iert wie das W eib.
Und um gekehrt w ird das W eib in dieser N ation au sgerü stet m it d er
K larheit d er P allas Athene. S ta tt d er M inerva verehren diese m odernen
Athener die Ju n g fra u von O rléans, wenn sie katholisch, Heloise, wenn sie
revolutionär sin d 1.
Und die einzige V erirru n g, die den W illen, den P lan , die Idee, die Ab­
sicht, die R ich tu n g eines Im u s beim M anne, d er bew ußt leben soll, d u rch ­
kreuzen d a rf, ist die Liebe. L ’a m o u r . . . ce n e s t que le roirfan du coeur.
F ran k reich s A usdrucksform seit 1 7 8 9 w ird d er R om an .
In V ictor H ugos L es M isérables besitzt die französische L ite ra tu r eine
ausgleichende Schilderung beider, der christlich en und d er w eltlichen
Liebe in d er E in h eit ih rer Leidenschaftlichkeit. V icto r H ugo, d er Sohn
eines G enerals N apoleons L , d u rch leidet die Z eit N apoleons I I I ., in d er die
bürgerlichen Ideen von 1 7 8 9 g ed em ü tigt werden und deshalb Verständi­
gung suchen m üssen m it den älteren Ü berlieferungen F ran k reich s. C lé-
m enceau sagt deshalb von diesem Z e ita lte r: Passivem ent su b i,lesecon d em ­
pire a m arqué, d ’une fagon décisive chez nous, une dim inution de foi dans
l idéologie com battive de la révolution frangaise aussi bien que dans la su -
périorité des arm ées lib ératrices qui devaient installer les peuples dans la
1 Vgl. die Huldigung für Heloise im Galendrier de l’Ère Revolutionnaire 1893.

383
pratique de leu r souverainetéL Indessen das T hem a b rauch t auch V iktor
H ugo nicht zu wechseln.
E s h at seine V orgeschichte. L än gst vor d er Revolution wird die Liebeslei-
d en schaft in F ran k reich individualisiert und ih r K am p f m it der G esellschaft
besungen. Die B riefe Abälards und Heloises sind das unvergleichliche Ge­
schenk des L eh rers von St. Geneviève an F ran k reich aus dem M ittelalter. Die
Frau en d ich tu n g ist schon im 1 7 . Ja h rh u n d e rt um fangreich. Manon Lescau t
und die am Vorabend der Revolution gedichteten gefährlichen Liebschaften
des C hoderlos de la Clos, des H ofm annes Philipps E g alité ragen als D ich­
tungen aus dem 1 8 . Ja h rh u n d e rt hervor. W ir haben schon von Abailardus
erzählt. Bei ihm trä g t das persönliche Erlebnis noch überindividuelle
F r u c h t; als ihm die Verw andten seiner Geliebten das M annestum grausam
verstüm m eln, g rü n d et er dem Heiligen G eist ein K loster als dem verhei­
ßenen T rö ste r (P a ra k le t). Alle L eiden schaft dieses m ächtigen und fre i-
heitsdürstigen E sp rit d er französischen Scholastik unterw irft sich also
noch dem Saint E sp rit d er K irche.
In M anon L escau t und in den Liaisons dangereuses sind die Leiden­
sch aften bereits selbstherrlich und losgelöst von aller Überwelt. In dieser
Beziehung präludieren eben beide schon d er französischen Revolution.
A ber noch stehen beide außerhalb des Ganzen d er G esellschaft. M anon ist
eine leichte Person. Und K irch e, H o f und Ju stiz strafen die verwegenen
Vabanquespieler fü r ih re Liebschaften, wenn auch schon n u r noch als
deus ex m achina.
In d er H alsbandgeschichte von 1 7 8 8 e rreich t d er G ischt d er persön­
lichen Leidenschaften dann die objektiven M ächte des K ö n ig re ich s: K önig
und K irch e. Die verhaßte K önigin w urde d er Leiden sch aft und des E h e ­
bruch s verdächtigt. D er K ardin al R oh an w urde des Glaubens an diesen
E h eb ru ch ü b erfü h rt. W e n n auch eine B etrü g erin in dem K rim inalprozeß
verurteilt w urde, jubelte doch das Volk von P a ris über die B loß stellu n g
des W eibes in d er K önigin. Denn seit F ra n z I. w ar n u r n och die K önigin
jeweils entrück t geblieben über die Leidenschaften*. H ingegen d e r K önig
w ar m eh r und m e h r in das Leben d er L eid en sch aft m it eingetreten, und
d e r erste G alan seiner N ation gew orden. N icht n u r H einrich IV . wollte der
.galanteste Fran zo se sein. Auch Ludw ig X IV . bestand d arau f, seinen H u t
vor jedem K üchenm ädchen in Versailles zu lüften. Die g ro ß e M ätresse
wurde ein S taatsam t am H ofe des K önigs, d e r selbst der S ta a t w ar. U nd
ein beson derer M inister h atte u n ter Ludw ig X V . den L eiden schaften des
K önigs zu dienen. Im m e r aber w aren die F ra u e n , m it denen d er Fürst
lebte, halb au ß erh alb d e r G esellschaftsordnung geblieben, solange wenig­
stens die K önigin erhaben und rein von Leidenschaften blieb.
Mit einem w underbaren Instinkt h a t u n ter dem tugendhaften und ohne
M ätressen lebenden Ludw ig X V I. das Volk von P a ris d er H ä^sburgerin 1
1 Grandeurs et Misères d’ime victoire 3i 4*

384
verbotene Leidenschaften nachgesagt. D as ist die welthistorische Bedeu­
tung der Halsbandgeschichte geworden. Sie schien die Königin jedem
W eibe im Volke gleichzum achen. W en n F ig a ro s H ochzeit den G roßen
der E rd e, den Aristokraten, den P ro zeß m ach t und seine gegen das Ver­
bot des Hofes durchgesetzte A u ffüh ru ng 1 7 8 1 in P a ris schon als Revolu­
tion wirkte, so verkündet der H alsbandprozeß bereits die W end ung, durch
die sich die französische Revolution von d er englischen im tiefsten unter­
scheiden w ürde: Die En glän d er hatten den K önig als den Tyrannen hin­
gerichtet. Die Franzosen richten nich t n u r Ludw ig X V I. hin, sondern auch
M arie Antoinette. Sie wollen d am it den R an g des Geblüts vernichten
— was den Engländern ganz fern gelegen hatte — sie wollen ein Schicksal
fü r alle, M änner und W eib er ohne Ausnahm e.
Die g roß en Sch riftsteller des 1 9 . Jah rh u n d erts huldigen den Leiden­
schaften, ab er sie bezeugen zugleich den unausweichlichen W e g , den alle
einaltrige Liebesleidenschaft hinabsteigen m u ß . W o der dem ütige W ille
zur F ru ch tb ark eit nich t sch am h aft das Liebesfeuer einhüllt, da m u ß Liebe
zum Tode führen. Denn da verbrennt sie an sich selbst. In drei g ro ß e n
Lebenswerken finde ich die drei g roß en Staustufen, in denen der von d er
groß en Revolution entfesselte S tro m der Leiden schaft zu T al gestürzt is t:
bei Balzac, bei Zola und P ro u st. V erfolgen w ir diesen V e rla u f:
H on ors de Balzac, von selbstgeschaffenem Adel, ein F a n a tik e r d er A r- Balzac
beit, treibt eine ganze W e lt d e r L eiden schaft aus seinem fru ch tb aren H im
hervor. E r nennt dies Schauspiel, im G egensatz zu D antes Divina C om m e­
dia, zu dem englischen ,,W e lt‘ ‘-Schauspiel L a com edie h u m a in el Passive
Leidenschaft ist die T riebfeder dieser M enschen in P a ris und in der P ro ­
vinz. Diese Leiden schaft zerstö rt m eistens — wie in der fem m e de tren te
ans, dem C hagrinleder, den N euverm ählten, der H erzogin von Langeais.
Aber sie ist zu jedem O pfer fähig. Sie w älzt die W e lt um . Die B ü ro s d e r
M inister, die K losterm au ern a u f den B alearen, die K assenschränke des
Geizhalses geben n ach vor d e r w ahren L eid en sch aft d er Liebe. A uch die
Religion ist d o rt, wo B alzac sie einführt, eine subjektive Leiden schaft. M it
unerhörtem Scharfblick baut dieser Einsiedler ein D ra m a von H underten
von Personen des zeitgenössischen F ra n k re ich s in w enigen Ja h re n au f und
geht selbst an einer gedichteten Liebe m it einer R ussin zugrunde.
Gold und Liebe sind die M otoren d er Com edie hum aine Balzacs. W e lch Ungöttliche
ein Abgrund gegen D antes G öttliches G edicht, ab er auch welche E n tfe r- Komodie
nung von M iltons V erlorenem P arad ies. D e r M ensch ist hier ganz allein
m it seinen eigenen Leidenschaften. D e r P o le K rasinski h a t dah er i 8 3 3
diese W e lt d er französischen R evolution in seiner „U n göttlich en K om ö­
die“ geschildert. A ber d e r N am e v errät schon K rasinskis G egnerschaft
gegen die R evolution. E r findet die von ih r gespielte K om ödie ungöttlich
und verurteilt sie. B alzac aber lebt als d er Einsiedler seiner Leidenschaf­
ten. Diese zerfleischen ihn und seine H elden wie eine weltliche Passion. In

25 Rosenstock 385
ihnen allein h a t er seine „M otive“ im K am p f m it d er W e lt. Die L ich te r
am Himmel haben w ir ausgelöscht, h at Viviani 1 9 0 6 gesagt. Schon bei
B alzac ist dieser M ensch, der nu r „an seinen eigenen Kohlen sch m ilzt“
(G oethe) fertig. D er tiefe E rn st aber, der in diesem düsteren K ultus d er
Leidenschaften steckt, rü ck t ihn ohne Blasphem ie in die Nähe der ewigen
W ahrh eiten . Und e r stellt daher einen ewigen B e itra g des französischen
Geistes zur Seelenkunde der M enschheit dar.
Emiie Zola Das D ynam it der Liebe wird au f einer neuen Stufe des französischen
Lebens, bei Em ile Zola, nich t m e h r als bloße L eiden schaft erlebt. B alzac
schreibt unter Louis-Philippe, w ährend des Enrichissez-vous der Zeit des
Überm uts und der Selbstüberhebung. E r selbst und seine F ig u ren sind be­
sessen von der G ier des Lebens in dieser schönen W e lt. Z ola schreibt nach
der Zeit der D em ütigung, nach 1 8 7 0 . F ra n k re ich ist an seine Grenzen
gekom m en. E s h a t seine g rö ß te Beispielhaftigkeit h in ter sich. D ie K om ­
m une h at ih r G orgonenhaupt erhoben. Die neue E p och e der kom m unisti­
schen Revolution ist im A nm arsch. Z ola schreibt seine R ou geon -M ao-
quard, den Stam m baum einer F am ilie, in 4 8 Bänden. Auch diesen S tam m ­
baum befällt die Liebe, aber als Seuche, als K rankheit. Die Syphilis d rin g t
in ihn ein und vergiftet sein M ark. Die E rsch ö p fu n g , die Paralyse, die
Verzw eiflung w arten am En de. Die Liebe ra st dahin nich t wie A m ors
Pfeil, sondern wie in d er Ilias die P est, die Apollon über das H eer d e r
A chäer aus seinem K ö ch er abschießt. D as neue Z eitalter des Sozialism us
blickt hinein. Die sozialen U ngerechtigkeiten verschlingen sich bereits in
diese R aserei der liebeskranken M enschen, so wenn d er H e rr vom D ienst­
m ädchen angesteckt wird, die Spekulantin ihren K ö rp e r gegen B örsentips
hingibt und so fo rt. Die satanischen W irk u n g en d e r Liebe w erden als
A scherm ittw och der B ourgeoisie dargestellt, — K lassenfragen, gegen die
B alzac noch nichts Prinzipielles einzuwenden hatte. Und Z ola endigt
lebensüberdrüssig d u rch E rstick en an K ohlengas. W ie d e r eine G efällestufe
w eiter; m eh r als ein M enschenalter später, u n ter den Endw ehen d er euro­
päischen Fin -d e-siecle-S tim m u n g , im T al des Todes* vor und w ährend des
Proust W eltkriegs ist P ro u sts W e rk entstanden. E s ist d er letzte Teil in dieser
T rilogie der Leidenschaften. D abei verschlägt es nichts, d aß die fran zö­
sische N achkriegsj ugend P ro u st ablehnt. Sie m u ß es, denn e r lä ß t ih r
nichts zu leben übrig. P ro u st h a t eben, innerlich gesehen, vor dem W e lt­
krieg gedichtet, vor Bolschew ism us und Inflation . Seine M enschen haben
alle Geld o d er lassen sich von denen, die Geld haben, aushalten. D ie M ut­
te r verh eiratet noch ihren Sohn. E s ist also schlechterdings ein S ch rift­
steller des seit 1 7 8 9 geschaffenen F ra n k re ich s, das von R ob espierre bis
Clem enceau reich t. E r besingt S odom und G o m o rrh a (fünfzehn B än d e).
Die M ächte von Sodom und G o m o rrh a sind die gleichgeschlechtlichen L e i­
denschaften, P äd erastie und Lesbism us, zwischen denen d er völlig deka­
dente, ü b em o rm ale Held sein Leben zerrinnen sieht. D ieser H eld ist a u f

386
der Suche nach seiner verlorenen Zeit. Tiefe W ah rh eit. D ort, wo die Liebe
nur noch L aster ist, kann sie das Leben nicht m eh r zur Lebensgeschichte
steigern. Das Leben m uß nun ohne dieses beiseitetretende, in sich krei­
sende L aster fortgehen. Aber da ist es n u r ein Scheinleben. P ro u st selbst
findet aus diesem Irrg a rte n der Liehe nich t heraus. Die w iedergefundene
Zeit — der Titel des Schlüsselbandes — m eint eine zeitlose Zeit, einen stereo-
m etrischen Zeitraum körper ohne A nfang und Ende, ohne Zukunft, steril.
Die Liebe w ar Leiden schaft bei B alzac, sie w ar K rank heit bei Z ola.
Im m er wurde sie doch bejaht. B ei P ro u st ist sie eine m aniakalische V er­
irrung. D er Teufel treibt m it dem M enschen sein Spiel in dem , was sie
Liebe nennen. A ber d a es in dieser W e lt des Diesseits fü r den a u f­
geklärten Fran zosen n atü rlich keinen Teufel gibt, so wird dieses Spiel
als blutiger E rn st, als einzig gegebene R ealität dieser G esellschaft von
Paris, durchlitten.
W ie haben hier natü rlich w eder B alzac noch Zola noch P ro u st als
Künstler zu kritisieren. W ir schreiben keine K unstgeschichte. Sondern was
sie fü r die G eschichte d er französischen Revolution ergeben, beruh t au f
der Auswahl des Stoffes, zu dem sie geleitet w erden. Alle drei schrieben
den R om an ih re r Zeit m it rücksichsloser Gleichzeitigkeit. Alle drei woll­
ten das fü r ih re Zeit Neue ergreifen . Meine d ah er niem and, daß sie die
durchschnittliche brave P a rise r B ü rg erw elt h ätten abkonterfeien wollen
und also — weil dieses Volk von P a ris so brav sei — u n rech t hätten.
Proust su ch t — wie B alzac und Zola — den P u n k t, wo sich d er S tro m
durch den E n g p aß d er Zeit w eiter zu T al windet, m it C lém enceau zu r e ­
den: er erfü llt die A ufgabe von P a ris, als „p oin t de concen tration de la
pensée frangaise“ . Und er findet, unerschrocken wie er als re ch te r F r a n ­
zose ist, m orbides, u n fruch tbares, lasterh aftes Leben als das Ende. Me­
phisto am A nfang dieses bü rgerlichen Z eitalters von G oethe aus sich h er­
ausgestellt, kann sich beim Anblick des faustischen M enschen, d e r genialen
Persönlichkeit, des philosophierenden B ü rg e rs am E n d e dieses Z eitalters
ins Fäustchen la ch e n : „D enn a u f V ernichtung lä u ft’s hinauS.“
Auch das Geld, die zweite b ü rgerlich e Leiden schaft, w ird von unserer L’Argem
Literaturdynastie bloßgestellt. D ie V orgeschich te des G eldgierigen, die
Molières Geizhals spiegelt, und die in M irabeaus P am p h let gegen das B ö r­
senspiel die Revolution von 1 7 8 9 . b eeinfluß t h a t, m u ß h ier au f sich be­
ruhen. E s gen ü gt hier, d a ra u f hinzuweisen, d aß d e r D ra n g nach S écu -
nté, nach Sich eru n g des Geldes und d er w irtschaftlichen G rundlagen sich
von Balzac bis P ro u st steigert. B alzac kennt noch den M ann, der re ich
und arm und wieder reich w ird, sein G ésar B iro tte a u ist ein Beispiel da­
fü r. Bei Zola ist bereits die Selbstbehauptung des ganzen G eschlechts im
Spiel. Seiner m edizinischen V ererbungslehre g eh t parallel die A ngst um
das Fam ilienverm ögen, und die unw ürdigsten V errätereien, die niedrigsten
Gemeinheiten werden begangen um einer Spekulation willen.
25*
387
P ro u st ist bereits so lebensuntüchtig, der steinreiche Börsenspekulant
in seinem korkausgeschlagenen K rankenzim m er, daß der Besitz reich­
lichen Geldes oder die A rm ut der einzelnen Personen die R ollen auch im
Liebesieben verteilen. Ohne Geld, ohne reichliches Geld würden ja die T a­
ten von Sodom und G om orrha so fo rt ihren Reiz verlieren. M an würde
keine Zeit fü r sie haben.
S o kom m t es, d aß P ro u st schon fast wie ein N achzügler wirkt. D ie
französische G esellschaft h at ihn nicht m eh r vollrezipiert, weil sie bereits
in die geistige G egenw ehr gegen die russische Revolution hineingerissen
worden i s t D ie ökonom ische G rundlage d er Prou stsch en Schilderung ist
ersch ü ttert. D ie dünne, aber sublime L u ft, die m an bei Andre Gide oder
Jam m es o d er auch bei dem katholischen Claudel atm et, entrück t das fran ­
zösische B ü rg e rtu m heut in eine zweite W e lt. D iese unwirkliche sozusagen
m etaphysische W e lt feit das philosophierende G eschlecht d er B ourgeois
besser gegen die K ritik der heranrückenden neuen Revolution als die un­
erbittliche und selbstm örderische K onsequenzm acherei ihres letzten Lei­
denschaftssängers M arcel P ro u st. W ü rd e P ro u st wirken, so w äre die Se­
curity, das Sicherheitsgefühl der Individualität, die Geld und Liebe tragen ,
dahin.
F ran k reich s V erfassung wäre bedroht. Und so ist es in der T at.
Der letzte Die L ite ra tu r bleibt nicht bloß L ite ra tu r. D enn die E n th ü llu n g d er
ensc Leidenschaften b rin g t das Ende h erau f. Ü ber die T ragöd ien d er Leiden­
sch aften hinw eg ereilt auch das H eroenvolk des D iesseits, das h u m an itäre
F ran k reich , ein Jü n gster-T agesglau b en .
Die „h u m an e“ R eligion des „M enschen“ an und fü r sich bekennt ih re
Eschatologie.
W ie die L u th e ra n e r a u f das R eich G ottes w arten und die P äp stlich en
auf das K om m en des A ntichristen, so m u ß auch die stürm isch begehrte
Zukunft des H um anism us zu einem R ü ck sch lag führen. Alle E sch ato log ie,
die L eh re von den letzten D ingen, ist j a ein R ü ck sch lag au f die zu h e ftig
erlebte G egenw art. W e n n Franziskus d e r zweite Je sü s ist, d er vollkom­
m ene N achfolger, d e r so g a r die W u n d m ale des geliebten H e rrn trä g t,
wenn M adonnen und Jesusk in d er d u rch die Ja h rh u n d e rte h in d u rch un­
un terbrochen die italienische B ildersprach e ausm achen, so m u ß die E n d ­
zeit entgegengesetzt vorgestellt w erd en : antich ristlich , ohne diese Ge­
borgenheit. Die italienische Zeit erw artete also das E n d e vom K om m en des
A n tichrist. A nders der leidende G ehorsam d er L u th eran er. E r m eidet jede
politische B estrebun g. Die Seele duldet und h a rre t des H errn . A lso ist die
letzte W en d u n g , deren sie h a rre t, das R eich , in dem d er Zw iespalt von
äu ß e re r G ew alt und in n erer W ü rd ig k e it aufgehoben sein w ird, das R eich
G ottes. Die hu m an e E sch ato log ie d er F ran zo sen sieht w ieder anders das
W eitende. D as E n d e k om m t, wenn das m enschliche Genie alles entdeckt,
alles erg rü n d et, alles e rfo rsch t h at. D ann blinzelt „ d e r letzte M ensch“ :

388
„ W a s ist L ieb e? W a s ist G lück ? W a s ist S te r n ? “ Denn dann ist das H erz
dieses Menschen nicht m eh r fähig, den G roß taten des Geistes Gleich­
gewicht zu halten. Die Zukunftsleidenschaften der Augen, der nim m er-
satten, haben das H erz übernom m en.
Das Herz ist m üde, krank und leer. D er M ensch ist enttäuscht. Skep­
tiker, desillusioniert. Man kann aus dieser H altung den W eltsch m erz, den
Pessim ism us, die K atastrophe E u ro p as ableiten. Aber das tu t nu r der
N ichtfranzose: L o rd B yron , A rth u r Schopenhauer, F rie d rich Nietzsche
haben das bürgerliche Z eitalter in der T a t so gedeutet. Ein französischer
Geist h ält die grausam e Spannung zwischen K o p f und H erz, zwischen
F eu er d er R aison und M üdigkeit der Passion bis zuletzt fest. D er Gei­
stesreichtum kapituliert nicht vor der H erzensarm ut. E r seufzt nicht, ja m ­
m ert nicht, er beklagt nichts. E r bejaht den W e g „von der H um anität
über die N ationalität zur B estialität“ .
Denn er will die K larh eit bis ins letzte. E s gibt einen G rad des B ew ußt­
seins, d er den furchtbarsten Schm erz noch genießbar m ach t. W ir w er­
den m it Bew ußtsein sterben, jede Ph ase unseres Sterbens m it dem B lick
des erfahrenen Arztes verfolgen, steht bei Spengler. Aber m an könnte
Spengler m iß trau en . E s gibt gü ltigere Zeugen.
Denn zunächst offen bart sich in d er Esch atologie n u r d er antisentim en­
tale, d er grausam e Z u g im C h arak ter der Fran zo sen , das M itansehen­
können d er Qualen, ohne zu helfen, das, was das W o r t Sadism us n u r un­
vollständig andeutet, weil es eine Z ustim m ung zu r V ernichtung, zur Z er­
störung in sich schließt. M an glaube n ich t, d aß n u r die R om an e d er L ite­
ratu r so grau sam die E rd e vom D ynam it der Leid en sch aft in die L u ft
sprengen lassen. E s gibt einen viel unheim licheren Zeugen dieser B ereit­
schaft des Geistes von P a ris zu r Selbstvernichtung. D ieser Zeuge ist d er
V ater des Sieges, G eorges C lém enceau, A rzt aus d er Vendée, V ereh rer und
K enner der Schönen K ünste, D ep u tierter von 1 8 7 1 ; der T ig er, der n ach
jedem Sturz, jed er N iederlage seines Lebens dennoch stieg #und stieg, h a t
die Zukunft des M enschengeschlechts in einem hinreißenden D ithyram bus
preisgegeben. D ieser D ithyram bus au f den W e ltu n te rg a n g ist lange vor
dem W eltk rieg geschrieben. U m so geheim nisvoller ist die V erbindung
zwischen d er H aßpotenz dieses G reises von V ersailles und der E rb a r­
m ungslosigkeit seiner Vision. L u zifer ist es, d e r die F ack el schw ingt,
klar, unerbittlich, g rau sam , klug, geistreich und lebensprühend. L u zifer
ist der Genius d er M enschheit, dessen L ich t die W e lt 1 7 8 9 erblickt h at.
Also spricht C lém enceau über den U n terg an g d er M ensch h eit:
A cette heure d éch iran te, qui ne re g re tte ra les douleurs ennoblies d ’espé-
ran ce, perdues dans Fo m b re du p a ssé ? O ui, nos fils ne seront lä que
1 horrible m assacre des tem ps historiques, et m êm e la barbarie prim itive,
leur sem bleront de F h u m an ité heureuse au re g a rd de l ’effrayante catit-
strophe qui, d ’un pas irrésistible, ä toute heure g ag n era su r eux. Ge serait,

389
jusque dans la décadence dernière, une m onstrueuse ascension de douleur
si la notion, déjà présente, de la fin nécessaire, ne suscitait en nous la
philosophie supérieure qui nous perm et d 'a ffro n te r toute destinée sans
pâlir.
L ’affreuse décroissance insensiblem ent sous nos yeux s'accom plira. L a
décrépitude envahissante a m o rtira les chocs pour la conscience de sensibi­
lité diminuée, et pas à pas, p a r le chem in de m o rt déjà p arco u ru vers la
vie, l ’hom m e venu de la terre, retou rn an t à la te rre , trouvera sa tom be
dans son berceau, noyé d ’oubli dans la source de douleur. L a lente rég res­
sion sans pitié fera son œuvre. L e dernier hum ain qui vivra s’éteindra dans
le m êm e m ystère où su rg it le p rem ier qui vécut. Ainsi s ’achèvera, dans la
suprêm e m isère, la lutte com m encée p o u r la vie au x jo u rs de la naissance
heureuse dans le m onde enchanté.
Revanche L a vie hum aine avait été de dom ination m ortelle su r toute vie inférieure.
De nouvelles conditions de vie fon t m aintenant de nouvelles conditions de
lutte. L ’heure est venue de la grande revanche de la n atu re d ’en bas con tre
la nature d ’en hau t. L ’organism e inférieu r, m oins exigean t que ses grands
co n cu rren ts, se contente de conditions m édiocres p ou r vivre. A m esure que
les conditions de vie s ’atténuent, l’hom m e, la bête, l’arbre, rab ou gris,
s ’appauvrissent, s’aném ient, s ’étiolent. Incapables de rép rim er plus long­
tem ps l ’obscure végétation des fo rm es prim itives, ils recu len t m aintenant :
e t la vie in férieure envahit l’im m ense dom aine d ’où la vie supérieure la
refou la jadis. C ’est la suprêm e bataille, la gran d e déroute de la vie vaincue
cédan t le terrain pas à pas, sous le re g a rd des siècles, indifférents à
quelque m oisissure hum iliée qui dans quelque bas-fonds ig n oré, attend
dès à présent son heure.
Nos cités croulantes, p arm i d ’in fo rm es vestiges hum ains, les dernières
ruines effondrées su r la vie m o u ran te, toute la pensée, to u t l’art. —
L u zifer schw eigt in V ern ich tungsvisionen. Selbst das kann d e r Geist.
Ist der Mensch n ich t ein zig ? E r kann seinen T od gepießen.
Ach es ist n u r d e r b ü rgerlich e M ensch, dem dieser T od d er M ensch­
heit Nervenkitzel bereitet. L u zifers Ideen fü h ren schon heu t, sch on g e ­
stern, schon im m er und n ich t e rst am E n d e d e r W eltg esch ich te zu r V er­
nichtung. Der „Tiger“ b rau ch t n ich t au f die niederen O rganism en zu w ar­
ten. E r h a t selbst alles getan, um d u rch H a ß die W e lt schon zu seiner
Z eit zu vernichten.
Die niederen O rganism en, die e r den g ro ß e n Individualitäten prophe­
zeit, rü ck en h eran . „D ie Situation M ensch“ w ird bedrohlich. „ E x i t hom o
sapiens“ , das Einzelw esen w ird bed roh t vom M assentritt des m arsch ieren ­
den P ro letaria ts.

390
XVII. DIE BÜRGERLICHE GESELLSCHAFT UND
DER KLASSENKAMPF

1. Der Radikalismus der Klassengesellschaft


ie radikale D u rch fü h ru n g der Ideen von 1 7 8 9 strebt au f zwei Men­
D schentypen zu, auf den Soldaten d er nationalen E rh eb u n g und au f
den R entner der staatlichen R ente. Soldat als Glied des Volkes in W a ffe n
und R entner oder K apitalisten als Glied der bürgerlichen G esellschaft sind
zwei Lebensform en, die einander bedingen und ergänzen in dieser neuen
W e lt
N ur wenn d er einzelne F ran zose diese beiden Zustände im L au fe seines
Daseins am eigenen Leibe e rfä h rt, kann e r dieser W e lt m it R ech t und
nach N eigung angehören.
N ur Soldat sein, w äre ebenso eine Ü berlastung, wie n u r R en tn er sein
ein Schm arotzen.
E s ist das bürgerliche Problem gewesen, dies G leichgew icht zu halten.
Und die G esellschaft h a t sich d er bloßen S ch m aro tzer d u rch sch ärfste
D u rch fü h ru n g d e r W e h rp flich t zu erw ehren gesucht. N irgends sind so­
viel M indertaugliche an g em u stert worden als in F ra n k re ich vor dem
K riege.
D em K riegszustand des H eeres steht d er Friedenszustand d er Gesell­
schaft gegenüber. H ier w ar das G leichgew icht noch viel schw ieriger. J a
von h ier aus ist die bü rgerliche G esellschaft bekanntlich in F r a g e gestellt
worden, von h ier aus w ird sie überwunden. D er N ich tren tn er ist g efäh r­
licher als d er N ichtsoldat. D enn d e r N ichtrentner ist der N ursoldat. E r
trä g t n u r die Lasten dieser G esellschaftsordnung ohne ih re Vorteile. D er
N ursoldat ist d er unverm ögende M ensch ohne R entengenuß , d er M ensch
ohne V erm ögen.
In einer radikal bürgerlichen G esellschaft ist d er verm ögenslose M ensch
entwurzelt, deracine. V erm ögenslos wie e r ist, kann e r n ich t in Ideen w ur­
zeln, er kann n ich t radikal sein. W e r einer festen Einkom m ensquelle
darbt, b ed roht die b ü rgerliche G esellschaft, wenn e r zu zahlreich au ftritt.
Dieser P ro le ta rie r h a t n ich t dasselbe V aterland wie d er B ü rg e r. E r kann
seine S oldatenp flicht n ich t innerlich verstehen. D enn e r findet sich hinaus­
gewiesen aus d e r P a ritä t von Soldat und R entner.
Die b ü rgerliche G esellschaft w ird fü r ihn zu r einseitigen E in rich tu n g
der anderen, zu r K lassengesellschaft. D er N ationalstaat selbst h at diese
Einseitigkeit sich zuerst bem äntelt. Die m ilitärische egalite schien ih m ge­
nug. Die kom m unistische G leichheit des V erm ögens m eldete schon 1 7 9 2
ihren A nspruch an in d er P a rise r K om m une, w urde aber niedergew orfen.

391
Die Rentenansprüche des P ro letariers hat der französische S taat dreim al
rücksichtslos n ied erk artätsch t: H ebert fällt 179/ ij Cavaignac vernichtet
das P ro letariat i 8 4 $ ; 1 8 7 1 sind 5 o o o o K om m unisten aus P aris nach
Guyana d ep ortiert worden. F ran k reich h at die P ro le ta rie r eher ausgerot­
tet als sie an der R ente des B ü rg ertu m s zu beteiligen. Einen M ittelweg,
eben den der Radikalen, h at es eingeschlagen. D as W a h lre ch t wurde allen
Soldaten zuerkannt, nich t n u r der Bürgerklasse. Seit L ed ru R ollin haben
die bürgerlichen Radikalen um diese politische G leichberechtigung aller
Individuen gekäm pft und sie haben gesiegt. Die K lassen w aren dam it im
politischen S taat ab g esch afft; sie blieben n u r noch in d er G esellschaft er­
halten.
Kiasse^und W a s ist denn eine K lasse? Eine Einteilung d e r M enschen nach dem
V erm ögensstand und d e r Einkom m ensart. Classis ist eine einheitliche
G ruppe von Steuerzahlern. Die Klassen in d er Eisenbahn unterscheiden
sich gleichfalls nach den G ebührenstufen. K lasse ist also ein w irtschaft­
licher M aßstab zu r Einteilu ng d er M enschen. Gibt es ein Klassenw ahl­
rech t, so bedeutet das, die w irtschaftliche U ngleichheit w ird dem A ufbau
des Staates gleichfalls zugrunde gelegt.
D am it ist die K lasse etwas ganz anderes als d er Stand. Stände sind
Obrigkeiten. Auch der tiers etat in F ra n k re ich ist ein H errenstand m it poli­
tischen K om petenzen über die Stände, eine noblesse de robe. Stände re­
gieren, Klassen w irtschaften. Stände sind S taatsorgan e, Klassen sind Ge­
sellschaftsschichten.
Solange die französische B ourgeoisie noch um ih re V o rh errsch aft
käm pfte und solange sie als d er ehem als zu kurz gekom m ene d ritte Stand
„alles w erden“ wollte, solange h a t sich au ch das P ro le ta ria t als vierter
Stand m ißverstanden. B is i 8 4 8 ist m eistens vom vierten Stande die R ede,
wenn m an den nich tbürgerlich en N ursoldaten d er N ation bezeichnen will.
E r s t d er K a m p f gegen das K lassenw ahlrecht b rin g t dem P ro le ta ria t zum
Bew ußtsein, d aß es kein Stand ist und auch keiner w erden will. D enn dem
P ro letariat liegt nichts an d er E in g lied eru n g in den S taat — im S ta a t ist
e r schon als Soldat und bald dank d er R adikalen au ch als W ä h le r darin.
D er P ro leta rie r will an den R enditen d er bü rgerlich en G esellschaft betei­
ligt w erden. Deshalb h ö rt e r au f, sich vierter S tand zu nennen. D eshalb
w ird er zu r Arbeiterklasse. Deshalb stellt e r sich als die K lasse d e r Aus­
gebeuteten d e r K lasse der A usbeuter gegenüber. D eshalb streikt e r gegen
die G esellschaftsordnung, in d e r e r n ich t beide R ollen, Soldat plus Rent­
ner spielen d a rf.
Aus dem N ationalgardisten ohne R ente w ird der K lassenkäm pfer und
A ntim ilitarist. A ber K lassenkäm pfer ist der P ro le ta rie r nich t aus eigener
W a h l, sondern weil d e r K lassenkam pf ohne sein Z utu n besteht. D ie R en t­
ner, die K ap italisten betreiben den K lassenkam pf ständig, weil sie von
ihren Einkom m ensquellen den bloßen A rbeiter fernzuhalten suchen. D er

392
K lassenkam pf ist also eine T atsache und keine F o rd e ru n g des P ro letariats.
Je d e r Lohnkam pf zwischen Arbeitgeber und A rbeitnehm er ist ein Aus­
fluß des Klassenkam pfes. D er A rbeiter soll n u r Lohn für Arbeit erhalten,
aber keine Rente aus der Produktion beziehen. Denn das wurde die R ente
des K apitalisten schm älern.
E s ist eines d er g roß en M ißverständnisse, j a ein T rick des B ü rg ertu m s,
den M arxisten den Klassenkam pf vorzuwerfen, so als predigten ihn diese.
Aber die M arxisten predigen nich t den Klassenkam pf. M an kann n ich t
predigen, das W asser fließe den B e rg h erun ter, sondern m an kann es n u r
feststellen. Mit dem W o rte K lassenkam pf wird eine gesellschaftliche Ge­
setzm äßigkeit beschrieben: Je d e r B esitzer von V erm ögen will die R ente
aus diesem V erm ögen m öglich st fü r sich behalten. B esteht das V erm ögen
aus K apital, aus Produktionsm itteln, aus Gelegenheiten fü r andere, gegen
L oh n zu arbeiten, dann wird der K apitalisßdiese Gelegenheiten m öglich st
im eigenen Interesse als seine G oldm inen ausbeuten.
D aß diese Produktionsm ittel d u rch die Zirkulation in im m e r ab strak terer
unpersönlicher O rdnung sich über den einzelnen zu einer unheim lichen
W eltm aschinerie au ftü rm en , das schleudert unausgesetzt neue Individuen
in die proletarische F ro n t.

2. D ie Dialektik der Revolutionen


F ran k reich h at dieses K lassenkam pfes sich d u rch N iedrighaltung der P r o ­
letarierziffer erw ehrt. E s h at den Soldaten und den R en tn er in ein sonst
nirgends in der W e lt erreichtes G leichgew icht gesetzt. Die Sow jets haben
darüber eine wohl gew iß n ich t voreingenom m ene Statistik veröffentlicht,
die schlagend erklärt, weshalb F ra n k re ich von allen L än d ern der W e lt fü r
den K apitalism us die sichersten G rundlagen bietet.
K lassengliederung in den kapitalistischen S taaten 1 9 2 4 in 1 0 0 0 :

Herrschende
Erwerbs­ Halb- :è
Land Proletarier Klasse und
tätige proletariër
Anhang
Großbritannien
ohne Irland......................... 18 4oo 16 010 560 1 830
Deutschland............................ 33 9 ° ° 26 000 3 5° ° 4 4oo
Italien....................................... 20 000 i4 000 2 500 3 5° °
Dänemark................................ 1 35° 850 100 35 °
Bulgarien.................................. 2 500 1 600 260 64o
Vereinigte Staaten
von Nordamerika.............. 42 000 2750° 6 500 8 000

F rankreich................................ 20 900 10 700 3 9° ° 6 300

M it anderen W o r te n : F ra n k re ich h at 5 oo/0 seiner Erw erb stätigen als


B ourgeois und H alb p ro letarier o rgan isiert, w ährend N ord am erika n u r

393
3 3 o/0j D eutschland (nach dem K rie g e !) n u r 2 3 o/0, England so g ar n u r
i 5 o/o auf d er Kapitalsseite eingebaut hat.
Jew eils das Land der letzten Revolution bew ältigt deren A u ftrag am
vollkommensten, und deshalb ist F ran k reich das relativ im m unste Lan d
gegen den Bolschewismus.
Mittels seines Gleichgewichtes zwischen Soldat und R entner h at es seine
Menschen g e p rä g t: den Ideenkäm pfer und das selbständige Individuum.
Denn der Soldat d er französischen Revolution ist ja kein Philister. E r ist
d er Sänger der M arseillaise, d er m arsch iert, weil das V aterland in G efahr
ist, weil die Tyrannen es bedrohen. D ieser Soldat ist n u r der, der b a r zahlt
fü r die Losungen des Geistes. D eshalb h at selbst ein D ekadent dieses fran ­
zösischen Geistes B audelaire sagen k ö n n en : N u r drei M enschenarten ha­
ben einen heiligen B e r u f : P riester, D ich ter und Soldat. Und A lfred de
Vigny h at diese V erbindung des Geisteswortes m it dem Soldatentod schön
e rlä u te rt:
L a parole qui tro p souvent n ’est qu’un m o t p o u r Thom m e de haute
politique, devient un fait terrible p o u r F h om m e d ’a rm e s; ce que l ’un dit
légèrem ent, F a u tre l’écrit sur la poussière avec son sang, et c ’est p o u r cela
qu’il est honoré de tous, p a r dessus tous, et que beaucoup doivent baisser
les yeux devant lui.
Auch d er französische R en tn er ist m e h r als ein stiller G enießer im
schlechten Sinne. E r ist vielm ehr auch d e r unabhängige M ensch, d e r
starke und schöne Geist, d e r F reid en k er und das selbständige Individuum .
D er R en tn er, d er K apitalist ist j a d er befreite, d er zu r H e rrsch a ft über
die Dinge berufene B ü rg e r. D er Soldat im Fran zo sen dient dem H erren ­
b ü rg er in ih m . D er B ü rg e r ist g e rä ch t am Ed elm ann , dem H erren m en ­
schen des ancien régim e. D am als w ar d e r B ü rg e r n u r d e r S teuerzahler.
D a w ar d er B ü rg e r der N ursteuerzahler. So wie in d er N ation d er P ro le ­
ta rie r als N ursoldat g efäh rlich ist, so h a t sich d er N ursteuerzahler als ge­
fährlich erwiesen. A uch d er N ursoldat w ird a u f stehen .gegen den B ü rg e r.
Die unterdrückte M enschenart e rh ö h t ih ren Typ zu r geistigen F ü h r e r ­
stellung d er nächsten R evolution. E s gibt eine Dialektik d e r Revolution.
M an h at gesagt, die G eschichte sei eine F o lg e von K lassenkäm pfen. S o ein­
fach ist die G eschichte nicht. A ber es gib t eine D ialektik d e r U n terd rü k -
kung und d e r B efreiu n g, und w ir können sie tie fe r d u rch schau en als
M arx. A ch tzig Jahre nach ih m sch eid en w ir zw ischen K la ssen k ä m p fen
u nd d er D ia lek tik der R evolu tion en . D er K lassenkam pf kann n u r in d e r
K lassengesellschaft bestehen, d. h. in d er b ü rgerlichen G esellschaft.
D er K lassenkam pf im eigenen Lande h a t den K apitalism us n ich t e r­
sch ü ttert. A ber d e r K apitalism us h at noch eine andere F ro n t. Diese gebiert
die nächste R evolution. D enn ein teilw eiser Irrtu m steckt in d er landläufi­
g en L eh re vom K lassenkam pf allerdings. D as K ap ital beutet nich t die A r­
beiter aus — m it den A rbeitern kann es sich arran g ieren . Zw ischen i 846
und 1 9 0 0 h at es in England keinen K lassenkam pf gegeben. Denn w ährend
dieser Zeit h at England die übrige W e lt ausgebeutet. Dies ist aber kein
Zufall. R osa L u xem b u rg h at gezeigt, daß zum W esen des K apitalism us
seine p arasitäre Existenz auf älteren W irtsch aftsfo rm en hinzugehört. K a ­
pitalism us in einer W elt, in der es nur K a p ita l und A rbeit gibt, ist un­
denkbar. D a wäre nichts zu verdienen! D as S tarren au f die kapitalisti­
schen Produktionsstätten lenkt den Blick vom H intergrund ab. In F ra n k ­
reich ist alles „n atü rlich “ geordnet. K olonien, Fellachen, Tributvölker, An­
leihestaaten b rau ch t d er K apitalism us, um zu rentieren. D er V u lgärm ar­
xism us hält die A rbeiter fü r die „A usgebeuteten“ . E r h at zwar schon bei
M arx gelesen, daß die vorkapitalistischen L än d er d u rch brutale Gewalt
im Kolonialsystem „erschlossen“ w erden. D er O pium krieg gegen C hina
und F ran k reich s T aten in A lgier sind berüch tigte Anwendungen dieses
System s. A ber d a nun einm al das P ro le ta ria t d er L eid en sträger des K a ­
pitalism us sein sollte, h a t die Ausbeutung d er älteren Schichten m eist n u r
als nebensächlich gegolten.
Sie ist aber die H auptsache. D as P ro le ta ria t d er Industrie kann seh r
wohl selbst „ausbeuten“ . In d er Inflation w ar es in allen L än d ern im
Bunde m it den U nternehm ern an d er Ausbeutung des Altbesitzes beteiligt.
In R u ß lan d zeigt d er Index, daß die P ro le ta rie r die herrschen de K lasse
sind. Die Parasitenexistenz des K apitalism us b eru h t au f etwas E in fach e­
rem , so daß n u r die V erliebtheit d er b ü rgerlichen Ö konom ie in diese
O rdnung erklären kann, weshalb dies n ich t im allgem einen B ew ußtsein
lebt. D er K apitalism us kann sich den K osten fü r die R eproduktion d e r
politischen O rdnungen entziehen, wenn e r im perialistisch ist. Deshalb ist
er im p erialistisch ! D a — anders als im Lehnw esen — dem E ig e n tü m e r
einer F ab rik erlaubt ist, n u r A rbeitskräfte n ach A rbeitsstunden zu bezah­
len, so m u ß die politische Instanz diese A rbeitsk raft fü r den R est ih res
W esens versorgen (Polizei, A rm enhäu ser, Sozialpolitik usw .). Also stü rzt
sich d er K ap italist au f M ärkte, deren politischer Status ihn .nichts angeht.
H ier kann er unterbieten, konkurrieren, W irtsch aftszu sam m en h än g e zwi­
schen Handwerk und L an d w irtsch aft z. B . zerstören . E r , d er frem de F a ­
brikant, h a t das ja nich t auszubaden.
N u r solange es noch solche M ärkte gibt, d eren A nw ohner p olitisch
d u rch andere Gewalten b etreu t w erden, kann das K ap ital akkum ulieren.
K apital und A rbeit sind nie allein: E in D ritte r spielt m it.
Die A usgebeuteten sind also in e rste r Linie die A ngehörigen der v o r­
kapitalistischen W e lt. D e r P ro le ta rie r ist n ich t als A rbeiter in d er F a b rik
ausgebeutet, so w enig wie ein ju n g e r B au ern soh n ausgebeutet w ird d a­
d u rch , daß e r beim M ilitär kapituliert. E r w ar ausgebeutet als E n te rb te r,
also soweit er aus einer deklassierten S ch ich t stam m te. E n te rb t ist er n ich t,
weil e r in d er F a b rik arbeitet, sondern weil und soweit e r die M ale <fes
E n terb ten in die F a b rik m it hineinnim m t. E in Blick a u f die „D eklassie-

395
ru n g “ d er neuen Angestelltenschicht beweist, w odurch sie sich verletzt
fühlen. Auch die Arbeitslosigkeit ist keine Ausbeutung d u rch den F a b ri­
kanten. Auch sie erinnert den P ro letarier n u r daran, daß die Fab rik ihm
aus der E n terb th eit n u r zeitweise einen Ausweg gewiesen hat, statt fü r
dauernd.
Die K rise, die den A rbeiter aufs P fla ste r w irft, fü h rt ihn zurück au f
seinen anfänglichen Zustand als P ro le ta rie r, dam als als e r zum erstenm al
ohne Produktionsm ittel dastand und Arbeit suchen m u ß te.
D as P ro leta ria t ist P ro letariat, bevor es Indu striearbeitersch aft w ird.
E s wird dazu d u rch den K apitalism us.
Die A rbeitersch aft aller europäischen Industrieländer h a t deshalb den
W eltk rieg m itg efü h rt, und die sozialistischen P arteien haben sich gegen
die Theorie dem fügen m üssen. Diese T atsache beweist, daß dies „ P ro le ­
ta ria t“ nich t das Ausgebeutete gewesen ist. M it „Z u fa ll“ kann m an diese
w eltgeschichtliche T atsach e nicht w iderlegen. Ausgebeutet w orden sind
die A rbeiter, soweit auch ihre R eproduktion n ich t bezahlt wurde. Aber sie
wurden es n u r als U n terfall d er Ausbeutung, die den R eproduktionsord­
nungen d er vorkapitalistischen W e lt w id e rfu h r; das H andw erk, das seine
Verdienste, d er B au er, d er seine Söhne, die katholischen L än d er E u ro p a s
und die F eu d alen , die T ürkei und Ä gypten, die ih ren G esellschaftsbau
nun finanzieren sollten, obwohl sie plötzlich in das Netz dieses „unpoli­
tisch en“ , d. h. fü r die R eproduktion d er Landesbew ohner nichts zahlenden
K apitalism us gerissen wurden, sind die Ausgebeuteten.
D as g rö ß te Beispiel ab er solcher A usbeutung einer vorkapitalistischen
W e lt ist — R ußland .

396
XVIII. D E R H A B SB U R G ISC H E V Ö L K E R S T A A T
UND D ER M IL IT Ä R S T A A T PREU SSEN

1. D ie deutsche Nation und die deutschen Großmächte


ch unterbreche hier die E rzählun g.
I D er D eutsche kann näm lich nich t einfach von R obespierre zu Lenin,
von 1 7 8 9 zu 1 9 1 7 w eitergehen. E r m u ß sich frag en , was die E rsch ü tte ­
rungen seiner eigenen G eschichte, die dazwischenliegen — Je n a und
A uerstedt, W aterlo o , i 8 4 8 , 1 8 6 6 , 1 8 7 0 usw. zu bedeuten haben.
N icht deshalb ist das notwendig, weil alle Totalrevolutionen ansteckend
wirken. D aß englische und französische Ideen au f ganz E u ro p a wirken,
das ist nichts Besonderes fü r die deutsche N a tio n ; allen Völkern in E u ro p a
sind diese R evolutionsström e zu g eström t und zugute oder zuleide gekom ­
m en. A ber die L än d er der deutschen R efo rm atio n m ußten d er englischen
und französischen Revolution einen besonderen T rib u t entrichten. Denn
die R eform ation hatte zw ar auch den politischen H orizont d er E u ro p ä e r
to tal umgewälzt.
A ber ih r Nam e ist noch n ich t „R evolution“ . Fürstenrevolu tion , die sie
ist, tr ä g t sie doch noch einen vorastronom ischen N am en. Sie h eiß t K ir­
ch en refo rm . Sie entnim m t ih re K ra ft n och n ich t d er äu ß eren „ W e lt“
d er G estirne und des Landes (wie E n g lan d ) oder d er „ N a tu r“ (wie F ra n k ­
re ich ). U n ter dem neuen „w estlichen“ W elth o rizon t m u ß te also die deut­
sche R eform ation noch „säk u larisiert“ werden. Z u säkularisieren, zu ver­
weltlichen g alt es das religiös-k irch liche V okabular d er „R eligion sp ar­
teien“ . Aus d er Sp rach e des christlichen Gewissens m u ß ten die R e ch te
der deutschen Landesherren übersetzt werden in die Vokabulare vom an­
gestam m ten G eburtsrech t einerseits (englisches V okabular), vom vernünf­
tigen N atu rrech t andererseits (französisches V okab ular).
Die wirkliche R efo rm atio n d e r R eligionsparteien w ar m ithin a u f re in
w eltlich-säkulare Potenzen zu überführen, um die besondere G estalt d er
deutschen N ation in d er neuen englisch-französischen W e lt zu erhalten.
E s handelt sich also h ier n ich t um eine N ach ah m u n g frem d er Vorbil­
der, sondern um eine w eltliche W ied erh o lu n g d er religiösen deutschen
Revolution selber.
In dieser w eltlichen W ied erh o lu n g w ird sich die N ation e rst der re in
p o litisch en Leistu n g ganz bew ußt, die sie in d er religiösen R efo rm m it
vollbracht hatte.
Die T rä g e r dieser zweiten, w iederholten, rein weltlichen deutschen F ü r ­
stenrevolution sind die sogenannten M ittelm ächte. Sie sind jene bloß säku-/
laren, astro n o m isch -n atu rh aften „P o ten zen “ , Puissances, m it denen das

3 97
europäische Gleichgew icht und die europäische Zivilisation im 1 8 . und
19. Jah rh u n d ert zu rechnen hatten.
W en n es trotz Napoleon und trotz der Ideen von 1 7 8 9 im 19. Ja h rh u n ­
d ert noch eine deutsche Nation gegeben hat, so verdankt sie ih r D asein
den zwei groß en M ächten Ö sterreich und P reu ß en .
Nach i 8 o 5 wäre D eutschland w eltgeschichtlich ein geograph ischer B e­
g riff geworden, die K lein- und M ittelstaaten w ären den Ideen von 1 7 8 9
erlegen. Die G rößenordnung des englischen und französischen Revolu­
tionsstaates üb erragte den italienischen Stadtstaat und den deutschen E in ­
zelstaat um ein Vielfaches. Aber P reu ß en und Ö sterreich — sie erhalten
die Nation im 1 9 . Ja h rh u n d e rt in d er W eltgesch ich te zwischen der fran ­
zösischen und der russischen Revolution. P reu ß en und Ö sterreich sind
M ächte. D as W o r t S taat in dem herköm m lichen Sinn d er deutschen R e­
form ationsobrigkeit em pfängt also einen Zusatz, den der „M ach t“ . D e r
deutsche M ittelstaat ist an sich ein m itte lg ro ß e r Zivilstaat, dessen welt­
liche O brigkeit aus d e r K irch en refo rm ih re Gewalt geistlich erh ö h t hat.
Die beiden G roß m äch te aber haben noch andere Quellen ih re r M acht, als
die der landeskirchlichen H errlichkeit. Neben dem , d aß sie die „V o r­
staaten“ d er katholischen und d e r protestantisch en P a rte i sind, sind sie
auch V orm ächte. D rei seltsam e Eigenh eiten zeichnen sie a u s:
1. Sie käm pfen um die „ V o rm a ch t“ in D eutschland. 2 . Beide besitzen
im Ja h r e 1 8 0 5 m e h r nichtdeutsches als deutsches Gebiet — die P re u ß e n
beherrschten W a rsch a u ! — 3 . Beide haben zwischen 1 7 7 8 und 1 9 1 8 n u r
vier W o ch en lan g ( 1 8 6 6 ) gegeneinander im Feld e gestan d en ! Sie sind seit
1 7 6 3 im wesentlichen friedliche und trotzd em leidenschaftliche Rivalen.
Diese „M ittelm ächte“ sind o ffen b ar eine E in h eit u n ter den W e ltm ä ch ­
ten. Die deutsche N ation ihrerseits h a t es m it beiden — und zw ar im m e r
gleich viel und gleich wenig — zu tun. Zwei R eiche haben von 1 8 0 5 bis
1 9 1 8 D eutschland in d er W eltgesch ich te m ä ch tig erhalten. D ie M ittel­
m ächte können n u r gem einsam gedeutet und verstanden w erden. An ih re r
D eutung aber h än gt die En tsch eid u n g über die Z u k u n ft/D e n n auch h eu t,
nachdem P reu ß en und Ö sterreich ih re nichtnationalen Gebiete verloren
haben, sind sie als die beiden g ro ß e n Staatsgebilde d er N ation noch im m e r
w irksam . Ein e N ation in zwei S taaten — das g ilt auch je tz t noch von den
D eutschen und unterscheidet sie von dem französischen Typus d er N ation.
Die w irksam e P o la ritä t der beiden G ro ß m äch te ist bereits in dem V er­
hältnis d er beiden R eligionsparteien angelegt. Sch on w ährend d er F ü r ­
stenrevolution von 1 0 2 5 bis i 5 5 5 fallen d er K aiser einerseits und d e r
däm onische M oritz von Sachsen andererseits aus den beiden F ro n te n ka­
tholisch und protestan tisch heraus. D er K aiser des R eichs verkörp ert
dann auch w eiterhin ein E lem en t, das von d e r G laubensspaltung n ic h t
ganz erreich t w erden kann. Und ein p ro testan tisch er G egenkaiser, ein T rä ­
g er der Schw ertgew alt, ein N ach folger des rein m achtpolitisch denkenden

398
M oritz, tritt ihm zunächst in H einrich IV . von F ran k reich gegenüber, d er
den Titel „R äch e r deutscher L ib ertät“ fü h rt, und hernach in dem Schwe­
den Gustav Adolf.
Aber erst nach dem Abschluß d er Fürstenrevolution im D reiß ig jäh ri­
gen K riege und w ährend „das alte R eich “ der R eligionsparteien seine
Klassik genießen d a rf, w iderfährt den beiden M ittelm ächten ih re „R e­
volution“ . Diese Revolution trä g t andere Z üge als die d er g roß en Natio­
nalum wälzungen. Sie w iederholt näm lich au f diesseitige, n atu rh afte, po­
litische W eise, was theologisch, ideologisch, religiös in d er R efo rm atio n
fü r die Nation geleistet worden ist. Als ein Akt w eltlicher W ied erh olu n g
ist sie fast rein tatsäch licher N atur. A ber ihre W irk u n gen sind trotzdem
m enschenform end und charakterum w älzend: D er P reu ß e und d er Ö ster­
reich er sind aus diesen Um w älzungen h erv o rg eg an g en : M aria T heresia
und F rie d rich d er Einzige sind die T rä g e r der Um w älzung. An Jo sep h II.
1 7 8 0 — 1 7 9 0 und an die K önigin Lu ise 1 8 0 6 — 1 8 1 0 knüpfen sich die
B ilder der D em ütigungsepoche.
In d er „R om an tik “ ab er finden die gedem ütigten M ittelm ächte die
K ra ft zu ih re r Leistu ng im 1 9 . Ja h rh u n d e rt fü r die deutsche N ation und
zu dem Ausklang von 1 8 6 7 — 1 9 1 4 , d e r ihnen vor dem W eltk rieg b e-
schieden worden ist. E n glän d er, R ussen, F ran zo sen und Italien reden
durchw eg in ihren G eschichtsdarstellungen fü r diese Z eit von einer deut­
schen H egem onie, einer germ anischen V o rh errsch aft. W en n sie auch n ich t
eigentlich nachw eisbar bestanden h at, so ist sie doch als solche em pfun­
den worden. D er Eind ru ck au f die W e lt g in g ab er aus von dem gleichzei­
tigen Dasein zweier K aisertü m er, zweier G ro ß m äch te, in W ien und B e r­
lin, die beide zusam m en d er deutschen N ation politische G eltung sicherten.

2. Österreich
Die K aiserstad t W ie n b eh errsch t die Z u g an g sstraß en ins D onautal von
weit h er. B öhm en und die A lpenländer gliedern sich geograph isch d u rch ­
aus sinnvoll um dies m ächtige Z en tru m . D o rt sitzt d e r S ch irm h e rr des
Reiches gegen die T ürken, d er K aiser, d er noch K a rls des G roß en K ro n e
trä g t; der in der Franziskanerku tte begraben w ird und n ach spanischem
Zerem oniell reg ie rt, das z. B . der K aiserin g etren n te G em äch er anw eist;
der K aiser, der am F ro n leich n am in d e r Prozession m itzieht und im
Kranz seiner L än d er auch die S tad t T rie st m it ih rem Podestä wie eine
Guelfenstadt besitzt, d er die böhm ische Lan deskirche m it gew altiger H and
refo rm iert nach 1 6 2 0 und aus landesherrlich er M ach t in den K alender
den 8 . D ezem ber (M ariä E m p fän g n is) als F e ie rta g eingesetzt h at, der hin­
wiederum in U n g arn stren g p arlam en tarisch m it den Ständen re g ie rt,
deren M agna C h a rta die Stefanskrone ist und die in ihren K om itaten als
Gentry schalten und walten, d e r K aiser, der dagegen seinen anderen Völ­
kern h öch st un aristok ratisch die liberale G rü n d erära und das d em o k ra-

s99
tische Wahlrecht geben wird im 1 9 . Jah rh u n d ert. Zu diesem K aiser flüch­
ten die hannoverschen W elfen und die französischen Em igran ten . E r h a t
Spanier, Italiener, Ruthenen und Ju d en , B elgier und Serben, B aschkiren
und R um änen in seinen Diensten. M aria-T heresien-T aler sind die Münze
des Orients, so sehr, daß sie für d o rt noch bis 1 9 1 4 g ep räg t worden sind,
obschon sie daheim längst außer K u rs waren.
D er K aiser — es ist halt d er K aiser, der In b eg riff des U niversalm onar­
chen. E r legt noch 1 9 0 3 bei d er Papstw ahl das Veto ein im Konklave
d u rch seinen K urienkardinal.
Aber er ist auch d er angestam m te Landesvater. M aria T heresia ru ft von
d er L oge aus ins B u rg th eater h e ru n te r: „D er Poldl h at an B u am und g rad
am B ind tag, an mein* H o ch zeitstag !“ Die Legende wollte durchaus das
Bild vor sich sehen, wie M aria T heresia 1 7 ^ 1 m it ihrem Söhnlein au f dem
A rm vor dem ungarischen Adel gestanden habe und wie die M agyaren
hingerissen von diesem Bilde ih r beigesprungen seien.
Und 1 9 1 6 h a t der letzte K aiser sein unm ündiges K ind den K erk er des
K arl K ram arcz und seiner tschechischen M itkäm pfer sich auftun lassen
in der M einung, die Tschechen dam it zu versöhnen. Zwischen diesen bei­
den, wenn auch n u r in d er Absicht, nich t in d er W irk lich k eit e rg reifen ­
den dynastischen Bildern — die K aiserin hatte ih ren Sohn nich t m it in
P reß b u rg , auf K ram arcz m achte das K aiserkind keinen Eind ru ck — spielt
die G eschichte Ö sterreichs. Denn Ö sterreich wird 1 7 4 1 zu Ö sterreich -
U n garn — und es ist zu En de in dem Augenblick, wo es die d ritte N atio ­
nalität, die Tschechen, endgültig neben D eutsche und U n garn stellen
m u ß . Von 1 7 4 1 bis 1 9 1 8 läu ft ein P ro z e ß , d e r aus Ö sterreich ein Ö ster­
reich -U n g arn , aus Ö sterreich -U n garn am En d e so g ar ein U n garn -Ö ster­
reich g em ach t hat.
H ier liegt sein S ch ick sal: D er In h alt Ö sterreichs ist, den m äch tigen
Schatz des K aisergedankens aufzuheben zur H u t E u ro p a s bis — n u r bis —
zum A ufbruch d e r Slawen.
Man h at von Ö sterreich m anches Sp rich w ort g ep räg t. D as bek an n teste:
,Bella g eran t alii, tu feiix A u stria nube‘, sei h ie r gleich politisch erhellt.
„A ndere m ögen K rieg fü h ren , du, glückliches Ö sterreich, fü h re die B r a u t
h eim .“ W a s h eiß t d a s ? E h en sind d u rch das gesam te W e lta lte r d er F ü r ­
sten p o litisch e Angelegenheiten gewesen. D e r Rat an Ö sterreich, zu hei­
raten statt K riege zu fü h ren , ist also ein politischer R at. Die E h e ge­
h o rch t ja d er P o litik ! Dies Gesetz ist fü r H absb urg verbindlich gew esen,
aber n u r bis zu F ra n z Jo se f. Schon seine F r a u , die K aiserin Elisabeth, h a t
die politische E h e d u rch ihre F lu ch t vor dem M ann w iderlegt. I h r Sohn
R u d olf h at aus Liebesleidenschaft sich selbst das Leben und d er D ynastie
die gesicherte T h ro n fo lge genom m en. Viele E rzh erzö g e, wie der be­
kannte Jo h an n O rth , sind d er politischen E h e — d er ebenbürtigen — ?en t-
ronnen. K ronprinz R ud olfs E rsatzm an n , d er T h ro n fo lg e r F ra n z F e rd i-

4oo
nand, h at endlich die unebenbürtige Tschechin, die G räfin Ghotek, ge­
heiratet und dam it das Geheimnis des H auses H absburg zerstört. Denn
dieses H aus konnte eben gerade k raft der politischen H eiraten niemals in
die P arteiu n g der N ationalitäten h eru n tergezerrt werden. E s gab ja keine
ebenbürtigen tschechischen, ungarischen, österreichischen Fam ilien. Die
politische E h e w ar also fü r die D ynastie allerdings der P reis ih re r E r ­
habenheit über den Völkerzwist! Die d u rch das O pfer der L egitim ität
gesicherte Erbfolge im K aiserhause w ar d u rch den Einbruch d er Leiden­
sch aft also bereits vor dem W eltk rieg zerstört. Aber längst und im m er ist
die E rb folge „ d a s ' österreichische Problem . Deshalb ist das Gesetz, m it
dem die österreichischen Schulkinder am m eisten geplagt w urden, die P r a g ­
m atische Sanktion gewesen. B is 1 9 1 8 w ar dies Gesetz von 1 7 2 3 die F ib el
ih rer G eschichtsstunde! Denn d u rch dies Gesetz w ar die E rb to ch te r K ai­
ser K arls V I., M aria Theresia, N achfolgerin fü r alle Erblande, trotzdem
sie n ich t röm ischer K a iser w erden kon nte. M aria T heresia, „die erste
H absburgerin, welche das R eich über die Provinzen, den S ta a t über die
Stände, das Ganze über die Teile setzte“ , w ar zugleich der erste H errsch er,
dem die röm ische K aiserw ürde als F r a u — m angelte. D as fü h rt zu r U m ­
wälzung.
D as „R eich “ , also eine religiös-geistig-geistliche M acht, rein d u rch E rb ­
re ch t zu erhalten — das ist das besondere U n terfangen Ö sterreichs. E s
ist ein rein er Erhalterstaat infolgedessen g ew ord en : Die E rb to ch te r w urde
K aiserin d er Erbland e. Aber sie m u ß te die äuß erlich gleichbleibende
H errsch aft innerlich neu fundieren. D as W esen dieser F undam ente h a t M aria
T heresia zwei O pfer gekostet, an denen Ö sterreich zugrunde gegangen ist.
M aria T h eresia verliert Schlesien an P re u ß e n und die absolute F ü rs te n -
gew alt des R eform ation sstaats an U n garn . Denn diese O pfer haben fü r
im m er Ö sterreich die K ra ft genom m en, der deutschen Nation R eich s-
grenzw acht in vollem A usm aß zu bleiben. D er W e g fa ll Schlesiens löste
die U m klam m eru ng d e r T schechen m it deutschen Erbland en. D ie schm ale,
n u r 8 5 km breite P fo rte nich t-d eu tsch er Siedlung im O sten M ährens be­
kam nun die Gewalt, den T schechen die R egen eration zu erm öglichen. D er
W eg fall Schlesiens h at die D eutschen in Ö sterreich m inorisiert. D er
gleichzeitige V erlust d e r teutschen L ib ertät als F ü rstin den U n garn gegen­
über verhinderte die V erschm elzung d er E rbland e. Aus des deutschen
K aisertum s Erbland en O ber- und N iederösterreich, B öh m en , U n garn , T i­
rol, G örz, G radiska, S teierm ark , K rain , K ärn ten , N iederlanden, E lsa ß ,
B reisgau , V orderrhein, B regenz, Istrien und T rien t, D alm atien, Illyrien,
Slovatien, Slawonien und R am a, Siebenbürgen und Galizien, Venetien, d e r
Lom b ard ei und d er freien S tad t T riest, die der L an d esherr frei regieren
konnte, aus diesen Erb lan d en des K aisers w urde 1 7 4 1 in den H änden d er
E rb to ch te r zuerst d e r L än d erstad t Ö sterreich -U n g arn , der V ölkerstaat und»
N ationalitätenstaat. P re u ß e n und U n g arn haben 1 7 4 1 die W an d lu n g d er

26 Hosenstock 4o i
römischen U niversalm oaarchie Habsburg in eine bloße Donaumonarchie
in L au f gesetzt.
Die Türken Auch hier aber finden w ir ein älteres erregendes M om ent. i 6 8 3 stehen
die Türken vor W ien, gem einer Christenheit Erbfeind. Die deutsche Na­
tion zittert. Seit der R eform ation hatte sie sich abgestum pft gegen die
T ürkenopfer. Sie h at zuletzt gem einsam 1 6 2 9 die Türken vor W ien ab­
gew ehrt. Dann kam die G laubensspaltung. Je tz t, i 6 8 3 , wird es noch ein­
m al ganz e r n s t: W en n W ien fällt, ist d er Schrecken des D reißigj ährigen
K rieges noch einm al und viel hoffnungsloser zu erw arten. „D ann wird
alles türkisch oder fran zösisch.“ W ien fällt nicht. E s wird g erettet du rch
den Polenkönig Jo h a n n Sobieski und den H erzog K a rl von Loth rin gen ,
den G roß vater F r a n z ’ I. (des Mannes der M aria T h eresia), den U rg ro ß ­
vater Josep h s II. H absburg siegt als katholische V orm ach t. D er K aiser ist
noch einm al d e r V orkäm pfer der ganzen C hristenheit. Ludw ig X IV .
schließt sich vor G rim m über den E n tsatz W ien s drei T age vor jederm ann
ein. „Seitdem h atte Ö sterreich eine ganz andere G rundlage als frü h er.
Sonst wurden alle K riege in U n garn von deutschen H eeren g e fü h rt, und
m an sagte, alle dortigen Flü sse seien m it deutschem B lute g e fä rb t; jetzt
erschienen die U n garn als d er K ern d er österreichischen H eere in den
deutschen K rieg en .“ D ie Linie Linz*— W ie n — P e st— B elg rad w ird d u rch
das Erlebnis von 1 6 8 3 als eine unlöslich einheitliche festgelegt.
U n ter dem E in d ru ck des Sieges, 1 6 8 7 , verlangen die befreiten U n garn
m it Ö sterreich dauernd vereint zu bleiben. Die K ro aten , Serben, Slowaken,
R um änen und D eutsche ihrerseits blicken au f W ie n als S ch irm h errin
gegen die ungarische A delsherrschaft.
Ö sterreich w ird zu etwas B esonderem ausgesondert d u rch die B efrei­
ung d er den Türken entrissenen Gebiete. W ie es ein besonderes Gebiet, die
M ilitärgrenze gegen die Türken, organ isierte, so ist auch sein S taatsrech t
eine F r u c h t d e r Türkensiege. Stück fü r Stück verlor es seine w estdeut­
schen B esitzu n gen : E lsa ß , B reisg au , F ric k ta l, B elgien usw. U m so m e h r
stützte es sich auf die V orlande gegen den T ürken. *
1687 hatten die U n garn dauernd Z usam m enh alt m it den B efreiern ge­
fo rd ert. N icht das E rb re ch t, sondern die m ilitärische Leistu n g w ar fü r sie
d er W e r t ih re r V erbindung m it den anderen K aiserlanden. 1 7 1 8 und
1 7 2 0 will d e r K aiser die E rb fo lg e d u rch die P ra g m a tisch e Sanktion sicher­
stellen. Die U n garn setzen bereits in d er u n garisch en A u sfertigung des
berüh m ten G rundgesetzes Ö sterreichs d u rch , d aß ihnen m aterielle Sich er­
heit, W affe n h ilfe fü r diesen V erzicht au f ih r K önigsw ah lrech t gelobt
werde. Alle andern Erbfeinde des K aisers w erden also hier bereits von den
U n garn als die T rä g e r d er m ilitärischen G egenleistung angesehen. Von
U n garn aus gesehen sind bereits dam als alle anderen L än d er des K aisers
ein einziges M ajo rat, a u f das eine Hypothek fü r sie, die U n g arn , ein­
g etrag en w ird !

