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Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof.

IOE
1

Vorlesung
Grundlagen der
Inklusionspädagogik/
Sonderpädagogisches
Orientierungswissen
3. Sitzung
Montags 10:15 bis 11:45 Uhr (wöchentlich)
Veranstaltungsort/Raum: online via Zoom

Stellv. Prof. Dr. Steve R. Entrich


Professur für Inklusion und Organisationsentwicklung IOE, Universität Potsdam
Sprechzeiten: nach Vereinbarung (Raum: 2.31.1.06)
Kontakt: entrich@uni-potsdam.de
VL 3: Worüber reden wir eigentlich?
Klärung relevanter Begriffe von Inklusion, Heterogenität und
Diversität zu sozialer Ungleichheit und Intersektionalität

Inhalte
Ø Inklusion: Begriffliche Ein- und Abgrenzung
v eng versus weit gefasstes Inklusionsverständnis
v Inklusionskonzepte
v Inklusion als Antwort auf Diversität
v Definitionen für Behinderung, sonderpädagogischer Förderbedarf, Heterogenität und
Intersektionalität
Ø Inklusion als Antwort auf soziale Ungleichheit
v Bildungsexpansion und die gestiegene Bedeutung von Bildung in der Gesellschaft
v Genese von Bildungsungleichheiten
v Auswirkungen von Bildungsungleichheiten auf gesellschaftliche Teilhabe
Leitfragen
Ø Welche Unterschiede im Verständnis von Inklusion gibt es und wie relevant sind diese für den
Lehrberuf?
Ø Welche verwandten Begrifflichkeiten müssen Sie kennen und abgrenzen lernen?
Ø Wieso greift das eng gefasste Inklusionsverständnis zu kurz?
Ø Welche Auswirkungen hat die Exklusion von SuS vom Regelschulsystem im Allgemeinen und vor dem
Hintergrund weiterer Heterogenitäten?
Ø Wie kann durch Inklusion soziale Ungleichheit reduziert werden?
GRUNDLAGENLITERATUR
v Budde, Jürgen (2018): Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Inklusion und Intersektionalität.
In: Sturm, Tanja & Wagner-Willi, Monika (Hrsg.), Handbuch schulische Inklusion. Opladen: Verlag
Barbara Budrich: 46-59.

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Was bedeutet Inklusion?
Teil 1: Begriffliche Ein- und Abgrenzung

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusionskonzepte

Inklusion: Verwendung
Unterscheidung von Inklusion nach ethischen, pädagogischen und politischen Verwendungsweisen:

v Menschenrechtsbasierte politische Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe


v Bildungspolitischer Anspruch an Inklusion:
o seit UN-BRK 2006: Inklusion als „Bildung für Alle“
o Strategie für die (Schul- bzw. Sonder-)Pädagogik
o ABER: Wandel von Bildungspraxis allein kann gesellschaftliche Inklusion nicht
umsetzen
v Sonderpädagogisches Handlungsproblem auf der Ebene der Unterrichtspraxis:
o pädagogische Bearbeitung der Integration von Menschen mit ‚Behinderungen‘ ins
Bildungssystem (räumlich, didaktisch, personell)
v Menschenrechtsbasierte pädagogische Thematisierung von Inklusion:
o Berücksichtigt neben Behinderungen auch andere soziale Differenzkategorein
(Fokus auf Differenz und Heterogenität)
v Sozialwissenschaftlich inspiriertes Verständnis von Teilhabe und Ausschluss (Exklusion)
o Abgrenzung von personenbezogenen ‚Behinderungs‘-Zuschreibungen

4 Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Inklusionskonzepte

Inklusion: allgemein

Ø Inklusion ist ein komplexes Konzept


Ø ohne allgemein akzeptierte Definition
Ø unterschiedliche Argumentationsstränge:
v theoretisch idealistische Bestimmungen
v pragmatische Zugänge (bildungspolitische Gegebenheiten und
Umsetzungsmöglichkeiten)

Ø Inklusion ist ein gesamtgesellschaftliches Konzept


Ø umfasst die gesamte Lebensspanne („von der Wiege bis zur Bahre“)
Ø Variiert in den Anforderungen in verschiedenen Lebensabschnitten (bspw.
Grundschul- versus Sekundarschulbildung)

Ø Inklusion ist Antwort auf verschiedene Differenzkonstruktionen

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion als Antwort auf Diversität

