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Der "FOKUS Ansatz" - Verhaltensauffällige und unaufmerksame Kinder in der Schule erfolgreich fördern View project
All content following this page was uploaded by Markus P. Neuenschwander on 15 November 2020.
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissen-
schaftlichen Forschung.
1. Auflage 2012
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-
cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-531-18381-7
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 11
Tabellenverzeichnis ............................................................................................ 15
Vorwort.............................................................................................................. 19
1 Einleitung ................................................................................................. 23
4 Methode.................................................................................................... 83
Die Entstehung des vorliegenden Buchs hat eine über zehnjährige Geschichte.
Im Anschluss an die Ergebnisse der Schulwirkungsforschung begann sich Mar-
kus Neuenschwander für die Frage nach den familiären Bedingungen von Schü-
lerleistungen zu interessieren. Internationale Studien zeigen seit vielen Jahren,
dass die Familie einen großen Einfluss auf die schulischen Leistungen ihrer Kin-
der hat, ob dies auch für die Schweiz bzw. Europa zutrifft, wurde bislang wenig
oder gar nicht untersucht. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit traten erstaunliche
Ergebnisse zutage, die in einer Monografie von Neuenschwander, Balmer, Gas-
ser, Goltz, Hirt, Ryser und Wartenweiler (2005) zusammengetragen worden sind.
Die Autoren diskutierten in dieser Monografie unter anderem die Grenzen zwi-
schen Schule und Familie und die Kooperation zwischen Lehrpersonen und El-
tern.
Während eines längeren Aufenthaltes in der USA entschied sich Markus
Neuenschwander, das Projekt weiterzuführen. Allerdings sollte nicht mehr die
Frage nach den familiären Bedingungen von Schülerleistungen im Zentrum
stehen, sondern die Fragen, wie Jugendliche in der Schule und in der Familie
aufwachsen und sich entwickeln und wie sich ihre berufliche Integration
vollziehen. Damit standen nicht die fachlichen Kompetenzen von Jugendlichen
im Vordergrund, sondern es ging um die jugendpädagogische Frage, wie die
Jugendlichen ihre Ausbildung erleben und sich auf die Erwerbstätigkeit im Beruf
vorbereiten. Das Jugendalter wird immer wieder als verlängerte Ausbildungszeit
definiert und der Übergang in die Erwerbstätigkeit bildet eine wichtige Heraus-
forderung. Mit der Verschiebung der Frage, wovon schulische Kompetenzen ab-
hängen, zur Frage, wie der Übertritt in den Beruf bzw. die berufliche Integration
erklärt werden kann, wurde der Schritt von der Schulwirkungsforschung zur
Transitionsforschung vollzogen. Der ursprünglich erziehungswissenschaftliche
Zugang wurde durch entwicklungspsychologische und soziologische Konzepte
ergänzt. Im Zentrum der Forschungsarbeit stand nun die Bedeutung der fachli-
chen Kompetenzen, welche die gängigen Kriterien der Schulwirkungsforschung
darstellen, beim Übergang ins Erwachsenenalter bzw. in die Erwerbstätigkeit.
Der Fokus lag nun auf den Ressourcen im Berufswahlprozess sowie auf den He-
rausforderungen beim Übergang in die Berufsausbildung und beim Übergang
von der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt.
20 Vorwort
Diese Andeutungen zum Entstehen dieses Buchs illustrieren nicht nur den
Wandel einer Forschungsfrage, sondern erklären den Aufbau der Längsschnitt-
studie, die dieser Monografie in methodischer Hinsicht zugrunde liegt. Zum
ersten Messzeitpunkt waren die Jugendlichen im sechsten bzw. achten Schuljahr.
Zum vierten Messzeitpunkt, sechs Jahre später, hatten die ältesten unter ihnen
die Lehre beendet und sind erwerbstätig geworden. Damit konnte mit dieser
Längsschnittstudie der ganze Sozialisationsprozess von der Primarstufe in die
erste Erwerbstätigkeit analysiert werden. Die Analysen brachten uns viele Er-
kenntnisse und Perspektiven, die in diesem Band dargestellt werden. Nach einem
Jahrzehnt der Forschung kristallisierte sich eine fundierte Sicht auf das komplexe
Feld der Übergangsprozesse heraus. Markus Neuenschwander hat das Projekt
von Beginn an geleitet und entwickelt. Zusammen mit Michelle Gerber, Nicole
Frank und Benno Rottermann (Reihenfolge zufällig) entstand in einer dreijähri-
gen, intensiven Analyse-, Recherche- und Schreibarbeit das vorliegende Buch.
Zu diesem Projekt haben mehrere Institutionen und viele Personen beige-
tragen. Als Erstes soll dem Schweizerischen Nationalfonds gedankt werden, der
das Projekt mit zwei Zusprachen sowie drei Stipendien an Markus Neuen-
schwander gefördert hat. Die Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bern hat mit
einem wesentlichen Förderbetrag den Start des Projekts ermöglicht. Die Bil-
dungsdirektion Zürich hat gewisse Teilprojekte mitfinanziert. Zusätzlich gaben
die Trägerinstitutionen, d. h. die Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bern, die Uni-
versität Zürich sowie die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nord-
westschweiz wesentliche finanzielle Zuschüsse.
Ein großer Dank geht an die über 2400 Jugendlichen, deren Eltern und die
über 150 Lehrpersonen, welche an dieser Studie teilgenommen haben. Wesent-
lich beigetragen haben über die Jahre auch zahlreiche wissenschaftliche Mitar-
beitende, die namentlich in alphabetischer Reihenfolge genannt werden sollen:
Thomas Balmer, Andrea Erzinger, Mirjam Frey, Annette Gasser, Luciano Gas-
ser, Stefanie Goltz, Erika Hager, Ueli Hirt, Hans Ryser, Simone Schaub, Her-
mann Wartenweiler. Zusätzlich haben zahlreiche studentische Hilfskräfte in Da-
tenerhebungen und bei Datenkodierungen mitgewirkt. Ihnen allen danken wir
herzlich für ihre Arbeit, ohne die das Projekt nicht hätte realisiert werden
können. Emil Wettstein danken wir für hilfreiche Kommentare zum Glossar.
Großer Dank gilt zudem Rebekka Hartmann, welche uns bei Redaktionsarbeiten
unterstützte.
Vorwort 21
Nun übergeben wir das Buch der Leserschaft und hoffen, dass es sowohl
wissenschaftliche Diskussionen zu Übergangsfragen anregt, als auch bildungs-
politische und praktische Fragen klärt. Es würde uns besonders freuen, wenn
dieses Buch dazu beiträgt, Jugendliche auf dem Weg in den Beruf besser zu för-
dern, sodass sie Risikosituationen effektiver bewältigen können.
Markus P. Neuenschwander
Michelle Gerber
Nicole Frank
Benno Rottermann
1 Einleitung
1.1 Fragestellung
In Übereinstimmung mit Lerner und Walls (1999) gehen wir davon aus, dass
Menschen in soziale Kontexte eingebunden sind. Soziale Kontexte sind hierar-
chisch verschachtelt, d. h. kleine Bezugsgruppen sind Teil von größeren Organi-
1.1 Fragestellung 25
sationen und diese sind wiederum Teil umfassender Organisationen und Gesell-
schaften. Die Zahl der Hierarchiestufen variiert zwischen den Lebensbereichen
(Schule, Familie, Beruf, Freizeit) und ist zudem abhängig von deren Organisati-
onsgrad. In unserer Argumentation trennen wir zwischen kleinen sozialen Kon-
texten, d. h. persönlichen Bezugsgruppen (Familien, Schulklassen, Freizeitgrup-
pen), und großen sozialen Kontexten, d. h. anonymen Institutionen (Schulorgani-
sation, Berufsbildung, Staat). Während Menschen von Bezugspersonen individu-
elle Unterstützung erhalten, definieren Institutionen strukturelle Ressourcen und
setzen Normen. Institutionen verkörpern gesellschaftliche Strukturen.
Kinder und Jugendliche werden in Bezugsgruppen sozialisiert. Sie erwerben
in diesen Kontexten Kompetenzen, Werte und Einstellungen. Damit bereiten sie
sich auf die Rolle eines erwachsenen Mitglieds unserer Gesellschaft vor. Obwohl
Jugendliche diese sozialen Kontexte handelnd mitgestalten, werden sie durch die
Zugehörigkeit zu diesen Kontexten beeinflusst. Sie verinnerlichen die geltenden
Normen und Erwartungen und machen diese zu Referenzen ihres Handelns. Weil
Jugendliche gleichzeitig in zahlreiche Kontexte eingebunden sind, sind sie
immer wieder mit widersprüchlichen Erwartungen aus den verschiedenen Kon-
texten konfrontiert. Das verunsichert sie einerseits, ermöglicht ihnen aber ande-
rerseits auch Freiraum für persönliche Entscheidungen und damit den Aufbau
einer individuellen Identität (Freiheit durch ambivalente Erwartungen). Das Pen-
deln zwischen verschiedenen sozialen Kontexten wird als synchroner Übergang
bezeichnet. Damit ist zum Beispiel der Wechsel von der Familie in die Schule
und zurück in die Familie gemeint. Mit synchronen Übergängen ist der Wechsel
von Beziehungen, Regeln und Rollen verbunden, die an den jeweiligen sozialen
Kontext gebunden sind.
Wir gehen davon aus, dass sich Jugendliche durch die Auseinandersetzung
mit ihren Bezugspersonen die Grundlagen erarbeiten, um zu einem erwachsenen
Mitglied unserer Gesellschaft zu werden (Enkulturationsthese), Status erhalten
und sich in Gruppen und gesellschaftliche Strukturen außerhalb ihrer Herkunfts-
familie integrieren. Entsprechend zentral sind für das Aufwachsen von
Jugendlichen Kontextwechsel oder Übergänge. Baumert und Schümer (2001b)
beschrieben die einzelnen Schulniveaus in der Sekundarstufe I als Lern- und
Entwicklungsmilieus. In Schulniveaus mit Grundansprüchen bzw. erweiterten
Ansprüchen erfahren sie unterschiedliche Entwicklungschancen, Anforderungen
und Förderung. Mit der Entscheidung für ein bzw. der Zuweisung zu einem
Schulniveau werden vielfältige Sozialisationsprozesse festgelegt. Mit zunehmen-
dem Alter können Jugendliche Sozialisationskontexte selbst wählen, zum Bei-
spiel wenn sie sich für eine Ausbildung oder einen Beruf entscheiden. Sie be-
stimmen damit die Einflüsse mit, mit welchen sie im neuen Kontext konfrontiert
werden. Wenn beispielsweise Jugendliche in eine kaufmännische Ausbildung
26 1 Einleitung
wechseln, sind sie mit Buchhaltung und dem Verfassen von Briefen konfrontiert,
während sie in einer Lehre zum Milchpraktiker eher handwerkliche Anforde-
rungen erfüllen müssen. Sie erleben in den beiden Berufsausbildungen sehr un-
terschiedliche Forderungen und Unterstützungsangebote, was ihre Entwicklungs-
und Bildungsprozesse beeinflusst.