402
1 7 4 1 kom m t es dann zu einer O ffenlegung d er T atsache, daß ein
Bündnis des H errsch ers m it dem ungarischen Adel der M otor in der H er­
ausentwicklung H ahsburgs aus dem R eiche für zwei Jah rh u n d erte ge­
worden ist.
Die dreiundzw anzigjährige K aiserin M aria T heresia m u ß in das m ili- Maria Theresia
tärisch ihren westlichen Feinden n ich t leicht zugängliche U ngarland
flüchten. Aus dem Türkenkriegglacis ist das Z ufluchtsland Hahsburgs ge­
worden ! Dies ist die W ende. F o rta n wird ein E lem en t Ö sterreichs, w ird
Ungarn das Haus H absburg aus dem alten R eich d er deutschen K aiser
herausziehen! Die K aiserin m u ß den U n garn ihre alten Privilegien, dem
Ständestaat die Steuerfreiheit, dem Adel das eigene R ech t bestätigen. Sie
kann anders als in den Einzelstaaten des alten R eiches in U n garn den
W eg nicht beschreiten, d er über den Ständestaat h in au sfü h rte! Ranke hat
von diesem Augenblick H ahsburgs g e sa g t: „D ie A btretung von Schlesien
und die F reih eiten d er U n garn sind d er P reis, welchen dieses Haus ein­
setzte, um sich vor d er In v a s io n ............ zu re tte n .“ D ie Invasion hatte i n ­
zwischen dem R öm ischen R eich einen W ittelsb ach er (von 1 7 4 2 — 1 7 4 5 )
zum K aiser gesetzt. In dem österreichischen E rb folgek rieg liegt die Zeit
der entschiedenen B ildung des neuen österreichischen Reichsgedankens.
M aria T heresia h at ih r R eich bei einer K oalition des R eiches, P reu ß en s
und F ran k reich s aus eigener K ra ft verteidigen können d u rch den m o ra ­
lischen R ückh alt — m ilitärisch leisteten sie wenig — d e r U n garn . D am it
schlägt n atu rg em äß die G eburtsstunde eines neuen Staatsw esens. D enn
es trennen sich d u rch das bayrische K aisertu m zum ersten M ale einen
Augenblick das R eich und Ö sterreich. D e r m oralische R ü ck h alt d er
K aiserkrone m u ß ersetzt w erden. Die U n g arn bieten ihn m it ih rem be­
rühm ten R u fe : „V ivat M aria r e x ! W i r weihen d ir unser Leben, unser
B lu t!“ D er A u gsburger K u p ferstech er G. B . Göz stach dam als ein B ild,
auf dem ein u n garisch er H u sar seiner K önigin hu ld igt und diese bek ennt:
„W en n deine R ech te sich fü r m ich w affnet, M aygar, rau b t mir kein Un­
glück den R eichsapfel m einer K aiserw ürde.“ Aber M aria Theresia m u ß te
sich zu einer B eteiligung d er U n g arn an der R eich sreg ieru n g verpflichten
ohne Wechselseitigkeit. D . h. die U n garn verlangen im R eich m itzureden,
verbieten aber dem R eich , bei ihnen zu reg ieren . S ch on h ie r o ffen b art sich
der Gedankengang, den Andrässy 1897 so fo rm u lie rt h a t :
„U n garn ist n ich t deshalb G ro ß m a ch t, weil seine H ilfsquellen reich er
smd als diejenigen seiner N achb arn , sondern d aru m , weil es seine Exi­
stenz n u r so zu sich ern verm ag. E s is t n ich t deshalb G ro ß m ach t, weil es
stark, stärker als seine N achbarn ist, sondern es m u ß sich K ra ft ver­
schaffen, um eine G ro ß m a ch t sein zu können. W e n n es die O pfer allein
bringen m ü ß te, w ürde es dieselben n ich t erschw ingen können.“
Also der ungarische Adel g e ru h t m it den anderen L än d ern d er Habs­
burger K rone in Verbindung zu treten , weil e r d ad urch eine ihm u n erläß -
26* 4o3
liehe, vor allen Dingen m ilitärische und finanzielle Z usatzkraft für seine
beschränkten Mittel gewinnt, gegen Türken, R um änen, Slawen usw.
E in M angel an eigener K ra ft fü h rt dies so artfrem d e Volk von Osten
m it den Deutschen unter Habsburger Z epter zusam m en, die von W esten
h e r dieses Ö sterreich gebaut hatten.
Von 1 7 Ä 1 — 1 7 4 5 verläuft diese innere Revolution des H absburger
R eiches. 1 7 8 6 — 1 7 9 0 o ffen b art sich die T ragw eite in einer beispiel­
losen D em ütigung des „M ärtyrers“ des österreichischen Reichsgedankens,
im U n tergang Jo sep h s II.
Überhebung 1 7 8 6 stirbt M aria Theresias G egner F rie d rich , d er ih r Schlesien g e-
und Fan nom m en Jo sep h II. glaubt K aiser d er D eutschen N ation und Ö sterreich-
U n garns zugleich sein zu können. In fieb erh after Eile — e r ist n u r
4 9 Ja h re a lt gew orden — hatte e r seit 1 7 8 0 sein R eich zentralisiert und
refo rm iert. E r fü h rt in U n garn D eutsch — statt L a te in ! — als S taats-
Sp rach e ein, er hebt das Steuerprivileg des Adels auf. E r ä rg e rt die un­
garischen P ro testan ten d u rch sein „T oleran zp aten t“ , das aus ihren gesetz­
lichen Freih eiten Toleranz m acht.
E r w irkt gleichzeitig im R eich als d er „d eu tsch e“ K aiser. D alberg,
Schillers G önner, ru ft 1 7 8 7 aus (a u f fra n z ö sisch ): „O h, d aß ich tausend
Stim m en h ätte, den D eutschen diese W o rte ihres K aisers zu w iederholen,
d aß er die D eutschen liebt und stolz d arau f ist, ein D eu tsch er zu sein !*
Diesem von den D eu tsch-Ö sterreich ern wegen der E in h eit vom „R eich
d er D eutschen“ und „Ö sterreich “ bis heut vergötterten Jo sep h I I. aber
m iß lin g t alles. „Als e r die alten V erträg e über die S ch eld esch iffah rt m it
den H olländern lösen wollte, m u ß te e r als rö m isch e r K aiser die Beleidi­
g u n g seiner F la g g e d u rch das stolze kleine N achbarvolk hinn ehm en.“
Seit 1 7 8 7 ist Belgien in blutigem A u fru h r. Die N iederlagen im türkischen
K rieg von 1 7 8 8 erregen den W id erstan d der U n garn . Die K o m itate w er­
den aufsässig. Am 2 8 . J a n u a r 1 7 9 0 m u ß Jo se p h II. fü r U n g arn alle
V eränderungen seit 1 7 8 0 w id erru fen ! N un reg en sich auch die B öh m en
und T iroler. Jo sep h I I. ist m it den W o rte n g e sto rb e n : „ Ic h will ihnen j a
alles geben, was sie verlan g en ; n u r m ögen sie m ich ru h ig ins G rab steigen
lassen.“
D am it ist d er josephinische T ra u m von d er n och m öglich en Iden tität
des alten röm ischen K aiserstaats und d er neuen D onaum onarchie aus­
g eträu m t. F ra n z I. d a rf kein G efühl m e h r f ü r D eutschland haben. E r
wird d er erste K aiser von Ö sterreich. Leopold, Jo sep h s B ru d er, gibt es
den U n garn sch riftlich , d aß sie ein freies L an d und k ein e P rovin z seien
(„n o n ad n o rm a m aliaru m p ro v in ciaru m “ ). D er K aiser, d e r f ü r seine
Erb lan d e bis dahin in d er K aiserkrone eine V erstärk u n g gefunden h atte,
findet diese V erstärk u n g jetzt um gekehrt n u r, wenn e r m it den u n gari­
schen Landständen zusam m engeht.
Die U n g arn bleiben steuerfrei. Als Jo se p h II. an diesem P riv ileg r ü t-

4o4
teln will, verliert er fast die K rone, und sein B ru d er Leopold m uß neue
Freih eiten zugestehen, um die U n garn zu beruhigen. Die Steuerfreiheit
m ußte zwar i 8 4 8 vom Adel geo p fert werden, aber d u rch die günstige
Quote im Ausgleich von 1 8 6 7 wurde dieses finanzielle Entgegenkom m en
anderweit w ettgem acht.
Die U n garn haben als christliches Grenzvolk m it einer Zähigkeit die
R echte der Stefanskrone gegen K aiser und P ap st, gegen den Z aren von
R ußland und den B an von K roatien durchgesetzt, die staunensw ert ist.
Die ungarische Staatskirche z. B . h at ih er Privilegien aus dem Ja h re 1 0 0 1
behalten, in unerhörtem U m fan g , den das P ap sttu m m it einer Schein­
form im i 5 . Jah rh u n d e rt um gab, um die den Investiturstreit ignorieren­
de R echtslage m it dem allgem einen K irch en rech t wenigstens form ell aus­
zugleichen.
Die U n garn haben den Bund m it d e r K rone gegen Ö sterreich bis in
die Kleinigkeiten betont. F ü r den S taat zahlten sie nur 3 o 0/0, aber an die
Zivilliste des H errsch ers zahlten sie 5 o 0/0! Sie hatten einen M inister am „
königlichen H oflager „u m die P erso n der M ajestät“ oder „M inister a la­
tere“ , d u rch den sie einen V orsp ru n g vor allen anderen Völkern betonten
und das Residieren des H errsch ers in W ien w ettm achten (eine Abwesen­
heit, die ihnen übrigens fü r das freie Ständeregim ent in den eignen K o m i-
taten n u r rech t w ar). Sie erreich ten es, daß d er K aiser d er V ölkerm onar­
chie im Ja h r e 1 9 0 3 d reiß ig dalm atinische und istrianische Abgeordnete
nicht in Audienz in B udapest em pfing I
Mit alledem verwandelten sie den weiland K aiser des Heiligen R ö m i­
schen R eichs, Apostolischen K ön ig von U n garn und B öhm en, von D alm a­
tien, K roatien, Slawonien, Galizien und Lodom irien , R am a, Serbien, R u ­
m änien und B ulgarien , von d er Lom bardei, von Venedig, Illyrien und
Jeru salem , E rzh erzo g von Ö sterreich, G roß h erzo g von H etrurien, H erzog
von L o th rin g en , Salzburg, von der Steierm ark , von K ärn ten , K rain , G ro ß ­
fü rst von Siebenbürgen, M arkgrafen von M ähren, H erzog von O ber- und
Unterschlesien, Oswezinien und Z atorien . Teschen, F ria u l, R agu sa, G ra f
von H absburg, T iro l, K yburg, G örz und G radiska, F ü r s t von T rien t und
Brixen, M ark g raf der L au sitzer und von Istrien , G ra f in B regenz, H e rr
von T riest, C atta ro und der slavonischen G renzm ark — , S ch ritt fü r S ch ritt
‘ in einen englischen K önig in P arliam en t. D ieser Adel reg ierte d u rch ihn
hindurch, teils die ungarischen Nebenländer wie K ro atien , teils zwei D rit­
tel N ichtm agyaren U n garns, teils aber die gesam te D onaum onarchie.
Von außen die goldene, uralte, karolingisch-an tik angestrichene K aiser-
m ach t, von innen das K u p fe r eines p arlam en tarisch en K önigs der Stefans­
krone — das ist d er A usgang H absburgs.
Am Sch lu ß , 1 9 1 8 , w aren die K en n er dieses R eich s einm ütig d er An­
sicht, d aß es von U n garn aus re g ie rt w erde. S ch üssler schrieb 1 9 1 B vor
dem Z u sam m en b ru ch :

4o5
„Aus Österreich-Ungarn ist im Lauf der Zeiten ein Ungarn-Österreich
geworden, ein G roß u n garn von einer Bedeutung, wie es 1 8 6 7 auch der
g rö ß te m agyarische Chauvinist nich t in seinen kühnsten T räu m en gesehen
hatte. D er m agyarische Stam m , nich t m eh r als 1 9 o/0 d er Bevölkerung
des H absburgerreiches, leitet, selber eine M inderheit im engeren U n garn,
völlig souverän die Geschicke eines Fünfzig-M ilhonen-Reiches.‘‘
Schon 1 8 9 7 ^ eulel ein zur D iskretion genötigter Politiker, d er jü n g ere
Andrässy, diese V o rh errsch aft U n garns an, wenn e r s a g t: „D as Gesetz
von 1 8 6 7 (d er „A usgleich“ ) ist ursprün glich eine ungarische Konzeption
gewesen, in Ö sterreich ist es n u r d u rch den entschiedenen Ausdruck des
kaiserlichen W illens zu r G eltung erhoben worden. Auch heute wird es
nur d u r th diesen au frech t erhalten.“
Aber bereits d er ältere Andrässy, d e r berühm te F re u n d B ism arcks,
hatte einm al vertraulich zugegeben: „ D e r Ausgleich von 6 7 sicherte U n­
g a rn im V erhältnis von 3 o 0/0 zu den gem einsam en L asten ein A usm aß
von 7 0 0/0 an R ech ten .“
Die V erfassung Ö sterreich -U n g am s beruhte also au f der Einigkeit zwi­
schen dem F ü rste n und U n garn. W a re n diese beiden einig, so konnte in
Ö sterreich (zuletzt m it dem berühm ten A usnahm eparagraphen i 4 ) re ­
g iert w erden, sonst nicht.
Dies eigenartige V erhältnis verhinderte noch im W eltk rieg jede R eichs­
refo rm . Obwohl alle ungarischen N ationalitäten, die R um änen, D eutschen,
Slowaken, R uthenen, Serben und K ro aten , Stam m esb rü d er in den übrigen
L än d ern d er M onarchie hatten, m u ß te noch d er letzte H ab sb u rger vor
dem un garisch en, diese N ationalitäten unterdrückendem S taatsrech t zu­
rückw eichen. „D ie 1 0 0 0 0 0 Edelleute U n g a rn s“ hatten die E in h eit des
H absburgerreiches unm öglich gem ach t. An U n garn ist es gestorben. Aber
der S taat stirb t eben an denselben K rä fte n , die ihn erbaut. Ö sterreich ist
von U n garn h e r in seinem besonderen W esen von A nfang gestaltet w or­
den. Man m u ß also sa g e n : Von U n garn h a t es gelebt und an U n garn ist es
gestorben.
Böhmen Das Glück d e r U n g arn w ar stets das U nglück d er B öh m en und um ­
gekehrt. A uch hier sind w ir an d er B ru ch stelle, an d er die deutsche R e­
fo rm atio n übergreifend Ö sterreichs Schicksal bestim m t hat.
N u r das K aisertu m des Abendlandes, das eine zentrale und eine univer­
sale A ufgabe h atte, d u rfte die B öhm en dem R eich s- und K irchengedanken
au fop fern . 1 6 2 7 h atte d e r K aiser den b erüh m ten „M ajestätsb rief“ d er
böhm ischen Stände eigenhändig zerschnitten. Die h u ssitisch -p rotestan -
tische Bew egung w ar erstickt. 3 5 0 0 0 P ro testan ten w anderten aus B ö h ­
m en aus. D as „H erk o m m en “ des Landes w urde vernichtet. W ie Savona­
ro la in F lo ren z als V o rläu fer L u th e rs, wie die P a rise r K o m m u n e von
1 8 7 1 als V o rläu fer d e r Bolschew ik! gew ertet w erden m u ß , so ist das
böhm ische S tän d erech t und die E insetzung eines W ah lk ön igs in d e r P e r -

4o6
son des K u rfü rsten von der Pfalz ein V orläufer der Adelsrevolution in
England. D er böhm ische A u fru h r sch eitert wie die K om m une von P a ris
und wie Savonarola in Floren z nach dem Gesetz, daß dem Lande einer
großen Revolution die nächste Revolution erspart bleibt. Aber d u rch die
ungarische F reih eit verschiebt sich die L a g e fü r die Böhm en. M it dem
Ja h re 1 7 4 1 beginnt die V ernichtung d er böhm ischen Landesrechte zum
U n recht zu werden. W a s dem K aiser re ch t ist, das ist einem beliebigen
Einzelstaat nicht billig. Indem die U n garn sich neben die österreichische
Länderm asse stellten, zerstörten sie deren G rundlage.
Als 1 9 1 5 d er K aiser von Ö sterreich zugestand, Ö sterreich sei n u r ein
Name fü r die L än d er seiner K rone außerhalb d er Stefanskrone, als d er
kaiserliche D oppeladler ersetzt w urde (d u rch H andschreiben vom 1 1 . Ok­
tober 1 9 1 5 ) du rch ein Doppelwappen aus D oppeladler und ungarischem
W ap p en , da w ar das G eheim nis d e r österreichischen Existenz zu
Ende. Ö sterreich h at aus d er Spannung zwischen dem H eiligen R öm ischen
R eich am R hein und der Stefanskrone in B u d a-P est seine K rä fte gezogen.
Als die U n garn das G eheim nis nich t m e h r bew ahrten und in keiner H in­
sicht m eh r Ö sterreicher sein wollten, w ar es zu Ende.
Die Abdrängung des E rb h e rrn d eu tscher Einzelstaaten in die L a g e des
englischen Adelskönigs, das ist Ö sterreichs W e g . Ö sterreich h a t eine An­
leihe bei d er englischen Revolution aufgenom m en, um sich zu fristen.
W ir werden sehen, daß P reu ß en eine ähnliche Anleihe in der F re m d e auf­
nehm en m u ß , näm lich bei den Prinzipien d e r F ra n z o se n ! Die beiden
G roß m äch te ruhen nich t rein au f den G rundsätzen der Revolution des
fürstlichen ,deutschen* Ja h rh u n d e rts, sondern benötigen die Prinzipien
der folgenden Revolutionen. E b en d ad u rch kam aber Ö sterreich ins U n­
rech t den B öhm en gegenüber.

3. D er Preußische Staat
1 8 0 6 lä ß t F o n tan e die B erlin er O ffiziere p ra h le n :
„D ie W e lt ru h t n ich t sich erer au f den Schultern des Atlak als d er preu­
ßische S taat auf seiner A rm ee.“ U nd B ism arck s letztes W o r t an den letz­
ten K ön ig von P reu ß en la u te te : „Solange M ajestät dieses O ffizierkorps
haben, solange können Sie sich alles erlauben.“
Seit dem J a h r e 1 7 1 9 begann. K ön ig F rie d ric h W ilh elm I. als erster
F ü r s t stets U n ifo rm zu tragen . D enn d e r K ö n ig von P re u ß e n m üsse, so
hatte er schon 1 7 1 3 gesagt, sein eigener G eneralfeldm arschall sein. „D as
wird dem K ö n ig von P reu ß en auf h elfen .“
Seitdem gibt es den M ilitärstaat P re u ß e n als ein besonderes W esen. Im
J a h r e 1 7 8 9 sch reib t ein ausländischer B eo b ach ter über dies P h ä n o m e n :
„D ie m odernen E u ro p ä e r haben das M ittel gefunden, sich gegen den D es­
potism us des H eeres zu r W e h r zu setzen, indem sie es in R eg im en ter
teilen, au f eine g ro ß e Z ah l von G arnisonen verteilen, keine lebenslang-
liehen F ü h re r den Divisionen, die aus m ehreren R egim entern bestehen,
vorsetzen. Seit dieser E in rich tu n g hat kein H eer die R uhe des Staats ge­
stört noch irgendeinen D espotism us ausgeübt, weder auf den F ü rste n als
den F ü h re r des H eeres noch auf das Staatsvolk. Vielleicht m uß m an P reu ­
ßen ausnehm en, sobald die G arnison der königlichen Residenz sehr stark
bliebe oder der K ö n ig kein K riegsm an n w ä r e T (G ondorcet I X , 167.)
W eshalb nim m t C ondorcet P reu ß en a u s? In der T at h at im W eltk rieg
m ilitärischer D ruck die Politik bestim m t. D er Preuß enkönig w ar 1 9 1 4
kein K riegsm ann. E r hat 1 9 1 4 praktisch abgedankt. Indessen die Mobil­
m achung der österreichischen A rm ee En de J u li 1 9 1 4 schien nich t rü ck ­
gängig zu m achen. Sie m u ß te „eine G enugtuung“ erhalten. D en E in ­
m arsch in Belgien hielt der deutsche K anzler „ fü r eine Sache des Mili­
tä rs“ . Ohne jede K enntnis der V erfassung riet ein p reu ß isch er General
1 9 1 8 dem H errsch er, als K aiser abzudanken und als K önig von P reu ß en
zu bleiben, und diese Ahnungslosigkeit gab den Ausschlag. Die K abinetts­
regieru n g w ar seit i 8 4 8 beseitigt, das M ilitärkabinett aber w ar geblieben.
Die Ernen nungen im H eer erfolgten ohne G egenzeichnung des V erfas­
sungsm inisters. Auch 1 9 1 3 h at in d er A ffäre von Z abern d er K aiser ein
dem S tatth alter gegebenes K aiserw ort au f das D rängen der M ilitärs nich t
eingelöst.
W o h e r diese Besonderheiten ^
Im Ja h re 1 7 4 0 zählten Ö sterreich 1 0 0 0 0 0 Soldaten
R u ß lan d ißoooo „
F ran k reich 1 6 0 0 0 0 „
P re u ß e n 80 000 „
1 7 4 1 w aren es so g ar in P reu ß en bereits 1 0 0 0 0 0 M ann g ew o rd en ! D abei
w ar P reu ß en an F läch e d er zehnte, an Bevölkerung der dreizehnte S ta a t!
Aber im M ilitär stand es an vierter Stelle. D a w ar der kühne S a tz : „ D e r
preußische S taat ist ein H eer m it einem Volke“ , nich t ohne Sinn. 1 7 5 6
hatte P reu ß en so g ar 1 5 o 0 0 0 M ann bereit bei 4 ,1 M ilhonen Einw ohnern.
F ran k reich unterhielt dam als bei über 2 0 M illionen Einw ohnern nu r
gleichviel Soldaten. Dieses selbe P re u ß e n aber hatte hu n d ert J a h r e vorher
das jäm m erlich ste Heerwesen aller deutschen Stände. W ir wissen schon,
d aß R ückständigkeit die G rundlage der Revolution ist. „V ielleicht in kei­
nem deutschen Lande w ar dam als die W eh rv erfassu n g in einem so tra u ­
rigen Zustand wie unter G eorg W ilh elm ( 1 6 1 8 — 1 6 4 o ) von B ran d en ­
burg. Als d er K u rfü rst einm al den ritterlich en H eerbann aufbot, fü gte
er h in z u : „Sie sollten dies fü r keinen Scherz h a lte n !“ (W eb er)
Aber dies w ehrlose L an d h a t bereits i 6 4 8 am En d e des g ro ß en K rieges
ein Gebiet von 1 1 0 0 0 0 Q uadratkilom etern inne, das sind fast sechsm al
soviel als d er d u rch schn ittliche deutsche Einzelstaat d er R efo rm atio n . An
G röß e k o m m t es gleich n ach dem H absb urger Besitz. Dies G ebiet d a rb t
der O rganisation. E s m u ß zerfallen oder über sich hinauskom m en.

4o8
B randenburg ist die ungelöste G ebietfrage, die der Friedenssehluß von
1 6 4 8 aufgibt.
U nm ittelbar nach 1 6 4 8 wird daher K urbrandenburgs G eschichte „in - Die Grenzen
teressant“ . i 6 5 3 sichert sich d er g ro ß e K u rfü rst eine neue O rdnung
im R eich, 1 6 6 0 eine solche außerhalb. E r sch afft sich in P reu ß en au ß er­
halb des Reichsverbandes und frei von Polen eine souveräne M acht, und er
zwingt den m ärkischen Ständen gegen A uslieferung der B auern ein ste­
hendes H eer — zunächst auf sechs J a h re — ab. E s ist die Zeit, wo ein
stehendes H eer als Beschim pfung der Stände gilt (m an denke an die Ent­
lassung des englischen H eeres 1 6 6 0 ) , aber e r — sagt der K u rfü rst —
habe nun einm al die B ehauptung seines Landes in die W a ffe n gesetzt.
So bedroht wie §r sei kein and erer deutscher F ü rst. Die benachbarten F ü r ­
sten hätten keine fernen Provinzen zu gewinnen oder zu verlieren so wie er.
Denn dieser F ü r s t h a t n u r Grenzen. Von F ran k en , am F ich telgeb irge,
ausgegangen und in die M ark B randen burg gekom m en haben die H ohen-
zollern außerdem 1 7 4 0 inner P reu ß en im fernsten N ordosten, dann die
Ostseeküste, dann O stfriesland, also die E m s, dann Kleve, Jü lich B e rg und
W estfalen, auch die G renzw acht der Schw eizer Eidgenossenschaft gegen
Ludw ig X IV . haben sie übernom m en in der G rafsch aft N eufchatel. D as
ganze R eich ist also d er Schauplatz ihres W irk en s in all diesen L än d er­
fetzen.
Und das ist die revolutionäre Situation, die den P re u ß e n die E rb sch a ft
des H erzogs M oritz von Sachsen und G ustav Adolfs von Schweden auf­
zwingt — das Schw ert der protestantischen Einzelstaaten zu werden.
Schon im Ja h re 1 7 4 0 w ar d aru m w irksam , was T reitschke von 1 8 1 5
sa g t: „ E s gab fo rtan kein deutsches Interesse m eh r, das den preuß ischen
Staat nich t im Innersten berührte. E r besaß kein D o rf anders als m it der
Z ustim m ung des gesam ten E u ro p a s.“
E r w ar also kein Binneneinzelstaat m eh r.
D u rch die Stärke seines H eeres aber nahm e r einen anderen Z ustand Das Heer
d er D inge vorweg. H eere kosten Geld. D ie überm äßigen Aufgaben fü r das
H eer bedeuteten also eine Spekulation au f die Z ukunft, eine Kapitalinvesti­
tion. U n ter F rie d rich W ilhelm I. tr ä g t diese Investition ganz den C ha­
rak ter, den w ir bei jungen Industrien k en n en : F ü r die neue M aschinerie
gibt d er K ön ig U nsum m en aus und w endet das Geld au ch an solche Ele­
mente, die sich sp äter also unw ichtig erweisen. F ü r den A nfang ab er
stellen gerade diese unwesentlichen E lem en te w ertvolle Sym bole dar. So
erklären sich die M illionen T aler, die fü r die „langen K erle“ h eraus­
gew orfen wurden von diesem sparsam en, ja knickerigen Verwalter. D as
stehende H eer von 1 7 4 0 , in langen Jah rzeh n ten a u f gebaut, langsam den
einzelnen R egim entsobersten entrissen, noch zu einem D rittel aus „fre m d e n “
d. h. nich t zollerischen U n tertanen re k ru tiert, mit einem O ffizierskorps,
dessen E h rb eg riffe d er K ö n ig n ach spanischem R itterordensvorbild zu
form en sich bem ühte — dies preußische H eer nahm den Tag vorweg, an
dem in seine Grenzen auch das entsprechende Gebiet eintreten w erde.
„W äh ren d in Ö sterreich alles s c h la ff war, w ar in P reu ß en alles stra ff.
In P reu ß en galt d er Soldat alles. Die Idee d er M enschengestalt w urde
schlechterdings n u r du rch einen M ann von sechs F u ß , in einem kurzen
blauen Rocke, m it langem D egen und zugeschnürtem Halse, in m ilitäri­
sch er Grandezza rep räsen tiert“ , schrieb ein Schlesier, d er H absburg und
H ohenzollem verglich.
D er preußische S taat sah von seinen Grenzen aus hinüber in die L än d er
d er deutschen N ation, in den geograph ischen B e g riff D eutschland, um
sich aus ihm zu „ a rro n d ieren “ . Ö sterreich ist eine geographische N atu r,
vom W iderw illen d er Nationen durchkreuzt, P reu ß en eine n u r a u f den
W illen gestellte W id ern atu r.
Die L ag e P reu ß en s als einer Grenze m it L an d d ah in ter w ar d ah er „ to u -
jo u rs en vedette“ . Die S tim m ung der „ W a c h t am R h ein “ h at in dieser
W ach th altu n g d e r P o tsd am er „ W a ch tp a ra d e “ ih re ganz allgem eine
G rundlage.
Ob P reu ß en die Lan de deu tscher N ation erfassen w erde o d er könne,
hing nun ah von seinem V erhältnis zum röm ischen R eich.
D eutsche N ation und Heiliges R eich, w ir wissen es schon, aber ich m u ß
es h ier w iederholen, weil ihre G leichsetzung unsere G eschichte ihres Sin­
nes beraubt, sind zweierlei. Nie hatte das R eich n u r die S p rach e von L u ­
th ers Bibelübersetzung gesprochen, B öh m en , F lan d ern , italienische, kroa­
tische Landesteile gehörten zum R eiche, und anfangs so g ar zur N atio G er­
m anica d er K irche.
N ur in d e r O bhut des R eichs hatte die deutsche N ation von den F ü rste n
revolutioniert w erden können. N och im m er sch lang sich ein m achtvoller
Länderkranz als H au sm ach t d er K aiser ru n d um D eutschlands Inneres.
U m die K lein- und M ittelstaaten schloß H absb urg die G renze zusam m en.
H absburg regierte in G ent und B rüssel, L o th rin g en rechnete zum R eiche,
die Maas hatte noch vor kurzem die G renze gebildet, im E lsa ß bean­
spruchte H absburg die L a n d g ra fsch a ft, im B reisg au , am O berrhein von
Basel bis Konstanz lag hab sburgischer Besitz. V o rarlb erg und T iro l, heu t
solch exzentrische Z unge D eutschösterreich s, w aren also dam als n u r die
n atü rlich e Landbrücke zu den O stländern des E rzhau ses. K ra in , Istrien ,
G örz, G radiska, Steierm ark , N ieder- und O b erösterreich schlossen sich an,
K ro aten , Siebenbürger und U n garn , B öh m en , M ähren und Schlesien voll­
endeten diesen m ächtigen Schutzm antel um die deutschen K lein - und
M ittelstaaten. Die N ordgrenze von Schlesien liegt a u f dem selben B reiten ­
g rad e wie die flandrische K üste. Beides w ar 1 7 4 0 ö ste rre ich isch !
H ier w ar noch das R eich im alten Sinne, vornational, ein erbliches F r ie ­
densreich des Festlan d es, N ach fo lg er des R eich s K arls des G roß en als d er
W a ll gegen den O sten.
Von d er R eform ation der Nation war dies R eich vorausgesetzt worden I
P reu ß en h at es gesprengt. Denn das Schicksal bestim m te es, in Osten,
Norden und W esten die Lücken und Unvollkom m enheiten d er R eichs­
grenzen zu spüren, heftiger und bedrängender als irgendein and erer E in ­
zelstaat. Und Franzosen waren an seinen Grenzen wie an denen Ö ster­
reichs. Aber auch Russen, Schweden und Dänen. Und als sich d er G roße
K u rfü rst in dieser G renznot bei dem raschen Reiten vom R hein bis an den
R hin an K aiser und R eich wendete, fand e r sich preisgegeben. E s w ar im
K riege gegen Ludw ig X IV ., daß P reu ß en diese E rfa h ru n g g em ach t hat.
D er T ag des Friedensschlusses von St. G erm ain en Laye 1 6 7 9 ist d er
A usgangspunkt, d er D ruckpunkt der hohenzollerischen Politik gew orden.
Aus einem deutschen E inzelstaat m u ß ein europäischer w erden, oder e r
g eh t zugrunde. D as ist das E rgeb n is dieses Tages. Auch Sachsen hatte da­
m als solche Pläne und g riff d ah er n ach Polen.
A ber n u r fü r P reu ß en w ar dieser W e g d er gewiesene Schicksalsw eg,
weil ihm sonst die „destruction to tale“ drohte, wie M aria T heresia sich
1 7 5 6 ausgedrückt hat. P reu ß en d ro h t im m er vernichtet zu w erden, wie
schon 16A0, wie 1 7 6 0 , wie 1 8 0 6 , wie 1 9 1 8 , wenn es nich t vorw ärts
geht. Man liegt nich t u n gestraft in d er Mitte der europäischen W e lt.
Die U m sch altung in d e r Zielsetzung m it dem Ja h re 1 6 7 9 versinnbild­
lich t die Denkm ünze des G roß en K u rfü rste n , die e r dam als schlagen
lie ß : E x o ria re aliquis m eis ex ossibus ultor. E in B ru ch m it der bisherigen
deutschen Staatsvorstellung vollzog sich nun. F ü r die R eligionsparteien
deutscher N ation hatte es bis dahin keine europäische Politik gegeben. Die
trieb d er K aiser. D as H aus H absburg fo ch t m it R ichelieu und den Schwe­
den die g ro ß en W eltkäm pfe aus. Und gerade dies w ar das W esen des
D reiß ig ]äh rig en K rieges gewesen, d aß die deutschen R eligionsparteien
ohne einheitliche europäische Zielsetzung, und das h eiß t im Ü b erm u t in
ihn hineingestolpert w aren.
D er Gedanke eines N ationalstaates oder N ationalreiches m u ß te ange­
sichts des D aseins d er beiden R eligionsparteien innerhalb d e r N ation als
Utopie erscheinen.
E in e innerdeutsche nationale Ideologie fü r einen europäischen M acht­
staat aus d eu tsch er nationaler V olkskraft ließ sich also nich t finden. D as
R eich w ar n ich t national, die N ation hatte n ich t einerlei Glauben. A uf
die D au er ab er h ä lt n u r ein Glaube einen S ta a t a u f T od und Leben zusam ­
m en. W a s also tu n ? D er archim edisch e P u n k t, um diese L än derm asse
von dem verletzten und beleidigten G renzstaat aus einzubeziehen, w ar also
n u r auffindbar, wenn die Staatsidee selbst, die S taatsräso n nackt und u n -
verschleiert In h alt d er R eligion w erden konnte. Staatsreligion hieß bis d a­
hin der Glaube, den d e r S ta a t teilte. Je tz t stellte sich die F ra g e , ob der
Staat auch In h a lt der R elig io n w erden k ö n n e, ohne Zusatz. 7
N och d er P ie tist F rie d ric h W ilh elm I. ( 1 7 1 8 — 1 7 ^ 0 ) h a t deshalb die
preußische Revolution nicht eröffnen können. W o h l hatte dieser Sol­
datenkönig die Souveränität nach innen wie einen ro ch er de bronze stabi-
liert. Aber im Verhältnis zum K aiser und im Verhältnis zur R eligion
w ar er noch zu sentim ental. Noch ließ e r in seinen K irchen fü r das W o h l­
ergehn des K aisers beten. Um schlechthin und einzig europäischer S taats­
m ann zu werden, m u ß te der K önig von Preußen die religiöse R eichs­
fürstentradition abstreifen.
Dazu gehörte das Schicksal des Philosophen a u f dem T hrone, ein
Schicksal, das ihn nach rückw ärts und vorw ärts aus allen B indungen
herauslöste. Als P rin z vor der F r o n t der langen K erle von Potsd am ein
h äß lich er Z w erg von i , 5 6 m , m it dem V ater entzweit, vor dem K riegs­
gerich t und im G efängnis aus seiner sozialen L ag e herausgerissen und
des Verlustes der T h ron folge gew ärtig, wenig später, unm ittelbar nach d er
H ochzeit vom U m g an g m it den F ra u e n gegen seine N atu r d u rch einen
Q uacksalberstreich ausgeschlossen, kinderlos, ohne dynastisches G efühl,
n u r m it Fran zo sen geistig eng verbunden — diese einzigartige, n u r ein­
m al m ögliche Individualität, volk-, a hn en -, fra u en - und erblos, in einer
Einöde lebend, h a t den preußischen S ta a t geschaffen.
Die Zeitgenossen haben diesen M ann F rie d ric h den Einzigen genannt,
und ich finde dies B eiw ort treffen d er als den G roßen.
Fritz D en Alten F ritz h a t es n u r einm al gegeben und d u rfte es n u r einm al
geben, den, d er vom N iem andsland d er S taatsräso n aus E u ro p a als O bjekt
staatlich er B autätigkeit ansah. „S ch on 1 7 8 1 räson iert e r als rein er Poli­
tik er und u n terläß t es, die F ra g e n des R ech ts, au ch d e r Stellung zu
K aiser und R eich zu erö rtern . Seine R ichtlinie bildet die „ n a tü rlich e “ ,
logische E rw äg u n g , die geograph ische R au m b etrach tu n g. E r h a t die poli­
tischen Prob lem e n ach seiner N aturanlage bereits logisch -system atisch ,
nach dem Satze vom zureichenden G runde, b e tra ch te t“ (K ü n tzel). Ist das
nicht französisch, so wie w ir Richelieus Gallien sich form en sa h e n ? F rie d ­
rich fand „in F ran k reich s fast vollkom m ener M achtstru ktur das Ideal
dessen, was e r fü r sein zerstückeltes, m it M enschen und M itteln d ü rftig
ausgestattetes P reu ß en ersehnte, vielleicht einm al erreichen konnte, aber
noch entbehrte“ (M einecke). A ber dieses p reuß ische Staatsbild bedeutet
etwas ganz anderes als das d e r F ran zo sen , d u rch die entgegengesetzte
L ag e, in d e r sich der K ön ig von P reu ß en befand. Als Tendenz konnte m an
in Versailles und P a ris wohl die „ N a tu r“ aufnehm en, als etw as, was die
fränkische G eschichte w eiterbildete. D as A ltfränkische blieb doch d a als
die G rundlage.
F rie d rich hatte keine Isle de F ra n c e , keine abendländische H ochschule,
er h atte n u r P o tsd am und Sanssouci als B asis. N ation und R eich w aren
beides Ausland fü r ihn. Die „n atü rlich en “ G renzen w aren n ich t G renzen
„G alliens“ o d er „G erm an ien s“ , sondern G renzen eines reinen V erstand es-
gebildes, des M achtstaats P re u ß e n . D e r K ö n ig w ar dieser S taat, sonst nie-

412
m and. Sein eigener B ru d er H einrich h at diese Einzigkeit klassisch aus­
gedrückt, als er 1 7 6 7 sch rie b : „P h aeth o n ist gefallen. W ir wissen nicht,
was aus uns werden soll.“ F rie d rich s Revolution hat darin bestanden,
stum m , fast ohne ein deutsches W o r t, m öchte m an sagen, von außen h er
in die N ation den Gedanken des S taats einzupflanzen, als F rem d k ö rp er
von außen den S taat in diese N ation hineinzustellen und zu warten, ob und
wie sie sich ihn aneignen könne und werde.
E s ist nicht die E ro b eru n g Schlesiens, die F rie d rich zum Einzigen ge­
m a ch t hat. Das K aisertum des W ittelsb ach ers w ar nicht w eniger au f­
rü h rerisch im Ja h re 1 7 4 2 . E in neues D aseinsprinzip des preuß ischen
S taates wurde dam als also noch n ich t ausgesprochen.
Die vollkommene W eltrevolution F rie d rich s ist d er Siebenjährige K rieg. Der Sieben-
Und vom ersten Tage h a t e r diese W irk u n g als Revolution au f die G e- iahnge Krieg
m ü ter ausgeübt. Die E n glän d er nennen den Um schw ung, d e r ihm vor­
aufging, die V erbindung d er alten Erbfeinde B ourbon und H absburg,
d er P om p ad o u r und M aria Theresias die „diplom atische Revolution“ . So
wird von ihnen auch die Vokabel an dieses E reign is h erangetragen, au f
die w ir besonders sorg fältig zu achten haben. Auch F rie d rich selbst e r­
klärte das Bündnis von Versailles vom 1. Mai 1 7 6 6 m it einem „u n er­
klärlichen U m schw ung des G eistes“ 1. In der T a t stellt dieser U m schw ung
P reu ß en gegen eine W e lt in voller Einsam keit. Alle bisherigen O rdnungen
E u ro p as w aren eben unwillig, die neue G ro ß m ach t, diese deutlich unzu­
friedene, unbefriedigte, vorw egnehm ende, einzulassen. In W ie n verlangt
m an la destruction totale P reu ß en s.
Aber Vokabeln genügen nicht. W a r die Sache eine R evolu tion ? Sie
w ar e s; und das Ein zigartige des Siebenjährigen K rieges d rü ck t G oethe
a u s : „ F rie d rich der Zweite, K ö n ig von P re u ß e n , w ar m it 6 0 0 0 0 M ann
in Sachsen eingefallen, und statt einer vorgängigen K riegserklärung folgte
ein M anifest, wie m an sagte, von ih m selbst v erfaß t, welches die U r­
sachen enthielt, die ihn zu ein em so lch en u n geheu ren S ch ritte bewogen
und b e re ch tig t. . . Und so w ar ich denn au ch p reu ß isch oder, um rich ­
tig e r zu reden fritzisch g esin n t; den n was ging uns P r e u ß e n a n ? “
H ierin ist alles zusam m engedrängt, was zu sagen ist. Ich m u ß aber wohl
einige Illustrationen dieser fritzischen Revolution n och zu r E n tlastu n g der
G oetheschen Sätze folgen lassen. .
N icht d er unm ittelbare politische G egner w ird 1 7 5 6 an g eg riffen , son­
d ern die Staaten sind fü r das K riegsspiel n u r geograph ische Problem e.
Sachsen also wird überrannt. D ie 6 0 0 0 0 M ann sind ein H eer, das selbst
im U nglück n ich t d u rch die Leiden einer H eim at beeinflußt wird, dem
kein Volk die M oral ins F e ld sendet, sondern das die M oral aus sich selbst
gew innen m u ß gegen die H eim at. N elson kann vor T ra fa lg a r s a g e n :
„ E n g la n d “ - erw artet, d a ß je d e r seine P flich t tun w erd e! F ra n k re ich
1 Werke 27, 3 , 2 8 4 f.

4 i3
stürzte seine Jugend für die „Nation" in den Kam pf und fü r Ideen.
Gustav Adolf fich t für die rechte Lehre.
D er K ön ig von Preußen h at keine auß erstaatlich en K raftquellen. E r
ru ft bescheidentlich in der S ch la ch t: „ W a s ein rech ter Soldat ist, der
folge m ir ." O der er befiehlt vor L e u th e n : „Das R egim ent Kavallerie, wel­
ches nich t gleich, wenn es befohlen w ird, sich unaufhaltsam au f den
Fein d stürzt, lasse ich n ach der S ch lach t absitzen und m ache es zu einem
G arnisonregim ente. D as B ataillon Infanterie, das, es treffe w orau f es wolle,
n u r zu stocken an fän gt, verliert die F ah n en und die Säbel und ich lasse
ihm die B o rten von d er M ontierung abschneiden 1" Innerhalb des H eeres
selber liegt die H eim at des H eeres. E r h a t selbst klar diese A nspannung
erk an n t: „D ie F ü rste n dieses S taats m üssen ganz Nerv sein ; o d er sie sind
v erlo ren !" Ih m n ach bilden die P reu ß en n ach G oethes W o r t „ W e r t,
W ü rd e und S ta rrsin n " aus. Alle P re u ß e n sind in d er T a t diesem H e rr­
sch er nachgebildet w orden. M an erinnere sich z. B . des S tarrsin n s im
A ugust 1 9 1 4 , wie dam als d e r deutsche Volkssoldat an die E isen bahn­
wagen an sch rie b : „ H ie r werden K riegserklärungen en tgegen gen om m en ."
D as lose Scherzw ort^bekom m t einen däm onischen K lan g, wenn m an in
einem B riefe F rie d rich s des Einzigen vom 5 . F e b ru a r 1 7 5 7 lie st: „M an
wird dies F r ü h ja h r sehen, was P reu ß en ist, und d aß w ir d u rch unsere
K ra ft, vor allem d u rch unsere Disziplin, fe rtig zu w erden wissen m it d er
Z ahl d e r Ö sterreich er, dem U n gestüm d e r F ran zo sen , d er W ild h eit der
R ussen, den g ro ß en Verbänden d er U n garn und m it all denen, die uns
entgegentreten w erd en ."
Disziplin U nd das Z aub erw ort fü r diese Z uversicht h e iß t au ch in seinem Munde
h ier sch on „D isziplin". So g leich artig bleibt d e r C h arak ter d u rch
i 5 o Ja h re . W e d e r die R eligion noch die F re ih e it, n och die N ation, noch
die K u ltu r sind das Ziel seines W a ffe n g a n g e s m it ganz E u ro p a . E s ist
nur der Staat selb st, a u f den er alles zu rü ck w erfen m u ß an G la n z und
W ärm e. D as H eil des Staates, n ich t das der V ölker o d er der F ürsten, w ird
ausschlaggebend. „ D e r S ta a t als individuelles Lebew esen" w ird d er T rä g e r
einer Staatsräson. W a s diese S taatsräso n über eine bloße R aubgesinnung
erhebt, ist ih r U rsp ru n g und ih r Ziel in d er seit 1 5 1 7 aus dem R eich sich
sam m elnden deutschen N ation. A ber sowohl U rsp ru n g wie Ziel liegen
auß erh alb , sie liegen jenseits d e r S taatsräso n selbst, die von beiden nich ts
wissen will und nichts wissen d a rf, sondern sich aus eigenem Gesetz zu
vollenden tra ch te t. D as ist das U nheim liche, die W e lt erschreckende des
p reu ß isch en M ilitarism us, d a ß e r n u r sich selbst, seinen S ta a t d u rch ­
setzt und keineswegs gew illt ersch ein t, fü r nationale Ziele sich aufzugeben.
Die N ation em p fän g t au ch n ich t den S taat, sondern den S taatsm an n ,
„denn was g in g uns P re u ß e n a n ! " „ D e r e rste w ahre und höh ere eigent­
liche Lebensgehalt kam d u rch F rie d ric h den G roß en und die T aten des
Siebenjährigen K rieges in die deutsche P o esie“ (G oeth e). So ist es n och

4i4
von i 8 6 4 — 1 8 7 1 gew esen: D er Staatsm ann überwand die N atio n ; „w ir
wurden alle bism ärckisch“ . P reu ß isch wollten viele auch dam als nich t
werden.
Die H oheit des Staates, die sparsam e Lebensführung, die phrasenlose Der siegreiche
Pflichterfüllung sind Quellen, die in sich selbst kreisen, sich im m er gegen- Krieg
seitig steigernd. W en n 1 9 1 4 ein staatsrechtliches B u ch erscheinen konnte,
das den Sinn des Staates im siegreichen K rieg sah, so ist diese F o rm e l
P reu ß en auf den Leib geschrieben. N ur fü r P reu ß en näm lich m eint diese
F o rm e l etwas Begrenztes. Überall sonst m u ß sie B efrem den erregen. F ü r
die Gebiete der deutschen N ation aber ist dem S taat keine Sättigung g e­
schenkt. E r ist eben kleiner als die N ation. E r kennt keine natürlich en
Grenzen, auch nicht den ideologischen Schein solcher Volks- oder natio­
naler Grenzen. Seine m ilitärische R ü stu n g antizipiert seine o rgan isatori­
sche E rfü llu n g . F ü r Spanien oder P o rtu g a l w äre jen er Leh rsatz absurd.
A ber fü r den S taat, der aus dem R eich heraus und in die N ation hinein­
w achsen m u ß , trifft e r zu.

4. Überhebung und F a ll
D ieser H eerstaat m it einem Volk des Siebenjährigen K rieges ru h te sich
nach F ried rich s Tode au f seinen Lorb eeren aus. E in unm ilitärischer K ö ­
nig fü h rte in Holland und a m R hein K rieg e u n preußisch er, überheblicher
A r t E r sch uf O rdnung aus „G rundsätzen“ , die d er S taatsräson P reu ß en s
schnurstracks entgegenliefen, e r verriet P re u ß e n den R evolutionär an L e ­
gitim ität, H erkom m en, A delsinteressen! E r v ergrö ß erte den S ta a t n ich t
um Provinzen, sondern um dem S ta a t undurchdringliche L an d strich e
in den zwei polnischen Teilungen. 1 8 0 5 h a t P re u ß e n seine g rö ß te Aus­
dehnung, W a rsch a u g eh ö rt ihm . D as T e rrito riu m ist über seine O rgan i­
sation hinausgew achsen. Die p reuß ischen Leiden an d er Grenze sind auch
d u rch die A btretungen am linken R h ein u fer wesentlich verringert.
W ir kennen diese nirgends fehlende E p och e des Ü berm uts. D ie N ation
w ar fritzisch, n ich t preuß isch gew orden. W a s w ird P re u ß e n also ohne
F r i t z ? M irabeau sch m ettert 1 7 8 6 den ersten Satz seiner G eheim geschichte
des B erlin er H ofes h in a u s: L e ro i de P ru sse va m o u rir. U nd gibt d am it
den ganzen Staatsb au zugleich preis. E r sah ihn dam als schon fallen I
1 8 0 6 — i 8 i 3 erg eh t das G e rich t., P re u ß e n w ird ein M ittelstaat. E s ist
der einzige Augenblick in d er G eschichte P re u ß e n s, wo eine F r a u eine Königin Luise
politische B edeutung gewinnen konnte, im U nglück. H eu t m a g m an leicht
über den „deu tschen“ K ultus m it einer K önigin spotten, die m it ih rem
Manne sich n u r fran zösisch schrieb. A ber d er M änner- und K rieg sstaat
P re u ß en wird in diesem Augenblick des tiefsten Sturzes zurücknorm ali­
siert zu einem deutschen M ittelstaat. — D as sym bolisiert die G estalt d e r
K önigin Luise und d ad u rch h a t sie, die L an d esh errin , allerdings P re u ß e n
in die N ation zurückgeleitet.

4i5
E rw ä g ’ ich wie in jenen Schreckenstagen
Still deine B ru st verschlossen, was sie litt,
W ie du das Unglück m it d er Grazie T ritt
Auf jungen Schultern herrlich h ast getragen ,

W ie von des K riegs zerrißnem Schlachtenw agen


Selbst o ft die S ch ar der M änner zu d ir sch ritt,
W ie g ro ß du w arst, das ahndeten w ir nicht.
Dein H aupt scheint wie von Strahlen m ir um sch im m ert,
D u bist d e r Stern, der voller P ra c h t erst flim m ert,
W en n er d u rch finstre W etterw olken bricht.

Aus dem M unde des O ffiziers, H einrich von K leists, b rich t h ier d er
W o h llau t d e r Poesie ungestüm und w eiht P reu ß en s U nglück zu einem
deutschen Leid.
In diesem Augenblick w äre P reu ß en s G eschichte zu En d e gewesen,
wenn es von N urpreußen bewohnt gewesen w äre. Aber nun sp rin gt dem
verödeten Staatsw esen d er Geist deu tscher N ation bei.

5. D ie Romantik
Dies ist, wie N adler schön gezeigt hat, das E reig n is d er R o m a n tik ; seine
Ergebnisse m u ß m an n u r energisch ins Politisch-R evolutionäre wenden.
So wie Italien die Avignonenser P äp ste zu sich selbst und zu ih re r vatika­
nischen Sendung zurückholt, so zw ingt die deutsche N ation den p reu ß i­
schen S taat in d er R om antik, sie in seine S taatsräson einzulassen. S ta a t
und N ation werden freilich noch nich t eins. P re u ß e n behält seine eigene
S taatsräson. A b er es m acht ein e A n leih e bei der N ation in der F o r m des
G eistes der R om an tik. Die G ründu ng d er K riegsakadem ie und der U ni­
versität in B erlin , die G ründu ng von B onn, die Anstellung von N iebuhr,
A. W . Schlegel, Savigny, E ich e n d o rff sind allbekannt. E s ist ö rtlich und
zeitlich dam als d er Fun k e wie in einem M om ent übergesprungen. N och
i 8 o 5 — 1 8 0 7 sind die „T röstein sam k eit“ d e r A rnim und des K naben
W u n d erh o rn in H eidelberg erschienen. N iebuhr k o m m t im H erb st 1 8 0 6
nach B erlin, nach Je n a und A uerstedt. H um boldt gibt 1 8 0 8 seine un­
politische E xisten z in R o m auf. 1 8 0 5 w ar Schiller gestorben. Die K lassik,
die goldene R eichszeit w ar zu En de. H ölderlin verfällt der U m n ach tu n g ,
D iotim a stirbt.
An die Stelle d e r g ro ß e n S än ger K lopstocks, Schillers, H ölderlins, d er
g ro ß en S eh er und P rop h eten Lessing, H am an n und H erd er tre te n die
R om an tik er, die H egel und die Schlegel, die R anke, Savigny und G rim m .
Sie bringen dem preuß ischen M ach tstaat und dem österreichischen M acht­
staat nich t Prophezeiungen, sondern geschichtliche Bildung. Sie überim p­
fen au f sie das Leben d er deutschen N ation und bergen es bei den M ach t-

4 i6
&

Staaten. Die Rom antik führt zur staatlichen R estaurationszeit eben deshalb
m it zwingender Notwendigkeit. Die gesam ten Geisteswissenschaften des
1 9 . Jah rh u n d erts in D eutschland sind diesem E in flu ß der R om antik
verfallen geblieben. Bei den H istorikern, den Ju risten , den Volkswirten,
den Theologen, den Philosophen h e rrsch t die historische B lickrichtung
in dem besonderen Sinne d er R om antik. Zwei M achtm ittelpunkte liegen
fest, über die m an nicht hinausdringt, die preuß isch-österreichisch e W e lt.
„N ach drüben ist die Aussicht uns verstellt.“ D er H istorism us entwickelt
dem gem äß alle deutschen G eisteskräfte au f diese beiden M achtstaaten zu.
Keine andere R ichtun g konnte sich gegen den H istorism us durchsetzen. Der Historismus
W ed er d er Positivism us noch d er U topism us, noch K ants R ationalism us.
Die Hauptm elodie blieb doch d er H istorism us, d er nich t die G eschichte
von 1 8 9 0 oder von i 8 5 o , sondern im G runde — wie Ranke — Yon 1 8 0 0
h er schreiben wollte, von jenem Punkte h er, wo die N ation a u f P reu ß en
und Ö sterreich den Funken überspringen lassen m u ß te. Ü ber die F r a g e ­
stellung und Periodisierung von 1 8 0 0 ist die deutsche G eschichtswissen­
sch aft n ich t hinausgedrungen. Die Notwendigkeit (eines Z erfalls Ö sterreichs,
einer völligen E rn eu eru n g d er K onfessionen und d er K irch e, einer U m -
pflügung der Sprache, einer internationalen Sozialisierung der R e ch ts- und
W irtschaftsverhältnisse lagen auß erh alb der Gedankenwelt d er R om antik.
Von d ah er erklärt sich z. B . B ism arck s K u ltu rk am p f oder d er M iß g riff,
die K aiserproklam ation nach Versailles zu legen, o d er die Interesselosig­
keit an dem künftigen Schicksal Ö sterreichs, der Blankow echsel also, den
wir fü r seine Existenz ausgestellt haben und dann im W eltk rieg einzulösen
hatten. Die wirklichen Ereignisse des 1 9 . Ja h rh u n d e rts sind in D eutsch­
land unter einem Schw all von H istorism u s zu g esch ü ttet durchlebt worden.
Einsam e, M ißvergnügte, Schw arzseher, K rakeeler, Schlechtgesinnte, E x i­
lierte haben die W irklichkeit erkannt. D er landflüchtige R ich ard W a g n e r
h at den K apitalism us durchschaut. Schopenhau er und N ietzsche und M arx
und E n gels, L ag ard e und B aum stark haben D eutschlands w irkliche L ag e
gesehen. N och Stefan G eorge stand ganz und g a r gegen die Z èit von 1 8 9 0
bis 1 9 1 4 , weil diese Z eit historisch d u rch und d u rch w ar.
W ir alle, die w ir in D eutschland w issenschaftlich arbeiten gelern t h a­
ben, sind H istoristen gewesen und sind es g ern , m it Leib und Seele und
m it Ü berzeugung gewesen. W ah rsch ein lich konnten w ir n u r dad urch in
das G ericht des W eltk rieges unversehrt eintreten. E h e P reu ß en und Ö ster­
reich in die N ation zusam m engeglüht w orden sind, h a t n u r die R om antik
die herrschende S ch ich t befähigt, die N ation und den M achtstaat, beide,
so wie sie w aren, näm lich auseinander, selbständig, und n u r aufeinander
zugeordnet und sich aufeinander zu bewegend, seelisch zu um fassen.
Dies Doppelleben in Nation und M achtstaat h at den D eutschen des
1 9 . Jah rh u n d erts g ep räg t. Deshalb m u ß te d er „Intellektuelle“ in D eu tsch -,
land M ilitarist bleiben in einem anderw ärts unverständlichen Sinne. D as

7 R osenstock
4i7
Geistesleben d e r Nation war d eu tsch ; d er S taat im Schicksalssinne hieß
H absburg oder H ohenzollera. D er Akademiker konnte also nie als Akade­
m iker „den S ta a t“ verantw orten wie im M ittelstaat. Denn der Machtstaat
behielt, wie zu r Z eit des Alten F ritz , seine nicht rein nationale europäische
Staatsräson. D er deutsche Gebildete respektierte diesen S taat dah er als
ein doch nicht übersehbares, von K riegserfolgen verklärtes D rittes. D er
S taat w ar aus d er N ation nich t hervorbringbar. E r kam au f die Nation
ja zu. Jedes andere Volk konnte das G efühl hab en: D er S taat sind wir.
S tü rzt er ein, w ir bauen ihn wieder. P reu ß en und Ö sterreich w aren für
das deutsche E m pfinden nich t Schöpfungen d er N ation, sondern ihre
W äch ter. Sie kam en von jenseits. M an w ar d ah er D r. phil. von H eidelberg
und kgl. p reu ß isch er R eserveoffizier. Aber m an hatte nich t die V orstel­
lung, als d er H eidelberger D r. phil. die volle M itverantw ortung fü r die
Politik dieses p reuß isch-deu tschen Staates zu tragen .
In allen P arteien und allen D ebatten ist selbst heu t noch ein Ü b errest
dieser Z erteilung zu spüren. D ie P arteien z. B . w aren bis 1 9 1 8 P arteien
innerhalb d er N ation viel m eh r als P arteien innerhalb des Staates. Deshalb
h at d er R eich stag im m er n u r 5 o 0/0 der politischen W irk lich k eit d arg e­
stellt und versagte, als e r 1 9 1 8 hu ndertprozentig regieren sollte. D ah er
rü h rt die H ilflosigkeit, m it der alle P arteien sich bei uns ih re r P a rte i­
fü h rer berauben, sobald diese M inister w erden. Die zweite G arn itu r d er
P a rte ifü h re r unten auf den Bänken d er A bgeordneten sprich t d er ersten
G arn itu r oben das „V ertrau en “ aus.
F ü r die G ro ß m ach t P re u ß e n und fü r die G ro ß m a ch t Ö sterreich aber
fanden sich im m e r w eniger M änner aus d er N ation, die ih r F o rm a t gehabt
hätten. D as deu tschpreuß ische R eich ist an diesem M angel an politischem
N achw uchs — bei w irtsch aftlich er H ochblüte und 6 5 Millionen Einw oh­
nern — zugrunde gegangen. Ö sterreich n ich t m inder. Die N ation erzog
nicht zur G ro ß m a ch t!
N ach B ism arck haben ein G eneral (C ap riv i), ein Stand esherr, d. h.
einer aus dem F ü rsten stan d e (H oh en loh e), und ein diplom atischer J o n g ­
leu r (Bülow ) zu regieren versucht. Als „ein in der O chsentour h erau f­
gedienter G eheim rat“ K an zler der G ro ß m a ch t w urde, b rach sie — genau
wie B ism arck es fü r diesen F a ll prophezeit hatte — zusam m en.
D er p reuß ische S taat w a r.n u r fritzisch zu reg ieren , wie d er ö sterreich i­
sche n u r theresianisch, w ider die N atu r des Lan des jen er, gem äß d e r N a­
tu r des L an d es dieser, a u f den W illen d er N ation zu P reu ß en , w ider den
W illen d er N ationen Ö sterreich, Aktivität und Passivität, W ille und Schick­
sal wirken also bei den M ittelm ächten am entgegengesetzten P o l.

6. Goethe, H egel, Schlegel


In drei g ro ß en Person en verk örp ert sich das deutsche V erhältnis zw ischen
d er N ation und den beiden M achtstaaten des 1 9 . Ja h rh u n d e rts : in G oethe

4i8
( 1 7 4 9 — i 8 3 2 ), Hegel ( 1 7 7 0 —
i 8 3 i ) und F rie d rich Schlegel ( 1 7 7 2 bis
1829).
Goethe hatte seit der französischen Revolution, wie ihm Tieck klagend
vorhielt, von der deutschen N ation Abschied genom m en. E r hatte sich
in Italien eine zweite, eine antikische W e lt aufgebaut. Die italienische
Reise und die röm ischen Elegien sind das Zeugnis fü r dieses H inaustreten
des „O lym piers“ in einen erhöhten unpolitischen G eistesraum .
Schiller h at ihn dann noch einm al zurückgeholt in die N ation und
ihm H erm ann und D orothea abgerungen. Schiller selber h at in diesen
Ja h re n die g ro ß en europäischen N ationen in seinen D ram en eine nach der
anderen verewigt. W en n m an Schillers, des angeblich deutscheren D ich­
ters, W erk e durch geht, so w erden von ihm Spanien, Italien, Sizilien, E n g ­
land, F ran k reich , Polen dram atisch verklärt. W ilh elm Teil h a t e r im An­
schluß an eine P a rise r R evolutionsoper bearbeitet. Schiller lebt das W e lt­
bürgertum d er deutschen Klassik. Neben dem weissagenden und voraus­
schauenden H erder, d e r die vielen kleinen Nationen wiederkehren und neu
erwachen sieht, steht Schiller, d er die g ro ß en alten N ationen in den w ich­
tigsten M om enten ih re r V ergangenheit abbildet, beide die W o rtfü h re r der
ganzen europäischen Staatenw elt in d er Zunge d er R eichsnation.
Goethe aber blickt n ich t n ach außen. G oethe h a t die Schicksale d er
deutschen N ation innerlich durchlebt und d u rch alle ihre Stu fen d u rch ­
wandelt. Die Legende G oethes w artet d arau f, von d er N ation nachgelebt
zu werden. Deshalb ist es von h ö ch ster B edeutung, zu sehen, wie e r n ach
Schillers Tode sein Leben überhaupt noch fo rtzu fü h ren verm ag.
D er K rieg b rich t 1 8 0 6 bei ihm ein. D a ehelich t e r C hristiane Vulpius,
den „B ettsch atz“ . D am it verliert sein äu ß eres Leben ein fü r allem al seine
Sym bolkraft. D as äuß ere Leben in Eink lan g zu setzen m it dem Sym bol­
gehalt seines inneren Schaffens — diese G leichung, die ihm au f allen L e ­
bensstationen bis 1 7 9 0 so w underbar gelungen w ar (denn Leipzig, S tra ß ­
burg, W etzlar, W e im a r, Italien m achen jedesm al E p o ch e ) — diese Glei­
chung h atte ih m der Bund m it Schiller und das h eiß t m it d er Je n a e r
F rü h ro m an tik noch einm al halb im K leid d er M än n erfreu n d sch aft und in
F o rm d er Spannung W e im a r— Je n a fo rtzu fü h ren erlaubt. M it Schillers
Tod und m it dem E h esch lu ß w ird diese G leichung von auß en und innen
unm öglich. 1 8 0 6 / 1 8 0 6 ist ein S ch reck en sjah r f ü r G oethe. Ein e T otal­
um stellung wird notw endig. Innen und auß en treten auseinander.
Nach auß en p fleg t e r von da ab energisch und dauernd du rch die Z eit
bis zu seinem Tode die Beziehungen m it den österreich isch en M agnaten
und m it dem B erlin er Z elter. N ach innen aber e rh ö h t e r sein W irk en zu r,
wie er es im m er w ieder gew ichtig gen an n t h at, W eltliteratur.
Goethe hätte auch „in künstlichen Sonetten “ wie die R om antik dichten
können. E r h at au ch die dem W e g d e r R om antik entsprechende E r ­
w eiterung seiner m enschlichen A ußenbeziehungen nach P reu ß en und n ach
27 *
Ä19
Ö sterreich sehr lebhaft w ahrgenom m en. Aber sein W e r k kann Goethe
sich nicht in die M achtstaaten P reu ß en und Ö sterreich einzwängen lassen.
„Epim enides E rw ach en “ , sein Festspiel fü r die Sieger d er Befreiungs­
kriege, w ar im Sinne der preußischen Besteller ein V ersager. E r h at ja
diese Selbstkritik im Stücke selber angedeutet. D er D ichter bleibt „im
Stillen“ „rein bew ahrt“ . D ieser Aufbew ahrtheit dankbar, erh öh t G oethe
sein W irken in ein W eltreic h , d as a u f d ie D eu tsch en w artet. Die „ W e lt­
literatu r“ h at bei Goethe — ganz zum U nterschied von d er R om antik — <
keine historisch-restaurierende Aufgabe. Sondern sie ist der Industrie, der
inneren Kolonisation, d er Ausw anderung, kurz allem Neuen durchaus
zugetan. Goethe h at sich auch nicht vor den F o lg e n der Julirevolution von
i 8 3 o geängstigt wie die R om antiker.
Goethe hat über das 1 9. Ja h rh u n d e rt hinweg au f seine lieben D eut­
schen des 2 0 . gew artet. Die g ro ß e B edeu tung d er G estalt G oethes ist es
daher, die Unvollendetheit aller deutschen Lebensform en seit 1 8 0 5 , dies
Provisorium in d er A ufspaltung der N ation, a u f die G roß m äch te P reu ß en
und H absburg, k lar g efü h lt zu haben und ihm ausgew ichen zu sein.
Goethe hätte i 8 4 8 nich t m it der M ehrheit und nicht m it der M inderheit
des Erbkaiserplans stim m en können. E r h ätte die Sackgasse, in die uns
die T rennu ng von Kleindeutsch und G roß deutsch verstrickt h at, niem als
m itgehen können, d er Sohn des K aiserlichen R a ts G oethe, d er B ü rg e r der
R eichsstadt, „in der P a ritä t noch in d er alten O rdnung steh t“ , der Mini­
ster des preuß ischen G enerals K a rl A ugust. „ W i r w urden alle fritz isc h ;
denn was ging uns P reu ß en a n ? “ G oethes T estam ent an uns bedingt also
diesen seinen ungeheuren V erzicht au f T eilnahm e am Leben d er N ation
seit i 8 o 5 / i 8 o 6 : ein V erzicht, d e r ihm j a unendliche B esch im p fu ngen
wegen H erzenskälte eingetragen h at. D a fü r h a t G o e th e a b e r d en D eu t­
sch en d ie W elt o f f e n g eh a lten . Die R om antik hingegen m u ß te in d e r
Sackgasse des Staatsvölkischen enden. Sobald einm al die unnationale und
unwirkliche H albierung zwischen P re u ß e n und Ö sterreich politisch in
K ra ft tra t, kam es d arü b er notw endig zu d er H altu n g der Alldeutschen.
Eine völlige Ahnungslosigkeit ließ diese Intellektuellen den R eich tu m d er
deutschen R eligionsparteien m iß ach ten , ließ sie den Gegensatz H abs­
b u rg — H ohenzollem nich t ernst nehm en und verfü h rte sie, die S taatsräso n
als Selbstzweck m ißzuverstehen.
N irgends ist dah er ro h er und geistloser d e r „M ach tstaat“ gep red igt
worden, ein tau b er und blinder W o lf, d u rch nich ts verehrungsw ürdig,
au ß erh alb d er G eschichte der M enschheit stehend, niem andem dienend,
nicht entsendet.
N irgends h a t d ah er auch „d er K apitalism us das Volk seelisch m e h r zu
Schlacke g eb ran n t“ (R ö d e r) als in D eutschland, weil es von uns Gebildeten
Steine statt B ro t gereich t bekam , größenw ahnsinnige S taatsm ach t oder
M achtstaatspläne. A ber die N ation überschlug sich m it diesen P länen n u r

/420
deshalb, weil diese Pläne ihre D ankesbezeigungen gegen den M achtstaat
darstellten, dafür, daß er ih r das Schutzdach errich tet hatte. Sie übersah
den U rsprung Preußens in der geistlichen Sendung D eutschlands für die
Christenheit und sie übersah, daß die H eim kehr der beiden Religions­
parteien einst gem einsam werde erfolgen m üssen, sollte das W o r t „N a­
tion“ nich t eine Lü ge werden.
Die V erengung des N ationalen a u f einen Teil der N ation, das N ich t­
ernstnehm en der konfessionellen Spannung in ih rer Tiefe und F ru c h t­
barkeit ist das L aster aller geistigen „R ealpolitiker“ des 1 9 . Jah rh u n d erts,
von H aller bis Reventlow. Sie brachten d am it D eutschland um seinen
europäischen R an g und um seine R olle im D ra m a d er Revolutionen.
Alle, die hingegen den beiden Polen gerech t bleiben w ollten: Goethe,
H um boldt, Uhland, Radow itz, Stahl, G erlach, K onstantin F ra n tz , F rie d ­
rich N aum ann, haben realpolitisch Sch iffbruch gelitten.
D u rch den W eltk rieg scheinen m ir aber solche M änner m it den R eal­
politikern quitt zu sein. W e n ig e r „ E r f o lg “ haben sie auch nich t zu ver­
zeichnen. Sie hatten keine ein äh rigen Erfolgsm öglichkeiten, weil sie am
M ehraltrigen, an der A ufgabe d er R eproduktion d er Nation d u rch die
Zeit hingen.
D aß B ism arck E in äh rig es sch affen m u ß te, darin ist e r ein O pfer des Bismarck
Jah rh u n d erts, in dem n u r d e r „Z eitg eist“ regierte. Die Ü berm enschen
B ism arck im Staat, W a g n e r in d er K unst, M arx in d er Volksbewegung
haben alle drei die deutschen Zeiten von 1 8 4 8 bis 1 9 1 4 n o td ü rftig zu­
sam m engehalten. E s ist ihnen gelungen. A ber ih r E rfo lg ist eben der des
Provisorium s. Die F r a g e von i S o 5 / i 8 o 6 tritt heute wieder an uns her­
an. W ir m üssen sie diesm al in einem ganz anderen E rn s t noch einm al p rü ­
fen und beantw orten, weil d ie ganze W elt, jene W e lt, die Schiller und
Goethe gem ein t haben, je tz t vor den T o ren steht. D ie rom an tische H altung
w ar nu r im Schatten d er M ittelm ächte des 1 9 . Ja h rh u n d e rts zulässig. In
ih rer Obhut konnte die N ation sich selber träu m en . N ur ein totales, welt­
um fassendes, das W eltgescheh en als T o talität glaubendes ^Denken und
Handeln kann die deutsche N ation, w eder von P re u ß e n noch von Ö ster­
reich beschützt — in d er W e lt n och erhalten.
V or der W eltrevolution z e rflattert die Selbstanbetung einer sich selbst
zur W e lth errsch aft berufenden N ation zum Spuk.
Aber bevor diese neue tödliche G efah r fü r alles P artik u lare, bevor die
russische W eltrevolution au ftritt, ist n och einm al au f P reu ß en und Ö ster­
reich zu blicken. Die beiden M ittelm ächte haben zwei B ü rg en ihres W e r -
tes aus der N ation beigesellt erhalten, zwei g ro ß e G e iste r: P reu ß en den
Schwaben H egel, Ö sterreich den N orddeutschen Schlegel. D as D enken
dieser beiden G roß en b eh errsch t noch heu t die besten G eister d er N ation.
Beide haben näm lich den M ittelm ächten ih re besondere S taatsräso n so^* Totaldenken
Zusagen von Nations wegen zugestanden. A ber beide haben das — und das

421
scheint m ir sehr wichtig —- in der Sprache und m it dem Gedankengut
d er ganzen W e lt getan. Hegel und Schlegel sind Totaldenker. Deshalb sind
die W eltgeschich te, der W eltgeist, die W e lt H egels B eg riffe, um den
R acker S taat, in dessen B erlin er H ochschule e r seit 1 8 1 8 die Offiziere
und Beam ten lehrt, um diesen R ack er S taat sich und den H ö rern zu be­
stätigen. Hegel h a t die — d e r „ P a rte i“ in M oskau nicht unähnliche —
Selbstsetzung des preußischen Staates deutlich gespürt. Eben um des­
willen h at er der G evatter des M arxism us werden können. Denn er h at
durchaus die Fortb ew egu ng der W e lt im dialektischen P ro zeß als Totali­
tät erkannt und anerkannt. Preu ß isch es Staatsdenken und bolschewistische
G eschichtsauffassung führen beide über die H egelsche R echte und die H egel-
sche Linke au f H egel zurück. Im m e r wieder haben d ah er „P re u ß e n tu m und
Sozialism us“ m iteinander sym pathisiert. Sch m oller h a t den K ö n ig von
P reu ß en als den K ö n ig d er P ro le ta rie r gefeiert. Len in h a t fü r die deutsche
K riegszw angsw irtschaft geschw ärm t und wollte sie 1 9 1 7 in R ußland
d u rch fü h ren . D er F o rtg a n g d er G edankenarbeit E u ro p a s lä u ft über H egel
zu M arx und Lenin. W ir m üssen dah er gerade H egels L eistu ng in dieser
Doppellinie auffassen (wie das schon viele, z. B . Plenge, versucht hab en).
Hegel H egel h a t in dem fritzischen S taat das vernünftige Prinzip entdeckt. Die
Selbstsetzung des Staates als letzten B ü rg en seiner selbst, dieses Schick­
sal des friederizianischen Staates, der ihn zur „ U n n a tu r“ verurteilte, ge­
rade sie h a t den Philosophen in H egel veranlaßt, h ie r eine echte Synthesis
des W eltgeistes anzuerkennen. E r h a t dieser besonderen T atsach e P re u ß e n
die T o talität des W eltbildes, von d e r e r ausgegangen w ar, geo p fert.
N irgends fü h rt an sich aus H egels Präm issen d e r W e g n u r n ach P re u ­
ßen. P reu ß e n ist aber fü r H egel, was es auch in d er T a t ist — eine V or­
ausnahm e eines T otalzustandes der W e lt! H egel bezeichnet genau den
Punkt, an dem G oethe sich dem 1 9 . Ja h rh u n d e rt versagen m u ß te. Hegel
nahm ein Provisoriu m fü r die Endlösung, obwohl e r seihst als W elth isto ­
riker unm öglich die G eschichte au f P o tsd am und au f die W a c h t am R hein
bew ußt einschränken w ollte noch konnte. Indessen er dach te in einem
Augenblick, wo er den einzelnen M ach tstaat wohl, die neue aus den S taa­
ten entlassene W eltklassengesellschaft aber noch kaum sehen konnte. D a
er die T otalität als Grundhedtung b rau ch te, so begnügte e r sich m it der
prinzipiellen T otalität, die einem bloß vernünftigen S taat allerdings inne­
wohnt. D e r G eist rastet nich t, ehe e r n ich t universal denken kann. D ie
Philosophen denken d ah er entw eder einen räum lichen U niversalstaat, oder
wenn sie einen T eilstaat anerkennen m üssen, so m u ß er eine notw endige
Station im universalen Z eitlauf bedeuten. Zeit oder R aum ? Die F r a g e des
V o rran g s von Z eit oder R au m ist ja die F r a g e nach dem R e ch t d e r Revo­
lution seit dem K a m p f zwischen dem K aiser, dem W e ltra u m h e rrsch e r,
und dem P a p st, dem W eltzeitrich ter, also seit dem B eginn einer „ W e l t ­
geschichte. H egel h a t sie — wie alle R evolutionäre — zugunsten d e r
zeitlichen M acht entschieden. Das räum lich eingeschränkte P reu ß en ist
doch im Zeitablauf fü r ihn die notwendige, vernünftige Zeitstation.
E m p fän g t d er S taat seinen Sinn aus seiner Selbstsetzung, so kann e r an
sich W eltstaat sein. H egel h at m it anderen W o rte n die F ra g e d er ge­
schichtlichen T otalität dahin beantw ortet, daß die grundsätzliche T otalität
(die V ernünftigkeit) genüge. So konnte e r zum V erg o tter eines partiku­
laren und provisorischen Gebildes w erden. Aber gerade deshalb ist sein
Versuch so wichtig. Alle neuen V ersuche gleich er A rt sind näm lich gerade
deshalb zum Scheitern verurteilt. Die beiden A rten der T otalitäten können
fortan nach Hegel niem als wieder m iteinander verwechselt werden. H egels s
Preußenstaatsidee aufs R eich , G roßdeutschland usw. zu übertragen, ist v
verlorene LiebesmiülT. E s w äre das b loß er Aberglaube und gedankenlose
N achbeterei ohne geistige D urch d rin gu n g.
Denn beim N ationalstaat, beim R eich, bei Pan europ a, kurz bei irgen d­
einer von außerstaatlichen K räften hergeleiteten B egrenzung des S taats
fehlt gerade das Prinzip des preu ß isch en H eerstaates, das H egels Ge­
dankengang einzig und allein verständlich m ach t. N u r d er unnationale, un­
christliche, unnatürliche und unw irtschaftliche S taat P re u ß e n h atte jene
philosophische Q ualität, die H egel verleitet h at, ihn zu verabsolutieren.
P reu ß en s M angel, seine W id e rn a tu r, ist H egels R e ch tfe rtig u n g ! Sein
W irklichkeitssinn beugte sich in diesem einzigen F a lle dem bloßen D a ­
sein, — was e r sonst verw eigert h at. D enn dieser S taat, d er n ich t a u f ir ­
gendwelche seelische E n erg ien verweisen konnte, dieser reine V e m u n ft-
staat, bot dem D enker G ew ähr d afü r, d aß h ier etw as G eistiges, also eine
weltgeschichtliche V ernünftigkeit trotz äu ß e re r Staatsgrenzen sich äuß ere.
D er S taat ist d er die N atu r besiegende Geist. N im m t m an die R einheit des
M achtstaates weg — dann m ü ß te H egel d er erste sein, sich jede V erun­
reinigung seiner W eltgesch ich te d u rch V ergottu n g b lo ß er F ra g m e n te , wie
N ationalstaaten und dergleichen, zu verbitten.
N ur das fritzische P re u ß e n konnte also von H egel so vergeistigt w erden,
nicht aber irgendein n atü rlich er S taat.
F ried rich Schlegel, der protestantisch e H annoveraner, ist nich t so b e- Friedrich
kannt gew orden als H egel. A ber d a e r ein ebenso gew issenhafter und ScMegel
schöpferischer K o p f ist wie H egel, so m üssen w ir uns frag en , wie e r denn
h at helfen können, d e r nach p reu ß isch er M einung bankerotten Habs­
burgerm on archie die universale Ideologie zu liefern. E r , d er die kühnen
K riegsm anifeste von 1 8 0 9 v e rfa ß t h at, entdeckt an Ö sterreich eine welt­
geschichtliche T o talität wie H egel an P reu ß en .
Nun, auch Ö sterreich h at bis 1 9 1 8 B estand gehabt. D ies ist, an die
R ealpolitiker g erich tet, R ech tfertig u n g fü r Schlegel genug. E s m u ß also
K ra ft und V erm ögen zu sinnvollem B estände dagewesen sein. i 4 V ölker
haben ein n u r sehr kurz unterbrochenes Ja h rh u n d e rt in F rie d e n u n ter
einem Z epter gelebt. Auch dies die V orw egnahm e einer W e lto rd n u n g ,

423
die heut bald selbstverständlich sein wird, da ohne sie die Volker zugrunde
gehen m üssen. Auch Ö sterreich ist also eine Antizipation, die dem w elt­
historischen Denken einleuchten m u ß te als M om ent der T otalität, der
Endgültigkeit. D ie T otalität lag h ier im Ä u ßeren, Leibhaftigen, U m fassen­
den des Völkerstaates. W a r P reu ß en zw ar ein kleines B ruch stü ck , aber
reine Thesis d er Staatsvernunft, unabgeleitet von außen, so w ar Ö ster­
reich relativ eine T o ta litä t D a fü r w ar es du rch aus nich t rational. Die
D onaum onarchie vereinigte vielm ehr alle erdenklichen historischen Schich­
ten zur R ech tfertig u n g ihres irrationalen Daseins. Sie gab noch ihrem
H errsch er die alten kaiserlichen R echte in d er K irch e, sie gab ihm die
R echte des L an d esh errn , als an g estam m ter F ü r s t ebenfalls. D ie R ech te der
Stände lebten auch noch und sie tru g en — wie das englische K önigtum
zeigt — im m er notw endig auch das F ü rste n tu m m it. K u rz, von K a rl dem
G roß en h er gab es kein staatsrechtliches Leitm otiv, das in d er habsbur­
gischen H errsch a ft nich t anklang. H ier in d e r W ie n e r B u rg w ar der
R eichtum d er w irklichen W eltgesch ich te eines Jah rtau sen d s konserviert.
Von A ustria gab es das alte R ä tse l: A E I 0 U , A ustria e rit in orbe ultim a,
es werde au f E rd e n alle überdauern. R ich tig er ist wohl die A u flö su n g :
A ustria E u ro p ae Im ag o , Onus, U nio. Ö sterreich ist E u ro p a s Ebenbild,
B elastung und Zw ang zu r Einigun g. Ö sterreich b arg also säm tliche Stufen
einer G eschichte d er M enschheit in sich. Ö sterreich w ar katholisch im
Sinne des Allum fassenden. Sollte das einen D enker wie Schlegel n ich t be­
fried ig en ? Schlegel hatte den w ichtigen Satz schon 1 7 9 b niedergeschrie­
ben, d er das M otto dieses B ucbes sein k ö n n te :
„D ie b eh arrlichen Eigenschaften des M enschen sind G egenstand d er
reinen W issen sch aft, die V eränderungen des M enschen hingegen sowohl
des einzelnen als d er ganzen M asse, sind d er G egenstand einer wissen­
schaftlichen G eschichte der M enschheit.“ (V gl. oben S. 3 6 i .)
D am it h atte er den vulkanischen C h arak ter d er G eschichte deutlich be­
tont. Die Sätze sind wie eine A n w artschaft a u f W ie n , wo alle geologischen
Schichten d er abendländischen M enschheitsgeschichte sich abgelagert h a t­
ten. In diesem Sinne ist Schlegel katholisch gew orden und h a t e r in W ie n
die „C on co rd ia“ redigiert. D as B la tt sollte d er ,, K onk ordierun g‘ ‘ d er g ro ­
ß en europäischen G eistesw idersprüche, vor allem d er K onfessionen, die­
nen ! Schlegel w ar d ah er d u rch au s eh rlich und redlich* wenn e r das
K aisertu m in einer w issenschaftlichen G eschichte d e r M enschheit n ich t
m issen konnte. D aß die M om ente d e r G egenw art, von 1 7 8 9 an, d em
K aiserstaate fehlten, und e rst re ch t die d er Z ukunft, das w ar fü r einen
D enker, d er sch u f, w ährend N apoleon am Leben w ar, genau wie fü r H egel
im m erh in erträg lich .
S o h a t also Schlegel den Sinn d e r R eichsvergangenheit, die echte Ge­
schichte d er M enschheit, Ö sterreich zugesprochen, so wie H egel die rein e
V ern u n ft in P re u ß e n anerkannte und vorw eggenom m en glaubte.

Aad
Vergangenheitsrom antik und W eltgeltu n g des deutschen Geistes wähl­
ten sich B erlin und W ien als die G roß m ach tstätten , als Stätten der natio­
nalen W iedergeburt.
Aber au f beider Erkenntnis waren Ö sterreich und P reu ß en seit ihrem
staatlichen N iederbruch angew iesen: Die nationale Erkenntnis bedeutet
die Anerkennung d er M achtstaaten d u rch die N ation und die G eister der
Nation 1
Aus d er Nation, von weit h e r kam en diese A nerkenner in den M ach t­
staat P reu ß en und Ö sterreich hinein. E r ist seitdem nicht m e h r selbst­
genügsam , er w ar es ja nie. A ber nun d a rf e r auch nich t m eh r glauben es
zu sein. A uf V ernunft und au f G eschichte w aren die beiden V orm ächte,
in welche die deutschen R eligionsparteien ausliefen, nun abgestem pelt,
beide sollten eben deshalb eine T o talität des W eltprozesses in sich ver­
körpern.
Mit diesem Bunde zwischen M achtstaat und N ation haben w ir die eigen­
tüm liche T rennung von R eich, S ta a t und N ation in D eutschland noch
einmal erh ärtet. Sie w ar m öglich und nötig, weil die N ation stets g r o ß e r
w ar als jed er einzelne S ta a t in ih r. F ü r Ö sterreich w ar die L a g e so, d aß
es den R eichsglauben festhielt. D am it w ar die alte O rdnung d er G röß en ­
verhältnisse
R eich > N ation > S ta a t
fü r Ö sterreich die gegebene. Denn w eil Ö sterreich R eich war, u m fa ß te es
auch andere Nationen. D er R eichsgedanke blieb also kirchlich — ch rist­
lich — universal auch in Ö sterreich, wie vorh er im Heiligen R öm ischen
Reich.
Die F o rm e l paß te aber auch au f P re u ß e n bis 1 8 7 1 . G erade sie re c h t­
fertigte den G edankengang H egels. Sein S ta a t h atte weder rein g e sch ich t­
liche noch rein nationale „ U rsa ch e n “ . D ann w äre es etwas Zufälliges, ein
Gebilde b lo ß er E rfa h ru n g gewesen. So aber w ar e r e r selbst, F rie d rich s
des G roß en selbstgesetzte M acht. A uch P re u ß e n w ar also in d er D reiheit
R eich, N ation, S ta a t die k lein ste G rö ß e im R a u m ! 1 8 7 0 h at sich das ideo­
logisch, d. h. äu ß erlich geändert. P re u ß e n n im m t 1 8 7 1 den R eichstitel
an, ohne das R eich zu sein. Ohne V erantw ortung f ü r Ö sterreich, U n garn ,
Polen, Serbien nennt es sich kleindeutsch „ R e ich “ . D ie L a g e w urde also
nun fü r die preuß isch -d eu tsch en Schulkinder u m g efälsch t in eine G röß en ­
ordnung, in d er das alte P re u ß e n als R eich und die N ation aufeinander
folgen.
N ation > R eich > S taat.
D as R eich B ism arck s erschein t als die m ittlere G rö ß e , kleiner als die
N ation, g rö ß e r als d e r p reu ß isch e S taat, ein G ebrauch des W o rte s, d er
n u r unter B ism arck s W illen sm ach t standhält. A uf das „ R e ich “ , das zwi­
schen P reu ß en und d er N ation schw ebt, w ird d er M achtstaatsglaube naiv
üb ertragen.