Inklusion: Auseinandersetzung mit Differenz (in ERZ und SOZ)


Ø Vielzahl von Differenzkonstruktionen gebräuchlich:

Diversity Differenz
Heterogenität
Vielfalt

Disparität
Verschiedenartigkeit

Diversität
Unterschiedlichkeit
Ungleichheit

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion als Antwort auf Diversität

Differenzkonstruktionen

Ø besitzen allgemeine Gültigkeit (Universalismus):


v „Bildung für alle“, unabhängig von individuellen Merkmalen,
Attributen oder sozialen Differenzen

Ø betonen die einzelne Person (Individualität):


v fokussieren auf Unterschiede zwischen Individuen und Gruppen

Ø Fungieren als soziale Zugehörigkeits- und Ordnungsschemata


(Differenz):
v Selektion, Allokation und allg. gesellschaftliche Positionierung
beruhen auf Differenzierung, indem Kategorisierungen
vorgenommen werden

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion – Versuch einer Begriffsbestimmung

Inklusion: 2 Definitionen
Ø steht primär für die Teilhabe von
Ø Menschen mit ‚Behinderungen‘ bzw.
Ø SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF)
Nach Budde & Hummrich (2013) generelle Unterscheidung in:
Ø Eng gefasster Begriff: schulische Inklusion (Pädagogik)
v Inklusion von SuS mit Behinderungen bzw. konkreten körperlichen
Beeinträchtigungen
Ø Weit gefasster Begriff: gesellschaftliche Teilhabe (Sozialwissenschaften)
v Exklusion aufgrund einer Vielzahl von Differenzkonstruktionen, d.h.
unterschiedlichste Merkmale und Attribute bzw. Zuschreibungen, soll entgegen
getreten werden
v Heterogenität als prominentester Begriff zur Fassung von Differenz in Schulsettings,
beinhaltet SuS mir SPF aber nicht explizit
Ø ABER: beide Dimensionen beziehen sich klar auf verschiedene Ebenen
v schulische Inklusion (Pädagogik): als prinzipielles Muster moderner Schule
(organisatorisch)
v gesellschaftliche Teilhabe (Sozialwissenschaften): als ein aktueller Gegenstand
pädagogischer und bildungspolitischer Praxis
8 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion eng gefasst

Inklusion und „Behinderung“ (vgl. Textor 2015)


„Behinderung“ als alltäglicher Begriff
Ø fragwürdig und wenig klar für Betroffene als auch Fachleute (verdeutlicht durch extrem unterschiedliche Förderquoten je nach Bundesland)
Ø Unscharfe Definition von „Behinderung“ und „sonderpädagogischer Förderbedarf“

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion eng gefasst

Inklusion und „Behinderung“ (vgl. Textor 2015)

Verschiedene Zugänge:
v Medizinisch: Behinderung durch Krankheit, Schädigung oder
Funktionsbeeinträchtigung (impairment)
o gesundheitliche Einschränkung, die unmittelbar zum Problem wird
(Behinderung als Defizit):
o Körperliche Behinderung (Mensch im Rollstuhl )
o Psychische Störung (bspw. diagnostizierte Schizophrenie)
o Geistige Behinderung (bspw. Trisomie 21)
o fachliche Unterstützung zielt auf die Heilung des Menschen oder die
therapeutische Kompensation
o ABER: Selbst diese Definition erfolgt nicht unabhängig vom gesellschaftlichen
Kontext
o selbst medizinische Wahrnehmung beruht darauf, dass der Mensch mit
Behinderung von den Erwartungen der Gesellschaft abweicht
o Andersartigkeit/Unterschiedlichkeit verhindert volle Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion eng gefasst

Inklusion und „Behinderung“ (vgl. Textor 2015)


Verschiedene Zugänge:
v Soziologisch (oder interaktionistisch):
o interpretiert Behinderung als Ergebnis einer sozialen Etikettierung
o Annahme: welche Normabweichungen in einer Gesellschaft zu Problemen führen ist nicht
eindeutig
o Bsp: „Lernbehinderung“: erhebliche Schwierigkeiten u.a. beim Erlernen der
Kulturtechniken Lesen und Schreiben mag in Ländern mit einer geringen
Alphabetisierungsrate als „normal“ gelten, bei uns als „Behinderung“
o Ob Merkmale abweichen hängt von der jeweiligen Werte- und Normenstruktur ab
(Cloerkes 2001: 74).