Übergänge haben nicht nur einen räumlichen, sondern auch einen zeitlichen
Aspekt. So vollziehen sich diachrone Transitionen, zum Beispiel der Übergang
von der Schule in die Berufsbildung, über eine gewisse Zeit. Damit hat sich
sowohl die Entwicklungspsychologie (zum Beispiel Silbereisen, Schwarz &
Rinker, 1995) als auch die Lebenslaufsoziologie (zum Beispiel Sackmann, 2007;
Hillmert, 2009) beschäftigt. Übergänge bilden normative Zäsuren in Entwick-
lungsprozessen, weil Menschen in neue Entwicklungskontexte übertreten und in
diesen neuen Kontexten einen neuen Sozialisationsabschnitt beginnen.
Wir verstehen Übergänge synonym mit Transitionen und bezeichnen damit
den Wechsel der aktuellen Zugehörigkeit zu einem sozialen Kontext in einen
anderen sozialen Kontext. Der Übergang von der Volksschule in den Beruf
gliedert sich nach dieser Definition in verschiedene normative und nonnormative
Übergänge. Diachrone Übergänge sind Phasen verdichteter Entwicklungs-
prozesse. Sie wurden von Silbereisen (1986) und Eccles et al. (1993) als Analy-
seeinheit für Entwicklungsprozesse schlechthin bezeichnet. Ein Übergang
vollzieht sich beim Wechsel von der Primarschule in die Sekundarstufe I.
Danach findet ein Übergang in die Sekundarstufe II und später in die Erwerbs-
tätigkeit statt. Wir verstehen also Übergänge als ökologische Übergänge im
Sinne von Bronfenbrenner (1981), als Wechsel bzw. Erweiterung des subjekti-
ven Bezugssystems eines Jugendlichen. Damit sind Jugendliche zu einer Neu-
orientierung und zu zahlreichen Anpassungsprozessen gezwungen. Ein erfolg-
reicher Übergang gibt Jugendlichen oft einen höheren sozialen Status (Übergang
als Statuspassage), zusätzliche Rechte und mehr (Selbst-)Verantwortung. Inso-
fern können Übergänge auch als Entwicklungsanlässe verstanden werden.
Übergänge sind normativ, wenn sie institutionell vorstrukturiert sind (zum
Beispiel Übergang in die Sekundarstufe I). Übergänge sind nonnormativ, wenn
sie nicht altersgebunden und entgegen institutioneller Vorgaben auftreten (zum
Beispiel Lehrabbruch, frühzeitiger oder verspäteter Auszug aus der Herkunfts-
familie; Neuenschwander & Garrett, 2008). Viele Übergänge werden durch
Entscheidungen der Jugendlichen bzw. Selektions- und Allokationsprozesse der
abgebenden oder aufnehmenden Institution vorbereitet. In Übergängen werden
Bildungs- und Erwerbsverläufe festgelegt. Dabei sei bereits an dieser Stelle auf
den prinzipiellen Unterschied hinzuweisen, wie staatliche Schule und private
Betriebe selegieren: Während Schulen primär aufgrund von fachlichen Kompe-
tenzen selegieren, spielt neben den berufsrelevanten Kompetenzen der persön-
1.1 Fragestellung 27
Wie werden Jugendliche in Schule, Ausbildung und Familie auf die ver-
schiedenen Übergänge von der Schule bis in die Erwerbstätigkeit vorberei-
tet?
Wie werden Bildungs- und Selektionsentscheidungen in normativen und
nonnormativen Übergangssituationen gefällt und welche Folgen haben sie?
Welches sind die Determinanten und die Folgen von Übergängen von der
Schule in die Erwerbstätigkeit?
28 1 Einleitung
1.2 Akteure
Der Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit stellt die Überwindung
einer Systemgrenze dar. Diese lässt sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven
beschreiben. Einige dieser Perspektiven und Positionen sollen in diesem Kapitel
beschrieben werden. Sie stammen vor allem aus der Erziehungswissenschaft, der
Psychologie und der Soziologie. Dabei thematisieren wir stärker die frühen
Phasen des Übergangsprozesses, d. h. den Übergang in die Sekundarstufe I und
II sowie nonnormative Übergänge während der Berufsbildung und beim Austritt
aus der Berufsbildung, während wir die Situation der jungen Arbeitsuchenden
nach dem Eintritt in den Arbeitsmarkt (Sozialisationsprozesse im ersten Beruf)
nicht besprechen. Während das vorliegende zweite Kapitel eher einen Über-
blickscharakter hat, werden im dritten Kapitel die theoretischen Grundlagen
vorgestellt. In diesem zweiten Kapitel werden eingangs kurz verschiedene theo-
retische Positionen in der Übergangsforschung angedeutet. Danach folgt die
Argumentation weitgehend dem Bildungsprozess von der Schule in die Erwerbs-
tätigkeit. Zuerst werden Konzepte und Forschungsbefunde zur Wirksamkeit der
beiden zentralen Sozialisationskontexte Schule und Familie im Hinblick auf die
Entwicklung der Jugendlichen diskutiert. Danach werden grundlegende soziolo-
gische Fragen zu Selektion und Chancengleichheit aufgegriffen, weil diese mit
Übergangsprozessen verbunden sind. Theorien der Berufswahl sind stärker psy-
chologisch ausgerichtet und richten den Blick auf Entscheidungsprozesse vor
dem Übergang in die Erwerbstätigkeit. Schließlich wird mit der Behandlung der
Belastungsaspekte von Übergangssituationen eine weitere wichtige Thematik
eingeführt. Damit hängt die Unterscheidung von regulären und besonderen
Übergängen zusammen, da besondere Übergänge oft mit ausgeprägten Belastun-
gen verbunden sind. Das Kapitel endet mit Schlussfolgerungen.
Der Weg von der Schule in die Erwerbstätigkeit dauert mehrere Jahre und wird
durch normative Übergänge in Ausbildungsphasen gegliedert: Sekundarstufe I,
Sekundarstufe II, Zwischenlösungen und Orientierungsphasen, tertiäre Ausbil-
dung bzw. Erwerbstätigkeit. Während Jugendliche in den einzelnen Ausbil-
treten oder von der Volksschule in die Berufsbildung wechseln, vollziehen sie ei-
nen ökologischen Übergang, der neue Erfahrungen mit sich bringt. Der ökolo-
gische Übergang wird zum Paradigma von Entwicklung überhaupt. Der Über-
gang von der Schule in den Beruf ist demnach in mehrere ökologische Übergän-
ge gegliedert, die den Aufbau neuer Beziehungen sowie der Erwerb neuer
Einstellungen und Werte ermöglichen.
Während Bronfenbrenner die Einbettung von Menschen in soziale Systeme
betont, fokussiert das Konzept des Übergangs von Eccles et al. (1993) auf den
Entwicklungsstand des Individuums und dessen Passung mit seiner Umwelt
(stage-environment fit). Wenn sich Jugendliche in einer Ausbildung befinden,
die mit ihren Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten korrespondiert, ist die
Passung hoch, was zu höherer Lernmotivation, höherer Produktivität und einem
größeren Wohlbefinden führt. Jugendliche sollen daher in Ausbildungen eintre-
ten, die mit ihren Entwicklungsvoraussetzungen möglichst optimal korrespon-
dieren. Umgekehrt sollen obligatorische Ausbildungskontexte auf die Entwick-
lungsvoraussetzungen der Jugendlichen abgestimmt sein. Nach dieser Konzep-
tion stellen Individuum und Institution jeweils unabhängige Akteure dar, die ihr
Handeln zueinander in Passung bringen sollen, sodass sie ihre Ziele erreichen
können. Auf der Seite der Institution müssen daher Varianten und Spielräume
geschaffen werden, die eine Abstimmung ihren Regeln mit den individuellen
Bedürfnissen und Fähigkeiten ermöglichen.
Jugendliche werden in der Familie und in der Schule auf die Berufsausbildung
und die Erwerbstätigkeit vorbereitet, indem sie fachliche und überfachliche
Kompetenzen und Einstellungen erwerben sowie im Berufswahl- und Lehrstel-
lensuchprozess begleitet werden. Im Folgenden werden wichtige Voraussetzun-
gen des Übergangs von der Schule in den Beruf im Hinblick auf die Frage the-
matisiert, wie wirksam Schule und Familie Jugendliche erziehen und bilden.
Langfristig misst sich Schul- und Ausbildungserfolg an einer erfolgreichen
Schul- und Ausbildungskarriere. Die Lernenden abschließen die begonnene
Ausbildung ab und steigen gegebenenfalls in höhere Ausbildungsgänge auf
(Seidel, 2008). Dieser Erfolg stellt zwar eine individuelle Leistung dar, insofern
sich die einzelnen Lernenden gegen ihre Konkurrentinnen und Konkurrenten
durchsetzen. Auf einer höheren Ebene bildet der Ausbildungserfolg jedoch ein
Merkmal von Unterrichts- und Schulqualität, wenn verschiedene Schulklassen
bzw. Schulen miteinander konkurrieren. Der Begriff Schul- bzw. Ausbildungs-
erfolg ist allerdings unpräzise. Darunter wird kurz- und mittelfristig einerseits
2.2 Wirksamkeit schulidscher und familiärer Bildung 39
lektionen pro Woche (Quantität), (2) Qualität des Unterrichts, (B) Individuum:
(3) Begabung, (4) Entwicklungsstand, (5) Motivation, (C) Lernumwelt: (6) häus-
liche Erziehungssituation, (7) Zusammensetzung der Schulklasse, (8) Gleich-
altrigengruppe in der Freizeit, (9) TV-Konsum und PC-Spiele. Entsprechend - so
die Annahme - erklären nicht nur schulische, sondern ganz wesentlich auch
außerschulische Kontextvariablen Schülerleistungen.
Während die Wirksamkeit von Schule und Weiterbildung recht gut
untersucht ist, sind Studien zur Wirksamkeit der beruflichen Bildung noch
selten. Dies erstaunt, weil die Diskussion zur Schulqualität im Umfeld der ISO-
Zertifizierung ihren Anfang in der Berufsbildung genommen hat (vgl. Gonon,
Hügli, Landwehr, Ricka & Steiner, 1998). Allerdings erschweren einige Fakto-
ren Wirkungsuntersuchungen in der dualen Berufsbildung. Eine Hauptschwierig-
keit besteht darin, dass die erworbenen beruflichen Kompetenzen berufs-
spezifisch sind, sodass ein Kompetenzvergleich zwischen den rund 230 Berufs-
lehren in der Schweiz nur bedingt möglich ist. Wenn die Kompetenzen
arbeitsplatzbezogen erfasst werden sollen, muss auch betriebsspezifisches
Wissen berücksichtigt werden. Weiter hängt die Kompetenzentwicklung von
schulischen und betrieblichen Faktoren sowie von ihrer Wechselwirkung ab. So-
wohl die Berufsfachschule wie auch der Lehrbetrieb sind komplexe Systeme mit
vielfältigen Wirkungen. Um die Wirksamkeit der Berufsbildung zu untersuchen,
ist ein sehr aufwändiges Forschungsdesign erforderlich. Dies mag ein Grund
dafür sein, weshalb die Frage bisher noch nicht gründlich bearbeitet worden ist.