4a5
Aber die Logik d er geopolitischen M ittellage unseres R eichs duldet die­
sen Schwebezustand nicht. Sie treibt es schnell hinein in die W elt. Die
Bagdadbahn, die Balkanpolitik, in M arokko die Spuren K arls V. — alles
Reichs- lenkt gegen den ausdrücklichen W illen des R eichsgründers m it weltge-
^ ü^ ui18 geldehtlicher Folgerich tigk eit in B ahnen, die so g ar g rö ß e r sind als die
Nation. D eutschland w ar n ich t satu riert. D as „R eich “ ließ sich nich t auf
der Zwischenstufe zwischen P reu ß en und d er N ation festlegen. E s darbte
aller Quellen d er inneren E rn eu eru n g. D enn es w ar abgeschnitten von den
fritzischen und von den katholischen W achstum sw urzeln. E s w ar in kei­
nem Sinne m e h r total. Ohne solchen W eltsinn und ohne solche W eltfu n k ­
tion haben aber die D inge dieser W e lt keinen B estand. Sie sind dann E in ­
tagserscheinungen. R eichsgründ ung ist eben ein böses W o r t. E s erin n ert
an die G ründerzeit. E in altrig e, d er R eproduktion unfähige, lib eral-cäsari-
stische Lebensform en kann m an gründen. G ründen h eiß t n u r, produ­
zieren wollen. W o bleibt aber die R ep rod u k tio n ? Sie versagt sich d e r
„R ealpolitik“ .
D er W eltk rieg h a t die M ittelm ächte in die W e lt zurückgew orfen. D er
W eltk rieg unterscheidet sich sehr deutlich von den G ründungskriegen B is­
m arcks. E r ist über die K öpfe d er Staatsm än n er hinw eg g e fü h rt w orden.
Die deutschen H istorik er fanden diese g ro ß e K atastro p h e fü r ih r Geschichtsr-
bild, wie öffen tlich ausgesprochen w urde, unergiebig. N atürlich. Denn
er stiftet. Stiften ist die Sorge fü r die R eproduktion des Lebens. Stiften
h eiß t fü r die W ied erk eh r des Lebens sorgen. S tiften ist die T a t n ich t n u r
d er einzelnen, sond ern auch d er Völker dann, wenn sie das Leben hingeben
fü r eine unbekannte Zukunft. Je su s h a t die K irch e gestiftet, weil e r sie
nich t g eg rü n d et hat. D er W e ltk rieg stiftet die T otalität d er W e lt neu und
die D eutschen als W eltvolk, als O rgan ein er E rd to ta litä t darinnen. D ieser
Weitstiftung Stiftungsk rieg liquidiert das E u ro p a von 1 7 8 9 m it F ra n k re ich in der
Mitte d e r W e lt. E r vernichtet deshalb z. B . a u ch den a u f b ü rg e rlich ­
national adap tierten M itteleuropaplan N aum anns. D as Stich w ort „ E u r o ­
p a “ ist ein P a rise r Stich w ort und w ar eben deshalb falsch gew ählt. A ber
die M ittelm ächte w erden w ieder zu rü ck geru fen in die W e ltg esch ich te der
ganzen W e lt und d er ganzen E rd e . H egels und Schlegels P ro v iso rien
sind entlarvt als Provisorien, wenn auch als g ro ß a rtig e und w ahre P r o ­
visorien. R eich und Staat, d er D eutschen sind n ich t die letzte g esch ich t­
liche noch die reine philosophische V ern u n ft des W eltgeistes. A ber sie
sind in d ieser V ernu nft aufgehoben und aufbew ahrt an ih rem Teile als
Ganzes. D er R eichsgründ ungskrieg von 1 8 7 0 / 7 1 und d er stiftende
W eltk rieg sind also G egensätze.
Die stiftende M acht des W eltk rieg es stellt die un erh örte A ufgabe, ein
G anzes, die N ation, in ein G anzes, in die W e lt funktional einzubauen. N icht
als W e lth e rrsch a ft, ein W a h n n u r solcher, die den W e ltk rie g p ic h t m it­
gelebt haben, sondern als M itarbeit. D aß ein Ganzes sein könne und ein

^26
G rößeres, beide ganz und beide aufeinander bezogen, das ist dem Denken
des B ü rg ers unvorstellbar. Eben dies aber ist das E reignis des W eltkrieges,
k raft dessen er die R om antik der beiden K aisertü m er ersetzt durch die
W irksam keit der Nation in der Weltgesellschaft. Die G anzheit Nation
kann sich also nicht als Mitte ansehen, als Z entrum , von dem her die W e lt
eingerichtet würde. Sondern die W e lt b eru ft die D eutschen in diese A r­
beitsfunktion. N ur von dieser A rbeitsleistu n g her kann die W e lt zu funk­
tionieren anfangen. Indem D eutschland seine Funktion der M itarbeit in
der proletarisierten W e lt an tritt, tritt bereits ein Stück W eltgesellsch aft
in Funktion. Ganz D eutschland, aber n ich t sich selbst überlassen, nich t
autonom oder souverän, ganz D eutschland, aber nich t in P arteien auf­
gelöst, sondern als R eichskörper w irksam — die Überw indung der H egel-
schen R echten und der H egelschen Linken zugleich, stiftet d er W eltkrieg.

7. Bach , Beethoven, Wagner


Man erzählt, daß 1 9 1 8 in B erlin deutsche revolutionäre K om m unisten
nicht w agten, quer über die Park an lagen zu laufen, sondern gehorsam die
gewundenen W eg e innehielten, deren B etreten nich t verboten w ar, und
daß sie deshalb von d er Polizei erg riffe n werden konnten.
Die H errsch aft d er abstrakten R egel im deutschen Staatsm enschen
lähm t die G eistesgegenw art des W illens. A ber dieser d u rch die „M ethode“
zerbrochene W ille rich tet sich in d er unendlichen W u n sch w elt d er Töne
wieder auf. L u th ers C horal und Jo h a n n Sebastians K an taten läutern diese
im Polizeistaat gefangenen U ntertanen. G egner und B ew underer dieses
Befundes sind sich über seine Tragw eite einig. M ax W e b e r z. B . fand im
M ännergesangverein das notw endige K o rre la t zu dem beschränkten U n ter­
tanenverstand. Denn w er sich gew öhne, m äch tige B egeisterung im Liede
zu verström en, ohne irgendw elche praktische F o lg e n daraus zu ziehen,
d er sei allerdings im W e ltla u f d rau ß en leicht ein W erk zeu g frem d en
W illens, ein U n tertan. F rie d rich Nietzsche h a t gegen diese V ersch m ieru n g
du rch die gefühlige Musik p ro testiert. S tefan G eorge h at sifch und seinen
K reis aus den A usläufern dieser m usikalischen U n zu ch t und V erbuhltheit
bewußt herausgehoben.
Aber obwohl w ir von rückw ärts h er diesen K ritik ern viel R au m einräu­
m en d ü rfen , so haben w ir erst das R eich d er T öne in seiner politischen
B edeutung noch zu durcheilen. D enn die M usica sa cra ist ein Lebensele- Musica sacra
m ent un serer G eschichte.
B ach g e h ö rt zu r R efo rm atio n wie M elanchthon. S o g a r aus dem im m er
sachsenfeindlichen H alle fu h r m an bis 1 9 1 4 allw öchentlich in die T h o ­
m askirche nach Leipzig zum B achkonzert. F ü r den gebildeten Leipziger
w ar diese Stunde m ittag s von 1— 2 U h r D ienst. P reu ß en s W ie d e ra u fe r­
stehung n ach 1 8 1 5 w ird begleitet d u rch die W ied erau fersteh u n g, die
F e lix M endelssohn-B artholdy d er B ach sch en Musik in B erlin bereitet h at.

427
Und so werden in Ö sterreich Gluck, Haydn, und M ozart, Beethoven,
Schubert und S trau ß die Landessprache seiner i 4 Nationen. E s ist ja
nich t w ahr, d aß es in Ö sterreich n u r Tschechen, D eutsche, R uthenen,
M agyaren, K roaten usw. gäbe. A uf Ö sterreichs Boden sind alle diese N a­
tionen zu Ö sterreichern geworden. A gram , P ra g , B udapest, so g ar Krakau
sind desselben Geistes K inder. E r h a t den Völkern ihre S p rach e belassen,
aber du rch alle tö n t die eine österreichische Musik. In keinem Lande der
W e lt du rch d rin gt wohl die Kunstm usik wie ein N aturlaut jedes Bürger-
und B auernhaus. Die B ildung des Ö sterreichers ist eine m usikalische.
D urch sie bildeten alle Bew ohner Ö sterreichs ein Volk. N irgends z. B . ist
für die A rbeitersch aft gute Musik solch natürliches Anliegen wie vor allem
in W ien.
Die F r a u gew innt d u rch diese Rolle d er Musik ohne w eiteres eine poli­
tische Bedeutung. W en n sie, die T schechin den Ö sterreicher, die Slawin
den T iroler, die U n garin den V o rarlb erger heiratet, so kann sie n ich t im ­
m er ih re M uttersprache, im m er aber die Musik aus dem E ltern h au s ins
eigene H aus m itnehm en. Die Musik w ird so ein d er kirchlichen O rdnung
d er Frau en w elt weltliches Abbild in Ö sterreich. W a s die M aler von F lo ­
renz in ihren M adonnen den Italienern, das haben die K om ponisten von
W ien d er Ö sterreicherin im V ölkergew irr geschenkt, die in d e r babyloni­
schen Sprachenverw irrung durchgehende Lebensm elodie der E rb to ch te r
zwischen den Völkern.
M an h a t die Ö sterreicher wohl als Ph äaken verlästert. D a h a t Anton
W ild g an s treffen d dieses Scheltw ort in einen E h ren n am en verwandelt
E r h a t die N atu r d e r Ö sterreicher verglichen dem , was d er S än ger H o m er
von den Phäaken und der phäakischen K ö n ig sto ch ter N ausikaa singt, die
den auf die Insel aus frem dem Volk verschlagenen F re m d lin g liebreich
auf nim m t. Und w ieder h a t die Musik dieses höchste m enschliche E rb e
des fheresianischen R eich es v e rk lä rt:

---- -------
LffvV 1 _ 9
---------- z
w J
-------L_ *■ m ........
*-------------- ---- -- ----1-------1-------; - e i *r -----
1 vl/___ V jp— —d -------1------ rr----j
^ -----*----- 9 ZT” -Z t-j
Euch ed - le Frau al - lein, Euch ziemt es ganz ihn zu be - frein

Beethovens Fid elio ist das hohe Lied dieser aufopfernden weiblichen
Liebe, die den K erk er des M enschen m it ih rem glühenden R u fe „ F lo r e -
stan “ s p re n g t An kein W e rk h a t Beethoven so viel Liebe und A rbeit g e ­
setzt. E s ist denn auch d u rch die O p ern form — Beethoven h at n u r diese
eine kom poniert — seine g rö ß te H uldigun g an sein A doptiv-V aterland.
E in e p olitische E rzieh u n gsgew alt versinnbildet die ö sterreich isch e M usik,
und E d u ard H anslick, d er F ü h r e r d er M usikkritik des Landes, sch rieb
1 8 8 6 : „D u rch seine überragende B edeu tung in d er Tonkunst is t W ie n
n ich t bloß die m usikalische R eich sh au p tstad t Ö sterreich s, sondern ein

A28
m ächtiges R eich fü r sich. Seine m usikalische O berhoheit reich t weit über
die Grenzen der Monarchie hinaus. Leichte Anklänge slawischer, ma­
gyarischer, italienischer W eisen, belebend und verschönernd wie Rassen­
m ischung überhaupt klingen leise herein, ohne den em inent deutschen
C harakter d er W ien er Musik zu b eirren .“
D ieser selbe Hanslick h at R ich ard W a g n e r in W ien unm öglich g e­
m acht. E r ist der „B eck m esser“ in den „M eistersingern von N ürnberg“ .
Das ist kein Zufall. Sondern eine Synthese von B ach und Beethoven wird
versucht. Sie geht über den W ie n e r H orizont hinaus. Gegen die alte jose­
finische R eichsrichtung vom R hein zu r D onau, wie sie des B onner Lu d ­
wig van Beethoven Trium phe in W ien abbilden, erhebt sich in R ich ard
W ag n ers W erk der Geist der beiden Flankenm ächte von 1 7 4 1 und 1 7 8 9 ,
von 1 8 4 9 1 8 6 6 , d er G eist d er norddeutschen P ro testan ten und der
U ngarn zum Gegenschlage.
In P reu ß en h at die Musik fü r die B ildung des V olkscharakters u ich t
den P rim at. Die Musik ist n u r Schm uck und E rleich teru n g des M ilitär­
staates — wie überall eine gute Regim entsm usik. Im m erhin ist F rie d rich
der Einzige nicht ohne sein Flöten k on zert zu denken. Und d aß am En de des
G roßen K rieges 1 7 6 3 G rauns Te D eum vor dem K ön ig als einzigem Z uhö­
rer erklang und dieser beim H ören den T rän en freien L a u f ließ — diese E n t­
spannung des philosophischen K önigsgeistes in einen offenen G efühlsaus­
bruch seiner deutschen Seele — das verm ag n u r die Musik. Aber m it
jedem S ch ritt nach D eutschland hinein b rauch te P reu ß en dringender „ein
m oralisches Bekleidungsstück“ seiner Staatlichkeit. Z elter h at seinen Bund
m it Goethe d er Singakadem ie zugute kom m en lassen — und die Sing­
akademie und ih r Publikum haben von A lexander von H um boldt und F e lix
M endelssohn bis zu Jo sep h Jo a ch im und dem K lin glerq u artett hin in
B erlin etwas bedeutet an öffen tlich er M einung.
Aber Potsd am und die Musik m u ß ten noch einen g ro ß a rtig e re n Bund
schließen, um die N ation zu gewinnen. D iesem B unde h at B ism arck n u r
widerwillig nachgegeben. B ism arck h at in R ich ard W a g n e r einen A ffen
erblickt. A ber er h at zugeben m üssen, d aß 1 8 7 6 in B ay reu th die d eu t- Bayreuth
sehen F ü rste n insgesam t sich versam m elten z u r W eih e d er deutschen
K unst. Seitdem w urde B ayreu th das Stelldichein d e r Gebildeten in dem
kleindeutschen P reu ß en reich .
Ohne B ayreu th — das d a rf m an ohne Ü b ertreibun g sagen — hätte es
der deutsche G eist in B ism arcks R eich schlechterdings n ich t ausgehalten.
Jem an d wie N ietzsche, der dies R eich als barbarisch ablehnte, und d rau ­
ß en blieb, d er d u rfte auch das G egen gift ablehnen, das R ich ard W a g n e r
den D eutschen kredenzt hat. A ber das von einem naiven Verhältnis zu r
G roßm achtpolitik ausgeschlossene und nun doch von d er R eichsgründ ung
um schlossene Leben d e r N ation h a t sich in B ayreu th — und in allem
was dam it zusam m enhing — „erlösen “ lassen.
Dieser B ay reu th er B au — das Festspielhaus und die Villa W ahnfried —
steht aber a u f drei O pfern. R ich ard W a g n e r ist nich t in B ayreuth gestor­
ben. E r , d er F lü ch tlin g von i 8 4 8 , ist zeitlebens nich t m eh r schollenfest
geworden. In B ayreuth gestorben sind aber die drei G enerationen, die sein
W erk durchgesetzt haben, F ra n z v. Liszt ( 1 8 8 6 ) , C osim a, seine T o ch ter
von d er G räfin d ’A goult, und schließlich Cosim as und R ich ard s Sohn
Siegfried W a g n e r ( i g 3 o ). Liszt, den katholischen U n garn, und R ich ard
W ag n er, den protestantischen Sachsen, um schließt ein im ponierendes Ge­
schick.
Denn niem alen hätte W a g n e r in das Leben d er D eutschen einzugreifen
verm ocht, wie e r getan, ohne die O pfer, die d er U n g ar und seine T o ch ter
fü r ihn g eb rach t haben. F ra n z v. Liszt ( 1 8 1 1 — 1 8 8 6 ) , d er katholische U n­
g a r, ist ein Lan dsm ann d er H eiligen Elisabeth. Elisabeth von U n garn
( f 1 2 3 1 ), h a t in die ghibellinischen L än d er des N ordens die Sü ßigkeit des
franziskanischen H erzens g etragen . Sie ist d aran zerbrochen. A ber die
W a rtb u rg ist d u rch ih r Andenken und d u rch das an den Sängerw ettstreit
geweiht. F ra n z v. L iszt kom m t n ach dem klassischen Lande des P ro testan ­
tism us, zu dem G ro ß h erzo g von S a ch se n -W e im a r-E ise n a ch , dem Onkel K a rl
Augusts. Von 1 8 4 8 an h a t Liszt in W e im a r — m it U n terb rech ungen bis
1 8 8 6 — gew irk t; d u rch ihn h a t das nachgoethesche W e im a r eine neue
K unstblüte e rle b t: und im m er und im m er w ieder h a t e r hier fü r R ich ard
W a g n e r gekäm pft und gew orben, bis d er Fun k e — n ach zwanzig J a h ­
ren — übergesprungen w ar und der bayrische K ön ig Ludw ig sich W a g ­
n ers annahm . Liszts P aten sch aft w ar d am it geleistet. A ber noch einm al
wäre W a g n e r an diesem T rau m k ön ig zerbrochen, wenn n ich t je tz t H ans
von Bülow s F r a u , Liszts T o ch ter C osim a, ih ren M ann, d er W a g n e rs Musik
in M ünchen d irigierte, verlassen hätte und zu W a g n e r, dem 2 4 Ja h r e älte­
ren M anne, n ach T riebschen geeilt w äre, m it derselben selbstvergessenen
R itterlichkeit, m it d e r sich ih r V ater eingesetzt h atte. B ay reu th ist Cosi­
m as W erk . Sie „ b a u t“ W a g n e r und setzt so in d er zweiten G eneration
fo rt, was d e r V ater L iszt begonnen h at.
i 8 8 3 schon stirbt W a g n e r. C osim a W a g n e r setzt die Festspielleitun g
bis 1 9 0 8 fo rt. 1 9 0 8 aber tr itt d er Sohn an ih re Stelle. Siegfrieds eigenes
S ch affen wird willig u n ter den S ch atten des V aters gerückt. Mit anderen
W o rte n , n och eine dritte G eneration o p fert sich fü r den T em pel d er
Musik. M an m a g dabei zu W a g n e rs Musik stehen wie m an w ill: D ie Ö ko­
n om ie des N ationallebens ist keine F r a g e des G eschm a cks, sondern d er
F u n k tio n en . W a g n e rs B ay reu th h a t m it T ann häuser, L oh en grin , P a rsifa l,
M eistersinger und m it dem R in g d er N ibelungen die O per zu r K u ltu r­
g ro ß m a c h t erhoben. Die N ibelungen, die den U n terg an g d er H eldenw elt
am b ü rg erlich en K ap italism u s und die europäische G ö tterd äm m eru n g vor­
w egnehm en, und die zugleich das alte Im p eriu m , das R eich sk riegertu m
d er germ an ischen Stäm m e in d e r B lu trach esage verklären, — sie sind die

43o
alte vorkirchliche und vorchristliche R eichserinnerung der Deutschen. Die
Verweltlichung d e r päpstlich-römisch-abendländischen Kaiserw elt in der
österreichischen Musik em pfängt also ih r G egenstück in d er Reichsm usik
W ag n ers. W a g n e r vergeistlicht, verkirchlicht, verchristlicht die reine K rie ­
gerwelt d er R eichsstäm m e Karls des G roß en. D er P arsifal h at deshalb
Nietzschen angeekelt. („ I s t das nich t R o m ? “ ) Aber d er W e g W a g n e rs
w ar kein zufälliger.
D er österreichische Abschluß liquidiert die kirchlichen G rö ß e n :
Abendland
W eltg erich t
K loster
P ap st _
K irche
m it steigender Säkularisierung in Ö sterreich und in W ien s M usik:
M ozart (R equiem , Z auberflöte)
Beethovens Sym phonieen bis z u r neunten! Fidelio
Schubert Lieder. —
D er reichsd eu tsche Abschluß aber r a f f t alle rein weltlichen E le m e n te :
die N ibelungengötterm ythen
die Heldensage
die Stadtkultur
den M ilitärstaat
das S tam m eskriegertu m d er G erm anen
den P reu ß en m ach tstaat zusam m en zu ein er steigenden V ergeistlichung in :
B ayreuth, L oh en grin , T ristan , M eistersingern, Nibelungen, P arzifal.

D ieser Abtausch h at also den P ro testan ten einen Zuw achs g eb rach t an
Katholizität, an Seelengehalt, d e r den rein w eltlichen O brigkeiten d er
Stäm m e an sich — ohne K irch en refo rm atio n — m angelte. Siegfried s,
des tum ben R ecken, des Helden, V erklärung ist und bleibt W a g n e rs T at,
die aus d er deutschen G eschichte n ich t wegzudenken ist.
Aber diese T a t ist nich t eines einzelnen Ü berm enschen T at. Sie ist kein
„G eniestreich“ . W a s a u f den N am en W a g n e rs, des p rotestantisch en N ord­
deutschen, eingetragen steht im B u ch d e r G eschichte, geschieht m inde­
stens ebensosehr von G roß v ater L iszt über die M u tter C osim a zu dem
Enkel Siegfried dank d e r L iebeskraft und D uldensfähigkeit aus dem feu­
rigen, ritterlich en , ebenso katholischen wie adligen U ngarlande des H abs­
burgerreiches. W a s in drei G enerationen bew ährt w ird, ist unsterblich.
D ieser V erschm elzungsprozeß au fop fern d er T ra g k ra ft d er Lisztschen
Seele und k äm pfend er L eid en sch aft des W ag n ersch en Genius k o m m t
d u rch eine geheimnisvolle W ah lv erw an d tsch aft zustande, die auf dem Bo­
den d er R eligionsparteien d e r S p annun g zwischen Seele und G eist, zw i-

43i
sehen evaücher töchterlicher H ingabe und H ans Sachsscber M eister­
sch aft entsprungen ist.
Und so ist in dieser Wahlverwandtschaft die schicksalhafte Z usam m en­
gehörigkeit d er M ittelm ächte noch einm al, du rch die gewaltsam e G roß tat
des B ay reu th er Gesamtkunstwerks, bew ährt worden.
„G esam tkun stw erk“ h at m it F u g R ich ard W a g n e r diesen Religions­
ersatz genannt, du rch den die N ation trotz ih re r G laubensspaltung und
T^otzyder Aufspaltung in preußische und habsburgische Einflüsse jenes
unentbehrliche G efühl eingeflößt bekam, an der T otalität des W eltlebens
und der W eltgesch ich te als T otalität Anteil zu behalten.

43a
XIX. G E T R E ID E F A B R IK UND E R D B A L L S T A A T

1. Mütterchen Rußland in Zahlen


1900 zählte Rußland
Quadrat­ auf 1 Quadrat­
Reichsteile Einwohner
kilometer kilometer

Europäisches Rußland................ 4 889 062 93 4 4 a 000 19


davon Ostseeprovinzen............ 94 000 1 385 000 25
Kongreß-Pölen.............................. 127 319 9 402 OOO 73
Finnland................ ........................ 373 612 2 673 200 8
Kaukasus......................................... 472 554 9 289 364 *9
Sibirien........................................... 12 518 489 5758822 0,5
Zentralasien................................... 3 5 ° 4 899 7 746 718 2
A ralsee........................................... 67 769
Kaspisches Meer........................... 438 687,9
22 392 392 128 313 OOO 5,7

Die w ichtigsten N ationalitäten in Millionen und Prozenten


G roßrussen 5 5 ,7 44
Kleinrussen 22,4 18
W eiß ru ssen 5,9 4,7
Polen .7*9 6,3
B ulgaren 0,2
D eutsche 1,8
L itau er 1,2
Ju d en 5 ,i 4
K irgisen 4 ,i
T ataren 3 ,7
§
R ußland zählte 1 9 1 4 soviel B au ern w irtsch aften als F ra n k re ich 1789
Einw ohner, ru n d 2 4 M illionen. E in Sechstel d e r Erdoberfläche ist ru s­
sisch. D as G ebiet ist vierzigm al so groß als F ra n k re ich . Die im Frieden
von B rest-L ito w sk abgetretenen R andstaaten von F in n lan d bis Bessarabien
sind etwa anderthalbm al so g ro ß als D eutschland.
Die W o lg a h ält das europäische R u ß lan d als V erkeh rsstraß e zusam m en.
Ohne die W o lg a w äre es n ich t ein L an d. An d er W ald aih öh e um geh t ein
kom biniertes System von 8 5 9 k m L än ge die W asserscheide. D er O rt, an
dem m an vor dem B a u des K an als die S ch iffe a u f den Schultern aus dem
nach d er O stsee abfließenden Strom n etz in das W o lgan etz um setzte, h e iß t
darnach W o lo tsch o k . 3 6 7 8 km weit ist die W o lg a schiffbar. In ihr Strom­
gebiet fallen anderthalb M illionen Q uadratkilom eter. D u rch die K an al-
28 Rosenstock 433
Systeme zur Ostsee hin ist aber dies Gebiet noch erheblich vergrößert.
Auf der geographischen L än ge der W olgalinie findet sich die letzte n atü r­
liche V erkehrsgliederung des europäischen K ontinents.
i 5 5 Völkerschaften zählen die bolschewistischen Statistiken auf der
heutigen F lä ch e d er Sow jetunion. E s w aren also vor dem W eltk rieg noch
m eh r. D er Bevölkerungszuwachs w urde m it dem E in tritt europäischer
Einflüsse beängstigend g ro ß . 1 8 9 4 zählte R u ß lan d 1 2 6 Millionen E in ­
wohner, das europäische R u ß lan d allein ohne die R andstaaten und ohne
den Kaukasus etwa 8 8 M illionen. Ü ber 2/ 3 d er Bevölkerung sind Russen.
W äh ren d in F ra n k re ich vor dem K rieg au f 3 9 Millionen Einw ohner
8 7 0 0 0 Ju d en kam en, gab es in R u ß lan d einschließlich d er Randgebiete
5 ,2 5 Millionen Ju d en , davon ab er die M ehrzahl in den R andgebieten; im
heutigen R u ß lan d sch ätzt m an die Z ah l a u f drei Millionen, die aber in
einigen Landesteilen frü h er gew altsam zusam m engedrängt auch heu t noch
so hausen.
84, 6o/o des B auernlandes waren in G em einde- und n u r i 5 , 4 °/o in per­
sönlichem Besitz. D er Gemeindebesitz ist eine H aftungsgem einsch aft, um
die au f das L an d gelegten Zahlungen d u rch S o lid arh aft zu sichern. D er
M ir w ar eine P flich t, kein R ech t. D ie V erteilung hieß d ah er A b- und A uf­
wälzung d er Seelen.
Als M aßstab bei U m teilungen g alt die A rbeitsk raft eines arbeitsfähi­
gen E h ep aares (T ja g lo ), oder die „m ännlich e Seele“ oder n a ch E ssern ,
n ach gutem W illen , n ach Seelen schlechthin.
Die neue Besitzverteilung d u rch die B au ernb efreiun g von 1 8 6 1 w äre im
Ja h r e 1 9 3 2 ganz d u rch g efü h rt gewesen.
2 2 Millionen „Revisionsseelen“ sind 1 8 6 1 b efreit w o rd en ; 6 , 3 H ektar
Lan d, also 2 5 M orgen kam en au f die Seele, i 4 o M illionen H ektar sollen
verteilt worden sein. 1 9 1 7 haben sich die B au ern weitere 1 0 0 M illionen
H ektar angeeignet, und die Bolschew ik! haben das sanktioniert. D o ch w ar
über ein D rittel dieses Landes bereits vorh er P ach tlan d . So k o m m t es, d aß
n u r 2 1 2 Millionen H ektar im ganzen in landw irtsch aftlich er N utzung ste­
hen sollen.
8 5 0/0
der Bevölkerung lebten in der Landwirtschaft. Doch waren dar­
unter nicht weniger als 7,5 Millionen nebenbei in hausgewerblicher Zu­
satzindustrie tätig, der sogen. Kustarnaja Promy schlennostj .
2 1 G ouvernem ents litten M angel an G etreide, 1 0 balancierten, und 2 9
hatten Ü b erflu ß .
Von 1 0 0 0 0 Einw ohn ern R ußland s w aren 8 9 1 Analphabeten, w ährend
z. B . in F in n lan d Schulzw ang bestand, es also p raktisch keine A nalpha­
beten gab.
Von den Z eitungen und Z eitsch riften , die 1 8 9 5 erschienen, b ra ch te
M oskau und P e te rsb u rg 3 4 a heraus, das ganze übrige L an d n u r 4 6 o .
A uf ein qkm kam en in R u ß lan d im D u rch sch n itt 2 0 , 8 Seelen gegen l\o

434
in den m enschenleersten Kreisen Schlesiens. N ur die Gouvernements Mos­
kau, Kiew, Charkow, Tula, Orel, R jasan , Podolien und Kursk waren nen­
nenwert stärker bevölkert als diese (über 5 o auf den qkm ).
F ü r den K riegsfall rechnete m an m it einem H eere von 3 Millionen. Im
W eltkrieg haben i 5 Millionen die U n iform getragen. D och m uß ten viele
davon unbewaffnet bleiben aus M angel an Gewehren und M unition.
Das K lim a zeigt T em peraturen, die in anderen europäischen Ländern
unbekannt sind, besonders nach unten. —3 o ° Celsius w ird in ganz R u ß ­
land au ß er der K rim erreicht. D och sind —4 o° und in Sibirien —5 o °,
—6o ° und m eh r auch au f län gere Zeiten bei stiller trockener h eiterer
W itteru n g keine Seltenheit.
9 5 o o o o qkm im m ittleren und südlicheren R u ß lan d sind T schernosem ,
L ö ß , Schw arzerde und d ah er besonders fru ch tb ar. S ü drußland ist Step­
penland, ohne allen W a ld , und die Versandung e rg re ift hier jäh rlich neue
Landflächen.
Dies L an d ist auch sonst n ich t in Bebauung. E s ist in einer ungeheuren
Bewegung.

2. Die russische Expansion


R u ß lan d h atte im i 4 . Ja h rh u n d e rt 5 6 o o o o qkm
16. „ 8720000 „
17. „ 14392000 „
18. „ 17 0 8 0 0 0 0 „
1 9 . ( 1 8 8 5 ) „ 22 3 n 992 „
Dieses L an d m arsch iert. A lljährlich w andern seine B au ern w eiter. D ie
Steppe w ächst, aber die Kolonisation neuer Ländereien w ächst n och stä r­
ker. 1 5 8 1 kam m it der F e ste Sibir das asiatische R u ß lan d dazu. D er B au er
wandert. E r ist kein B au er im w estlichen Sinne. D enn er bleibt bereit zu
wandern. D er Zarism us ist o ft h in ter den E ro b eru n g en des B au ern h er­
gehinkt. D ie russische Exp an sion ist kein W e rk d e r R egieru n g allein.
Die R egieru n g steht n u r vor d er F r a g e , dies unabsehbare L an d zu o rg a ­
nisieren. Die L an d frag e ist die F r a g e R ußlan d s. Schon 1 8 7 9 lautete das
sozialistische P ro g ra m m , dem au ch die m eisten Liberalen zustim m ten, in
Punkt 4 * Sozialisierung des Landes.
Das m uß so sein in einem B auernlande, das vom K apitalism us n u r eben
zu Akkumulationszwecken au fgezeh rt werden kann.
Jed e neue F ab rik bedeutet Z erstö ru n g einer H ausindustrie des B au ern ,
jede kapitalistische L an dnahm e E n teig n u n g , jede E xp o rtsteig eru n g U m ­
wandlung des Selbstproduzenten in den W arenproduzen ten, finanzielle
Eingliederung in den K apitalsprozeß d u rch H ypothekenschulden usw.
Nun lebt das W irtsch aftssy stem des „ F o rts c h ritts “ von dem V o rh an ­
densein nichtkapitalistischer W irtsch a fte n , die es doch einbeziehen l^ann.
E s ist ein eroberndes System . „ D er K apitalism us ist die erste W irts c h a fts -
28 *
435
fo rm m it propagandistischer K ra ft, eine F o rm , die die Tendenz hat, sich
auf dem E rd ru n d auszubreiten und alle anderen W irtsch aftsfo rm en zu
verdrängen. E s ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere W ir t­
schaftsform en als ih r Milieu und ihren Nährboden, nich t zu existieren ver­
m a g .“ (R osa L u xem b u rg.)
D ieser innere W id ersp ru ch des K apitalism us, ständige Expansion und
zugleich Z erstöru ng der K au fk raft der Produzenten stö ß t nun in R ußland
au f einen ebenso g roß en W id e rsp ru ch : ungeheure E xp ansion des L an ­
des bei Fehlen jed er D urchorganisation.
A ls F o rm el:
Den K apitalism us interessiert die M obilm achung der W a re n , der
Produkte,
er vernachlässigt die d am it verbundene M obilisierung der
Produzenten, die Proletarisieru n g.
D as alte R u ß lan d interessierte die M obilisierung d er Produzen­
ten, die ständige B au ern flu t,
es vernachlässigte die M obilm achung der G üter, die W a re n ­
produktion.

Nirgends stießen zwei so extrem e W elten aufeinander als d er städtisch e x ­


pandierende K apitalism us und das M ütterchen R u ß lan d d e r „ B au ern ex­
pansion“ .
D er A ufprall d er Ideen von 1 7 8 9 au f die russische Exp an sion h a t diese
zu denaturieren und in eine im perialistisch-kapitalistische Exp an sion zu
verwandeln gesuch t. Aus diesem K onflikt entsp rin gt die Revolution.
Die französische Revolution h a t die R unde d u rch ganz E u ro p a ge­
m ach t. Sie h a t den N ationalstaat überallhin gepflanzt, die H e rrsch a ft d er
H auptstadt über das L an d , die B efreiu n g des B ü rg e rtu m s von Adel und
Geistlichkeit. Sie ist au ch n ach R u ß lan d vorgedrungen. U nd h ier ist sie
zum Stehen gekom m en. Zw eim al ist das geschehen. W ie jede Revolution
kam auch die von 1 7 8 9 in doppelter F o r m zu den V ö lk ern : im K rie g und
im F ried en . Ih r k riegerischer W eg b ereiter w ar N apoleon. 1 8 1 2 k eh rt
er in M oskau um . H ier ist kein L an d , das e r m it dem B azillus d er Ideen
von 1 7 8 9 im pfen kann, wie W estfalen o d e r Venedig oder Polen. Und
d arau f am m eisten beruh t wohl die Schicksalswende des Zuges n ach R u ß ­
land. N icht m ilitärische Entscheidu ngen, n ich t d er B ran d von M oskau
haben Napoleon w irklich vernichtet, e r steht 1 8 1 S ungebrochen da. U nd
dennoch ist von allen Zeitgenossen d er Z u g gegen R u ß lan d als die W en d e
em pfunden w orden. D ie K aiserideologie des F e ld h e rrn stieß hier in einen
L eerrau m , in den ihn die T aten und Ideen d er Revolution von 1 7 8 9 n ich t
m eh r hineinbegleiten konnten. Dies g riech isch -o rth o d o xe L a n d leidet
weder unter K irch e noch u n ter Adel. E s h a t ganz andere Leiden als die
B ü rg e r von F ra n k re ich . So ist d er Z u g gegen R u ß lan d sinnlos. U nd n ich ts

436
wirkt so erschütternd, wie das Entdecken politischer Sinnlosigkeit einer
heroischen T at.
Der Fried ens weg d er Ideen von 1789 nach R ußland hatte schon
im 18. Jah rh u n d ert begonnen dank der „A u fk läru ng“ . Seit i 8 i 5 aber
erfolgte auch die politische W irk u n g. Schon 1 8 2 5 versuchten die D eka-
bristen die G arde von P etersbu rg fü r einen Staatsstreich des G roßfürsten
Konstantin zu gewinnen. H och K onstantin! rufen die G ardisten, und hoch
seine F ra u , die F r a u K o n stitu tion ! So sah der erste geistige Im p o rt der
Ideen von 1 7 8 9 aus.
Aber die Zeit m arschiert. In P etersb u rg erscheint der europäische Bote
und verbreitet als L ich t aus E u ro p a in dies russische N ichteuropa hinein
in erster Linie Französisches. Jo sep h de M aistre schreibt dam als in seinen
Abenden von St. P e te rsb u rg : R u ß lan d ist wie eine gefrorene Leiche, die
fu rch tb ar stinken w ird, wenn sie au ftau t.
Die französischen Ideen bem ühen sich sie aufzutauen. D ie A ufhebung
der Leibeigenschaft 1 8 6 1 in R u ß lan d im itiert die Z erstöru n g des F eu d al­
staates von 1 7 8 9 . D er Z arb efreier h at dam it nich t den F eu d alstaat zer­
stört, sondern die russische Revolution unverständlich gem acht. Denn
diese Idee von 1 7 8 9 sah in R ußland so aus, daß die B auern persönlich
frei w urden, ohne zu wissen wohin. A uch wenn m an sie viele Ja h re beim
M ilitär hielt, w ar das doch n och kein genügender A bfluß. In den Städten
w ar fü r sie nichts zu holen. D as eigentliche R u ß lan d hatte bis 1 9 1 4 ein
bißchen Industrie in M oskau und P etersb u rg , völlig belanglos fü r die
Masse des Volkes, w ichtig n u r als E rg ä n z u n g der Intelligenz, zu d er diese
Indu striep roletarier sogleich als die andere revolutionäre H älfte stießen.
Den B au ern h a t d er Z arb efreier begehrlich, haltlos, landgierig, böse ge­
m acht. Die A ufhebung d e r Leibeigenschaft von 1 8 6 1 w ar eine M ißhand­
lung des B au ern , der aus der O bhut eines persönlichen H errn kam , ohne
von irgendw elchen O rdnungen, sei es der F ab rik , sei es des Staates e rfa ß t
und ergriffen zu werden. D as B auernlegen beraubte ihn seines Landes.
Die B auern haben seit 1 8 6 1 h artn äck ig d a ra u f gew artet, d aß d er Z a r
ihnen das L an d geben werde. Viele kauften d u rch J a h r e keine Parzelle,
weil sie d arau f w arteten. D er Z a r m u ß te w iederholt erklären lassen, d er­
gleichen sei n ich t zu erw arten. E in M inister, d er das erklärte, beging wenig
später Selbstm ord. Die B auern behaupteten, d er Z o rn des Z aren habe ihn
g etroffen . D er B a u e r ist also seit d er „ F re ih e it“ in G ärung. Die F re ih e it
ist der F lu ch dieses B auern. Also w ird e r gegen diese F re ih e it Revolution
m achen. E r w ird n ach O rdnung verlangen. W irtsch aftso rd n u n g , Gesell­
sch aftsordn ung lau tet der R u f d er russischen Revolution, weil „ F re ih e it“
für ihn nur U n ordn ung w ar.
Aber die Ideen von 1 7 8 9 fassen w eiter. 1 8 8 9 spielt die Kapelle des
Zaren die M arseillaise, das L ied d er R evolution. Rußland h o rch t ftuf.
Diese R om anow s m it den griechischen N am en A lexander und N ikolaus und

437
K onstantin, die angeblich das Kreuz au f der H agia Sophia in dem alten,
Byzanz, in Konstantinopel aufpflanzen wollen — sie verbinden sich m it
der französischen Republik. Zu Ende also ist die heilige Allianz, diese
V erkörperung d er L egitim ität und des K am pfes gegen 1 7 8 9 , deren Seele
Alexander I. gewesen, und an der W ilhelm I. von P reu ß en bis 1 8 8 8 von
seinen Jü n glin gsjah ren her n och hing.
Und m it dem Bündnis kam en die Anleihen an d er P a rise r B örse. E s ka­
men die Eisenbahnbauten d u rch die unerm eßliche Steppe. Als ih re Krone
ward 1 9 0 3 die Transsibirische B ahn bis W ladiw ostok fertig , 1 9 0 6 ent­
stand der Plan der T urk-Sib, den die Revolution verw irklicht hat.
R ußlands B edeutung fü r die W e lt w ar schon frü h das Holz gewesen.
Das Holz auf den Flüssen g eflö ß t, konnte verschifft werden. E n glan d
b rauch t schon im 1 9 . Ja h rh u n d e rt russisches Holz und interessiert sich
deshalb politisch fü r R ußland.
Aber au ch die regierende Klasse kom m t als E x p o rte u r zu ihrem Geld.
D er H olzhandel und später die G etreideausfuhr geben den Z aren , den
G roß fü rsten , dem H ochadel die groß en Revenuen. Als E x p o rte u re haben
sie ein Interesse daran , das Lan d zu organisieren. Die T riebfeder fü r die
R egieru n g des Landes ist dah er eben die Ausbeutung fü r den E x p o r t nach
E u ro p a. Dies ist ein unnatürliches Prinzip. Kein anderes L an d w ird so
von außen h e r an E u ro p a heran organ isiert. Alle anderen haben eine
eigene O rdnung von innen her. E s ist das Schicksal des slawischen Ostens,
von E u ro p a h er und um E u ro p as willen geglied ert w orden zu sein.
Die künstliche A norganisierung dieses Gebietes kann also noch am
ehesten von außen h e r erfolgen. „T h e czarist state was a state w hitout a
p e o p l e . . . chiefly interested not in R ussia bu t in E u ro p e, in fo reig n p oli-
tics, in th e prestige o r te rrito ry w hich it could find ab ro ad .“ N u r h ier
können die Ü berschüsse entstehen, die eine Z entralisierung w irksam zu
finanzieren verm ögen. M an h a t o ft bem erkt, d aß R u ß lan d Ablenkung von
seinen inneren N öten in äu ß eren Kriegen gesu ch t habe. A ber d er G rund
ist die U nm öglichkeit, dies Gebiet von innen her* m it den alten M itteln
so zu regieren , d aß es eine Z en tralregieru n g ern äh rt. E s w ar ein K o lo ß
a u f tönernen F ü ß e n .
Die Angliederung g ro ß e r L än derm assen im W esten w ar d ah er das erste
d er russischen Z aren, sic„heine B asis ih re r H e rrsch a ft zu sch affen . F in n ­
land, B altenland , Litauen und Polen , B eßarabien und der K aukasus w aren
verkehrsfähige L än d er, geograp h isch g eg lie d e rte r; kulturell w aren diese
L än d er d u rch all die F o rm atio n en eu ropäisch er B ew irtsch aftu n g als O r­
densland, F ü rste n sta a t, Adelsrepublik bereits hindurchgegangen. In R u s­
sisch-Polen w aren 1 8 9 2 von 4 3 0 0 0 O rtsch aften fast 5 o o Städte (obwohl
dies russische D rittel w iederum das städteärm ste Teil ganz P olens w a r). Im
eigentlichen R u ß lan d ab er w aren von 4 8 6 0 0 0 O rtsch aften 6 5 o Städte. Also
ein Tausendteil Städte in R u ß lan d gegen ein H undertteil im R andgebiete!

438
D er B esitz der Randstaaten hat daher den G roßrussen fü r die ersten
hundert Ja h r e die O rganisation des eigentlichen russischen Gebietes er­
sp art! Diese blieb hinausgeschoben. M it gutem G rund. In ihrem eigenen
Gebiete fanden sie v o r: eine K irch e des ersten Jah rtau sen d s, unberührt von
allem , was seit Allerseelen 9 9 6 im Abendlande passiert w ar. Sie fanden vor
K irchen ohne Kanzeln, denn das Predigen ist n u r im Abendlande obliga­
torisch. Und so verh arrt auch ohne kirchlichen A nruf der abergläubische
D örfler. Sie fanden ein L an d ohne Schulm eister und „B ild u n g “ , ohne
Städte und ohne B ü rg ertu m und ohne politisch verantw ortlichen Adel.
1 9 1 4 kam en 8 9 1 Analphabeten au f 1 0 0 0 Einw ohner. D ieser geistig m it­
tellose D ö rfler w ohnt in einem unheim lichen Lande, in dem jäh rlich
2 0 0 0 0 0 qkm versanden, in dem ein Viertel des Landes Sum pf, M oor,
Unland sind. Kein hohes G ebirge gliedert das Lan d. Keine erhebliche
W asserscheide setzt Grenzen und Einteilungen.
In diesem Lande zieht also die N atu r m it M acht n ach unten izum V erfall
hin — sie tu t es überall au f der E rd e , aber je kontinentaler ist das L an d ,
desto um fassender ist diese Dekadenz. In diesem Lande ist die N atu r ge­
wiß nich t „ g u t“ wie eine w ärm ere Sonne die V äter d er französischen R e­
volution glauben m achen konnte. In R u ß lan d ist die N atu r verheerend,
und sie bedrückt M enschen. D ieser russische M ensch ist aber auch kein
B au er im Sinne des W esten s. K ein Benediktinerkloster h a t ihn angeleitet
zu kultivierter W irtsch a ft. D er russische D ö rfler ist ein H albnom ade, d er
in F eid g rasw irtsch aft m öglich st extensiv w irtschaftet, re ch t viel H ausier­
handel treibt und bereit ist, den Staub von den F ü ß e n zu schütteln, wenn
die Steppe heranrückt. E r ist n ich t schollenfest. E r ist d u rch kein erheben­
des Erlebnis des Geistes m it seiner E rd e dauernd verm ählt w orden. E r
verkauft seinen M ist dem deutschen K olonisten, dem dum m en und so un­
begreiflich fleißigen Nemez, denn weiß G ott, dieser verfluchte K e rl n im m t
alles so ernst, als siedle e r fü r die Ew igkeit. Dies flüchtige G eschlecht h a t
nu r die K nute der Leibeigenschaft auf den g ro ß en H errensitzen zu inten­
siver K u ltu r angehalten. E in F ü r s t Galizin konnte 5 1 6 4W ein so rten ganz
E u ro p as au f seinem Besitz in der K rim züchten. D en B a u e r im w est­
europäischen Sinne h at e rst d as 1 9 . Ja h rh u n d e rt, erst in den deutschen
Kolonisten zuletzt m it H ilfe der Stolypinschen A g ra rre fo rm hervorge­
bracht. Aber dieser behäbige, selbständige B a u e r, d er K ulak, ist ein Im p o rt­
artikel des W estens. Deshalb h at die russische Revolution auch ihm , dem
Kulaken, den P ro z e ß g em ach t.
D as L an d blieb feindliche N atu r bis 1 9 ö S . M an exp o rtierte aus Süd­
ru ß lan d G etreid e; aber gleichzeitig w ütete in den Gebieten der schw arzen
W eizenerde H ungersnot. So re ch t das Gegenteil zu d er G etreidew irtschaft
F ran k reich s, dessen blühende L an d w irtsch aft w eder ein- noch a u sfü h rt
und dessen G ebiet zu E u ro p äisch -R u ß lan d wie 1 : 9 , zu ganz R u ß lan d wie
1 : 4 o sich verhält.

439
A ul diesen russischen Kontinent wollte man nun die französische W ir t­
schaftsverfassung von außen draufstülpen. Die westliche Bourgeoisie hielt
ihren Einzug am glanzvollsten in Petersburg. Kriegslieferungen und Rü­
stungindustrien (T uche und K anonen) m achten den A nfang. Die G ro ß ­
fürsten wurden an groß en H olzlieferungen am Y alu in K o rea interessiert
und d er Russisch-Japam isehe K rieg begann.
A uf einer eingleisigen B ahn wurde das W u n d er vollbracht, den Ja p a ­
nern eine g ro ß e A rm ee entgegenzustellen. M it dem V erlust dieses K rieges
w ar aber das organ isatorische Prinzip R ußlands in doppelter R ichtun g
unm öglich gew orden. W e d e r die bloße E xp ortfin an zieru n g des Staats­
app arats war n u nm ehr offen — schon die K riegsschulden ließen sich so
nich t m eh r decken — noch hielt die ergänzende Stütze der einverleibten
alten europäischen Randgebiete m eh r stand. D enn ein K rieg kann m it den
Mitteln einer allgem einen W eh rp flich t n u r g efü h rt w erden, wenn die Sol­
daten m ittun. Diese Randgebiete w aren aber seit d er K apitulation vor den
Ideen von 1 7 8 9 u n ter Russifizierungspolitik gesetzt. L äch erlich wie es w ar
— P etersb u rg beanspruchte, als ob es P a ris sei, Liebe und V erehrun g fü r
die russische Sp rach e au ch in Städten wie Tiflis, R ig a und Warschau.
Diese R ussifizierung brachte den Randgebieten zum Bew ußtsein, daß sie
aufhören sollten, bloß d er Zarenkrone einverleibt zu sein (d er Z a r reg ierte
bis dahin als G ro ß fü rst in Finnland , als H erzog in K u rlan d usw. nach
einheim ischem R e ch t). Nun sollten sie einem von P etersb u rg ausgesand­
ten, sch lechter gebildeten russischen O berlehrer sich fügen, sollten statt
in D o rp at in P etersb u rg Theologie studieren. D ieser n ach g eäffte N ationa­
lism us entfrem dete die westlichen Gebiete. E in sinnloser K rieg , wie der
von 1 9 0 4 / 0 5 , m u ß te ihnen ein u n erträgliches B lu to p fer dünken. E in ­
m al kann eine solche Leistung verlan gt w erden, weil w ir M enschen erst
w ährend des T uns und n ach h er m erken, was w ir tun und wozu w ir ver­
fü h rt worden sind. A ber m it dem R u ssisch -Jap an isch en K rieg w urde ein
neuer Einsatz d er R andstaaten f ü r den K riegsfall bereits problem atisch.
E in m al und nie w ieder: w ar die L e h re dieses K rieges.
E in U m schw ung m u ß te k o m m e n ; das fühlten alle 1 9 0 4 in R u ß lan d ,
au ch d er Z ar. Die P a rte i d er Sozialrevolutionäre ist d er reinste A usdruck
der innerrussischen K rise. Sie w ar relativ rein aus d er russischen N ot er­
w achsen. Sie ging aus von d e r B a u e m n o t und bejahte das R e ch t d er
B au ern au f Ü bereignung des H e rre n - und des Staatslandes. Sie wollte
eine soziale R evolution, wie ih r N am e sagt. A ber sie ging aus von den indi­
viduellen N öten des leidenden russischen M enschen. Sie will von ih m aus
das U nglück beseitigen. Sie h a t nich t R u ß lan d , sondern das russische
D o rf als A usgangspunkt ih re r W ü n sch e. D as ist die Schw äche d e r Sozial­
revolutionäre. Sie sind zw ar die seelisch A ufgeschlossenen, die E rgriffe­
nen. A ber sie wollen das einzelne russische D o rf erlösen. Aber nur die E r ­
lösung d er einzelnen Seele kann einzeln geschehen. D as Schicksal des D o r-

44o
fes kann m an nich t außerhalb d er W eltgeschichte lösen. Denn soziale
Gebilde können nur im Wandel der Gesellschaftsordnung um gebildet w er­
den. D er K ern des Sozialrevolutionären P ro g ra m m s verändert nich t die U r­
fo rm der Gesellschaft. Die Sozialrevolutionäre sind die reinen, die echten
Russen, die dem M ütterchen R ußland m it einer gewaltigen sozialen U m ­
wälzung an allen Ecken und Enden helfen wollen. Aber sie sind keine
E u ro p äer, sie stehen nich t in d er Dialektik d er W eltgeschich te.
Ü ber sie m u ß ein Geist kom m en, d er stärk er ist als sie, d er ein P rin - Dialektik der
zip in die W e lt bringt, das jenseits von 1 7 8 9 und das R u ß lan d o rg an i- esc IC 6
siert, wenn er das russische D o rf erlöst. D er K ontinent, d er zehn-, d er
vierzigm al F ran k reich an G röß e übertreffende, soll sich verfassen. R u ß ­
land m u ß sich organisieren können von innen her, statt wie bisher im m er
n u r von außen. D as ist das R ätsel seit 1 9 0 4 , wie diese O rganisation das
Innere dieses Riesen soll ergreifen können, so d aß e r von innen heraus zur
Einh eit werden kann. D ieser R iesenkörper h a t M enschen im Ü berfluß.
Die Bevölkerung w ächst im 1 9 . Ja h rh u n d e rt im überm äßigen Tem po.
D er Mensch ist wertlos in R u ß lan d , in einem dem Abendlande unbekann­
ten G rade. Im W eltk rieg sind wohl i 5 Millionen Russen um gekom m en,
100/0 d er Gesam tbevölkerung, gegen 2 , 5 — 3 0/0 in den anderen k rieg -
führenden Ländern. Aber 1 9 8 0 gab es 2 0 M illionen m e h r Einw ohner
als 1 9 1 4 I R ußlands w eltgeschichtlicher V orderm ann F ra n k re ich geht vom
unersetzlichen W e r t des einzelnen M enschen aus. An der Spitze seiner
Ideen stehen die M enschenrechte. Und diese heißen französisch w ohlge­
m erk t n ich t droits des hom m es, sondern droits de V kom m e I Paleologue,
F ran k reich s B o tsch after in P etersb u rg w ährend des W eltk rieges, drück t in
seinem Tagebuch seine V erzw eiflung aus, d aß er den Russen den U n ter­
schied zwischen dem H eldentod eines jungen Fran zosen und dem V erlust
bloßer ru ssischer Muschiks n ich t k lar m achen kan n! Sie sind darüb er be­
leidigt, und doch h a t e r re ch t!
Diese W ertlosigk eit des M enschen in R u ß lan d m ach t die Pläne der So­
zialrevolutionäre fü r das einzelne D o rf zunächst so u n fru ch tb ar. Ohne ein
neues Bild des M enschen keine R evolution, keine neue O rdnung. In R u ß ­
land aber fehlt dies B ild. W ie in allen zurückgebliebenen L än d ern b rau ch t
die A rbeit daheim die B e fru ch tu n g m it der W in d sa a t d er vorangehenden
W eltw ende.

3 . D ie In telligenz
Bruchstücke einer russischen Literatu rgeschichte
„D ie russische N ationalliteratu r h a t in d er Entw icklungsgeschichte R uß­
lands eine höhere Bedeutung als irgendeine andere L ite ra tu r fü r das Volk,
in dem sie entsteht. S o ist es w enigstens seit P e te r dem G roßen. In allen
europäischen Staaten tr itt die B ildung sozusagen als letztes W o r t der so­
zialen und politischen K äm p fe der K orporation en und Stände auf. Uih-

44i
gekehrt ist es in R ußland. D a fängt das politische Leben erst auf dem
Um weg über die Bildung an. In E u ro p a werden die Parteien d u rch stän­
dische und korporative Interessen gebildet. Diese G ruppen wählen und
gründen die O rgane. In R ußland sind es die Presse und die O rgane der
L ite ra tu r, welche neue Parteien ins Leben rufen und ihre Existenz be­
dingen.
W äh ren d in E u ro p a jedes wirkende Individuum R epräsentant eines
Standes oder einer K orporation w ar und du rch sie oder ihre R echte unter­
stützt wurde, verm ochte in R ußland im m er d er einzelne nu r als solcher zu
wirken, nich t als R epräsentant einer G attung. Solche Leu te gingen aber
in der Geschichte R ußlands vor P e te r dem G roßen fast spurlos verloren.
E r s t die vom W esten hereindringende Bildung schuf dem einzelnen W eg e
zur gesellschaftlichen W irk u n g . N ur literarisch er G edankenaustausch er­
m öglichte dem einzelnen E in flu ß zu gewinnen. Deshalb übte d er D ichter
und der L ite ra t in R u ß lan d von je h e r so g ro ß en E in flu ß . N ur wenige von
den bedeutenden G eistern haben un gestört d u rch die V erbannung und ad­
m inistrative M aßregelung ih re T age beschließen können. Die H errsch er
um gekehrt propagierten ihre R eform en d u rch literarisch e Erzeugnisse.
P eter der G roß e veranlaßte T h eater auf führungen, in denen e r die G egner
seiner R eform en persiflierte. K ath arin a I I. gründete satirische Jo u rn ale
und schrieb selbst T heaterstücke und Abhandlungen. (N och h eu t h a t die
Sow jetzeitung täglich ihre K arikaturenb eilage!)
In R u ß lan d g ru p p iert dah er von je h e r die B ildung die M enschen und
erreg t sie zu politischer W irksam keit. M an konnte jah relan g in einem
K reis verkehren ohne au ch n u r zu ahnen, ob dieses oder jen es M itglied
adligen o d er anderen Standes sei. M an fra g te n u r, w elcher B ildun gsrich­
tung es angeh örte. D ah er gibt esiro auffallend viele Revuen im alten R u ß ­
land. U m diese Revuen, die m onatlich erscheinen, o ft im U m fan g von 2 bis
3 o o Seiten, gruppieren sich die eigentlichen sozialen P arteien . Deshalb
ist die schöne L ite ra tu r der K am pfplatz d e r Politik. Die ästhetische W ü r ­
digung ist eine U nm öglichkeit. D ie Z ensur h at fern er zu einer w ahren
K u nst g efü h rt, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen. D ie V ir­
tu osität darin ist so g ro ß , d aß die R egieru n g sich oftm als veran laß t fand,
gegen Sch riftsteller, deren S ch riften bereits die Z ensur p assiert h atten,
doch n och au f adm inistrativem W e g e einzuschreiten und sie fü r den ver­
borgenen Sinn ih re r Schriften zu m a ß re g e ln .“
P eters des G roß en gew altsam e R efo rm en , das Ausbilden von neuen K rä f­
ten in d er P erso n ju n g e r L eu te, die im Ausland o d er von A usländern er­
zogen w urden, hatte eine m erkw ürdige F o lg e : die russische L ite ra tu r be­
ginnt so fo rt m it d er S atire, m it d e r K ritisieru n g gegebener V erhältnisse
und n im m t also eine negative und zugleich belehrend-didaktische R ich ­
tung.
„G leich d e r erste D ich ter F ü r s t K an t em ir ( 1 7 0 8 — 1 7 4 4 ) ist in P a ris

442
erzogen und die P ariser Bildung läß t ihm die gesellschaftlichen Zustande
daheim wunderlich erscheinen: er wird zum Satiriker. Epochemachend
wirkt dann K aram sin (17 6 6 — 1826). Er wird zu seiner Ausbildung nach
dem W esten geschickt und veröffentlicht gleich nach der R ückkehr 1 7 9 1
bis 1 7 9 2 seine berühm ten B riefe eines russischen Reisenden, aus denen
ein ganz neuer Geist weht. B is dahin kannte m an die europäischen Ver­
hältnisse und groß en M änner der K u nst und W issen sch aft n u r aus m an­
g elh aft übersetzten B üchern. Je tz t fü h rte K aram sin N atur und Gesell­
sch aft des W estens in treuen und lebensvollen Schilderungen vor. D as per­
sönliche Z usam m entreffen m it den K oryphäen d er europäischen W issen­
sch aft und L iteratu r stellte den L eser sozusagen von A ngesicht zu An­
gesicht m it diesen westlichen Zuständen. K aram sin gründete die M onats­
sch rift des europäischen B oten (W estn ik Je w ro p y ).“
Die Napoleonischen K rieg e hatten eine g ro ß e W irk u n g a u f das N atio­
nalbewußtsein. N am entlich w ar der Z ug des russischen H eeres d u rch ganz
M itteleuropa bis näch P a ris von E in flu ß auf die g ro ß e Zahl gebildeter
R ussen, die bei der Arm ee standen. W a s bedeutete es doch, daß am
i 5 . April i 8 i 4 das Te D eum d er Verbündeten au f dem P lace de la Con­
corde in P aris von sechs griechischen P riestern zelebriert w urde, fü r die
Ansteckung d er russischen Intelligenz d u rch die K önigin des W estens.
W a s K aram sin berichtet hatte, konnte nun je d e r an sich selbst er­
fahren. So kam die Ju g e n d m it neuen Ideen zurück und wieder ging sie in
die L iteratu r. Denn auf dem Gebiete praktischen W irk en s w ar fü r sie
kein Platz. Die N euerer käm pfen tro tz Z ensur, V erbannung und K erker.
U nd 1 8 2 5 beginnt im g ro ß en Stil das M artyrium des russischen Geistes.
Die D ekabristen werden nach Sibirien verschickt und ih re F ra u e n beglei- Die Russin
ten sie. Diese K am erad sch aft der F ra u e n ist seitdem fü r den V erkehr d er
G eschlechter in R ußland im m er bedeutsam er gew orden. Leidensgefährtin
ist die F r a u in den K reisen d er Gebildeten und eben d ah er d u rch aus a u f
d er Stufe schlichter G leichberechtigung, w eder über noch unter dem
M anne stehend, sondern seinesgleichen. D ie T a tja n a in Puschkins E w -
genij Onegin ist die erste dichterische G estaltung dieser Russin.
D er D ich ter Rylejew , d er W o rtfü h re r dieser G eneration endet 1 8 2 6
d u rch den S tran g . Bestuschew , d e r F ü r s t O dojew skij, Poleschajew endi­
gen ih r Leben in d er V erbannung, , in den B ergw erk en Sibiriens oder im
K aukasus zu gem einen Soldaten d eg rad iert. A lexander Puschkin entgeht
n u r d u rch ein W u n d e r d er V erbannung n ach Sibirien und wird au f sei­
nem G ut u n ter Polizeiaufsicht gestellt. W ie jed er, d er dem B ürok ratism u s
und M ilitarism us n ich t huldigt, fü r politisch g efäh rlich und schließlich
fü r w ahnsinnig erk lärt w ird, sch ildert n a ch 1 8 2 5 die K om ödie „D as U n ­
glück klug zu sein“ (G ore ot u m a ), deren T itel bezeichnend ist fü r das
M ißverhältnis zwischen d er vorausstürm enden Intelligenz und dem russi­
schen Alltag.

443
Diese Intelligenz trä g t einen W estlerkopf, auch wenn sie dialektisch in
sich in W estlin ge (Zapadniki) und Slawophilen zerfiel. Sie bildet sich trotz
schwersten geistigen D rucks. D am als w urde in den Lehrbüchern die Ge­
schichte der französischen Revolution gestrichen. U n ter diesem D ruck be­
ginnt die Ep oche einer V erzw eiflungsliteratur. Lerm ontow s „H eld unserer
Z eit“ peinigt sich und andere in bitterem G roll und geht gleichsam an sich
selbst zugrunde. Denn er findet keine Verwendung fü r sich in R ußland.
Alexander Herzen zieht die Konsequenz. E r veröffentlich i 8 4 3 sein „ W e r
ist sch u ld ?“ H ier verläß t sein Held, der vergebens n ach einer g röß eren
Tätigkeit strebt, R u ß lan d und versinkt im Auslande einem vornehm en M ü­
ßiggang. Nikolaus Gogol eröffn et den R eigen der R om anschreiber, die
als „E n th ü ller“ der gesellschaftlichen Schäden auftreten.
D as Unglück des K rim krieges und der Tod Nikolaus* I. erö ffn et die
Schleusen. Die angestauten F lu ten ergießen sich. M an lebt wie im F ieb er
der Revolution. H erzen läutet seine Z eitsch rift „D ie G locke“ . E r erteilt
im Lond on er E x il wie ein R egen t seine Audienzen. Die höchsten W ü rd en ­
trä g e r besuchen den „V erb rech er“ ehrerbietig.
Turgenjew schreibt den „V orabend“ und 1 8 6 1 „ V ä te r und Söhne“ . In
diesem B u ch e w ählt d er H eld B asarow fü r sich den N am en des N ih ilisten .
„ In voller Verzw eiflung schrieb T urgenjew 1 8 6 7 seinen ,Rauch*, w or­
in er V äter und Söhne, alle P arteien und Schichten d e r gebildeten Gesell­
sch aft bankrott erklärt**
Nun tritt eine W en d u n g ein. D ie gebildete G esellschaft ist bankrott.
Geistig ist alles du rch gekäm pft und d u rch gedacht. Die ganze B ildung
stürzt sich verdurstet und verschm achtet auf den Sozialism us, der aus L i­
teratu r P ro p ag an d a m a c h t Indem e r das Klassenbew ußtsein des P ro le ­
tariats fö rd ert, gibt er in W a h rh e it den Gebildeten die Aufgabe, dies
Klassenbew ußtsein zu predigen und zu wecken. „ W e n n w ir nichts erreich t
haben werden, so werden w ir d och wenigstens dem P ro le ta ria t das B e­
w ußtsein seiner K lassenlage verm ittelt hab en,“ trö ste t sich nun d er In ­
tellektuelle, aber noch ist kein P ro le ta ria t im m arxistischen Sinne da,
sondern n u r d er M arxism us in d er G esellschaft d er L iteraten . T urgenjew
schildert diesen M arxism us schon 1 8 7 6 in seinem „N euland“ , T sch e m y -
schewskij hatte schon i 8 6 3 zu ihm aufgerufen in seinem „ W a s tu n ? “ ,
dem R om an , d er ihm zwanzig J a h r e Sibirien ein tru g .
Man weiß nun, was m an zu tun h at. M an „ g e h t ins Volk“ , m an treib t
P ro p ag an d a statt L ite ra tu r. A uf diesem unterirdischen K reuzzug begleiten
w ir die R evolutionäre später. A ber noch w ird d er L ite ra tu r ein M enschen­
alter oberirdischen W irk en s vergönnt, ein M enschenalter, in dem R u ß ­
land E u ro p a m it unsterblichen M eisterwerken beschenkt. Je d o ch die L ite ­
ra tu r wird um so viel m e h r ein Geschenk an die übrige W e lt, als je n e r
u n terirdisch e K reu zzu g vorw ärtsgeht.
U nd zuerst D ostojew skij, dann T olstoj und zuletzt G orkij liefern die

m
B ilder aus diesem zu erobernden Volke in ihren R om anen, die im m er
näh er heranfuhren an den Alltag des russischen B auern, K leinbürgers,
Soldaten, Sträflings.
Die Titel der R om ane sprechen fü r sich selbst: D er Idiot, die Beleidig­
ten und E rniedrigten, M em oiren aus dem toten H ause (d. h. aus der sibi­
rischen Zw angsarbeit) die D äm onen. In den B rü d ern K aram asow verklärt
sich die erste, von Dostojewski] verkörperte Stufe dieser S ch ild eru n g en :
Dostojewski] ist noch nich t an d er ökonomisch-marxistischen W end ung
seit 1 8 7 0 beteiligt. Die g ro ß e unsterbliche V orstellung seines B uches m ün­
det in die W eisheit des Starez a u s : N icht die K irche w ird Staat, sondern
d er S taat w ird K irch e, begreifen Sie das wohll D er M ilitär- und Polizei­
staat wird von ihm bereits preisgegeben. »
Aber es fehlt bei Dostojewskij die G esellschaft als O rdnung der ökono­
m ischen Verhältnisse. E r nennt n o ch K irch e das, was heraufzieht.
Die zweite Stufe rep räsen tiert T o ls to j; nachdem er die alte Gesell­
sch aft hinreißend in K rieg und F ried en und Anna K arenin a gezeichnet
h at, wendet e r sich der B au em w elt zu. E th isch d u rch eine reine Anwen­
dung d er B erg p red ig t will e r die F ra g e n d er bäuerlichen W e lt und d e r
russischen G esellschaft lösen. S taat und K irch e, die bei dem gläubigen D o­
stojewskij noch eine g ro ß e R olle spielen, sind bei T olstoj bereits verbli­
chen. Aber keine neue G esam tordnung existiert. Alles ist au f die E thik d er
einzelnen allein gestellt. „W id ersteh e n ich t dem Übel, verkaufe alles, was
du hast, w er n ich t arbeitet, soll au ch n ich t essen.“ N u r aus d e r sittlichen
H altung des einzelnen allein soll die E rlö su n g kom m en. D ieser N ihilism us
T o lstojs gegen alle geseUschaftiichen E in rich tu n g en lä ß t sich n ich t halten.
Die d ritte Stufe, der unm ittelbare V orabend d er Revolution, ist in M a­
xim Gorkij verkörpert. E s w ird das hoffnungslose Leben des russischen
M enschen ohne inneres B an d zum S taat, aber au ch ohne K irch e und ohne
E th ik ph otograp h iert, dies Leben im Milieu des A lltags, das die Intelligenz
kennen m u ß , um es zu m eistern. D er R om an „ D re i“ M enschen ist d a fü r
typisch.
Inzwischen ab er sind die G efängnisse überfüllt m it revolutionären Stu­
denten und L iteraten . D as Ausland sieht allenthalben ih re G ruppen. B e rn
allein zählt 6 0 0 in g rö ß te r A rm u t lebende russische Studenten. D er russi­
sche Student ist zum Typ gew orden, zu dem Typ des R evo lu tio n ärs:
Rückblickend aber erscheint heut den Russen diese ohne sozialen U n ter­
bau in d er L u ft hängende S ch ich t der bloßen Intelligenz als das, was es
zu überwinden g a lt d u rch die Hinw endung zur R evolution. Die Intelligenz
h eiß t dabei heut bei den Bolschew isten vom Ziele h er, dem sie sich zuge­
k äm p ft hat, Lu ftm en sch h eit. A ber der L u ftm en sch h a t in zwei Ja h rh u n ­
derten die E rd e, die M aterie, die W irk lich k eit fü r die luftigen R äu m e d e r
L ite ra tu r eingetauscht.
Kladkos „Z e m e n t“ ist ein R om an , dessen T itel schon die neuen B e to n -

445
klotze eines Kollektivbaues andeutet. D ie alte K irch e hatte sich aus leben­
digen Bausteinen ih r H aus bauen wollen. D as W o r t „erbaulich“ ist ein
a rm e r R est dieses Bauplans. Die Russen bauen wieder, aus Betonklötzen
eine G esellschaftsordnung.
Die R om ane werden W irklichkeit. D as G eschlecht der R om anschreiber
aber geht zugrunde. Die Literaten werden ausgerottet.
Tolstoj und D ostojew skij, die g roß en Edelleute, werden schnell fern e
H eroen. Die anderen Adligen in d er L ite ra tu r fallen in Vergessenheit.
N ur jene Sch riftsteller bleiben lebendig, die aus dem Adel hinüber­
gewechselt haben ins Volk und um diese Zem entierung gerungen h ab en :
die Edelleute Bakunin und K ropotkin, Plechanow und Lenin.

4 . D ie „ A lgebra d er R evolution“
i. M a r x
N ur die französische Revolution selbst h a t die heftige R eaktion gegen
ihre eigene Ü bertreibung hervortreiben können. Aus dem Gebiet d er fran ­
zösischen B o u rg eoisieh errsch aft, aus F ran k reich s Revolutionsgebieten
stam m t d e r Sozialism us. D ie Sozialrevolutionäre wollen die französischen
W o rte social und révolution denn auch rezipieren, aber sie w ollten sie ins
R ussische übersetzen. Sie sind inkonsequent. M ehr m u ß übernom m en w er­
den als W o r t und M ethode, auch das Z iel! D er M arxism us allein ist fäh ig,
dem russischen Glauben seinen zwingenden In h alt zu geben. K a rl M arx
au s dem linksrheinischen T rie r, in P a ris, B rüssel, L on d on wirkend, am
R hein, an d er „n atü rlich en “ Grenze der G allier zu r B esinnung kom m end
— steht zu dem E rleb n israu m der Ideen von 1 7 8 9 wie Calvin der Pikarde,
der S tra ß b u rg e r und G enfer zu dem th ü rin gisch-sächsisch-hessisch en T a t­
rau m L u th ers. E r steht nah und fern genug, um 1 7 8 9 zu überwinden,
indem e r die Konsequenzen zieht. Calvin h a t in seiner R eligio C hristiana
das, was L u th e r d u rch seine K irchen lehre nie v erm o ch t h a t, getan ,* er ist
von d er F id es, von d er spirituellen H altung, z u r R eligio, dem V erhalten in
d er W e lt, vorgedrungen. Calvin h a t d am it aus passiv aktiv g em ach t, au s
dem leidenden G ehorsam des L u th eran ers den streitbaren re fo rm ie rte n
U n tern eh m er, der um sein Seelenheil k äm p ft, deb attiert, den F ech ter.
Genau so g re ift M arx die Schw äche des E s p rit auf, d er die W e lt reflek­
tierend n u r spiegelt, d er „ü b er“ sie philosophiert. M it den berühm ten
W o rte n , d aß die Philosophie n ich t dazu d a sei, die W e lt zu erkennen, son­
dern sie zu verändern, tu t er den S ch ritt von d er F id es L u th e rs zu d er
R eligio Calvins. E r tu t diesen, d er dankbare, em anzipierte Ju d e innerhalb
der von der A u fk läru ng geschaffenen w eltlichen Sp rach e. S ta tt F id e s steht
also Philosophie, statt R eligio — Politik. A ber d er Z usam m enh ang inner­
halb dieses hum anistischen D enkraum s bleibt gew ahrt wie zwischen C al­
vin und L u th e r. Schon dem 2 3 jäh rig en K a rl M arx h a t Moses »Heß p ro ­
phezeit, e r werde die V oltaire, D iderot, d ’A lem bert radikal zu E n d e den-

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ken! Genau so hätte Calvin von seinem Verhältnis zu M elanchthon und
Luther reden dürfen. Auch die Reih© der M arat, Baboeuf, Saint-Sim on,
F o u rie r und Proudh on findet in M arx ihren Abschluß und ihre Auf­
hebung. E r beerbt die gesam te Linksopposition von 1 7 8 9 . Marx erreich t
dies Zu-Ende~denken, indem e r an eben diesem En de a n fä n g t — W a s will
d er G eist? Die W e lt rechtfertigen? Die W e lt erkennen? D as ist die H al­
tu n g d er Philosophie. G ut d e n n : B ei dieser H altung m üssen sich die P h i­
losophen eins verhehlen, ihre eigene Stellung in d er W e lt. Sie m üssen so
tun, als könnten sie ihren Geist d rau ß en haben außerhalb d e r erkannten
W e lt, als könnten sie w ährend des Erkenntnisprozesses den lieben G ott
spielen, den G ott, der über d er W e lt steht und sie d u rch schau t. Je d e r
Ideenphilosoph, ied er Idealist glaubt in der T a t an die R einheit , an die
Überweltlichkeit seiner Geistigkeit. D eshalb ist e r j a Idealist, um den a r­
chim edischen Punkt außerhalb d er W e lt zu sichern, den Punkt, von dem
sie überschaubar wird. M arx lehnt es ab er ab, „ü b er“ die W e lt zu denken.
E r denkt die W elt, und indem e r sie denkt, ist er selbst ein Teil d er W e lt.
D u rch ihn d u rch geht k ra ft des Stoffw echsels d er M aterie die M aterie.
Dies ist d er P ro zeß , in dem sich die W e lt überwindet und einen Teil ih re r
Prozeßakten ablegt. D er D euter steht au f dem W e g vom B au m im W a ld
über den F ö rs te r, d e r den B au m sch lag pflegt, über den K öh ler, d er im
M eiler die w ärm ende Holzkohle bereitet, den O fensetzer, d er den K am in
im H ause fü r diese K ohle setzt, über die M agd, die täg lich das F e u e r
sch ü rt, er steht wie d er letzte, d er R ech n u n g sfü h rer dieses B randes, d e r
sich einstellt, wenn die K ohle verbrannt ist und die R eproduktion dieses
Erw ärm ungsprozesses beginnen m u ß . D ann bew ältigt d er G eist die ab­
gelaufene E p och e. E r hebt sie ins B ew ußtsein, d am it sie d ad u rch ganz
und g a r vernichtet und so nie w iederkehren k a n n !, d er G eist weist alles
Positive, was er erg reift, ins R eich d er Sch atten. Aber e r e rg re ift im m e r
n u r einen Teil der W e lt, den, d er gerade re if ist z u r Bew ältigung d u rch
den Gedanken.
M arx h eiß t ein Schüler H egels. A uch H egel befand sich wie M arx u n ter
dem Gebot, m it dem M enschengeist als individuellem E sp rit zu ringen.
Auch H egel m u ß te diese freie V ernu nft demütigen als den T otengräber.
„D ie E u le von M inerva beginnt in der A benddäm m erung ihren F lu g .“
Aber Hegel philosophiert u n ter dem E in d ru ck d er Z erstö ru n g des Heiligen
R öm ischen R eiches d u rch N apoleon. E r re tte t Altdeutschland nach P re u ­
ßen hinüber. Hegel w appnet das Preußentum gegen 1789. D er Sozialist
K a rl M arx h a t keinen Heiligen R öm ischen R eich strau m zu G rabe zu tra­
gen. H at n ich t wie d e r T üb inger S tiftler H egel die alten deutschen P rin ­
zipien und Behauptungen der system atischen Schulw eisheit vor d er F r e i­
h e it des Genies und d e r A u fk läru ng zu retten. D eshalb e rm u tig te d as
P reu ß en tu m H egel zum N achdenker des G ew ordenen. A ber d er Sozialis­
m u s K arl M arxens erm u tig t den Genius zum V ordenker des W erd en s.