Sozialer Behinderungsbegriff
Als Behinderung gilt „eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder
seelischen Bereich, der allgemein ein ausgeprägt negativer Wert zugeschrieben wird. Ein Mensch ist
‚behindert‘, wenn erstens eine solche Abweichung von wie auch immer definierten gesellschaftlichen
Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb negativ auf ihn reagiert wird. Es kommt also auf die
‚soziale Reaktion‘ an, sie ‚schafft‘ Behinderung und Behinderte.“ (Cloerkes 2001: 75)
o Behinderung ist immer mit einer Identitätszuschreibung verbunden, wobei die Art
(Sichtbarkeit/ Ausmaß) der Behinderung bestimmend ist:
o gesellschaftlich hoch bewerteten Leistungen Mobilität, Flexibilität, Intelligenz,
Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit sind betroffen
o Stigmatisierungen möglich (bspw. gelten psychisch Gestörte oft als gefährlich)

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion eng gefasst

Inklusion und „Behinderung“ (vgl. Textor 2015)

Verschiedene Zugänge:
v Sozialrechtlich (juristische Definition):
o Integriert medizinische und soziale Dimensionen aus rechtlicher Perspektive

Juristisches Ziel
„Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern,
Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (SGB IX, § 1).

o Definition des deutschen Sozialrechts orientiert sich an der Definition der


Weltgesundheitsorganisation (WHO):

Juristischer Behinderungsbegriff
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das
Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung
zu erwarten ist“ (SGB IX, § 2, Abs. 1).

12 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion eng gefasst

Inklusion und „Behinderung“ (vgl. Textor 2015)


Verschiedene Zugänge:
v Pädagogisch: „Sonderpädagogischer Förderbedarf“ (SPF) statt „Behinderung“
o Auch „Benachteiligung“, „Beeinträchtigung“, „besondere Bedürfnisse“ gebräuchlich
o Berücksichtigung gesellschaftlicher Faktoren und Umweltfaktoren, die eine Behinderung
kreieren und aufrechterhalten
o Abgrenzung zum Behinderungsbegriff:
o keine medizinisch definierte Schädigung
o sozialer Zuschreibungsprozess unter bestimmten Kontextbedingungen bedingt SPF
o SPF als Beeinträchtigung nur kleiner Teil der Gesamtpersönlichkeit
o direkter Bezug auf schulische Arbeit
o lässt den Ort der Beschulung offen: SPF in Förder- und Regelschulen möglich
o 3 große Gruppen von SuS mit SPF (laut OECD und UNESCO):
Ø „Behinderungen“ (Disabilities): SuS mit medizinisch definierten Störungen oder
Schädigungen
Ø „Lernschwierigkeiten“ (Learning Difficulties): SuS mit Verhaltens-, Lern- oder
Sprachschwierigkeiten, benötigen Förderung, um soziale Zusammenhänge zu
verstehen und dem Unterricht zu folgen
Ø „Benachteiligungen“ (Disadvantages): SuS die aufgrund ihrer sozioökonomischen
oder kulturellen Lebensbedingungen in ihrer Entwicklung und im Bildungssystem
benachteiligt sind (bspw. durch Armut, Migrationshintergrund, etc.)
o KMK Förderschwerpunkte umfassen (1) Lernen; (2) Sprache; (3) emotionale und soziale
Entwicklung; (4) Hören und Kommunikation; (5) Sehen; (6) Geistige Entwicklung; (7)
Körperliche und motorische Entwicklung; (8) Autismus; und (9) die Unterrichtung von
kranken SuS
13 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion weit gefasst
Inklusion und Teilhabe (vgl. Textor 2015)

Ø Nach UN-BRK (s. VL2), zielt Inklusion auf


Ø die gleichrangige gesellschaftliche (und insb. schulische) Partizipation aller Menschen
insb. derjenigen mit Behinderungen (unter Gewährung dafür notwendiger Hilfen) =
radikaler Integrationsbegriff
Ø Spezifika:
1) Einbezug aller Heterogenitätsdimensionen
v bspw. Leistung, Ethnie, sozioökonomischer Hintergrund, Geschlecht etc.
2) Systembezogene Sichtweise
v Schwerpunkt auf die Beschreibung von Systemen, nicht von Personen
v System muss an die Heterogenität der SuS angepasst sein, nicht umgekehrt
3) Rechtlicher Anspruch
v menschenrechtsbasierter Anspruch auf Inklusion ist völkerrechtlich
bindend (UN-BRK)
4) Dekategorisierung und Verzicht auf gruppenbezogene Ressourcenzuweisung
v individueller, nicht kategorisierender Blick auf die Bedürfnisse der
einzelnen SuS und deren Berücksichtigung