Die Kompetenzentwicklung von Lernenden wird nicht nur von der Schule
bzw. Ausbildung, sondern wesentlich von familieninternen Prozessen beein-
flusst. Die Familie ist wohl der wichtigste Sozialisationskontext für Kinder und
Jugendliche (Wurzbacher, 1977). Weitere wesentliche Kontexte von Jugend-
lichen sind neben Familie und Schule die Gleichaltrigengruppe, die Nachbar-
schaft, Freundschaften und Freizeitvereine. Bildung muss daher kontextspe-
zifisch gedacht werden. Um die Rahmenbedingungen übersichtlich zu halten,
beschränken wir uns in diesem Unterkapitel auf den schulischen und den fami-
liären Kontext.
Der Begriff der Familie ist im Laufe der Modernisierung vielfältig und
facettenreich geworden (Herzog, Böni & Guldimann, 1996). Neben der bürger-
lichen Kernfamilie mit Eltern und wenigen Kindern gibt es viele Familienformen
(Einelternfamilie, Fortsetzungsfamilie, Stieffamilie, Adoptivfamilie, Mehrgene-
rationenfamilie, Zusammenleben mehrerer Einelternfamilien und andere). Die
Vielfalt an Familienformen wird mit einer Pluralisierung der Lebensformen
begründet und mit sich verändernden Wertvorstellungen in der (post-)modernen
Gesellschaft verknüpft. Im vorliegenden Kontext interessiert nicht die Wirk-
samkeit von familiären Erziehungsmaßnahmen generell, sondern wie Prozesse in
2.2 Wirksamkeit schulidscher und familiärer Bildung 41
der Familie zur Entwicklung von Motivation und schulischen Leistungen beitra-
gen. Bereits Coleman et al. (1966) belegten die hohe Bedeutung von familiären
Sozialisationsprozessen für das Lernen und die Leistungen in der Schule. Diese
Befunde wurden in der Folge von vielen Studien repliziert (vgl. Übersicht in
Wild & Lorenz, 2010; Neuenschwander, 2009a).
Strukturell betrachtet erklärt die Schichtzugehörigkeit einen wesentlichen
Anteil des Schulerfolgs. Kinder aus Unterschichts- und/oder Migrantenfamilien
haben nach wie vor eine geringere Chance auf Schulerfolg (Alexander &
Entwisle, 1996). Sirin (2005) berichtete aufgrund seiner Metaanalyse eine Me-
diankorrelation von r = .30 zwischen dem sozioökonomischen Status und den
Schülerleistungen. Entsprechend stammen Schülerinnen und Schüler im
Gymnasium vor allem aus den oberen sozialen Schichten. Daneben scheint sich
die Chance des Schulerfolgs von Kindern aus Einelternfamilien zunehmend den
Chancen von Kindern aus Zweielternfamilien anzugleichen. Weitgehend
bedeutungslos für die Schülerleistungen ist entsprechend die Familienform
(Entwisle & Alexander, 1992).
Aus pädagogisch-psychologischer Sicht interessieren besonders die
intrafamiliären Prozesse, welche diese strukturell bedingten Unterschiede erklä-
ren und im Folgenden besonderes Augenmerk erhalten. Wesentlich ist offenbar
das Elternengagement bei den Hausaufgaben. Während dieses Elternengagement
die Leistungen der Kinder beeinflussen kann, scheinen Art, Menge und Häufig-
keit der Hausaufgaben eine eher geringe Bedeutung für den Schulerfolg zu haben
(zum Beispiel Wild, 1999; Trautwein, Köller & Baumert, 2001). Krumm (1996)
meint, dass Eltern dann Einfluss auf ihre Kinder ausüben, wenn sie im
außerschulischen Bereich immer wieder die Lehrerrolle als Wissensvermittler
einnehmen (zum Beispiel Alexander & Entwisle, 1996). Die Untersuchungen
zum Erziehungsstil replizierten die Vorteile des autoritativen Erziehungsstils
(Dornbusch, Ritter, Leiderman, Roberts & Fraleigh, 1987). Dieser zeichnet sich
durch ein hohes Maß an Zuwendung und emotionaler Wärme und gleichzeitig
durch das Setzen von Grenzen und das Ausüben von Kontrolle aus.
Der recht enge Zusammenhang von Elterneinstellungen und Schülerleistun-
gen kann anhand von wenigen Konzepten erklärt werden, nämlich anhand von
Erwartungen, Attributionen und kognitiver Stimulation der Eltern. Im Sinne der
Theorie der sozialen Konstruktion (Jussim, 1991) schaffen sich Menschen ihre
Welt. Da Eltern in den Augen ihrer Kinder zentrale Bezugspersonen sind, sind
deren Erwartungen und Zuschreibungen in hohem Maß wirksam. Eltern entwi-
ckeln Meinungen über ihre Kinder, welche als sich selbst erfüllende Prophe-
zeiungen über Jahre verhaltenssteuernd und erziehungsrelevant werden. Ferner
setzen sie Leistungsstandards und Anspruchsniveaus. Die vorhandenen Studien
legen nahe, dass implizite Lehrpersonenerwartungen die Schülerleistungen
42 2 Theoretische Grundlagen
gegen nur eine Person die ausgeschriebene Lehrstelle und der Auswahlentscheid
muss nicht begründet werden. Während sich die staatliche Schule an Werten wie
Chancengleichheit, Leistungsorientierung, demokratische Legitimierung von
Entscheidungen (insbesondere in der Elternschaft) orientiert, rücken bei der Se-
lektion beim Übergang in die Berufsbildung die Interessen des Betriebs und des
Berufsverbandes in den Vordergrund. Wir beschränken uns in diesem Abschnitt
auf innerschulische Selektionsprozesse.
Selektionsprozesse in staatlichen Schulen basieren auf gesellschaftlichen
Werten. Ein solcher Wert ist die Chancengleichheit bzw. die Chancengerechtig-
keit. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass alle Jugendlichen in Selektionsverfah-
ren die gleichen Chancen haben sollen. Chance kann als Wahrscheinlichkeit für
ein Ereignis oder als günstige Gelegenheit definiert werden. Obwohl gewisse
Hindernisse (zum Beispiel Lernbehinderung) Personen den Zugang zu Bildungs-
angeboten erschweren, ist es nicht sinnlos, ihnen eine Chance zuzugestehen. Es
gibt Hindernisse auf dem Weg zu Bildung und zu Kompetenzen, die moralisch
nicht akzeptierbar sind (zum Beispiel: Frauen dürfen nicht ins Gymnasium). Von
Chancengleichheit kann man sprechen, wenn die Hindernisse (zum Beispiel
Leistungsprüfung im Selektionsverfahren) alle Personen in einem Selektions-
prozess gleichermaßen betreffen. Allerdings ist der Begriff der Chancengleich-
heit nicht eindeutig definiert. Es lassen sich mehrere Konzepte von Chancen-
gleichheit unterscheiden (Giesinger, 2007):
Der Begriff der Chancengleichheit ist allerdings paradox (Heid, 1988). Grund-
sätzlich setzt jede Selektion Ungleichheit voraus, denn es können nur Gruppen
gebildet werden, wenn es Unterschiede zwischen Individuen gibt. Umgekehrt
schafft Selektion Ungleichheit. Wenn sich Chancengleichheit sowohl auf die
Ausgangssituation als auch auf das Ergebnis beziehen soll, wird sie paradox.
Außerdem stellt sich das Problem, ob alle Kinder die gleiche schulische Förde-
rung erhalten sollen, obwohl sie damit im Wettbewerb aufgrund ungleicher fami-
liärer Unterstützung ungleiche Ausgangschancen haben, oder ob Kinder mit
geringer familiärer Förderung in der Schule kompensierend intensiver unterrich-
tet werden sollen, sodass sie im Wettbewerb die gleichen Ausgangschancen
erhalten. Wie in Kapitel 2.2 gezeigt worden ist, fallen die Unterschiede der fami-
2.4 Berufswahl 47
liären Förderung ins Gewicht. Wenn Kinder in der Familie weniger gefördert
werden, müssten sie entsprechend in der Schule zusätzliche Unterstützung erhal-
ten, um sicherzustellen, dass sie die gleichen Startchancen im Selektionsprozess
haben (Kompensation). Es ist kaum Konsens darüber auszumachen, ob sich die
Chancengleichheit auf die Förderung in der Schule oder auf die gleichen Aus-
gangschancen im Wettbewerb beziehen soll, obwohl gerade die Konsequenzen
dieser Definition gravierend sind. Dazu kommt, dass auch eine konsequente
Anwendung des Leistungsprinzips in Selektionsverfahren keine Chancengleich-
heit sichert, weil dadurch die potenzialbasierte Chancengleichheit verletzt wird.
Das von Heid (1988) festgestellte Problem der Paradoxie des Begriffs
Chancengleichheit muss gelöst werden, wenn der Begriff nützlich sein soll.
Gelegentlich gelangen die angeführten Schwellenkonzepte der Chancengleich-
heit zur Anwendung. Oft wird in den schweizer Schulen der Begriff der
leistungsbasierten Chancengleichheit verwendet. Das heißt, es dürfen Fähigen
keine Hindernisse den Weg zu höheren Bildungsangeboten versperren. Dabei
wird jedoch der Einfluss primärer Herkunftseffekte ignoriert. Zudem ist der
Begriff der Leistung unklar: Sind darunter die Leistungen in den Schulfächern zu
verstehen, Leistungen aufgrund von überfachlichen Kompetenzen oder versteht
man gar das Leistungspotential? Überdies bleibt der Stellenwert von überfach-
lichen Kriterien wie Lern- und Arbeitshaltung oder „Gesamteindruck“ vage und
ist mit dem Begriff der leistungsbasierten Chancengleichheit kaum zu verein-
baren. Entsprechend weisen empirische Untersuchungen eine ungleiche
Bildungsbeteiligung je nach sozialer Herkunft, Migrationshintergrund, Ge-
schlecht und Wohnort nach (zum Beispiel Becker, 2010a; vgl. auch Kapitel 5.2.2
und 5.3). Obwohl formal alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben, gibt
es faktisch große Ungleichheiten. Diese reproduzieren weitgehend die Bevölke-
rungsstruktur. Die Selektionsverfahren könnten aber alternativ dazu so gestaltet
werden, dass die Bildungsungleichheit abnimmt, dass durch Selektion der soziale
Ausgleich verstärkt wird. Allerdings scheint es Bevölkerungskreise zu geben, die
an der Erhaltung des Status quo interessiert sind und keine konsequente
Chancengleichheit realisieren wollen. Die Schule als staatliche Institution unter-
liegt den Einflüssen der politischen Parteien, was sich insbesondere in der
Ausgestaltung von Selektionsverfahren ausdrückt.