447
Dean anders als der Theologiestudent H egel b ejah t d er Philosophiestu-
d eat Karl Marx von vornherein die Haltung der Aufklärung. Das Individu­
um ist zuerst da. E s ist der V ergangenheit nichts schuldig. Aber es denkt
über seine W e lt hinaus in die Zukunft. Denn der Geist m u ß wissen, daß
die W elt, die sich bereits denkend erfassen lä ß t, re if ist zum B egraben­
werden. D er Geist des Genius spiegelt also eine W e lt, der e r seihst bereits
nicht m eh r angehören kann. Er lebt, ein Burger der Jah rh u n d erte, die
kom m en werden. W ie werden diese Jah rh u n d erte aussehen? T otalitär
aliter. Ganz anders als die W e lt, die d er Geist begriffen, e rfa ß t hatte. Sie
wird entgegengesetzt au ssehen; denn sie w ird an dem Ende d er W e lt an­
fangen, das m an vom Standpunkt d er bisherigen W e lt vernachlässigt h a t!
H at „der Idealism us den geistigen, freien, verm ögenden M enschen ver­
g ö ttert, so h a t er das in einer W e lt getan, die den ungeistigen, unfreien,
m ittellosen M enschen übersehen hat. In d er bestehenden W e lt erblickt das
Auge n u r bü rgerlich e O rdnung, bürgerliches R ech t, bü rgerliche Ideale,
bürgerliche Privilegien. Sie lassen sich überall an den Gesetzen und Sitten
nachweisen. D aß m an seit 1 7 8 9 in der bürgerlichen W e lt lebt, das kann
m an, m eint M arx, m it H änden greifen. U nd nun zieht er m it H egel d a r­
aus den S c h lu ß : D a ich die b ü rgerliche W e lt überall begreifen kann,
trete ich d am it selbst auch schon aus ih r heraus. Denn d er G eist w eist
ja — w ir sahen es bereits — alles Positive, w as e r e rg re ift, eben d ad urch
ins R eich d er Schatten. W o also g eh ö rt d er D eu ter hin, d er „d as K api­
tal“ , das G eheim nis d er bürgerlichen G esellschaft, ganz und g a r d en k t?
E r ist unbürgerlich. Aber e r kann n o ch einen S ch ritt w eiter tun. W irk ­
lich ist f ü r ihn das, was an d er bestehenden W e lt rein negativ behandelt
wird. Alles Positive b egräbt das Bew ußtsein. D as N egative kann vom B e­
w ußtsein n ich t begraben werden. A m Negativen findet sich nich ts, w as
m an begreifen könnte. Eben deshalb m u ß das D euten sich fü r sein prak­
tisches Leb en an diesen unbegreiflichen, ungelebten und negativen Teil des
Lebens halten. H ier winkt die Zukunft. D as ist die berühm te Dialektik des
M arxism us. D er D enker m u ß sich au f die Neinseite seines eigenen W e lt­
bildes begeben, um praktisch wirken zu können! W a s ich erkenne, ist m ir
doch schon entwunden, ist m ir n u r n o ch im Geist gegeben. N u r das
U nerkannte ist m ir leibhaftig zu e rfah ren n o ch m öglich .
D er P ro le ta rie r ist die negative Seite des B ourgeois. Denn e r ist d er
M ensch ohne V ergangenheit, wie d er V ernunftsm ensch. D ie B ü rg e r haben
das P ro le ta ria t m it geschaffen aus d er A tom isierung der älteren G esell-
sellschaft. D eshalb bleibt das Individuum die erste Position. A ber n ich t
das Individuum , das denkt, sondern das Individuum , das arbeitet. D as au f
seiner H ände A rbeit angew iesene Individuum h a t nichts zum Leben und
nich ts vom Leben dieser bü rgerlichen W e lt. D e r P ro le ta rie r h a t kein V ater­
land, denn e r m u ß d o rt arbeiten, wo es A rbeit fü r ihn gibt. E r sch w im m t
als flottan te W a r e a u f dem A rbeitsm arkt d e r W e lt. M arx erkennt die F o l-

448
gen der bürgerlichen Freizügigkeit. D er P ro letarier hat kein bürgerliches
R echt. Denn 950/0 dieses bürgerlichen R echts, Eigentum , Erb e, eheliches
G üterrecht, H andelsrecht usw. haben es m it dem Mein und Dein zu tun.
M arx erkennt den K lassencharakter des R echts. D er P ro letarier h at keine
K unst und W issen schaft wie d er Gebildete. Denn er hat keine M uße und
keine Vorbildung, die Voraussetzungen der Bildung. M arx erkennt, daß
W issen gesellschaftliche M acht darstellt. U nd nun die F o lg e ru n g e n : Der
P ro letarier h at keine Religion. Denn die Reichen haben diesen G ott fü r
sich selbst praktisch abgeschafft, indem sie gottgleich sind. N ur dem
Volk, den A rm en, den Ungebildeten, die K u nst und W issen sch aft nich t
haben, die nich t m it den olym pischen G öttern zu T isch sitzen können,
em pfiehlt m ap den G ottesglauben. „ W e r diese beiden nich t besitzt (K u n st
und W issen sch aft), d er habe R eligion“ . „D em Volke m u ß die Religion
erhalten werden“ . D as sind Sätze des bürgerlichen W eltalters. Sie be­
decken die negative L ag e des A rbeiters in der bürgerlichen W e lt m it einem
veralteten „feudalen“ R est (das W o r t „feu d al“ ist eine A b kürzung; m an
würde korrekt „vorb ü rgerlich “ sagen m üssen ). Also ist Religion Opium
fü rs Volk. Denn sie h ält es davon zurück, sich seine negative L a g e inner­
halb der herrschenden kapitalistischen O rdnung zu erkennen. D er P r o ­
letarier m u ß A theist sein. Denn n u r dann ist er gefeit gegen die ein­
lullenden religiösen Friedensschalm eien, die ihn den K apitalism us e rtra ­
gen m achen sollen. „D ie A rb eitersch aft h a t k ü nftig keine andere W e lt­
sendung als den A theism us“ (T ro tz k ij). ln den R eligionsverfolgungen in
R ußland ist bekanntlich b itterster E rn s t aus dieser L e h re von M arx ge­
worden. „ E s gibt keinen G ott und göttliche Gesetze, es gibt n u r ein L e ­
ninism usgesetz“ , sagt ein russisches P ro p ag an d ah eft. „R u ß lan d als das
Lan d des Sozialism us m u ß den K a m p f gegen die R eligion d u rch fech ten “ ,
sagt die Isw estija 1 9 2 9 .
Die zweite F o lg e ru n g is t: N icht das Selbstbew ußtsein m a ch t den P r o ­
letarier zum M enschen, sondern seine Arbeit. W e il er ein Glied des T au ­
sendfüßlers d er m enschlichen G esellschaft bei ih re r A rbeit ist, deshalb ist
er M ensch. W e r nich t arbeitet, ist kein M ensch. E r ist „Lu xu sw eib ch en “ ,
„L u ftm en sch “ , „ P a ra s it“ , „ S ch m a ro tz e r" am K ö rp e r d er m enschlichen
Gesellschaft. E r w ird keinen P latz in d er kü nftigen p roletarischen Gesell­
sch aft haben.
Die d ritte F o lg e ru n g is t : N iem andem d a rf in d e r künftigen G esellschaft
das R ech t zustehen, jem anden zum Proletarier zu m achen d ad urch, d aß
er ihn gegen L o h n arbeiten läß t. D as P rivateigen tu m an den Produktions­
mitteln w ird also ab gesch afft. D ie Produk tion sm ittel werden vergesell­
schaftet.
V ierten s: Die L o h n arb eit m a ch t den M enschen zum p ro letarisch en
K am pfgenossen, sie allein. Alle anderen B indungen haben d ah er keine
B edeutung fü r die A rbeiterklasse. R asse, F a rb e , G eschlecht, A bkunft,

29 Rosenstock 449
Staatsangehörigkeit, Konfession, Partei sind nichts gegenüber dem ge­
m einsam en Arbeitsschicksal. Sie alle sind daher u n ter der W ü rd e öffen t­
licher Angelegenheiten. Religion ist Privatsache, Nation ist Privatsache,
Ideen sind Privatsache und Liebe und E h e sind Privatsache. W e r aber
nicht Lohn arb eiter ist, kann keine politischen R echte haben.
Denn die G esellschaft nim m t Interesse am M enschen, soweit er arbeitet
oder nich t arbeitet. Sie wird souverän sein in der Zuteilung der Arbeit an
M änner und F rau en . Die K in der werden nich t von den E ltern erzogen,
sondern von d er G esellschaft. Die Fam ilie b rau ch t nicht einm al abge­
sch afft zu werden. Aber sie zerfällt von selbst, wenn doch kein Haushalt
m eh r da ist, d er den Gliedern des H auses H alt bietet.
Weitgeseii- Und letzten s: E s gibt n u r eine einzige G esellschaft fü r die P ro letarier,
schaft v*ej£n Gesellschaften d er Völker, Stände, E rd teile, sind fü r das P r o ­
letariat etwas U nbrauchbares. U n ter ihnen leidet es. D as P ro le ta ria t ist
au f dem W eg e zu einer arbeitsteiligen W eltgesellschaft. Die nationalen
G esellschaftsordnungen werden d u rch H ungersnöte, K risen, K onju nktur­
schwankungen und d u rch entsetzliche K riege sich so lange zerfleischen,
bis die eine G esellschaft an ihre Stelle treten kann. Die Staaten verschwin­
den. Denn sie sind n u r das W erk zeu g d e r herrschenden Klassen.
Dies alles kann m an schon heute ( 1 8 4 7 ) sag en> weil die negative L a g e
des P ro le ta ria ts bereits da ist. Im übrigen m u ß d ie B efreiu n g des P ro le­
tariats das W erk des Proletariats selber sein. K arl M arx h a t deshalb kon­
sequent sich m it d e r Analyse des „K ap itals“ beschieden. E r h a t es im m er
abgelehnt, positive Rezepte für die neue G esellschaft zu liefern. E r h at
n u r gegen alles angekäm pft, was die negative Stellung des P ro le ta ria ts
innerhalb d e r bürgerlichen G esellschaft h ätte abschw ächen können. Die
E in o rd n u n g des P ro le ta ria ts in die bestehende G esellschaftsordnung m u ß
verhindert werden. Sonst verkauft sie ih r E rstg e b u rtsre ch t a u f den neuen
W eltzustan d fü r das L in sen gerich t eines bescheidenen Plätzchens im bis­
herigen W eltzustan d. Die V erach tu ng des K leinbürgers wird sorg fältig
gepflegt. Denn den K leinb ürger treibt Mimikry art die B ü rgerseite. E r ist
sogenannter A nhang d er herrschenden B ourgeoisie. Das P ro le ta ria t aber
ist eine neue K lasse, m it anderen w eltgeschichtlichen A ufgaben. E s ist die
K lasse, die alle bisherigen K lassen vernichten wird.
Karl M arx h a t deshalb die G ew erkschaften abgelehnt. Die G ew erkschaft
ist eine solche E in o rd n u n g d er A rb eitersch aft in die b ü rgerliche Gesell­
sch aft. Die Gesetze d e r freien K onkurrenz w erden von ih r b ejaht. N u r
wird d er A rbeitsm arkt d u rch einen freiw illigen Zusam m enschluß d er A r­
beitskräfte m onopolistisch zu beherrschen versucht. Allerdings drücken
zunächst die n ach ström end en und un organisierten A rbeitskräfte a u f den
A rbeitsm arkt. A ber w ird d er A rbeitsm arkt geschlossen d u rch Einw ande­
rungsverbote, A rbeitslosenversicherung usw., dann ist die G ew erkschaft
sehr wohl in der L a g e , die L öh n e, d. h. den P reis d er W a re Arbeitskraft

45o
zu regulieren. Denn die G ew erkschaft kann dann als Kartellverkaufsstelle
auf den M arkt treten.
O rganisieren h eiß t also bei d er G ew erkschaft das Gegenteil von dem,
was M arx m it dem P r o le ta rie r vereinigt Euch* im Sinne hatte. E r wollte
die streikende, aus der bisherigen W e lt ausziehende K am pftruppe als P ro ­
letariat sich „organ isieren“ sehen. Die G ew erkschaften organisieren die
A rbeitskraft zum E in m arsch in die bisherige W e lt, um in ih r zu arbei­
ten, weil das P ro le ta ria t nicht w arten kann auf den g roß en K ladderadatsch. ,
G ewerkschaften und M arxism us heben sich auf. Sie tu n dies noch aus f
zwei weiteren G ründen. Sie sch affen in der G ew erkschaftsführerschicht f
eine am Bestehen d e r W irtsch aftso rd n u n g interessierte Klasse von N i c h t - 1
Kapitalisten. -Die W irtsch aftso rd n u n g ist dam it keine rein kapitalistische
m ehr. F e rn e r aber organisieren die G ew erkschaften die P ro letarier anders,
als d er M arxist sie organisieren m u ß und in R ußland organ isiert hat.
Die G ewerkschaften knüpfen näm lich an die vorbürgerlichen Einteilungen
der Gewerke in Handwerke an, M etallarbeiter, H olzarbeiter, Fabrikarbei­
ter, Lederarbeiter, Angestellte, W erk m eister, organisieren sich so als Ge­
werbezweige. D am it w erden sie n ach einem nichtproletarischen G rund­
satz organisiert. D er P ro le ta rie r h a t keine Beziehung zu seiner Arbeit.
P ro letarier ist er nich t als Schm ied, sondern als L oh n em p fän ger. T ue ich
alle Schm iede zusam m en, so entwickle ich in ihnen ein B eru fsgefü h l, das
die rein negative p roletarische H altung notw endig durchkreuzt. Kein Lan d
m it einer wirklich durchindustrialisierten G esellschaft bietet d ah er C han­
cen fü r den M arxism us. Denn überall d o rt rag en in die kapitalistische Ge­
sellschaft die alten handw erklichen U nterschiede hinein und werden d u rch
die Gewerkschaften geschützt und verewigt. Ü berall fehlt d o rt der radikal
traditionslose P ro letarier I Die G eschichte h a t M arx rech t gegeb en : „D as
V ersagen aller A rbeiterparteien dem W e ltk rie g gegenüber m u ß als welt­
geschichtliche T atsach e, also als notw endige F o lg e der bisherigen Ge­
schichte d er A rbeiterbew egung b egriffen w erden“ (L u k a cs). M arxism us
wird daher n u r in R ußland m öglich , wo die G ew erkschaften verboten wa­
ren, oder am Vorabend d er R evolution unbedeutend. H ier h a t m an die
Arbeiter seit 1 9 1 7 in Industrieverbände organ isiert. D as soll h e iß e n :
Vom G eneraldirektor bis zum P o rtie r gehören alle in ein Kollektiv. N icht
das, was d er einzelne arbeitet, fü h rt ihn zusam m en m it den anderen B e­
triebsangehörigen. D er Industrieverband fö rd e rt also das Klassenbew ußt­
sein aller noch so verschiedener Arbeitenden. E r ist m arxistisch . D ie Ge­
werkschaften sind es in d er T a t nicht.
B isher ist die M arxsche L eh re eine soziale P ro p h etie von im ponieren­
der Selbstentäußerung. D er denkende M ensch begibt sich des R ech tes,
m eh r zu tun als zu begraben. Die Arbeiterklasse m u ß sich selbst befreien.
M arx, der P ro p h et ih re r w eltgeschichtlichen Sendung, kann es nich t.
Und h ier ist die B ruchstelle. E r tu t es doch. D er Geist, den e r aufbietet,
29* 45 I
die alte bürgerliche Kapitalistenklassengesellschaft zu verstehen, ist ein
Geist der Prop h etie wie eines alten israelitischen Propheten . Aber der alte
P ro p h et liebt die, denen e r ins Gewissen redet. E r erinnert sich an das
Gute, was ihnen der H e rr getan hat. E r will, daß sie, sie selber sich än­
dern. M arx redet die alten B ü rg e r nich t an. Sie können ihn g a r nich t ver­
nehm en. Sie sind d u rch ihre K lassenlage gebunden. E r kann nich t die K a­
pitalisten an das G ute erinnern, was ihnen w iderfahren ist, dam it sie es
nich t m ißbrauchen. Sondern e r lä ß t um gekehrt die P ro le ta rie r innewer­
den, wie sie m iß b rau ch t werden, und wie ihnen Schlim m es w iderfährt.
Und vor alle m : er liebt die W e lt nich t, die e r beschreibt, sondern er h a ß t
sie m it unüberbietbarem kaltverachtenden H asse.
Und h ier sp rin gt er nich t n u r von H egel ab, sondern au ch von seiner
eigenen Erken ntnisgrund lage. Denn der M ensch weiß n u r das, was er liebt.
Und er weiß n u r soviel, als e r liebt. Lieben ist eine praktische Lebens­
haltung, die auch gegen unseren W illen und un ser Bew ußtsein wirkt.
M arx liebt die b ü rgerliche G esellschaft d u rch die T a t, d u rch die der Geist
sich über seine Liebe ausweist, weil e r sein Lebensw erk ih re r Erkenntnis
weiht. Etw as in seinem W esen erkennen h eiß t, es lieben. Und darin w ur­
zeln seine, M arxens Irrtü m e r. R eligion w irkt als O pium in der b ü rg er­
lichen G esellschaft. W a s sie sonst ist, weiß m an d am it nicht. D enn der
B ourgeois ist es ja , d e r dem Volk die R eligion „ e rh ä lt“ . N u r d u rch den
B ourgeois wird die R eligion zum O pium . W a s das P ro le ta ria t an und fü r
sich aber tu t — w er weiß e s ? Jeden falls ist d er A theism us eine b ü rg e r­
liche Angelegenheit. Und n u r B ü rg e r, Intelligenz, w ird sich die M ühe m a­
chen, sich m it A theism us zu befassen. A ber M arx persönlich ist verliebt
in die Philosophie. U nd deshalb will e r, d aß die V ern u n ft h errsch en soll.
Die F am ilie ist in d er bürgerlichen G esellschaft eine L ü g e fü r das P r o ­
letariat. W en n die F r a u au f A rbeit gehen m u ß und die K in d er verdienen,
dann ist von E rzieh u n g , H aus usw. freilich n u r die Schattenseite zu sehen.
Dann m u ß das K inderheim eintreten und die G esellschaft d a rf dann die
F am ilie nich t m e h r au torisieren zu r E rzieh u n g . *
Aber n u r d u rch die negative L a g e des P ro le ta ria ts ist das so. W ir d das
P ro le ta ria t frei, d an n ? J a das wissen wir n ich t. Aber jedenfalls ist die
freie Liebe und die A b schaffung d er E h e eine bü rgerliche A ngelegenheit
m ü ß ig er b ü rg erlich er Intelligenzen. Aber a u ch d er K äm p fer, d er das E x il
gew ählt h at, die G efah r und die A rm u t, e r d a rf seine Lebensarbeit über
die F am ilie stellen und so ist die G ew ißheit über die W ertlosigk eit d er
F am ilie ein R e ch t des freien Tatmenschen, des K äm p fers fü r die F re ih e it
des Zeitgenossen N apoleons: „ W a s sch ert m ich W eib , was sch e rt m ich
K ind, ich tra g e weit besser V erlan gen .“
N iem and w eiß also, welche M enschen das befreite P ro le ta ria t einst
schätzen w ird. N u r die b ü rgerlich e G esellschaft z. B . h a t ein In teresse d a r­
an, d aß alle arbeiten. W o f ü r sich das P ro le ta ria t entscheiden w ird, ob es

45 a
nicht alle jungen Mädchen lieber tanzen und singen läßt — das weiß
niemand. Aber der Genius M arx d a rf den Arm en allein lieben, der
Geistreiche die F rö n e r, weil er n ich t ist wie sie. Deshalb will er, daß
alle arbeiten.
S ch ließ lich : W ird in der künftigen G esellschaft gegen L oh n gearbeitet,
dann ist dies ein R est der bürgerlichen W elt. Die G esellschaft oder der
Staat als U nternehm er ist fü r den P ro le ta rie r um nichts angenehm er als
der private K apitalist. Lohnkäm pfe und Lohnstreiks gibt es dah er z. B.
auch heut in R ußland. W a s h eiß t der S a t z : Die Produktionsm ittel w erden
vergesellschaftet? (Alle Sozialdem okraten haben Sozialisierung bekannt­
lich als V erstaatlichung au fg e fa ß t.) Aber d er S taat ist bestim m t nich t der
geeignete T räg er der V ergesellschaftung nach M arx. E in städtisches Elek­
trizitätswerk, eine staatliche Eisenbahn, eine Provinzialtalsperre sind nicht
sozialisiert. Sozialisierung liegt nu r vor bei B edarfsregelu ng. Aber die Ge­
sellschaft soll ihren K onsum anm elden, nich t d er S taat etwa — wie im
1 7. Jah rh u n d ert — den V erbrauch vorschreiben. Selbst die Befehle in d er
Sowjetunion zur P lan w irtsch aft und die V erstaatlichung d er russischen
Produktionsm ittel sind n ich t Sozialisierung. D as um so w eniger, als die
eine W eltgesellschaft n ich t besteht, sondern der S taat d er Sow jetunion
sein Flachsm onopol, sein P etro leu m usw. zu Preiskäm pfen, D um ping,
Schere usw. auf dem W e ltm a rk t benutzt. Auch in R ußland besteht also
keine Sozialisierung im Sinne M arxens. M arx ist also nich t so enthaltsam
gewesen, wie e r glaubte zu sein. M arx beschenkt das P ro le ta ria t m it einer
Reihe bü rgerlicher Ideologien, näm lich der Abneigung gegen die R eligion
und dem R ech t au f die freie Liebe, die ihm eignen, weil e r die b ü rg e r­
liche A ufklärung im B lute h at und ein S ch ü ler V oltaires und d ’Alem berts
ist. E r h at seine in eine bü rgerliche G esellschaft passenden D ogm en dem
P ro letariat au f seinen M arsch in das Neuland m itgegeben, so als sei dies
Neuland inhaltlich doch bestim m bar.
Sein H aß gegen die b ü rgerliche W e lt ist n u r einer seines Bew ußtseins
gewesen. Alle seine Dialektik h a t ihn nich t gehind ert, au ch B ü rg e r zu
sein. Und so h a t e r positiv zunächst einm al den w ahren Glauben des B ü r­
gertu m s — näm lich sein Freid en k ertu m — m issionierend verbreitet. E s
gibt also doch so etwas fü r den G eist wie M ission d er bestehenden O rdr
nung! D er G eist ist du rch aus n ich t n u r T oten gräb er. W a s ist er aber
d an n ? Noch ein anderes übersah e r : Die G esellschaft d er G eister ist leich­
ter herzustellen als die der M aterie. D as Publikum fü r M arx reich t wei­
ter als die w irtschaftliche E in h eit, die K ra ft des W o rte s ist m äch tig in d er
Ökonomie d er W e lt. M arx h a t den M arxism us nich t der A rbeiterklasse
geschenkt, sondern e r h at ihn in die W e lt des Geistes hineingegeben an
alle, die lesen konnten und wollten. U nd er wehte anders, als M arx d ach te.
N icht das P ro le ta ria t h a t seine B ü ch e r w irklich gelesen — a u ß e r dem
K om m unistischen M anifest — sondern die Intelligenz — das, was in

• 453
R ußland vor dem K riege die Intelligenz mit einem französischen und
bürgerlichen W o rte hieß.

2. L e n i n
M arxens K apital h at in R ußland F urore gem acht, als es im W esten noch
wenig beachtet wurde. 1 8 7 0 wurde es ins Russische übersetzt. U nerm üd­
lich ist Plechanow gewesen, Marx zu interpretieren. Eine M arxphilologie
beginnt in den Län dern ohne eine eigene kapitalistische E rfa h ru n g . Man
lernt aus M arx, wie der K apitalism us sein wird, der noch nicht da ist.
M arx, der den Frühkap italism u s in W esteu ro p a studiert hat, wird die
Bibel fü r O steuropa, bevor der K apitalism us dort ist oder gleichzeitig m it
diesem , und w ährend der K apitalism us in W esteuropa sich grundlegend
wandelt. Die L ek tü re tritt an die Stelle d er E rfa h ru n g . Die Theorie be­
h errsch t die K öpfe und b rin gt die K öpfe zum Bew ußtsein einer noch
nicht vorhandenen L ag e. In einem Lande von Analphabeten w irkt M arx
stärker als in F ra n k re ich oder E n g la n d !
Die russische Intelligenz kann die ersten Sturm zeichen des russischen
K apitalism us m it Bew ußtsein b egrüßen und durchleben und dabei kann
sie in dem ersten, dem allerersten Augenblick einer b ü rgerlichen Gesell­
sch aftsordn ung diese bereits d u rch den M arxism us stürzen.
D as Bew ußtsein verfrü h t, weil M arx die H ilfe gibt, noch U nerlebtes
sich ins Bew ußtsein m it einer S ch ärfe zu erheben, fü r die F ra n k re ich die
Zeit von 1 7 8 9 bis 1 8 4 7 / 4 8 g eb rau ch t hatte.
Diese V erfrü h u n g bestim m t und e rk lärt den ganzen V erlauf d er ru s­
sischen R evolution. Sie ist näm lich ausgebrochen, bevor sie ausbrechen
konnte, 1 904 und 1 9 0 6 . In ganz E u ro p a saßen seit i 8 5 o die „ S ch n o rre r
und V ersch w örer“ , die Bakunin, A lexander H erzen, die im voraus V er­
triebenen d er R evo lu tio n ! E n glan d h atte eine Revolution gesehen ohne R e­
volutionäre, in F ra n k re ich sch afft die R evolution die R evolutionäre (vgl.
C ondorcets A bhandlung über die G eschichte des W o r te s ), R ußland kennt
5 o Ja h re vor d er Revolution R evolutionäre, seit 1 8 8 0 revolutionäre P a r ­
teien (L an d und F re ih e it, 1 8 8 1 ) , bevor es seine Revolution erlebt. M üh­
sam , ächzend ersch ließ t sich das Z aren reich e rst den Ideen von 1 7 8 9 .
Politische M orde, d er T e rro r, treiben es vorw ärts a u f seinem W e g zur N ach ­
ahm un g des W estens. 1 9 0 5 gelingt es den d u rch den K rieg gegen Ja p a n
erm u tigten R evolutionären, die A rbeiter von P etersb u rg — n u r h ier gab
es solche — und die M atrosen d er Schw arzenm eerflotte aufzuw iegeln. D er
Pope G apon m a rsch ie rt an der Spitze der D em on stranten gegen das W in ­
terpaleis. Die Revolution scheint da. W elch en C h arak ter wird sie h a b e n ?
Sie erscheint n och im J a n u a r als soziale und ist im O ktober bereits n u r
noch eine bü rgerlich e. Lenin h at dam als die L a g e du rch schau t. E s gibt
noch kein P ro le ta ria t, au f das m an sich stützen kan n! N ur die b ü rg e r­
lichen Schichten sind revolutioniert. Len in erk lärt dah er, m an m üsse w ar-

454
ten! Die Revolutionäre werden nicht von der Revolution erzeugt, sondern
sie lau em au f die M öglichkeit, sie zu erzeugen. Einzigartige Situation.
Alle ältere Revolution passiert, sie kom m t über die Menschen, die sich
bis zum letzten dagegen stem m en, revolutionär werden zu müssen. Denn
niemand will die W ege des Gesetzes verlassen. Alle wissen, was O rdnung,
Fried en und R ech t fü r G üter sind. Die russischen Revolutionäre haben
von diesen G ütern längst vor der Revolution Abschied genom m en. E in ­
trach t, F ried e, O rdnung sind fü r diese M enschen längst vor Ausbruch der
Revolution ein leerer W ah n .
D urch die W in d saat aus dem W esten leben die russischen Revolutio­
näre bereits längst außerhalb der Gesetze und außerhalb des Landfriedens.
In R ußland stem m t sich die Revolution gegen die Revolutionäre. Sie ist
noch nicht reif, als diese schon reif sind. E s gibt noch g a r zu wenig h e rr­
schende bürgerliche G esellschaft, die m an stürzen kann. Sie ist selbst noch
unterdrückt. In den Putilow w erken von P etersb u rg — da zeigen sich die
ersten Grasspitzen einer Industrie. D as hatte genügt, um die Revolution
von 1 9 0 5 zu versuchen. Als diese fehlschlug, weil die K öpfe sie erzwungen
hatten, eine L u ftg eb u rt, stürzt die D epression einer Gegenrevolution alle
schwachen C haraktere in den Z usam m enbruch, den ungehem m ten Sinnen­
genuß. Eine E p och e des Taum elns tre n n t so die Spreu vom W eizen, die
M itläufer von den Unentw egten, ähnlich wie bei uns nach 1 9 1 8 . Aber der
In grim m d erer, die die P rob e bestehen, wird noch g rö ß e r.
Nach dieser Y erfrÜ bung von 1 9 0 5 vergehen zehn Ja h re industrieller
Entw icklung. Im m erh in w ar sie im V ergleich zu E n glan d , D eutschland
oder A m erika noch m inim al. Aber die bü rgerliche Intelligenz fiebert, die
weltgeschichtliche Sendung n ich t zu verpassen. Sie will sich selbst über­
winden, ihren eigenen bourgeoisen Nihilism us. Sie ist nich t um sonst seit
4 o Ja h re n „ins Volk g eg an gen “ . M arx h at sich in R ußland vertausend-
fältigt. D er russische bü rgerliche Student v ergiß t seine K lassenlage, seine
Interessen, und stürzt sich in das Volk, in die neun Zehntel Analphabeten
des R eichs. E r b rin g t ihnen n ich t als P ro te sta n t, K atholik, als P u rita n e r,
als A ufklärer Lesen und Schreiben bei, sondern als H enker seiner selbst,
als M arxist, d er die bürgerliche K lasse vernichten wird. Alle diese Revo­
lutionäre haben sich selbst en tsag t längst vor d er R evolution. Die Bibel,
die sie bringen, enthält die Sätze, an denen sie, ih re F am ilien , ih re K lasse,
an der alle ih re Studien und geistigen B esitztü m er sterben werden. G raf
R ostoptschin h atte das bereits von den D ekabristen g e sa g t: „ Ic h begreife
den französischen B ü rg e r m it seiner R evolution zum Erw erbe von R e ch ­
ten, aber wie soll m an einen russischen Adligen begreifen, der R evolution
m ach t, dam it e r seine R ech te v e rlie rt?“ E b en diese Selbstentsagung aber
ist das M erkm al l 1 8 8 6 sch reib t T ikhom irov von diesem K reuzzug, wie er
ihn n e n n t: „D iese L eu te verleugneten ih re ganze V ergangenheit. Sie h atten
kein Eigentum m ehr. W e n n ein er zögerte, alles herzugeben, erw eckte er

455
mitleidige V erachtung. W ie die ersten Christen sagten sie: Ich verleugne
Satan und alles, was von ihm kommt, und all seinen Stolz. Ich speie a u f
ih n .“ Selbstm örder, bevor sie m orden werden, und daher frei von allem
Irdischen. Die Kälte des russischen Nihilisten, die ein Lenin, ein Sawin-
koff ausstrahlen, ist die Kälte derer, die zehnm al schon sich selbst ge­
storben sind, nu r um die geistige Aufgabe nicht zu verpassen. F an atisch er
als die spanische Inquisition, wollen sie seihst nich t selig werden. Sie
wollen nu r dem Geist des W estens, dem ewig überlegenen, endlich einmal
voraus sein. Endlich einm al werden sie w eiter sein, vorangehen, F ü h re r
in der europäischen G esellschaft. Denn sie wissen ja nun das Geheimnis
ih rer totalen Um wälzung, während E u ro p a noch sich in Sicherheit wiegt.
Sie, die Revolutionäre, leben nich t m eh r in den Gesetzen der bürgerlichen
W elt. E h re , Gewissen, Sittlichkeit, G laube? — Nihil. In den Gefängnissen
des Zarism us, die K lopfsp rach e d u rch die W ä n d e und Stockw erke ent­
sendend, h at ein jed er dieser R evolutionäre schon gesessen. D as ist E h re n ­
sache. Diese Revolutionäre sind alle bereits P a ria s d er bestehenden russi­
schen W elt, ih r W e g geht von dem au frü h rerisch en G ym nasiastenbund
über das Auslandsstudium zur P ro p ag an d a in R uß lan d , ins G efängnis,
zurück in die P a rte i, zurück ins Ausland, zurück zu r P ro p ag an d a, wieder
ins G efängnis oder nach Sibirien.
D as ist d er K reislau f ihres Lebens, jede Station eine V erbannung, eine
Trennung in sich schließend, T rennu ng vom häuslichen Glück, T rennu ng
von d er F re ih e it, Verbannung aus der H eim at, T ren n u n g von d er eigenen
Lebensarbeit. Alles dies aber nich t d u rch die W e lt erzw ungen, sondern
seltsam genug freiw illig erw ählt, aus revolutionärer Gesinnung.
H ier stoß en w ir au f das W o r t, das die tragen d e S ch ich t in R u ß lan d fü r
Gesinnung die R evolution zusam m engeschm iedet h at, die G esinnung. E in solches
Leben d er T rennungen ist ein Leben d er Gelübde. Denn Gelübde h a t d er
Bolschew ist praktisch abgelegt, als P ro b en seiner Gesinnung. E r h a t den
Glauben seiner E lte rn verlassen — gew öhnlich fro m m e r und tre u e r U n ter­
tanen des Z aren — e r h a t den B e ru f verlassen, au f K in der verzichtet, e r
h at sein V erm ögen eingebüßt, seine bü rgerlich e E h re verloren. Alles aus
revolutionärer G esinnung. D as sch a fft einen Bund von einer praktischen
B ew ährung, die kein O rden aufweisen kann. W a s sind O rdensproben d er
Jesu iten o d er der T rappisten, von wohlwollenden O rdensobern abverlangt,
was ist die Spielerei d er F re im a u re rp rü fu n g e n gegen Sibirien, gegen das
E x il, gegen die T od esgefah r, die m an hier im tiefsten F ried en freiw illig
au f sich n im m t? N u r aus m aterialistisch er G eschichtsauffassung, weil m an
in d er G eschichte die W eltstu n d e schlagen g e h ö rt hat.
M an vergleiche das Leben d er L iteraten in P a ris und die G efahren eines
B eau m arch ais oder V oltaire m it diesem Leben, das von 1 8 8 0 bis 1 9 1 4
Tausende von Russen g e fü h rt haben. Und m an wird so fo rt fühlen, d a ß die­
ser B und schw erer w iegen m u ß als die Talente des G eistes von d am als, 1 7 8 9 .

456
Und so ist es in der T a t dann gekom m en. Die Gesinnung der Intelligenz
spielt die um gekehrte Rolle in R ußland als 1 7 8 9 . D o rt in F ran k reich ver­
klärt der Geist den Sieg der Bourgeoisie. E r gibt der neuen kapitalisti­
schen Gesellschaft das gute Gewissen. D er E sp rit gibt 1 7 8 9 wirklich
die Ideologie zu d er materiellen Um w älzung d er G esellschaft. Die M aterie ist
also dam als unten, der Geist, die Ideen sind darüber als Hülle gebreitet.
Genau um gekehrt ist es in R ußland. D er Bund der Gesinnung, besie­
gelt du rch die sieben Nein zu allem Bestehenden, wiegt so schw er wie
E rz. E r ist selbst so gew ichtig wie die härteste M aterie. Die Bolschewiki
zählen selbst als das härteste Gestein zum Neubau der Gesellschaft. Alles
andere M aterial ist brü ch ig im V ergleich zu ihnen. Deshalb m ach t die er­
probte Gesinnung den Bolschew isten. Deshalb kann niem and auch heute
noch ohne Gesinnungsprobe in die P a rte i eintreten. Deshalb wird R ußland
von den Bolschewiki re g ie rt und nich t von den A rbeitern oder B auern.
Deshalb m uß wenigstens d u rch eine E n tsagu n g auch heute jed er K om m u ­
nist in R ußland sich bewähren. E r d a rf nicht m eh r verdienen als seine
2 2 5 Rubel m onatlich. Sonst d ro h t ihm , m it Sch im p f und Schande aus
der P a rte i ausgestoßen zu werden. D er einstigen P aro le „B ereich ert E u c h “
des B ü rg ers, steht hier das „ E n tsa g t, bleibt a r m “ des Revolutionärs gegen­
über. Die Literaten , K ü nstler und Advokaten der bürgerlichen G esellschaft
taten es den B ü rg ern im G oldsuchen nach, so g u t es eben ging. H ier geben
die L iteraten das Beispiel d er A rm u t und zwingen ihren Stil den A rbeitern
und B auern — die gern reich sein w ürden — auf. Die A rm u t ist das
Zölibat des K om m unisten. Sie beweist seinen Glauben an den E rfo lg des
K om m unism us. E r h at ja keine Reserven.
Die Revolutionäre in R ußland haben sich das R e ch t au f H e rrsch a ft in
der vorrevolutionären Z eit verdient. „ W e r andere zu leiten strebt, m u ß
fähig sein, viel zu entbehren.“ E n tsa g u n g ist die V oraussetzung aller
H errsch aft. Angeblich h e rrsch t in R u ß lan d der Sozialism us, der Atheis­
m us, die freie Liebe. In W a h rh e it h e rrsch t der B und der Entsagenden.
Und solange diese Gesinnung dieser E n tsag u n g sich behauptet, d a rf e r v
herrschen.
Als der W eltk rieg drei Ja h re ged au ert hatte, w ar R u ß lan d desorgani- Antritt der
siert. E s zeigte sich seine geringe kapitalistische D u rch flech tu n g in seiner Herrschaft
U nfähigkeit, genug M unition zu erzeugen, in dem Stocken des Eisenbahn­
verkehrs, in dem H u n ger und K ohlenm angel d er städtischen Bevölkerung.
Und das trotz riesiger O p fe r: N ur 6 , 4 °/o d er B etriebe arbeiteten fü r den
K onsum , d er R est fü r den K rieg . Die bü rgerlich e G esellschaft, Banken,
Industrielle, freie B eru fe zwangen den Z aren zur Abdankung und nun
d u rfte sie sieben M onate lang regieren.
Die bürgerliche G esellschaft w ar endlich da — m an konnte sie stürzen.
D er Bund der R evolutionären G esinnung stü rzt diese eben em anzipierte
bürgerliche G esellschaft. Denn er ist unbedingt einheitlich. E r b rau ch t

457
keine E h re zu retten, wie die heim attreuen R ussen, keine V erm ögen zu
retten, wie die besitzenden Russen, keine Fam ilien bei Ansehen und Glück
zu erhalten, wie der russische D urchschnittschrist, kein Kreuz auf die
Hagia Sophia in Konstantinopel zu pflanzen, wie d er fro m m e orthodoxe
Russe. D er Bund teilt keine einzige dieser Ideologien, weil er diese säm t­
lichen Bedürfnisse längst zu verleugnen gelernt hat. D er Bolschew ist hän gt
sein Herz an dies alles nicht. Denn e r h at sein H erz längst begraben. E r
kann also beliebig viel Lan d abtreten, beliebig D em ütigungen in den K au f
nehmen, wenn e r n u r R ußland b eh errsch t und in R ußland die W irtsch a ft
ordnen d arf. G enau so h at Lenin gesprochen am i . M ärz 1 9 1 8 . Und dam it
hat er den letzten nich t bolschewistischen R egierungsteil, die Sozialrevolu­
tionäre, von sich abgeschüttelt.
Die Bolschewiki regieren seitdem die russische W irtsch a ft. Sie führen
langsam den K apitalism us ein, schaffen ein In d u striep roletariat, das es
vorher kaum gab, das es aber geben m u ß , dam it es den K om m unism us
geben kann, und wandeln R ußlands A grarprod uktion langsam um , m it
dem Ziel, auch das Getreide fabrikm äßig zu produzieren. D ann können die
Städte g rö ß e r w erden. D ie Industrieproduktion kann steigen. Auf dem
Lan d brauchen n u r zur S aat und E rn te die T rupp s d er M aschinenarbeiter
zu erscheinen. ;
Die w irtschaftliche Leitun g von diesem allem haben die M itglieder d er
K om m unistischen P artei. Die G esinnung b erech tig t sie zu r H errsch aft,
eine Million über 1 5 o Millionen. N icht n u r A rm u t ist ih re Schranke, au ch
blinder G ehorsam . Eben noch im Z entralb ü ro tätig , m üssen sie bereit
sein, fü r eine W eile in d er hintersten Provinz Fron td ien ste zu leisten.
Die Bolschew iki sind ein G eneralstab der G esellschaft, die gesam te Ge­
sellschaft ist eine A rm ee d er Arbeit.
Die Armee der Und die technischen L e ite r d er B etriebe und V erw altungen sind von
den H albgöttern d e r P a rte i soweit en tfern t, wie die Lim enoffiziere von den
H albgöttern des G eneralstabs im p reuß ischen H eere.
M arxens W o r t : Die B efreiu n g d e r Arbeiterklasse m u ß das W e rk d er
Arbeiterklasse selbst sein, ist nich t in E rfü llu n g gegangen. Seine grandiose
A ufdeckung d er negativen Seiten d er b ü rgerlich en G esellschaft h a t er
einem B un d heroischer und gesinnu ngstreuer Revolutionäre überantw ortet.
D as letzte individuelle Genie, d e r vollkom m en einsam e G enius M arx
I h at den g rö ß te n R ittero rd en hervorgeb rach t, als e r entsagungsvoll das
j P ro le ta ria t m ünd ig zu m achen glaubte. R ich tig ist, d aß dieser O rden aus
Intellektuellen plus In d u striearbeitern besteht, den wenigen Indu strie­
arbeitern, die es bis 1 9 1 4 gab. A ber w egen dieses Zusatzes aus P ro le ta ­
riern bleiÄt er dennoch ein O rden. G egen diese Prophezeiung d e r L a w ro ff,
K a re je W ?w b ro n z o ff haben die M arxisten im m er protestiert. A ber die T at­
sachen entschleiern die Ideologie, die d er P arteigenosse b rau ch t, um das
P ro le ta ria t in die P a rte i hineinsehen zu können.

458
Und doch ist Marx damit nur recht geschehen. Das, was er wirklich ge­
wesen ist, h at näm lich F ru c h t getragen, nicht seine Gedanken, sondern
seine H altung. D er Philosoph, der K äm p fer und der glaubende Verehrer
d er Unterdrückten — sie haben in der K om m unistischen P a rte i eine
M acht geschaffen, vor der die bloß m aterielle, die bürgerliche kaltherzige
W e lt der Ausbeuter zittern m u ß . N icht die Arbeiterklasse befreit sieb
selbst, sondern die dialektische Antithese zur bürgerlichen Philosophie und
zur bürgerlichen Aufklärung, zur bürgerlichen Ökonomie und zur b ü rg er­
lichen M oral. Zum Teufel diese Ökonom ie, zum Teufel diese M oral, zum
Teufel diese idealistische Philosophie, zum Teufel, zum Teufel.
Die Bolschewiki sind keine Klasse, sie sind auch nicht ein ideologischer
Überbau über die B au ern und A rbeiter R ußlands, sie sind die welt­
geschichtlichen G egner der Ideen von 1 7 8 9 . Sie sind keine P ro letarier.
Denn sie sind geborgen in ih rem G esum ungskam pfverbande als G eneral­
stab der russischen W irtsch a ft.
Die m ateriellen Verhältnisse R ußlands w idersprechen dem M arxism us.
Sie sind rückständig, vorkapitalistisch und vorbürgerlich. Die M aterie
h eißt R ußland, nich t das P ro letariat. D er Bolschew ism us ist westliches
E in fu h rg u t in diese M aterie. Die Prop h etie K arl M arxens p a ß t auch heu t f
in g ro ß a rtig e r W eise noch fü r W esteu ro p a. G erade auf R u ß lan d p a ß t sie I
nicht. In R ußland sind n u r die Bolschewiki m arxistisch , die V erhältnisse
sind russisch. In E u ro p a sind die Verhältnisse w eitgehend „ m a rx re if“ ,
aber eben deshalb ist eine besondere Ideologie „M arxism u s“ d o rt bereits
obsolet. D o rt ist der K lassenkam pf eine T atsach e, d o rt g ilt es nich t, ihn zu
bekennen, sondern ihn zu überwinden.
D urch den M arxism us w ird R u ß lan d europäisiert, indem es die G e- Die Gesetze
setze g roß staatlich er W irtsch a ft e rfä h rt. N ichts anderes sind ja die „G e- emna
setze L en in s“ . E s ist die g rö ß te V ergew altigung d e r russischen M aterie
notwendig, um Schulen, Medizin, Telephon, F ab rik en endlich einzubür­
gern. D er M arxism us ist die konzentrierte letzte Quintessenz des bishe­
rigen E u ro p a, die einem K ö rp e r eingeim pft w ird, d e r zu d er übrigen W e lt
aufholen und sie überholen will.
D er K ö rp er besteht aus slawischen Seelen. Die Seelen dieser Slawen
nehm en R ache fü r die lange K n ech tsch aft.
Und die R ach e d e r Seele ist es; eine neue S p rach e zu sprechen. D er
gepeinigten Seele en trin g t sich m it dem Sch m erzenslaut zugleich der erste
L a u t, d er ih r eigener sein und bleiben w ird im m erd ar.
D ieser Sehnsucht d e r Russen, endlich ih re eigene Sp rach e zu sprechen,
begegnet der M arxism us. Deshalb verfällt ih m die russische Intelligenz,
weil die Slawen eine eigene S p ra ch e w erden sprechen dü rfen, die Sp rach e,
die aus ih rer K n ech tsch aft, ih re r U n ordn ung, aus den K räm p fen des ru s­
sischen Im perialism us die ersten L au te d e r neuen S p rach e m ach t. E in e
u n erh örte Sprache, die den R ussen russisch m ach t. Aus N ationalism us

459
sind die Bolschewiki international geworden. Alle unterdrückten Völker
hoffen au f diesem Wege mit ihren U nterdrückern brechen zu können.
N ur d o rt aber kann der Bolschewism us locken, wo die Zahl der herrschen­
den Klasse zu der der B eherrschten so niedrig w ar, so niedrig ist wie in
Rußland. In R ußland zählt die P a rte i eine Million M itglieder, d. h. m it
ihrem Anhang etwa ebenso viele, als unter dem Zaren im Europäischen
R ußland ohne Randgebiete zur regierenden Sch ich t g eh ört haben. Nach
dem Versagen des Z arism us w ar es also nichts Besonderes, daß eine neue
ebenso kleine O berschicht zur M acht kam , um den K apitalism us m it
diktatorischer V ollm acht durchzuführen.
Diese O berschicht h errsch t aus eigener M achtvollkom m enheit. F ü n fzig
Ja h re O pferdienst in der Internationale, die K arl M arx gegrü ndet hatte,
geben ih r A nspruch darau f, solange die O pferhaltung dieses M enschen,
des Revolutionärs sich erneuert. D er F o rs ch e r, d er Gelehrte K arl M arx,
h at in ihnen die Chem iker, die im G roßbetriebe R ußland die F o rm e ln
seines L ab orato riu m s technisch auszuw erten suchen. Die H altung des F o r ­
schers, d er sich und seine Assistenten m it allen B akterienkulturen, die er
züchten will, kaltblütig selbst im p ft, d er keine B lutvergiftun g, keinen E x ­
zeß sich selbst ersp art, um urteilen zu können, ist die H altung dieser
Teufelskerle. F o rs ch e r und K äm p fer und E xp erim en tierer in corp ore vili,
aber so daß m an seinen eigenen K adaver am rücksichtslosesten m iß h an ­
delt, das ist die soziale Mission und die soziologische S tru k tu r dieser Men­
schenart. W i r sind im Z eitalter der W issen sch aft des 1 9 . Jah rh u n d erts.
E s ist in E rfü llu n g gegangen, was M arx dem P ro le ta ria t g esag t h a t :
W issen sch aft ist M acht. Die N atu rfo rsch er h errsch en als Sozialchem iker
in R u ß lan d .
Deshalb ist d e r A bgott des russischen Geistes die Medizin. U n ter den
1 5 5 Nationen und d arü b er hinaus fü r E sk im os und Chinesen wird die
P ro p ag an d a dad urch betrieben, daß m an so schnell als m öglich Ä rzte
unter ihnen in M oskau ausbildet. Je d e r solcher M ediziner g eh t als ein
P riester des A theism us und des M aterialism us zu seinem S tam m hinaus.
Und als w irklicher M edizinm ann dieses Stam m es d er T scherem issen oder
d er Tschuw aschen bindet e r den S tam m innerlich an die F o rm e ln d e r
h errschen den K lasse.
Lenin D er F e ld h e rr, der die T heorie des K lassenkam pfes bew ußt au f das
\ d esorganisierte, seiner zivilisierten R andgebiete beraubte städtearm e R u ß ­
land angew andt h at, ist Lenin. Lenin ist d er exilierte, d er von allen W u r ­
zeln des Lebens abgeschnittene M ensch, d er D eracine, dem n u r die Ge­
dankenarbeit übriggeblieben ist als Lebensinhalt. Kein Genius irgen d ­
w elcher eigener Einfälle, sondern der F e ld h e rr des M arxism us. Als er in
den W a g e n stieg, den ih m L u d en d o rff stellte, d am it e r K erenski stürze,
hatte er die Alibis in d er T asche eines französischen, eines deutschen und
eines Schw eizer M arxisten, die ih m bescheinigten, sie hätten gegen seinen

46o
Bund m it dem preußischen Militarismus keine Bedenken. Diese Rückver­
sicherung charakterisiert den Mann ebenso wie die T atsache, daß er die
H errsch aft seines M achtgebietes tatsächlich doch aus den Händen der
D eutschen em pfangen hat. Seine g ro ß e T a t ist es, daß e r gegen alle an­
dern, in russischer L u ft länger atm enden, der russischen E rd e verbunde-
neren Genossen den Fried ensschluß von B rest-Litow sk durchgesetzt hat.
Zweimal wurde er überstim m t. Trotzkij w ar gegen ihn. Lenin h at wie zu
K indern, die nicht verstehen, geduldig die eine F o rm e l im m er w ieder
w iederholt: E s ist ganz gleich, wieviel Lan d w ir behalten, wenn w ir n u r
den Sozialismus in dem R est verwirklichen können. R u h ig und langsam
h at e r im m er wieder die nüchterne F o rm e l in die G ehirne trop fen lassen.
So wurde er zur Achse der russischen W e lt. Aus dem einzigen Manne, der
diesen Fried en hatte schlucken wollen, w urde die M ajorität. U m Lenin hat
sich dam als alles gedreht. E r w ar d er einzige, der den V erlust aller R and­
staaten zu ertragen verm ochte. F ü r jeden anderen Russen bedeutete dieser Das Ende des
Verlust die Z erstöru ng von zw eihundert Ja h re n russischer G eschichte, den Denkens*611
V erzicht auf das W e rk P eters des G roß en und au f alles seither G esche­
hene. Kein Russe konnte sich dazu verstehen, in dem irgendein F u n k e
russischer Ü berlieferung noch glühte. K ein Menschewik, kein T olstojan er,
kein von Dostojewskij oder G orkij B e rü h rte r konnte so alles au f einm al
p reisgeben: die H offnungen au f K onstantinopel, die H e rrsch a ft in der
Ostsee, die Verbindung m it d er P a rte i im polnischen Industriegebiet, die
g roß e in Tolstojs K rieg und F ried en verewigte Ü berlieferung an den Sieg
des Volkstum s über N apoleon 1 8 1 2 , die Verbindung m it dem gelehrten
protestantischen Staatsbeam tentum aus dem B altikum , das Absterben P e ­
tersburgs usw. usw. Diese R andstaaten verkörperten ja fü r R u ß lan d die
g roß en A rterien, in denen ih m bisher d er Geist E u ro p a s zuström te, ka­
tholische, protestantische, englische, französische Einflüsse. Die R an d ­
staaten waren wie die geograph ischen P rojek tion en dieser russischen Ab­
hängigkeit von E u ro p a.
D er russische Edelm ann Len in — m an sagt, e r habe sich als Knabe bei
der H inrichtun g seines B ru d ers geschw oren, diesem System nich t zum
O pfer zu fallen — h a t das Z erschneiden all dieser A rterien au f einm al
hingenom m en. Leise, unerbittlich, fo rm elh aft w iederholte er seine W o r t e :
W en n w ir n u r den Sozialism us in dem R est d u rch fü h ren können. M it
ihm , Lenin, kam genug E u ro p a in diesen R e st hinein. D er M arxism us als
E rsatz fü r alle älteren europäischen Jah rh u n d e rte und K u ltu rstu fen w ird
von Lenin in den verstüm m elten K ö rp e r des russischen Landes hinein­
gegeben. D er M arxism us wird das L an d , in dem keine Eisenbahn fä h rt,
die F eld er nich t bestellt w erden, in dem bald sieben M illionen N iem ands­
kinder u m herirren w erden, in dem die M ü tter ihre K in der essen, in dem
G ras die N ahrung d erer bildet, zu denen kein T ra n sp o rt Nansens hin­
dringt, der M arxism us wird das Lan d, das n ich t m eh r lebt, zum F u n k tio -

46 1
nieren bringen. D er Marxismus wird die zerstückelten Glieder in seinem
Zauberkessel künstlich zubereiten, und R ußland wird wieder aufstehen
und wandeln. W an d eln ? W irklich wandeln und leben? Nein wandeln und
leben sind nich t die richtigen Ausdrücke fü r das, was Lenin m it dem Ob­
jekt seiner Theorie vorhat. D er K ö rp er soll wieder fu n ktion ieren . D as ist
die Vorstellung aus dem L ab orato riu m , die Lenin fasziniert und die er
seinen G efährten m itteilt. Funktionieren soll dieses Gebiet als Versuchs­
feld des M arxism us. Sozialism us ist R äteh errsch aft plus Elektrisierung,
h at Lenin gesagt. Auch hier wieder fällt die einfache F o rm e l auf, Lenins
Geheimnis. Die m illionenfach w iederholte, die O hren bis zur E rm ü d u n g
treffende F o rm e l bezaubert die Massen, so daß sie sich ihren Chem ikern
willig zur V erfügung stellen. Die R äte h e rrsch a ft ist fü r Lenin der B e ­
weis, daß m an die m enschliche M aterie in der H and hat, R äteh errsch aft
beweist, d aß die M assen sich dem technischen E xp erim en t zu r V erfügung
stellen. D as technische E xp e rim e n t aber la u te t: Elektrisierung.
D as E xp erim e n t einer O rdnung R ußland s in dem G eist d er internatio­
nalen F o rsch u n g ist die T a t Lenins. M it dem Fried en ssch lu ß von B re st-
Litowsk kam alles andere zw angsläufig von selbst. D ieser Fried en ssch lu ß
ist d ah er die eigentliche T a t Lenins. „D ie zehn T age, die die W e lt er­
sch ü tterten “ (vom 2 9 . O ktober bis 7. N ovem ber 1 9 1 7 ) , haben sie viel
w eniger ersch ü ttert. D er 7. November 1 9 1 7 ist nich t d e r G eburtstag der
russischen Revolution. D as D atum ist ein Spielzeug fü r die R äte und fü r
die au f diese starrenden Massen. Diese V erfassung R ußland s besteht eben
nich t aus d er R äteh errsch aft, sondern aus dem Leninism us. Und dieser
h at in d er R äte h e rrsch a ft n u r seine passive, retard ieren de H em m u ng, die
Induktionsspule, um den W id erstan d re ch t g ro ß zu m achen fü r den S tro m
der E lektrisierung. Die D urch organ isieru n g d e r russischen W irts c h a ft ist
die Aktion des Bolschew ism us. Und sie w ird zu r einzig m öglichen A uf­
gabe d u rch den F ried en ssch lu ß . Eben deshalb brauchen die R ussen, die
angeblich die Persönlichkeit und das Individuum vernichten wollen, den
K ult Lenins. E r ist d er L ich tb rin g er, dessen L eich e im K rem l au fg eb ah rt
w ird, dam it die M assen zu jem and pilgern können. D enn in die N ach t über
R ußland b rin gt n u r der aus E u ro p a heim kehrende F o rs c h e r das R ezept,
wie m a n L ic k t
nach E u ro p a P etersb u rg n u nm ehr m it R e ch t den N am en L en in grad . In
d er P erso n Lenins h a t die G eschichte d er W e lt ih re staatliche P h ase
d u rch sch ritten und m it d er ökonom ischen vertau scht. E r h at d er w irt­
sch aftlich en Gedankenwelt die H e rrsch a ft v ersch afft gegen den P a trio ­
tism us, und zw ar im K riege, wo d er erh öh te B lu td ru ck dem patriotisch en
Motiv zugute kom m t.
D as un terkü hlt zu haben, ist Lenins g rö ß te T at. Und die M assen —
das zeigt sich h ier — können au ch dies P a th o s d e r K älte w ürdigen.
G orkijs T agebuch d er R evolution h at diese W a llfa h rt zu Lenins Leich e

462
im K rem l in die Sprache des einzelnen russischen D orfes hinein über­
setzt. Gorkij schildert, wie ein M onteur ins Dorf kom m t und die B au ern
überredet, das Geld fü r den Popen zu sparen, die ewige Lam pe, die in der
D orfkirche brennt, auszulöschen. E r , der M onteur, wird elektrisches L ich t
legen, aber unter der Bedingung, d aß e r von den B auern als Gemeinde­
vorsteher anerkannt wird. Und so geschieht es.

5. D ie Arbeitszeit des Proletariers


D er letzte Tagelöhner der vorkapitalistischen Zeit wird in Zeiteinheiten
entlohnt, die seinem Leben als Sohn d er E rd e angepaß t sind. V om M orgen
bis zum Abend w ährt d er T ag , fü r den er entlohnt wird. Die Lohnepoche
und sein Lebensabschnitt fallen zusam m en.
Noch m eh r g ilt in vorkapitalistischer Zeit fü r die Klasse des Landvolkes
das Gesetz, daß d er L o h n aus Zeiteinheiten hervorw ächst, die dem Men­
schen und der E rd e gem einsam sind. D as S onn enjahr reg elt die E rn ten
und dam it die wichtigsten Einkünfte des Ja h re s. U nd der M ensch selber
als Leib und Lebewesen w ird vom S om m er und W in te r, F r o s t und H itze
an gerü h rt und bewegt wie die übrige Lebensdecke, H um us und H om o
sind beide in dem gleichen ewigen K alender d er Jahreszeiten befangen.
Und so ist das E rn te fe st n ich t ein F e st, an dem d er B a u e r stolz au f das
blickt, was er aus d er N atur g em ach t hat, sondern es ist ein Erntedan kfest,
weil d er B au er und das W eizenfeld beide gediehen und beide reich be­
dacht worden sind.
Über B au er und T agelöhner steht in vorkapitalistischer Zeit noch das
H eer d er öffentlich B eam teten in b eru flich er Arbeit. Sie säen nich t und
ernten nich t, sondern der S taat, oder die K irch e, o d er öffen tliche S tif­
tungen und Anstalten besolden sie au f Lebenszeit. D es K am pfes um die
N otdurft sind sie überhoben, und deshalb w ird ih re B esoldung n ich t fü r
Ja h re o d er T age des Sonnenjahres vorgesehen, sondern m eistens a u f
Lebenszeit. Die Zahlungsabschnitte dieser „P en sio “ als Staatsdiener sind
zwar die Ja h re , aber der B eam te kann im ganzen doch au f Lebenszeit m it
ihnen rechnen. D as bedeutet, d aß e r fü r w eitgesteckte Ziele, fü r die Schule
des Sohnes, die Aussteuer d e r T o ch ter, die Reise zu r silbernen H ochzeit
zu sparen erm u n tert wird. E s lohnt, in d er G egenw art jeden P fen n ig drei­
m al um zudrehen, wenn m an ja h ra u s jah rein au f zwanzig, d reiß ig Ja h re
m it den T alern rechnen kann. D ie G ehaltszahlung des B eam ten ist in
W irklichkeit eine biographische, d u rch die sein Leben ökonom isch zu
einer einzigen W irtsch aftsp erio d e w ird. Die Ja h re sind n u r U n terp osten
dieser einheitlichen Leibzucht. D er M ensch wird au f Lebenszeit angestellt,
bedeutet, daß e r in seine ganze Lebenszeit hineingestellt w ird. D o rt, w o
d er Tagelöhner den H orizon t des einen T ages sieht, bei dessen Sonnen­
un tergan g e r den L o h n erh ält, wo d er B au ern h o f von der E rn te des w ech­
selnden Sonnen jah res g e tra g e n w ird, d a ist der B eam te Ökonom seiner

463
Lebenszeit. Er kann Einnahmen und Ausgaben vorübertragen oder zu­
rückdatieren über viele Ja h re hin. Die Sparsam keit auch d er schlecht­
bezahlten Beam ten ist daher im m er erstaunlich gewesen. S ie zw eigen eben
am M onats- oder Q uartalsersten gleich vorweg die g roß en B eträge ab, die
fü r die g ro ß en Zwecke ihres Lebens bestim m end sind, und keine V ersu­
chung des einzelnen Tages kann sie verführen, B eträg e zu kürzen, die
nicht das tägliche Leben tragen , sondern die Lebenszeit. Von i 5 o o M ark
Gehalt sparte ein V olksschullehrer alljährlich unverdrossen zweihundert,
trotzdem er unterbezahlt w ar. Denn d u rch seine Anstellungsweise w aren
diese zweihundert fü r ihn nich t T agegelder, sondern sie w aren dazu da,
den T rau m seines Lebens zu erm öglichen , etw a d aß sein Sohn studieren
solle.
L o h n und H orizont des L ohn em p fän gers bedingen einander. W ir t­
schaftsweise ist Lebensweise. W irtsch aftsp erio d e ist Lebensperiode.
An der ökonom ischen N atu r des M enschen h a t sich der K apitalism us
versündigt. D e r K apitalism us setzt grundsätzlich in G ang neue U nterneh­
m ungen. D as W esen dieser U nternehm ungen b eru h t zuerst d arau f, d aß
sie in eine traditionale W irts c h a ft zusätzliche Indu strie hineinsetzen von
unerprobtem C h arak ter und W irk u n g sg rad . Also m u ß das Risiko fü r
jede einzelne dieser U nternehm ungen begrenzt w erden. D as K apital kann
sich m it keinem U nternehm en län ger einlassen, als es noch zu rentieren
verspricht. Alle Leistungen des K apitalism us sind n u r auf dieser G rund­
lage d er R entabilität m öglich gew orden. N u r d ad u rch lä ß t sich unter­
scheiden, welche von 4 o o o technischen E rfin d u n g en alljäh rlich eingehen
sollen in das W irtsch aftsleb en , d aß die K osten jedes dieser 4 o o o W ir t­
sch aftsexperim ente gegeneinander abgew ogen w erden können.
Dieses leistet die K alkulation. D er P re is des P rod u k ts w ird kalkuliert,
noch bevor es au f den M arkt kom m t. W ä h re n d d er B a u e r e rst wenn e r
auf dem M arkt gewesen w ar, w ußte, was das Schw ein kostete, will d e r
K apitalist vorher wissen, was das K ilo g ram m Eisen kosten w ird, kosten
m uß und kosten d arf. Dies spekulative E lem en t seines Kalküls bestim m en
nach rückw ärts das, was er fü r die K osten des Produk ts auszugeben bereit
ist. J e n iedriger er diese K osten h ält, desto g erin g er w ird sein Risiko. E r
d rü ck t also au f den L ohn fond s, aus dem die A rbeitskräfte der kapitalisti­
schen P roduk tion bestritten w erden, weil er zur K alkulation vor aller P r o ­
duktion gezw ungen ist, denn es käm e zu keiner Produk tion ohne dieser
R entabilitätsvorausberechnung.
D en stärksten D ruck au f den L o h n fon d übt aber der kapitalistische U n­
tern eh m er d ad u rch aus, d aß e r keine A rbeitsk raft eine Stunde lä n g e r be­
sch äftig t, als e r sie benötigt. D ie F reih eiten d er französischen Revolu­
tion, F reizü g ig k eit, G ew erbefreiheit, V ertrag sfreih eit, haben dem U n ter­
neh m er die F re ih e it gegeben, A rbeitskräfte p ro Stunde einzustellen und
zu entlassen. A uf diese W eise e rst w ird eine K alkulation p ro W a ren ein h eit

464
m öglich. Man berechnet näm lich vom einzelnen Stück h er die „produk­
tiven“ Löhne, also das, was fü r die H andarbeit auf die Bearbeitung dieses
Stückes gezahlt werden m u ß . Und m an kom m t da zu Bruchteilen der
frü h eren Tagelohneinheit, zu Stunden, zu M inuten und schließlich zu
Sekunden. N icht genug d a m it: Die Arbeit des Aufsichtspersonals in der „unproduk-
W e rk statt scheint au f den ersten Blick unm öglich ebenso au fg e sch litz ttlve Lohne
werden zu können. K ann m an wissen, bei 1 0 0 0 Stück Zeug, die aus den
W ebstühlen am Tage hervorgehen, wieviel von dem G ehalt des Ingenieurs,
des K onstrukteurs, des K aufm anns im B ü ro au f das einzelne Stück zu
rechnen sin d ? W o doch vielleicht zw eihundert dieser Tausend liebevollste
S o rg falt d er Betriebsleitung erfo rd ern , achthundert aber m echanisch
durchlaufen, ohne besondere Leistu ng d er dirigierenden Kräfte? Die K al­
kulation verfäh rt tro tz d e m so, daß sie diese „G en eral“ unkosten als Zu­
schläge auf die produktiven Löhn e legt, als i o o , 2 0 0 oder 3 o o o /0 . M ag
dieses n u r eine Rechenweise sein — so ist es doch die Ideologie der F a ­
brikkalkulation. Man sie h t: die A rbeitskräfte, die H and anlegen, tragen
das ganze G ebäude; die L eu te von d er F e d e r, die S tehk ragen proletarier,
werden vom U n tern ehm er selbst als Ü berbau b etrachtet, dessen K osten
auf die produktiven Löhne bezogen werden. Letzte Lohneinheit ist die A r­
beitsstunde des w erktätigen M annes am Schraubstock.
Seine Lohntüte em p fän g t dieser M ann am W ochen ende, also aus Stück­
lohn und Stundenlohn addiert. D er F ab rik an t kalkuliert fü r sich p ro
Stück, bezahlt aber je n ach dem im Gedinge oder Zeitlohn. Dies m a ch t
aber fü r den G rundsatz keinen U nterschied, d e r dies Lohnsystem b&-
h errsch t und den die vorkapitalistische W irts c h a ft n ich t gekannt hat. Die­
ser G rundsatz la u te t: L o h n fü r eine A rbeitsk raft d a rf n u r gezahlt w er­
den, soweit sie p ro Stück und Stunde produziert. Beide Einheiten greifen
also u n ter den Lebenstag, die kleinste E in h eit beim T agelöh n er hinunter
in eine m enschlich völlig indifferente, n u r fü r die K alkulation erfundene
kleinste M aßgruppe d e r Arbeit.
D er H orizont des A rbeiters w ird dam it verwinzigt. E r räcjht sich d afü r
geistig du rch das Denken in Ja h rh u n d e rte n , in Utopieen.
Denn wenn J a h r und T a g individuelle M aßstäbe sind, so ist die Stunde Der stunden­
geeignet, den M enschen so zu zerteilen, d a ß e r das w ettm acht d u rch 0 n
W eltgeschich te. H ier liegt ein A nknüpfungspunkt fü r den historischen
M aterialism us. E s gib t aber noch eine praktische F o lg e . Diese ist, daß dem
A rbeiter die S o rge um die ferne Z ukunft, K rank heit, U nfall, A lter, S ch ritt
für S ch ritt abgenom m en werden m u ß te. E r ist fü r J a h r und Lebenszeit
unter K u ratel gestellt. Ih m verbleiben n u r noch die A ngelegenheiten des
täglichen Lebens. E r ist halbm ündig. D ie u n ter einem J a h r liegenden L e ­
bensaufgaben bleiben ihm aus dem L o h n zu bestreiten. A ber das J a h r ist
das M indestm aß des Lebens, jenseits dessen sich der M ensch erst seiner
selbst bewußt w ird. „N u r was ein J a h r überdauert in unserem Innern, ist

3Q Rosenstock
465
w ahr und ech t.“ Eine Lebensepoche beläuft sich au f 3 — 7 Ja h re . Bei­
spiele waren die dreijährige Lehrzeit, die fü n fjährigen P ach tverträg e auf
dem Lande, die siebenjährigen F riste n des Ju b eljah res der Bibel oder der
Professoren freij ahre in Amerika.
Von diesen höheren m enschlichen Zeiteinheiten schließt schon das
Lohnsystem d er Arbeiter aus. D er Augenblick in seiner flüchtigen G estalt
wird ihm als das W esen seiner Arbeit aufgedrungen. Die W e lt erscheint
ihm dabei als eine Sum m e von solchen Augenblicken. Und zwar als eine
unübersehbare. Die 2 ^ 0 0 Arbeitsstunden sind ja von der ersten bis zur
2 4 0 0 . ungew iß. Alle A ufm erksam keit m u ß sich also d arau f konzentrie­
ren, sie zusam m enzubringen. D as ist aber zuviel verlangt, bis 2 4 0 0 zu
blicken. D er W ochen loh n in der 4 8 -Stundenw oche ist das W eiteste, w or­
auf sich die E n erg ie m it E rfo lg wird spannen lassen beim jugendlichen
P ro letarier. U nd diese Eindrücke des i 4 * bis 2 5 . Ja h re s bestim m en ein
fü r allem al das W eltbild d er proletarischen Schicht.
Man kann keinen Augenblick übersehen, kann sich nich t wie ein Stu­
dent über M onate und Ja h re hinw egtrösten, weil m an ja d arau f gestellt
wird, in Stunden zu denken. So hält m an in jed er H and fest, was m an hat.
Den K ad er des Stundenlohnes geschaffen zu haben, ist wohl die g rö ß te
Sünde d er kapitalistischen W irtsch a ftso rd n u n g .
Und doch haben w ir erst die eine Seite dieses Stundenlohnes erö rtert.
Die Arbeitszeit des P ro letariats h a t aber noch eine andere Schw äche ge­
genüber d er des T agelöhners.
D em K alkulationsbüro ist es zunächst gänzlich gleichgültig, wann diese
einzelne A rbeitsstunde abgeleistet w ird. T ag s, N achts, V o rm ittag s, N ach­
m ittags, im W in te r oder im Som m er, das sind fü r den K alk u lator keine
M aßstäbe. 2 3 Stunden am T ag haben K in d er am A n fan g des K apitalism us
gearbeitet. D er Betrieb kostet w eniger, wenn er w ährend 2 4 Stunden des
Tages ausgenützt w ird als w ährend 8 . Also arbeiten w ir weiter. K om m en
die A rbeiter und erkäm pfen sich den 8 -S tu n d en tag au f politischem W e g e ,
dann m uß d er U n tern eh m er vielleicht in d rei S ch ichten die B eleg sch aft
anlegen. Aber das E rgeb n is bleibt d asselbe: Die astronom ischen 3 6 5 m al
2 4 Stunden des astronom ischen Ja h re s sind K alkulationsgrundlage d e r
F ab rik . So abstrakt ist dieser M aßstab, d aß die D eutsche Reichsbank so g ar
fü r die nichtexistierenden T age des 2 9 . und 3 o. F e b ru a r ihren K u nden,
den U n tern ehm ern und Banken, Zinsen berechnet. Dieses S tern en jah r, in
das hinein d er B etrieb sich hineingerechnet sieht, h at m it dem J a h r , das
der einzelne M ensch lebt, schlechthin nichts zu tun. W o in S ch ichten ge­
arbeitet w ird, d a wird diese E n tk leidung der Arbeitszeit j a n o ch d u rch
seine V ertretbarkeit u n terstrichen . Aber es gib t keine Fu n k tion innerhalb
der von K apitalisten abhängigen W e lt, die n ich t au f Schichtbetrieb und
also au f Ausw echselbarkeit d er F u n k tio n äre d rän gt. D as scheinbar so
harm lose W eltbild des oben S. 3 4 9 geschilderten französischer! D ezim al-

466
Systems, des fü r Handelskammern zurechtgestutzten bürgerlichen K alen­
ders — m öglichst ohne R hythm us und F este — , und der astronom ischen
2 4 -Stundenuhr erweist sich in seiner w issenschaftlichen Abstraktion als
eine däm onische G roß m ach t, die den „n atü rlich en “ Menschen aus der
W irtsch aft hinausgew orfen hat.
W o d er einzelne nicht einm al ein R ädchen des Produktionszw eiges ist,
sondern nu r eine schichtenweise Ersch ein u n gsform dieses R ädchens, wo
er au f die Arbeitsplätze verteilt, an die Arbeit nu r an-gestellt und in den
Betrieb nu r hineingestellt, da verliert e r in dieser doch frem den W e lt den
Halt. E r kann sie n u r so schnell wie m öglich zu verlassen trach ten . Ver­
kürzung der Arbeitszeit um jeden P reis wird das Ziel. Derselbe C hem iker,
der als Assistent eines P ro fesso rs die N ächte hindurch am Versuch arbeitet,
wird zwei Ja h re später im D ienst der I. G. F arb en um 1/2k seinen L a b o ra ­
torium splatz aufzuräum en anfangen, d a j ä t e n 4 U h r A rbeitsschluß ist.
D urch die En tw ertun g seiner Arbeitszeit wird aber auch d er R est sei­
ner Zeit entwertet: D er R est dieser Zeit wird bloße freie Zeit. Sonntag,
F esttag , Feierabend, die drei M ußeordnungen der vorkapitalistischen Zeit,
haben keinen Sinn fü r den, d e r Stundenlohn em pfängt, p ro Stück und
Stunde kann ich m ich nich t freu en und kann ich nich t feiern. N och w e­
niger kann ich m ich am Sonntag zusam m ensetzen m it Leuten, die m ich
während der W o ch e nichts angehen w ährend ih re r und m einer A rbeit,
während m ein M eister und m ein Ingenieur im entgegengesetzten Viertel
der S tad t w ohnen; wo die A rbeitsgem einschaft nich t zusam m en den Sonn­
tag feiert, ist die Sonn tagsfeier entheiligt. D enn dann heiligt sie den
W erk tag nich t m eh r! Und n u r das ist ih r Sinn.
Die Bolschewiki ziehen aus dieser L a g e die Konsequenz fü r ihren K a - p er proieta-
lender. E s gibt keine gem einsam en Sonntage m eh r. Die M enschen k rie- ” e a en er
gen jed er ein Q uantum freie Z eit eingeräum t, je d e r jeden fünften T ag,
also 6 m al 2 4 Stunden im M onat. In einer F am ilie h a t m öglich st je d e r an
einem anderen T age frei, d am it ja n ich t d er A berglauben der Gemein­
sch aft nisten kann. 4
D a steht nun der M ensch m it seiner und in seiner freien Zeit. Sie h at
zu d er Arbeit, die e r geleistet, keinerlei B eziehung und zu der Arbeit, die
er künftig leisten w ird, w ahrscheinlich auch keine. Alles ist infolgedessen
gleich wertvoll und w ertlos fü r ihn. E r ist endgültig um geben vom Alltag.
D ieser Mensch des A lltags ist d er P ro le ta rie r, wo im m er e r sich findet.
Er ist aus dem R h yth m u s des Erdlebens und der persönlichen Lebens­
arbeit hinausgew orfen. E r steht als A tom in d er Masse d er Atom e.
Die m enschliche M asse kann ihn binden. A ber auch dabei em pfängt e r
n u r ein künstliches Zeitgefühl. Masse M ensch kann W eltrevolution vor­
bereiten, W eltfeiertag des i . M ai b e g e h e n ; aber Masse M ensch weiß n ich t
m eh r, was gut o d er böse ist, K in o, W a n d e rn , Politik, V olkshochschule*
O rgan isationsarbeit? ? ?
30* ■467
Masse Mensch ist zerbröckelt, Masse Mensch ist dem Alltag verfallen.
Auch dem tritt die Arbeiterbewegung entgegen. Die F reizeit gestalten
zu lernen, ist das dringendste Anliegen des P ro letariats. Denn nur d o rt
kann eine R angord nung der W e rte wieder erlebt werden, die zwischen
w ichtigen und unwichtigen, zwischen Plun der und einsatzwerten G ütern
die Scheidewand errich tet. D er Steigerung des Arbeitslebens in die Z eit-
optim a jäh rlich er und m eh rjäh rig er Ep ochen gilt d er K am p f gegen den
A lltag, den w ir P ro le ta rie r heut alle führen m üssen. In diesem Zusam ­
m enhang gewinnt der jährlich e U rlaub besondere Bedeutung. D er Sonn­
ta g w ar g u t fü r den in Lebensaufgaben befangenen M enschen. D er zer­
bröckelte Arbeitsm ensch des Alltags m u ß m indestens das J a h r bew ußt
durchw andeln lernen. Und nach der W eise der M enschen gelingt das nur,
wenn der K alender d a fü r um gebildet w ird und wenn eine jäh rlich e F r e i­
zeit das A rbeitsjahr des einzelnen erleuchtet und ordnet. Aber dies sind
Ziele.
Zunächst kann die proletarische Revolution anreden n u r den M enschen
des Alltags, den M enschen, d er im K riege s a n g : G leicher L o h n und glei­
ches Essen, w är' d e r K rie g schon lang vergessen, d er nichts glaubt, was
ihm nich t im Alltag begegnet. Schim pfen, schreien, quasseln, klatschen,
räsonieren, fluchen, zoten, lachen, witzeln, ein Liedchen trällern , a u f-
begehren, g ierig Z eitung lesen, einen F ilm verw undert betrachten und
dösen — so sieht d er R au m d er freien Zeit aus, in den die A rbeitszeit
den P ro le ta rie r h in ein liefert1. Die Arbeitszeit h a t diesen M enschen sich
selbst entfrem det. D er liberale b ü rgerliche M ensch, d e r jeden T a g die
Musen und G razien zu G aste bei sich bittet, weil e r selbstbew ußt m it den
G öttern des P a rn a ß verkehrt, h at diesen A rbeitskräften seiner W e lt eben
das Selbstbewußtsein am p u tiert, das ihn zu den G öttern erhebt, das B e­
w ußtsein d er einzigartigen, unersetzlichen Persönlichkeit. G oethe sa n g :
Allah brau ch t n ich t m e h r zu sch affen, w ir ersch affen seine W e lt. W a s
bitte sagt dazu das G eschöpf, das in diese von dem Z eitalter G oethes au f­
gebaute W e lt hineinkom m t, das sie fix und fe rtig ausbetoniert und d u rch ­
elektrisiert vorfindet und w ährend ungew isser Arbeitsstunden d arin einen
Stücklohn verdienen d a r f ? D as G esch öp f w ird dieser vom M enschen des
H um anism us erschaffenen W e lt fluchen. D enn es ist verurteilt, in ih r zu
atm en, obgleich sie ih m frem d bleibt.
„W en n das P ro le ta ria t die A uflösung d e r bisherigen W e lto rd n u n g ver­
kündet, so sp rich t es n u r das Geheim nis seines eigenen D aseins aus, denn
es ist die faktisch e A uflösung dieser W e lto rd n u n g “ (M a r x ).

6 . D ie S p ra ch e des A lltags
Alle Revolutionen sprechen die gleiche S p rach e, die S p rach e d er R evolu­
tion. D eren Gesetz ist zu allen Zeiten ein und dasselb e: R evolution f o r -
1 Joyce schildert ihn im Ulysses.