14 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion als Antwort auf Diversität
Inklusion und Heterogenität (vgl. Sturm 2016)
Heterogenität (gr. Andersartigkeit)
Ø Orientiert sich an sozial-konstruktivistischem Verständnis: Differenzen werden in
sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet
Ø 4 Dimensionen von Heterogenität:
1) Relativ
v Min. 2 Aspekte werden mithilfe eines Vergleichsmaßstabs in Relation
zueinander betrachtet: entweder sind sie innerhalb eines bestimmten
Kontexts (bspw. der Schule) gleich (homogen) oder ungleich (heterogen)
2) Sozial-kulturell eingebunden
v Vergleiche zur Bestimmung von Homogenität/Heterogenität sind in einem
sozio-kulturellen Rahmen eingebettet
3) Sozial konstruiert
v Differenzen werden immer vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen
wahrgenommen und wirken abgrenzend
4) Partial
v Heterogenität ist zeitlich und kontextuell beschränkt, da sie veränderbar
sind; der differente Zustand kann also verändert werden

15 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion als Antwort auf Diversität
Fazit: Inklusion und Heterogenität in der Schule
Ø Sind unmittelbar miteinander verbunden
Ø Da eine alleinige Konzentration auf behinderte SuS im inklusiven Schulsetting nicht
möglich ist, muss Inklusion immer vor dem Hintergrund von Heterogenität und
Diversität gedacht werden

Ø Zwei Ebenen von Heterogenität:


v Heterogenität 1. Ordnung:
Ø Innerhalb der Gruppe von SuS mit sonderpäd. Förderbedarf

v Heterogenität 2. Ordnung:
Ø Innerhalb der Gruppe von SuS mit und ohne sonderpäd. Förderbedarf

Ø Intersektionalitäten mit anderen Differenzkonstruktionen sind unausweichlich

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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion und Intersektionalität
Intersektionalität

Ø Zusammenspiel von sozialen Differenzkategorien = Heterogenitätsdimensionen

Alter Geschlecht
Religion
Milieu Region

Ethnizität
Sozio- Migrations-
ökonomische hintergrund
Herkunft
Körper
Leistung/
sexuelle Disability Achievement
Orientierung
Sonderpädagogischer
Ability Behinderung Förderbedarf
…mit der Subjektivität der Individuen und pädagogischen Praktiken.
17 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion und Intersektionalität
Intersektionalität
=Überschneidung / Schnittmenge unterschiedlicher sozialer Kategorien und der damit
einhergehenden sozialen Positionierungen
Ø Verstärkt in soziologischer und erziehungswiss. Forschung verwandt, kaum für den Bereich
Inklusion
Ø Erlaubt jedoch umfassende Einblicke in und Erkenntnisse über soziale
Ungleichheitsgenese und Zusammenhänge von Teilhabe und Ausschluss
Ø Theoretisches Verständnis von Intersektionalität (nach Budde 2018):
v Gegenstand: Es geht darum, soziale Positionierungen als ein Zusammenspiel von
unterschiedlichen sozialen Differenzkategorien zu verstehen.
v Kontextualität: Das Zusammenspiel unterschiedlicher sozialer Kategorien ist nur in
ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen („relationale Kontextualität“).
v Begriffsgeschichte: in US-amerikanischer Frauenbewegung verortet (Gender X Race)
v Analyse von Ungleichheiten: Anspruch, nicht nur Positionierungsprozesse entlang der
Überschneidungen sozialer Kategorien zu dokumentieren, sondern die darin
eingelassenen Machtverhältnisse sichtbar zu machen (Analyse von Macht und
Herrschaft)
v Soziale Konstruktion: Differenzen sind sozial konstruiert und haben keinen
‚natürlichen‘, stabilen Grund (‚doing difference‘).

18 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Inklusion und Intersektionalität
Intersektionalität: Befunde

Das Zusammmenwirken mehrerer Differenzkategorien/Heterogenitätsdimensionen führt


zu einer Verstärkung von Segregation und damit Ungleichheit!