2.4 Berufswahl
Der Übergang von der Schule in den Beruf ist nicht nur mit Selektionsprozessen
verknüpft, sondern verlangt von den Jugendlichen zahlreiche Entscheidungen.
Während Selektionsprozesse ausgehend von bildungssoziologischen Theorien
48 2 Theoretische Grundlagen
John L. Holland entwickelte in den 1950er - Jahren eine Theorie, der zufolge die
Berufswahl einen Passungsprozess zwischen der eigenen Persönlichkeit und dem
Beruf darstellt (Holland, 1959; 1973). Er postulierte, dass die Persönlichkeits-
struktur des Einzelnen mit den Anforderungen und Tätigkeiten eines Berufs
übereinstimmen muss. Im Berufswahlprozess müssen Jugendliche ihre Persön-
lichkeit klären und herausfinden, mit welchen Berufsfeldern sie korrespondiert.
Sie müssen also einerseits ihre eigenen Fähigkeiten, Interessen und Persönlich-
keitseigenschaften reflektieren und andererseits Informationen über Berufsfelder,
Berufe und Berufsausbildungen sammeln und damit rationale Entscheidungen
ermöglichen.
Dieses Berufswahlkonzept wird in der Praxis der Berufsberatung bis heute
oft umgesetzt. Es wurden zahlreiche Tests entwickelt, die in der Berufsabklärung
eingesetzt werden (zum Beispiel Explorix; Jörin, Stoll, Bergmann & Eder,
2003). Die Grundlage für die Testentwicklung bilden sechs Persönlichkeitstypen,
die mit sechs Berufsfeldern korrespondieren. Sie werden in Abbildung 2.1 in der
Begrifflichkeit von Jörin et al. (2003) kurz dargestellt:
2.4 Berufswahl 49
handwerklich- untersuchend-
technisch forschend
ordnend- künstlerisch-
verwaltend kreativ
führend- erziehend-
verkaufend pflegend
gen beruflichen Entwicklung. Er war seiner Zeit voraus, weil er die Berufswahl-
theorie um eine Theorie der Laufbahnentwicklung ergänzte. Super ging davon
aus, dass sich Fähigkeiten, Interessen und damit auch die berufsbezogenen
Selbstkonzepte im Laufe des Lebens verändern. Die Theorie erklärt, wie biologi-
sche, psychologische, soziale und gesellschaftliche Faktoren das berufliche
Selbstkonzept und die Berufswahl von Individuen beeinflussen. Sie beschreibt
die Mikroprozesse und verortet sie in einer Entwicklungstheorie. Die Stufentheo-
rie der lebenslangen beruflichen Entwicklung weist fünf Stadien aus: Wachstum
(bis ins Alter von 10 Jahre), Exploration (10–20 Jahre), Etablierung (20-35 Jah-
re), Erhaltung (35-55 Jahre) und Abbau (ab 55 Jahren). Heute wirken diese Ein-
teilung in Phasen und die Alterszuschreibungen normativ, da viele berufliche
Biografien nicht linear verlaufen, sondern Unterbrechungen und Umwege auf-
weisen. Die berufliche Karriere resultiert aus einem beruflichen Selbstkonzept,
welches während des Lebens differenziert und integriert wird. Super postulierte
eine Passung zwischen dem beruflichen Selbstkonzept und dem Beruf. Diese
Passung müsse allerdings nicht eng sein, weshalb sich eine Person in verschie-
dene berufliche Felder integrieren könne.
Fazit: Supers Theorie hat einige Konzepte der modernen Lebens-
laufforschung vorweggenommen. Überdies hat er auch die Berufsberatung in
Diagnostik und Beratung beeinflusst. Zahlreiche Studien belegten den Zusam-
menhang zwischen dem Selbstkonzept und den beruflichen Aktivitäten eines
Individuums (Kapitel 7.2). Dabei zeigte sich in Abweichung zu Supers Position,
dass das Verhältnis von Selbstkonzept und beruflichen Handlungen als wechsel-
seitig betrachtet werden sollte. Selbstkonzepte beeinflussen Berufsentscheidun-
gen und werden umgekehrt während der beruflichen Entwicklung modifiziert.
die den Entscheidungsprozess ins Zentrum gestellt haben, wurden unter anderem
von der Rational Choice-Theorie abgeleitet (Esser, 2002) und stammen von Janis
und Mann (Brown, 1994), Hackett (zum Beispiel in Brooks, 1994) und Eccles
und Wigfield (2002). Weil sie im vorliegenden Ansatz eine zentrale Rolle spie-
len, werden sie hier aus systematischen Gründen genannt, aber in Kapitel 3.3
ausführlicher dargestellt.
institutionelle persönliche
Rahmenbedingungen Merkmale
1. Phase: Diffuse Berufsorientierung
Moderator: Ressourcen
Moderator: Strategien
5. Phase: Berufsausbildung
Die Phasen 1 bis 4 werden am Ende des gleichen Schultyps durchlaufen, die
Phasen 5 und 6 beziehen sich hingegen auf unterschiedliche Institutionen (zum
Beispiele Volksschule und Berufsbildung). Herzog et al. (2006) zeigten in einer
Längsschnittuntersuchung, dass diese Phasen von den Jugendlichen in der vorge-
schlagenen Reihenfolge durchschritten werden, aber mit individuell unterschied-
licher Geschwindigkeit. Sie können am Ende der Sekundarstufe I, aber auch am
Ende des Gymnasiums und der Fachmittelschule (Sekundarstufe II) gefunden
werden.
Dieses Konzept stellt keine umfassende Berufswahltheorie dar, aber eine
Strukturierung von Übergangsprozessen, die sich empirisch bewährt hat
(Herzog, et al., 2006). Innovativ sind die Bedeutung des Timings im Berufswahl-
prozess und die Verbindung von Entscheidungs- und Bewältigungsprozessen.
Allerdings ist wenig ausgearbeitet worden, wie Institutionen im Übergangssys-
tem den Berufswahlprozess strukturieren.
Neuenschwander und Hartmann (2011) entwickelten dieses Modell in
einem nächsten Schritt weiter und wendeten es auf den Übergang von der
Volksschule in die duale Berufsausbildung an. Sie gingen davon aus, dass die
Jugendlichen in Phase A Interesse an Gegenständen (Materialien, Personen,
Fachgebieten usw.) und besonderen Tätigkeiten haben (zum Beispiel Interesse-
theorie von Krapp, 1992). Dieses Interesse drückt sich in der Schule in Vorlieben
für bestimmte Fächer und Tätigkeiten sowie in bevorzugten Freizeitaktivitäten
aus. Im Berufswahlprozess werden allgemeine Interessen zu beruflichen Interes-
sen konkretisiert. Dieser erste Konkretisierungsschritt stützt sich auf Hilfen von
Eltern, Lehrpersonen, die Berufsberatung, evtl. einschlägige Tests (zum Beispiel
Explorix von Jörin, et al. 2003, vgl. Kapitel 2.4.1) ab. Bezugspersonen geben
Empfehlungen, in welchen Berufen die Interessen umgesetzt werden können.
Wenn Personen verschiedene Interessen haben, erwägen sie mehrere berufliche
Optionen. In diesem Schritt werden auch berufliche Merkmale wie das
Berufsprestige, Arbeitszeiten im entsprechenden Beruf usw. berücksichtigt und
mit den persönlichen Interessen abgestimmt. In Phase B kennen die Jugendlichen
Berufe, für die sie sich interessieren bzw. nicht interessieren.
Im zweiten Konkretisierungsschritt werden die Berufe anhand der
Anforderungen in der Berufsausbildung und der eigenen Fähigkeiten konkreti-
siert und es entstehen Präferenzen für bestimmte Berufsausbildungen. Dabei
werden die Anforderungen und die Attraktivität der einzelnen Berufsaus-
bildungen evaluiert. In Phase C kennen die Jugendlichen Berufsausbildungen,
für die sie sich interessieren bzw. nicht interessieren und deren Anforderungen
mit den eigenen Fähigkeiten erfüllt werden können.
56 2 Theoretische Grundlagen
B Interesse an Berufen
2. Konkretisierungsschritt: Abstimmung mit Fähigkeiten, Unterstützung durch Lehrpersonen,
Eltern, Noten u. a.
ren Anforderungen (zum Beispiel Kaufmann Profil B statt Profil E oder Schrei-
nerpraktikerin EBA statt Schreinerin EFZ) in den Blick genommen und
favorisiert werden (Rückschritt von Phase E zu Phase C). Gegebenenfalls ist
sogar die Überprüfung der Berufswahl erforderlich (Rückschritt von Phase E zu
Phase B). Das Phasenschema beschreibt also keine Stufentheorie ohne
Möglichkeit der Regression, vielmehr zwingt der Lehrstellenmarkt bzw. zwingen
die institutionellen Anforderungen Jugendliche zu Anpassungen ihrer
beruflichen Interessen an die konkreten Angebote (vgl. auch Abkühlung-
seffekte).
Gemäß Abbildung 2.3 wird der Berufswahlprozess als Konkretisierungs-
prozess von allgemeinen Interessen zu konkreten beruflichen Optionen und
Bewerbungen für eine Lehrstelle gedacht. In diesem Konkretisierungsprozess
werden schrittweise neue Kriterien berücksichtigt. Die Grundlage bildet aber das
persönliche Interesse, zu dem Berufe und Ausbildungsgänge gesucht werden, die
mit den eigenen Fähigkeiten korrespondieren und hinsichtlich derer Chancen
bestehen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten und die Ausbildung abzuschließen.
Gleichzeitig schließt das Phasenschema Prozesse der institutionellen Selektion
ein und setzt damit der interessegeleiteten Berufswahl deutliche Grenzen.
Erfolglose Bewerbungen lassen den Berufswahlprozess scheitern bzw. verlangen
nach Anpassungen der beruflichen Optionen aufgrund der angebotenen
Möglichkeiten und Gelegenheiten.
Dieses Konzept berücksichtigt neben den individuellen Ressourcen auch die
soziale Unterstützung von Bezugspersonen und die Steuerung durch institutio-
nelle Selektionsprozesse (vgl. Kapitel 3). Individuelle Entscheidungen werden
durch verfügbare Optionen und anwesende Bezugspersonen stark beeinflusst
(vgl. Konzept der ökologischen Rationalität in Kapitel 3.3).
2.4.6 Fazit
klärt haben, haben andere Jugendliche bereits zu Beginn des neunten Schul-
jahres einen Ausbildungsplatz und müssen die Zeit bis zum Ausbildungsbe-
ginn mit „Warten“ überbrücken. Dies kann mit geringer Leistungsmotivati-
on und hoher Störbereitschaft in der Schule verbunden sein.
2. Eine zweite Herausforderung der Berufswahl liegt darin, eine weitreichende
Entscheidung bei einer unvollständigen Informationslage zu fällen. Jugend-
liche können nicht alle beruflichen Optionen und Ausbildungsmöglichkei-
ten gründlich abklären. Überdies verfügen nicht alle 15-Jährigen über elabo-
rierte Konzepte der eigenen Fähigkeiten und Interessen. Der Beruf wird da-
her auf der Grundlage einer systematisch bedingten, unvollständigen Infor-
mationslage gewählt.