468
dert heraus. Jede Revolution ist eine Provokation. Herausgefordert wird
der Mensch. Abgefordert wird den dumpf hinabdrückenden Stimmen der
Welt Gehorsam für die neue Wendung der Dinge. Hört, was an der Zeit
ist. W er Ohren hat zu hören, der höre. Wehe dem Staatsmann, der die
Zeichen der Zeit nicht versteht, rief angesichts der ersten Wehen der
russischen Revolution 19 17 der deutsche Kanzler.
Herausfordern kann nur das Unerhörte. Aufreizend wirkt nur das Un­
erwartete. Alle Revolutionssprachen haben das Gemeinsame, bis zu ihrer
Herausforderung unerhört gewesen zu sein. Diesem Gebot sind sie unter­
tan. Deshalb wechselt das Vokabular der Revolution, jede muß gleich ur­
sprünglich hervorbrechen, um die Menschen fortzureißen. Also muß das
Vokabular schröff brechen mit der bisherigen Terminologie. Mit einem
Ruck wird die überlieferte Sprache ersetzt durch eine ungewohnte. Jedes
unserer Kapitel hat deshalb ein neues Vorwort, eine andere Art, die Hand­
lungen abzuleiten, den Revolutionen selber entnommen.
Die Russen arbeiten mit den ökonomischen Bedingungen und Voraus­
setzungen. Nicht im Geist des Redners, sondern in den Zahlen der Dinge
gipfelt sich ihr politischer Willen. Auch diese Zahlen sind revolutionär.
Vor allem in der Form der Diagramme, der Schaubilder. Auch diese Zahlen
berauschen. Sie überschwemmen aber den Verstand, die flachere Schicht
unserer Gedanken. Nicht an das Herz wird appelliert. Das Herz bleibt bei
den Zahlen völlig unbeteiligt. Die unteren Organe werden interessiert,
„Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Die Ausschaltung
des Herzens ist vollkommen. Kopf und Bauch unterhalten sich. Deshalb
spricht diese Revolution solche massive Sprache, die auch die Materie be­
greift. Die Russen gehen in ihren Beweisen von den steinernen Herzen
und den toten Seelen aus. Die Logik dabei ist einleuchtend. Denn wenn
sie soga,r diese überzeugen, die Ungläubigen, die Gleichgültigen, die
Selbstsüchtigen, die Habgierigen, deren Gott der Bauch ist, dann haben
sie alle anderen auch gewonnen. Die Zahlen sind also an den Proleten
adressiert, der nichts hat und alles haben soll. Dieser Mensch ist durch
seine Lage mißtrauisch. Er hört aus allen schönen Reden nur das heraus,
daß man etwas von ihm will. Gut, also keine schönen Reden. „Das Pro­
letariat hat keine Ideale zu verwirklichen.“ „W ir wollen nichts. Die Dinge
reden ihre eigene Sprache. Bitte Sehr, rechne.“ Und nun beginnt das Laby­
rinth der Zahlen; es wächst und wächst um den Kopf, dehnt sich zum
Weltall. Die Jahresproduktion, die Ausfuhr, die Einfuhr, die Steigerung
der Produktion, die Kapitalisation, die Amortisation — - all das empfängt
seinen Sinn aus dem Ariadnefaden, der dies Zahlenlabyrinth durchzieht,
dem Willen zur Herrschaft des Kommunismus, des F ünfjahresplans, des
Nep (neue ökonomische Politik), der wissenschaftlichen Weltordnung. Die
Zahlen sind die Sprache der Forschung. Die Sprache der russischen Re­
volution ist die forschende. Erforschen muß ich aber die schwer zu er-

/169
keimende, die lichtabgewandte Seite des Lebens. Nicht das Erfreuliche,
das Schone, das Wahre und Gute steht in dieser Sprache obenan wie im
französischen Plädoyer, erforscht werden vielmehr gerade die Unerfreu-
lichkeiten der Gesellschaft, ihre Schattenseiten. Alle toten Dinge, die Pu­
denda der bisherigen Welt, Verbrechen, unehelichen Geburten, Morde,
Armut, Arbeitslosigkeit, Seuchen marschieren auf in Gestalt von Zahlen.
Die Dinge, die man sich bisher auszusprechen scheute, flüchten in die
Zahl. Zahlen erröten nicht. Wenn aber das Herz ausgeschaltet werden
soll, muß man sich das Rotwerden ersparen, und dazu eignet sich die
Zahl. Es ist das ganz gemeine alltägliche Leben der leiblichen Bedürf­
nisse, das in der Statistik seine Herausforderung in die W elt hinausrufen
kann. “Lebenshaltungsindex, bitte, den vor dem Kriege und den nach dem
Kriege, damit man sehen kann, ob ein Arbeiter heut mehr verdient als
1 9 1 4 oder weniger. (Der Index in Rußland für den gelernten Industrie­
arbeiter steht i 35 , bei dem Bauern 70— 80 gegen 100 im Jahr 1914.)
Wohnungsstatistik, um die Kubikmeter Wohnraum pro K opf festzu­
stellen.
W ir sind alle erfaßt von diesen Zahlenbeweisen; Oberbürgermeister
regieren so ihre Städte. Youngplan und Dawesplan beruhen auf der Sta­
tistik. W ir glauben tatsächlich, die Zahlen bewiesen. Dabei weiß jeder,
daß man mit Statistiken alles beweisen kann, genau wie mit Plädoyers,
Präzedenzfällen, Thesen, diplomatischen Relationen, Kanzleiformeln. Aber
das Vokabular der Zahlen ist heute dran. Die Massen, die auf nichts an­
deres hören, hören auf die Musik der Zahlensprache. Auf der Tastatur
der Sprachen wird heute diese Oktave gespielt; man möchte sagen gegen
das Falsett des Plädoyers kommt eine Oktave im Baß zur Geltung, zum
Ausgleich. Der K opf hat das Herz allmählich zu allem überredet, hat es
enttäuscht und vergewaltigt, daß die Sinne dem Herzen angesichts der
Dekadenz der Liebe nicht mehr trauen können... Der Patient, der hun­
gert, der skrofulöse Kinder hat, dessen Hände feiern müssen, pfeift
auf die Tiraden der bürgerlichen W elt von Harmonie, Völkerbund, Brü­
derlichkeit. Freilich die Zahlen sind genau so arme Wegweiser auf das Ge­
heimnis der Erlösung des Menschengeschlechts von seinem Leiden wie alle
Worte auch. Ein steinernes Herz wird auch hier über Leichen gehen und
die Zahlen Zahlen sein lassen. In Rußland sind mehr Menschen durch
die Revolution umgekommen als durch den Krieg, unter dessen Eindruck
sie ausbrach. Die neue Sachlichkeit ist ebenso grausam wie der Patriotis­
mus von 1789. So ist es noch jeder Revolution ergangen, daß ihre Ab­
wehrmittel grausamer waren als die Übel, von denen sie erlösen wollte.
„Man glaube doch nicht, daß Gott einer gewaltsamen Revolution die­
selben Früchte in den Schoß werfe als ehrlicher harter Arbeit von Ge­
schlecht zu Geschlecht/4 (Lagarde)
Das Vokabular jeder Revolution will vergessen machen, daß es auch
andere Wege des Geistes und andere Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Diese
Sprache soll die einzigwahre sein, losgelöst, abgelöst aus dem Reigen der
anderen Sprache. Aber dieser Absolutismus entspringt aus der Verzweif­
lung und das ist seine Rechtfertigung.
Was, so müssen wir mit den Russen sagen, in einer Welt ohne Gott,
ohne Teufel soll der Mensch sich aneignen dürfen, was Spekulation und
Idee und Vermögen ihm Zuströmen lassen? Er darf groß werden und zu­
nehmen bis zum Millionär, nur weil er seine Fallen und Schlingen so ge­
schickt aufstellt, daß ihm die menschlichen Hasen, Rehe, ja selbst die
Füchse in Eisen oder Garn gehen? Diese Jagd nach dem Glück, die der
Bourgeois dem Individuum freigibt, ist ein Freibrief auf menschliches
Wild. Die menschliche Gesellschaft wird damit zum Jagdrevier gemacht.
Da wollen wir doch den freien Einzelnen, Kapitalisten, Unternehmer, In­
teressenten auch für ein jagdbares W ild erklären. Dann sind wir eben alle
Bestien des Waldes. Der Kampf ums Dasein aller gegen alle ist dann er­
klärt. Niemand nimmt niemandem seine Tierheit übel. Aber bitte herunter
mit dem Feigenblatt und mit dem Palmenzweige, soweit ihr euch etwas
Besseres dünkt als Tiere im Jagdrevier der Gesellschaft zu sein. Und so
setzen wir den Teufel endlich in das rechte Licht, als den Motor aller*
menschlichen Handlungen. Die Triebhandlung ist der neue Begriff, der hier Die Triebhand­
eintritt, um die ideale Oberschicht von unseren Taten abzukratzen. Tatenlung
der Menschen? Aus freiem Willen, idealen Motiven entsprungen? Es gibt
nur Triebe. W ir machen den Bauch nicht etwa zu unserem Gott. Nein,
wir machen ihn zu unserem Teufel. W ir erkennen nämlich, daß wir alle
des Teufels sind.
Aber was wird damit erreicht? Das Leben wird wieder vollständig. Es
wird um eine Provinz bereichert, die der Idealismus der bürgerlichen Ge­
sellschaft, „absolut“ wie er sich gab, unterschlagen hatte, die Provinz des
Bösen. Die Franzosen haben ja nur bon und wieder bon, um die mensch- Gut und Böse
liehe Welt zu beschreiben. Bon citoyen, bonhomme, der Mensch ist gut;
in der Rolle des bonheur im Räsonnement des 1 9 Jahrhunderts — das
größte Glück der größten Zahl ist die schrecklichste Formulierung — die
Rolle der ethischen Güte, Gutartigkeit (bonté, bienfaisance), wurden in
dieser moralischen W elt zu Trägern aller Rollen. Ein solcher Citoyen (Al­
bert Mathiez, 1927) empfiehlt z. B. die Lektüre Robespierres in den
Schulen mit dem vierfachen: „Une Ecole qui doit former des hommes de
bien, capables de bien penser, de bien parier et de bien agir.“ Ist das der
ganze Mensch, dieser viermal Gute? Man hat 1789 die Überlieferung ab­
gesetzt, hat die Vernunft des Menschen auf den Weltenthron erhoben,
man hatte Gott als menschliche „Idee“ übriggelassen. Aber im Umkreis
unserer Vernunft taucht Gott nicht auf, sondern er ist nur die Antwort,
die dem Menschen die Teufel abpressen. Dazu muß uns erst einmal d ef
Teufel bedrängen. W ird der Teufel eine komische Figur — wie in allen
literarischen Schöpfungen, die mit dem Deismus von 1789 vor- oder
nachher zusammengehören — , dann wird Gott bald ein dummes, abge­
schmacktes Ereignis. Schon die Einzahl des Teufels ist eine törichte Nach­
ahmung des Monotheismus. Der gefallenen Engel sind viele. Aber die
Ideen von 1789 kennen nur Luzifer, den Teufel des Geistes, verkleidet
als Träger der Glarté und des Lichtes!
Und dadurch ist die Wiedergeburt des Bösen die Voraussetzung für die
Rettung des ganzen vollständigen Menschen auf Erden geworden. Der
irdische Mensch ist das Anliegen des russischen Materialismus.
Das Vokabular, das er scheinbar nur antithetisch und dialektisch gegen
die Vergötterung des Menschen 1 7 8 9 aufstellt, das Stammeln und Fau­
chen und Zischen der bloß zählbaren Masse, der Erniedrigten, teuflischen,
^ierbesessenen Knechte der Materie — es führt zurück über den Mittag
den Revolutionen, die Humanität von 1 7 8 9 , zurück in die ganze W elt
Ju d as isch an o t und in den ganzen Menschen. Die Russen haben dem Judas Ischariot in
Perm ein Denkmal gesetzt. Sie entdecken die Erlebniszonen der Revolu­
tionen Europas, an denen sie nicht teilgenommen haben, von diesem Zip­
fel her. Den Russen ist Europa nur entgegengetreten in Form des
18. Jahrhunderts und des 1 9 . Jahrhunderts, also im wesentlichen als Auf­
klärung, als Kapitalismus, als Nationalismus und als bürgerliche Gesell­
schaft.
Diese vier Gaben Europas haben Rußland nicht organisieren können.
Sie haben es begehrlich gemacht, an der Arbeitsteilung der Menschheit
teilzunehmen, aber die vier Gaben aus dem Westen blieben unverwendbar:
Die Aufklärung war hier nicht die Selbstreinigung eines Adels und einer
Geistlichkeit und wurde daher Nihilismus. Der Kapitalismus war hier
nicht Leistung der Bürger für das Land, sondern freche Ausbeutung, mit
Hungersnöten und Desorganisation, der Nationalismus bedeutete hier den
gröbsten Versuch, siebzig Millionen „Fremdvölker“ zu russifizieren, die
bürgerliche Gesellschaft ergab den Sumpf von Petersburg.
W ie sollte es nun hineinwachsen und zurückwachsen in das von diesem
Westen früher zurückgelegte Stück des Lebens? Leben kann nie rückwärts
gelebt werden. Die Biologen nennen das Leben irreversibel. Aber in den
Rhythmus des zweiten christlichen Welttags von Cluny bis Joyce schlin­
gen sich die Russen hinein, als die, die mit Jesus in die Hölle gehen, in
nichts als die Hölle. In die Hölle der Sachlichkeit, der eigenen Laster, der
toten Seelen, der tausend Einzelheiten des sinnlosen Alltags. Der Fluch
des Alltags wird von den Bolschewiki so inbrünstig gebetet, wie das Ave
Maria von dem Franziskanermönch.
Zioaswächter Es muß wohl jede Stunde unseres Erdentages ihre inbrünstigen Beter
des Alltags jy^re Zionswächter, die eben diese Strophe zu singen haben und

keine andere. Die Bolschewiki sind zu den Betern des Alltags bestellt, das
Gemeine, das ganz Gemeine hat in ihnen den Anwalt gefunden. Und gegen

472
das Gericht, vor dem sie plädieren, nehmen wir für den Anwalt und seine
Klientin, die Materie, Partei. Und wenn es nur Moral einerseits und an­
dererseits Fressen gäbe, so schlügen wir uns auf die Seite des Fressens.
Der Satz: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ , ist einfach
richtig vor einem Gerichtshof, der moralisch ist, der bürgerlich ist, der
philosophiert.
Aus der Stickluft einer bloß moralischen W elt flüchten die Russen in
den Urwald im Menschen, in seine Nöte. In einem „Alltags“ roman von
1922, der geistig die russischen Vorgänge trefflich erläutern kann, in dem
„Ulysses“ des Iren Joyce wimmelt es von Geruchs-, Scheiß- und Piß-
beschreibungen. In Rußland legt man W ert darauf, daß gemeinsam ge­
schissen wird. Die Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit der Abtritte wird mit
besonderem Nachdruck in der Ordnung befunden. On y tient. Das paßt
in die Materie, die noch moralfrei ist, dem Teufel sei Dank.
Aber diese Flucht in den Urwald führt ja unwiderstehlich weiter. Der
Alltag, der den Menschen als Tier nimmt, die Ideen, die ihn zum Gott
machen — ihr Widerspruch muß nur in ihrer ganzen Schärfe aufbrechen,
um den ganzen Menschen wieder zu erwecken, der für falsche Ideale
leiblich gekreuzigt werden muß und der an falschen Begierden seelisch zu­
grunde geht, der aber wiedergeboren werden soll als Herr der Erde, als
Kind der Welt.

7. Das Vokabular d er R evolutionen


Die Russen reden so unbefangen und herausfordernd in Zahlen, als sei
dies der einzig mögliche Ausdruck für die wirkliche Welt. Aber so ur­
sprünglich diese Erzählung der Alltäglichkeiten ist — so wenig ist sie doch
noch entwickelt. Beim Ausbruch der Revolution ist die neue Sprache
nur bruchstückweise da und hat noch keine volle Autorität. Und so beginnt
jede Revolution mit dem geistigen Handwerkszeug} das die vorige hinter­
lassen hat und borgt sich damit die formale Autorität, bis ihr eigener Stil
tragfähig ist.
Mit den Bulletins im Stile Napoleons beginnt die russische Revolution.
Ihre Funksprüche an alle sind Feldzugsberichte. (Die Fascisten ahmen
übrigens diesen Stil mit ihren Battaglia della lira, battaglia del grano
usw. nach.) Genau so hatte der Abbé Sieyès noch im Stil des Traktats, des
Traité die französische Revolution durch die geistige Technik der eng­
lischen speisen wollen. Der Traktat (Traktätchenliteratur!) seinerseits ist
ein englischer Begriff. Hier war der State Tract, der politische Traktat
aus dem religiösen Traktatenwust der Bürgerkriege — dessen Sammlung
die große Kostbarkeit des British .Museums ist — herausgeschlagen
worden.
Die biblischen Traktate stammen ihrerseits wieder aus der Reforma­
tion und ihren Sendschreiben. Luther hingegen ist im Bann der letzten
Früchte des Weltalters der vatikanischen Revolution, wenn er seine
95 Thesen an die Schloßkirche in Wittenberg schlägt. So hatte man in
Paris disputiert in den großen Zeiten der Scholastik.
Auch die Päpste der Hohenstaufenzeit müssen die verrostete Rüstung
ihres Vorgängers Gregor VII. anlegen, um sich zunächst verständlich zu
machen. Ohne daß die neue Sprache der leisen Diplomatie wirksam wird,
bemüht man die Kreuzzugsbullen einer abgelaufenen Epoche. Fried­
richs II. Kreuzzug, vom Papst erzwungen, und so ganz anders als der
Papst gemeint hat, endend, dämpft (S. 100) diesen Ton ab. Der Abbe Sieyes
hat mitsamt seiner Tiers-etat-Ideologie 1789 verspielt. Dort Kreuzzüge,
hier politische Traktate verfangen nicht mehr. Dort zur Stauferzeit tritt
die diplomatische Korrespondenz und das diplomatische Gespräch auf
(für die wir besonders in dem Briefkodex des Albert Behaim ein wichtiges
Beispiel haben), hier in den Jahren des Konvents aber die Bulletins und
Aufrufe, die Proklamationen über den Fortgang der Revolution, die „D e­
peschen“ , Kriegstelegramme, Neuheiten, kurz, das was wir den Nach­
richtendienst der Presse nennen können. Der Stil wechselt:

Revolutionär: Übernommene Form: Eigene Form:


Vatikan Kreuzzugsbullen Diplomatie
Bannbullen Disputation
Protestanten Thesen (95 Thesen) Bibelübersetzung und
Religionsgespräche Schriftauslegung
(Marburg, Leipzig) (Katechismus) Predigt
Gemeine Katechese („zu deinen Religiöses Traktat,
Zelten, 0 Israel“ ) politischer Trakt,
Treatise on government
Essay Debatte
Bürger Traktat (Sieyes, Bulletin
Mirabeau, Essai) Diskussion
Bolschewiki Bulletin („An alle“ ) Die technische Formel
Sprechchor
Rein für sich ergeben sich diese Stilarten:
Allerseelen liturgische Praefation Klostersprache
Das heilige Grab Der neue „Kursus“ (seit 1070) der
Päpstlichen Kurie
Der Vatikan Diplomaten- und nationale Sprache
(Fioretti des Franziskus)
Die Religionsparteien Thesen, „die“ Schrift. Systematik
Die Gemeinen Herkommen, Präzedenzfälle# Genea­
logische Aufzählung
Die Franzosen Plädoyer, Verschmelzung von Schau­
spiel und Gerichtsrede als Räson­
nement
Die Russen Das Diagramm
Die Formel, der Plan.

Man erkennt aus diesen beiden Tafeln sehr gut den Unterschied von
echten und unechten Revolutionen daran, ob sie genau so vorgehen wie die
vorhergehende, oder ob sie nur das letzte Glied der vorigen ergreifen und
dann gezwungen sind, unter ihm her schleunig eigenes ursprüngliches
Geistesgut einzuschließen, weil die alte Form nichts mehr besagt.
Die Revolution von i 848 hat es nur zur Nachahmung der französischen
gebracht. Sie kommt von politischen Theorien her und bringt es wie die
Konstituante an ihrem Lebensende zu einer Konstitution, zu der Verfas­
sung. Dann jagen sie die Bajonette auseinander. Genau so bleibt die Ke­
renskij revolution in Rußland in Verfassungspiänen stecken. Sie ist eben
eine sozial nur übertünchte nationale und demokratische Bürgerrevolu­
tion, mit Patriotismus als Untergrund; als ob die Lage sei wie die der
Convention nationale, glaubt Kerenskij sich zum Kriege verpflichtet.
Die Sowjets leben in der neuen Weltstunde. Sie beginnen mit Napoleon
und Deklarationen und Proklamationen sowie mit den Funksprüchen an
alle, die Napoleons Bulletins entsprechen. Sie versuchen es ferner mit einer
Erinnerung an die Menschenrechte in der sogenannten „Deklaration der
Soldatenrechte“ . Sie führt nur zur Zerstörung der Armee, hat aber keine
organisierende Wirkung. Auf diese aber, nicht auf die Freiheit des ein­
zelnen, sondern auf eine Ordnung kommt es an. Endlich finden die Bol-
schewiki dafür ihre eigene Sprache, weil sie Frieden schließen statt Krieg
zu führen. Sie müssen allen blutdrucksteigernden Patriotismus abblasen.
Also wird ihre neue Sprache die reine technische Anweisung. Schon ihre
Machtergreifung hat sich technisch vollzogen. Charakteristisch für die
Revolution vom 7. November 1 9 17 ist „die Leere des Schlachtfeldes“ . Die Leere des
Schlachtfelds
Man sieht niemanden. Trotzkij ist in irgendeinem Zimmer, an irgend­
einem Telephon. Lenins Grab im Kreml, Napoleons Grab vergleichbar,
und die ganze Bemühung des Kremls in Moskau ist für die russische
Revolution sekundär. Die Leere des Schlachtfeldes würde die Preisgabe
dieser Anknüpfung an alte vorpetersburger Zeiten erlauben. Der Kreml
ist nur wichtig, soweit damit ausgedrückt wird, daß Petersburg, das Fen­
ster nach dem bürgerlichen Europa, vernichtet, daß es zu Leningrad ge­
worden ist. Die Trockenlegung der bürgerlichen Fäulnis muß die Regie­
rung noch symbolisieren, dazu ist sie. in dem unbefleckten Moskau und in
dem unbourgeoisen Kreml. Das ist also der negative Beweis. Aber die
Leere des Schlachtfeldes der modernen Revolution ist das Positive. Der
Telephonanruf ist wichtiger als jede theatralische Geste. Gewiß, man hat

475
noch die Rätekongresse mit 1000 oder i 5 oo Delegierten. Aber sie sind
mehr sprechchorartig als dramatisch gestaltet. Dort, wo sich sichtbare
Massenschauspiele nicht ganz entbehren lassen, sind sie sofort technisch
gemeistert zu chorischen, rein massiven Wirkungen. Nicht Theater, sondern
Propaganda; nicht Deklamation, Begeisterung, Plädoyers will man hören,
sondern die wissenschaftliche Formel will man finden, aus der sich 1000
nie technische Einzelarbeitsanweisungen ableiten lassen. Die technische Formel ist der
F°rmei g te|n ^er w ejsen der russischen Revolution. Sie steigert nicht den Blut­
druck wie die patriotisch volltönenden Phrasen, die sie haßt. Dem zum
Tode Verurteilten setzt im Gefängnisgang der Scharfrichter von hinten
den Revolver hinter das Ohr. In dem Augenblick, wo der Verurteilte den
Henker sieht, ist es schon vorbei.
Das macht das Blut in den Adern erstarren. Diese bewußte Unterküh­
lung der Temperatur ist die neue russische Sprache. Sie phantasiert genau
so, diese Kälte, wie die Hitze des Pathos. Dem Pathos des auf Eis gelegten
Sprachminimums steht das Opfer vielleicht noch machtloser gegenüber
als der Phrase. Die technische Formel erhärtet dem von ihr Ergriffe­
nen, daß er einer vollkommen sachlichen Maschine gegenübersteht, daß
Tränen, Lachen und Schluchzen, Beschwörungen und Beteuerungen hier
von niemandem vernommen werden. Die Leere des Schlachtfeldes be­
deutet, daß einfach niemand im Zimmer ist, um deine törichten Klagen,
anzuhören, dein Altweibergeschrei, deinen Tratsch. Hier ist die Anwei­
sung, hier ist ein Telephon, hier sind die Telegraphendrähte, die über
Rußland ziehen. Das Äußerste ist eine persönliche Entsendung per Auto­
mobil an Ort und Stelle. Sie ist eine Durchbrechung der Leere des
Schlachtfeldes. Sie kann nur im Notfall zugelassen werden; wenn der
Apparat sonst zu stocken droht, wird Krylenko nach Sibirien geschickt
oder Dzerschinskij in die Krim. Aber die Ordnung ist für gewöhnlich
Fernverbindung zu einer maschinellen Ordnung.
Der chok der Die Opfer dieser FernVerbindungen können nicht mit ihrem Henker
scherzen, wie mit dem blutigen Samson die Opfer der Guillotine, allwo
Danton seinen Kopf der guten Behandlung empfiehlt: „II vaut la peine.“
Diese Opfer können nur hysterisch schreien oder verstummen. Auch hier
entspricht die Regierungsform dem stärksten Eindruck, den das Prole­
tariat empfangen hat, dem Chok, den Technik und W irtschaft auf die
Arbeiter hervorbringen. Dieser Chok ist ein Sprachchok. Der Proletarier
kann von niemandem erhört werden. Alle Leute in seiner Nähe haben
nichts zu sagen, was ihm frommt. Die eigentlichen Hebelsteller dieses
technischen Produktionsprozesses sitzen in unerreichbarer Ferne. Der
pöbelhafte, maßlose Sauherdenton der Marxisten, ihre unmenschliche
Sprache, sobald auf den Kapitalismus die Rede kommt, ist angemessen
der Situation in der Fabrik. f
Der Marxist läßt nicht mit sich reden. Weshalb sollte er? Diese W elt

/176
der Technik und der Wirtschaft läßt ja auch nicht mit sich reden. Sie
stampft, rattert, prasselt oder liegt plötzlich unbeweglich still — ohne das
der Arbeiter in der Leere des Schlachtfeldes die Ursache zu erkennen ver­
mag. Von fernher kommt das Schicksal des Fabrikarbeiters. Nur in der
Ferne kann er seine Erlösung suchen. Von der Fernverbindung kann er
eher Hilfe für seine Nöte erwarten als von dieser unbegreiflichen Nähe
seines Arbeitsplatzes. Dieser Arbeitsplatz wird ihm doch von tausend Ein­
flüssen der Weltwirtschaft, der Erfinderschrullen, der Gesetzgebung zu­
rechtgehobelt und zugewiesen. Es ist wie wenn dieser Arbeitsplatz eine
Schuppe auf dem Schuppenpanzer eines Drachen wäre. Dieses Ungeheuer
streckt und hebt sich zum wütenden Kampf. Bald hier bald dort löst sich
eine Schuppe oder ein ganzes Tausend. Neue Schuppen treten an ihre
Stellen. Immer schneller, immer heftiger keucht der Drache, immer
schwerer wird das Ringen mit der Natur, immer unsicherer der einzelne
Arbeitsplatz.
Was folgert das Proletariat? Der Lindwurm im ganzen muß be­
herrscht, gelenkt, organisiert werden. Über sein blindes Wüten muß eine
geistige Überlegenheit Herr werden. Die technisch-formelhafte Beherr­
schung des Drachen Kapitalismus wird aller Not ein Ende machen. Nicht
an Ort und Stelle, sondern in der Ferne winkt das Glück. Nur die ganze
W elt und die ganze W elt auf einmal kann von dieser Wirtschaftsord­
nung erlöst werden, kein Volk, kein Land aus eigener Kraft. Deshalb kann
der Alltag nur als Werktag des Proletariats gebildet werden. Der i. Mai
ist der Weltfrühlingstag, an dem nach dem Hexensabbath der bürger­
lichen Walpurgisnacht die Arbeiterschaft der W elt die Heraufkunft des
Weltfriedens und der klassenlosen Gesellschaft begrüßt. „Proletarier aller
Länder vereinigt euch; ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten.“
Der i. Mai liegt hinter dem großen Kladderadatsch, hinter dem Unter­ Der erste Mai
gang des Abendlandes, hinter dem letzten bürgerlichen Individuum, das da
einzeln am fin de siècle dekadent blinzelt: Was ist Liebe? W as ist Glück?
Was ist Stern? Sprengler, Clémenceau, Nietzsche, die uns. in der „Deka­
denz der Liebe“ als die Eschatologen der Bürgerwelt begegnet sind, Joyce
mit seiner Odyssee des Menschenpaares, das sich im Alltag nicht mehr zu
behaupten vermag, — sie sind wie der nächtliche Spuk vor dem i. Mai.
An ihnen vorbei in unbeirrbarem Takt dringt der Stampfschritt der Mas­
sen herauf durch die Nacht. „Volk in der Nacht, bleib auf der W acht!“
endet ein Lieblingslied der deutschen Proletarier. Die Masse der W erk­
tätigen ist Amboß. Indem auf sie geschlagen wird, erdröhnt das All, wie
wenn auf Stein oder Erde gehackt oder gestoßen wird. Sie sind nicht
Schmiede ihres Glücks, sondern sie werden geschmiedet wie das Eisen.
Und so übernimmt die Masse im Reigen der seufzenden, fluchenden, Das Seufzen d<
Kreatur
knarrenden, quietschenden, brausenden, heulenden Kreatur wieder — wie
jedesmal der Mensch — die Rolle des Erstlings. Der zerschundene Esel,

4 77
der zertretene Tritt, das beschlagene Metall —• das ist es, worauf der
Mensch an der Maschine angeredet sein will. Er will nichts Besseres sein
als die Maschine: Ein schwingendes Quantum der Elemente.
Im „Westen“ eilt man mit Erfolg, den Arbeiter zum Herrn der Ma­
schine zu machen. Damit wird er Mensch des 19. Jahrhunderts, eine In­
dividualität, welche die Natur an ihrem Ort beherrscht — Ideologisch fin­
det sich diese Anschauung auch bei den Russen.
Aber der Elan zur Durchführung des Fünfjahresplans kommt aus ande­
ren Tiefen, eben aus der noch unter der Sinnlichkeit der fünf Sinne
schwingenden Kraft von Gebein und Knochen, des Hungers von Fleisch
und Blut. Die Sinne sind noch mir eigen. Aber die Materie ist ein Quan­
tum. Die Entdeckung des Quantitativen am Menschen als seiner politi­
schen Qualität führt zu der neuen politischen Sprache Rußlands. Sie
schafft in den Diagrammen eine internationale Sprache, die herunter­
greift unter die nationalistisch oder klassenmäßig eingeborenen Sprachen
der Gebildeten. Sie greift herunter unter sie. Alle bisherigen Revolutionen
bedurften einer übergreifenden Sprache: Die Liturgie, das Latein, die
Künste, die Bibel, die Philosophie, sie begreift der Mensch nur, indem er
sich erhebt über sich selbst.
Die Zahlen begreift der Mensch, wenn er sich erniedrigt, wenn er sich
selbst als Nummer in Reih und Glied hinnimmt, wenn er Masse wird.
Das internationale Proletariat kann nicht Latein lernen, auch nicht Espe­
ranto. Der wirksame Stromkreis der Sprache des Weltwerktätigen ist die
Zahlensprache. Sie ist die Weltsprache der neuen Zeit.

8. D ie neue Zeit
Der fernste Horizont der bürgerlichen Gesellschaft, ihr fin de siècle,
liegt also im Rücken derer, mit denen die neue Zeit geht. W ie bei der
Polonaise das einzelne Tänzerpaar zuerst den Bogen durchschreiten muß,
den die Arme seiner Vorgänger aufrichten, und dann selbst die Arme zum
Bogen erhebend wie angewurzelt fest steht, so geht es jeder Revolution.
Was ihre Vorgängerin im Zeitbogen, den sie sich als Horizont und W elt­
anschauung errichtet, am fernsten Gebirgssaum schaudernd erwartet, der
letzte Schritt, den sie tagtäglich hinausschiebt — den nimmt die folgende
Revolution vorweg. Der Eintritt des jüngsten Tages der einen Revolution
ist die Voraussetzung für den Ausbruch einer nächsten. Nun schieben wir
Menschen denselben jüngsten Tag, den wir in unserem Weltbild aner­
kennen, also unsere Eschatologie, ans Ende der Welt, sonst wäre es ja
nicht der jüngste Tag der W elt oder dessen, was wir für die W elt halten.
Beim Eintritt der neuen Revolution 1 9 17 schreibt also Spengler über den
Untergang des Abendlandes im Jahre 2200! Währenddessen marschiert
die Weltrevolution.
Der Fortschrittsglaube der bürgerlichen W elt hat uns fast vergessen

478
gemacht, daß auch sie ihre Eschatologie hat. Der Glaube an die Dekadenz,
an den W eg von der Humanität zur Bestialität ist eine richtige Eschato­
logie. Die Russen haben diese Eschatologie im Rücken, wenn sie ihren
Bund von i 55 Völkern errichten. Wohlgemerkt i 55 zählen die Russen
übertreibend. Es können gar nicht genug sein, weil ja von der Welt im
Ganzen und ihrer Fernverbindung her der Sinn der russischen Teilrevolu­
tion entspringt. Die Russen haben zwei wichtige Feiertage in ihrem Ka­
lender, den i. Mai und den 7. November. Am 7. November begann mit der
Bolschewistenherrschaft in Rußland die Revolution, deren letzten Sieg
der 1. Mai vorweg feiert! Nichts von Nationen, nichts von Humanität.
Die bestialischen Orgien des Kapitalismus hat man im Rücken. „Mit uns
zieht die neue Zeit“ , weil wir keine Individuen, keine Persönlichkeiten
sind. „W ir sind stramm organisiert“ , ist eine beliebte Wendung des Pro­
letariats.
Halten wir einen Augenblick inne. Denn es ist wichtig für unser theo­
logisch unwissendes Geschlecht, zu erforschen, ob jede Revolution so
gründlich die Eschatologie der vorhergebundenen hinter sich läßt und als
geschehen bejaht. Dies ist in der Tat in verblüffender Weise der Fall.
Das Kommen des Antichrist ist seit dem Propheten Joachim von Fiore
das Ende der Papstherrschaft. Seit 1200 umhängt den Vatikan der Ho­
rizont dieser Verheißung. Also kann das Papsttum nur gestürzt werden,
wenn der Antichrist erschienen ist. Die dreihundert Jahre der unbestrit­
tenen Papstherrschaft malen also den Antichristen als Schrecken der
Zukunft an die Wand. Sie beschwören damit alle revolutionären Nei­
gungen.
Luther tritt auf und ruft: Da ist der Antichrist, Rom ist die große
Hure, das alte Papsttum ist der Antichrist. Und damit hat er den Zeit­
bogen der vatikanischen Revolution siegreich durchschritten. Der Zauber
der Verzauberung durch die Erwartung des Antichristen ist abgeschüttelt.
Das protestantische Menschenpaar schreitet in seine W elt hinaus. Aber
wieder begrenzt sich sein Blickfeld, sein zeitlicher Acker* ist ebenfalls
nicht grenzenlos. Am Ende hofft der Protestant auf das Reich Gottes.
Aber da die W elt nie besser wird, immer vom Teufel bleibt, so kommt
das Reich Gottes praktisch nie. Keine äußeren Zeichen machen es ja sicht­
bar. Das Reich Gottes ist die Eschatologie der Lutherischen.
Mit diesem Kingdom of God beginnt daher die Puritanerrevolution.
Hier ist das neue Israel, erklingt das Glaubenslied der Rundköpfe. Und
dieses Erlebnis des Hier und Heute hat die Engländer nie wieder ver­
lassen. Das Kingdom of God ist für den Engländer nichts, was hinter
seinem W elttag läge und seinen W elttag begrenzte. Sondern er arbeitet
im Kingdom of God. Er sieht, schmeckt, fühlt es. Er gibt seinen Kin­
dern all die Namen, die in diesem Königreich die Frommen tragen möch­
ten. Das praktische Christentum der Angelsachsen, das sich so sehr von

479
dem deutschen Quietismus unterscheidet, hat in dieser Vorwegnahme des
Reiches Gottes seine Kraftquelle.
Hat nun dieser praktische Optimismus der Gemeinde Gottes, des neuen
Jerusalem auch seinen Jüngsten Tag? Die schönste Stelle in Miltons Pa-
radise Lost, die heut noch wirksame, ist die Schilderung Luzifers, des ge­
fallenen Engels. Hier erschrickt die Gemeinde Gottes. Denn alle Selbst­
beobachtung ist ihr verhaßt. Seif respect, seif eontroll ja, aber no in-
trospection, no problems I Candour ist ein beliebtes englisches Wort, das
die Freiheit von Selbstüberhebung ausdrücken mag, die mit der schärf­
sten nationalen Selbstsicherheit sich paart. Der einzelne Engländer ist
zart, scheu und schüchtern; die englische Rasse ist die hochmütigste
der Welt. Denn das Kingdom of God ist da, aber Luzifer kann es ver­
nichten. Der Engelsturz ist das Geheimnis der letzten Dinge in England.
Und diesen Engelsturz bejaht die französische Revolution. Selbstbe­
wußtsein, die Sünde der gefallenen Engel, ist das große Wort, das die
Aufklärung auf die Fahne schreibt. Der Geist des Herrn weicht von der
Gemeinde der Kinder Gottes und wird zum Esprit der einzelnen Indi­
vidualität. Aus „Godliness“ wird in Frankreich Godlikeness!
Die Engländer singen, das neue Jerusalem werde unsterblich sein, bis
die Engel der Finsternis es vernichten. Der Engelsturz ist eingetreten.
Die Menschen sind allein. Dann wird die Erde ein Himmelreich und
Sterbliche den Göttern gleich. Der Mensch als Gott — dies ist der letzte
Schrecken des Engländers, es ist das Axiom der Ideen von 1789, die
Voraussetzung, auf der sie aufbauen. Das Dichterpaar Byron und Shelley
leben den Engländern diesen neuen französischen W elttag vor, jenes der
Libertin der Liebe, dieser der Libertin des Selbstmordes. Aber keinen
Engländer verließ das Entsetzen vor diesem luziferischen Beginnen der
beiden „Genies“ . Hat doch die englische Gemeinde das W ort geniality
zu Fröhlichkeit verharmlost; so wenig hatte bis zur französischen Re­
volution das Genie im Kingdom of God Platz.
Und so ist es nicht wunderbar, wenn auch zwischen Vatikan und Weihe­
kaiser ein ähnlicher Durchgang durch die Ekliptik besteht. Guelfen und
GhibeJlinen haben eine verschiedene Eschatologie. Das Weltgericht des
Dies Irae ist der ghibellinische Grenzstein der W elt. So ist es noch bei dem
letzten Ghibellinen Dante. Hingegen hat der Vatikan das Weltrichteramt
selbst an sich genommen. Der guelfisch-päpstliche W elttag wird nicht
mehr durch das Weltgericht begrenzt, sondern — wir sahen es schon —
durch das Kommen des Antichrist. Über das Kreuzzugsalter wird uns erst
die russische Haltung Aufschluß geben.

Ghibellinen und der Kaiser haben als Eschatologie das Weltgericht


Die Kreuzzüge - „ „ „ den Endsieg (S. 482)
Vatikan und Guelfen „ „ „ den Antichrist

4So
Luther und die Protestanten haben als Eschatologie das Reich Gottes
Cromwell und die Puritaner „ „ „ den Sturz Luzifers
Die Franzosen „ „ „ das Erlöschen des
homo sapiens: Die
„niederen“ biologi­
schen Arten. S. 389.

Dahinter erhebt sich die Gesellschaft, die der Erfüllung des 1. Mai ent­
gegenharrt. Der Katalog dieser letzten Dinge verläuft in dialektischer
Reihenfolge. Er beginnt mit der fernsten Zukunftsvorstellung: dem W elt­
gericht. Aber schon 2. der Antichrist geht dem Weitende voraus. Und die
Tafel endet mit der Vision des Tages, an dem, mit Clemenceau zu reden,
die vegetative Natur den höheren Menschen herunterschluckt und über­
wuchert, so als sei er nie gewesen. Der sechste Schöpfungstag wird aus­
radiert. Luzifer verleugnet am Ende seines Herrschaftstages das Dasein
der selbstbewußten, höheren Menschheit überhaupt. Es bleiben nur noch
die an den ersten fünf Tagen geschaffenen Reiche der Natur übrig. Im
Jahre 1980 erschien ein ernsthafter Aufsatz: „Exit homo sapiens“ . Der
Mensch als Erdenart sterbe aus; ein anderer h ieß : „Die Situation Mensch“ .
Die Engländer haben mit Luzifers Fall eine gleichfalls eigentümlich
vordatierte, nämlich zeitlich dem sechsten Schöpfungstag naheliegende
Eschatologie. Ebenso die Protestanten, deren Reich Gottes etwa gleich­
weit vom Weitende wie von der Schöpfung Adams entfernt vorgestellt
wird und in dem „Unerreichlichen“ des deutschen Idealismus fortwirkt.
Unter einer dieser Eschatologien leidet jeder Mensch im heutigen Euro- Der
pa, der nicht Kommunist ist. Der Glauben an den Tod gehört zum Leben
und ist dessen Voraussetzung. Nur kraft des Horizonts der letzten Dinge
können wir Menschen unsere Aufgabe auf Erden vollenden. Auch der
Kommunist hat seine Eschatologie. Das Mittel zur Begrenzung seines Le­
benstages liegt darin, daß er sich ein Jenseits seiner Revolution verbietet.
Alle älteren Revolutionäre wollten ja nicht wahr haben, daß, Revolutionen
sein müssen und wieder Vorkommen dürfen. Die Russen haben die Revo­
lution in Permanenz erklärt. Der Weltprozeß bleibt eingespannt zwischen
dem 7. November und dem 1. Mai. Solange die Endhoffnung des 1. Mai
noch nicht erfüllt ist, so lange gibt es noch Leben. Die klassenlose Ge­
sellschaft darf nie da sein. Denn das Lehen auf der Erde braucht eine
Aufgabe, um sich zu erleben; nur das Leiden an der Unerfüllbarkeit der ll
Aufgabe steigert unser Leben zum Selhstbewußtsein. Geistiges Leben exi- jl
stiert nur da, wo Leiden sind. Nur weil der Mensch den Tod fürchtet, phi­
losophiert er; nur weil jede von den europäischen Völkern erkämpfte Ord­
nung um ihren Jüngsten Tag zittert; kann sie am Leben bleiben. Denn
alle Ordnung lebt von den Opfern, die wir für sie bringen. Nur wo wir
fürchten, bringen wir Opfer. In der klassenlosen Gesellschaft hat nie-
31 Rosenstock 48i
mand etwas zu fürchten. Also kann es in ihr kein geistiges Leben geben.
Opfer werden daher nur gefordert, solange bis sie da ist. Und so hängt
der W ert des Lebens für alle aus der russischen Revolution geborenen
Geister daran, daß die klassenlose Gesellschaft ihr Jüngster Tag bleibt,
den sie bestimmt nicht erleben. Marxisten zeigen eine geradezu auffallende
Erregung, wenn irgendein Vorgang im Sinne des Heraufziehens der klas­
senlosen Gesellschaft gedeutet wird; sie brauchen ihr Jenseits so gut wie
jeder handelnde und kämpfende Mensch.
Schon einmal hat es auch diese seltsame Haltung gegeben, des eröff-
neten Weltkonkurses, der Revolution in Permanenz, mit deren Ende —
nichts mehr zu tun bleibe. Nämlich bei der Revolution, die wir in der Ta­
belle oben übergangen haben, und die zwischen Kaiserherrschaft und
dem Weltenrichteramt des Vatikans die W elt organisieren wollte, bei den
Kreuzzügen.
Damals glaubte man, der Osterheld im heiligen Grab brauchte nur be­
freit, die Ungläubigen müßten nur alle vertilgt werden. Dann herrsche
der Tag Christi auf Erden. Deshalb taumelte man von Kreuzzug zu Kreuz­
zug. Die Zeit von 1075 bis 1200 ist trunken von Kreuzzügen. In den
Kreuzzügen geschieht durch die Vertilgung der Ungläubigen eben alles,
worauf es für das Reich Christi ankommt, gerade so ist im Rußland jede
simple wirtschaftliche Kampagne, die der Hungersnot steuert, eine Sieges­
tat, die den' Sozialismus befestigt. Siegt er, dann ist die W elt in Ordnung.
Jenseits der Revolution hört die Geschichte auf. Ganz so schien den
Kreuzrittern die Geschichte nur noch aus Kreuzzügen zu bestehen. Hinter
den Kreuzzügen stand nichts. Aber die Ungläubigen mußten bis auf den
letzten aus dem heiligen Lande geworfen werden. Vorher war nichts zu
erhoffen. Gerade so nützt der Weltrevolution kein Teilsieg etwas. Die
Ungläubigen schöpfen immer wieder Mut, solange auch nur ein Sektor
des Landes noch nicht christlich, noch nicht sozialisiert ist. Die erste und
die letzte Revolution sind also einander in der Methodik gleich. Kreuzzug
in Permanenz, Revolution in Permanenz. Dazwischen liegen die anderen
mit ihren friedlichen Vorstellungen.
Aber die Revolution in Permanenz hat immerhin schon begonnen. Die
neue Zeit hat schon angefangen. Der große Kladderadatsch ist zwar einer­
seits Zukunft, andererseits muß er doch auch wiederum schon Wahrheit
sein, damit man den Untergang des Abendlandes im Rücken haben kann.
Deshalb konnte die russische Revolution sich nicht selbst beginnen. Son­
dern ein großes objektives Ereignis mußte ihr die Erlaubnis geben, den
teilweisen Zusammenbruch der bürgerlichen W elt zu erklären.
)er W eltkrieg Dies Ereignis ist der Weltkrieg. Eine echte proletarische Revolution
kann nicht durch Verfassungsstreitigkeiten und Barrikadenkämpfe sich
vollziehen. Sondern der Kapitalismus muß sich selbst ad absurdum füh­
ren. Das hat der W eltkrieg getan. So erklärt sich die wundersame Tat-

482
Sache, daß ein Land, in dem 200 Jahre lang fast nur Kritik und Satire
als literarische Nahrungsmittel gedient hatten, in dem die gesamte Intelli­
genz seit fünfzig Jahren revolutioniert war und in dem seit 1 9 0 5 die
Flammenzeichen der Revolution auch Zaren und Zarin, Minister und
Geistlichkeit eingeschüchtert hielten, daß ein Land, in dem buchstäblich
ein jeder, der lesen und schreiben konnte, die Revolution in irgendeiner
Form erwartete, drei Jahre lang diesen gigantischen Krieg geführt hat.
Der Muschik, die 85 0/0 der russischen Binnenvölker, mußten eben durch
den Krieg in die Geistesverfassung der geistigen Schicht hineinverfioch-
ten werden. Diese wußte es vorweg. Nun erfuhr auch der Muschik die Un­
fähigkeit des Kapitalismus, Rußland zu organisieren. Diese Desorganisa­
tion mußte unwiderleglich zutage treten. Krieg, Krieg und wieder Krieg
als Hebel der Revolution. Dieser Krieg der kapitalistischen Klasse ist
selbst der erste Akt, nämlich die ökonomische Voraussetzung der sozialen
Revolution. Deshalb also wird dieser endlose Krieg ruhig ertragen. Er
kann nicht gründlich genug ausgekostet werden. Er ist eben das, was kom­
men muß.
„W as, ihr wollt uns nicht helfen, den Zaren zu stürzen?“ Mit diesen
Worten soll der bayrische Unteroffizier und russische Bolschewist Levien
( 19 19 in München erschossen) an dem letzten Julitage 19 14 die gar nicht
sehr kriegsbegeisterten Leute seiner Münchener Korporalschaft aus dem
Wirtshaus in die Kaserne geschafft haben.
Das Teilereignis des Weltkriegs, das den Untergang der bürgerlichen
Gesellschaft signalisiert, ist der Anfang der neuen Zeit.
Von hier aus ergibt sich, daß für den Eintritt der Revolution in Per­
manenz Lenin und Stalin weniger bedeuten als der Weltkrieg. Die Revo­
lution muß überall da wirksam werden, wo ihre ökonomischen Voraus-
XSetzungen, die Unfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und der natio­
nalen Regierungen der Völker offenbar wird.
Zwei Wege tun sich von hier auf, um die Weltrevolution zu erfassen, DiebeidenWege
als die sich der Weltkrieg darstellt: Der eine W eg betont ah dem Drama kSegemWelt"
den auf die kriegerische Ouvertüre folgenden bewußten Einsatz der Bol­
schewisten in Rußland. Er führt über den Brest-Litowsker Frieden und
den dreijährigen Bürgerkrieg zu den ökonomischen Phasen der russischen
Wirtschaftspolitik. Dies ist die bolschewistische Revolution. Der nächste
Abschnitt behandelt ihren W eg. Auf dem zweiten W eg nimmt man den
Krieg der europäischen Völker ernster und wertet sein Ereignis als öko­
nomische Revolution aus. Es zweigen also an dieser Stelle zwei Wege der
Weltrevolution ab. Der eine führt in das Reich der marxistischen Ideo­
logie, der andere in die ideenlose Welt, die der Weltkrieg übrigläßt. Beide
sind Wege der Revolution, einer Revolution, die da ist und noch nicht zu
Ende ist. f

31* 483
9. Piatüetka (D er F ü n f jahresplan)
Das Institut für Ökonomie und Organisation der sozialistischen Land­
wirtschaft hat einen Bodenkulturplan aufgestellt.
Er teilt die Länder der Sowjetunion in fünf Zonen.
Die erste Zone produziert technische Nutzpflanzen und intensive Vieh­
zucht :
Hanf
Zucker
Rüben Südwestliche Ukraine
Mais Schwarzerdbecken
Sojabohnen nördliches Kuban
Tabak Ferner Osten
Baumwolle (teilweise)
Sonnenblumen
Schweine
Die zweite Zone produziert
Flachs ö d - und Weidelai
Molkereiprodukte vom Baltikum
Gemüse über Moskau
Schweine zum Ural
Die dritte Zone produziert subtropische Gewächse
48 Millionen Pud Baumwolle
Seide
Südkrim
Tee
>Kaukasus
Weintrauben
Mittelasien
Orangen
usw.
Die vierte Zone produziert
Rindvieh \ burjätisch-mongolische Republik
Schafe J südöstliche Steppen östlich der W olga
Die fünfte Zone ist
Ackerbodenreserve 1 sie reicht von Archangelsk
und Waldzone J bis zum Stillen Ozean
Diese ökonomische Rayonierung Rußlands1 hebt den Unterschied des
europäischen und asiatischen Rußlands auf. Es ist diese Karte nicht mehr
von Moskau aus entworfen.
Nun ist der einzig mögliche Fortschritt über die Konzeption des euro­
päischen Imperialismus hinaus diese Aufhebung des Kolonialproblems.
Schon „der politische Horizont“ der russischen Revolution (obenVS. 5 i)
1 Nach M. Farbman (neutral) und Grinko (Moskau).

m
zeigte diese Veränderung aus Europa in „Eurasien“ und die Welt an.
Der io . Kommunistische Parteitag erklärte 19 21: „Die Vernichtung der
faktischen Ungleichheit unter den Völkern ist verbunden mit der Vernich­
tung der historisch entstandenen ökonomischen Ungleichheit. Diese
drückte sich vor allem darin aus, daß die Randgebiete Rußlands sich in
der Lage von Kolonien oder Halbkolonien befanden und gewaltsam in der
Stellung von Lieferanten von allerlei Rohstoffen für die Verarbeitung im
,Zentrum* festgehalten wurden.**
Dies liest sich noch wie ein liberales Manifest der Nationenepoche. Aber
es ist 1921 verfaßt. Man kann bei der „Rekonstruktion“ des Fünfjahres-
plans und bei der Rayonierung der Wirtschaftsgebiete also gerade nur
umgekehrt verfahren. Man muß das „Zentrum“ in die Rolle eines Roh­
stoffgebietes, ich will nicht sagen herabdrücken, aber versetzen. Beide
Gebiete müssen sich qualitativ einander nähern. Und dazu muß „Mütter­
chen Rußland** und das russische D orf gerade in die Stellung eines Liefe­
ranten von allerlei Rohstoffen für die Verarbeitung hineinmanöveriert
werden.
Die Wirklichkeit, die von den Sowjets zu meistern war, duldete keine
Autarkie der einzelnen Wirtschaftsgebiete, wie sie der 10. und der 12. Par­
teitag beschlossen. Bisher hat die Union in der Piatiletka große Mittel für
Industrien im Osten und in der Ukraine eingesetzt. Aber sie hat die Bau­
ern in Turkestan zur Arbeitsteilung gezwungen. Die Bauern sollen fortan
nur Baumwolle pflanzen und dafür das sibirische Getreide verzehren. Dies
ist die Bedeutung des bekannten Turk-Sibbahnbaus.
Und es hieße die Eigenart der Leistung der neuen Planwirtschaft ver­
kennen, wenn man die Revolution nicht gerade auf das alte Rußland
hereinbrechen sähe.
Erst hier wird die radikale Folgerung aus der Selbstentfremdung des
Proletariats gezogen. Das Proletariat, abgeschnitten durch seine Klassen­
lage von den Produktionsmitteln, ist damit, nach der marxistischen These,
auch abgeschnitten von allen bisherigen Kulturwerten. Die kapitalistische
Wirtschaftsform hat es seiner Heimat, dem Dorf, der Kirche, der Land­
schaft entfremdet. Wenn es jetzt aus dem Objekt der Wirtschaftsordnung
zu ihrem bewußten Subjekt wirkt, so muß das Proletariat in dialektischem
Umschlag das den Bauern und Bürgern eignende Land als Rohstoffgebiet
ansehen und in einen Rohstoffplan einordnen.
Mütterchen Rußland wird nicht nur Industrieland — das haben alle
Länder erfahren — es wird Kolonialland. Dies ist nicht gewollt worden,
aber hat sich mit überwältigender Konsequenz als Folge des Sozialisie­
rungswillens ergeben. Darauf muß ich näher eingehen.
Die Sowjets sind durch die Macht der Tatsachen Schritt für Schritt
zu dieser — ihnen selbst unvorhersehbaren — Haltung genötigt worden.
Die Getreideproduktion erbrachte keine Überschüsse, seitdem die Klein-

485
und Mittelbauern ihr Land hatten. Denn diese produzierten nicht mehr
für den Markt. Die Konzession an die Sozialrevolutionäre — die Land­
verteilung — rächte sich. Die Kritik Rosa Luxemburgs hatte diese Kon­
zession an das Privateigentum angegriffen. Sie hatte in der Tat nur der
Vernichtung aller politischen Gegner dienen sollen. Bis 1921 schwebte
aber die Ökonomie der Sowjetunion durch diese Konzession in Gefahr.
Man hatte statt 16 über 26 Millionen Kleinbauern. Dadurch sank der für
den Markt produzierte Getreideteil und es fehlten die 12 o/0 Ausfuhr­
getreide, die man 1 9 13 hatte. Die Bevölkerung hatte sich aber seit 1918
um 100/0 vermehrt! Die Kulaken, die Großbauern drohten die unentbehr­
lichen Stützen der Sowjets zu werden. Das war politisch untragbar.
In dieser Gefahr haben die Sowjets im Eiltempo nach amerikanischem
Muster einen neuen Weizengürtel im Steppengebiet errichtet. 12 Millionen
Hektar wurden dem Getreidetrust überwiesen. Sie wollten sich hier vor
Vernichtung der Kulaken einen Ersatz schaffen.
In Sowkosen, Sowjetgütem, teilte man das Gebiet. Von vornherein rech­
nete man mit Mißernten. Aber die ungeheure Fläche sicherte einen Aus­
gleich in sich selbst. Die größte Sowkose ist so groß wie ein deutsches
Fürstentum, 22 000 Quadratkilometer. Auf dieser Fläche wohnen in Bel­
gien oder Sachsen mehr als 1 000 000 Menschen. In den dünnsten schle­
sischen Grenzkreisen wohnen auf 20000 Quadratkilometern immerhin
noch 200000 Menschen. Auf der Sowkose Gigant wohnen 17 000 Per­
sonen.
Das ist die Leere des Schlachtfeldes aus dem Weltkrieg zurücküber­
tragen in die Volkswirtschaft. Die Schlacht, die hier gegen die Natur ge­
schlagen wird, gegen den Steppenwind, gegen den Regenmangel, wird von
einer Armee junger Krieger geschlagen. 95 o/0 der Arbeiter sind unter
dreißig Jahren. Der Krieg ist ein Maschinenkrieg. 90 0/0 des Personals
sind Techniker, nur 10 o/0 sind Landarbeiter. Nur eine hundertprozentige
Mechanisierung des Anbaus ermöglicht die Bestellung.
Das Programm für die Staatsgüter war, 1980 dieselbe Menge Getreide
zu liefern, die 1927 die Kulaken lieferten, 100 Millionen Pud. Ein Staat
also, der seinen Bewohnern aus politischen Gründen selbst die erbittertste
Konkurrenz schafft! Für einen alteuropäischen Staat ist der Vorgang un­
verständlich. Denn bisher fand sich der Staat mit der Wirtschaft, so wie
sie war, ab, suchte sie zu fördern und zu entwickeln und — durch Zölle —
zu schützen. Die Sowjets aber drehen das Verhältnis zwischen politischer
Macht und W irtschaft radikal um. Sie bringen die Funktion der Kulaken
zum Erlöschen. Sie opfern für den Bürgerkrieg einige Milliarden. Die
Kulaken werden vernichtet. Diese Umdrehung des Verhältnisses von Staat
und Gesellschaft hat Engels als „den Sprung aus dem Reich der Not­
wendigkeit in das Reich der Freiheit“ prophezeit. Denn die individuelle
Freiheit in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft — also z. B. des Ku-

486
laken, sei korrupt und korrumpierend. Denn sie schaffe die Unfreiheit
anderer. Also muß man sich bewußt der Disziplin der Kommunistischen
Partei unterordnen; denn „nur die Partei kann die bewußte Regelung
der Produktionskräfte der Gesellschaft in Angriff nehmen“ (Lukasz). Die
Vernichtung der Wirtschaft alten Stils ist also kein Argument, vor dem
die Bolschewiki kapitulieren. „Denn das grundlegende bolschewistische
Vorurteil besteht eben darin, daß man das Reiten nur erlernen kann,
wenn man fest auf einem Pferde sitzt.“
Diese Auswechslung alter, politisch gefährlicher Glieder der Wirtschaft
durch neue ist auch am Fünf jahresplan sonst das auffallende. Er ist
ja völlig unlogisch nach der Lage der Weltwirtschaft. Es gibt für Ge­
treide, für Maschinen, für Textilien, für Stahl eine ungeheuerliche Über­
produktion in der Welt. Wollten die Sowjets einfach zu einer vernünftigen
Ordnung der Weltproduktion gelangen, so müßten sie irgendeine Arbeits­
teilung mit Amerika und Europa anstreben. Die Schaffung einer eigenen
Industrie z. B. ist vom Standpunkt der Weltproduktion die bösartigste im­
perialistische Teufelei, die sich ersinnen läßt. Alle Länder zittern bereits
vor dem russischen Dumping. Vom Standpunkt der Weltrevolution ist das
etwas anderes. Da ist der Fünf jahresplan das Mittel zur Niederringung
des Kapitalismus, d. h. zur Stärkung der Sowjets. Der Fünf jahresplan
entstand, als die englische Anleihe den Russen durch den Sturz der ersten
Labourregierung verweigert wurde. E r war also eine Antwort auf die Ver­
weigerung der Zusammenarbeit. Die Antwort ist rein kriegerisch. So wie
die Kulaken sollen zweifellos alle kapitalistischen Weltmächte vernichtet
werden. Deutschland weiß nicht wohin mit seinen Ingenieuren. Die Sow­
jets werden eine Million Ingenieure neu ausbilden. Roheisen wird in der
Welt viel weniger abgesetzt, als Amerika und Nordwesteuropa zu produ­
zieren vermögen. Die Roheisengewinnung in Rußland soll aber von 3,3
Millionen Tonnen auf io , ja auf 17 Millionen Tonnen gesteigert wer­
den. Ein Bolschewik, G. Grinko, sagt zu diesem P lan : „Die Berichte von
dieser Aufbaufront, die die Sowjetpresse bringt, erinnern ah Schlacht­
berichte von den wichtigsten Abschnitten der Kampffront während des
Krieges.“ Und Stalin schrieb triumphierend am 7. November 1929:
„W ir marschieren mit Volldampf zur Industrialisierung, zum Sozialis­
mus und lassen die jahrhundertealte „reussische“ Rückständigkeit hinter
uns. W ir werden ein Metalland, ein Land der Automobilisierung, der
Traktorisierung, und wenn erst einmal die Sowjetunion das Automobil
und unser Bauer den Traktor besteigt, dann mögen die hochgeehrten Ka­
pitalisten, die sich ihrer Zivilisation rühmen, versuchen, uns einzuholen.
Dann werden wir sehen, welche Länder zu den rückständigen und welche
zu den fortgeschrittenen gezählt werden können.“
Das sind Fanfaren, die zum Angriff schmettern. Die hinausgeschmet­
terten Zahlen ändern sich naturgemäß fortwährend. Z. B. ist die Kolcho-

48 7
senbewegung, die Kollektivierung bereite z. T. rückgängig gemacht wor­
den. Die bleibende Bedeutung der Zahlbilder liegt in der Phantasie, aus
der sie stammen. Alle menschlichen Ordnungen sind hier in Diagrammen
von Bedürfnissen und Wirtschaftsgütern ausgedrückt, die sich in ständi­
ger Bewegung befinden.
Diese Gesellschaft ist so außer sich, daß sie auf ihre eigenen Bedürf­
nisse von oben herabblickt und sich ihre Wünsche im Diesseits freimütig
eingesteht. Während der Citoyen im geheimen sein Privateigentum auf­
häuft, öffentlich aber als Soldat der Ideen von 1789 marschiert, ist der
Eigennutz sozialisiert: Alle gemeinsam sollen reich werden! Die Habgier
ist publik.
Privat ist das Opfer. Aber diese Opfer werden täglich gebracht. In der
Arbeit ist ja täglich Revolution. Und so muß hier jeder „wendig“ bleiben.
Keiner hat ein Recht auf einen Arbeitsplatz.

1 0 . D ie n eu e Schlüsselgew alt
Haben wir nun im Fünfjahresplan eine neue Wirtschaftsordnung? Der
Plan knüpft theoretisch an die Fragen an, die in dem Begriff der „Akku­
mulation des Kapitals“ stecken. W ie sichert das Kapital seine Reproduktion?
Nur durch erweiterte Reproduktion. Es muß wachsen, sonst schwindet
es, hieß die Antwort, die zuletzt in überzeugender Weise Rosa Luxem­
burg gegeben hat.
Alle Kulturordnung ist wiederkehrende Ordnung. Sie wird überhaupt
erst da zur Kulturordnung, wo sie renoviert, reformiert, repariert
und rekonstruiert. Denn nur in der Errichtung von dauernden, unab­
lässig erziehenden Ordnungen des Lebens kann das Leben gestaltet, der
Mensch gezüchtet werden. Also interessierte uns ja durch dies ganze
Buch die F rage: wie kommt immer wieder der Mensch zustande in einer
Nation? Welche Anstalten bringen ihn immer neu hervor? Die russische
Revolution aber fragt sich nach der Reproduktion des Kapitals? Auch da­
mit fragt sie nach dem Menschen. Freilich nicht nach einem Menschen in
abstracto. Sondern sie fragt damit nach dem Menschen als Material der
gesellschaftlichen Prozesse. Aber auch von dieser Seite erfaßt man ein
Stück des Menschen. W o kommen Arbeitskräfte und Produktionskräfte
immer wieder her? Die Sowjetunion kann nur kurze Zeit Raubbau treiben
in vorkapitalistische Wirtschaftsformen hinein. Die Ausfuhren sind ge­
drosselt. Sie treibt noch Raubbau an den Kulaken, den kapitalistischen
Marktproduzenten. Aber muß sie auch auf den Weltmarkt? Muß sie —
wie es vor dem Krieg die deutschen Nationalökonomen kommen sahen
■— neben Amerika und Britannien ein imperialistisches Weltgebiet
werden?
Die Sowjets glauben, das verhindern zu können. Sie wollen dpreh die
Piatiletka die Akkumulation und die erweiterte Reproduktion des Kapitals

488
ins Bewußtsein heben. Für die Wirtschaft im ganzen als Einheit bestand
ja bislang keine völlige Klarheit darüber, wieviel vom Einkommen in neue
Produktionsmittel und wieviel in Konsumgüter sich verwandelte.
Hier blicken die Sowjets der Wirklichkeit ins Gesicht. Sie erheben diese
Frage der Nationalen Dividende zur öffentlichen, allgemein diskutierten
Frage. Aus der Magenfrage des einzelnen wird auf diese Weise die Haus­
haltsfrage des Proletariats. Der Proletarier bekommt einen geschichtlichen
Horizont in die Zukunft hinein. Die Zukunft zieht ihn hinauf über die
Entbehrungen des Tages. Der Fünf jahresplan legt den Arbeitskräften so
schmerzliche Entbehrungen auf, z. B. in der Wohnungsfrage, daß nur
dieser Zug auf die Zukunft darüber hinweghilft.
Auch der Kapitalismus hat Zukunftschancen vorweggenommen. Er „es-
komptiert“ . Aber er eskomptiert Chancen der Produktion. Die russische
Planung ist nichts anderes, aber doch liest der Proletarier jeden Satz des
Plans mit anderen Augen, als der Aktionär den Prospekt seines Unter­
nehmens. Welches ist dieser Unterschied?
Es ist die Totalität des Zukunftsbildes, die dem Aktionär abgeht. Denn
all die politischen Manöver, die Pressepropaganda, die militärischen Inter­
ventionen, die Flottendemonstrationen, die Streiks, die Hungerrevolten —
kurzum, die Umwelt, in die und aus der die Dividende gezogen wird, ver­
kürzt sich dem Aktionär zu einem wirtschaftlichen Vorrang. Jedoch die
Wirtschaft, die er treibt, gebiert jene Eingriffe in das Leben der Mensch­
heit, auch ohne daß der Aktionär das weiß. Die Eingriffe in nichtkapita­
listische Wirtschaftsformen durch Zerstörung sind die Voraussetzungen
für die Existenz des Kapitalismus! Diese Eingriffe werden im Fünf jahres­
plan bewußt. Man sieht, daß die Wohnungen und Schulen, die Ingenieure
und Literaten fehlen, und fehlen werden wegen der Akkumulation. Die
Totalität des gesellschaftlichen Daseins wird nicht mehr verkürzt auf eine
Finanzoperation, sondern die Konsequenzen der Finanzoperation werden
bloßgelegt.
Äußerlich erscheinen die Investitionen riesig und größer äls je Privat­
kapitalisten sie wagen könnten. Die Umkehr ist also zunächst nur eine see­
lische. Statt Verhehlung Entlarvung. Statt Isolierung der W irtschaft Her­
leitung auch der letzten Kulturfrage aus der Wirtschaft. Man gesteht die
Allmacht der W irtschaft ein, damit man lerne, sie zu überwinden.
Das Element, in dem die Menschheit schwimmen muß und das ihr die
Bewegungen vorschreibt, die Materie, so ernst zu nehmen, daß jede Re­
gung und Formung der menschlichen Gestalt von ihr her ermessen wer­
den kann, sie werden im Fünf jahresplan auf ihre ewige Wiederkehr, auf
ihre Reproduktion untersucht. Soviel muß man ihnen gewähren, damit sie
immer wieder den Menschen ernähren, mehr nicht.
„Daraus wird sich auf einem großen Gebiete der Produktion eine ge^ Die Prophe-
waltige Umwälzung ergeben, die im allgemeinen Resultate auf eine u m -zeiung von 19

489
fangreiche Verdrängung der lebendigen Arbeit durch Maschinenarbeit hin­
ausläuft und die Inangriffnahme technischer Aufgaben größten Stils her­
beiführen wird, für die heut keine Bedingungen vorhanden sind. Es müßte
sich dann handgreiflich zeigen, daß die kapitalistische Produktionsweise,
die angeblich zur äußersten Entwicklung der Technik anstachelt, tat­
sächlich in dem ihr zugrunde liegenden Profitinteresse eine hohe soziale
Schranke für den technischen Fortschritt aufrichtet, und daß mit der Nie-
derreißung dieser Schranke der technische Fortschritt mit einer Macht
vorwärts dringen wird, gegen die die technischen Wunder der kapitalisti­
schen Produktion wie ein Kinderspiel erscheinen dürften.
Und so stellt sich das Verhältnis der beiden Abteilungen der gesell­
schaftlichen Produktion (Konsumgüter und erweiterte Reproduktion der
Produktionsmittel) als der genaue Ausdruck der fortschreitenden Beherr­
schung der Natur durch die gesellschaftliche Arbeit heraus, ein Ausdruck,
der am ausgeprägtesten just dann hervortreten müßte, wenn die mensch­
lichen Bedürfnisse der allein maßgebende Gesichtspunkt der Produktion
sein werden.“
So schrieb Rosa Luxemburg im Jahre 1912 als scharfblickende Pro­
phetin des erstaunlichen Schlüssels zwischen Kapitalinvestition und Volks­
einkommen in der Piatiletka. (Verteilungsschlüssel s. S. 491*)
Dies also ist die neue Schlüsselgewalt. Sättigung und Wohnen, Be­
schäftigung und Arbeitszeit liegen für jeden einzelnen beschlossen in dem
Schlüssel der Planwirtschaft. Dieser Schlüssel, der die Zukunftspforte
zum Reichtum aller aufschließt, schließt eben deshalb auch die Tore des
Hungers in der Gegenwart auf. „Entbehren sollst du, sollst entbehren“ ,
dieser R uf Mephistos erwartete den auf Erden Reichen im Rachen der
Hölle. Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Die Entbehrung geht voran.
Jenseits winkt der Reichtum.
Ohne Klassenbewußtsein vermag niemand durch den Z ukunftsglauben
an diesem Reichtum satt zu werden. Er sieht nur dies heutige Entbehren
und er sieht die überwältigende Schlüsselgewalt des 'Plans.
Menschais Der Plan ist an die Stelle der bürgerlichen „Verfassung“ getreten. Er
ist die Wirtschaftsverfassung. Er ist viel wirksamer als die fascistische
Carta di Lavoro, die eine „Arbeitsverfassung“ in Paragraphen faßt. Er
modelliert die Menschen selber. Er produziert nicht nur Güter. Er ent­
scheidet auch über die Reproduktion aller Menschenarten: Lehrer, Tech­
niker, Facharbeiter, Landwirte, Geistliche — nur im Plan können sie ihren
Boden finden, auf dem sie existieren dürfen. Ohne Aufnahme in den Plan
sind sie außerhalb der Verfassung. Sie müssen dann — als Typen und Be­
rufe — aussterben. Die Reproduktion der Menschenarten als Waren, als
Fabrikware — das ist der Planungswille. Jede Revolution handhabt die
Schlüsselgewalt. Z. B. die Reformation reformierte jedermanns Religion
und machte dadurch jeden zum Fürstendiener. W er nicht darauf einging,

490
aü nach Wirtschaftszweigen:
1,4%

Industrie \N Landwirtschaft
Überiandzentraien Wohnungsbau
Transportwesen Sonstiges

c.) nach ökonomischen Kategorien:

■ ■ l i;;;
iOkt ( * m IK iT W * ■ ■ * a

1928
b ■ b
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100%

III II LDmflT
iOkt % 5%1 1 0 0 %
1933
I Produktion von Produktionsmitteln EHHS Produktion-
von Konsumtionsmitteln B B i Zirkulation
Der Verteilungsschlüssel
der „mochte den Staub von den Füßen schütteln“ , wie ein Hans v. Bülow
in der berühmten Szene in der Berliner Philharmonie ein W ort des dama­
ligen F ürsten versinnbildlicht hat. Die Iren und die Katholiken wissen ein
Lied von der Schlüsselgewalt Altenglands zu singen.
Wenn ich die Glut spüre, mit der die Kommunisten für den Plan ent­
flammt sind, höre ich die herrlichen Verse, die in dem Abschnitt über
Gregor VII. stehen, wieder:
„Nimm des ersten Apostels Schwert, Petri glühendes Schwert zur
Handl“ Aus der Schlüsselgewalt Petri wurde dort das glühende Schwert
des Kreuzzuges. Aus dem Schwert des Klassenkämpfers wird in Rußland
umgekehrt der stählerne Schlüssel des Plans. Aber die Gewalt dieses
Schlüssels beschließt über jeden einzelnen. Der Mensch mag leben — am
Töten hat kein Bolschewik ein Interesse — aber sein Beruf, seine Arbeit,
die Reproduktion seiner gesellschaftlichen Funktion ist in den Händen
der neuen Schlüsselgewalt auf Gnade und Ungnade.
Die W elt des Alltags wird von diesem neuen Souverän gerichtet. Deine
„Seele“ , deine „Gedanken“ , dein „Jenseits“ darfst du behalten. Morgen
kannst du vielleicht wieder verwendet werden. Nur heut kommst du in un­
serem Plan nicht vor.
Die Dialektik dieser Welt„einrichtung“ zum alten Weltgericht steht
außer Zweifel. Denn die Sowjets sind sich durchaus klar darüber, daß sie
allmählich in ihre Einrichtung auch andere Elemente ohne Gefahr ein­
lassen können und einbeziehen werden.
Die mittelalterliche Kirche exkommuniziert. Der Kommunismus be­
hält sich vor, zu ,,inkommunizieren*\ Er wird elastischer werden, wenn der
Plan fortschreitet. Aber heut muß er unerbittlich die Arbeit so einrichten,
daß die Rekonstruktion richtig vorangeht. Seine Einrichtungen halten
also Gericht über die Menschen, z. B. über die Kulaken oder die Spezia­
listen oder die Popen, aber auch über die Hausfrauen, die Dichter, die
Greise, und zwar ein sehr drastisches. Einstweilen kann man sie dulden
oder einstweilen kann man sie nicht dulden, je nachdem oB man sie schon
brauchen kann oder nicht.
Das Gericht ergeht wieder über die W elt; in jeder Revolution wird der
„freieste Geist“ zum Träger eines Weltgerichts. Das „Reich der Freiheit“
der Marxisten muß ebenso seine, Schlüsselsoldaten haben wie der Papst.
Das W ort von den „gewesenen“ Menschen für die Nichtproletarier, von
den Luftmenschen für die Literatur ist kein Wort. Der Typ des „Gewese­
nen“ wird „der Verwesung lieber als der Freiheit“ gesammelt. Die Sprache
des Großinquisitors spricht auch der Reproduzent der Piatiletka, wenn es
einem seiner Träger „nach einem Menschen gelüsten“ sollte:
„W ozu Menschen? Menschen sind für Sie nur Zahlen, weiter nichts.
Muß ich die Elemente der Monarchenkunst mit meinem grauen Schüler
überhören?“ Wenn der Mensch, wenn Philipp II. einwendet:
„D u forderst
Von dem Geschöpf, was nur der Schöpfer leistet,“
So ist gerade dies die Meinung, daß der Mensch endlich die Herrschaft
antreten soll über die Reproduktion des Menschen. Das Gericht wandert
über die Wesensteile des Menschen von Revolution zu Revolution.
1. Proletariat Aushungerung der gewesenen Menschen;
2. Rürgertum Ausbeutung der vorkapitalistischen W irtschaftsformen;
3 . Adel Bedrückung fremden Volkstums (England! U ngarn!);
4. Fürsten Expatriierung (Hugenotten!) anderer Religion;
5. Papst Exkommunikation nach der Sünde;
6. Weltgericht nach dem Tode.
Je zwei Lagen weisen die gleichen Gerichtsgrundsätze auf. i und 2 stra­
fen das ältere. Das Proletariat und die Bürger strafen das Vorhandene
als veraltet. Die früheren Wirtschaftsstände werden vom Kapitalismus aus­
gebeutet. Die „gewesenen“ Menschen werden vom Kommunismus vernich­
tet. 3 und 4 strafen die bloße Unterscheidung. Sie organisieren nicht, son­
dern stoßen die an sich untadlige Art anderer Religion oder anderen
Volkstums, die als gleichzeitig und nebeneinander bestehend angesehen
wird, aus. Die Angeklagten werden für ihre „Gegenwart“ gestraft.
Die ersten Lebenswelten (5 und 6) strafen von jenseits des Grabes her
für Tod und Sünde. Nachdem die Zeit ins Diesseits abgelaufen ist, und
die Angeklagten die Lebenszeit falsch benutzt haben, kommt der Tag des
Zorns, an dem sie ins Feuer geworfen werden.
Zerlegt man das Leben in Stationen, so will jede Gewalt auf einer an­
deren Station eingreifen und richten.
Die proletarische Lösung geht dem Übel an die Wurzel. Der Dantesche
Fegfeuerrichter entscheidet über des Menschen Krone, über seine persön­
liche Ewigkeit, über seine Weltgeltung als Funktionär einer notwendigen
Seelenform. Der ,Plan‘ entscheidet über des Menschen Wurzeln, die Ewig­
keit seiner gesellschaftlichen Funktion. Hier wird, während sich die Rasse-
und Eugenikspezialisten in Europa streiten, der Mensch reproduziert. Da­
her wird der Mensch nicht für etwas Individuelles, sondern für die Erb­
sünde seiner Vererbung bestraft, für die Form, in der ihn die Geschichte
reproduziert hat.
Deshalb können die Sowjets so gleichgültig gegen die Moralbegriffe sein.
Sie interessiert nicht das Handeln des Menschen im einzelnen, sondern
seine Art im ganzen, ob er ein Bourgeois ist oder ein Sozialverräter usw.
Die Erbsünde oder Ursünde der Theologie ist das Hauptdogma der Kom­
munisten ; jene Sünde, für die das Individuum nichts kann, ist es, die ihn
aus der Gesellschaft ausschließt! Denn kraft dieser Ursünde gehört er
nicht zur Masse, also nicht zu den Auserwählten. ?
Die Zahlen des Fünf jahresplanes sind gleichgültig. Sie werden sich un­
ablässig ändern. Aber die Gerichtsgewalt, die in der Schlüsselung zwischen
Kapitalinvestition und Konsum steckt, ist ein Souverän, der über einen
neuen Erdteil in uns gebieten will, über den Ursprung, den wir an uns
tragen in unserer Klassenlage und in unserer Gesellschaftsfunktion. Das
Weltgericht ergeht heut über die Ursünde früherer Gesellschaftsordnun­
gen und aller vorkommunistischer Arbeitsteilungen.
Wie weit wird dies Gericht über die W elt ergehen können und ergehen
dürfen? Alle Nationen, alle Menschenart wird von diesem Gerichtstag neu
vargefordert. Nicht an Aller-Seelen, sondern am Tag der Masse am i. Mai
droht dies Weltgericht.
Es ist das Gericht des Erdballs selber, am Sohn der Erde vollstreckt;
denn wir sind in der Sowjetunion „in einem ,Erdballstaat‘ Sie beruft
sich stolz darauf, „ein Sechstel der Erde“ inne zu haben. Sie rechnet vom
Ganzen der Erde her. Damit tritt sie hinaus aus der Ideologie des Natio­
nalstaats, der einen Bezug seines Geistes zur Gesamterde ablehnt. Die so­
genannte nationale Weltgeschichte ist ein ganz anderes Weltgericht als
das der „Piatiletka“ . Wenn die Nationalisten „die Weltgeschichte das
Weltgericht“ nennen, dann meinen sie damit den Vorrang ihrer Nation
über die anderen, höchstens noch den Vorrang Europas über die anderen
Erdteile. Der Erdballstaat der Bolschewiki geht über diese Art Weltge­
richt des Nationalstaats entschlossen hinaus. Wenn wir die Reihe im Gan­
zen mustern, den Stadtstaat (Florenz), den Landesstaat (Sachsen), den
Inselstaat und den Nationalstaat, so haben sie sich alle an eine Erdnatur
anzuklammem versucht. Aber ihr geistiges Gericht mußte immer aus un­
irdischen Bereichen seine Urteile und seine Schlüsselgewalt über die Men­
schen ableiten, weil das Gebiet zu klein war. Der Erdballstaat versucht
statt dessen, aus den Bedürfnissen der gesamten Erde zu urteilen.
C. WELTMOBILMACHUNG

Seite
Am Schmelzpunkt der N ationen ..................................... 497
Der Rückgriff vor die Revolütion......................................... . 5 o i
Die Geschöpfe der R evolution.................................................. 5o5
Produktion und Reproduktion.................................................. 5 i 5
Die ökonomische G eschichtsauffassun g................................ 5 i 8
Das W eltkriegserlebnis................................................................ 5 2 1
Weltzeituhr ................................................................................... 524
Front gegen O s t e n ..................................................................... 52 6 >
Creator S p i r i t u s ......................................................................... 53o
XX. W E L T M O B IL M A C H U N G

1 . A m Schm elzpunkt d er N ationen

V or dem Kriege gehörten die Namen Tolstoj und Dostojewskij ganz we­
sentlich zu Rußland. Für das Rußland von heut werden Romanschrift­
steller gleichgültig. Der russische Staatsverlag beschließt für 1931 zu
neunzig Prozent ökonomische und nur zu zehn Prozent unterhaltende Li­
teratur zu verlegen. An die Stelle des Romans tritt die ökonomische Unter­
suchung in Zahlen; Unendlich breit und beredt, fast wie ein Roman. Aber
die neue Seelensprache der Revolution, den Willen erregend, die Phantasie
entflammend, das Gefühl steigernd, wird das Schaubild, die Zahl, das
Diagramm. Das wird bleiben, ob sich auch vieles ändern wird, daß die
Russen hier einer Literaturgattung, die bisher beiseite stand, einen ersten
Platz im Leben der Nation gesichert haben.
Statt des Roman es wird die Wirtschaftskunde die zentrale Gedanken­
welt. Sie verdrängt den Roman. Die Literaten werden bewußt vernich­
tet. Diese Verdrängung ist ein Vorgang, der nichts Beliebiges betrifft.
Denn die größten Romane des 19. Jahrhunderts sind nicht die französi­
schen, sondern die russischen, obschon der Roman in Frankreich zu Haus
ist. Aber in Frankreich haben doch nur die seelischen oder sozialen Leiden
einen Platz im Roman. Hingegen in Tolstojs Krieg und Frieden z.B. ragt
das Volk im ganzen hinein in das Geschehen. Dies Volk auf Erden wird
18125 das Werkzeug, mit dem der Geist seine Taten vollbringt, während
die Feldherren oder Kaiser nicht wissen, wieso sie heut dies und morgen
jenes befehlen müssen.
Tolstoj machte sich über die Marionetten in Militär und Zivil lustig, viel
wirksamer lustig als Gerhart Hauptmann in seinem Marionettenfestspiel
auf i 8 i 3. Denn bei Tolstoj lebt hinter den Marionetten eine* Volksgewalt,
die wie die Erde gelenkt wird nach majestätischem Gesetz. Das Volk ist
nur majestätisch, wenn es kein Amt beansprucht. Die demokratische
Schmeichelei will ihm ein Amt aufbürden, das es nicht tragen kann. Das
Volk ist anarchisch. Wenn es in passiver, unjuristischer Weise den Ur­
heber und Gewährsmann seiner Nöte sich aussprechen läßt, — in dieser
Haltung hat das Volk die Majestät. W ie wohl die weite russische Land­
schaft, so öffnet sich das Gesicht des Massenmenschen wie ein offenes
Tor der höheren Gewalt, daß sie einziehe und die Seele überwältige. „G e­
genüber der weiten Erde ist der Mensch in Rußland verloren, aber ge­
tröstet. Er ist nichts mehr als ein Halm. Aber er wird nicht untergehn.“
(Josef Roth) j
Diese Allgewalt des Volkes also schildert Tolstoj in einem Kunstmittel,
32 Rosenstock fi(\n
das für individuelle Vorgänge erfunden wurde, in der Form des Romans.
Die Franzosen verklären im Roman die Abenteuer des Herzens innerhalb
der bürgerlichen Zivilisation. Rußland bietet dem Grafen Tolstoj noch
keine eigene Kunstform dar, keinen Nationalstil als Gefäß für den Tol­
stoj-russischen Inhalt. Tolstoj borgt sich das Gefäß deshalb aus Frank­
reich.
Diese Anleihe der Kunstform geschieht, bevor die russische Nation ihren
Schmelzpunkt erreicht hat. Heut nach der Einschmelzung ist Tolstoj eine
ferne unwiederbringliche Gestalt, so fern wie Shakespeare, als Wilhelm
von Oranien nach England kam — verschollen.
Die Revolution prägt ihren eigenen neuen Stil. Sie verdrängt selbst so
Großes und Prophetisches wie Tolstoj und Dostojewskij, von denen das
außerrussische Europa für Rußland gewonnen worden ist.
Verdrängen muß auch der einzelne Mensch, um in neue Lagen hinüber­
zugelangen. Verdrängen die Nationen etwa um ihrer nationalen Ausprä­
gung willen im gleichen Sinne? Berühren sich Psychologie und Völker­
psychologie?
Vielleicht können wir Deutsche Tolstojs und Dostojewskijs Funktion
rüne- am besten begreifen, sobald wir an Matthias Grünewald denken. Der Isen-
a heimer Altar ist eines der wichtigsten Mittel, um uns Deutsche in unserer
überkomplizierten nationalen Lage zurechtzurücken. Er lehrt wohl auch
etwas über den Stilwandel der Nationen und über ihr „Verdrängen“ .
Blicken wir näher zu. Der Isenheimer Altar, dessen Abbild ich hier den
Leser zur Hand zu nehmen bitte, bezeugt zunächst einmal, daß der Maler
besser wie die meisten Deutschen die italienische Kunstfertigkeit be­
herrscht. Die volle Meisterschaft in der Landschaft des Hintergrundes,
in der Behandlung der Gewänder — steht ebenbürtig neben den Floren­
tinern. Das ist aber nur die Voraussetzung für das zweite. Dieser den
Italienern stärker als die meisten deutschen kongeniale Maler hat uns viel
mehr zu sagen als Rafael oder Lionardo. Grünewald kann das, was die
Italiener können. Aber er muß etwas aussprechen, Was diesen fernliegt.
Aber auch unter die deutschen Maler ist er nicht einzureihen, eher noch
unter die Holzbildhauer der Nation.
Es gibt zwar vor und nach Grünewald viele deutsche Maler. Es gibt
immer wieder gute deutsche Maler, aber alle diese Maler haben nichts von
dem gemalt, was Grünewald gemalt hat. Wenn es in Deutschlands tief­
stem Grunde braust und gärt, dann kann man auf Grünewald verweisen.
Er paßt in die politische Erregung. Deutsche nehmen doch aber sonst die
Malerei nicht politisch?
Gibt es vielleicht eine andere Ausdrucksform, die politisch etwas bedeu­
tet? Das ist die Musik. Die deutsche Musik ist ein Politikum. „Und wem’s
nicht singt, dem klingt es.“ Auch der unmusikalischste Deutsch^ beugt
sich der Musik.