Ø Forschungsbefunde zeigen, dass


Ø Jungen, SuS mit Migrationshintergrund und SuS aus Familien mit einem
niedrigen sozioökonomischen Status (SES) in Förderschulen für den
Förderschwerpunkt Lernen überrepräsentiert sind
Ø der sozioökonomische Status einen hohen Einfluss auf die Wahl der Schulform in
der Sekundarstufe I und damit auf weiteren Lernerfolg und spätere
Berufschancen hat (Vgl. Textor 2015)

v Was bedeutet die Verschränkung von Inklusion mit einer Vielzahl von
Differenzkategorien?

19 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Teil 2: Inklusion als Antwort auf Soziale Ungleichheit?

O D
Figure 1: OED triangle
OED Triangle:
O=Social Origin (familiäre Herkunft, persönliche, soziale, ökonomische & kulturelle Ressourcen)
E=Educational Attainment (formale & informelle Bildungsressourcen von Individuen)
D=Social Destination (Position in der Gesellschaft, also Berufsstellung, Einkommen, Prestige, und
damit Möglichkeiten der Teilhabe)

20 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Die Bildungsrevolution

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Was bedeutet Inklusion?
Die gestiegene Bedeutung von Bildung für gesells. Teilhabe

Bildungsentwicklung in Deutschland (1960-2016)


Sekundarschulabschlussquoten, Immatrikulationsraten, Auslandsstudienquote, Partizipation in privater Nachilfe

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Sources: BMBF; SOEP 2017, own calculation.
Persistente Bildungsungleichheit
Entwicklung schichtspezifischer tertiärer Bildungsbeteiligung
(schematische Darstellung, keine tatsächlichen Verteilungen)

70%

60%
Prozent der Bevölkerungsschicht mit ter6ärer Bildung

hoher
SES/Bildungsniveau
50%

40%
mittlerer
SES/Bildungsniveau
30%
niedriger
20%
SES/Bildungsniveau

10%

0%
1970 1980 1990 2000 2010 2020
Veränderung im Zeitverlauf
23 | 18
Was bedeutet Inklusion?
Positive & negative Folgen der Bildungsexpansion

Ø zunehmende Bildungsbeteiligung und Zuwachs an Bildungschancen in allen


Sozialschichten
v ABER: keinen umfassenden Abbau sozialer Ungleichheit von Bildungschancen
v ABER: Beibehaltung des segregierenden Bildungssystems und der Exklusion
von SuS mit sonderpäd. Förderbedarf an Förderschulen
Ø Verbesserung der Bildungschancen bis zum Jahre 1985 zu Gunsten der Arbeiterkinder
v ABER: bis in die jüngste Gegenwart (2000) haben Schulkinder aus höheren
Sozialschichten gegenüber den Kindern aus den Arbeiterschichten eine 7-mal
bessere Chance, ins Gymnasium zu wechseln
Ø schichtspezifische Bildungsbeteiligungen zeigen nur geringfügige Änderungen
Ø Bedeutung der Hauptschule schwindet:
v Schülerquote Hauptschule von 70 (1960) auf unter 40% (1989) auf 20% (2007)
v Keine „Volksschule“ mehr
Ø Prozentsatz der „Verlierer der Bildungsexpansion“ (ohne HS-Abschluss) geht stetig
zurück
v ABER: Ost- West- Gefälle und Gender-Unterschiede
Becker & Lauterbach (2016)

24 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Welche zentralen positiven wie negativen Folgen beschied uns die
Bildungsexpansion?

Ø überrepräsentiert von Bildungsarmut bedrohte Schulabgänger sind Kinder von un- und
angelernten Arbeitern und aus anderen „bildungsfernen“ Schichten sowie (männliche)
Jugendliche mit Ausländerstatus oder Migrationshintergrund
Ø Bildungschancen von Jungen und Mädchen mehr als angeglichen
Ø gestiegene Chancengleichheit beim Zugang zum Gymnasium
Ø ABER: soziale Exklusivität des Gymnasiums ist gesunken; gleichzeitig die
sozio-strukturelle Homogenität in der Hauptschule gestiegen
Ø erneute soziale Schließung der Gymnasien:
Ø statt nach sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses erfolgt sie nunmehr
nach Bildungsniveau und Klassenlage der Eltern
Ø gewachsene soziale Distanz zwischen den höheren und niedrigeren Bildungsschichten
nach dem Übergang in die Sekundarstufen