3. Eine dritte Herausforderung der Berufswahl liegt in den institutionellen
Restriktionen, welche die individuellen Wahloptionen stark beschränken.
Die Lehrstellenknappheit der 1990er- und 2000er-Jahre führte dazu, dass
viele Jugendliche keine Lehrstellen im Wunschberuf finden konnten. Insbe-
sondere in „neuen“ Berufen wie Informatik oder Fachangestellte Gesund-
heit gibt es nicht genügend Lehrstellen, um die Nachfrage zu befriedigen.
Zudem beschränkt das Niveau der Herkunftsschule die beruflichen Optio-
nen erheblich: Jugendliche in einem Schultyp mit Grundansprüchen haben
kaum Chancen, direkt (d. h. ohne Zwischenjahr) in eine Mittelschule oder
eine anspruchsvolle Lehre aufgenommen zu werden. Die Signalwirkung des
Schulniveaus beeinflusst den Selektionsentscheid, ungeachtet der effektiv
erbrachten Leistungen (Häberlin et al., 2004). Dieser Effekt ist vermutlich
besonders stark, wenn die Nachfrage nach Lehrstellen das Angebot an
Lehrstellen übertrifft.
4. Ein bevorstehender Schulübertritt kann bei Jugendlichen wegen der damit
verbundenen, neuen Anforderungen Angst auslösen: Angst vor einem neuen
Tagesrhythmus, vor höheren Leistungsanforderungen, vor dem Verlust von
Freundschaften bzw. der Notwendigkeit, neue Personen kennenzulernen
und neue Freundschaften zu schließen.
Während vor dem Übergang die Herausforderungen eher in der Klärung der
Zukunft und der damit verbundenen Unsicherheit und den Ängsten liegen, müs-
sen sich die Jugendlichen nach dem Übergang an die neue Schul- bzw. Ausbil-
dungssituation anpassen und neue Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwach-
senen knüpfen, sich mit neuen Leistungsanforderungen auseinandersetzen und
sich an einen neuen Tagesrhythmus gewöhnen (Eder, 1989). Eccles et al. (1993)
beschrieben schulische Belastungen beim Übergang in die Sekundarstufe I. Sie
problematisierten insbesondere die Anonymität, den Verlust stabiler sozialer
Beziehungen und die hohen Leistungsanforderungen der großen US-amerika-
60 2 Theoretische Grundlagen
ten führt und für die Jugendlichen mit ungünstigen Erwerbsbiografien ein-
hergeht. Eine andere Norm kann aus gewissen Berufswahltheorien abgelei-
tet werden: Wenn gemäß Holland (1973) eine hohe Passung zwischen der
Persönlichkeit und dem Beruf hergestellt werden soll, bildet nicht in erster
Linie die Anschlusslösung das Erfolgskriterium, sondern die Passung. Dem-
zufolge ist es nicht ausreichend, irgendeine Anschlusslösung zu finden, weil
das Risiko eines Ausbildungsabbruchs der Jugendlichen mit unpassender
Ausbildung groß ist. Dies bestätigen die Ergebnisse von Häfeli und Schel-
lenberg (2009), denen zufolge drei bis vier Prozent der Jugendlichen eines
Jahrgangs nach der Volksschule keine qualifizierende Ausbildung beginnen,
immerhin vier bis fünf Prozent die Ausbildung in der Sekundarstufe II ab-
brechen und zwei bis drei Prozent bei der Abschlussprüfung am Ende der
Sekundarstufe II durchfallen. Das Problem der Ausbildungsabbrüche und
des Durchfallens bei Abschlussprüfungen wird eher unterschätzt (vgl. aus-
führlicher Kapitel 7.3 bzw. 7.4).
Auf dieser Basis können Jugendliche identifiziert werden, die mit ho-
her Wahrscheinlichkeit diese Normen nicht erfüllen (Risikogruppen). Ge-
mäß dem Bildungsbericht Schweiz 2010 sind vor allem Jugendliche mit
Migrationshintergrund gefährdet, frühzeitig aus dem Ausbildungssystem zu
fallen. Auch weibliche Jugendliche und Jugendliche aus der Unterschicht
und aus Kleinklassen haben ein erhöhtes Risiko. Gefährdet sind zudem Ju-
gendliche mit hoher Selbst- oder Fremdgefährdung, d. h. die eine hohe Agg-
ressions- und Gewaltneigung aufweisen bzw. illegale Suchtmittel konsu-
mieren. Berufsbildende fürchten Arbeitskonflikte mit diesen Jugendlichen,
weshalb sie auf dem Lehrstellenmarkt benachteiligt sind (Neuenschwander
& Wismer, 2010) und in der Berufsbildung ein erhöhtes Abbruchrisiko ha-
ben (Süss, Neuenschwander & Dumont, 1996).
3. Das Konzept der Risikofaktoren (Spiess Huldi & Häfeli Rüesch, 2006) und
Risikogruppen birgt den Nachteil der Stigmatisierung (labeling). Wenn Ju-
gendliche als „Risikopersonen“ identifiziert und diagnostiziert werden, kann
sich das unerwünschte Verhalten im Sinne einer selbsterfüllenden Prophe-
zeiung verstärken. Die Kategorisierung dieser Jugendlichen in eine Gruppe
mit sozial unerwünschten Merkmalen erschwert es ihnen, dieses Verhalten
abzulegen. Als Alternative dazu beschrieben Herzog et al. (2006) das Kon-
zept der Risikosituation. Mit Risikosituation ist eine Konstellation von Per-
son-Umwelt-Merkmalen gemeint, die in einer bestimmten Phase des Über-
gangsprozesses mit hoher Wahrscheinlichkeit zu unerwünschten Folgen
führt. Bestimmte Risikosituationen können in bestimmten Phasen des Über-
gangsprozesses auftreten. Herzog et al. (2006) beschrieben beispielsweise
2.6 Reguläre und besondere Übergänge 65
Herzog et al. (2006) fanden auf der Grundlage ihrer Längsschnittdaten empirisch
zu Beginn des neunten Schuljahres sechs Risikofaktoren, die das Auftreten der
eingeführten Risikosituation regressionsanalytisch vorhersagen lassen. Daraus
leiteten sie eine Checkliste für die Früherkennung von Personen in Risikosituati-
onen zu Handen von Lehrpersonen ab (S. 204): (1) diffuser Entscheidungsstand
im Berufswahlprozess, keine berufliche Vorentscheidungen gefällt, (2) familiärer
Hintergrund erschwert Berufsentscheidung, zum Beispiel weil die Elternunter-
stützung gering ist oder sich die Familie vielen beruflichen Optionen ihres Kin-
des verschließt, (3) schlechte schulische Leistungen bzw. Zugehörigkeit zu ei-
nem Schulniveau mit Grundansprüchen, (4) ungünstige Bewältigung von Belas-
tungen und Stresssituationen durch Vermeidung oder emotionales Ausagieren,
(5) suboptimale Berufswahlstrategien, da beliebige Optionen ohne Vorauswahl
in Betracht gezogen werden, und schließlich (6) suboptimale Lehrstellensuch-
strategien, zum Beispiel wegen fehlender Hartnäckigkeit und Flexibilität. Ju-
gendliche, welche mehrere dieser Risikofaktoren aufwiesen, gerieten mit hoher
Wahrscheinlichkeit in eine Risikosituation.
Beim Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit lassen sich mehrere
Risikosituationen finden. Die Wiederholung eines Schuljahres, Ausbildungs-
losigkeit oder Jugendarbeitslosigkeit (vgl. Kapitel 8.3) sind Beispiele für Risiko-
situationen. Eine umfassende Systematik von Risikosituationen steht aber im
Moment noch aus.
Jugendliche in Risikosituationen beim Übergang von der Schule in den
Beruf sind also gefährdet, vorzeitig aus dem (Aus-)Bildungssystem ausgeschlos-
sen zu werden (drop-out). Sie treten damit mit ungünstigen Startbedingungen in
den Arbeitsmarkt ein und haben ein erhöhtes Risiko, arbeitslos zu werden und
psychosoziale Probleme, mit Selbst- und Fremdgefährdung (zum Beispiel
Depression, Suizid, Suchtmittelkonsum, Gewalt, Delinquenz) und sozialem Aus-
66 2 Theoretische Grundlagen
2.7 Schlussfolgerungen
Der Übergang von der Schule in den Beruf wurde in der Literatur aus vielfälti-
gen theoretischen Perspektiven beschrieben. Die soziologisch fundierten Kon-
zepte bearbeiten Themen der institutionellen Steuerung von Übergangsprozes-
sen. Die psychologisch ausgerichteten Theorien fokussieren hingegen stärker auf
den individuellen Entscheidungs- und Bewältigungsprozess sowie auf Ressour-
cen, die Jugendliche für das Erreichen der geplanten Bildungsabschlüsse und
Anschlusslösungen aktivieren können. Die Erziehungswissenschaft liefert Kon-
zepte und Befunde dazu, wie sich in Schule, Familie und anderen Sozialisations-
kontexten und Ausbildungsgängen Kompetenzen und Einstellungen entwickeln
und wie diese gefördert werden können, wie sich Selektion vollzieht und zu Bil-
dungsungleichheit führt und wie sich diese Kontexte auf die Bildungslaufbahn
und den Übergang in die Erwerbstätigkeit auswirken.
Dieses Einführungskapitel illustriert, wie institutionelle Steuerung in
Interaktion mit individuellen Zielen und Entscheidungen auf der Basis von
sozialen Ressourcen Bildungsverläufe und Übergänge von der Schule in die
Erwerbstätigkeit erklärt. Die Befunde zeigen, dass mit einer Beschränkung auf
die Institution oder auf das Individuum und seine Ressourcen keine befriedi-
gende Erklärung der Übergangsprozesse gelingen kann. Diese These wird
gestützt, wenn nicht nur die regulären normativen Bildungsverläufe beschrieben
werden sollen, sondern auch besondere Übergangsmuster und Risikosituationen,
die in der Bildungspraxis hohe Aufmerksamkeit erhalten, analysiert werden.
Statt die einzelnen Positionen zu bewerten, soll im nächsten Kapitel der Versuch
gewagt werden, das komplexe Verhältnis von Individuum und Institution zu
analysieren und auf dieser Grundlage die Steuerung von Übergangsprozessen
verständlicher zu machen.