498
Diese politische Kraft nun geht auch von Grünewald aus. Er hat alle
Musik vom Lutherchoral bis zu Bach und Beethoven, ja bis zu Brahms
und Bruckner in den erregenden Farbensymphonien seiner Gemälde. Auf­
gewühlt wie von einem Orgelkonzert oder einer Symphonie steht man
davor.
Ist etwa die Musik, die der deutschen Reformation entsproßt, hier in
Farben vorweg komponiert?
Grünewald ist unser größter Maler, weil er für uns kein Maler ist,
sondern weil er eine Natur, unsere Natur, statt in Noten oder in Thesen
im Bilde ausdrücken kann.
Was aber bleibt von der deutschen Malkunst wenige Jahrzehnte nach
Grünewald? Für Dürer, „fü r den Fürsten im Reiche der Kunst, hatten
sich die Probleme seines Zeitalters, die er zunächst ästhetisch zu bewälti­
gen versuchte, ins Philosophische, Religiöse verschoben“ . Und derselbe
Historiker urteilt von Lucas Gran ach: „Seit den Zeiten der Reformation
freilich, deren Inhalt er mit ganzer Seele umfaßte. . . , ging Cranach als
Künstler zurück.“ (Lamprecht) Man würde mit ähnlichen Worten von
Maxim Gorkis Entwicklung berichten können. Im Bildersturm versinkt
die deutsche Malkunst keineswegs nur bei den Protestanten. Das Zeich­
nen verdrängt sie. Die Graphik wird die neue Zeittechnik, und italieni­
scher Import schließt die Lücken. Zeichner und Maler haben nicht mehr
das Herz der Nation. Auch wirtschaftlich werden die Maler ruiniert wie
die Dichtung im Bolschewismus. W ie der russische Staatsverlag verfährt
die Obrigkeit des 1 6. Jahrhunderts, beide trotz Tolstoj und trotz Grüne­
wald. Und so ist Grünewald fast der einzige nationalrevolutionäre Maler
der deutschen Nation.
Er ist es in den Formen, die Italien bereitgestellt hatte; wird aber in­
haltlich zum Wegbereiter der deutschen Reformation. Durch seinen re­
volutionären und zugleich liturgischen Farbengesang gelangen wir in See­
lenschlünde, die keiner sichtbaren W elt mehr angehören.
Grünewald ist mit Dürers W ort „innerlich voller Figur“ , in einem
Sinne, der auf den italienischen Artista nie zutraf, sondern der eher einer
Formel für Tolstojs Romane entspräche: „innerlich erfüllt und durch­
wogt vom Allvolk“ .
Der Artista Italiens suchte keine unbekannte, zukünftige Welt. Er er­
oberte die gegenwärtige. Die feste Zunftüberlieferung bestätigte sein Tun
und hob das Durchschnittsniveau so außergewöhnlich, daß auch die Spit­
zenleistungen seelisch dadurch entlastet wurden. Deshalb kann der Artist
Italiens und des Mittelalters so ungeheuerlich viel schaffen. Die Struktur
des Stadtstaats kommt ihm zu Hilfe.
Anders Grünewald. Dieser Maler schreit aus tiefster Not in eine dunkle
Zukunft. Erhört Gott sein Rufen, so nur, nachdem der Abgrund des
Alleinseins durchschritten ist, eine Nacht der Unnatur, die dem Künstler
32
499
der italienischen Renaissance nicht zu begegnen brauchte. Eben die Nacht
der menschlichen Brust, der die Töne der Musik befreiend entquellen
werden, im deutschen Choral der lutherischen Gemeinde.
Der Grünewald von iö o o befreit uns schon ebenso! Daß wir aber
Grünewald erst wiederentdecken am Ende der deutschen Musik, liefert
einen Beitrag zur „Verdrängung“ durch die Revolution. Denn von Luther
und Palestrina bis zu Wagner und Brahms war Grünewald verschollen.
Die ersten bahnbrechenden Monographien über Grünewald erschienen
nach 1900 (Richard Wagner gest. i 883 , Brahms gest. 1897).
Das muß so sein. Erst um 1900 ist der nationale W eg von Bach über
Beethoven zu W agner abgeschlossen. Erst da hört die deutsche Musik zu
quellen auf. Der einseitige Bund zwischen Nation und Musik lockert sich.
Grünewald führt uns in den Schmelzpunkt der Nation zurück. In diesem
Schmelzpunkt um i ö o o war das Kunstmittel noch nicht festgelegt, in
dem sich die Seele deutscher Nation endgültig aussprechen werde.
Aber ihr Anliegen stand fest. Grünewald sprach es schon aus, nur mit
den Mitteln der guelfischen Revolution. In Grünewald gewinnen wir also
Zugang zu den freien Kräften unseres Lebens vor der Gestaltung. Mit
Hilfe Grünewalds hat die Analyse der Grundkräfte, die Auflösung des
Standbildes der Nation in ihre Urelemente, seit dreißig Jahren eingesetzt.
Vor i ö o o und nach 1900 hört die Musik auf, das politische Sinnes­
monopol für uns zu besitzen.
Alle Nationen in Revolution scheinen das gleiche zu durchleben. In
ihrem Schmelzpunkt nimmt die neue Legierung jenes Element nicht auf,
das der alten auszustoßenden Vorwelt die Farbe gab.
Die Engländer z. B. haben die Musik verbannt. Seit ihrer Revolution
sind bekanntlich viele Deutsche: Händel, Haydn, Mendelssohn, — die
Shakespeare Musiklieferanten der Insel geworden. Und doch hatte der Brite Shake­
speare im Kaufmann von Venedig musiziert wie nie ein Deutscher:
Jessica:
Ich kann nicht lustig sein, hör’ ich Musik.
Lorenzo:
Der Grund ist, weil dein Geist ihr lauschend folgt.
So siehst du eine wilde üppige Herde,
Ein Rudel junger ungezähmter Fohlen
Die tollsten Sprünge machen, wiehern, brüllen,
W ie ihres Blutes heiße Art sie treibt;
Doch schmettern nun Trompeten, oder trifft
Sonst eine Weise der Musik ihr Ohr,
Stehn sie im Einverständnis plötzlich still,
Das wilde Aug nimmt sanften Ausdruck an
Durch Zauber der Musik. Drum ließ der Dichter

5oo
Durch Orpheus Bäume, Stein und Fluten lenken,
Da nichts so stöckisch hart und wütig ist,
Das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt.
Der Mann, der nicht Musik hat in sich selbst,
Den nicht der Einklang süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken;
Sein Geist lebt dumpf dahin wie dunkle Nacht,
Und sein Gemüt ist schwarz wie's Sonnengrab,
Trau keinem solchen! Horch auf die Musik.“

Gerade als politischen Zauber, als soziales Phänomen, besingt also der
Schwan von Avon die Macht der Töne. Aber seit Gromwell galt die Insel
als „das Land ohne Musik“ (0 . H. Schmitz). Noch vor dreißig Jahren
studierten sie in Dresden oder Frankfurt oder Pesaro Musik, bevor sie zu
Haus Komponisten wurden. Heut beginnt es wieder so etwas wie eng­
lische Musik zu geben.
Der Rückgriff auf den unterdrückten, ausgestoßenen, gewaltsam ver­
drängten Kunstsinn ist aber nur ein Gleichnis dessen, was den Nationen
politisch durch den W eltkrieg und seit dem Weltkrieg widerfährt.

2. D er R ü ck g riff vor d ie Revolution


Das Verdrängte wird wieder hereingeholt von denselben Nationen, die zu­
gleich ihrer großen eigenen Revolutionstat treubleiben möchten. Der W elt­
krieg macht Epoche. Er löst die Erstarrung, mit deren Hilfe sich die Na­
tion ihrer vorrevolutionären Totalität enthalten hatte. Italien, England,
Deutschland greifen auf ihre Vorvergangenheit. W as 162 5 , was 1268,
was 1689 verfehmt worden war, wird zurückgeholt. Das Italien Mussoli­
nis holt herein das im Fascismus seit 1200 zerstörte Imperium. Nie war
der disziplinierte Machtstaat der ganzen Halbinsel mehr sichtbar gewor­
den. Seiner Idee huldigt man nun nachträglich. Aber man, zerstört nicht
das Italien der Päpste. Die Gitta del Vaticano bildet seine Verklärung, be­
kennt sich zu den Anfängen dieses guelfischen Italiens. Es wird trotz der
neuen Zeit gleichsam eingerahmt und herausgehoben als nationales
Kleinod. Der Weltkrieg wirft also nicht etwa die Nationen in einen neuen
Einschmelzungsprozeß, sondern ruft nur eine Ergänzung hervor. Seit dem
Weltkrieg heilen die Nationen den durch ihre Revolutionen ihnen aufge­
legten Verdrängungsprozeß aus!
Die deutsche Nation holt herein das seit 162 5 verstaatlichte und ver-
syslematisierte „Volkstum“ . Das freie Volksleben sproßt allenthalben neu.
Volksdienst, Volksbildung, völkische Erweckung, Landvolkbewegung —
das sind alles nur Teilworte für die Sehnsucht aus dem Staat zum Volk
Grünewalds, des Bundschuhes, der Mystik zurückzufinden. Die Zeiten von
12 5 o— 1 5 00 werden von uns wieder zurückerobert. Die ungehetzte Muße

5oi
der Klosterkultur, die alten Zeiten unbefangener Volksfeste, unbürokrati­
schen Verkehrs, unwissenschaftlicher Geistesgegenwart werden erneuert.
Das ist ein Brausen und Gären, um den Beamten und Schulmeister los­
zuwerden — soweit das geht. Denn erhalten bleibt das Erbe der Refor­
mation.
Eingerahmt wird der deutsche Einzelstaat und werden die Universi­
täten. Heidelberg und München, Wien und Weimar sind konserviert wor­
den trotz der Wiederentdeckung der menschlichen und sinnlichen Ganz­
heit und des weiten Reichsgefühls.
In England entsteht seit dem Weltkrieg eine britische Bürokratie, ein
fabianisch-methodischer Staatsapparat. Die 1689 dem König geraubte
Verwaltungsmaschine und ihre Unterbauung durch hartes systematisches
Denken müssen zurückgeschafft werden. England wird methodisch. Das
Parlament wird dabei formell konserviert. Aber regieren kann dies Parla­
ment täglich weniger. Sogar die anglikanische Kirche beginnt ein Eigen­
leben wieder, und es kommt zu einem Konflikt mit dem Parlament um
das Book of Common Prayer, der 2Öo Jahre lang unmöglich gewesen
wäre.
Die Rolle Nur Frankreich, als der letzte Revolutionär vor Rußland, ist in diese
Frankreichs |£eimkehrbewegung zu den alten Göttern der Totalität noch kaum einge­
treten. Zwar gibt es Anfänge des Regionalismus z. B. in der Bretagne, und
der Hinzutritt Elsaß-Lothringens verstärkt diese Bewegung, die einer
Selbstregierung der Landschaften zustrebt und dazu den Volkscharakter
ändern müßte. Käme noch ein Druck von Katalonien her auf Südfrank­
reich hinzu, so würde die Bewegung sogar Frankreich zur Auflösung der
von ihm 1789 verdrängten Lebenskräfte bewegen können.
Indessen bei Frankreich ist dies nur eine mögliche Veränderung der
nächsten Jahrzehnte. Deutsche, Italiener und Engländer haben bereits ge­
handelt. Das ist auch in der besonderen Rolle der Franzosen begründet.
Sie bilden das Widerlager gegen die russische Revolution, weil sie die
Träger der vorhergehenden Totalrevolution sind. Dieses durchgehende
Gesetz, daß jeweils die Italiener, Deutsche und Engländer in früheren
Jahrhunderten festgelegt hat, fixiert heut Frankreich als Gegenspieler
Rußlands und als Hüter der Vorkriegswelt des 19. Jahrhunderts. Die be­
sondere Lage Frankreichs kann aber den Gesamteindruck nicht abschwä­
chen: Er geht dahin, daß seit dem W eltkrieg die Heimkehi^-aus der seeli­
schen Ablösung das große Thema der alten Nationen geworden sei. Die
Jugend aller Nationen ist „katholisch“ in dem schlichten Sinne, daß sie
total und ohne Verdrängungen die Lebensbahn und Seelengestalt leben
will. Der junge Engländer läßt der Prüderie, der Deutsche der Beamten­
natur, der Italiener der rein zivilen Haltung nicht die Alleinherrschaft.
Sie alle suchen auch die fehlenden Saiten aufzuziehn.
Heimkehr Die Heimkehr aus der Losgelöstheit der eigenen Revolution findet auch

502
ihre gedankliche Verklärung. Die Aussöhnung mit den Ahnen wird ein
Hauptthema der Medizin und der Erziehung. Der „Ödipuskomplex“ er­
langt deshalb eine vorübergehende Berühmtheit. Das Mutterrechtsschrift­
tum und die Rassenliteratur verstärken sich durch dies Heimkehrerbedürf­
nis. Eine genial-abstruse Verklärung stellt auch der Roman des Iren Joyce
„Ulysses“ dar. Durch die beiden „Helden“ des Buches wirbeln im August
des Jahres 190/h dem Jahr des Russisch-Japanischen Krieges, binnen
3 o Stunden alle Werte, Gedanken und Empfindungen eines Jahrtausends.
Als Fetzen, Brocken, Assoziationen, gelallte Silben tönt das Dies Irae, der
Choral, die Mathematik, das Couplet usw. Dieser Hexensabbat fegt die
Geisteswelt, die Vorstellungen und die Sprache beiseite, so daß dahinter
die Wiedererkennutig des Vaters, die Heimkehr in die Gattung, ange­
bahnt wird. Die großen Kulturen werden als bloße Vokabulare entlarvt
und beiseite geschoben. Die Odyssee Europas ist beendet.
Alle gewaltsame Verdrängung also soll ein Ende nehmen. Die Glieder
brauchen nicht mehr voller Angst um ihre besondere Art die Kräfte der
ganzen Art in sich auszurotten.
Wie weit diese Kräfte freilich noch herbeizurufen sind, steht dahin.
W ir sehen nur die Gewalt des Heimkehrtriebes, nicht seinen Erfolg.
Aber soweit die Heimkehr der Nationen einsetzt, bedeutet sie zugleich
einen Rollentausch.
Deutschland und Italien mindestens tauschen in wunderlicher Weise
jene Rollen gegenseitig aus, die sie durch tausend Jahre zu spielen hatten.
„Das Imperium den Deutschen, das Sacerdotium den Italienern“ , hieß es
im Mittelalter. Heut wird der Hegelsche deutsche Staat vom Fascismus in
Italien weitergelebt; die geistige Fülle aber eines seelisch befreiten Volks­
tums drängt Deutschland in ein Kirchenland, in den Kirchenträger des
Abendlandes zu verwandeln. „D er Staat wird Kirche, nicht etwa die
Kirche wird Staat, beachten Sie das wohl“ , läßt Dostojewskij den Staretz
in den Brüdern Karamasoff sagen. Dies erleben wir als Deutschlands
Schicksal. Gerade der Rückgriff auf die Zeit von i 5 oo— i2Öo bestätigt
sich hierin noch einmal. Gemeinschaftsformen, Muße und „Schöpferische
Pause“ , Freizeiten und Besinnung, Dialog und Rhythmik — diese Erobe­
rung der Gestaltkräfte führt die Deutschen zurück auf das Quellengebiet
des klösterlichen Lebens des Hochmittelalters. „Germania docet“ hat ein
Papst kurz vor dem Weltkrieg gesagt. Der W eg Deutschlands führt zu
Hölderlins:
„ 0 neue Tochter du, der heiligen Erd’ I
Einmal die Mutter.
. . . bei deinen Feiertagen,
Germania, wo du Priesterin bist
Und wehrlos Rat gibst rings
Den Königen und den Völkern.“

5o3
Die italienische und die deutsche Geschichte haben von jeher einan­
der bedingt. Sie tun dies nun am Ende der europäischen Geschichte in
vollständiger Umkehr der bisherigen Arbeitsteilung. Daß z. B. Hitler die
italienische Balilla — die fascistische Jugendwehr — kopiert, obwohl die
Balilla wie alles andere fascistische Gut ihrerseits doch deutscher Her­
kunft ist, zeigt die seltsame Drehung, die sich hier in wenigen Jahren voll­
zogen hat.
Notwendig wäre die Rückkehr der Europäer. Nur in dieser Heimkehr
könnten sie miteinander leben. Nur in der Wiederherstellung der Gesamt­
tradition könnten sie sich nach außen behaupten. Nur in der Heilung ihrer
Auswüchse könnten sie verhindern, daß die Kinder ihres Landes zu Kari­
katuren „ein er erstarrten, veralteten Menschenart heranwachsen. Nur in die­
sem wundersamen Austausch ihrer bisherigen Arbeitsteilung, den wir heut
sich anbahnen sehen, könnten sie der übrigen W elt den vollen Reichtum
der europäischen Völkerfamilie überantworten.
Kein Europäer kann als bloßes Glied seiner Nation allein die volle
menschliche Gebärde und das „schön menschliche Antlitz“ bewahren.
Denn die Völker sind sich gegenseitig durchschaubar geworden. Sie
ahnen, daß sie nur zusammen den „Menschen“ hervorgebracht haben. Das
führt zu einem Aufbruch in die Bereiche der anderen Völker. Denn nach
dem schönen W ort von Clausewitz „tut jedes Volk wohl daran, sich alles
zuzutrauen, was die menschliche Natur Großes vermag“ . Alle Glieder des
Einzelvolkes brauchen daher beides, Nationserbe und W eltluft, um nicht
zu verkümmern. Die Revolutionen, alle nacheinander und gegeneinander
entsprungen, leben alle heut gleichzeitig in den großen Nationen. Zu vol­
lem Maß des Menschentums bedarf es daher einer weisen Zucht durch
mehr als eine Volksart. Aber diese Zucht kann nicht in einer wahllosen
Vermischung und Preisgabe bestehen. Sondern sie muß in herben Schran­
ken verschiedener Stufen durchschritten werden. Die Erziehung des Euro­
päers im restaurierten Europa wird mithin ein gemeinsames Anliegen
aller europäischen Völker! Deshalb ist heut Erziehung die große Losung
Europas. Unser Buch legt den Grund zu dieser Losung klar.
Das Schweigen Ein menschlicher Nachwuchs, der in Auge und Gestalt, in Gebärde und
kehrenden W ort der Ahnen einmal geschehene große Offenbarung der Urkräfte der
europäischen Völkerfamilie nicht fruchtlos verrinnen läßt, sondern dieses
Vollmaß des Menschenmenschen aufprägt den neuen Völkern der anderen
Erdteile und den bloßen Naturen, den Menschenfüchsen, Menschenwölfen,
Menschenhunden — er muß hervorgehen aus dem gemeinsamen Schwei­
gen der Besiegten. Ideen, Programme, Revolutionen — das gemeinsam
besiegte Europa ist ihnen entrückt. In seinen Menschen liegt seine letzte
Bewährung. Mit seinen Menschen kann es seinen eigenen Geist und den
Erdentag seiner Herrschaft über die W elt überleben. Durch seine Men­
schen allein rechtfertigt es sich vor dem Übermut der neuen Welten.

5o4
Menschen aber bilden sich nur langsam. Das Schweigen der Besiegten
muß den langsamen W eg der Zucht und Erziehung gehen statt des kurzen
der Technik und der Organisation. Gegenüber der kurzfristigen Schnellig­
keit aller gemachten Ordnungen hilft dem Volke Europas nur der lang­
same, der weite, der lange W eg des Wachstums.
Europa hat diesen W eg in den nationalen Rückgriffen vor seinen Revo­
lutionen beschritten. Jede Nation bewahrt also die Form, die ihr eignet,
und ergänzt sie durch die aus der Totalität abhanden gekommenen Teile.
Italien wird ghibellinisch, Deutschland guelfisch, England bürokratisch.
Das hat sich in den Jahren von 1 9 17 bis heut durchgesetzt. Aber diese
Nachblüte soll ja nur ausheilen und ergänzen, was uns fehlt. Die W elt
aber kann nur dann zurück hinter die großen Geburtstage unseres völki­
schen Erbes, wenn der Welt gerade dadurch ein Dienst geschieht.
Europa gemeinsam steht gegen Asien und Amerika, ohnmächtig. Gibt
es dagegen eine zwingende Aufgabe? Und wie stellt sich der heut empörte
Mensch, der Abkömmling der russischen Revolution, zu der Familie, aus
der er sich herausreißt?

3 . D ie G eschöpfe der R evolution


Das elektrische Licht, der Marxismus, die Funkentelegraphie — alle or­
ganisatorischen Hilfen der Sowjetunion stammen aus Europa. Aber etwas
ganz Besonderes verbindet die russische Revolution mit dem europäischen
Krieg, der sie ermöglicht hat. Dieser Krieg hat die Revolution geschaffen,
nicht nur indem er seelisch die Massen lockerte und zur Verzweiflung
trieb, nein in einem ganz technischen Sinne steht die Revolution auf
den Schultern des Krieges.
Nur der Krieg hat die russische Masse emanzipiert. Der russische*
Knecht ist auch heute noch Knecht. Er ist kommandierte Arbeitskraft.
Sie ist eine mechanische Angelegenheit. Die Russen arbeiteten von Haus
aus nicht gern. Also paßt ein System zu ihrer Natur, das die Arbeit
nicht weiter verklärt, sondern ihr bloßes Muß betont. Der russische Ar­
beiter im staatskapitalistischen Sowjetbetrieb ist nach wie vor Arbeitskraft,
auch wenn er heut begeistert schuftet. Aber er ist etwas Zweites dazu: E r
ist Klassenkämpfer des Proletariats, er ist Soldat im Klassenkampf des
Proletariats. Die europäischen Proletarier sind das in harter Schule der
Industrialisierung durch soziale Agitation, durch das Klassenbewußt­
sein geworden. Die Bolschewiki hingegen verdanken die Einreihung der
russischen Massen in die Rote Front dem Weltkrieg. Die allgemeine
Wehrpflicht ist die eine Hälfte der Ideen von 1789, die der Zarismus
bereits im 19. Jahrhundert bei sich eingeführt hat. Von den beiden Polen
der bürgerlichen Gesellschaftsordnung: Rentner und Soldat, war das Sol­
datentum einseitig nach Rußland importiert worden. Aus diesem Sol­
datentum entwickelt sich die Möglichkeit der russischen Revolution. Denn

5o5
nicht die paar Industriearbeiter, sondern die Flotte, voran der Potemkin,
waren 1906 die wichtigen Träger der Revolution. Und die ,,Soldaten­
rechte“ mußten 19 17 deklariert, Soldatenräte mußten eingesetzt wer­
den. Mit dem Abreißen der Offiziersepauletten begann die russische Re­
volution. Denn nur als Staatskörper waren diese hundertundfünfzig Mil­
lionen auf die Beine zu bringen und in Bewegung zu setzen. Nur über
eine Mobilmachung der Arbeiter und der Bauern zu einem Heereskörper
ist irgend etwas in Rußland durchführbar. Mobilmachung heißt Stillstand
des regelmäßigen Wirtschaftsprozesses des Landes. Bei dem Volksreich­
tum Rußlands war diese Stillegung durch eine Mobilisierung aller waffen­
fähigen Männer niemals vor dem Weltkrieg erfolgt. Auch im Russisch-
Japanischeh Kriege waren die Zahlen der Eingezogenen noch nicht 2 0/0
der Bevölkerung. Durch die Erhöhung dieser Quote im Weltkrieg wird
die Wirtschaft zum ersten Male wirklich mattgesetzt. Der Krieg gegen
die Mittelmächte ist der erste Gesamtkrieg, den die Russen erlebt haben.
Und an ihm wurde die Unfertigkeit, ja das Fehlen einer wirklichen
Organisation dieses Gebiets erst offenbar. Der Zarismus hat diesen Krieg
nur durch die Kredite, die Lieferungen und die Hilfe Westeuropas or­
ganisieren können. Denn der Krieg ging über alles hinaus, wozu die
bisherige russische Rüstung und Ordnung bestimmt gewesen war. Und
er widerstritt dieser Ordnung deshalb, weil diese immer mit einem be­
liebig zahlreichen Menschenmaterial und einem Fortgang der landwirt­
schaftlichen Arbeit auch in Kriegsfällen hatte rechnen können.
Die russische Revolution ist auf Kredit unternommen. Denn sie bricht
aus, während alle Räder stille stehen, in einem Augenblick, wo die Mil­
lionen der Soldaten noch von der Heeresorganisation her zu essen und
zu trinken haben. Die Revolution strebt aus diesem nahe dem Nullpunkt
liegenden Stillstand der russischen Wirtschaft zu ihrer Wiederingang­
setzung. Sie setzt die Soldaten des Weltkrieges auf Arbeit an. Sie macht
demobil und schafft dazu eine — in Rußland vorher nie dagewesene —
einheitliche Volkswirtschaft, in der die ehemaligen Soldaten des Heeres
als Arbeitskräfte funktionieren können.
Man vergleiche die französische Revolution: Da steht das Volk in Ar­
beit, das Land in Blüte — die Revolution hebt erst in ihrem Verlaufe
einen Jahrgang nach dem anderen aus zu den Kriegen der Revolution.
Sie lebt aber von den Ersparnissen und Vorräten des Landes Frankreich,
die es aufgespeichert hat, und sie lebt von der Organisation der W irt­
schaft, die bereits besteht.
In Rußland lebt die Revolution von der Desorganisation der W irt­
schaft, die sie vorfindet! Eben deshalb muß sie zur rein militärischen
Einheit Rußlands die gesellschaftliche neu hinzuschaffen. Dadurch ver­
liebt sich diese russische Revolution so seltsam in die F ragen: Werden
die Bauern die Felder bestellen? Werden sie Getreide abliefern? Werden

5o6
genügend Züge fah ret? Werden genug Techniker zu haben sein? W ird
das Volk in den Städten frieren?
Die Revolution soll wirtschaftlich demobil machen. Aber sie bleibt dem
Kriege verpflichtet als ihrem Mobilmacher. Und das äußert sich in der
gedanklichen Vertretung des Kriegertums. Der Generalstab der Revo­
lution übt die Diktatur des Proletariats aus. Und die Arbeitskräfte bringen
alle die Opfer an Arbeit, Mehrarbeit und Überarbeit, an schlechter Be­
zahlung, an Unfreiheit, an Unsicherheit für einen moralischen Entgelt.
Sie bleiben neben ihrem Dasein als Arbeitskräfte Soldaten der Revolution!
Für diese Ehre hungern sie auch. Jedermann ist der ständige und unauf­
hörliche Besuch der politischen Versammlungen vorgeschrieben. W er
nicht hingeht, macht sich verdächtig. Die russische Arbeitskraft hat keine
freie Zeit. Denn sie muß zum Meeting. Dies sind die militärischen Appells
des Proletariats. Hier wird die desorganisierte Masse gedrillt. Hier wird
im Takt gedacht, im Gleichschritt Revolution geübt, werden unter Kom­
mando die Zielübungen für das Wirtschaftsprogramm abgehalten.
Von dem Bürger Soldaten Frankreich ist der Nursoldat Muschik übrig­
geblieben auf russischer Erde, und er kann daher die Revolution nicht an­
ders durchführen und verstehen denn als Soldat der Revolution.
Der Ausgang des Bolschewismus ist also nicht die kapitalistische Reife,
sondern die europäische Heeresverfassung Rußlands. Das ist der Teil der
russischen Verfassung, der europäisch war. Das Ziel der Russen ist die
Einführung einer europäischen Wirtschaftsverfassung in Rußland. Im
Zwischenreich macht der Soldat dem Arbeitstier das Leben erträglich.
Politischer Kämpfer und wirtschaftliches Rädchen im Produktionsprozeß
bedingen einander so, daß die bewußte Kämpferhaltung alle Leiden der
Arbeitskraft vergessen macht.
Deshalb appelliert die Revolution an den Soldaten im Menschen, an den
Entwurzelten, Familienlosen, Jugendlichen. Die Revolution hetzt die Kin­
der gegen die Eltern und macht sie zu Spitzeln der Eltern. Ein Kind ist
stolz, wenn es seine Eltern wegen konterrevolutionärer Gesinnung ins
Gefängnis bringt. Der Typ des Werdenden, dessen, der alles Gewordene
achtlos in Stücke schlägt, der das Haus in Brand steckt, sticht schon in
aller russischen Literatur hervor. Im Soldaten der Revolution ist dieser
Kriegskommunismus der Werdenden zur herrschenden Schicht gewor­
den. Nur der jugendliche Mensch in uns ist Gemeinschaftsmensch. Kom­
munismus fällt den 20jährigen leicht. Alles Alte in uns braucht die Ein­
samkeit. Also wird es zum Fluch, alt zu sein in diesem Heerlager von
Soldaten einer neuen Gesellschaftsordnung. Nie darfst du allein sein.
Immer bist du mit anderen, und unter anderen, beobachtet, angesprochen.
Die Marschordnung des Ganzen muß dich durchzüchten. Sie gibt dir die
Kraft, Arbeitskraft zu bleiben oder zu werden. tfe t
Die Auflösung der Familie, die Verhöhnung der Kirche^ K e Experi-

507
mentierhaltung zu allen Leidenschaften werden von jedem Menschen
durchlebt, auf der Lebensstation, wo er zwischen Ursprung und Her­
kunft einerseits und begeisterter Hingabe andererseits, zwischen Eltern­
haus und eigener Wahlheimat von allen Versuchungen heimgesucht wird.
Dieser Mensch ist nicht mehr daheim und noch nicht daheim. Deshalb
eben wird er „heimgesucht“ , dieser „Werdende“ .
ln seiner inneren Unsicherheit ballt dieser Heimatlose sich in Banden
und Horden zusammen, um die Angst zu betäuben über das, was man
mit ihm vorhat. Denn wer ist „man“ ? Der Bolschewismus, Gott, der
Teufel, die Entwicklung: der Werdende weiß nichts. Agnostisch ist diese
Haltung. Dem ungelernten Arbeiter in der Großstadt ist die Haltung
eigen, der sich zwischen i 4 und 21 Jahren „ohne Anhang“ durchkämpfen
muß. Der jugendliche Mensch vor der Ideenreife ist biologisch die Grund­
lage der proletarischen Seelenhaltung. Diesen Menschen verabsolutiert die
russische Revolution für ihre Gefolgschaft. Dieser Werdende, der dem
kapitalistischen Europa flucht und gleichzeitig von Europas technischen,
organisatorischen, finanziellen Krediten lebt, er entspricht ja ganz dem
Sohn, der der väterlichen Gewalt flucht, während er von ihr ausgehalten
wird. Er flucht ihr also, um aus ihr heraustreten und ihr entwachsen zu
können, d. h. weil er ihr noch verschuldet ist. Der Unabhängige braucht
nicht zu fluchen. Die furchtbare Aufregung der Bolschewiki über das
morsche Bürgertum, dessen sämtliche Errungenschaften sie doch nur
quantitativ allen zugute kommen lassen wollen, ist eine Seelenhaltung,
die jeder Jugendpsychologe kennt.
Der werdende, der unreife aber reifende Mensch — er ist die ewige
Gestalt Turgenjews, Dostojewskijs und Gorkijs. Brandstifter, Lästerer,
Verbrecher, aber nur weil er in seines Vaters Hause die eigene Wohnung
noch nicht gefunden hat. Er ist der Revolutionär um jeden Preis, ohne
Not, ohne Klassenlage, ohne Interessen. Der abgesprengte, trotzige Mensch,
der sich nichts sagen läßt. Der Adam ohne lebendige Seele. Denn seine
alte ererbte Seele hat er ermordet, und die neue Seele* ist ihm noch nicht
durch dié Liebe entzündet worden. Die ganze Hölle des Menschlichen lebt
in den Süchten und Heimsuchungen des Revolutionärs. Nur an eins klam­
mert er sich: an das Bewußtsein. Das Bewußtsein ist der Arbeiterklasse,
die Bewußtheit den Sowjets in dem Maße eigentümlich, in dem sie sonst
keinerlei Wurzeln in der W elt besitzen. Es ist, als wollten sie Tolstojs gro­
ßes W ort in „K rieg und Frieden“ widerlegen: „In historischen Ereig­
nissen spricht sich klarer als irgendwo das Verbot des Genusses vom
Baum der Erkenntnis aus. Nur unbewußtes Handeln bringt Früchte.
Und der Mensch, der in einem geschichtlichen Ereignis eine Rolle
spielt, versteht nie dessen Bedeutung. Versucht er es zu begreifen, so
schlägt er mit Unfruchtbarkeit. Hiergegen kämpft der bewußte Pro­
letarier r i l l zwar der proletarisierte Mensch der ganzen Erde.

5o8
Aber es ist ein ewig Menschliches, das hier im Russen weltgeschichtliche
Gestalt gewinnt. Die tiefste dem Lichte abgewendete Schicht unseres W e­
sens steigt hier empor zum vollen Tag der Geschichte. Die Kehrseite all
unserer Kräfte, unser Zerstörungswille, unsere Dämonien, unsere Selbst­
verachtung. Der Haß und die Trägheit, der Neid und vor allen Dingen
die völlige Gleichgültigkeit gegen fremdes Leben, das nicht zur Horde
oder Bande hingehört: Die Liebe zur Vivisektion, die jedem Jungen inne­
wohnt, der eine Katze quält.
Weshalb treiben denn die armen Teufel hier so offen ihr Spiel? Wes­
halb fangen sie sich in ihren eigenen Schlingen und werden durch ihre
Kämpferhaltung und ihren Fluch gegen Gott und die Welt immer schlim­
mer gepeinigte Arbeitspferde einer staatskapitalistischen Maschinerie?
W eil nichts verborgen, nichts unausgesprochen bleiben soll in der Die europäische
Schöpfungsgeschichte. Die europäische Völkerfamilie hat jede Menschen- ° er am 1
art auftreten sehen in ihrer Mitte und hat sie hineingenommen, wenn sie
„den“ Menschen zu ihrem Teil repräsentieren half. W ir haben bisher ver­
mieden, die seelischen Urelemente im „Menschen“ für den Engländer,
den Deutschen, den Italiener aufzudecken. Viel zu billig hätte diese Radi-
zierung und Zurückführung auf ein Ewig-Menschliches mißdeutet wer­
den können.
Hier in dem Augenblick, wo das Böse selbst seine geschichtliche Be­
rufung erfährt, wird die Zurückführung auf seelische Grundelemente
nicht mehr zoologisch mißverstanden werden können.
Der russische Revolutionär „ist“ allerdings der Repräsentant des bio­
logischen Menschentypus von i 4 bis 21 Jahren, die Verkörperung des
Werdenden. Aber indem er auf dieser leiblich ewigen Grundlage sich
aufbaut, schafft er sie zugleich um ins Geistige und sichert dadurch ihre
Mitgliedschaft im geistigen Haushalt der Menschheit.
Die Menschheit hatte sich bisher des Bösen dadurch erwehrt, daß sie
nein zu ihm gesagt hatte. Dagewesen ist es immer, aber immer angekettet
und von jeder Revolution anders beschworen. Garlyle hat die innere Lage
der Werdenden, des heimgesuchten Menschen großartig beschrieben:
„F ü r mich war das Weltall völlig ohne Leben, ohne Bestimmung, ohne
Willen und selbst ohne Feindseligkeit, es war eine enorme, tote, unermeß­
liche Dampfmaschine, die in stumpfer Gleichgültigkeit weiter rollte, um
mich Glied um Glied zu zermalmen. Diese Mühle des Todes! Warum
wurde der Lebende ohne Gefährten und mit Bewußtsein dahin verbannt?
Warum, wenn es keinen Teufel gibt? Ist der Grund nicht vielmehr der,
daß der Teufel euer Gott is t . . . ? “
„So wenig ich irgendeine Hoffnung hatte, so wenig hatte ich auch
irgendeine Furcht, weder vor den Menschen noch vor dem Teufel; ich
hatte oft das Gefühl, als würde es mir ein Trost sein, wtetn 3 er Erz-
teufel selbst, trotz aller seiner höllischen Schrecken, vor noiftMifsteigen

509
würde; nur um ihm ein wenig meine Meinung zu sagen. Und trotzdem
lebte ich wunderbarerweise in einer fortwährenden, unbestimmten quä­
lenden Angst. Zitternd kleinmütig und besorgt um ich weiß nicht was.
Es war mir, als ob alle Dinge oben im Himmel und unten auf Erden für
mich zum Schaden da wären und Erde und Himmel nichts weiter seien
als der grenzenlose Rachen eines gefräßigen Ungeheuers, von dem ich
zitternd erwartete, verschlungen zu werden.“ —
„Nein“ Diese Angst hält die russische Revolution aus. Das Nichts, was das
Proletariat vorfindet und ist, soll allein bewußt werden: „Die ihr von
Gottes Zorne — Seid das Proletariat!“ Dieser Vers ist daher mit Recht
der Ausdruck dieser neuen Menschen geworden. Denn ihr Klassenbewußt­
sein stammt.nicht aus Gottes schöpferischem Werden, sondern aus sei­
nem zornig abwartenden Nein! In dem Augenblick, wo die europäische
Welt glaubt fertig zu sein, wo der Mensch mit dem Palmenzweige an des
Jahrhunderts Neige stand, erhebt sich der Teufel des Nein und glaubt
diese europäische W elt in seine Hölle schleppen zu können. Aber siehe
da, er erhebt sich. Er bleibt sichtbar stehen! Er gewinnt Verkörperung.
Indem Luzifer Gestalt annimmt, verliert er das Unheimliche, das der
Teufel bis dahin gehabt hat, und wird zu einer Teilgestalt unseres Lebens.
Auch alle älteren Revolutionen haben auf diese Versuchung ihre Ant­
wort gegeben, indem sie ihr einen neuen Menschen entgegengehalten ha­
ben. W ir verdanken Cariyle die Schilderung des Lutherischen Gewissens­
menschen, der über den Geist dieser W elt triumphiert. Und so können
wir unmittelbar an die Schilderung des proletarischen „Revolutionärs“ die
des protestantischen Siegers im Kampf mit dem Teufel anschließen. Es
werden damit mehr als nur Einzelheiten gewonnen sein.
Cariyle fährt nämlich fort:
„In solcher Stimmung und vielleicht der unglücklichste Mann in ganz
Paris nebst Vorstädten, wandelte ich an einem schwülen Hundstage die
schmutzige Kleine Rue St. Thomas de l ’Enfer entlang, als mit einem
Male ich mich fragte: Wovor fürchtest du dich eigentlich? Verächtlicher
Zweifüßler! Was ist die Totalsumme des Schlimmsten, das dir bevor­
steht? Tod? Wohlan, Tod; und sage auch die Qualen der Hölle und alles
dessen, was der Mensch oder der Teufel wider dich tun kann oder will!
Hast du kein Herz?
Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden, und als ein Kind der
Freiheit, obschon ausgestoßen, das Höllenfeuer selbst unter die Füße
treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm
begegnen und ihm Trotz bieten.
Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über
meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab.
Ich war stade in ungeahnter Stärke, ein Geist, fast ein Gott.
Von Ji©ser Zeit an war die Natur meines Elends eine andere: nicht

5io
mehr Angst war es, sondern Entrüstung und grimmiger feuersprühender
Trotz.
So hatte die Donnerstimme des eigenen Nein gebieterisch alle Winkel
meines Ich durchströmt, und nun stand mein ganzes Ich in angeborener,
gottgeschaffner Majestät auf und erhob mit Nachdruck seinen Protest.
Denn mit Unrecht kann vom psychologischen Gesichtspunkt aus eine
solche Entrüstung und ein solcher Trotz, ein Protest — der wichtigste
Akt im Leben genannt werden.
Das ewige Nein hatte gesagt: Liebe, du bist vaterlos, ausgestoßen, und
das Weltall ist mein, — des Teufels? W orauf mein ganzes Ich ant­
wortete : Ich bin nicht dein, sondern frei und hasse dich auf ewig 1
Von dieser Stunde an bin ich geneigt, meine geistige Neugeburt zu da­
tieren ; vielleicht begann ich unmittelbar darauf ein Mann zu werden.“
Carlyle macht uns das Wartburglied wieder transparent:
Und wenn die W elt voll Teufel wär
Und wollt’ uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so seh r. . .
Der Sieg über den Teufel schafft diesem deutschen Menschen der Re­
formation sein neues eigenes Vaterland und Vaterhaus. Mit seinem Pro­
test gründet er es selbst. Denn die Verantwortung übernimmt dieser Re­
formator selbst. Die deutschen Reformatoren haben den verantwortlichen
Menschen geschaffen, der väterlich die sonst dem Bösen verfallene W elt
betreut und pflegt. Vater des Volkes zu sein, ist des deutschen Fürsten der
Reformation Ruhm. Väterlich ist der Beamte und der Polizist, der Haupt­
mann und der Professor in diesen deutschen Einzelstaaten geworden.
„Patriarchalisch* ‘ ist daher die Gesellschaftsordnung der deutschen Re­
formation, einseitig väterlich. Die Stufe in jedes Menschen Leben wird
hier ausgeweitet zu einer W elt des Vaterlandes, in der die Sachwalter und
Lehrer, die Hausherrn, die Ratsherrn, die Gutsbesitzer, ihre Kinder und
Schüler, die Knechte und Mägde, das Vieh im Stall, die Kultur des Lan­
des, die Soldaten und die Studenten betreuen. Lauter Landesväter, mit
dem Fürsten als dem ersten Landesvater, walten und verwalten hier und
widerstehen der Gewalt des ewigen Nein. So sind sie alle zu Menschen er­
wacht. „W idersagst du dem Teufel?“ Ja, ich widersage ihm.
Die anglikanischen „Reformierten“ sind anders als die Menschen der
deutschen Reformation. Und dennoch ihnen verwandt. Entschlossen in
die weite Welt, vorgebildet in einer väterlichen Welt, gehen sie in die
Weite des Erdenrunds, diese Anglikaner und Puritaner. Sie brauchen
nicht Old England einzurichten. Das bleibt so, wie es die Väter eingerich­
tet haben. Der Engländer ist daher männlich, aber nicht väterlich. W o er
väterlich wird, da wird er unenglisch. Der Engländer ist der Mann außer­
halb des Vaterlandes, der diesem Vater lande Ehre macht, der Mann ohne
Alter, jung mit den Jungen noch im höchsten Alter. Weder Vorgesetzter
noch Polizist, noch Beamter im deutschen Sinn, sondern fellow, Kamerad,
Mann unter Männern, kurz Edelmann.
So stehen Engländer und Deutscher beide auf der männlichen Seite
des Lebens. Aber dem einen rundet sich das Haus zu hausväterlichem
Amt, dem anderen weitet sich die Welt ins unendliche Längenmaß, das
er im männlichen Gefecht durchmißt. Der Italiener und der Franzose
haben in ihrem Volksaufbau die Sicherungen für das Ewigweibliche be­
reitet, ohne dessen Zusatz auch kein Engländer und kein Deutscher leben
könnten. Die Madonna, die Mutter ist nicht nur der Inhalt dreier Jahr­
hunderte italienischer Malerei. Auch die Mutterkirehe schwebt über dem
ganzen Italien als schützende und über alle politische Zerrissenheit hin­
weg stehende und hegende Hüterin des Lebens. Auch die Künstlerschaft
selber ist ja Mutterschaft, Empfängnis und Geburt. Erst recht trägt der
Priester die Merkmale des Weiblichen. Nicht umsonst bekleidet ihn auch
die Tracht der Matrone und die Schürze der Frau. Die Diplomatie ver­
ändert sogar die Gesichtszüge des Mannes oft ins Weibliche. Und das
Reich, in dem die Mütter herrschen, bleibt daher durch ganz Italien
wirksam als Geheimnis, hinter aller Fassade. Es wird nicht vergewaltigt,
wie im Protestantismus, von dem es heißen konnte: „L a femme pro-
tcstante n’a pas d ’ideal.“ Die Protestantin habe keine weibliche Vor­
gängerin.
Eben deshalb ist nach dem Deutschen und Engländer die Europäerin
erschienen, die „Mutter“ durch neue Art ergänzend, das bräutliche, rei­
zende, verlangende, begierige und begehrte Weib. Die Pariserin vermittelt
der ganzen, auch der unkatholischen W elt den Reiz des Weibes im Augen­
blick. W ie der englische Mann zum deutschen Patriarchen, so steht die
Französin zur Italienerin. Einähriges steht gegen Mehraltriges, die Jung­
frau von Orleans gegen Maria. Der mutige und fröhliche Mann der
Geistesgegenwart steht zum verantwortlichen Landesvater weiser Vor­
aussicht für andere und der Sorge für Unmündige, London steht gegen
Weimar, wie Paris zu Rom.
Die einzelne Französin verkörpert nicht etwa allein diesen Menschen­
schlag. Der Franzose selbst vergeistigt und verklärt ja genau so den be­
geisterten Augenblick und den glücklichen Moment. Das Menschliche, was
wir meinen, durchwaltet eben die ganze Kulturstätte der Menschenart. Es
durchwaltet also Männer und Frauen einer Lebenswelt. Die Volkscha­
raktere Mann und Vater, Weib und Mutter sind eben nicht rein körper­
licher Art. Sondern sie schaffen „den“ Mann, „den“ Vater, „das" Weib
und „die“ Mutter in alle Angehörigen einer Nation hinein. Die „Seele“
wird in der Revolution erschaffen und Kind und Mann und Greisin kön­
nen daher gleicherweise an dieser einen großen Seelenform ihrer Nation
Anteil nehmen.
5l2
Auch die deutsche protestantisierte1 Frau ist Hausfrau im patriarcha­
lischen Sinne dieses Wortes. Sie waltet im Hause als Herrscherin. Und |
die Engländerin ist männiseh, kameradschaftlich, unbräutlich, mehr noch ;
als ihr Gefährte. Der Engländer ist weit erotischer im Umgang der Man- \
ner als die Engländerin. Es ist als hatte der Engländer die Engländerin j
um ein feinstes Etwas von Eros beraubt und es dem College und Club,
dem Männerbunde zugewendet.
So ist der italienische Mann in der Verbindung von Zartheit und Über­
legenheit selbst Träger dieser seelischen Substanz der Mütterlichkeit. Mus­
solini hat etwas Weibliches ebenso wie Rafael. Nur muß man sich von der
banalen Vorstellung frei machen, als läge in diesem an sich schon für
einen Mann ein Unwert. Nicht um weibisches oder männisches Menschen­
tum handelt es sich, sondern es geht bei diesen Volkscharakteren um ein
Zuendedenken und ein Zuendeschaffen des Wesens Mensch. Die Europäer
schaffen den irdischen Menschen als nationale Abart des Menschensohns,
der da leben soll in den Völkern, weil der erste Bürger des Gottesreiches
für sie gekreuzigt ist. Gerade weil Jesus nicht geliebt und gefeiert, nicht
gekriegt und gearbeitet, nicht gemalt und gedichtet hat, muß die Welt
noch mit den Menschen bevölkert werden, die alle diese Lebensarten in
seinem Namen leben. Diese Bevölkerung der Erde mit christlichem Volke
ist die revolutionäre Tat der europäischen Völkerfamilie. In Zuordnung
zueinander und in Arbeitsteilung haben sie die verschiedenen Rollen in
dem Lebensdrama des Menschengeschlechts übernommen. Wenn die Not
am höchsten gestiegen war, fiel das Stichwort für das noch unfertige,
noch ungebildete Volkstum. Mit dem Stichwort begann eine Umwandlung
in ein Mitglied der Truppe dieses Schauspiels. Die Revolutionen prägen
die Völker zu den großen Charakteren des Dramas. Dies Drama ist
menschliche, göttliche und Weltkomödie in einem. Es ist die offene und
öffentliche Weltgeschichte als Passionen der Menschensöhne, als Heils­
ökonomie. Denn nicht Staaten oder Kirchen oder Kulturen werden hier
gebaut und gezimmert, sondern der Mensch wird erzeugt, geboren und
erzogen.
Zucht und Erziehung geschieht, damit der Mensch alles, was er sein
muß, ganz und vollkommen werde.
Die europäische Völkerfamilie hat noch mehr Glieder. Zu dem Sohn,
dem Werdenden, dem Manne, dem ungebundenen, dem Vater, dem Ver­
pflichteten, zu der Mutter und dem bräutlichen Weibe gehört noch hinzu
die Tochter. Die Tochter hat aus allen diesen Kulturen die Verheißung
der Erbin; gehorsam und demütig birgt sie in sich die ganze Mitgift der
Vorwelt. Sie ist dazu berufen Braut und Mutter zu werden und die Gesetze
des Vaters setzt sie um in Sitte, die Ratschläge der Mutter wandelt sie
um in Betragen, mit den Reizen des Weibes schmückt sich die Bräutliche
1 Wir gebrauchen dies Wort, \peil es auch die deutschen Katholiken mit umfassen kann.

33 Rosenstock 5i3
für den Geliebten. Die Eindrücke aus der Welt werden von ihr ausgebil­
det zu schönen und gesunden Kindern.
Die Tochter erneuert das Leben des Hauses, das der Sohn in Stücke
schlägt oder in Brand steckt.
Andere sollen Krieg führen, Du, glückliches Österreich, heirate, hieß
es vor alters schon. Und töchterlich ist die Haltung des Menschenschlages
in dem Habsburger Reiche. Die Musik ist die Einheitssprache dieser ein­
zelner Völker gewesen und kraft der Musik verstanden sie sich so gut,
daß sie mit 60 Kommandoworten vier Jahre lang im Weltkrieg gestan­
den sind. Die Kleindeutschen zucken die Achseln; heut lachen die Men­
schen über Österreich, verstehen es nicht mehr. Man nennt Trägheit,
Schlendrian, Stumpfsinn die Ausdauer dieses Reiches. Es ist viel mehr.
Auf dem Zenith des Nationalismus in Europa hat Österreich den Welt­
krieg bestanden. Das Reich Franz Josephs hat seine vierzehn Völker
auch herausgehalten aus der russischen Revolution.
Sie glaubten an ihre nationale Befreiung, in einem gläubigen Gehorsam
gegen das künftige Schicksal, wie die Tochter im Vaterhaus ihr Leben lebt.
Die Nachfolgestaaten sind ohne Blutvergießen entstanden. W o wäre
das je geschehen?
Die Tochter aus all diesen Völkern ist die Österreicherin. Sie, die Frau
in diesen Nationen ist ja in der Hälfte der Fälle anderer Herkunft. Sie ist
es, die Tschechin, die den Deutschen, die Ungarin, die den Slowaken hei­
ratet, die in Wahrheit diese Nationen zu einem Kulturvolk geeint hat. Nur
wo dies Konnubium sich ausgewirkt hat, ist die große Menschheitsebene
und die Mitgliedschaft in Europa auch in Österreich erworben worden.
Aber es ist geschehen im gleichen Umfang, wie in den anderen Großmäch­
ten England oder Deutschland oder Italien.
Die Österreicherin gehört so zur Französin und Italienerin, wie der
Russe zum Engländer und Deutschen.
Die Revolutionen verwerten ewige menschliche Energien zum Aufbau
der nationalen Menschenart. Die Punkte also, an denen künftig Anthro­
pologie, Biologie und Geschichte sich treffen müssen, sind die Totalum­
wälzungen, aus denen neues Menschentum entspringt. Der Mensch wird
weiter erschaffen, Ursprünge geschehen. Dann setzt Entwicklung ein und
entwickelt das Geschehene in immer wiederkehrender Reproduktion. Die
Reproduktion geschieht in Paris, im englischen Parlament, im deutschen
Beamtenstaat, im Vatikan, in der Partei, in Rußland. Und jeder Abschnitt
dieser Reproduktionsprozesse verschärft, verdeutlicht den Typus, der in
ihnen erzeugt wird.
Alle diese Typen bedürfen der Begrenzung durch ihr Widerspiel. „D er“
Mensch ist in keiner einzigen Art zu finden. W ohl aber haben die Euro­
päer in ihrer Völkerfamilie das Ebenbild des Menschen hervorzubringen
getrachtet in Arbeitsteilung jede Nation für alle vorbildlich 1

5i4
Sohn Tochter
Vater Mutter
Mann Weih
Das sind Urelemente der ganzen Menschenseele.
Die Eigenschaften, die sich in diesen Namen ausdrücken, deuten auf
ein seelisches Ur-Alphabet, dessen Ströme uns alle durchwalten.
Inmitten des Wustes von vergänglichen Einzelheiten, die in der Welt
geschehen, ist Geschichte ein strenger und unerbittlicher Aussonderungs­
prozeß der Lebensformen, die „den“ Menschen hervorbringen. Das see­
lische Ur-ABG, das wir am Ende entdecken, zeigt, wie einfach und wie
notwendig der Kampf ums Dasein ist, den die europäische Menschheit
geführt hat und fü h rt: Nicht der Dutzendmensch des Tierreiches, sondern
das Ebenbild Gottes will leben und soll leben in all seinen Abarten und
in seinem Reichtum, von der Madonna bis, — ja bis zum Judas Ischa-
riol (oben S. 472 f .) !
Immer wieder greift der neue Ursprung eifersüchtig auf ein All­
menschliches. Die großen Nationen erneuern niemals in ihren hero- ■,
ischen Zeiten „sich selbst“ . Selbstanbetung liegt ihnen fern. Denn Selbst- "P 1
anhetung schlägt mit Unfruchtbarkeit. Sondern die Nationen werden in
der Mitte gehalten und vor dem Abgleiten in eine bloß zufällige Spiel­
art bewahrt durch die Hingabe an einen totalmenschlichen Urprung.
Sie kehren in der Revolution also nicht etwa zu sich selbst, auch nicht zu
ihrem partikularen, fragmentarischen, heidnischen Ursprung zurück, son­
dern in ihnen ent-springt ein Ursprung, von dem aus der Stammbaum
der ganzen menschlichen Art weitertreiben kann (vgl. auch S. 1 7 8 L j
über Hypogenese). Immer ist es ein Urständ der Natur, der „fröhliche
Urständ“ feiern will. Die eigne Primitivität zu verherrlichen ist nutzlos.
Gemeint ist auch dann, wenn ein Volk in seine eigene Urwelt durch­
bricht, die Sehnsucht, etwas Ursprüngliches im Totalsinn der Mensch­
heit zu erneuern. Nur diese Hingabe adelt die Scheußlichkeiten des Völ­
kerlebens zur Geschichte des Menschen.

4 . P roduktion u n d R eproduktion
In sechs großen Geschichtsabsätzen ist der Mensch in Europa, den wir den
Europäer nennen, erschaffen- worden. Sechsmal bat eine große Revolu­
tion diesen Menschen ergänzt. Sechsmal ist Gerichtstag gehalten und eine
neue Menschenart heraufbeschworen worden.
Der abendländische Christ, der Italiener, der Deutsche, der Engländer,
der Franzose, der Russe haben einer nach dem anderen diesen Beschwö­
rungsruf vernommen und aufgenommen. Die Kultur unseres Erdteils ruht
auf diesen erfolgreichen Aufrufen zur Revolution aus dem Geist.
Dreimal bat ein Mönch, dreimal hat ein Edelmann im Zentrum einer
solchen Revolution gestanden. Es sind diese sechs: Der Mönch (d. h. der
33* 5 i5
Papst Gregor VII.) Hildebrand, der Mönch Franz von Assisi, der Mönch
Luther, der Gentleman Cromwell, der adlige Korse Napoleon Bonaparte,
der Edelmann Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) aus Simbirsk. Dem
entspricht es, daß dreimal die katholisch-theologische Ordnung der Kirche
und dreimal die zivile weltliche des Staates revolutioniert worden ist. Die
Periode der kirchlichen Umwälzungen heißt gewöhnlich Mittelalter, die
der staatlichen Neuzeit. Mittelalter und Neuzeit zusammen bilden das Jahr­
tausend der Revolution.
Die Mönche und die Adligen haben in den Feuern ihrer Revolutionen
die Welten der Kulturmenschheit geschaffen, das ganze Volk der abend­
ländischen Christenheit, und die Mitglieder der europäischen Völkerfa­
milie betragen und gebärden sich, wie sie es in den einzelnen Revolutionen
gelehrt worden sind. Nach jeder Revolution sieht der Mensch in Europa
anders aus: Der Italiener, der Deutsche, der Brite, der Franzose, der
Russe — jeder hat sein Gesicht, seine Schulterhaltung, seine Denkart,
seine Weise zu sprechen und zu fühlen; und dieser Charakter hat eine be­
stimmte Prägestunde. In dieser Prägestunde wird er seiner selbst bewußt,
und dieser Prägestunde entspringen die Lebensformen, aus denen dieser
Volkscharakter von Geschlecht zu Geschlecht weitererzeugt und weiter-
kultiviert wird.
Weshalb sind wohl Mönche und Ritter die Heiligen und die Helden
unserer Lebenswelten geworden?
Weder der Mönch noch der Ritter hängen an der Welt. Von Zelle und
Burg blickt man weit hinaus in die W elt und ist doch dieser W elt nicht
hörig. So kann man sie verwandeln. Abstand muß der haben, durch den
Neues entstehen soll. Gefangene der Lebenswelt, der wir entstammen, sind
wir alle. Dem Leben gestorben sein muß, der es erneuert. Der Ritter
sieht die W elt von der Seite des Kriegs, der Mönch sieht sie von der Seite
der inneren Fäulnis. Dabei stoße man sich nicht an den Worten Mönch
und Ritter. Die Funktion ist wesentlich. Dem Adligen, d. h. dem, der für
des Lebens Notdurft nicht zu sorgen braucht, w4 il er regiert, ihm er­
schließt sich die innere Völkerordnung an der Schlachtfront. Er lernt
also urteilen dort wo die Bürgerkriege der Ökumene bewußt geschlagen
werden. Dort sieht der Krieger die Wirklichkeit der Schlachtfelder und
wird daher immer richtiger urteilen als die Asphaltheimkrieger, die nur
Sieg und Ruhm und Kriegsgewinne oder Schande und Niederlage und
Landverluste sehen. Er sieht mehr, auf dem Schlachtfeld erfährt man
etwas über den Kampfpreis des Lebens überhaupt.
Der Mönch blickt in dieselbe Völkerwelt hinein von der Seite des Chronos;
ihn bedrängen die Entartung und der innere Verfall jeder Gruppe und
jedes Verbandes im Laufe der Zeit. Der Krieger durchschaut die äußeren
Raumgrenzen aller — auch der besten — Ordnungen. Den Äfönch um­
wittert da, wo die Laien in den Tag hineinleben, sich freien und ihre

5i6
eigenen Gebresten auf Kind und Kindeskind naiv weitervererben, der
Hauch der Verwesung. Die meisten Wege in die Zukunft durchschaut er
als Irrwege. Diese beiden Strategen des Raums und der Zeit haben eine
ewige Funktion. Man setze sich also über die unmodernen Namen Mönch
und Ritter hinweg. Nur auf die Herausgelöstheit aus Zeit und Raum
kommt es an, die beiden eignet.
Beide ahnen die W elt als Ganzes. Beide stehen also jenseits des alltäg­
lichen Scheins des Lebens. Sie stehen auf Vorposten draußen, wo das Le­
ben nicht produziert wird, sondern wo es aufhört. Auf diesem Außen­
posten sieht man den Schnürboden, an dessen Drähten die Menschheit
hängt, wir, die wir uns produzieren und produziert werden. Mönch und
Ritter tragen eine andere Verantwortung: die für die Wiedererschaffung,
für die Reproduktion der Art. Arterneuernde Anlagen, die als schützen­
der Garten die Menschen umgeben, die kann nur errichten, wer außer­
halb des Gartenhags steht. Er hat den nötigen Abstand vom Leben. Ihn
treibt die andere Sorge um die Wiederkehr des Lebens. „Die Produktion
und die Reproduktion des wirklichen Lebens ist das in letzter Instanz;
bestimmende Moment in der Geschichte.“ (Engels)
Das bestimmende Ereignis der Wiederkehr nimmt aber jedesmal neue
Züge an. Keiner der Helden und Heiligen trägt dieselben Züge. Denn die
Reproduktion muß immer eine erweiterte Reproduktion sein, kann man
das ökonomisch ausdrücken. Biologisch und theologisch gesprochen, ver­
langt die Ökonomie der Kräfte den Fortgang des Lebens zu neuen For-
men, damit die alten Formen lebendig bleiben können. Die Weiter Schaf­
fung ist um des schon Geschaffenen willen notwendig! In dem neuen Ur­
sprung des Lebens wird die alte Art entlastet und kann nun wieder weiter­
leben zusammen und neben dem neuen!
Die Revolutionen gebärden sich als Todfeinde gegeneinander. Aber das
ältere Leben muß dem neuen Leben deshalb Platz machen, damit es den
eigenen Platz behalten kann.
Auch der Kam pf der Arten darf nicht irreführen; alle dienen einer
Aufgabe:
„Und wo sich die Völker trennen
Gegenseitig im Verachten,
Keins von beiden wird bekennen,
D aß sie nach demselben trachten“ ,

erkennt Goethe im Divan. „A u f so viel Wegen eilt das Heil / der W elt zur
Welt, die widerstrebt“ , singt Ennodius.
Dies ist das Gesetz von dem Ursprung der Menschenart und von ihrem
Fortgang, ökonomische, biologische und theologische Fragen empfangen
eine einhellige Antwort.
Die „Revolution“ , als die in den menschlichen Bereich hineinverlegte

617
Naturkatastrophe, führt den Soziologen, den Biologen und den Theologen
in die eine und gemeine Wirklichkeit zurück.

5 . D ie ökonom ische G eschichtsauffassung


Die Kämpfer für die Art verharren außerhalb der von ihnen geschaffenen
Welt. Ihre Art wird nicht reproduziert. Sie sind einmalig. Was reprodu­
ziert wird, das sind die zahlreichen mittleren Berufe und Stände, die
Durchschnittsfunktionäre jeder nationalen Lebenswelt.
Auch sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich, ob sie nun der Mönch
oder der Ritter, der Heilige oder der Held ins Leben ruft. Nachdem die
Mönche und die Ritter in ihrer gleichartigen Funktion durchschaut sind,
ergibt sich leicht, daß auch die drei kirchlichen Revolutionen der Päpste
und Luthers dieselben sozialen Wirkungen hervorgerufen haben wie die
modernen Sozialrevolutionen der Neuzeit.
Man lasse einmal die kirchlichen Führernamen weg. Dann enthüllt
sich sogleich derselbe soziale Tatbestand in Mittelalter und Neuzeit.
Hinter Päpsten und Fürsten kommen hier ihre Hilfstruppen zum Vor­
schein. Kreuzfahrer, Stadtbürger der Kommunen Italiens und deutsche
Beamte werden geprägt als proletarische Funktionäre, als Hilfsstände
einer geistlichen Gewalt.
Die geistliche Gewalt steht seit dem Investiturstreit offen an der Spitze.
Sie trägt — Päpste oder Fürsten — die Verantwortung für den Befrei­
ungskampf. Aber in Wahrheit beteiligt sie Zehntausende an der Herr­
schaft! Weil aber der Führer der Bewegung den Namen gibt, deshalb
spricht er bescheiden von renovieren, regenerieren. Oberhäupter meiden
das Stichwort Revolution dort, wo alles Licht auf sie fällt. Die Revolutio­
nen der zweiten Hälfte, der Neuzeit, sind anders beschaffen. Die Gentry,
die Bourgeoisie und die Proletariermassen geben der Revolution den Na­
men. Die führenden Mitglieder handeln nur im Namen der Massen. Des­
halb nennen sie das, was sie tun, ungeniert Revolution. Die begehrlichen
Massen sind also nicht Hilfsstände, sondern sie erscheinen als die Träger
einer souveränen Rolle. Weltliche, nicht theologische Schlagworte sind
deshalb das Feldgeschrei der drei sozialen Schichten, weil sie selbst offen
als Träger der Erneuerung gepriesen werden.
Und doch wäre es ein Irrtum, diese Kreaturen der drei Revolutionen
der zweiten Hälfte für weniger untertan und unterworfen zu halten dem
Geiste als die der ersten Hälfte. Die Gewalt, der die drei weltlichen Re­
volutionen huldigen müssen, steht allerdings im Hintergrund. Sie wirkt,
statt offen die Verantwortung zu tragen, als Regisseur. Aber die weltlichen
Revolutionen der Neuzeit entspringen einer geistigen Gewalt so gut wie
die kirchlichen des Mittelalters.
Bei der englischen ist es sofort deutlich, daß die Gentry nur den Puri­
tanern die Entmilitarisierung des Königtums verdankt. Der Lord-Protek­
5i 8
tor Gromwell hat mit seinen Eisenseiten das Kingdom of God an die
Stelle des Kingdoms der Stuarts gesetzt. Deshalb haben die Prediger der
Puritaner diesen Krieg geführt und entschieden. Die Minister of the Gos­
pel haben die Minister des Königs besiegt. Die Minister — so hießen die
Prediger der Sekten in England — sind also die Sendboten dieser gei­
stigen Gewalt des public spirit.
Advokaten und Journalisten von Paris, Desmoulins und Robespierre,
sind die Träger der Ideen von 1789. Sie allein können die Blitze schleu­
dern, die den nationalen Körper entzünden, sie allein die Ströme der Be­
geisterung entfesseln, die dieses bürgerliche Frankreich organisieren. Der
„Zeitgeist“ beherrscht die bürgerliche Klasse.
Und die. russische Revolution lebt von dem Glauben an die Wissen­
schaft, an Forschung und Technik, Materialist sein heißt an die Entwick­
lung der Materie Mensch glauben und den Forscher eben deshalb zum
Drahtzieher der Materie, zum Schöpfer der Gesellschaftsordnung erheben.
Gentry von England, Bürger von Frankreich, Arbeiter und Bauern
Rußlands stehen auf der Bühne im Rampenlicht der Revolution. Aber
die Minister von Gottes W ort haben das Kingdom of God beschworen,
Advokaten und Zeitungsschreiber haben die Nation begeistert, die For­
scher und Soziologen haben die Materie der Menschen zum Funktionieren
gebracht. Und nur kraft ihrer Regie klappt das Stück. Die sogenannten
sozialen Revolutionen sind also im Hintergrund geistig, deshalb sind die
religiösen geistlichen Revolutionen, die im Hintergrund sozial sind, ihre
älteren Geschwister.
Das Abendland und Europa, sie machen beide dieselbe Revolution, nur
mit abgewandelter Technik in der Leitung.
Papst und Fürsten gehen selbst voran. Hingegen „Minister“ , „Advo­
katen“ und „Forscher“ blasen ein. Aber bei beiden Arten der Revolution
gibt es eine Bühne und einen Schnürboden oder eine Kulisse. Die Bühne
der russischen Revolution ist um nichts wirklichkeitsnaher als die, auf
der Gregor VII. die Weltdrommeten ertönen ließ.
Gregor VII. spricht selbst und persönlich, und die Massen der Kreuz­
fahrer durcheilen die W elt auf Beute und Ehre. Hingegen die Massen­
appells der russischen Proletarier wiederholen unablässig wie Gebetsmüh­
len die Sprüche der Revolution. Aber nur einer hat diese Sprüche verfaßt.
Und der liegt als Leiche im Kreml aufgebahrt.
So haben also alle Revolutionen ganz gleich viel Geist und Materie.
Die vielzitierten Thesen: „Die Revolutionen entspringen aus wirtschaft­
lichen Verhältnissen“ , „Die Revolutionen entspringen aus ökonomischen
Ursachen“ — sind daher zwei Sätze, die nichts über den Anteil von Geist
und Materie in der Revolution aussagen.
Denn in die W irtschaft und in die Ökonomie des Völkerlebens gehört
die geistige Gewalt genau so gut als ein Faktor in die Rechnung hinein
wie der Hunger. Ohne die Autorität des Forschers und Ökonomen Lenin
gibt es so wenig eine russische Revolution wie ohne den Hunger der
Dienstmannen des Mittelalters eine päpstlich abendländische Renovation.
Ökonomie der Kräfte ist eben etwas anderes als Ökonomie der Materie.
Haushalt der Menschheit, Wirtschaftsverfassung und Gesellschaftsord­
nung müssen in ihrem Budget genau so rechnen mit Autoritäten, Fürsten,
Befehlshabern, Predigern, Begeisterern und Organisatoren wie die mittel­
alterliche Kirche der Päpste mit Propagandisten, Artisten, Fachleuten,
Friedensrichtern, Kapitalisten und Arbeitskräften. Das leibhaftige Volks­
budget kann mit einem Haufen Arbeitskräfte, einem freien Spiel der
Kräfte des Kapitals oder mit zehntausend unabhängigen Landedelleuten
gar nichts anfangen und hat nie etwas anfangen können. Die Regie seitens
der geistigen Gewalten war und ist dabei immer die notwendige Korrektur
und Ergänzung. Nur so wurde und wird jeden Tag neu aus Kapitalisten
die europäische Nation, aus Arbeitskräften die Sowjetunion und aus Edel­
leuten das christliche England.
Nicht nur also ist die Dialektik der Revolution eine andere, als sie
Marx noch durchblicken konnte; es ist auch die ökonomische Geschichts­
auffassung eine andere, als die Vulgär-Marxisten sie mißverstehen. Die
materialistische Geschichtsauffassung ist eine W affe im Kampf gegen
das idealistische Bürgertum, aber sie leugnet nicht die geistigen Mächte.
Das haben die echten Marxisten stets zugegeben. Auch der „Materialis­
mus“ hält den, der seine Niederlage nicht als notwendigen W eg zum
Siege auf sich nimmt, also den, der nicht opfert, für minderwertig1. Da­
mit ist der Einzelne bereits mitten in einem überpersönlichen Glauben
verwurzelt, der ihn todesbereit macht. Diese Todesbereitschaft ist das
Kennzeichen jeder Politik aus dem Glauben, vom ersten Kreuzzug bis
zu den Terroristen. Nur die Klasse selber ist in der russischen Revo­
lution materialistisch, nicht der Einzelne. Er opfert. Denn das Interesse
des Proletariats, kein persönlicher Vorteil, entscheidet. Aber das W ort
materialistisch ist nur antiidealistisch verwertbar. Es ist dialektisch wie alle
revolutionären Schlagworte gegen die vorhergehende gerichtet. Hinter den
Gegensätzen der Schlagworte bleibt die Einheit aller Revolutionen selbst
als Geistestaten bestehen. Das W ort ,,materialistisch“ reicht nicht durch
das Jahrtausend. Die Aufgabe, die Einheit aller Geschöpfe einer Revo­
lution zu begreifen, ist für alle Revolutionen die gleiche. Begreifen läßt
sich die Einheit nur aus der grundsätzlichen Todesbereitschaft aller von
der Revolution Ergriffenen. „M it einem neuen Erlebnis des Todes beginnt
jede höhere Kultur.“ (Spengler) Den immer erweiterten Reproduktions­
prozeß zu begreifen ist die dringende Aufgabe, in der sich Biologie und
Soziologie treffen.
Die ökonomische Geschichtsauffassung kann das leisten. Daher ist die
1 Der ausführliche Beleg ist unten S. 532 abgedruckt.