„Insgesamt erbrachte die Bildungsexpansion zwar einen Zuwachs an Bildungschancen


für alle Sozialgruppen, aber keinen umfassenden Abbau der sozialen Ungleichheit von
Bildungschancen“ (S. 6)
Becker & Lauterbach (2016)

25 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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Was bedeutet Inklusion?
Zur Entstehung von Bildungsungleichheiten

Becker26
& Lauterbach (2016): 11. Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte sozialer Stratifizierung

v primäre Effekte der sozialen Herkunft:


- Kinder aus höheren Sozialschichten erlangen infolge der Erziehung, Ausstattung und
gezielten Förderung im Elternhaus eher Fähigkeiten, die in der Schule vorteilhaft sind
- Aufgrund dieser günstigen Voraussetzungen im Elternhaus weisen Kinder aus höheren
Sozialschichten eher bessere Schulleistungen auf, während Arbeiterkinder aufgrund ihrer
sozialen Herkunft eher kognitive Nachteile haben
- Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind damit ggf. doppelt benachteiligt,
wenn diese Eigenschaften sie vom Regelschulsystem exkludieren

v sekundäre Effekte der sozialen Herkunft:


- elterliche Bildungsentscheidungen im Familien- und Haushaltskontext sind
ausschlaggebend für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder
- diese Entscheidungsprozesse variieren in Abhängigkeit von den ökonomischen
Ressourcen der Privathaushalte deutlich zwischen den Sozialschichten
- Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind selbst bei existierenden inklusiven
Beschulungsmöglichkeiten ggf. doppelt benachteiligt, da ihre Eltern aufgrund geringerer
Bildungsaspirationen/fehlender Überzeugung keinen Nutzen von diesen Möglichkeiten
machen

27 (1974), Becker & Lauterbach (2016)


Vgl. Boudon Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Auswirkungen von Bildungssegregation auf gesells. Teilhabe
Soziologische und Ökonomische Theorien zu den Auswirkungen von
Bildungsungleichheit
Humankapitaltheorie (Becker 1993; Schultz 1961)
Ø Höhere Investitionen in das eigene Humankapital führen zu höheren monetären Erträgen
(Bildungsrenditen)
Berufswettbewerbstheorien (Hirsch 1976; Thurow 1976; Collins 1979; Shavit & Park 2016)
Ø Wettbewerb um Arbeitsplätze wird durch credentials, d.h. Qualifikationen,
Fertigkeiten/Fähigkeiten (Skills), Kompetenzen etc., entschieden
Ø Diese werden mehr denn je durch Bildungszertifikate repräsentiert
Ø Höhere Bildungsabschlüsse führen demnach zu höheren Bildungsrenditen
Signal- und Filtertheorien (Arrow 1973; Spence 1973)
Ø zusätzliche Bildungsqualifikationen und Kompetenzen sind von entscheidender Bedeutung,
um sich im Wettbewerb um Arbeitsplätze durchzusetzen
Ø Bewerber signalisieren dem potentiellen Arbeitgeber ihr Produktivitätspotenzial über
formale Bildungsabschlüsse hinweg
Ø Arbeitgebern filtern im Einstellungsprozess die BewerberInnen hinsichtlich der von ihnen
hochgeschätzten Eigenschaften und bewerten ihre BewerberInnen entsprechend

Ein Förderschulabschluss schließt BewerberInnen von der Mehrheit


der Ausbildungs- und Arbeitsplätze aus!
28 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Was bedeutet Inklusion?
Auswirkungen von Bildungssegregation auf gesells. Teilhabe

FAZIT: Effekte der Exklusion von SuS mit SPF

Ø verhindert eine spätere Eingliederung in den „normalen“ Arbeitsmarkt


Ø stigmatisiert
Ø reduziert die Chancen auf ein „normales“ Leben
Ø verhindert gleichberechtigte gesells. Teilhabe durch bspw. geringe
Bildungsrenditen

Ø Kumulation von Benachteiligungen aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer


Heterogenitätsmerkmale, bspw.
v Lernbehinderung + Geschlecht + Migrationshintergrund + niedriger SES…
= Mehrfachbenachteiligung!!
Fazit: Der korrekte Umgang mit Heterogenität einschließlich vers. Behinderungen
ist Grundbedingung für erfolgreiche Inklusion im Sinne von gesells. Teilhabe
29 Dr. Steve R. Entrich, Acting Prof. IOE
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VL 4: Inklusion in Schule als Institution und
Organisation
Bedingungsfaktoren inklusiver Schulentwicklung

Inhalte
Ø Die inklusive Schule als Institution und Organisation
v Theoretische Zugänge und Begrifflichkeiten
Ø Bedingungsfaktoren inklusiver Schulentwicklung
v Komponenten von Schulentwicklung
Leitfragen
Ø Worin unterscheidet sich Schule als Institution von der Organisation Schule?
Ø Welche theoretischen Zugänge gibt es und wie erweitern diese unseren Blick auf die
inklusive Schule und deren institutioneller und organisatorischer Entwicklung?
Ø Die Institution „Sonderschule“ wurde zugunsten eines neuen Systems in Frage gestellt und
befindet sich nun (zumindest theoretisch) in Auflösung. Wie ist das zu erklären?
Ø Wie wandeln sich Institutionen/werden diese abgelöst?
Ø Ist die „inklusive Schule“ bereits eine Institution? Oder sind inklusive Schulen zwar als
Organisationen existent, aber wenig institutionalisiert?
Ø Was sind Komponenten (inklusiver) Schulentwicklung?
GRUNDLAGENLITERATUR
Ø Nohl, Arndt-Michael (2018): Inklusion in Bildungs- und Erziehungsorganisationen. In: Tanja
Sturm & Monika Wagner-Willi (Hrsg.), Handbuch schulische Inklusion. Opladen: Verlag Barbara
Budrich: 15-29.
Ø UNESCO (2009): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn: Deutsche UNESCO-
Kommission e.v. (DUK).
30 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Literatur (Auswahl)

Ø Becker, Rolf & Wolfgang Lauterbach (2016): Bildung als Privileg - Ursachen,
Mechanismen, Prozesse und Wirkungen. In: Rolf Becker & Wolfgang Lauterbach
(eds.), Bildung als Privileg: Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der
Bildungsungleichheit. Wiesbaden: SpringerVS.
Ø Böttinger, Traugott (2017): Exklusion durch Inklusion? Stolpersteine bei der
Umsetzung. Stuttgart: Kohlhammer.
Ø Budde, Jürgen (2018): Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Inklusion
und Intersektionalität. In: Sturm, Tanja & Wagner-Willi, Monika (Hrsg.),
Handbuch schulische Inklusion. Opladen: Verlag Barbara Budrich: 46-59.
Ø Budde, Jürgen & Merle Hummrich (2013): Reflexive Inklusion. Zeitschrift für
Inklusion 8 (4): https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-
online/article/view/193/199
Ø Stichweh, Rudolf & Paul H. Windolf [Hrsg.] (2009): Inklusion und Exklusion:
Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit. Wiesbaden: SpringerVS.
Ø Sturm, Tanja (2016): Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München/Basel:
Reinhardt.
Ø Textor, Annette (2015): Einführung in die Inklusionspädagogik. Bad Heilbrunn:
Julius Klinkhardt.
31 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Literatur (weiterführend)
Ø Arrow, Kenneth (1973): Higher Education as a Filter. Journal of Public
Economics 2:193–216.
Ø Becker, Gary S. (1964): Human Capital. New York: The National Bureau of
Economic Research.
Ø Boudon, Raymond (1974): Education, Opportunity, and Social Inequality:
Changing Prospects in Western Society. New York: Wiley.
Ø Collins, Randall (1979): The Credential Society. New York, San Francisco,
London: Academic Press.
Ø Hirsch, Fred (1976): Social Limits to Growth. Cambridge: Harvard University
Press.
Ø Schultz, Theodore W. (1961): Investment in Human Capital. The American
Economic Review 51(1):1-17.
Ø Shavit, Yossi and Hyungjoon Park (2016): Introduction to the Special Issue:
Education as a Positional Good. Research in Social Stratification and Mobility
43(1):1-5.
Ø Spence, Michael. (1973): Job Market Signaling. The Quarterly Journal of
Economics 87(3):355-74.
Ø Thurow, Lester C. (1976): Generating Inequality. London: Macmillan.
32 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

33 Dr. Steve R. Entrich, Ac8ng Prof. IOE


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