3 Der theoretische Ansatz
Diese drei Regulierungsebenen bilden autonome Systeme, wobei sie sich gegen-
seitig beeinflussen. Einerseits definieren Institutionen Bildungspfade und setzen
Normen, die von den Individuen verinnerlicht werden. Umgekehrt wählen Indi-
viduen Entwicklungskontexte aus und gestalten diese mit. Die Jugendlichen
können die eigene Entwicklung direkt und über die Mitgestaltung ihrer Entwick-
lungsumwelten indirekt regulieren. Zwischen Institution und Individuum laufen
kontinuierlich komplexe Interaktionen ab, deren Anfang in der Regel nicht fest-
schule und anschließend ein College oder eine Universität. Sie qualifizieren sich
nicht für einen bestimmten Beruf, sondern für vielfältige Tätigkeiten in
verschiedenen Arbeitsfeldern. Sie erwerben die besonderen Kompetenzen für die
Ausübung der Erwerbstätigkeit im Beruf. Ihr breiter Ausbildungsabschluss
ermöglicht es ihnen, flexibel zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern zu
wechseln. Damit sind die beruflichen Karrieren weniger stark durch die Ausbil-
dung vorbestimmt als in Ländern mit einer Berufsbildung. Allerdings ist die
Stellensuche belastender, weil Firmen aufgrund der Weiterbildungskosten junge
Erwachsene ohne Berufserfahrung und praktische Kompetenzen nur zurück-
haltend einstellen. Strahm (2008) postulierte daher in einer programmatischen
Schrift, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Ländern ohne duale Berufsbildung
höher ist als in Ländern mit dualer Berufsbildung (mehr zum Thema
Arbeitslosigkeit in Kapitel 8.3.1). In einer sogenannten „floundering period“
oder Präkariat wechseln die jungen Stellensuchenden von einer befristeten Stelle
zur nächsten, bis sie ausreichende Kompetenzen erworben haben, die sie für das
Ausüben einer verantwortungsvollen Funktion benötigen. Sie erhalten Anleitung
und Weiterbildung bei der Ausübung ihrer Tätigkeit von ihren Vorgesetzten und
von Mitarbeitenden mit mehr Erfahrung. Sie erlernen selbstreguliert im Arbeits-
prozess neue Techniken und Methoden zur Ausübung ihrer Tätigkeit.
Die beiden Beispiele illustrieren, dass Gesellschaften den Übergang von der
Schule in die Erwerbstätigkeit institutionell ganz unterschiedlich strukturieren
können und dass dabei der Beruf bzw. die Berufslehre eine ganz unterschiedliche
Bedeutung erhält. Diese Übergangspfade weisen in den einzelnen Ländern viele
unterschiedliche Varianten und Zwischenlösungen auf. Damit wird die Möglich-
keit zu individuellen Spielformen geschaffen und die institutionelle Vor-
strukturierung der Bildungsverläufe flexibilisiert (vgl. Pathway-Ansatz, Kapitel
2.1). Die einzelnen Jugendlichen können aber natürlich keine neuen
Ausbildungsgänge schaffen, sondern sie können in Übergangssituationen
zwischen verschiedenen Angeboten wählen bzw. sich dafür bewerben. Es
entsteht ein Markt mit Ausbildungsangeboten und Nachfrage der Jugendlichen
(Schank, 2011). Allerdings unterscheidet sich dieser Markt vom Arbeitsmarkt
dadurch, dass der Staat ein Interesse daran hat, dass möglichst viele Jugendliche
einen qualifizierenden Abschluss erreichen. Der Staat reguliert entsprechend die
Marktprozesse. Außerdem wird die Nachfrage nicht primär von den Bedürfnis-
sen und Interessen der Jugendlichen bestimmt, sondern von der Stärke eines
Geburtenjahrgangs. Ein geburtenreicher Jahrgang erhöht die Nachfrage nach
(Lehr-)Stellen. Bei gleichbleibendem Angebot müssen Jugendliche eines
geburtenarmen Jahrgangs geringere Leistungen erbringen, um eine anspruchs-
volle Ausbildung abschließen zu können. Gleichzeitig haben Betriebe in gebur-
tenschwachen Jahren Mühe, die Lehrstellen in wenig gefragten Berufen zu
3.1 Sozialisation durch gesellschaftliche Strukturen 71
besetzen. Der Lehrstellenmarkt funktioniert in dem Maß, wie sich das Angebot
an freien Lehrstellen der Geburtenstärke eines Jahrgangs anpassen kann. Dieses
Problem ist auf dem Arbeitsmarkt von jungen Arbeitssuchenden anders gelagert,
weil hier die jungen Stellensuchenden immer mit den älteren Stellensuchenden
konkurrieren, wodurch die Geburtenschwankungen ausgeglichen werden.
Die institutionelle Steuerung, wie sie eingangs ins Zentrum gestellt worden
ist, wird also durch die Öffnung des Bildungssystems und durch Marktprozesse
in Übergangssituationen durchbrochen. Daher wird die Position einer
ausschliesslichen Steuerung der Transitionsprozesse durch Institutionen nicht
gefolgt. Für das Verständnis von Übergangsprozessen vielversprechender ist die
Lebenslaufperspektive, welche die enge Verwobenheit von individuellen
Biografien und die Eingebundenheit in soziale Kontexte akzentuiert. So betonten
Elder und Shanahan (2005) in ihrer Theorie des Lebenslaufs, dass Bildungs-
verläufe und soziale Entwicklungsverläufe typischerweise mit dem Lebensalter
verbunden sind. Individuen sind in Institutionen und soziale Kontexte eingebun-
den und werden mit Erwartungen konfrontiert. Es wird den einzelnen Jugend-
lichen vorgegeben, wie sie sich verhalten bzw. welche Entscheidungen sie in
verschiedenen Lebensaltern fällen müssen (timing). Die Übergänge bilden die
Zäsuren und Meilensteine im Lebenslauf. Damit sind nicht nur Bildungs- und
Arbeitsübergänge gemeint, sondern auch familiäre Übergänge wie der Auszug
aus der Familie, der Übergang zur Elternschaft und andere. Außerdem
strukturieren Übergänge die Entwicklungswege von Menschen: Vor einem
Übergang liegen Entscheidungen an, die neue Optionen eröffnen bzw. andere
Optionen verschließen. Mit der Entscheidung für das Gymnasium eröffnen sich
Jugendlichen tertiäre Ausbildungsgänge, währenddessen Berufslehren für sie
unwahrscheinlich werden. Im Vergleich zu Heinz (2000) betonten Elder und
Shanahan (2005) die strukturierende Wirkung der sozialen Herkunft auf den
Lebenslauf stärker, wobei sie relativierten, dass sich das familiäre Milieu
während des Aufwachsens der Jugendlichen verändern könne und sich daher
auch ihre Wirkung modifiziere. Elder und Shanahan (2005) integrierten den
Übergang von der Schule in die Erwerbstätigkeit in eine umfassende
soziologische Theorie des Lebenslaufs und demonstrierten damit die starken
Wechselwirkungen zwischen Institution und Individuum.
Im Hinblick auf die Konzeption des Verhältnisses von individueller
Selbststeuerung und institutioneller Regulierung ging Heinz (2000) noch einen
Schritt weiter und postulierte eine Stärkung des Individuums während des
Modernisierungsprozesses (Beck, 1986). Individuelle Bedürfnisse erhielten
gesellschaftlich eine höhere Bedeutung. Entsprechend seien die Optionen in
Übergangssituationen zahlreicher und individuelle Bildungsverläufe und
Lebensläufe pluraler geworden. Die Sozialisationserfahrungen in der Kindheit
72 3 Der theoretische Ansatz
Während Heinz (2000) aus einer soziologischen Perspektive mit dem Begriff der
Selbstsozialisation eine interessante Beschreibung des Wechselverhältnisses
zwischen institutioneller Steuerung und individueller Entwicklungsregulation
fand, schlugen Lerner et al. (2005) in der Tradition der systemischen Entwick-
lungstheorie stehend ein ähnliches Konzept vor. Sie verstehen das Individuum
als zielgerichtet handelndes Subjekt, das in soziale Kontexte eingebunden ist und
die eigene Entwicklung selbst reguliert. Menschliche Entwicklung ist nach die-
sem Verständnis weder primär endogen noch primär exogen gesteuert
(Neuenschwander, 2011). Jugendliche wählen Entwicklungskontexte, wenn sie
sich zum Beispiel einer Gleichaltrigengruppe zuordnen oder eine Ausbildung
oder einen Beruf wählen. Mit der Wahl eines Entwicklungskontextes bestimmen
sie wesentlich ihre Sozialisationseinflüsse. Zudem können die Jugendlichen
direkt ihren Entwicklungskontext beeinflussen, indem sie ihre Anliegen einbrin-
gen und ihre Umwelt mitgestalten. Nicht zuletzt regulieren die Jugendlichen
wesentlich ihr Handeln selbst. Lerner und Walls (1999) formulierten daher die
3.2 Personen im Kontext: Soziale Ressourcen 73
radikale These, dass die Jugendlichen ihre Entwicklung selbst gestalten und
schaffen. Entsprechend beschrieben Heckhausen und Schulz (1995) in ihrer
Theorie der lebenslangen Entwicklungsanpassung zwei Funktionen des Indivi-
duums: Die primäre Kontrolle beschreibt die aktive Umweltgestaltung des Indi-
viduums, während die sekundäre Kontrolle die Anpassung des Individuums an
unveränderliche Umweltanforderungen bezeichnet. So können Individuen Ziele
definieren, Pläne zu deren Erreichung entwickeln, diese hartnäckig verfolgen
und dank ihrer Anstrengung wichtige Entwicklungsetappen bewältigen. Aller-
dings sind manche Ziele wegen widriger Umstände bzw. institutioneller Restrik-
tionen nicht erreichbar, weshalb Zielanpassungen nötig sind. Ziele und Pläne von
Jugendlichen sind für das Verständnis der Übergangsprozesse von der Schule in
den Beruf hilfreiche Konzepte.
Diese Entwicklungsidee wird durch den systemischen Ansatz entschärft
(Lerner et al., 2005). Diesem Ansatz zufolge findet die Entwicklung des
Menschen in einem aus mehreren Ebenen bestehenden System statt. Alle Ebenen
eines Entwicklungssystems (Biologie, Mensch, Kultur/Geschichte) sind
wechselseitig aufeinander bezogen. Auf diese Weise beeinflussen sich diese
verschiedenen Systemebenen gegenseitig. Individuen konstruieren durch ihre In-
teraktionen höhere soziale Einheiten (Gruppen, Institutionen, vgl. Emergenz,
Huschke-Rhein, 1993). Umgekehrt werden die Individuen durch die höheren
sozialen Einheiten beeinflusst (vgl. beispielsweise die Kleingruppenforschung
von Moscovici, 1984). So erhalten Individuen von ihrer Institution gewisse
Aufgaben und üben in diesen Institutionen Funktionen aus. Umgekehrt bilden
die Institutionen Bezugsgrößen für die individuelle Entwicklungssteuerung. Eine
adaptive Entwicklung basiert nach Lerner et al. (2005) auf positiven
systemischen Beziehungen zwischen Person und Kontext.