52°
ökonomische Geschichtsauffassung für mich eine Selbstverständlichkeit.
Die Prägung der europäischen Volkscharaktere vollzieht sich ökonomisch.
Denn im Rahmen eines Gesamthaushaltes aller menschlicher Energien,
Anlagen, Aufgaben und Träume springen die Vorbilder des Menschen aus
den großen Leiden der Erdensöhne neugeboren hervor. In großartige
Brunnenstuben der Völkerkultur gefaßt quellen nun diese ursprünglichen
Arten des Menschen gereinigt hervor, in ökonomischer Gliederung und
Beziehung. Dies ist die Ökonomie des Abendlands und Europas. Die Emp­
fängniszeiten rechnen nach Jahrhunderten. Zwar „leicht verschwindet der
Taten Spur von der sonnenbeleuchteten Erde, wie aus dem Antlitz die
leichte Gebärde. Aber nichts ist verloren und verschwunden, was die ge­
heimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel schaffenden Schoß auf-
nahmen“ . „Die Zeit ist eine blühende Flur, ein großes Lebendiges ist die
Natur, und alles ist Frucht und alles ist Samen.“ Die Völker haben den
Heilsruf der Kirche des ersten Jahrtausends Zug um Zug mit ihren
Heilsrufen im zweiten Jahrtausend beantwortet. Sie haben dadurch eine
Ökonomie der Menschheitsgeschichte bezeugt und geschaffen. Die Dialek­
tik der Revolutionen ist die Enthüllung der geschichtlichen Ökonomie: In
dem Haushalt dieses Kraftfeldes dienen alle Sprachen des Geistes und alle
Mittel der Materie nur dazu, die Seele des Menschen in immer neue Ge­
stalten hineinzuprägen und zu verkörpern, bis der Mensch geschaffen sei,
in dem sich die Schöpfung vollendet. Das Ebenbild des Schöpfers wird
Jahrhundert um Jahrhundert, Figur um Figur erschaffen. Keine Figur
ist entbehrlich. Alle figurieren in der einen Ökonomie der menschlichen
Gestalt, an der jedes Menschenkind teilnimmt.

6. Das Weltkriegserlebnis
„Totalmobilmachung“ der Nationen war der Weltkrieg. Zu einer großen
Ebene des Kampfes und des Marschierens sind uns damals die Länder
geworden. Durch Städte und Wälder, Feld und D orf zogen wir im Kriege
gleichmütig hindurch. Eine Landschaft verdrängte* die andere als bloßer
Schauplatz des immergleichen Schauspiels Krieg, das wir durch sie alle
hindurch durchführten.
Eintönig feldgrau grüßten wir die Tage im Frühling wie im trüben No­
vember. Der Soldat fügt sich nicht den Gesetzen von Ort und Stunde wie
in friedlichen Zeiten der Bauer.
Aber dieser Totalmobilmachung — ein von Ernst Jünger geprägtes
W ort — ging ein anderes Dasein vorauf. W ir dienten nur in diesem
einen Kriege als Soldaten. Vor ihm lebten die Nationen in der Zerstreu­
ung. W ir waren auseinander und hielten uns unabhängig, bis der Krieg
kam. Er hat uns stumm gemacht und die Krieger aller Nationen in eine
einheitliche Lebensbahn gepreßt. Die Nationen traten zu stummer Kame­
radschaft durch den Krieg zusammen. Der Eigenwille der Staaten wurde

5 21
schwächer in den Jahren des Krieges als das gemeinsame Fronterlebnis
der Heere.
Die Heere fühlten sich hineingewirkt in einen ungeheuren Wirktep­
pich der Kräfte, die allgegenwärtig die Erde überströmen und der Staats­
männer spotteten.
Da, wo wir uns bekämpften und befehdeten, wo die Geschütze wütend
herüber und hinüber donnerten, und jeder einzelne ums Leben sprang,
lief, sich niederwarf, und wieder aufsprang, vordrang, fiel, wuchs eine
Ahnung, daß wir zusammenbleiben müßten, ja daß wir selbst wider W il­
len bereits zusammenhängen und abhängen voneinander.
Damit wurde der Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Zum Bürgerkrieg auf­
einander angewiesener, zusammengehöriger Nationen. Bürgerkrieg aber
ist Revolution.
Das Weltkriegserlebnis gliedert sich für uns scharf in zwei Abschnitte,
gerade als inneres Erlebnis.
Der europäische Krieg war ein klares Remis.
Der europäische Krieg von 191/i läuft aus mit der Friedensresolution
im Sommer 1 9 1 7 und der Diktatur Ludendorffs, die damals einsetzt.
Wilhelm II. hat im Juli 1 9 1 7 gesagt: „D a kann ich ja gleich selbst ab­
danken.“ Hätte er es getan, so wüßte heut wenigstens jedermann, daß wir
den Weltkrieg nicht mehr als Kaiserreich, sondern schon als Nation ge­
führt haben.
Der Weltkrieg beginnt am 1. Februar 1 9 1 7 mit dem unbeschränkten
U-Bootkrieg Amerikas und mit der russischen Revolution.
Der Eintritt Amerikas und die russische Revolution haben Europa tor­
pediert. Europa, von Cadiz bis Brest-Litowsk reichend, von Palermo bis
Helsingfors, hat den Weltkrieg an Wilson und Lenin verloren. Der euro­
päische Bürgerkrieg spielt die materielle Macht Amerika, die geistige
Macht Rußland in die Hände. Die Amerikaner haben allen Ernstes unter
ihrem humanistischen Sternenbanner einen Kreuzzug gegen das alte „F a­
therland“ , d. h. gegen die Nation der vielen Vaterländer, unternommen,
gegen die Kaiser der Mittelmächte, gegen alles, was von vor 1789 oder
1776 in Europa sei. Das einzige, wogegen das Abendland gefeit schien,
nämlich zum Ziele eines Kreuzzuges zu werden, ist uns geschehen.
Der aus dem Herzen des Abendlandes ausgestrahlte Kreuzzugsglaube
hat sich gegen dies Herz selber gewendet.
Die Nationen Europas sind zum Morgenland geworden durch den
Kreuzzug des neuen Abendlandes, der Neuen Welt. Sie marschieren nicht
mehr „an der Spitze“ . Der erste Kreuzzug ist rückgängig gemacht in
diesem Kreuzzug über den Ozean. Das W ort „Kreuzzug“ können wir
fortan nur noch mit Ingrimm hören.
Die Russen aber höhnen das ohnmächtige Europa als Sklavin des W elt­
kapitalismus. Sie verlangen Kapitulation vor dem Proletariat von 1917.
522
Welches ist der Sinn unseres Widerstandes gegen Amerika und Ruß­
land, gegen Krieg und Bolschewismus in den Jahren 1 9 1 7 — 191 8 ge-
wesen? Hat Deutschland nur im europäischen Krieg Remis erkämpft?
Oder hat auch Europa noch im Weltkrieg sich behauptet?
Der Krieg 1 9 1 7 — 1918 hatte zunächst eine andere Geographie als der
von 1914* Die Mittelmächte hatten im Osten gesiegt, und zwar bleibend
und wirksam gesiegt. Der Balkan, Rumänien, Polen, das Baltikum und
Finnland waren dem alten Europa zurückgewonnen. Die großdeutsche
Nation wohnte schon 1 9 1 7 nicht mehr am Rande des russischen Riesen­
reiches, sondern inmitten eines protestantisch-römisch-katholisch-freimau­
rerischen Europas.
Diese Leistung des europäischen Krieges hat der Weltkrieg nicht rück­
gängig gemacht.
Aber er ist über diese W elt der Europäer gekommen. Lenin und Wilson
sind über Europa aufgestiegen. Europa im ganzen hat eine ungeheure
Niveausenkung erfahren, Russen und Amerikaner sind entlastet von der
alten Vorherrschaft der europäischen Kriegsparteien. W o liegt nun die
Pflicht der übriggebliebenen Mannschaft Europas?
Vorweg steht fest, daß keine Wunschträume über die Antwort ent­
scheiden. Bloß neue Allianzen und andere politische Konjunkturen wür­
den das Programm des Weltkriegssoldaten und der Weltmobilmachung
nicht vollstrecken. Denn der Krieger kämpft für bestehende Ordnungen.
Der selbständige Bestand mehrerer Ordnungen, das ist der Sinn der er­
folgreichen Behauptung der Krieger Europas. Daß alle diese Ordnungen
— gleich stark und gleich schwach — gleichviel wert seien, das ist die
mit dem Tode bezeugte Wahrheit unseres Geschlechts.
Der Krieg und seine Opfer sind nicht rückgängig zu machen durch Ge­
danken. Keine „Umstellung“ auf neue Programme, auf großartige Schlag­
worte, auf revolutionäre Ideen kann diesen W all von Menschenleibem
durchbrechen, der die alte Heimat der europäischen Menschheit beschützt
hat. Sozialisten reden jetzt „Nie wieder K rieg“ . Nationalisten reden von
einer neuen Frontbildung der Bündnisse und Machtgruppen. Beide ver­
gessen das Blut, das geflossen ist. Nur dies Blut erweist den Geist, nichts
anderes, wie die Geschichte der Revolutionen erhärtet hat.
England, Frankreich, Italien, Österreich und Preußen bleiben im Ge­
dankenkreis des Krieges, weil er ihr Blutkreis auch noch 1 9 1 7 und 1918,
— also gegen die außereuropäische W elt — geblieben ist. Indem wir
Amerika kriegerisch, dem Bolschewismus moralisch widerstanden, haben
die Nationen sich verblutet. Meint man, der bloße W ille könne solch welt­
geschichtliche Tatsachen rückwärts revidieren? Ob die Sozialdemokraten
für oder gegen den Krieg waren, ist gleichgültig. Sie haben ihn gekämpft.
Ebert hat seine Söhne in ihm verloren. Ob die Nationalisten für oder
gegen den Marxismus sind, ist gleichgültig. Er war unser Bundesgenosse
im Weltkrieg. All das Blut unserer Soldaten ist auch 1 9 1 7 — 1918 für
die Geister Europas geflossen. Das entscheidet. Das ist das Blut, das
kittet, weil es für geistige Ordnungen vergossen worden ist.

7. W eltzeituhr
Auf den großen Fernbahnhöfen unserer Großstädte steht neuerdings die
„Weltzeituhr“ . Sie zeigt die Stunden, die es gleichzeitig in Jokohama,
New York, Berlin und Moskau schlägt. Zu diesem Zwecke ist das Ziffer­
blatt mit einer Landkarte vereinigt. Wenn der Zeiger vorrückt, so zeigt er
gleichzeitig auf den verschiedenen Punkten der Landkarte ihre Zeit an.
Für diesen Zweck mußte eine neue Landkarte entworfen werden. Die
Weltkarte in Mercators Projektion ist dazu unbrauchbar. Denn die Orte
des gleichen Wendekreises müssen in einem der konzentrischen Kreise an­
geordnet werden können, den der Zeiger umschreibt.
Mercators bekanntes Weltbild von 1569 — links Amerika, in der Mitte
Europa, rechts Asien — , die aufgeklappte Flächenprojektion des Erdballs
hat ausgedient. Sein W erk wird auf der Weltzeituhr durch die Ent­
faltung der Kugel wie eines Fallschirms vom Pol aus ersetzt. Die Mitte
der Weltzeitkarte bildet der Nordpol, ein weißer Fleck. Kein bewohntes
Land liegt in der Mitte, auf die der Blick doch zuerst fällt. Alle Kultur^
länder sind aus der Mitte gerückt. Sie liegen exzentrisch zu einem leer
gelassenen Mittelpunkt. Das W ort Europa verliert von da her seinen
Sinn. Es beginnt zu welken. Die Weltzeituhr hat das Weltbild der huma­
nistischen Neuzeit verabschiedet (S. 4 5 ff.).
Kein Land und kein Erdteil ruht mehr — wie bei Mercator — in sich
selbst. Alle strecken sich zum Pol hin oder scheinen abzuhängen vom Pol.
Die Verschiebung, die dadurch eintritt, trifft Europa besonders schwer.
Denn Asien und Amerika zentrieren unmittelbar auf den Pol zu. Und sie
gewinnen dadurch eine viel größere Nähe zueinander. Europa hält sie
nicht mehr auseinander. Die riesige Ländermasse zeigt an Europa vorbei,
über Island hält Rußland Verbindung mit Chikago, über Nowoje W rem ja
geht die Grade nach Japan. Die Karte der neuen Polarluftpoststrecken
entspricht der „W eltzeituhr“ . Europa wird auf ihr überflüssig. Europa
kann nicht einmal mehr das Vorgebirge Asiens heißen, wenn der Verkehr
zwischen den Hauptkontinenten Amerika und Rußland nördlich von
Schottland in Aussicht genommen wird.
Es ist gut, sich diese Weltlage zu vergegenwärtigen, die Europa ereilt
hat.
Von Rußland her treibt die Energie der bewußten Weltrevolution auf
die älteren Europäischen Gebiete zu.
Von den Amerikanern ist Europa besiegt worden. W ir empfangen da­
her weitgehend aus ihren Händen unser materielles Los. W ir müssep also
beide Mächte kennen. W ir können dabei an dem Ursprung Amerikas

5 2^
nicht Vorbeigehen. Der Abfall Amerikas 1776 ist für die Verfassungsge­
schichte Europas ein Vorgang, der in die Revolutionsgeschichte hineinge­
hört, wie Böhmens Abfall von Habsburg 1618 oder wie die Kommune in
Paris. Die Kommune galt ja den Bolschewik! ganz bewußt als eine Art
Versuchsfeld. Lenin hatte einen Kalender der Kommune stets bei sich,
um sich an ihrem Verlauf täglich zu orientieren. Standzuhalten wenig­
stens so lange wie die Kommunards von 1871, galt es; dann war die Ehre
gerettet! Weniger bewußt, aber funktionell ebenso wirkt der Abfall der
Kolonien in Amerika.
Der Freiheitskampf dort hat die Franzosen vorgeschult. Die fran­
zösische Revolution wird vorweggenommen, ohne doch die Bestimmtheit
der französischen Revolution zu erreichen. Es sollen 2 3 12 000 Englän­
der, Schotten, Iren, Holländer, Deutsche und Franzosen gewesen sein,
die 1770 in den „Staaten“ wohnten. Der Abfall bedeutete also damals
in der Tat den Aufruhr einer noch immer nur als Bruchteil des eng­
lischen Reichs zu bewertenden Volkszahl. Diese Amerikaner standen in
ihrer politischen Ideologie zwischen England und Frankreich, unter stär­
kerer geistiger Verwandtschaft zum Naturrecht der Franzosen. So ist
es bis heut geblieben. Deshalb ist Amerika geistig für die Europäer zu­
nächst ein Vorfall in ihrer eigenen Geschichte. Oben S. 29 haben wir dies
schon berührt. Europa hat in Jeffersons Unabhängigkeitserklärung die
eigene geistige und moralische Krise seiner Aufklärung zu einer Vorläu­
figen Lösung „nach den Gesetzen der Natur und des Gottes der Natur“
am 4 - Juli 1776 gebracht. Benjamin Franklin präsidierte der ange­
sehensten Pariser Freimaurerloge.
Inzwischen hat sich vieles geändert. Aber die bürgerliche Klassenideo­
logie ist geblieben. Der Erdteil Amerika ist nicht weniger bürgerlich und
naturrechtlich als jener Kongreß, der 1779 auf sein Papiergeld das Son­
nenstrahlen entsendende Auge Gottes, die freimaurerische Herdflamme
und die dreizehn Sterne der Staaten auf drucken ließ. Die amerikanische
Vorrevolution von 1776 bis 1783 — erst von europäischer Warte hat sie
den Namen „Revolution“ empfangen; ihren Kämpen selber war das W ort
noch ungebräuchlich — hat eine großartige Nachgeschichte. Hat man
doch die Natur hier so weit organisiert, daß man eine künstliche Haupt­
stadt, Washington, zu schaffen wagte. Man sieht, wie nahe wir den fran­
zösischen Gedankengängen sind. Auch die geschriebene Verfassung wird
in Nordamerika noch ernster genommen als in Frankreich. Sie steht seit
1787 in Kraft. Von damals bis 1918 ist sie nur dreimal durch Zusätze
weitergebildet worden, außer in der Katastrophe des Sezessionskriegs der
sechziger Jahre. In diesem Bürgerkrieg haben schließlich die Staaten
ihren Abfall durch eine tiefe Demütigung ausgleichen müssen. Auch sie
tragen also ihre Geschichte in so großen Zeiträumen aus wie die Euro­
päer! Trotzdem muß diese große Geschichte hier fortbleiben. Denn uns
genügt die Erkenntnis: die Amerikaner haben bereits einen scharf um-
rissenen chronologischen Ort in der Geisterwelt inne. Sie sind deshalb
trotz der gigantischen Entwicklung ihres Landes geistig so konservativ wie
die Franzosen. Sie sind deren Revolution verhaftet (vgl. oben über Penn,
S. 3 4 8 ). Mit England verbindet sie der Glaube an das englische „Blut“ .
Ein Nicht-Puritaner kann auch jetzt nicht Präsident werden (Schurz,
Smith). Der holländische Calvinist Roosevelt aber kann es. Das ist Bein
von ihrem Bein. Das „B lut“ ist eben geistig gemeint als das Geburtsrecht
des auserwählten Glaubensvolks Cromwells. Amerika bestätigt Europa!
Über den Ländern bilden sich in den großen Katastrophen geistige
Klimate aus, die über diesen Gebieten ein für allemal stehenbleiben.
Diese Klimate wissen sich aller bloß quantitativen und mechanischen Ein­
flüsse von Land zu Land zu erwehren. Sie bleiben Herr über Entwick­
lungen, die auf den ersten Blick umwälzend zu sein scheinen. Den
Sternenhimmel, den die Ideen der Freiheit von 1776 über den „Staa­
ten“ aufgerichtet haben, haben daher all die Riesen Eisenbahn, Auto­
mobil, Einwanderung, Ausbreitung, Kapitalismus noch nicht stürmen
können.
Gewiß ist dieser Erdteil heut mächtig, weit, großartig, gewiß bemüht
sich eine junge Generation in den Vereinigten Staaten, mit hohem Pflicht­
gefühl sich Yorzubereiten, um Europas Erbschaft anzutreten.
Aber die Geschichte der Völker folgt den eigentümlichen Druck- und
Spannungsgesetzen des Lebens der Art. Die Weiterschaffung des Men­
schen in Rußland ist zweifellos der noch ursprungshaltigere, bedrücken­
dem Vorgang als die wirtschaftliche Vorherrschaft Amerikas.
Amerika ist materiell der große beherrschende Faktor der uns bekann­
ten, von uns mit erschaffenen Welt. Geistig sind wir auf Amerika vor­
bereitet. Von Rußland her werden wir umgeschaffen und revolutioniert,
weil dort die Schöpfungsgeschichte des Menschen weitergeht.
W ir können uns gegen Rußland daher nicht verschließen, ohne die
Weltzeit, wir können Amerika nicht entbehren, ohne den Weltraum zu
verlieren. Im Kapitol in Washington sitzt die neue ökumenische W irt­
schaftsleitung, in Moskau sitzen die neuen dogmatischen Päpste unseres
Lebensheils.
Mit dem guten W ort von Colin Ross ist „die W elt auf der W aage“ zwi­
schen Amerika und Rußland. Aber wir sind in demselben Sinne wie einst
zur Zeit des großen Gregor zugleich wieder auf der Waage zwischen
Chronos und Ökumene, zwischen Zeit und Raum.

8. Front gegen Osten


Unsere Lage gegenüber Rußland ist entgegengesetzt der des napoleoni-
schen Zeitalters gegenüber Frankreich. ?
Seit 1800 siegten die französischen Ideen der Wehrpflicht, der Volks-
526
Vertretung, des Nationalstaates, der Demokratie in Europa. Die Idealisten
tanzten um den Freiheitsbaum, auch Hegel und Hölderlin. Napoleon
räumte mit dem morschen Reichsbau auf. Deutschland blickte nach Pa­
ris und eroberte es dreimal. Am Ende sah unser Reich fast so aus, wie es
die Franzosen jedem Staat wünschen: Unitarisch, demokratisch, triko-
lorisch, kapitalistisch und im Schatten der grande nation.
Auch die russische Revolution ist durch keine Vogelstraußpolitik weg­
zuwischen. Sie ist ein Element der Wirklichkeit, gegen das anzurennen uns
sehr schnell erledigen würde.
Aber sie ist ein materiales, kein ideales Ereignis. „Das Proletariat hat
keine Ideale zu verwirklichen“ (Marx). Es ist das wirkliche Gegenteil der
idealistischen Bürger.
W ir liegen, unglücklich angestrengtes Land der Mitte, also nun Front
gegen Osten und wissen: nicht Ideen, sondern Materie strukturieren und
konstruieren sich dort: Fünf jahresplan, Dumping, Städtebauten usw.,
1789 kam erst die Revolution, die bis zu Klopstock, Hölderlin und Schil­
ler die Deutschen freudetrunken machte, dann kam die Ernüchterung
der Napoleonischen Kriege.
Hier kam erst der Große Krieg, alsdann begann, 1 9 1 7 lebensrettend
für uns, die russische Revolution. W ir atmen seit 1 9 1 7 nur dank den
Russen Weltluft. Die Entente hätte uns sonst erstickt. W ir atmen seit
1 9 1 7 im Raum des Weltkommunismus. Aber wir atmen nur in ihm.
Denken, Fühlen, Art und Stil sind unser eigen geblieben.
W ir sind freilich kein souveräner Staat, auch ohne Tribute nicht. W ir
sind viel zu klein und unbedeutend dazu geworden in räumlicher und
zahlenmäßiger Größe. Die W elt kann auch ohne uns existieren, die fer­
tige W elt der großen Imperien.
Deshalb gilt es auch, von der Seite der Welt, von außen auf uns zu,
die Frage unserer Selbstbehauptung zu prüfen.
Die russische Revolution entsprang dem Bewußtsein. Sie ist „gemacht“
worden. Alle früheren Revolutionen haben sich erst hinterher klarmachen
müssen, daß sie stattgefunden und was sie angerichtet haben. Selbst die
Franzosen haben noch eine schützende Hülle in der Julirevolution i 8 3 o
wegreißen müssen, ehe das erschrockene Europa begriff, die Große Re­
volution von 1789 sei noch immer da und gegenwärtig. Ganz anders die
Russen. Die Russen haben 1906 im Bewußtsein die Revolution vorweg­
gelebt. Sie war noch fast buchstäblich ein „potemkinsches D orf“ . Denn
auf die durch den Film Potemkin berühmt gewordene Meuterei des
Kriegsschiffes „Potemkin“ , auf Plünderungen in Lettland, auf den roten
Sonntag in Petersburg mußte man sich beschränken. Es gab 190 b schon
Revolutionäre, aber zur Revolution reichte sogar der Kriegsverlust nicht
aus. Die gedankliche Verfrühung ist seitdem das Los des Bolschewismus.
Diese „Verfrühung aus Bewußtheit“ ist ein Merkmal, dessen man ein-

527
gedenk bleiben muß, um der russischen Revolution gegenüber standzu­
halten. Denn die „Verfrühung“ allein bleibt unwirksam. Der Revolutions­
vollzug bleibt abhängig von der Reife der Welt. Die Revolutionäre woll­
ten die Umwälzung „machen“ . Sie haben es nicht gekonnt. Das Bewußt­
sein steht neben der Wirklichkeit. Statt seiner bat der Weltkrieg die Re­
volution gemacht. Er ist die Weltrevolution I Das können auch wir be­
jahen. Der Weltkrieg lieferte Lenin erst in der Totalmobilmachung
des russischen Reiches die Fähigkeit zur Aktion. Nun konnte er Revolution
machen. Aber sofort ergab die verfrühte Bewußtseinslage eine neue
Schwierigkeit, nämlich die Agrarreform richtig zu regulieren.
Die Bolschewiki wußten vorher, daß die Sozialisierung des Bodens
nötig sein werde und nicht die Verteilung des Landes an die Bauern. Aber
1 9 1 7 teilten die Bauern das Land einfach auf und warteten auf keine
Dekrete aus Petrograd oder Moskau. Was tun?
Die Verfrühung ihres Bewußtseins zwang die Bolschewiki, „teuflisch“ ,
d. h. wider besseres Wissen zu handeln. Sie „stahlen“ einfach den Sozial­
revolutionären ihr politisches Programm, die Landverteilung, wie diese
wehklagten, und bestätigten zunächst die Landaufteilung, um sich an der
Macht zu behaupten.
Rosa Luxemburg hat dieses Handeln wider bessere Einsicht von
Deutschland her beobachtet und mißbilligt. Sie war bis dahin mit Lenin
einig. Aber wie kann man Sozialismus wollen und das Privateigentum
hersteilen?, fragte sie sich. Das verwirrte sie. Seitdem tritt den Russen
dies „Grinsen“ immer wieder auf das Gesicht, das man dem Teufel
nachsagt. Es muß das Gesicht dessen verziehen, der vom Ende her denkt
in einer Welt, die einem nicht den Gefallen tut, bereits zu Ende zu sein.
Die Bolschewiki haben so starre, dogmatische Endvorstellungen, daß sie
keine einzige heutige politische Tat ganz glauben, ganz ernst nehmen
können. Alle ihre eigenen Taten sind opportunistische Maßnahmen, um
die noch „unreifen“ Gegenkräfte zu düpieren, zu schwächen, zu gewinnen.
So geben sie den Bürgern eine Gnadenfrist, so den bürgerlichen Spezia­
listen. Sie erteilen Konzessionen an Ausländer, sie berufen Ausländer.
Alles dies geschieht als Raubbau, als Kriegslist, als Provisorium. Sie wol­
len und werden niemandem die Treue halten. Vom „Endsieg“ her ge­
sehen ist alles Vorhergehende reiner Kriegszustand, in dem jedes Mittel
erlaubt ist. Dies das Unheimliche der Bolschewiki.
Ganz umgekehrt ist unsere Lage. W ir entbehren der „Vorstellungen“
über das Endziel. Von „Endsieg“ zu reden, erschiene uns lächerlich. Un­
ser Geschick steht im Zeichen des ,,vorstellungslosen Leidens“ , wie man
schön gesagt hat. Alle Versuche, uns mit Rezepten zu kurieren, mit End­
formeln und mit Programmen, müssen fehlschlagen. So kriegsziellos wie
den Weltkrieg, so „vorstellungs“ los erleiden wir die Weltrevplution. Ge­
rade das ist unsere antibolschewistische Rolle in ihr. W ir können nur so
528
die Verfrühung im Bewußtsein der Weltrevolutionäre aufwiegen. Ihre
Ideologie geht uns eben deshalb nichts an. W ir haben gerade zu verlang­
samen und zu verspäten.
Aber gerade diese Gegnerschaft weist uns die Aufgabe zu. W ir müssen
gläubig — ohne Endsieggewißheit, ohne die gewaltsam verfrühende Logik
der dialektischen Methode, aber auch ohne billige Ideologie oder eigen­
sinnige Wunschträume — an die Arbeit gehen, zwischen Idealisten und
Materialisten, zwischen Bürger und Proletariat hindurch, in das Leben,
das uns geschenkt ist.
W ir haben uns im 1 9. Jahrhundert materiell-imperialistisch in Europa
behauptet, aber vielfältig uns idealistisch an die Ideen von 1789 — z. B.
im Nationalismus — verloren. W ir werden uns im 20. Jahrhundert see­
lisch-bewußt zu behaupten haben, trotzdem wir uns materiell-funktionell
eingliedera müssen in die Welt.
W ir sind als Ganzes ein Proletariervolk, d. h. unser Dasein hat keine
selbständige Grundlage mehr. Alle Versuche, sie zu finden, haben sich
als ungangbar erwiesen.
Man muß von der ökonomischen Geschichtsauffassung lernen, aus der
Totalität der W elt heraus zu denken. Man muß von den größten W elt­
zusammenhängen her für Deutschland im Kreis der Völker eine Funktion
finden. Die Aufgabe ist freilich eine ungeheure: Die Heimat, bis dahin et­
was unmittelbar Selbstverständliches wie das eigne Fleisch und Blut, wird
jetzt zum Ausschnitt und Anteil an der Erde. Das eigne ererbte Vaterland
muß den Deutschen zugleich zum neu geschenkten Anteil an der Erd­
kugel werden. Das deutsche Land tritt erst jetzt für das geläuterte Ge­
fühl der Deutschen zurück in den Schoß der Mutter Erde. Die Heimat
hört so auf, der archimedische Punkt zu sein, von dem aus das einfältige
angebome Denken die Länder der Erde als Fremde vor sich gebreitet sah.
Andernorts habe ich dies Geschick eingehend dargestellt. Hier muß die
weite Perspektive genügen:
Dazu darf man nicht von uns her, sondern man muß aus der gesam­
ten W elt auf uns zu den Plan anlegen. W ir gehen sonst einer Verödung
und Selbstzerfleischung entgegen. Um 180 nach Christi, unter Kaiser
Marc Aurel, als der Kirchenvater Origenes schon schrieb, ließen national­
gesinnte Spartaner in Lakedämon, dem Distrikt der römischen Provinz
Achaja, das Altdorische aufleben (Mommsen Röm. G. V 4, 268). W ie stolz
mögen sie über dies lächerliche Kinderspielzeug gewesen sein, während im
römischen Reich und in der christlichen Kirche der Lebenskampf zu fech­
ten war.
Die Weltmobilmachung hat der einzelnen Nation in der W elt eine Auf­
gabe zuerkannt, kraft deren die Nation eine neue, bisher unerhörte, dritte
Gestalt gewinnt Kirchennation im Mittelalter, Staatsnation in der Npuzeit,
muß sich die Nation in der Endzeit des gesellschaftlichen Zustandes zur
34 Rosenstock 529
Erziehungsnation umbilden, zur Gegenspielerin gegen die hemmungslose
Verwirtschaftung des Menschen.
Der Weltkrieg als Revolution wird nur dann bewährt, wenn diese dritte
Form der Nation als die Aufgabe erfaßt wird, die jenseits des Weltkrieges
neu bewältigt werden muß. Sie muß es aber deshalb, weil wir aus einer
„Neu“ zeit mit französischem Ideenhorizont hinübergetreten sind in eine
„End“zeit mit russisch-bolschewistischem Materialhorizont. Wieder müs­
sen wir einer fremden Revolution die Antwort geben, wie Hegel und
Schlegel vor io o Jahren; die Antwort muß unsere geschöpfliche Eigenart
und unsere Weltaufgabe in der herrschenden Weltatmosphare behaupten
und eben zu diesem Zwecke fortbilden.
Noch einmal muß Deutschland sein Weltschicksal, muß es die Welt­
geschichte bejahen lernen. Weltgeist, Weltgericht, Weltgeschichte — das
waren noch 1789 Hegels, Schillers, Rankes Weltworte, um der französi­
schen Revolution zum Trotz das Absinken der Deutschen zur bloßen zu­
fälligen Nation zu verhindern. Die Weltmobilmachung und Weltordnung,
die aus Weltkrieg und Weltrevolution entspringt, muß heut wieder dies
Absinken der Nation in den Zufall verhindern.

9 . Creator Spiritus
Nach jedem Umsturz existiert ein neuer Mensch, den die W elt vorher
nicht gekannt hat; ohne Zusammenhang mit der früheren Menschheit
trägt dies Menschenbild neue unerhörte Züge. Es ist, als habe der Schöp­
fer — ohne die älteren Ebenbilder seiner Allmacht zu verleugnen — die
Schöpfungsgeschichte fortgesetzt und die Menschenart weiter geschaffen.
Vor dem neuen Gesicht graust es die älteren Arten; so wie sich heut der
Bürger vor dem Bolschewisten bekreuzigt, so hat den Ghibellinen vor
den Guelfen geschaudert, den Konservativen vor den Revolutionären, den
königstreuen Protestanten vor den englischen Königsmördern und — na­
türlich — den römischen Katholiken vor den Protestanten. Und in der
Tat: diese Menschen haben einen anderen Geist. Und jeder reizt den an­
deren zu unendlichem Widerspruch. Vertragen können sie sich nie. Aber
ertragen müssen sie sich. Denn sie leben in derselben Ordnung einer ein­
heitlichen Welt, aus der sie entsprungen und in die sie hineingeschaffen
sind. Die Totalität der Wirklichkeit kann keine Abart verleugnen.
Die Charaktere dieser Erdenbewohner bleiben nur so lange lebendig, als
sie dies Joch anerkennen und auf sich nehmen. Nur als vernünftiger
Dienst ist die Charakterfestigkeit der europäischen Nationen erträglich.
Die Art kann entarten. Gegen die Entartung der europäischen Volks­
charaktere rufen uns auf die Geister, die bei ihrer Geburt Pate gestanden
haben.
Geister binden neue Einheiten und lösen alte auf. W ir nennen pun die
Geister der Revolution, kraft deren Wehen der einzelne und die Massen*
53o
die Nationen und die Klassen ihrer Sendung innegeworden sind. Wenn
Enthusiasmus „Geisterfaßtheit“ heißt, so ist Enthusiasmus die schaffende
Kraft unserer Geschichte. Enthusiasmus hat die Revolutionen und Kriege
möglich gemacht, die ohne Selbstvergessenheit nie möglich gewesen wä­
ren. Der nüchterne Mensch kann weder Krieg noch Revolution begreifen.
W ofür opfern sich Millionen? Wem dienen die Millionen? Heut heißt der
Unbekannte das Klassenbewußtsein. Aber alle früheren Kämpfer hat er
zum Kampfe gestählt. Nur er kann Millionen eines Sinnes machen. W o
er fehlt, bröckelt die Nation oder das Volk oder die Rasse oder die Menge
in liebesleere, kraftlose, einander zerfleischende Interessenten auseinander.
Das Klassenbewußtsein ist „transpersonal“ . Das heißt, es verbindet
widerstreiteöde Interessen; verschiedene Sprachen, Geschlechter und Ge­
bräuche werden von ihm eingeschmolzen. Es schafft eine total neue Lage.
Aber das Klassenbewußtsein steht in einer Reihe.
Was heut
1. Klassenbewußtsein heißt, das haben frühere Zeiten berufen als
2. Zeitgeist Esprit contemporain (und „Aufklärung“ ),
3 . Public spirit (Volksgeist),
4 . Gewissen und Lehre (Geist der Wissenschaft),
5 . Spiritualität (Mystik, Bettelmönche),
6. Geistliche Gewalt (Gladius spiritualis) und
7. i o 5 o haben wir den Anruf vernommen gegen die Simonie: Komm,
Freiester aller, Geist, verwandle die Kirche.
Damals ist zum ersten Male politischer Geist öffentlich beschworen
worden, weltverwandelnder Enthusiasmus. 8 5 o hatte Hrabanus Maurus
den Schöpfer Geist, den Creator Spiritus, im Pfingstiied angerufen (S.
202):
Komm, heiliger Geist, du schöpferisch,
De 1 Marmor dieser Form zerbrich.
*

Noch in diesem Lied weht der Geist innerhalb des geweihten Bezirks der
Kirche. Seit i o 5 o werden Ketten und Formen der weltlichen Ordnungen
zerbrochen, unter dem Wehen „öffentlichen Geistes“ .
Seitdem ist der Geist wirksam geblieben, nicht nur als „Vita vitae omnis
creaturae“ , wie Hildegard von Bingen gesungen, als „des Lebens Leben“ ,
wie Goethe das übersetzt hat, sondern auch als politische Kraft im Haus­
halt der Menschheitsgeschichte.
Ist der „Geist“ nun einfach immer bösartiger mißbraucht worden? Ist
KJassenbewußtsein noch Geist? Ist die spätere Verwendung des gleichen
Wortes nur ein Hohn?
Es ist kein Spott. Der Geist ist nicht zum leeren W ort herabgesunken.
Er ist das Gegenteil eines Wortes geblieben. E r verharrte als übergleifen-
der Name. Namen aber bekunden — darin sind sich Altkirchliche und
34 531
Marxisten einig — immer eine wirkliche gesellschaftliche F unktion. —
Mit Worten läßt sich trefflich streiten. Auf Namen aber berufen sich die
Menschen, um sich zu trennen und um sich zu vereinigen. Auf jene sieben
Geister haben sich Millionen berufen, um sich zu opfern.
Auf allen Gefällstufen blieb sein Name der Herr, die Individuen seine
Diener. Er formt uns, nicht wir ihn.
Gerade dort, wo man die Erniedrigung des Geistes versucht wäre zu
erwarten, gerade dort erhebt er sich zur vollen Herrschaft über die ein­
zelnen und erzwingt von ihnen jedes Opfer und jeden Heroismus: Im
Klassenbewußtsein der Marxisten und im Freigeist der bürgerlichen Ge­
sellschaft.
Es verlohnt sich, diesen Satz außer Zweifel zu stellen. Hängt doch an
ihm Einheit und Wiederkehr des Völkerlebens. Vom russischen Nihilisten
sagt Karl Nötzel: „Den Russen kennzeichnet ein untrüglicher Wirklich­
keitsblick in Vereinigung mit jenseits aller faßbaren Wirklichkeit liegen­
den Zielen. Am klarsten gelangt das zum Ausdruck im Nihilismus, der
streng materialistischen Welterklärung mit der Forderung eines opferwil­
ligsten praktischen Idealismus vereinigt. Es gibt nichts, was bezeichnender
wäre für das geistige Rußland in seinen religiösen Wurzeln.“ Aber viel­
leicht hört man lieber ein Selbstzeugnis.
Vom Klassenbewußtsein sagt ein radikaler Marxist, Georg v. Lukacs1,
im Kampf gegen die Opportunisten: „Die K raft der Partei ist eine mora­
lische . . . Sie wird vom Vertrauen der spontan-revolutionären Massen ge­
speist, von ihrem Gefühl, daß die Partei die Objektivation ihres eigensten,
ihnen selbst jedoch noch nicht ganz klaren Willens, die sichtbare und or­
ganisierte Gestalt ihres Klassenbewußtseins i s t . . . Die Opportunisten. . .
sprechen — in echt kleinbürgerlich-freidenkerischer Weise — höhnisch
vom „religiösen Glauben“ , der dem Bolschewismus, dem revolutionären
Marxismus zugrunde liegen soll. In dieser Anklage liegt das Eingeständnis
der eigenen Ohnmacht. Diese von innen durchhöhlte und zerfressene
Zweifelssucht umhüllt sich vergebens mit dem vornehmen Mantel einer
kühlen und objektiven,Wissenschaftlichkeit4. Jedes W ort und jede Gebärde
verrät bei den Besseren die Verzweiflung, bei den Schlechteren die innere
Leere, die hinter ihr steht: die vollständige Abgelöstheit vom Proletariat,
von seinen Wegen und von seiner Berufenheit. Das was sie Glauben nen­
nen und mit der Bezeichnung der „Religion“ herabzusetzen trachten, ist
die Gewißheit des Unterganges des Kapitalismus, die Gewißheit der am
Ende siegreichen proletarischen Revolution. Für diese Gewißheit kann
es keine „materielle“ Gewähr geben. Sie ist uns nur methodisch — durch
die dialektische Methode garantiert. Und auch diese Garantie kann nur
durch die Tat, durch die Revolution selbst, durch das Leben und Sterben
für die Revolution erprobt und erworben werden. Einen Marxisten der
1 Ich habe die Stelle ohne Sinnänderung ein wenig gekürzt.

532
Gelehrtenstubenobjektivität kann es ebenso wenig geben wie eine „ n a tu r-
gesetzlich“ g aran tierte Sicherheit des Sieges der W eltrevolution » . . l n ihrer
geistigen und m oralischen M inderwertigkeit sind die O pportunisten eben
außerstande, sich selbst und den A u g en blick ihres H andelns als M om ent
der T otalität des Prozesses zu erblick en : D ie „N ied erla g e“ als notw endigen
W eg zum S ieg e.“
In die S p rach e des C hristen kann der letzte Satz w örtlich übergehen,
ebenso in jeden einzigen frü heren G eisteskam pf. M ärtyrer, K reu zfah rer,
Franziskaner, Gustav Adolfs L u th erische, die echten K äm p fer fü r 1 7 8 9
wissen alle „sich selbst und den Augenblick ihres Handelns als M om ent
der T otalität des Prozesses, ih re persönliche N iederlage als notwendigen
W e g zum Siege“ .
Auch der „ F re ig e ist“ weiß das, e r, bei dem es vielleicht ebensowenig
sich von selbst versteht wie beim P ro letariat. Auch er h at ein Gesetz über
sich. D enn d er echte F re ig e ist sag t nich t etw a d ein G eist d arf die W e lt
einrichten — das m einen die bequem en K leinbürger, O pportunisten, Skep­
tiker — sondern n u r d u als F reig eist d a rfst das, behauptet 1 7 8 9 . D as
h eiß t ab er: D u zahlst d a fü r den P re is des völligen Alleinseins m it deinem
Geist, die Entw urzelung aus aller Ü berlieferung. Alle W u rzeln des H erkom ­
m ens m u ß d er radikale F re ig e ist zerschneiden. Von G eorges G lem enceau
ging das G erücht, e r wolle stehen d begraben w erden. D er T od als eine
bloß herköm m liche T atsach e w ird n ich t anerkannt. G enau so lä ß t Ed m ond
R ostand, d er erfolgreich ste D ram atik er d er D ritten Republik den F reig eist
C yrano de B e rg e ra c n ich t n u r stehend sterben, nein e r m a ch t ihn so g a r
zum R ep o rter des eigenen T o d e s: C yrano selber s a g t: „ W o h la n denn,
m eine C hronik setz ich f o r t : U nd heute S am stag in der Abendstunde fiel
H err von B e rg e ra c d u rch M euchelm ord.“ A uch d er T od d a rf den G eist
nicht beugen. H at er, C lem enceau — diesen T od g e m a ch t? Also leugnet
e r ihn. In diesem T rotz ru f t e r wie P ro m e th e u s: H at m ich n ich t zum
Manne geschm iedet die allm ächtige Zeit, deine H erren und m e in e ? H ier
sitze ich, fo rm e M enschen n ach m ein em B ild e.“ So ist d er F re ig e ist als
R ation alist und unhistorischer M ensch nich t etwa d er vernünftige Sieger,
sondern e r ist d er K äm p fer f ü r den Sieg d er V ernunft. N icht e r will siegen
als Staubgeborener, sondern e r k äm p ft bis zum letzten Atem zuge, dam it
das L ich t in die Zeit scheint. E r m u ß also einzig dieser V ernunft seiner
Zeit sich hingeben. D en Z eitg eist m u ß er daher aus sich herausleben, ihn
aber, den Z eitgeist, d afü r ganz rein. D enn n u r aus d e r R ein h eit des Z eit­
geistes entsp rin gt d er Genius seiner S ch affen sk raft. M ithin ist au ch der
F reig eist ein K ä m p fe r und ein op ferb ereiter D iener des Geistes. D ies aber
stellt ihm dem P ro le ta ria t gleich. D ie älteren Revolutionsgeister h e r r ­
schen in d er gleichen A rt. Sie verlangen von ih re r G efolgschaft erst re ch t
D em ut und Selbstbescheidung. B ei ihnen ist das auch nie bestritten
worden.

533
D er E n glän d er o p fert dem Volksgeist, dem unlogischen Urw ald seines
Herkommens und der „Vorurteile“ . Bein Geist weht also nur innerhalb
des christlichen Volkes. Er ist m attgesetzt, wo er diese Sprache nicht
sprechen kann. Public spirit haben h eiß t also verwurzelt sein und n u r aus
angestam m ter E rd e sich ernähren.
Aus Gewissen handelt d er deutsche W ah rh eitssu ch er. A u ch w enn es
ihn die sichtbare K ir c h e , die G em einschaft m it den N ächsten kostet, be­
steht e r auf dem G rundsatz seiner gewissenhaften Erkenntnis. D em Geist
d er W issen schaft treu b rin g t der P ro testan t sich selbst diesem G eist zum
O p fer; e r verküm m ert eh er darüber.
Die Spiritualen opfern ihren Besitz. D as geistliche Schw ert vollends
bringt im Zölibat die leibliche N achfolge zum O pfer. Die natürliche Ge­
schlechterfolge wird geop fert, dem Glauben an den E rfo lg d er käm pfen­
den K irche. (Siehe fü r das einzelne wieder die W o rte von L u k a c s !)
Geist heischt G ehorsam . W e r keinem überpersönlichen G eist g eh orch t,
kann die W e lt benutzen, aber er kann d ie W e lt n ich t verändern. Denn er
bleibt m ateriell an die bestehende W e lt gebunden. Also verschm äht den
direkten E rfo lg , wer sich dem G eist anvertraut. Je d e r geschichtlich we­
sentliche M ensch w eiß, d aß e r n u r als F u n k tio n är eines G eisterreiches
E rfo lg haben kann.
Sonst kann nichts „gescheh en“ . K ein an d erer wird ihn begreifen, wenn
er selbst nich t erg riffen ist.
N ur w er sein Leben als A m t lebt, kann es w irksam leben.
D er klassenbewußte P ro le ta rie r will keinen E rfo lg fü r sich. So steht
und fällt e r m it dem E rfo lg dieses Klassenbew ußtseins, das ih m seine
F u n k tio n erteilt hat. Besitz, Reserven h a t e r keine. D e r P rie ste r o p fe rt
seine Söhne und T ö ch ter, denn seine K irch e wird geistliche K in d er haben.
Die freie T a t aus G ew issensnot w ird das Volk und L an d frei m ach en , auch
wenn die heilige E in fa lt den G ew issengetriebenen verkennt. D er „ F r e i­
geist“ h a t alle S ch riften d e r T radition h in ter sich verbrannt. E r bau t au f
sich allein.
Jed en treib t d er G eist, d er die Z eit erfü llt. D ad u rch kann d er G eist
die Zeit, in d e r sich die G eschichte erfü llt, m it im m e r neuen G estalten be­
völkern. A ber n u r die treibt d er G eist, die ebenso bereit sind, fü r ihn zu
sterben wie f ü r ihn zu leben und die d em G anzen dienen.
K ein von ih m geschaffenes Volk ist geist- und gottverlassen, solange es
ihm , dem S ch ö p fer, die T reue hält. E r will das Sterben in den B ü rg erk rie­
gen der M enschheit, d am it die M enschen w ieder leben, ein G eschlecht, das
ihm gleich sei. E r b ra u ch t Gewalt, um diese ihn immer wieder im S tich
lassende m enschliche G esellschaft stets neu zu überw ältigen. E r sch ließ t
in friedliche O rdnungen ein, die sich seinen O rdnungen nich t gewaltsam
entreißen. A ber die anderen sch lägt er m it d er S ch ärfe des Schwertes.
Seine Schlüsselgew alt und seine Schw ertgew alt verwalten Leben und

534
Tod auf der E rd e. Dies also erklingt als ScM ußakkord aus allen Sch öp­
fungsakten: U nsere A rt wird beides, ersch a ffen und vernichtet, von dem
Geiste, von dem Hildebert von L e Mans ( f i i S ' ] ) schon sa g t: „B an d das
G ott dem M enschen knüpft, K ra ft, die den Menschen der U rk ra ft eint,
Tu crederis om nium Ju d e x , Qui crederis om nium O pifex.“ (M igne 1 7 1 ,
i 4 i 6.)
Am Abend des europäischen Sechstagew erkes, das die Nationen voll­
b rach t haben und vollbringen, frag e ic h :
W ie denn gab der G eist einer jeden das A m t und die V o llm ach t?
E r m ach t die Individuen und die M assen, G eschlechter und Schulen,
Heere und Städte zum Schem el seiner F ü ß e , wenn die Z eit da ist, einen
neuen T ritt apf diese E rd e hinab zu tun. E r erre g t U nfrieden m it dem
Bestehenden und sch ließt einen neuen Bund m it den E rreg ten .
D er L eh m , aus dem w ir gleichgültigen Erdm en sch en gem ach t sind,
wird überström t von den F lu te n des Geistes, und neue M enschen stehen
auf und wandeln. So wird w ieder ein neues Volk, entsprungen aus bluti­
g er K elter des K rieges, aus w ildem W eh en der R evolution. Aber diese
G eschöpfe wissen dann um ih re E rsch affen h eit. Sie sind gehorsam . Und
nur der G ehorsam kann die Z eit erfüllen. Als das Eisen, das geschm iedet
wird, als das K o rn , das gesät w ird, als d er T ritt, der getreten w ird, w er­
den die G ehorsam en des G eistes neu m äch tig und von ihm bevollm ächtigt.
W eh e aber den G eschöpfen, die dann das W o r t verleugnen, m it dem
schon Lebuin die Sachsen an die G eschichte d er W e lt b e rie f: „ E r h at uns
gesch affen und n ich t w ir uns.“
H ingegen w er des U rsp ru n gs eingedenk bleibt, findet im Alltag die
Quellen wieder, die ihn lebendig erhalten können, weil sie ihn ersch affen
haben.
So wie alles einm al E rsch affen e, Sonne Mond und alle K re a tu r, vergeht
auch die menschliche A rt nich t, sondern kann, Volk um Volk jahraus
jah rein , w iederkehren.
D as W u n d erb are an d er G eschichte ist d ah er n ich t/ d aß g ro ß e und
außerordentliche E reignisse uns bestürzen, erheben oder entsetzen. D as
W u n d erb are ist, d aß w ir d u rch diese g ro ß en Ereign isse um gew andelt und
erneuert weiterleben d ürfen. D as A ußerordentliche geschieht als U rsp ru n g ,
dam it sich das O rdentliche daraus ausbreite und verallgem einere und ent­
wickle.
W o nichts O rdentliches aus einem E reig n is w ird, d a h a t sich n ich ts
A ußerordentliches ereignet. Die G eschichte ist G egenw art. Ist sie es n ich t,
so m ag sie vergehen und vergessen w erden. M an kann also nur sow eit stolz
auf die G eschichte des M enschengeschlechts sein, als m an sie w ieder zu
leben und zu beleben un ternim m t. En tw ed er W eitersch affen oder W ie d e r­
sch affen m üssen w ir in jedem Augenblick. Die lateinische Sp rach e j|ennt
das W eitersch affen ein V oraussein, „p rae-sen tia“ . U nd das W ie d e rsch a f-

535
fen nennt sie repraesentatio. Unsere, der Menschen G egenw art, setzt sich
zusammen aus einem Voraussein und einem W iederdasein . Was in unse­
rem Dasein nicht wieder da ist, was also nicht zur Repräsentation gelangt,
das greift voraus, um sich statt durch Enkelsein ( = R epräsentation) als
Ahn einer neuen K ette zu behaupten. Die reine Präsenz gibt dem Erblosen
die E rw artu n g , in Zukunft wieder d a sein zu dürfen.
Zwischen Enkelsein und Ahnherrw erden haben wir die W a h l. Hingegen
wäre es ein unseliges M ißverständnis, weder Ahn noch Enkel sein zu wol­
len. Das ist die Sünde des Einm aligen, d aß es zwischen Beidem sich be­
haupten zu können glaubt. Alle V erirrungen dieses Einaltrigen, n ich t auf
W iederkehr angelegten V erhaltens führen zu den Zusam m enbrüchen in
der Geschichte. W o aber Hingabe an die Wiederkehr des Lebens w altet,
da löst die G eschichte die ungewöhnlichsten und außerordentlichsten R e­
volutionen in eine alltägliche erneuerte G egenw art auf.

536
S T IC H W O R T V E R Z E IC H N IS
Bei den Personen sind die Lebensdaten, bei Regenten die Regierungsdaten angegeben

A ach en , Kapelle in 2 9 , 4 0 ,1 0 9 ,1 1 2 ,1 5 0 , B a c h , J . S. (1685— 1750) 427, 499.


328. Bakunin (1814— 1876) 13, 4 4 6 , 454.
A bailardus (1079— 1142) 3 2 9 ff., 335. B alzac, H . de (1799— 1850) 3 0 5 , 385.
Abendland 1 1 , 32 ff, 117. Baronius (1538— 1607) 108.
A ch tstundentag 466 ff. B artholom äusnacht (1572) 319.
A dam 2 8 2 , 373 f. Basilius (330— 379) 171.
Adel 8 1, 8 7 , 88, 9 1, 1 8 5 , 222, 2 2 4 , 2 7 1 , B astille ( 1 4 .7 .1 7 8 9 ) 7, 9 , 2 3 , 3 0 , 311,
3 0 5 , 3 1 9 f f .,.325, 3 4 6 , 3 5 2 , 4 4 5 , 4 5 4 ff., 327.
515ff. B auern 4 7 , 1 8 0 , 1 8 3 , 3 3 7 , 3 5 1 , 355,
A d vocatu s diaboli 156. 4 3 4 ff., 4 6 3 ff., 487.
Adelsrevolution 1 2, 261 ff., 407. Bauernkrieg (1524/5) 2 2 ,1 4 9 ,1 7 2 , 2 0 2 f.,
Akadem ie, P ariser (gegr. 1635) 334. 2 2 1 1 , 226.
A kadem iker 2 1 2 ff., 2 3 4 ff., 3 1 4 , 4 1 6 ff. B au m stark , Reinhold (1831— 1900) 4 1 7 .
Alleluja, das große 175. B ayern 1 5 7 , 2 3 4 1 , 2 4 3 , 4 0 3 , 413.
A ltarbild 179. B eam ter 186, 1 9 7 , 2 0 3 , 2 3 4 ff., 3 0 0 , 4 6 3 ,
A ltes T estam en t 1 0, 257, 373. 502.
A ltkatholiken 119. B eaum archais (1732— 1799) 2 9 7 , 3 0 8 ,
A m erika 2 9 , 3 2 , 4 3 , 72, 1 9 2 , 2 2 2 , 259, 321.
291, 298, 3 0 8 , 3 4 9 , 3 5 0 , 5 2 5 f. B eethoven (1770— 1827) 3 8 0 , 4 2 8 1 , 499.
A m t 9 1 , 2 3 4 ff., 5 3 4 ; das „zw eite A m t“ Bekenntnis 2 2 7 , 229.
1 9 8 f. Belgien 6 , 2 9 1 , 3 1 8 .
A narchism us 75, 3 3 8 . Belloc, H ilaire geb. 1 8 7 6 . 316.
A ncien régime 1 0 , 261 f., 3 5 4 , 3 6 4 ff., 3 7 4 , B enediktiner 1 2 7 1 , 174.
3 7 6 , 382. Berlin 2 3 3 , 429.
Anglikanische K irche 259, 5 0 2 , 511. B erth o let (1827— 1907) 382.
A n tich rist vgl. Eschatologie 1 8 , 8 7 , B etrieb 4 5 8 , 4 6 6 1
1 9 4 , 2 2 6 , 3 8 8 , 4 80. Bew ußtsein s. Geist.
A ntithese s. D ialektik. Bibel 9, 9 6 , 1 6 0 , 2 5 7 , 4 6 6 .
A postolisch, Apostelgleich 41, 1 0 9 , 1 2 7 , Binnenreich 4 0 , 1 2 5 ff., 1 9 6 1 , 2 4 9 , 254.
1 3 4 , 173. Biographie 2 8 1 , 463.
A rb eiter, A rb eitsm ark t 47, 3 5 4 , 4 4 7 ff., Biologie 1 4 7 , 4 7 2 , 5 1 4 , 5 1 7 , 520.
457 ff. B irth rig h t 2 5 7 , 2 6 0 .
A rbeitszeit 4 6 3 ff. Bischof, B istu m 1 3 , 2 7 , 1 0 9 1 , 1 1 2 , 1 2 1 ,
A ristok ratie s. Adel. 1 2 4 , 1 2 7 1 , 1 3 0 / 1 4 4 , 1 5 0 f l , 196 ff.,
A rm u t 1 5 5 1 , 1 6 0 , 179, 4 5 5 ff. 2 1 0 1 , 2 1 5 , 2 7 1 , 275, 2 8 5 , 3 1 8 , 3 3 0 ,
A rt (Rasse) 6 7 ff., 1 4 7 , 1 9 1 1 , 1 7 8 ff., 381
5 0 5 ff., 517. B ism arck (1815— 1898) 4 6 , 5 6 ,1 4 0 , 1 6 2 ,
Assisi 179 ff. 407, 415, 418.
A stronom ie, A strologie 3 , 7, 18, 3 0 , 3 9 7 , B lackstone (1723— 1780) 266.
46 6 . B lu trach e 1 0 9 1 , 1 1 7 , 118
Atheism us 3 6 2 , 4 4 8 , 4 5 7 , 460, B odin (1576) 2 3 0 , 241.
A thosklöster (10. J h d .) 107, 1 1 6 , 131. B öhm en 1 2 5 , 2 0 3 1 , 2 4 1 1 , 2 4 5 , 2 4 9 ,
A ufklärung 3 5 9 f l , 4 7 3 , 525. 3 9 9 ff.
Augsburger Religionsfrieden 25, 1 9 9 , B o h r (geb. 1885) 31.
2 1 4 , 22 7 , 2 3 0 , 2 3 9 1 Börse 2 5 7 , 3 0 2 , 3 8 6 .
A ugustus, K aiser 1 3 4 , 185. B ologna, U n iv ersität 4 4 , 1 4 7 , 1 5 0 ,
Ausstellung 3 6 6 ff. 1 5 5 f f . , 1 7 0 , 1 7 5 ,1 8 4 , 329.
A utonom ie als 1 . 1 . 241. Bolschew ism us 12 , 1 9 , 2 1 , 1 4 7 , 433 ff.
A u to ritä t 1 0 9 , 1 3 2 , 1 8 5 , 4 7 3 . bon, bonheur, bonsens usw. 8 4 , 3Q7, 4 7 1 ,
A ve M aria 1 7 5 1 4 7 2 473.
A vignon 2 8 , 3 0 , 3 1 , 1 4 9 , 1 8 8 1 Bonifaz V I I I . (1295— 1303) 2 8 ,1 8 8 , 2 2 2 .

537
Bourgeoisie 9 , 1 4 , 1 7 , 2 8 , 7 7 , 87, 3 5 2 , Condorcet (1743— 1794) 13, 3 4 6 , 4 0 8 ,
3 7 5 , 3 7 9 , 38611, 4 3 8 1 454.
B oxen 304, Convent, K on ven t, Convenant, Conven­
B rah m s, Joh an n es (1833— 1897) 4 9 9 1 tion-N ationale 2 6 , 2 8 5 , 339 f l
B revier 1 1 2 , 13 3 . Corv4e 323.
Britannien 6 3 , 348 s. England. Countie, C ountry, Country-council, Co­
B u ch , B uchdruck 238. m ita t, G rafschaft 2 6 9 1 , 2 9 2 1 , 2 9 5 ,
Budget 265, 275, 299ff. 298, 350, 405.
B ü ch n er, Georg (1813— 37) 13. Cousin, V iktor (1792— 1867) 21.
B ürgerkrieg 3 , 8 , 1 1 , 1 7 , 2 2 , 2 8 9 1 , 4 4 9 ; C ranach, L u cas (1472— 1553) 4 9 9 .
W eltkrieg als Bürgerkrieg 5 2 1 1 Cromwell, Oliver (1599— 1658) 9 f l , 1 4 ,
Bulle, Bulletin 3 4 2 , 4 7 3 1 1 7 ,5 5 ,7 1 ,2 6 4 ,2 7 1 ; Stam m b au m 271 ff.
Burke (1729— 1797) 23, 29, 53, 259, 2941, 3 0 6 , 5 0 1 , 518.
261, 288, 291, 347. Cromwell, T hom as (1490— 1540) 273,
Byron (1788— 1824) 193, 304, 480. 284.
B yzanz 1 2 5 , 1 7 0 , 188.
D änem ark 1 3 , 29.
Calvin (1509— 1 5 6 4 ), Calvinismus 20, 72,
D ahlm ann (1785— 1860) 13.
285, 4 4 6 .
D alberg (1744— 1817) 4 0 4 .
Cam pagna 1 8 3 , 249.
Danilewsky (1822— 1885) 51.
Canossa (1077) 1 4 4 , 148.
Dante (1265— 1321) 3, 4, 1 1 7 f l , 131,
C ant 2 5 6 f l , 2 6 9 , 306.
188, 250, 252, 282, 493*
cap ital s. K ap ital.
Danton (1759— 1794) 13, 476.
Carducci, Giuseppe (1835— 1907) 191.
D ekabristen (1825) 4 3 7 , 4 4 3 , 4 5 5 .
Carlyle, Thom as (1795— 1881) 8 3 , 236,
D em okratie 4 0 , 1 8 8 , 3 0 8 , 3 4 5 ,3 9 2 , 497.
509 f l
D ep artem en t 3 4 3 , 3 4 6 .
C arn ot (1753— 1823) 3 4 6 .
D erby (seit 1780) 3 0 4 .
Cavallini P ietro (1 2 5 0— 1334) 181.
D escartes (1596— 1650) 3 3 4 f., 3 4 6 ,3 5 9 ff.
C h arta ca rita tis 131.
D eutscher Geist s. Geist.
C h arta di L av o ro 4 9 0.
D eutsche Sprache 3 0 , 1 2 2 , 1 2 3 , 3 2 8 ; s.
C h arta M agna 9 2 , 2 5 7 , 2 5 8 , 2 9 7 .
Sprache 3 4 7 .
C h arta, M ajor 297.
D e u ts c h la n d 2 2 ,1 9 6 ff.,3 9 3 f.,3 9 7 ff.,4 9 8 ff.
C harte 2 5 , 3 0.
D eutschland, das junge 33.
China 6 , 1 3 , 5 5 , 1 6 8 , 1 8 8 , 3 5 5 , 3 9 5 .
D ezim alsystem 3 4 9 , 4 6 6 f.
Choral 427, 499.
D ialektik der Revolutionen, der N atio ­
Christen, Christenheit, Gemeine Chri­
nen, des G eschichtsprozesses 2 0 , 75,
sten h eit, christlich-germ anische S ta a ­
8 7 , 164, 181, 2 1 6 1 , 2 6 11 , 286, 354,
tenw elt 1 8 , 2 1 ,3 3 , 3 7 , 4 8 f l , 1 0 2 f ,1 1 9 ,
393 ff., 441, 447 ff.,459, 481, 492, 520.
229, 276.
D ictatu s pape 22 , 3 0 , 1 3 2 ff.
Chronos, Chronologie 1 9 , 21, 4 1 , 1 1 5 1 ,
121 f l , 1 2 8 1 , 1 3 1 , 5 1 6 , 526.
Dies Irae 1 1 2 f i , 480, 503.
Cixnabue (1240— 1302) 1 8 1 , 3 0 4 . D ik tatu r 7 1 , 4 5 8 .
Civil, C itta , C ittadino 8 2 , 1 4 1 , 182 f l , D iplom atie 161 ff., 474.
Disraeli (1804— 1881) 3 4 , 2 7 6 , 3 0 5 f.
1 8 5 ,1 8 9 f l , 1 9 3 ,2 3 0 ff., 3 0 0 , 3 4 6 1 ,3 4 9 ,
D ivina Com m edia s. K om ödie.
3 5 6 , 3 5 7 , 3 7 7 (Z ivilstaat, Zivilisation,
C ivil-List, C itoyen, C ivilta). Division of th e H ouse 2 6 7 .
D orf, das russische 7 7 , 4 3 4 , 4 4 0 , 4 6 3 .
Civil W a r s. B ürgerkrieg.
Dostojew skij (1821— 1881) 4 4 3 ff., 4 9 7 f.,
Ciartä 307, 315, 472.
508.
Clömenceau (1841— 1929) 313, 328, 338,
Dreißigj ähriger K rieg (1618— 1648) 28 ff.,
386, 387, 3891, 481, 533.
243 f.
Club 294, 305, 339.
Dreyfus, Affäre (1894— 1906) 377.
Cluny 73, 111 f l , 1 1 6 1 , 121, 132, 328,
D uccio (gest. 1 311) 181.
330, 472.
Duce 88.
Coke, Edward (1552— 1634) 258, 280.
Dürer, Albr. (1471— 1528) 499.
Comädie H um aine s. K om ödie.
Common, Common-Law, Common-Pray-
erbook, C om m on-W ealth, Com m unitas E d ik t von N antes (1598) 8 0 , 321 ff.
C om m unitatum 7 2 , 258 ff., 2 6 5 , 2 8 6 , — von V ersailles (1685) 8 0 , 3 2 0 fb
290, 294, 305, 347, 502. Eigenkirche 1 2 1 .

538
Eigentum» Privateigentu m an den P ro ­ Friedrich I I ., der Einzige, v . Preußen
duktionsm itteln 78, 91, 3 5 0 , 393, 4 4 8 . (1740 bis 1786) 1 6 , 5 6 , 82, 85, 1 6 6 ,
E ik e v . Repgow (1222) 69. 242, 4 1 2 f l
Elisabeth v. England (1558— 1603} 275, — I I I ., K aiser (1439— 1493) 8 3 , 85.
2 7 7 , 293. — der W eise v. Sachsen (f 1525) 197,
— die Heilige, Landgräfin v . Thüringen 211, 2 1 9 , 228, 277.
(1207— 1231) 430. — W ilhelm I. v. Preußen (1713— 1740}
E lite 9 0 , 3 3 7 . 407, 4 0 9 1
E lsaß , Elsaß-Lothringen 4 6 ,5 5 ,2 4 6 ,3 4 6 . Fünfjahresplan (1928— 1933) 4 6 9 , 4 8 4 f l
E m p ire 2 6 4 , 2 9 8 , 373. F ü rs t, F ü rsten stan d , F ü rste n s ta a t 2 7 ,
E m pörung 22. 96, 1 4 7 , 185, 2 3 5 ff., 347.
Engels, Friedrich (1820— 1895) 4 8 6 , 517. Futurism us 192.
Engelsturz 48 0 .
England, Engländer 4 , 7, 16, 22, 24, 27,
2 9 , 253— 3 0 6 , 3 3 6 , 3 3 9 , 3 5 4 , 3 5 7 , Galilei (1564— 1642) 3 , 4.
3 9 4 ff, 5 0 2 , 511 f. Gallien, antik und hum anistisch 8 1 , 3 1 8 ,
Ennodius (473— 521) 517. 3 2 5 , 3 2 8 , 3 4 2 , 4 1 2 , 446.
E p ochen der G eschichte 18 ff., 4 6 3 ff. Gallikanismus 324.
Erbsünde 1 1 0 , 4 81, 4 8 9 , 4 9 3 . G am betta (1838— 1882) 327.
E rd b a llsta a t s. S ta a t 51, 494. G eburtstag (vgl. K alender) 248.
E rsten b erger (1 5 8 6 ) 241 Geist, d e r ,,D eutsche“ (auch Bew ußtsein,
Eschatologie, jü ngster T ag, W eltu n ter­ public spirit, esprit, Begeisterung usw.
gang, letzter Mensch, A n tich rist 3 8 8 ff., usw.) 1 2 1 , 1 2 6 ,1 3 5 ,1 5 3 ,1 5 5 , 2 0 0 , 213,
4 8 0 ff. 2 3 2 f., 260, 2 6 3 , 2 8 3 , 3 2 9 1 , 3 4 6 , 3 4 8 ,
E sp rit 31 2 , 3 7 9ff., 4 5 7 , 4 8 1 , s. Geist. 3 5 9 f l , 379, 444, 481, 491, 5 3 0 f l
Eurasien 51, 4 8 5 , 524. — H eiligerl30,136,153,1791,20 7,531 f l
E u ro p a, der A ntike 34. Geistliche 1 3 5 1 , 1 4 1 , 198.
— K arls V. 35. Gemein, Gemeinde, G em einschaft (vgl.
— der Neuzeit, europäisches K on zert, Common) 7 2 , 1 7 9 , 2 2 7 , 2 6 2 f l
europäisches Gleichgewicht 27— 4 0 , Genealogie 271 ff., 3 2 4 , 3 4 7 , 3 6 7 1 , 4 7 4 ,
4 5 , 50, 259, 2 9 7 , 3 2 5 ,3 4 8 ,3 5 5 ,5 1 9 ,5 2 4 . Genf, , »Völkerbund“ in 3 4 9 .
E xek u tiv e 2 8 9 , 2 9 5 , 2 9 7 , 3 4 0 , 346. Genius, Genie, G eniality 3 8 1 , 4 4 8 , 4 8 0 .
G entilhom m e, G entlem an, G entry 8 7 ,
F a k u ltä te n 1 9 9 , 231. 2 7 5 ff, 3 0 8 , 310.
Fam ilie 9 1, 110 , 1 8 2 , 2 7 2 ff., 310» 3 2 61» Geographie, Geopolitik 32 ff. 1 8 7 ,3 0 7 ff.,
450 452 507. 3 4 3 , 4 0 2 ff., 5 2 4 .
Fascism us 3 , 88, 1 7 0 , 1 9 2 , 4 7 3 , 4 9 0 . George, Stefan (geb. 1868) 4 1 7 , 4 2 7 .
Feudalism us 1 5 5 , 1 8 6 1 G esangbuch 2 1 9 , 247.
Flagellan ten 1 7 6 1 G esellschaft, Die, s. Sociötö 2 3 8 , 4 5 0 .
Florenz 4 4 , 1 4 8 , 1 7 4 1 , 1 7 9 f l , 1 8 4 , 1 8 7 , Gesellschaftsordnung 4 7 1 .
189, 1 9 3 , 249. G esetzgeber 3 2 6 .
Flu ch 11 0 , 1 6 6 1 , 4 6 8 , 471ff. G esichtskreis, s. politischer H orizont u.
F o n tan e, Theodor (1819— 1898) 3 8 0 , W eltan sch au u n g.
407. Gesinnung, Bund der 9 1 , 456 f l
Fran k lin , B enjam in (1706— 1790) 2 9 , 86 , G ew alten, Teilung der 2 9 4 .
525. G ew erkschaft 4 5 0 1
F ran k reich , Fran zosen 4, 2 1 , 2 2 , 28 f l , „G ew esene“ Menschen 2 3 , 24.
5 0 , 6 1, 3 0 7 ff., 3 2 8 , 502. Gewissen, Das verw undete, Gewissens­
Franziskus v . Assisi (1182— 1 2 2 6 ), F ra n ­ freiheit 9 2 , 1 6 5 ,1 9 5 , 2 1 5 , 235.
ziskaner 2 0, 1 6 0 1 , 171 f l , 1 7 9 1 1 ,2 4 6 , Ghibellinen 1 6 , 2 4 ,1 1 9 ,1 6 1 f l , 2 4 4 , 4 8 0 .
399 — und Guelfen 1 7 0 , 1 7 7 , 1 8 0 , 1 8 5 .
F ra u *3351, 3 3 8 1 , 4 4 3 , 5 1 2 f l Gierke, O tto von (1841— 1921) 2 6 4 .
F reim au rer 3 5 5 f l , 3 7 0 1 , 4 5 6 , 525. G iotto (1266— 1337) 1 8 1 , 182, 1 8 4 , 3 7 2 .
F reih eit 2 9 , 9 1 , 1 5 7 , 3 6 3 , 4 6 4 , 4 8 6 1 ; Gladius Spiritualis u. Tem poralis 1 5 1 .
R eich der F re ih eit 2 9 , 7 5 , 9 2 , 527. G leichgew icht, politisches 3 6 , 3 0 4 .
Fried rich B arb arossa, K aiser (1152— 89) Gneisenau (1760— 1831) 232.
30, 148, 149, 150, 165. Godliness, G ottseligkeit 4 8 0 .
— I I ., K aiser (1212— 1250) 1 0 0 , 1 6 4 , Gobineau (1816— 1882) 4 8 , 2 3 5 .
1 6 8 f l , 1 8 6 , 2 4 2 , 2 9 2 , 3 1 5 , 474. Goethe (1749— 1832) 22 , 8 5 , 1 9 3 , 2 0 1 ,

539
236, 239, 245, 2 4 6 1 , 250— 252, 336, Heinrich V II. (1 3 0 8 — 1 3 1 3 ) 1 1 9 .
3 8 6 , 4 1 8 f f ., 4 2 1 , 4 4 9 , 4 6 6 , 4 6 8 , 5 1 7 , 5 3 1 . ■— V III. von England (1509— 1547) 81,
Gorki, M axim (geb. 1868) 444, 4 6 1 1 , 82, 260, 2 7 2 , 300.
499, 508. Heloise 3 3 0 , 383.
Gotik 141, 174, 180. Heliand 140.
Gottesfriede 117. H erder, J . G. (1744— 1803) 2 4 5 ,4 1 6 ,4 1 9 .
G öttinger Sieben (1837) 242. H erzen, A lexander (1812— 1 8 7 0 )4 4 4 ,4 5 4 .
G ottschalk (820— 868) 202. H ierarchie, Gherarehia 8 8 ,1 5 1 ,1 7 0 , 217,
Grab, Das Heilige3 9 ,1 3 2 ,1 3 7 f l, 1 5 9 ,1 7 2 , 222.
1 8 1 , 1 9 3 , 2 1 8 , 289, 329, 3 5 9 , 482. H ildebert von L e Mans (f 1137) 535.
Grand, Grande N ation 3 2 1 , 356. Hildebrand s. Gregor V II.
Gregor V I I , P ap st (1073— 1 085, geb. Hildegard v. Bingen (1098— 1179) 531.
1020) 16, 22, 24, 5 0 ,1 0 9 , 136, 1 4 7 f l , Historism us 3 0 4 , 417.
161, 169, 181, 209, 214, 2 1 5 , 3 2 4 , 474. Hobbes (1588— 1679) 4.
Griechische K irche, Griechen 6 ,1 0 7 ,1 1 1 , H och, H oheit, Landeshoheit 296 f.
116, 486, 4 3 9 , 443. Hölderlin (1770— 1843) 2 1 , 180, 2 5 2 ,
Größe, s. grand 322. 4 1 6 , 5 0 3 , 527.
G roßm acht 2 1 , 397 f. Holbein (1460— 1524) 211.
Großbritannien s. England 343. Holland 2 9 , 5 5 , 9 3 , 2 5 4 , 2 9 4 , 4 0 2 , 404.
Grotius, Hugo (1583— 1645) 93. H orn, Georg (1620— 1670) 18.
G ründonnerstag 1 5 7 1 , 248. H ospital, Michel de 1’ , K anzler (1507 bis
Grünewald, M atthias (1480— 1529) 2 0 3 , 1573) 318.
250, 498 f l H rabanus M aurus (776— 856) 2 0 2 , 531.
Guelfen siehe Ghibellinen. H ugenotten 2 2 5 , 2 8 1 , 319 ff., 4 9 3 .
Guicciardini (1483— 1540) 193. H um anism us, H u m an ität 1 7 9 , 188, 1 9 3 ,
G ustav, Adolf (1611— 1632) 93, 3 9 9 , 1 9 4 , 2 2 9 , 2 5 1 , 372.
533. H um boldt, W . v ., (1767— 1835) 2 4 6 ,3 1 4 .
Gut s. bon, Moral. H um e, D avid (1711— 1776) 5 3 , 269.
H um iliaten 175.
H ab sb u rg, H aus 2 6 , 5 0 , 221 , 3 2 6 , 400 ff. H uß, Joh an n es (1369— 1 4 1 5 ), Hussiten
H albrevolutionen 93. 18, 2 4 , 59, 1 7 3 , 2 0 3 , 204, 2 4 2 , 406.
H aldane, L o rd (1856— 1928) 280 A nm . 5. H u tten , U lrich v . (1488— 1523) 2 4 7 , 257.
H allam , H enry (1 8 2 7 ) 300. H ypogenese 1 7 8 , 1 7 9 , 515.
H ändel, G. F . (1685— 1759) 500.
H an sa 1 8 4 . „ I c h “ , das 3 5 1 , 3 8 0 , 381.
H arrin gton Ja m e s (1611— 1677) 2 7 0 , A b­ Idealism us (deutscher) 237, 3 1 3 ff., 4 7 2 ,
bildung auf dem Siegel von 1651 bei 481.
S. 292. Idee, die N ation der 356.
H ausgem einschaft 1 6 3 , 434. Ideen, Idealism us, Ideologie von 1 789
H ayd n , Jo sef (1732— 1809) 500. 3 1 3 ff., 362.
H eereskirche 2 0 1 , 213. Ideologie und R evolution 1 7 , 7 1 , 4 5 3 ,
Heerschildordnung 69, 2 1 0 , 2 2 2 , 224, 458.
2 3 0 ? 244. Im p erato r spiritualis 1 4 4 , 1 5 1 .
Hegel, G. W . F . (1770— 1831) 6 , 1 4 , 2 0 5 , In d ex 4 7 0 .
2 3 3 , 2 3 5 f., 2 3 9 , 3 5 8 , 4 1 6 ff., 4 4 7 , 503. Indien 1 3 , 29, 354.
H ehn, V ik tor (1813— 1890) 194. Individuum 377 ff.
Heidelberg (gegr. 1386) 231, 2 3 2 , 2 4 9 , Industrie (franz., engl.) 9 , 3 0 0 , 3 3 6 f.,
3 3 3 , 502. 451.
H eiligsprechung K arls d. Großen 1 5 0 . Innozenz I I I . (1198— 1216) 1 6 , 8 2 , 1 3 6 ,
H einrich I I ., der Heilige K aiser (1002 bis 1 5 8 — 162, 1 6 8 , 1 6 9 , 204, 2 0 8 , 209.
1024) 1 0 9 f., 1 1 0 , 1 1 9 , 279. — IV . (1243— 1254) 1 3 6 , 159.
— I I I . (1 039— 1056) 1 1 7 , 1 2 4 , 149. Intelligenz s. Geist.
— IV ., K aiser (1056— 1105) 2 4 , 81, 1 4 2 , — russ. 441 f f., 4 5 4 ff.
1 4 4 163. In terd ik t 1 8 7 , 230.
— IV.’ v. F ran k reich (1589— 1610) 3 2 1 , ,, International* ‘ 128.
322, 333, 334, 399. In tim , In tim itä t 3 3 6 ff., 381.
— V. (1105— 1 1 2 5 ) 1 3 7 , 142 f., 1 4 5 , 2 1 5 . In v estitu rstreit 17, 145 f., 147.
— V I. (1 189— 1 198) 3 0 , 8 4 ,1 4 8 , 1 5 9 ,1 6 2 , Irlan d 2 9 , 6 3 , 2 9 0 ff., 4 9 3 .
1 6 3 ,1 6 5 ,1 6 6 . Irnerius (ca 1 0 5 0 — 1 1 3 0 ), 148.

54o
Italien 1 1 ,1 6 , 22, 26, 146, 1 6 0 ,1 7 7 , 181, K arl II. v. England (1660— 1685) 2 6 ,4 9 .
188, 191ff., 501, 503, 513. — V. K aiser (1519— 1556) 23, 35, 45,
Juristen 23, 136,5156, 177, 2 5 8 ff., 3 4 0 « . 83, 85, 205, 2081., 226 f , 317.
ius civile 186, 227, 230. — X I I . v. Schweden (1697— 1718) 93.
ius poli et fori 147. — der Große (768— 814) 29, 40, 43, 109,
115, 122, 129, 150, 2 0 2 , 329,
Jahr als Periode (vgl. Kalender) 463 ff. K ath ed er, A u to ritä t der 198.
Jakob I. (1603— 1625) 84, 260, 277. K etzer 42, 87, 172, 180.
— II . (1685— 1688) 7, 26, 27, 259, 278, Kinderkreuzzug (1212) 169, 172.
280. K ingston 125.
Jakobiner, Jakobinerklub 24, 379. K irche, D ie 2 7 ,4 2 ,1 2 8 ,1 3 7 ,1 5 8 ,1 9 9 ,2 5 1 1 .
Jefferson (1743— 1826) 525. K irchenrecht s. K anon. R ech t.
Jena (gegr. 1548) 28, 232, 233, 246, 249. K irch en staat 169, 192.
Jerusalem (erobert 1099 verloren 1187) K lasse, K lassenkam pf 66 , 90, 91, 3 9 2 « .,
29, 44, 116, 138 f., 159, 168, 172. 448«.
Jesuiten (gegr.Jl540) 131,232,288,324«, K leid ertrach t, Mode 1 9 8 , 2 1 1 , 3 5 5 , 3 6 4 ,
456. 369.
Joachim de Fiore (gest. 1202) 20, 173, K leist, H . v. (1777— 1811) 416.
479. K lo ster 1 0 7 « ., 171, 202, 220, 3 0 0 , 438.
Johanna, Päpstin 108. K ochkunst 381.
Joseph II., Kaiser (1780— 1790) 133, Königsgewissen 279
404ff. Königsschild 1 0 7 .
Joyce 468, 472, 473, 477, 503. Kolonien 28, 2 9 7 « ., 3 9 5 « , 4 8 4 1
Judas Ischariot 472, 515. K om ödie, Divina Com m edia, Comedie
Juden 19, 33, 373ff., 400, 433, 434. H um aine, W eltkom ödie (vgl. D ante,
Julirevolution von 1830 6, 9, 17, 527. B alzac) 3 0 5 , 385.
Jüngstes Gericht s. Eschatologie. K om m unisten, K om m une von 1871 12,
28, 3 0 , 3 8 6 , 3 9 2 , 4 0 6 , 525.
Kabinettsorder 213. K om petenz-K om petenz 186, 235.
Kaiser, 11, 91, 317, 399 ff. Konfession 23, 213.
— Der, in der Kirche 40, 109 ff. K on junkturen 8 , A nm . 1.
Kalender 18, 39, 1 1 1 ,1 5 0 ,1 5 7 , 247, 248, K on k ord at, K onkordanz 24, 2 5 , 1 4 3 ,
284, 463 f., 466 f. 145, 1 7 1 , 193.
— Bußtag 248, 284. K onkurrenz 236, 2 3 9 , 240, 3 0 5 , 3 3 1 ,
— 1. Mai 19, 481. 450, 486.
— Fronleichnam 157, 248. K onradin (1252— 1268) 26, 3 0 , 7 1 , 1 6 2 ,
— Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern K on servativ e 3 1 4 , 356. [166.
116, 122, 157, 248. K onsistorium 161, 218.
— Jahresanfang 286. K on stan tin 122.
— Kaisersgeburtstag 248. K on stantinop el 4 6 , 1 6 8 .
— Karfreitag 122, 248. K on stitu tio n 72, 3 4 4 « ., 4 3 7 , 475.
— 29. September 114. K on ven t, der sch o tt. C onvenant 285,
— 5. November 8. 3 3 9 , 475.
— Zusammenbruch vom 9. November 24. Konzil (L a te ra n , T rien t usw.) 1 0 , 27, 85,
— Allerheiligen 107. 1 2 6 , 1 5 3 ,1 5 9 , 1 8 7 , 1 8 9 , 2 0 3 , 2 0 7 , 2 1 0 ,
— Allerseelen 111, 120, 167, 215. 227, 228, 3 2 9 , 3 3 3 , 3 3 8 , 379.
Kalif, Kalifatsgefahr 131, 185. K opernikus (1473— 1543) 3, 10.
Kalkulation, des Betriebs 466 f. K osm ische P olitik 3 , 8 , 1 5 , 494.
Kanaan 291 f., 293. K rasinski (1812— 1859) 385.
Kanäle 323, 433f. K reislauf der V erfassungen 188.
Kanonisches Recht, Prozeß 10 ,15 7, 220, K reuz als Sym bol 1 6 8 , 202, 2 1 5 «
230. K reuzzug 3 9 , 1 1 6 , 1 3 8 , 1 3 9 , 1 5 9 , 1 6 1 ,
Kant, Immanuel (1724— 1804) 246, 343, 1 8 1 , 2 2 1 , 2 5 1 , 4 5 5 , 480, 522.
417. K riegsherr, O berster 275.
Kapitalismus, K apital 9, 91, 298, 337, K riegsschulden 302.
339, 352ff., 354ff., 392, 464f«, 471. K rieg, Siebenjähriger 17, 4 1 3 « .
Kardinale 144, 145, 188, 189, 192. K rim krieg (1854— 1856) 4 , 82.
Karl I. v. England (1625— 1649) 10, 84, K ü n stler und K u n st 38, 1 7 7 , 1 7 9 , 182»
147, 257, 258, 267, 278. 1 8 9 , 1 9 0 ,2 5 2 , 3 6 8 , 3 8 0 « , 4 2 7 « . , 4 9 7 « .

54i
Kulaken 439, 486, 488. Ludwig X V I. (1774— 1793) 83, 3101.,
K ultur 47, 3 4 6 1 340.
Kunigunde, Kaiserin (f 1038) 110. — X V III. (1 8 1 4 — 1 8 2 4 ) 88.
Kurie, römische 37, 64, 123, 125, 145, Luftm enschen 4 4 5 , 4 4 9 .
153, 164, 169, 192. Luise, Königin v . Preußen (1776— 1810)
3 9 9 , 415 f.
Lafayette (1757— 1834) 29, 297, 347. L u k acs, Georg von 5 ,4 5 1 ,4 8 7 ,5 2 0 ,5 3 2 .
Lagarde (1827— 1891) 417, 470. Lum penproletariat 70.
Lamartine (1790— 1869) 365. L u th e r, M artin (1483— 1546) 1 0 , 11, 1 4 ,
Lamprecht (1856— 1915) 499. 1 6 ff., 20, 2 2 ff., 3 0 , 4 9 , 5 9 , 7 1 , 87, 1 3 5 ,
Landeskirche 89, 2231, 244, 271. 1 4 7 , 1 5 3 , 196, 1 9 8 , 2 0 5 , 211 f., 212 ,
Landesvater 87, 236, 248. 220, 2 2 7 ff., 2 3 3 , 2 3 5 , 2 4 6 ff., 2 5 1 , 2 5 8 ,
Landesuniversität 197. 4 4 6 , 4 7 3 f., 4 7 9 , 518.
Landkarte als weltliches Symbol 187, Lutherhalle 198.
292, 318, 524. L u th ers T estam en t 220.
Landschaft 180, 182. L u xem b u rg, R osa (1870— 1919) 395,
Lassalle (1825— 1864) 205, 341. 4 3 6 , 4 8 6 , 4 8 8 , 4 9 0 , 528.
Latein 86, 341, 404, 478. L u zifer 3 8 9 , 4 8 0 .
Lateran 125, 150, 190.
Laterankonzil 152, 154, 160, 170. M achiavell (1469— 1527) 7 1 , 260.
Lateranverträge 170, 171. M ächte, M ach tstaat, G roßm acht 397 ff.
Laurin s. Rosengarten 11 1 . M adariaga 9 1 , 191.
Lavisse (1842— 1922) 261. M adonna 1 3 4 , 1 8 0 , 1 8 1 , 182.
Lawroff Peter (geh. 1823) 91, 458. M agdeburger Zenturien (1552— 1574) 18.
Lebuin (gest. vor 776) 115,128,20 2, 535. M agna C h arta s. C harta 92.
Legitimität 24, 326. M agyaren s. Ö sterreich-U ngarn.
Lehnrecht 124, 145, 149, 186, 235. Maifeier vgl. K alender 4 6 7 , 4 7 7 .
Leipzig 196, 232, 233. Mailand 2 9 , 1 5 0 , 1 8 4 , 1 9 0 , 193.
Lenin (1870— 1924) 20, 23, 47, 71, 147, de M aistre (1754— 1821) 3 8 , 4 6 .
446, 448, 45411, 516, 525. M aitresse 335 ff.
Leo IX ., Papst (1048— 54) 117. M ajestätsbrief, böhm ischer (1609 erteilt)
— X ., Papst (1513— 21) 85. 406.
Leonardo da Vinci (1452— 1519) 184,498. Malerei 1 7 9 , 1 8 1 , 499 ff.
Lepanto, Schlacht bei (1571) 39. Manzoni (1785— 1873) 154.
Lessing, Gotthold Ephraim (1729— 1781) M arat (1744— 1793) 7 1 , 7 4 , 447.
236, 245, 247. M arburg gegr. 1 5 2 7 1 9 6 , 233.
Leuthen, Schlacht bei (5.12.1757) 414. M arc A urel 135.
Liberal 314, 468. M arco Polo (1254— 1323) 168.
Libertät, teutsche 92, 96, 228, 399. M ariä Em pfängnis 2 4 1 , 3 9 9 .
Linksopposition 100, 149, 160, 173,203. M aria T heresia (1740— 80 geb. 1717) 1 6 ,
Liszt, Franz von (1811— 1886) 194, 8 3 , 3 4 1 , 399 ff.
429 ff. M aria-T heresientaler 4 0 0 .
Littleton Edward (1589— 1645) 266. Marie A n to in ette (1755— 1793) 8 3 , 3 1 0 ,
Liturgie 2 3 ,10 9 ,114 , 200, 412, 474, 478. 312, 326.
Logik 22, 23, 345 f. M ariendienst 1 1 4 , 140.
Löhne 394 f., 464ff. M arlborough (1650— 1722) 297.
Lombarden 123, 148, 149, 161, 177. M arneschlacht 3 5 4 .
London 257, 262, 276, Abb. bei 278. Marsilius v . P ad u a (1270— 1 3 4 0 ?) 2 1 6 .
Lorenzo di Medici (reg. 1469— 1492) 189, M artin v . T ours (316— 397) 248.
192. M arx, K a rl, M arxism us (1818— 1883) 1 0 ,
Lothringen 55. 1 5 , 7 2 ,1 5 4 , 2 0 0 , 2 3 7 , 2 3 9 , 3 7 5 , 4 4 6 f f .,
Louis Philippe (1830— 1848) 379, 386. 4 6 8 , 527.
Ludendorff (geh. 1865) 378, 460, 522. M aterialism us, „ m a tte rs “ 2 6 8 , 4 7 2 .
Ludwig II., Kaiser (855— 875) 123. M athilde v . T osk an a, M arkgräfin (1046
— IX ., König v. Frankreich (1226— 1270) bis 1115) 1 4 5 ,1 4 8 ,1 6 9 .
167, 168. M axim ilian I ., der letzte R itte r (1493 bis
— X IV . (1643— 1715) 81, 83, 319ff., 1518) 2 0 5 , 2 3 1 , 2 4 3 .
402. M aynard (1602— 1689) 2 5 9 , 2 9 0 .
— X V . (1715— 1774) 83, 84. M ecklenburg 2 9 5 .

54a
Medici 86. Napoleon I. (1769— 1821) 9, 1 6 8 , 1 6 9 ,
Meinecke, Fried rich (geh. 1862} 412. 3 2 7 , 3 4 2 f., 3 4 6 , 4 3 6 , 452.
M elanchthon (1497— 1560) 5 9 , 1 9 8 , 2 1 1 , — I I I . (1808— 1873) 30, 327, 356, 383.
235. N atio als K irchenkörper 5 8 ,6 1 ,6 3 ,2 8 9 .
M ember, Mitglied, Gliedschaft 264 ff. N atio G erm anica, deutsche 2 0 4 ff., 3 9 7 ff.
Mendelsson, Moses (1729— 1786) 377. N ation, th e 5 6 , 6 0 , 6 4 ,1 7 8 , 210.
M endelssohn-Bartholdy, F elix (1809 bis — K a ta s te r 3 4 8 , 3 5 2 .
1847) 4 2 7 , 5 0 0 . Nationalism us 3 4 0 , 3 4 1 , 3 4 8 , 3 7 8 , 440.
M enschenrechte 4 4 1 , 4 7 5 , 525. nationalökonom isch 23.
M en talität s. Geist 3 4 8 , 357. N ationalreform ation 2 2 3 .
Mephistopheles 2 5 1 . N atio n alstaat, französischer 1 8 5 , 3 0 7 ff.,
M ercators W eltk arte von 1 5 6 9 524. 494.
M erovinger 196. N atu r, N ature 1 4 7 , 2 5 0 , 307 ff., 3 4 2 , 3 9 7 ,
M eßliturgie 109. 525.
M etz 3 1 7 . N aturalisation 352.
M exiko 5 , 6 , 4 3 . N atu rrech t 3 6 0 .
M eysenbug, Mälwida von (1816— 1903) N aturw issenschaft 1 4 7 , 360 f.
194. N aum ann, Fried rich (1860— 1919) 4 2 1 ,
M ichael, deutscher Michel 114, 1 3 1 ,1 4 0 . 426.
Michelangelo (1475— 1564) 1 2 0 ,1 8 2 ,1 8 4 . N avigationsakte (1651) 2 9 3 , 3 5 4 .
M ilitär, M ilitarismus 1 3 9 , 2 3 0 , 3 0 0 , 4 1 4 , Nelson, A dm iral (1 7 5 8 — 1805) 3 2 , 4 1 3 .
417. Neuzeit als B egriff 1 8 , 2 2 9 .
M üton (1608— 1674) 2 5 7 , 2 8 2 , 3 0 6 . N eu tralität, bew affnete 2 9 , 2 9 7 , 298.
M inister 2 8 8 , 519. Nibelungen 1 1 0 , 1 5 4 , 4 3 0 ff.
M inoriten 175. Niederlande s. H olland.
„M ir“ 434. N ietzsche, Fried rich (1844— 1900) 3 3 ,
M irabeau (1749— 1791) 1 1 , 1 3 , 4 1 5 . 3 8 9 , 427 ff.
M irabilia Mundi 1 5 5. Nihilismus 4 4 4 f., 4 7 2 , 532.
Mission 1 8 3 , 2 5 4 f., 2 9 0 f. Nikolaus V ., P a p st (1447— 1495) 190*.
M ittelalter, Begriff 1 8 , 120. — I L , Z ar (1894— 1 9 1 7 , f l 9 l S ) 8 2 ff.
Mode, M odem (vgl. K leid ertrach t) 3 1 3 , Nikolaus v . Cues (1 4 0 1 — 1 4 6 4 ) 1 9 3 .
3 5 5 , 3 5 7 , 3 6 4 , 3 6 6 ff. Non expedit 1 6 2 , 1 7 0 .
M önche 1 0 7 ff., 1 7 4 ff., 5 1 5 ff. Nordpol 5 2 4 .
M öser, Ju stu s (1720— 1794) 6 9 , 2 3 4 . norm al, norm alien, N orm alnation 5 4 ,
Molière (1622— 1673) 308. 350.
M oltke, H ellm ut v . (1800— 1891) 2 3 6 . N orm annen 4 0 , 1 0 8 , 1 2 4 , 1 4 5 , 1 5 9 , 2 7 4 ,
M om m sen, Theodor (1817— 1903) 1 9 1 . 275 3 2 9
M onarchie 1 8 8 , 2 2 4 . N ovalis (1772— 1801) 3 2 , 3 7 , 3 4 7 .
M ontesquieu (1689— 1755) 3 5 5 .
M oral s. bon 8 4 , 3 6 3 , 471ff.
M orgenland 3 9 , 4 3 , 1 0 9 , 522. O berhaus 2 7 , 2 6 4 f.
M oritz von Sachsen (1541— 1553) 2 0 6 , Oberschlesien 55f.» 3 4 8 .
231 3 1 7 3 9 7 . O bjekt 1 5 6 .
Morse*, H enry (1595— 1645) 3 0 5 . O brigkeit 9 6 , 1 8 4 , 2 1 4 , 2 2 0 , 2 2 1 , 2 2 8 ,
M orus, T hom as (1478— 1535) 8 3 , 2 7 8 , 2 4 2 ,2 6 3 , 2 7 1 , 3 9 8 ff.
2 7 9 281 Odilo v . Cluny, A b t (994— 1048) l l l f f .
M oskau 38* 5 1 , 1 9 0 , 4 3 6 , 4 7 5 . Ökumene s. R au m 4 1 , 1 2 7 , 1 2 9 , 1 3 4 ,
M ozart (1756— 1791) 3 5 5 , 3 7 0 , 4 2 8 , 431. 1 3 6 , 1 5 1 , 1 5 9 , 5 2 6 vgl. Chronos.
M ünzer, T hom as (1489— 1525) 2 2 6 . Ökonomie 3 , 517 ff.
M undus-W eltklerus 1 1 2 , 151. ökum enisch 1 2 7 f .
M useum 3 6 6 ff. Ö sterreich-U n garn 1 6 , 2 9 ,1 3 3 , 2 4 6 , 3 5 0 ,
Muspilli 110. 3 9 8 ff.
Mussolini (geh. 1883) 5 6 , 6 3 , 6 4 , 88, O ktoberrevolution 1 9 , 4 5 5 ff.
1 6 1 , 1 7 0 ,1 7 1 , 1 9 2 . Onslow, Speaker (1691— 1768) 264.
M ythos, G eographischer, v . E u ro p a 307. Opposition 2 6 7 .
opus op eratu m 1 5 4 .
N achfolge 1 6 5 . O rangem änner, Oranien 2 6 8 , 2 9 1 .
N am engebung, Personennam en 1 2 , 1 1 0 , O rdnungsruf 2 6 4 .
180, 343, 352. O restie 1 1 0 , 1 1 8 , 503.

543
Organismus, organisch, Organisation Pietismus 262.
(vgl. member) 1 8 5 , 186, 337, 3 4 3 ff. P itt, der jüngere (1 7 5 9 — 1 8 0 6 ) 8 4 , 2 9 8 ,
Orsini (1819— 1858) 356. qqq qng
O sterbeichte 154. Pius II. (1458— 1464) 35.
Osteuropa 38. Plädoyer 3 4 0 ff., 4 7 5 f.
Ostfriesland 248. Plancksche Q uantentheorie 31.
O tto I. K aiser (936— 973) 122, 129, 165. P lanw irtschaft 4 8 4 ff.
O tto I I . (973— 983) 163. Plebiszit 348.
O tto I I I . (983— 1002) 109, 114, 121, Plechanow (1857— 1918) 446, 454.
1 3 4 , 163. Pod^rc 249«
O tto IV . (1198— 1218) 1 6 4 , 169. P o d estä 1 7 7 , 1 8 4 , 1 8 5 , 1 9 7 , 198.
Oxford 61, 270, 296. Poincar6 (geb. 1860) 23, 74, 8 4 , 357.
Polen 6, 7 , 9 4 , 1 0 8 , 1 0 9 , 1 2 5 , 1 2 6 , 188,
Paneuropa 3 3 . 2 4 5 , 2 5 4 , 3 9 8 , 415.
Panslaw isten 5 1 , 444. Politik, Politiker 40, 1 3 5 ,1 8 1 , 3 0 4 , 446.
P ap st, P ap sttu m 5, 1 0 ff., 17, 22, 24, Der politische H orizont 32.
2 7, 3 2 , 4 1 , 6 3 , 8 8 , 91, 96, 13 2 ff., Polizei 3 1 , 2 3 4 , 296.
2 0 4 ff., 3 7 9 , 4 7 4 , 4 7 9 f. Pollard 2 7 6 , 297.
Papstw ahl 1 3 1 , 144. populus christianus (people) 1 3 5 , 277,
Paradise L o st 2 8 2 , 3 0 6 . 2 8 9 , 2 9 4 , 534.
P arak let s. Geist hlg. 3 3 0 . P o rtu g al 6 , 29.
P arlam en t, englische 2 7 , 3 7 , 9 0 , 258, Postei, Geograph (1510— 1581) 35.
2 7 7 , 2 8 9 , 340. Potem kin 527.
P aris 2 2, 2 3, 2 7 , 4 0 , 5 8 , 6 4 , 8 1 ,1 4 7 ,1 9 0 , Potenz s. M ächte,
1 9 7 , 23 1 , 2 4 9 , 3 1 9 ff., 3 2 7 ff., 510. po testas 1 8 5 , 186.
P aris P an th eon (S t. Genevieve) 3 2 9 , P o tsd am 7 3 , 246.
3 3 4 , 3 4 5 , 383. P räd estin ation 2 8 1 , 306.
Parlam en tsb erich te 2 6 8 , 298. P räro g ativ e 2 3 5 , 2 5 8 , 277.
Partei(en) 2 1 4 , 2 3 0 , 2 8 7 ff., 3 6 5 f., 4 5 8 ff., P räsid en t der Republik 27.
527 f. Präzedenzfälle 2 5 9 .
„ P a rte i der Religion“ 225. P ra g 2 7 , 5 8 , 1 8 8 , 2 3 1 , 2 4 2 , 2 4 9 , 333.
p articu lars 260. P ra g e r U n iv ersität 59.
P ascal (1623— 1662) 3 2 5 , 334. P rag m atisch e Sanktion 401 ff.
Paschalis, P a p st (1099— 1118) 1 3 7 , 145. P red ig t 4 3 9 .
P assau er V e rtrag (1552) 228. Preußen 1 6 , 2 9 , 8 2 , 2 3 1 , 2 4 3 , 2 4 6 , 3 2 7 ,
Passion 3 3 8 , 3 8 5 . 3 2 8 , 4 0 7 ff., 4 5 8 , 4 6 0 f.
P atrim on iu m S an k t P eters 169. Prinzen 236.
P atriotism u s 461 f. Prinzipien, prinzipieller Stan d p u n k t 237.
Paulskirche (1848) 21, 2 1 2 , 2 3 9 , 475. P riv ateig en tu m s. Eigen tu m .
Paulus, A postel 1 0 9 , 1 1 4 ,1 2 7 ,1 3 4 — 138. Privilegien 8 1 , 8 6 , 3 1 0 , 3 6 4 .
Penn, W illiam (1644— 1718) 349. Prod u k tion 4 8 7 ff., 5 1 5 ff.
Pershing, M arschall (geb. 1860) 29. p roduktive L öhne 465 f.
Person , die große 218, 2 2 0 , 221. Professor 5 9 , 2 2 5 , 2 3 7 , 242.
Perugia 1 7 6 , 182. P ro le ta ria t, P ro letk u lt 4 8 , 391 ff., 4 4 8 ff.
P etersb u rg 3 8 , 7 7 , 4 3 7 , 4 4 0 , 475. P ro p agan d a 4 7 6 .
P e tra rc a (1 304— 1374) 118. P ro te st, P ro te sta n te n 2 0 , 2 0 0 , 2 0 6 , 4 0 6 .
P etru s, A postel 1 2 6 , 1 3 5 , 1 3 7 , 142, 1 4 6 , P ro u st, M arcel (1 8 7 1 — 1922) 3 8 6 ff.
173 4 9 2 . Pseudonym 3 5 2 .
P etru s D am iani (1007— 1072) 115, 162. Publikum 2 2 3 , 224.
Pfahlbürger 1 8 3 . Pufendorf (1 6 3 2 — 1695) 236.
P farrer 1 9 8 , 2 0 0 , 358. Pulververschw örung 262.
Philipp v . Schw aben (1198— 1208) 83 f., Pu rg ato rio 1 1 3 , 184.
161 ff., 1 9 5. P u ritan er 8 7 , 2 8 2 ff , 288.
Philipp der G roßm ütige von Hessen P u tsch 5.
(1509— 1567) 211.
Philipp der Schöne (1285— 1314) 188. R acin e (1639— 1699) 3 1 9 .
Philosophie,K leid d e r2 3 ,2 3 3 , 3 1 4 ,3 5 1 f., R ad ik al 347-
358, 370, 446. R affael (1 4 8 3 — 1520) 182,^246«
P iatiletk a 4 7 8 , 4 8 4 ff. R andgebiete Rußlands 55, 4 3 4 , 438 ff.

544
Rangordnung 96. R ohan, Herzog (1579— 1638) 4, 50.
R anke, Leopold v. (1795— 1886) 100, Rohstoffgebiete 51.
1 4 1 , 1 6 9 , 1 7 7 , 2 1 0 , 2 2 6 , 3 2 7 , 403. Rolandslied 1 2 2 , 3 2 9 .
R au m der W eltgeschichte 4 1 ,1 1 1 ,1 2 1 ff., R om (L ateran , V atikan, Porticus Gal­
526 vgl. Ökumene u. Chronos. lae, usw.) 1 8 , 1 0 9 , 1 1 2 , 124, 134, 1 5 0 ,
R asp u tin (1872— 1916) 8 2 , 8 4 , 116. 1 8 1 , 1 8 7 , 1 8 9 , 1 9 0 , 1 9 3 , 226, 333.
Realpolitik 42 6 . Rom anow 13.
G reat Rebellion 17. R om antik 3 3 , 3 9 9 , 4 1 6 ff.
R e ch t 1 5 5 , 2 5 8 f i , 2 7 8 ff., 3 5 2 ff. R oncaglia 164.
R echtfertigung allein durch den Glau­ R osarienfeste, Rosengärten 111.
ben 252. R oosevelt, Theodore (1858— 1919) 526.
R echtsänderung, Technik der 207 ff. R ostan d , Edm ond (1868— 1918) 533.
R eform ation 88), 1 0 , 1 1 , 12, 1 7 , 1 9 , 2 8 , R o ta der K urie 192.
2 9 , 3 1 , 1 9 6 ff., 2 4 8 , 511. Rousseau, J . J . (1712— 1778) 3 4 2 , 345.
R eform ierten 2 4 6 . Rußland 6, 1 2 , 1 4 , 2 2 , 29, 5 1 , 9 1 , 194,
Regenschirm 37 9 . 2 4 2 , 3 9 6 , 4 3 3 ff., 497ff.
R egen tsch aft 463* R hythm us der Totalum w älzungen 3 1 .
Regionalism us s. Föderalism us 3 3 7 , 3 4 6 ,
502. S ab b at 257.
R eich 1 0 , 2 9 ,1 4 8 , 2 0 9 ff., 264, 4 0 2 f. 448. Sacco di R om a (1527) 226.
R eich der F reih eit s. F reih eit Sachsen, H erzogtum 1 1 5 , 1 9 6 , 202, 214,
R eich s, , G ründung'‘ (von 1871) 426. 232, 234, 235, 2 4 5 , 2 4 9 , 3 4 3 , 494.
R eich K arls d. Großen 40. Sachsenspiegel (1222) 69.
Reichsdörfer 223. Sacre ( = Krönung) 3 2 4 , 3 2 6 .
Reichsfahne 1 1 4 , 3 4 4 , 527. S acrum Im perium 1 1 4 .
Reichslehnrecht 145. Saint-Sim on (1760— 1825) 7 2 , 447.
R eich stag 1 4 9 , 2 0 6 ff., 2 6 4 , 418. Sakram ente 1 5 2 , 1 5 4 , 326.
R eich stag zu W orm s (1521) 198. Salon 3 3 5 .
,, Rekuperationen ‘ ‘ 11 f., 169. Sängerschule 1 0 9 , 190.
Religio, religiosus 1 1 2 , 1 3 2 , 2 1 6 , 219. Sansculotten 8 7 , 364.
Religion 9 4, 1 1 0 , 1 1 1 , 1 7 4 , 2 1 6 f., 2 2 2 , Savigny (1779— 1861) 235, 236.
299, 4 4 6 1 , 44 9 , 4 5 2 , 490. Savonarola (1452— 1498) 4 5 , 74, 4 0 6 .
Religionsfrieden (1555) 2 5 , 223. Scheler, M ax, (1874— 1928) 116.
Religionsparteien 1 5 0 , 1 9 6 , 199, 2 1 1 , Schelling (1775— 1854) 2 3 3 , 2 3 6 , 246.
2 2 4 f l , 2 4 5 , 2 7 1 , 2 7 8 , 290, 324. Schiffsgeld 2 8 0 , 300.
R enaissance 2 0 , 3 5 , 4 4 , 161, 166, 193. Schiller, Fried rich (1759— 1805) 2 4 5 ,
R en te 3 5 4 , 391 ff. 246, 3 1 3 , 3 4 5 , 4 1 9 , 521.
R en ovation 11, 1 5 . Schism a 1 8 9 .
R eproduktion 3 9 5 , 48$ ff. Schlachtfeld, Leere des 4 7 5 , 486.
Residenz, Residenzpflicht 1 2 8 , 249. Schlegel, A ugust W ilhelm (1767— 1845)
R estau ratio n 4 , 8 a), 1 7 , 25, 27, 295. und F ried rich (1772— 1829) 3 2 , 2 3 2 ,
R estoratio n of Freed om 9, 17, 259, 2 4 6 , 3 6 1 , 4 1 6 , 41,8ff., 4 2 3 ff.
abgebildet bei 292. Schleierm acher (1768— 1834) 3 1 4 .
R evan ch e 3 2 8 , 3 9 0 . Schlesien 55, 1 5 0 , 1 9 6 , 245, 4 0 1 .
R evolten 5 , 7. Schlüssel, Schlüsselgew alt, Schlüssel­
R evolutionäre 7, 4 5 6 ff., 5 0 6 , 508, 527 f. soldaten 1 6 8 , 4 8 8 .
R evolution v. 1 8 4 8 s. Paulskirche. Schm alkaldischer K rieg 228.
Richelieu (1585— 1642) 318, 3 2 6 f., 3 3 4 . Schm oller, G u stav (1838—-1917) 2 3 5 ,2 3 6 .
Cola di Rienzi (1 3 13— 1354) 18, 21. Schönborn, Grafen 245.
Righteousness 3 0 5 f. Scholastik 4 4 , 1 4 7 , 1 5 6 , 3 2 8 ff.
Risorgim ento 1 6 6 , 1 9 1 . Schongauer, M artin (1445— 1491) 1 9 3 .
R iten , chinesische der Jesu iten 325. Schulbücher 2 0 , 1 5 7 , 2 5 8 , 4 0 1 , 4 1 5 .
R itte rtu m 1 4 0 f ., 5 1 5 ff. Schulen, Schulm eister 1 9 9 , 2 3 0 , 502.
R obespierre, M axim ilian (1758— 1794) Schulzwang 2 1 7 .
1 4 , 2 3 , 7 1 , 3 4 0 , 3 4 6 , 471. Schürff, H ieronym us (1481— 1554) 5 9 ,
R öm erzug 108. 198.
Heiliges Röm isches R eich D eutscher Schüssler 4 0 5 .
N ation. 5 7 , 210. Schweden 6, 13, 29, 30, 2 4 5 , 254.
R od n ey, A dm iral (1780) 269. Schweiz 6 , 5 5 , 221, 222, 271.

35 Rosenstock 545
Schw ertgew alt 9 1 , 1 3 5 ff., 492. Staatsgerichtshof 27.
Seku rität, S4curit6 215, 217, 387. S taatsk irch e 185.
Seeherrschaft 2 7 6 , 2 9 2 ff. Staatenkonkurrenz 236.
Sensation 3 5 3 , 3 7 0 . staatsm ännisch 224.
Serbien 2 7, 1 8 8 , 24 5, 4 0 2 , 406. S taatsstreich 21.
Serenissimus 2 3 4 , 291. S tad tg o tth eit 1 8 2 , 185.
Sezessionskrieg am erik. (1861— 1868) S ta d tsta a te n 4 , 176 ff.
525. S täd te 1 4 1 , 438.
Shakespeare (1564— 1616) 281, 500. S täm m e 6 4 , 1 0 8 , 1 3 5 , 230.
Shelley (1792— 1822) 3 0 4 , 4 8 0 . Stah l, Fried rich Julius (1802— 1861) 4 8 ,
Siegel, das große v . England 2 7 , 80, 236.
1 8 6 f ., 2 7 7 ff., 2 9 2 Abb. Stahlhof 276.
Siegfried, Andrö 3 5 0 . Stalin, Georgier aus Tiflis, geb. 1879. 74,
Siena 175, 1 7 7 , 18 1 , 194, 197, 3 4 3 . S tam m bäum e 2 3 , 271 ff. [487.
Sieyös, Abb6 (1748— 1836) 4 7 3 . Stände 69, 3 2 2 ff., 3 4 0 , 392.
Sigismund, K aiser (1411— 1437) 5 8 , Stan d esb eam ter 154.
2 0 3 , 2 0 5 , 207. S tatistik 9 6 , 1 5 1 , 1 5 4 , 4 3 4 1 , 4 6 9 ff.
Signorie 183. S taufer 1 7 , 1 5 9 f l , 1 9 5 , 2 0 8 , 244.
Simonie 2 7 , 1 2 1 , 1 4 2 , 1 4 9 , 531. S tefan, der Heilige, K önig (9 9 7 — 1 0 3 8 )
Sinclair, J . 300. 204.
Sinnlichkeit 3 6 7 , 3 8 0 , 381 ff. Stefanskrone s. Ö sterreich-U ngarn.
Sippen 1 1 0 , 1 3 0 , 1 3 5 ,1 5 2 ,2 0 3 ,2 8 5 ,3 4 5 . Stendhal (B eyle 1783— 1842) 194.
Sistina, in R om 1 2 0 , 190. Sternenbanner 5 2 2 , 525.
Sizilien 5 6 , 1 2 4 , 1 2 5 , 1 5 9 , 1 6 3 ,1 6 8 ,1 7 7 , Sternenw elt 3.
186. Steuern, Steuerverw eigerung 2 6 ,2 7 ,1 5 4 .
Slawen 6 8 f., 3 9 9 ff., 4 5 9 ff. Stiften (W eltkrieg als Stiftungskrieg) 4 2 6 .
Sm ith, A dam (1723— 1 7 9 0 ; H auptw erk „ S til“ 1 7 9 , 1 8 1 , 1 8 2 , 4 7 3 1
1776) 2 9 8 1 , 3 5 4 , 3 5 5 . S trafford (1593— 1641) 290.
Snowden, Philipp 303. S traß en 2 5 0 , 3 2 3 , 4 3 3 1
Soci6t6 des N ations in Genf 3 2 , 61, 3 5 3 , S trategie 5 1 6 1
3 7 0 1 , 470. S tu a rts 271 ff.
Sohn 217, 3 5 3 , 4 4 4 , 4 6 3 f l , 5 0 8 , 515. Stundenlohn 463 ff.
Soldat 295, 391 f l , 4 1 3 1 , 5 1 5 ff. S ubjek t 1 5 6 , 3 8 1 1
Sorbonne 3 7 , 3 1 8 , 3 3 2 , 3 3 4 , 335. Südtirol 56.
S o u verän ität 2 2 8 , 295. S uffragette 3 3 9 1
Sowjetunion 5 1 , 1 8 5 , 433 ff. Sultan 32.
Sozial vgl. G esellschaft 354. Sum m us episCopus 228.
Sozialrevolutionäre 1 4 , 4 4 0 , 528. Suprem acy 2 7 7 , 2 9 6 .
Sozialismus, Sozialisierung 4 , 3 8 5 ,4 3 4 f l , Superintendenten 199.
453. Superioritas 229.
Sozialpolitik, preußische 354. S u tri, Synode (1046) 129 f l
Spanien 6, 29, 3 0 , 3 5 , 7 6 , 94, 1 2 6 , 205, Szepterlehen 241ff. *
253, 3 2 5 , 502.
Spekulation 331. T agelöhner 4 6 3 1
Spengler, Oswald (geb. 1880) 3 2 , 3 7 , T asso, T orq u ato (1544— 1595) 251;
Sphärengesetz 3. [477 f. T aufe, T aufnam e 3 3 , 1 1 0 1 , 217.
Spirituale 1 7 3 , 1 8 0 , 2 2 2 , 534. Technik 4 7 5 1 , 487.
Spiritualia 1 5 1 . temporalis gladius 1 3 6 , 151.
Spiritus s. Geist. Tertiarier 1 7 5 .
Spolienrecht 150. Teufel 115, 1 5 6 , 4 5 9 , 4 7 0 1 , 509ff.
S p o rt 2 8 6 , 3 0 4 . T eutonen 1 4 6 .
Sprache (vgl. V okabular) 3 4 0 , 459 ff. T eutsche L ib e rtä t 2 2 6 , 2 2 8 , 2 3 5 , 4 0 2 .
— des Älplers 180. T h e a te r 3 0 5 , 3 0 7 ff.
— der Gelehrten 1 5 6 . Theologie 154.
— der R evolutionen 468 ff. Thesen, Die 95 (von 1517) 2 2 , 2 0 6 ,
S p rech er, der 2 6 4 , 2 6 5 , 267. 2 1 5 ff., 2 4 7 , 474.
S ta a t, der w eltliche 4 , 52, 72, 88, 1 8 4 , T hom as von Aquino (1225— 1274) 1 5 7 ,
18 5 , 1 8 6 , 4 8 6 . 1 7 0 171 332.
S taatsb ü rg er 348. T hom as a B eck et (1118— 1170) 279.

546
Thomasius, Christian (1 6 5 5 — 1 7 2 8 ) 2 3 3 . ,,U rbi et orbi“ 4 9 , 50, 127, 160.
Thüringen 1 9 6 . Urlaub des A rbeitnehm ers 468.
Tiara, Die, des Papstes 1 8 8 .
Tieck (1 7 7 3 — 1 8 5 3 ) 2 4 6 , 4 1 9 . V alla, Lorenzo (1407— 1457) 36.
Tilsiter Friede (1807) 28. V alm y (20. Sept. 1792) 2 2 , 83, 85, 327.
Tirol 56. vaterländische U m kehr 21.
T isch, Der des Hauses 2 6 8 , abgebildet Das V aterland 247.
bei 292. D er V atikan 1 5 9 ,1 8 2 ,1 9 0 ,1 9 2 , 4 8 0 , 501.
Titulus 130. Venedig 168, 1 7 7 , 182, 1 8 4 , 1 8 9 , 193.
Tizian (1480— 1576) 206, 211. Venus 382.
Tod 481. Verblendung s. Ü berm ut.
T oleranzpatent 404. Verdun 3 1 7 .
Tolstoj (1828— 1910) 444 f., 497 f. V erfassung s. K on stitution 76, 4 7 5 , 490.
T o ta litä t, Totaldenken 3, 5 , 3 1 , 111, Vergennes (1717— 1787) 3 5 , 2 9 7 , 307.
1 1 5 , 1 8 6 , 4 2 0 ff., 432, 4 9 4 , 521 ff. Vermögen 3 5 2 , 393.
Die politischen T on arten 52. Versailles 27, 8 1 , 3 0 7 f i , 31 7 ff.
Tories (seit 1680) 225, 2 8 7 ff., 3 1 4 . V igny, Alfred de (1797— 1863) 394.
T ra ch t s. Kleid 198. V irtü 193.
Traill 269. V okabular (s. Namengebung) 1 5 6 ,3 5 8 f.,
T ra k ta tlite ra tu r 473. 469, 4 7 3 1
T rastev ere in R om 181. Volk, ins V . gehen, „V olk“ als politisch
T reasu ry 299 f., 301. d estru k tiv 1 0 2 1 , 2 9 0 , 4 4 4 , 497 f l
T reitschke, Heinrich v. (1834— 1896) Völkerbund s. Société des N ations.
2 4 8 , 409. Völkerpsychologie 1 9 1 , 497 ff.
Trennung der Gewalten 2 3 0 , 294, 353. V ölkerrecht 140, 230.
Triebhandlung 471. Volksgeist 290.
T rien t 5 6, 2 2 8 . V olksw irtschaftslehre 9 , 303.
Trikolore 34 4 . volonté générale 3 4 2 , 344.
T rin itä t 194. V oltaire (1694— 1778) 308 f l , 3 1 3 , 3 2 2 ,
Tripolis 171. 3 3 4 , 3 3 5 , 3 5 2 , 3 6 0 f l , 4 4 6 , 4 5 3 , 456.
T rochu (1815— 1896) 354.
Troeltsch (1865— 1923) 20. W a g n e r, Cosima, R ich ard (1813— 1883),
Trotzkij (geb. 1877) 74, 4 4 9 , 475. Siegfried 2 3 6 , 427 ff.
Tschechen s. Böhm en 204. W ald , der deutsche 249.
Türkei 6, 3 8, 5 0 , 242. W allenstein (1583— 1634) 244.
Turgenjew (1818— 1883) 4 4 4 . W alpole, R o b ert (1676— 1745) 2 6 7 , 270.
T u rgo t (1727— 1781) 83. — H orace (1717— 1797) 297.
Turk-Sib 5 1, 4 38. W alp u rg isn ach t 2 5 1 , 4 7 7 .
Tyndale (1483— 1536) 260. W a rtb u rg 1 9 6 , 221.
T yran n 8 7 , 271. W ash in gton , Georges (1732— 1799) 29,
7 1 , 5 2 5 ,5 2 6 . ,
U b iq u ität 130. W e a lth 298 ff.
Ü berm ensch 3 8 0 . W eb er, M ax (1864— 1920) 2 0 , 427.
Ü berm ut, Ü berhebung, Epochen der 2 8 , W echel (gest. 1554) 35.
1 4 8 , 1 8 7 , 2 4 0 ff., 2 9 2 , 2 9 7 ff., 3 6 5 ff., W eekend 270.
3 7 9 , 4 0 4 , 4 1 5 , 5 3 5 f. W ehrpflicht 3 4 5 , 3 9 1 , 526 f.
U ltram on tan en 1 2 3 , 177, 224. W eihe, W eihekaiser, W eihegew alt 9 1 ,
U lster in Irlan d 63. 1 5 0 , 1 5 3 , 2 0 9 , 2 5 0 , 430.
U nam S an ctam 28, 1 2 8 , 1 3 6 , 1 8 8 , 2 2 2 . W eim ar 246 f.
U ngarn s. Ö sterreich-U n garn 1 3 , 1 0 8 , W eizengürtel 4 8 6 .
1 0 9 , 1 2 5 , 1 5 0 , 1 9 4 , 2 0 4 , 245, 3 4 1 , 403. W elfen 1 4 8 , 1 6 4 .
Unicum nom en 133, 136. W ellington (1769— 1852) 296, 3 0 2 .
U niversum 3 0 8 , 360. W e lt, W eltord n u n g, world 3, 6 1 , 1 8 7 ,
U n iversitäten 1 9 7 ff., 2 4 0 ff., 2 7 0 1 , 3 2 8 ff. 2 5 3 ff., 2 9 8 , 3 0 5 , 3 3 6 , 397.
U n tere Gew alten, U nterhaus 286, 296. W eltan sch au u n g, vgl. politischer H ori­
U n te rta n 2 2 4 , 296. zont u. Geist 4 , 2 3 3 , 2 3 8 , 2 5 4 , 2 9 2 .
U rban I I ., P a p st (1088— 1099) 1 3 8 , 159. W eltg erich t 111 ff., 193, 4 9 2 f ü
U rban I I I . (1185— 1187) 159. W eltgesch ich te 5, 2 2 , 1 1 1 ,1 5 4 ,4 6 2 ,4 6 5 .
U rban IV . (1261— 1264) 157. W eltklerus 1 1 2 , 174.
35*
547
W eltkrieg 1, 3, 5, 30» 34, 47, 408, 426» Y eo m an ry 275.
457» 4 8 2 1 , 521 f l
weltliche Obrigkeit 11, 16, 25. Z ab em F all 408.
W erk e, W irken 155. Zahlen, 23.
„W esten “ der 4 9 , 478. Z eit s. Chronos.
W estling 4 9 , 3 9 7 , 444. Zeitgeist 342.
W estm in ster 2 5 9 . 9 Z eit oder R au m 121 ff., 526.
W e tz la r 2 4 6 . Zeitrechnung 18, 1 9 , 4 7 8 ff.
W higs 2 2 5 , 287, 300. Zentralism us 145, 3 2 3 , 337.
W ien 2 3 1 , 399 ff. Zion 2 5 7 , 472.
W ilhelm I I I ., von Oranien (1689— 1702) Zisterzienser 1 3 1 , 171.
7, 9 , 17, 2 8 , 1 1 9 , 259, 277. Zivil 1 3 7 , 1 3 9 , 1 4 5 , 1 4 7 , 2 1 4 , 2 2 5 , 2 3 0 ,
W ilson (1856— 1919) 522. 259.
W inckelm ann (1717— 1768) 194. Zivilisation 1 3 7 , 2 5 0 , 3 4 6 f.
W irtschaftsepochen 463 ff. Zivilkleid 2 1 1 , 295, 407.
W irtsch a ftssta a t 1 8 5 , 4 6 1 , 490. Z iv ilstaat (vgl. civil) 1 0 7 , 1 0 9 , 1 5 5 , 2 0 1 ,
W issen und Gewissen 1 9 8 ff., 534. 2 1 4 , 2 3 1 , 236.
W itten b erg (gegr. 1502) 59, 73, 1 9 6 ff., Zivil und M ilitär 2 3 0 , 407 f.
2 1 2 218 2 32. Z ölibat 1 1 0 , 1 3 5 , 1 4 1 , 457.
W ittig , Josep h (geh. 1879) 1 5 6 , 190. Zola, Em ile (1840— 1902) 386 f.
W olff, Christian (1679— 1754) 2 3 6 , 2 4 2 , Z u ca ti, F ra n c, e Valerio (1 6 . J h d .) 182.
W olga 433 f. [355. Zusam m enbruch von (1918) 2 4 , 529 f.
W oltm an n 4 8 . Zw eiparteiensystem 225, 2 8 7 ff., 366.
W orm ser E d ik t (1521) 206 f., 208. Zw eischw erterlehre 1 3 6 .
W orm ser K on k ord at (1122) 26, 30. Zwingli (1484— 1531) 214.
W o rm ser R osengarten 1 1 1 .

548
IN H A LT

A. TH EO R IE D E R REVO LUTIO N EN
I. TOTALREVOLUTION....................................................S. 3
Kosmische Politik (S. 3 ). Revolutionsgeschichte s ta tt Kriegsgeschichte
(S. 4 ). Die echte Revolution (S. 5 ). Selbstbewußtsein der Revolution
(S. 6). Industrial Revolution (S. 9 ). R eform ation (S. 1 0 ). Papstrevolu­
tion (S. 1 1 ). U rrech t (S . 1 1 ). Name und Kehrseite (S. 1 2 ). Die „g e­
m achte“ Revolution (S. 1 3 ). Die Revolution in Perm anenz (S. 1 5 ).

II. DER RHYTHMUS DER R E V O LU T IO N .................................S. iß


Der doppelte Anfang (S. 1 6 ). Der Kalender der Revolution (S. 1 8 ).
Die Neuzeit (S. 1 8 ). Jo ach im von Fiore (S. 2 0 ). Schulbücherepochen
(S. 2 0 ). Ausbruch und Ende (S. 2 2 ). „Gewesene Menschen“ (S. 2 3 ).
Unser Zusammenbruch (S. 2 4 ). Das Ende der Revolution (S. 2 5 ). Ver­
blendung und Demütigung (S. 2 8 ). Die Prüfungszeit (S. 2 9 ).

III. DER PO LITISCH E HORIZONT: DAS ABENDLAND ODER


E U R O P A ............................................................................................ S. 3 2
Das Abendland oder Eu ropa (S. 3 2 ). Eu ropa der Antike (S. 3 4 ). Europa
Karls des Fünften (S. 3 5 )* Spengler (S. 3 7 ). O steuropa (S. 3 8 ). Das
Morgenland (S. 3 9 ). Die zwei Okzidente und die Ü bertragung der
Einheit von dem antiken auf den fränkischen Okzident (S. 3 9 ). Das
Reich Karls des Großen (S. 4 0 ). Der K aiser in der K irche (S. 4 0 ). Der
W ettkam pf Europas m it dem Abendland (S. 4 3 ). Zwei Renaissancen
(S. 4 4 ). Die Atom isierung der W elt (S. 4 6 ). Das pluralistische W elt­
bild (S. 4 8 ). Christlich germanische Staatenw elt (S. 4 8 ). Der „W e­
sten“ (S. 4 9 ). „U rbi et Orbi“ (S. 4 9 ). Die politischen T onarten (S. 5 2 ).
Geistige Annexionen (S. 5 2 ).

IV. DER SPIELRAUM DER NATIONEN UND DER BEG RIFF NA­
TION .................................................................................................. S. 5 4
Die N orm alnation (S. 5 4 ). .Elsaß-Lothringen (S. 5 5 ). Oberschlesien
(S. 5 5 ). Südtirol (S. 5 6 ). N ation (S. 5 6 ). Legende vom Röm ischen
Reich D eutscher N ation (S. 5 7 ). N ation als Kirchenkörper (S. 5 8 ).
P rag (S. 5 8 ). Ü bersicht (S. 6 4 ).

V. SOZIALE VORGESCHICHTE DER REVOLUTION: DIE K LA S­


SEN ZIELE ........................................................ ............................ S. 66
Der Klassenkam pf (S. 6 6 ). Die Erschaffung des Menschen (S. 6 6 ).
Die Heerschildordnung (S. 6 9 ). Die soziale Vorgeschichte der R ev o ­
lution (S. 7 1 ). Ideologie und R evolution (S. 7 1 ). Sturm vögel der R e-

549
volution (S. 7 3 ). Im m unität (S. 7 4 ). Standortslehre der Revolution
(S. 7 5 ). Das russische Dorf (S. 7 7 ). Der wunde Punkt (S. 7 8 ). Der hi­
storische Moment (S. 8 1 ). Die moralische Entrüstung (S. 8 3 ). Dialek­
tik (S. 8 7 ).

VI. DIE HERRSCHAFTSFORM UND DIE OPPOSITION . . S. 89


Der eigentliche Herrscher (S. 8 9 ). E lite (S. 9 0 ). Die herrschende Klasse
(S. 9 1 ). Die Freiheit (S. 9 1 ). Die Halbrevolutionen (S. 9 3 ). Die Nieder­
lande (S. 9 3 ). Spanien (S. 9 4 ). Die Kam pfgeneration (S. 9 4 ). Die
Führer (S. 9 6 ). S tatistik der herrschenden Klasse (S. 9 6 ). Die Greuel
der Revolution (S. 9 9 ). Die Linksopposition (S. 1 0 0 ).

B. GANG D ER REVOLUTION DURCH EUROPA


DER E IN T R IT T IN DIE WELTGESCHICHTE
VII. DAS WELTGERICHT, DER KAISER UND DIE KIRCHE S. io7
Abschied von Allerheiligen (S. 1 0 7 ). Binneneuropa (S. 1 0 7 ). Der heilige
Kaiser (S. 1 0 8 ). Der Fluch der Vererbung (S. 1 1 0 ). „R eligion“ (S. 1 1 0 ).
Allerseelen (S. 1 1 1 ). Der R aum der W eltgeschichte (S. 1 1 1 ). Dies Irae
(S. 1 1 2 ). Fah n en träger Michael (S. 1 1 4 ). Der Geist des Abendlandes
(S. 1 1 6 ). Heinrich III. (S. 1 1 7 ). D ante (S. 1 1 7 ). Ghibellinen (S. 1 1 9 ).

DIE PAPSTREVOLUTION
VIII. DAS ERREGENDE MOMENT / ZEIT ODER RAUM? . S. x21
Simonie (S. 1 2 1 ). Geistesfreiheit (S. 1 2 1 ). Der D ruck auf Italien
(S. 1 2 2 ). Die Lom barden (S. 1 2 3 ). Die römische Kurie (S. 1 2 3 ). Die
Norm annen (S. 1 2 4 ). Urbi et Orbi (S. 1 2 7 ). Apostolisch (S. 1 2 7 ). Die
Kirche nicht international (S. 1 2 8 ). Die Schande von Sutri (S. 1 2 9 ).

IX. DAS H EILIGE GRAB UND DAS GEISTLICH E SCH W ERT S. 1 3 2


A u to rität (S. 1 3 2 ). D ictatus Pap ae (S. 1 3 2 )*. Paulus (S. 1 3 4 ). Das
geistliche Schw ert (S. 1 3 5 ). Civiltä C attolica (S. 1 3 7 ). Die Kirche
(S. 1 3 7 ). Die Gräber (S. 1 3 7 ). Die Kreuzzüge (S. 1 3 8 ). Das R ittertu m
(S. 1 4 0 ). Gotik (S. 1 4 1 ). Der neue Mensch (S. 1 4 2 ). Das erste K on­
k ord at (S. 1 4 3 ). Canossa (S. 1 4 4 ). Italien (S. 1 4 6 ). Evolution und R e ­
volution (S. 1 4 7 ). Die Überhebung (S. 1 4 8 ). Demütigung (S. 1 5 0 ).
Heiligsprechung Karls d. Großen (S. 1 5 0 ). Die H ierarchie (S. 1 5 1 ).
E h erech t (S. 1 5 1 ). Sakram ents (S. 1 5 2 ). Opus O peratum (S. 1 5 4 ). Schola­
stik (S. 1 5 6 ). Die Freih eit der K irche (S. 1 5 7 ). Fronleichnam (S. 1 5 7 ).

X. DER VATIKAN UND DIE W E LTLICH E N STAATEN . S. iö o


Der Bund m it der A rm ut (S. 1 5 9 ). Konzilien 1 2 1 5 und 1 2 4 6 (S. 1 5 9 ).
Die Freih eit Italiens (S. 1 6 1 ). Diplom atie (S. 1 6 1 ). Guelfen und Ghi­
bellinen (S. 1 6 2 ). Das verw undete Gewissen (S. 1 6 5 ). K onradin (S. 1 6 6 ).

55o
Das Absterben der Kreuzzugsidee (S. 1 6 8 ). Der K irchenstaat und die
sizilische Frage (S. 1 6 9 ). Kaiser Friedrich der Zweite (S. 1 6 9 ). Die
Bistüm er Süditaliens (S. 1 7 0 ). Franz von Assisi (S. 1 7 2 ). Die Spiritualen
(S. 1 7 3 ). Antiapostolisch (S. 1 7 3 ). Forderung der Landeskirchen (S. 1 7 3 ).
Das Kloster in der Geldwirtschaft (S. 1 7 3 ). Die Vermönchung d er Laien
(S. 1 7 4 ). Die Schlichtung (S. 1 7 5 ). Das große Alleluja (S. 1 7 5 ). Ave
Maria (S. 1 7 5 ). Flagellanten (S. 1 7 6 ). Die italienische Stadtstaatsidee
(S. 1 7 6 ). Italien den Italienern (S. 1 7 7 ). Zerstörung Mailands (S. 1 7 8 ).
Hypogenese (S. 1 7 8 ). Assisi und Florenz (S. 1 7 9 ). Erschaffung des
Italieners (S. 1 7 9 ). Die Landschaft (S. 1 8 0 ). Die Madonna (S. 1 8 1 ).
,,S til“ (S. 1 8 2 ). Die Pfahlbürger als Regel (S. 1 8 3 ). Florenz (S. 1 8 4 ).
Der weltliche S ta a t (S. 1 8 4 ). Der S tad tg o tt (S. 1 8 5 ). A u torität und
Potesta® (S. 1 8 5 ). Feudalism us (S. 1 8 6 ). Die älteste politische Lan d­
karte (S. 1 8 7 ). Ü berm ut und F all (S. 1 8 7 .) Kreislauf der Verfassungen
(S. 1 8 8 ). Die goldne Zeit der Civiltä hum ana (S. 1 8 9 ).

XL DIE . ITALIENISCHE RENAISSANCE / ANTLITZ ODER


M A S K E ? .......................................................................................S. 1 9 1
Völkerpsychologie (S. 1 9 1 ). Renaissance (S. 1 9 3 ).

D I E D E U T S C H E R E F O R M A T IO N
XII. DIE RELIGIONSPARTEIEN UND DER BEAMTEN­
STAAT ............................................................................................ S. 196
Sachsen, Thüringen, Hessen (S. 1 9 6 ). Das nordische B istum (S. 1 9 6 ).
Die deutsche Rückständigkeit (S. 1 9 7 ). Das K atheder (S. 1 9 8 ). W issen
und Gewissen (S. 1 9 8 ). Das zweite A m t (S. 1 9 8 ). Die unsichtbare
Kirche (S. 1 9 9 ). G ott und die Seele (S. 2 0 1 ). P ro te st (S. 2 0 1 ). Heeres­
kirche (S. 2 0 1 ). Bauernkriege (S. 2 0 2 ). Grünewald (S. 2 0 3 ). H ussiten­
kriege (S. 2 0 3 ). P ap st und K aiser (S. 2 0 4 ). Die R echtsfrage (S. 2 0 6 ).
Das W orm ser E d ik t (S. 2 0 6 ). Zur Technik der R echtsänderung (S. 2 0 7 ).
Die deutsche N ation im R eich (S. 2 0 9 ). Der deutsche Geist (S. 2 1 4 ).
Die Augsburger Konfession (S. 2 1 4 ). Das verwundete Gewissen (S. 2 1 5 ).
Die 9 5 Thesen (S. 2 1 5 ). Religion (S. 2 1 6 ). Dialektik der R eform ation
(S. 2 1 6 ). Sekurität (S. 2 1 7 ). Die große Person (S. 2 1 8 ). Luthers T e sta ­
m ent (S. 2 2 0 ). Die D em okratisierung der Reichsstände (S. 2 2 2 ). Die
deutschen Fü rsten (S. 2 2 4 ). Die M enschenart der R eform ation (S. 2 2 5 ).
Die Fürstenrevolution 1 5 2 5 — 1 5 5 5 (S. 2 2 6 ). Der Bauernkrieg (S. 2 2 6 ).
K arl der Fü n fte (S. 2 2 7 ). Der B eitrag der D eutschen zur Staatslehre
(S. 2 3 0 ). Zivil und M ilitär (S. 2 3 0 ). Eine N ation, m ehrere S taaten
(S. 2 3 2 ). Der B e am ten staat (S. 2 3 4 ). Die Staatenkonkurrenz (S. 2 3 6 ).
Der prinzipielle Standpunkt (S. 2 3 7 ). Buchgläubigkeit (S. 2 3 8 ). Goethe
als Volksredner (S. 2 3 9 ). Dekadenz (S. 2 3 9 ). Ü berm ut, Dem ütigung,
Ausklang (S. 2 4 0 ). Autonom ie (S. 2 4 1 ). Böhm en (S. 2 4 1 ). Die goldne
Zeit des alten Reiches (S. 2 4 4 ). H erder (S. 2 4 5 ). Goethe (S. 2 4 6 ). L es­
sing (S. 2 4 6 ). Das V aterland (S. 2 4 7 ). Der weltliche K alender(S. 2 4 7 ).

55i
B u ß ta g (S. 2 4 8 ). K ön ig s G e b u rts ta g (S. 2 4 8 ). D er d e u ts ch e W a ld
(S. 2 4 9 ). D er F a u s t (S. 2 5 0 ).

DIE ENGLISCHE PARLAMENTSREVOLUTION


XIII. DIE TRANSATLANTISCHE W E L T ......................S.a53
Die spanische Revolution (S. 2 5 3 ). Die Lücken dieses Buches (S. 2 5 4 ).
Die unbeherrschte W elt (S. 2 5 4 ). Die Verwurzelung des Engländers
(S. 2 5 5 ).

XIV. DAS BUDGET DER GEMEINEN UND IHR COMMON­


W EALTH .......................................................................................S. 2 5 6
Cant (S . 2 5 6 ). Das Alte T estam ent (S. 2 5 6 ). Milton (S. 2 5 7 ). Magna
Charta (S. 2 5 7 ). Das Herkommen (S. 2 5 8 ). Magna C harta - Ideologie
(S. 2 5 8 ). Anglikanisch (S. 2 5 9 ). R estoration (S. 2 5 9 ). Präzedenzfälle
(S. 2 5 9 ). Ancien régime (S. 2 6 1 ). Commonwealth oder die Gemein­
schaft (S. 2 6 2 ). Gemein (S. 2 6 2 ). Pietism us (S. 2 6 6 ). Book of Common
P ray er (S. 2 6 3 ). M. P . oder der Parlam entarism us (S. 2 6 4 ). Der Ord­
nungsruf (S. 2 6 4 ). Der Sprecher (S. 2 6 5 ). Sinn der Im m unität (S. 2 6 6 ).
Die Opposition (S. 2 6 7 ). Der Tisch des Hauses (S. 2 6 8 ). Country (S. 2 6 9 ).
Weekend (S. 2 7 0 ). Oxford und Cambridge (S. 2 7 0 ). Das Pedigree der
Stuarts und der Cromwells (S. 2 7 1 ). R ealm oder der S ta a t (S. 2 7 4 ). Der
N orm annenstaat (S. 2 7 4 ). Die G entry (S. 2 7 5 ). Parlam ente (S. 2 7 7 ).
Suprem acy (S. 2 7 7 ). Das Große Siegel — Thom as Morus (S. 2 7 8 ). Das
Gewissen des Königs (S. 2 7 9 ). Prädestination (S. 2 8 1 ). Paradise L o st
(S. 2 8 2 ). Quäker (S. 2 8 3 ). public spirit (S. 2 8 3 ). H üter der Verfassung
(S. 2 8 4 ). Kein B u ß tag (S. 2 8 4 ). Das schottische K irchenrecht (S. 2 8 4 ).
Kirk (S . 2 8 5 ). Die „unteren“ Gewalten (S. 2 8 5 ). Dialektik der R evo ­
lution (S. 2 8 6 ). W higs und Tories ( S . 2 8 7 ). Appell an das Volk ( S . 2 8 7 ).
Irland oder die Seeherrschaft (S. 2 9 0 ). Volksgeist (S. 2 9 0 ). Das aus­
erwählte Volk ( S . 2 9 1 ). Die N avigationsakte ( S . 2 9 3 ). Cromwell ( S . 2 9 4 ).
Hoch und Nieder (S. 2 9 6 ). Die Überhebung und der Abfall der Kolonien
(S. 2 9 7 ). Das erste Em pire (S. 2 9 8 ). Adam Sm ith (S. 2 9 8 ). Das B ud get
(S. 2 9 9 ). Das S ch atzam t (S. 3 0 1 ). Der Engländer (S. 3 0 4 ). W orld
Comedy (S. 3 0 6 ).

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION VON 1789


XV. DER SIEG DER VERNUNFT...................................S. 3o7
Die N atu r in Frankreich (S. 3 0 7 ). Vorspiel auf dem T h eater. V oltaire
und B eaum archais (S. 3 0 8 ). Die H errschaft der Ideen von 1 7 8 9 (S. 3 1 3 ).
Die französische Revolution steh t uns zu nah (S. 3 1 3 ).

XVL DIE ISLE DE FRANCE UND DER NATIONALSTAAT S. 3 1 7


Versailles (S. 3 1 7 ). Die hohe Schule von Paris (S. 3 2 8 ). Abailard (S . 3 2 9 ).
Der Geist ist G ott (S. 3 3 0 ). S t. Geneviève (S. 3 3 0 ). Speculation (S . 3 3 1 ).
Dialektik (S. 3 3 1 ). Die E rb sch aft aus dem M ittelalter (S. 3 3 3 ). H einrich

55s
Bourbon (S. 3 3 3 ). D escartes (S. 3 3 4 ). Die Salons (S. 335). Frauenfrage
(S. 3 3 8 ). Der Konvent (S. 3 3 9 ). Diskussion (S. 3 4 0 ). Rousseau (S. 3 4 2 ).
Der N ationalstaat in Europa (S. 3 4 3 ). „Jed erm an n “ (S. 3 4 5 ). K ultur
und Zivilisation (S. 3 4 6 ). Das Ausland (S. 3 4 7 ). Plebiszit (S. 3 4 8 ). De­
zimalsystem (S. 3 4 9 ). Normal (S. 3 5 0 ). Das Privateigentum (S. 3 5 0 ).
Das „ Ic h “ (S. 3 5 1 ). Die Personennamen (S. 3 5 2 ). Das E rb rech t am
Vermögen (S. 3 5 3 ). Der französische Kapitalism us (S. 3 5 4 ). Das euro­
päische Vokabular (S. 3 5 6 ). Die Philosophie des F o rtsch ritts (S. 3 5 8 ).
Ancien régime (S. 3 6 4 ). Gesetze der Parteibildung (S. 3 6 5 ). Ausstellung
und Museum (S. 3 6 6 ). Modern und alt (S. 3 6 6 ). Der Sammeltrieb
(S. 3 6 7 ). Der Ahnenkult der Dinge (S. 3 6 7 ). Der Zeitgeist (S. 3 6 8 ). Die
Mode (S. 3 6 9 ). Freundschaft und Zeitung (S. 3 6 9 ). Einähriges Lehen
(S. 3 6 9 ), Die Sensation des Philosophierens (S. 3 7 0 ). Freim aurerei
(S. 3 7 0 ). Die Judenem anzipation (S. 3 7 2 ). H um anität (S. 3 7 2 ). Das
Individuum (S. 3 7 7 ). E sp rit (S. 3 7 9 ). Su bjektivität (S. 3 8 1 ). Die De­
kadenz der Liebe (S. 3 8 2 ). Leidenschaft, K rankheit, L aster (S. 3 8 2 ).
B alzac (S; 3 8 5 ). Ungöttliche Komödie (S. 3 8 5 ). Em ile Zola (S. 3 8 6 ).
Proust (S. 3 8 6 ). L ’A rgent (S. 3 8 7 ). Der letzte Mensch (S. 3 8 8 ). R e­
vanche (S. 3 9 0 ).

XVII. DIE BÜRGERLICHE GESELLSCH AFT UND DER K LA S­


SENKAMPF ...................... ........................................................... S .3 9 1
Der Radikalismus der Klassengesellschaft (S. 3 9 1 ). Klasse und Stand
(S. 3 9 2 ). Die Dialektik der Revolutionen (S. 3 9 3 ).

DIE RE VOL UTION DER DEUTSCHEN GROSSMÄCHTE


XVIII. VÖLKERSTAAT HABSBURG UND MILITÄRSTAAT
PREUSSEN......................................................................S. 397
Die deutsche N ation und. die deutschen G roßm ächte (S. 3 9 7 ). Österreich
(S. 3 9 9 ). Die Türken (S. 4 0 2 ). M aria Theresia (S. 4 0 3 ). Überhebung
und F all (S. 4 0 4 ). Böhm en (S. 4 0 6 ). Der Preußische S ta a t (S. 4 0 7 ), Die
Grenzen (S. 4 0 9 ). Das Heer (S. 4 0 9 ). Der Alte F ritz (*S. 4 1 2 ). Der Sie­
benjährige Krieg ( S . 4 1 3 ). Disziplin (S . 4 1 4 ). Der siegreiche Krieg ( S . 4 1 5 ).
Überhebung und F all (S. 4 1 5 ). Königin Luise (S. 4 1 5 ). Die R om antik
(S. 4 1 6 ). Der Historismus (S. 4 1 7 ). Goethe, Hegel, Schlegel (S. 4 1 8 ).
Bism arck (S. 4 2 1 ). Totaldenken (S. 4 2 1 ). Hegel (S. 4 2 2 ). Friedrich
Schlegel (S. 4 2 3 ). Reichsgründung (S. 4 2 6 ). *W eltstiftung (S. 4 2 6 ).
B ach , Beethoven, W agner (S. 4 2 7 ). Musica sacra (S. 4 2 7 ). B ayreu th
(S. 429).

DIE RUSSISCHE WELTREVOLUTION


XIX. G ETREID EFABRIK UND ERD BALLSTAAT . . . S. 4 3 3
M ütterchen Rußland in Zahlen (S. 4 3 3 ). Die russische Exp ansion
(S. 4 3 5 ). Dialektik der Geschichte (S. 4 4 1 ). Die Jntelligenz (S. 4 4 1 ).
Bruchstücke einer russischen Literaturgeschich te (S. 4 4 1 ). Die Russin

553
(S. 4 4 3 ). Die „Algebra der Revolution“ (S. 4 4 6 ). M arx (S. 4 4 6 ). Die
W eltgesellschaft (S. 4 5 0 ). Lenin (S. 4 5 4 ). Gesinnung (S. 4 5 6 ). A n tritt
der H errschaft (S. 4 5 7 ). Die Armee der Arbeit (S. 4 5 8 ). Die Gesetze
Lenins (S. 4 5 9 ). Lenin (S. 4 6 0 ). Das Ende des patriotischen Denkens
(S. 4 6 1 ). Die Arbeitszeit des Proletariers (S. 4 6 3 ). Kalkulation (S. 4 6 4 ).
„Unproduktive“ Löhne (S. 4 6 5 ). Der Stundenlohn (S. 4 6 5 ). Der prole­
tarische Kalender (S. 4 6 7 ). Die Sprache des Alltags (S. 4 6 8 ). Das neue
Vokabular (S. 4 7 0 ). Die Triebhandlung (S. 4 7 1 ). Gut und Böse (S. 4 7 1 ).
Judas Ischariot (S. 4 7 2 ). Zions W äch ter des Alltags (S. 4 7 2 ). Das Vo­
kabular der Revolutionen (S. 4 7 3 ). Die Leere des Schlachtfelds (S. 4 7 5 ).
Die technische Form el (S. 4 7 6 ). Der Chok der Technik (S. 4 7 6 ). Der
erste Mai (S. 4 7 7 ). Das Seufzen der K reatu r (S. 4 7 7 ). Die neue Zeit
(S. 4 7 8 ). Der Glaube an den Tod (S. 4 8 1 ). Der W eltkrieg (S. 4 8 2 ). Die
beiden W ege aus dem W eltkrieg (S. 4 8 3 ). P iatiletka (Der Fünf jahres­
plan) (S. 4 8 4 ). Die neue Schlüsselgewalt (S. 4 8 8 ). Die Prophezeiung
von 1 9 1 2 (S . 4 8 9 ). Der Mensch als F ab rik at ( S . 4 9 0 ). E rd b allstaat ( S . 4 9 4 ).

C. WELTMOBILMACHUNG
Am Schmelzpunkt der Nationen (S. 4 9 7 ). V olkssouveränität (S. 4 9 7 ).
M atthias Grünewald (S. 4 9 8 ). Shakespeare (S. 5 0 0 ). Der Rückgriff vor
die Revolution (S. 5 0 1 ). Die Rolle Frankreichs (S. 5 0 2 ). Heimkehr
(S. 5 0 2 ). Das Schweigen der Heimkehrenden (S. 5 0 4 ). Die Geschöpfe
der Revolution (S. 5 0 5 ). Die europäische Völkerfamilie (S. 5 0 9 ). Das
„N ein“ (S. 5 1 0 ). Produktion und Reproduktion (S. 5 1 5 ). Die ökono­
mische Geschichtsauffassung (S. 5 1 8 ). Das W eltkriegserlebnis (S. 5 2 1 ).
W eltzeituhr (S. 5 2 4 ). Die U .S .A . von 1 7 7 6 (S. 5 2 4 ). F ro n t gegen Osten
(S . 5 2 6 ). C reator Spiritus (S. 5 3 0 ).

Berichtigungen
S. 3 1 , Z. 8 v. u. lie s : B ohr.
S. 1 2 5 , Z. 8 v. u. lies: 1 0 5 3 huldigten die Söhne Tankreds v. Hauteville.
S. 1 5 5 , Z. 1 8 v. u. lies: V itry s ta tt Viterbo
S. 2 4 1 , Z. 8 v. o. lies: Deshalb verdient E rstenb ergers T ra k ta t de au-
tonom ia von 1 5 8 6
S. 4 4 5 , Zeile 5 v. u. lies: daher.

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REICH
B A S A L T E
QUELLEN ZUR DEUTSCHEN K U L T U R

A lb e rt v o n A a c h e n , G e sch ich te des ersten K re u z z u g e s


Übertrag1, und eingeleitet von Herman Hefele. Mit 16 Bildtafeln nach alten Origi­
nalen. 2 Bände, geh. 12 .—, geh. 16.5o, Vorzugsausg. in Halhleder 25.—
Diese Bände mit ihren Berichten, Erzählungen und Legenden der gewaltigen mittel­
alterlichen Bewegung, aus der der christliche Adel des Abendlandes hervorging, ent­
halten das große Erlebnis der Zeit, die Umgestaltung der frühchristlichen Kirche und
zugleich das Bewußtsein der abendländischen Einheit im Gegensatz zum Morgenlande.

D ie L im b u rg e r C h ron ik
Eingeleitet von Otto Brandt. M it 17 Tafeln nach alten Originalen, geh. 4.50, geh. 6 .80 ,
in Halbleder 9.50
„ D i e deutsche Seele** hat man dieses Werk genannt, das quellenmäßig das unmittelbarste
Dokument für das gesamte deutsche Volksleben des 14. Jahrhunderts ist. Die großen
sozialen Strömungen dieser Zeit finden hier ihre Erklärung, aber ebenso auch die all­
täglichen Ereignisse, Volksfeste und Spiele, Modefragen und Lebensverhältnisse.

D e r g ro ß e B a u e r n k rie g
Zeitgenössische Berichte, Aussagen und Aktenstücke. Übertr. und eingeleitet von Otto
H. Brandt. Mit 18 Bildtafeln, geh. 7-50, geb. 10 .—, in Halbleder 12.60
Aus diesen zum erstenmal geschlossen vorliegenden Berichten und Dokumenten wird
klar, daß mit dem großen Bauernkrieg der Durchbruch des Neuen begann. Ein leben­
diges Bild der elementaren Kräfte einer Volksbewegung, angefangen von dem Bund­
schuh, der Einmischung Luthers, den Kämpfen von Götz und Florian Geyer bis zum
Zusammenbruch.
J o h a n n e s A v e n tin u s ’ B a ie ris c h e C h ron ik
ln Auswahl hrsg. von G. Leidinger. M it 10 Abb. geh. 6.— , geb. 8.50, in Halbleder 11.—
D ie erste deutsche
Geschichte, die fü r das Folk geschrieben wurde und die in S p ra ch e u n d Stärke
Werken L u t h e r s g leich gestellt werden k a n n. W as Luther durch seine Bibel­
des A u sd ru ck s d en
übersetzung schuf, wollte Aventin durch Geschichte erreich en : Ordnung durch Orien­
tierung an der deutschen Vergangenheit zur Überwindung der Reformationswirren.

D ie W iedertäufer zu M ü n ste r 1 5 3 4 / 3 ?
Berichte, Aussagen, Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen. Ausgewählt und
übersetzt von G. Löffler. M it 9 Bildtafeln, geh. 6 .— , geb. 8.50, in Halbleder 11.—
Auch- hier sind die Dokumente einer V olksbew egung zusammengetragen, Fluch und
T ragödie der schrankenlosen Freiheitsbewegung werden in diesen Zeugnissen fest­
gehalten. Es ist der K am pf gegen die O rdnung der Reformation, der Fanatismus der
Überschwenglichen, die Revolution um ihrer selbstwillen machten und an dem E m st
der R eform ation mit ihrer ordnenden Kraft scheiterten und zugrunde gingen.

V a g a n te n lie d e r (C a rm in a b u r a n a )
Aus der lateinischen Dichtung des 12. und 1 5 . Jahrh.
Übertr. und em geleitet von R obert
Ulich und M. Manitus. M it 8 Bildtafeln, geh. 5 .— , geb. 7.60, in Halbleder 10.—
Diese L ied er im V ersm aß von Gaudeam us“ sprechen in ihrer freien Schönheit und
sprühenden Sinnenfreude eine Sprache, die noch heute Bewunderung abnötigt. Sie
geben ein fa rb ig echtes Kulturbild vom Geist der Fahrenden zur Zeit der staufischen
Hochblüte. D er Originaltext ist der deutschen Übertragung gegenübergestellt.

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