Damit hängt die Leitidee der Mensch-Umwelt-Passung zusammen. Auf dem
individuellen Niveau muss die psychische Selbstregulation so ausgerichtet sein,
dass der Mensch in seine Umwelt passt, dass Korrespondenzen zwischen der
Zielverfolgung bzw. der Zielanpassung und den institutionellen Anforderungen
und Widerständen entstehen. Die Passung kann Korrespondenz bedeuten, so wie
ein Element wie ein Puzzleteil ins Ganze passt. Damit ist nicht Gleichheit
gemeint, sondern eher Komplementarität. Das Individuum füllt eine Lücke in
einem Gesamtsystem bzw. seine Bedürfnisse werden durch Angebote im
sozialen Kontext befriedigt; seine Ziele sind erreichbar. Das Individuum kann
zum Funktionieren seines sozialen Kontexts beitragen und erhält im Gegenzug
von seinen Mitmenschen Unterstützung bei der individuellen Aufgaben-
bewältigung. Der soziale Kontext erhält damit für das Individuum die Funktion
einer sozialen Ressource. Damit ist eine Unterstützungsquelle für die
individuelle Selbstregulation bzw. Zielerreichung gemeint (vgl. Kapitel 2.5).
74 3 Der theoretische Ansatz
(off-the-job) oder nicht klar von diesen unterschieden (formale versus informale
Sozialisation)? 2) Inhalt: Erfolgt die Sozialisation nach einer Reihe von fixen
unterscheidbaren Schritten oder sind diese unklar und ändern sich laufend
(sequentielle versus zufällige Sozialisation)? Gibt es einen Zeitplan, wann
welche Schritte erfolgen oder nicht (feste versus variable Sozialisation)? 3)
Soziales: Werden die neuen Mitarbeitenden durch erfahrene Mitarbeitende
sozialisiert oder nicht (seriale versus disjunktive Sozialisation)? Werden die
Identität und persönlichen Eigenschaften der neuen Mitarbeitenden gestärkt oder
verneint, um sie den Bedürfnissen des Betriebs anzupassen (unterstützende
versus nicht unterstützende Sozialisation)? Diese Dimensionen haben jeweils
eine bipolare Ausprägung (Institution versus Individuum). Auch wenn sie im
Hinblick auf den Antritt einer neuen Arbeitsstelle formuliert worden sind, geben
sie auch Hinweise darauf, wie Schulen die neu eintretenden Schülerinnen und
Schüler aufnehmen. Nach der Unsicherheitsreduktionstheorie reduzieren
institutionelle Sozialisationstaktiken die erlebte Unsicherheit der Berufslernen-
den im neuen Umfeld, indem sie Informationen zur Verfügung stellen, an
welchen sie sich orientieren können (Saks, Uggerslev & Fassina, 2007).
Passung darf aber nicht mit Anpassung im Sinne einer Auflösung der
Identität der Jugendlichen oder Konformität verwechselt werden. Vielmehr wird
Passung als Ergebnis eines Entscheidungs- oder Selektionsprozesses verstanden:
Jugendliche und Betriebe wählen sich gegenseitig, sodass sich eine Passung
einstellt, ohne dass Jugendliche und Betriebe ihre Werte und Strategien grund-
legend verändern müssen.
Zum Beispiel entscheiden sich die Jugendlichen beim Übergang in die
Berufsbildung für eine Ausbildungsform und einen Beruf, der ihren Interessen
und Fähigkeiten entspricht. Gleichzeitig wählen die Berufsbildnerinnen und
Berufsbildner in einem Selektionsverfahren diejenigen Schülerinnen und Schüler
aus, von denen sie glauben, dass sie optimal in den Betrieb und den Beruf
passen. Passung ist damit das Kriterium für eine gute Berufswahl bzw. Selektion.
Allerdings dürften Jugendliche mit hohen schulischen, beruflichen und
sozialen Kompetenzen eher dazu beitragen, dass eine hohe Passung entsteht
(Neuenschwander, im Druck a). Entsprechend definierte Sternberg (1997)
Intelligenz unter anderem als Fähigkeit, sich rasch an neue Situationen anpassen
zu können. Zudem erreichen die Jugendlichen in der Anschlusslösung eine grö-
ßere Passung, wenn sie ihre Entscheidung mit hoher Sicherheit gefällt haben
(Herzog et al., 2006). Die Entscheidungssicherheit hängt von der schulischen
Selbstwirksamkeitsüberzeugung ab, aber auch vom Stand der beruflichen
Identitätsentwicklung. Jugendliche mit hoher Selbstwirksamkeitsüberzeugung
und einer erarbeiteten beruflichen Identität (Neuenschwander, 1996) können eine
Ausbildungsentscheidung oder Berufswahl treffen, von der sie überzeugt sind,
76 3 Der theoretische Ansatz
dass es für sie persönlich die richtige ist. Ausgehend von Lerner et al. (2005)
interpretieren wir eine hohe Passungswahrnehmung als entwicklungsförderlich.
Die Entscheidungssicherheit von Jugendlichen in Übergangssituationen
hängt auch von der Unterstützung ihrer Entscheidung im sozialen Kontext ab, in
den sie eingebunden sind (Neuenschwander & Hartmann, 2011). Besonders
bedeutsam sind die Familie, die Schule und die Gleichaltrigengruppe (vgl.
Kapitel 6.5). Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrige schaffen Lernanlässe, geben
Rückmeldungen über die Fähigkeiten und geben emotionale sowie instrumen-
telle Unterstützung in Übergangssituationen. Es können Kompensationen auf-
treten, insofern Jugendliche beispielsweise bei Lehrpersonen und Gleichaltrigen
um Hilfe fragen, wenn sie diese von den Eltern nicht erhalten.
Jugendliche handeln und entscheiden in sozialen Kontexten, wodurch sie
wichtige Hilfestellungen und Ressourcen beim Übergang von der Schule in den
Beruf erhalten. Die Form dieser Unterstützung ist vielfältig, manchmal koor-
diniert, aber für Jugendliche in Übergangssituationen unabdingbar.
Primäre
Herkunftseffekte
Sekundäre
Herkunftseffekte
2002) differenzierter als bei Atkinson (1957, 1964). Sie beziehen sich nicht nur
auf Lernaufgaben, sondern auch auf psychische und soziale Aufgaben.
Im Prinzip postulieren Eccles et al. (1998), dass Ausbildungsalternativen
anhand der Anforderungen, die diese an die Jugendlichen stellen, eingeschätzt
werden (Erwartung). Zusätzlich werden diese Ausbildungsalternativen in Bezug
auf ihre Wichtigkeit, Attraktivität, Nützlichkeit und Kosten (Wert) reflektiert.
Die Kombination der eingeschätzten Anforderungen mit dem Wert der
Ausbildungsalternativen führt zu einer Entscheidungstendenz. Dabei werden
Empfehlungen und Rückmeldungen von Bezugspersonen sowohl bei der
Einschätzung der Anforderungen und des Wertes, als auch bei der Interpretation
des Ergebnisses eines Problemlösungsprozesses berücksichtigt. Während die
Erwartungen in erster Linie eine Verbindung zwischen den selbst eingeschätzten
Fähigkeiten und den beruflichen Anforderungen sichern, geben die Werte eine
Richtung an, welche beruflichen Tätigkeiten von Interesse sind. Eine Wahl wird
sowohl durch positive als auch durch negative Werte beeinflusst. Die Werte als
Identitätsdimension sichern zudem dem Individuum das Gefühl von Kontinuität
(vgl. auch Lent, 2005) und erklärt die starken Geschlechtsunterschiede im
Berufswahlprozess (zum Beispiel Hackett, 1995). Gegenwärtig gibt es zahlreiche
Varianten von Erwartungs-Wert-Theorien (Maaz, Hausen, McElvany &
Baumert, 2006), die recht erfolgreich Selektionsprozesse und Entscheidungen in
verschiedenen Phasen des Übergangs von der Volksschule in die Erwerbs-
tätigkeit zu erklären vermögen (vgl. beispielspielsweise Kapitel 6.3.1).
In Übereinstimmung mit der Theorie von Eccles et al. (1998) gehen wir
zusammenfassend davon aus, dass Erwartungen und Werte als Einstellungen von
Jugendlichen die Berufswahl wesentlich beeinflussen. Diese Einstellungen
werden in Interaktion mit nahen Bezugspersonen wie den Eltern, Lehrpersonen
und anderen wichtigen Personen aus dem sozialen Bezugskontext gebildet. Diese
Bezugspersonen sind nicht nur wichtige Bezugsgrössen beim Aufbau von
Einstellungen, sondern beeinflussen auch direkt die Entscheidungsprozesse der
Jugendlichen. Ausgehend vom „Person im Kontext“-Paradigma (Kapitel 3.2)
wird postuliert, dass Jugendliche und junge Erwachsene Ausbildungs- und
Berufsentscheidungen auf der Basis ihrer persönlichen Bildungseinstellungen
sowie der sozialen Beeinflussung durch wichtige Bezugspersonen fällen. Wegen
der Komplexität der Entscheidungen könnten auch Gefühle als Heuristiken eine
Rolle spielen (Neuenschwander & Hartmann, 2011): Weil Jugendliche mit einer
rationalen Entscheidung überfordert sind, wählen sie Kontexte und Personen, die
positive Gefühle auslösen oder ihnen neue, interessante Erfahrungen
ermöglichen. Bildungs- und Berufsentscheidungen von Jugendlichen basieren
daher nicht nur auf Bildungseinstellungen wie Erwartungen und Werten, sondern
auch auf sozialer Unterstützung durch Bezugspersonen und positiven Gefühlen
3.4 Schlussfolgerungen 81
3.4 Schlussfolgerungen
Wir stellen einen Mehrebenenansatz ins Zentrum unserer Analyse des Übergangs
von der Schule in den Beruf. Gesellschaftliche Strukturen und Bildungsinstituti-
onen schaffen Angebote und (Selektions-)Verfahren und Quoten bestimmen
Wahrscheinlichkeiten, welche Bildungswege die einzelnen Menschen durchlau-
fen. Sie bestimmen aber nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen, sondern
setzen Normen und richten Erwartungen an die einzelnen Jugendlichen, die im
Laufe der Sozialisation verinnerlicht werden und Einstellungen sowie Verhalten
in hohem Maß beeinflussen. Sie sind für das Verständnis von Übergangsprozes-
sen sehr zentral. Insbesondere erklären sie die Unterschiedlichkeit der Über-
gangsprozesse und Bildungsverläufe von Menschen in verschiedenen Ländern
und Gesellschaften. Sie bestimmen Muster, die Gruppen bzw. typische Fälle von
individuellen Bildungsverläufen abbilden. Diese Muster sind wegen der höheren
Standardisierung der Ausbildungsstrukturen in der Sekundarstufe I und II ver-
gleichsweise einfach, werden aber in Erwerbsbiografien nach Ausbildungsab-
schluss sehr vielfältig. Diese Vielfalt entsteht vor allem in Übergangssituationen
aufgrund der Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen und sie wird im Zeitver-
lauf grösser, weil dem Individuum während des gesellschaftlichen Modernisie-
rungsprozesses größere Bedeutung beigemessen worden ist. Der Entscheidungs-
spielraum der einzelnen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Übergangssi-
tuationen ist gestiegen. Die Jugendlichen wünschen eine hohe Durchlässigkeit
zwischen Ausbildungsgängen und Berufskarrieren und schöpfen den damit ver-
bundenen Spielraum aus. Damit können die einzelnen Jugendlichen im Rahmen
der institutionellen Gegebenheiten und persönlichen Voraussetzungen Entschei-
dungen treffen und in ihrer Biografie eine Konstanz und eine Identität herstellen.
Die Jugendlichen treffen diese Übergangsentscheidungen auf der Grundlage
persönlicher Ziele und Bildungseinstellungen sowie vor allem auf der Basis von
Erwartungen und Werten.
82 3 Der theoretische Ansatz
4.1 Forschungsdesign
zweier Kohorten hatte den Vorteil, dass sowohl das Alter als auch verschiedene
Übergänge und Bildungsverläufe miteinander verglichen werden konnten. Zu
Beginn des Projekts wurden die Schülerinnen und Schüler klassenweise befragt.
Durch den sich entwickelnden weiteren Bildungsverlauf und die Verteilung auf
unterschiedliche Ausbildungswege war diese klassenweise Befragung nicht mehr
in allen Fällen möglich und die Jugendlichen wurden wenn nötig postalisch
befragt.
Abbildung 4.1 stellt das Design der Längsschnittstudie dar. Im Frühsommer
2006 wurden die Jugendlichen ein zweites Mal befragt. Zu diesem Zeitpunkt
wurden zusätzliche Jugendliche in die Stichprobe aufgenommen (Ergänzungs-
stichprobe). Im Jahre 2007 wurden alle Jugendlichen ein drittes Mal, die der
Ergänzungsstichprobe ein zweites Mal befragt. In der Erhebungswelle 2008
standen die Jugendlichen der jüngeren Kohorte am Ende der Sekundarstufe II-
Ausbildung (Mittelschule oder duale berufliche Grundausbildung), während die
Jugendlichen der älteren Kohorte mehrheitlich diese Ausbildung abgeschlossen
hatten oder dabei waren, diese abzuschließen (Übertritt in die Erwerbstätigkeit).
Die Angaben der Schuljahre beziehen sich auf die Jugendlichen, welche den
Ausbildungsweg direkt, d. h. ohne Unterbrechung, Brückenangebot, Wieder-
holung, Sprachaufenthalt usw. absolviert haben.
1. Welle 2002
1. Kohorte 2. Kohorte
Ergänzungs-
2. Welle 2006 stichprobe
3. Welle 2007
4. Welle 2008
Die erste Erhebung fand im Spätherbst 2002 statt. Dabei standen unter anderem
folgende Fragen im Zentrum: Unter welchen Bedingungen üben Eltern, Lehrper-
sonen und ihre Zusammenarbeit einen Einfluss auf die Leistungen der Schüle-
rinnen und Schüler aus? Wie verläuft die Zusammenarbeit zwischen Lehrperso-
nen und Eltern? Wie beeinflussen Eltern die Leistungen ihrer Kinder? Im Vor-
dergrund standen im Jahre 2002 somit die Themen Eltern-Lehrpersonen-
Zusammenarbeit und schulische und familiäre Bedingungen von Leistungen der
Schülerinnen und Schüler.
Es wurden klassenweise 1153 Jugendliche aus 64 Klassen des deutsch-
sprachigen Kantons Bern sowie deren Eltern und Lehrkräfte befragt. An der
Untersuchung nahmen 52.1 Prozent der Schülerinnen der jüngeren Kohorte und
je 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler der älteren Kohorte teil (Durch-
schnittsalter der jüngeren Kohorte: 11.9 Jahre, der älteren Kohorte: 13.9 Jahre).
Die Stichprobe sollte möglichst repräsentativ für den deutschsprachigen Kanton
Bern sein und wurde mittels eines geschichteten Verfahrens zufällig ausgewählt.
Dabei wurden im Auswahlverfahren die geografische Region, das Vorhanden-
sein eines Elternrates an der Schule und der Oberstufenschultyp (segregiert
versus kooperativ) als Schichtungskriterien berücksichtigt. Ein weiteres Kriteri-
um war die Befragung von mindestens drei Klassen an jeder Schule. Die ausge-
wählten Klassen stammten sowohl aus der sechsten als auch aus der achten Klas-
senstufe, wobei in der Oberstufe pro Schule möglichst gleich viele Schülerinnen
und Schüler der Sekundarschule (Niveau mit erweiterten Ansprüchen) und der
Realschule (Niveau mit Grundansprüchen) befragt wurden.
Ein Projektmitglied besuchte eine Klasse zwei Mal im Abstand von zwei
bis drei Wochen. Beim ersten Besuch füllten die Schülerinnen und Schüler einen
Fragebogen aus, beim zweiten wurde ihnen ein Deutsch- und Mathematiktest
vorgelegt. Am Ende des ersten Besuchs erhielten die Schülerinnen und Schülern
ein verschlossenes Kuvert mit dem Elternfragebogen und dem Begleitbrief mit
nach Hause. Der Elternfragebogen wurde beim zweiten Besuch wieder ein-
gesammelt. Die Schülerinnen und Schüler sollten den Elternfragebogen ihrer
wichtigsten Bezugsperson zu Hause geben.
Insgesamt wurden 1021 Eltern befragt (vgl. Neuenschwander et al. 2003b).
Zur Erreichung möglichst vieler fremdsprachiger Eltern wurde die Korrespon-
denz mit den Eltern und der Elternfragebogen in die fünf Sprachen der gemäß
Schülerstatistik des deutschsprachigen Kantons Bern häufigsten ausländischen
86 4 Methode
Bei der dritten Erhebungswelle 2007 wurden wieder alle Jugendlichen der Erhe-
bungswelle 2006 sowie alle im Jahre 2006 involvierten Berufsschulklassen ange-
fragt. Insgesamt wurden 2137 Jugendliche kontaktiert, von denen 1406 Jugendli-
che des zehnten und zwölften Schuljahres an der dritten Erhebung teilnahmen.
Der Rücklauf betrug somit 65.8 Prozent. Der Anteil Schülerinnen betrug
54.7 Prozent in der jüngeren Kohorte und 56.9 Prozent in der älteren Kohorte
(Durchschnittsalter in der jüngeren Kohorte lag bei 16.9 Jahre, in der älteren
Kohorte bei 19.3 Jahre).
In der Erhebungswelle 2007 wurde der Übergang von der obligatorischen
Volksschule (neunten Schuljahr) in die (duale) Berufsbildung oder in andere
Schulformen der Sekundarstufe II sowie Veränderungen während der
Mittelschule oder Berufslehre untersucht. Im Zentrum stand die Frage, wie sich
Jugendliche nach Abschluss der neun obligatorischen Schuljahre an die neue
Ausbildungssituation anpassen und wie sie sich auf den Übergang in die
Erwerbstätigkeit vorbereiten. Weiter interessierten die Fragen, wie die Jugend-
lichen sich selbst wahrnehmen, welche Einstellungen und Werte sie vertreten
und wie sie sich während der Mittelschule oder Berufsbildung verändern.
Die beschränkten finanziellen Ressourcen erforderten eine kostengünstige
Erhebungsmethode (Neuenschwander et al., 2007e). Daher bot sich bei der
Erhebung 2007 ein web-basierter Fragebogen an. Dadurch entstanden keine
88 4 Methode
Druck- und Versandkosten und die Daten lagen unmittelbar elektronisch vor.
Gleichwohl konnten dank Identifikationscode und Passwort einzelne Individuen
zuordenbare Daten unter Einhaltung des Datenschutzes erfasst werden. Die
Qualität der Daten ist somit durchaus vergleichbar mit der postalischen Befra-
gung. Neuere internationale Untersuchungen belegten die Vorteile von web-
basierten Befragungen (Reips, 2002; McCabe & Boyd, 2002; McCabe, Boyd,
Young & Crawford, 2004; McCabe, Couper, Cranford & Boyd, 2006).
Zusätzlich füllten 586 Jugendliche, die im Rahmen der Klassenbefragung
untersucht wurden, drei Untertests eines Intelligenztests aus.
Soweit möglich wurde der Fragebogen klassenweise während des
Unterrichts ausgefüllt, angeleitet von einem Mitglied der Projektgruppe. Jugend-
lichen, die keiner ausgewählten Klasse angehörten, wurde der Zugangscode per
Post mit der Bitte um Teilnahme geschickt. Es wurde einmal gemahnt. Unter den
teilnehmenden Jugendlichen wurde ein Reisegutschein verlost.
Im Zentrum der Erhebungswelle 2008 stand der Übergang von der Berufsbil-
dung in die Erwerbstätigkeit. Von Interesse war, von welchen institutionellen
und persönlichen Bedingungen der Status nach Ausbildungsabschluss abhing
und unter welchen Bedingungen junge Erwachsene nach dem Abschluss ihrer
Berufsausbildung eine Passung zwischen ihren Interessen bzw. Fähigkeiten und
den Arbeitsinhalten und -anforderungen erreichen konnten. Dabei sollten auch
die Herausforderungen, Risiken und Ressourcen beim Übergang in die Erwerbs-
tätigkeit berücksichtigt werden.
Bei der Erhebungswelle 2008 sollten wiederum alle Jugendlichen, die
mindestens einmal an einer früheren Datenerhebung mitgemacht hatten und nicht
explizit ihre weitere Teilnahme an der Untersuchung verweigert hatten, erneut
befragt werden. Insgesamt wurden 2003 Jugendliche postalisch angefragt, an der
Untersuchung teilzunehmen. An der Erhebungswelle 2008 nahmen insgesamt
1221 Jugendliche teil, der Rücklauf betrug somit 60.9 Prozent. Die Jugendlichen
der ersten Kohorte befanden sich 2008 im elften Schuljahr oder im zweiten
Lehrjahr und diejenigen in der zweiten Kohorte im 13. Schuljahr oder im ersten
Beruf (Übertritt in die Erwerbstätigkeit). Die Angaben zum Schuljahr beziehen
sich auf die Jugendlichen, die den Ausbildungsweg ohne Unterbrechung
absolviert haben. Der Anteil Schülerinnen betrug 54.3 Prozent in der jüngeren
Kohorte und 61.1 Prozent in der älteren Kohorte (Durchschnittsalter der jüngeren
Kohorte lag bei 17.9 Jahren, bei der älteren Kohorte bei 20.3 Jahren).
4.2 Stichprobe und Durchführung 89
Tabelle 4.1: Anzahl der Personen in der Gesamtstichprobe nach Kohorte und
Erhebungswelle
Die Erhebungswelle 2008 bestand aus einem Hauptfragebogen und vier Teilfra-
gebogen (Schule/Studium, Lehrbetrieb, Arbeitsbetrieb, Zwischenlösung, detail-
lierte Angaben in Neuenschwander & Frank, 2009). Alle Jugendlichen füllten
den Hauptfragebogen aus und wählten je nach ihrem Ausbildungs- und Erwerbs-
status den dazugehörigen Teilfragebogen aus (vgl. Tabelle 4.3).
Bei der älteren Kohorte hatten sich die Jugendlichen nach dem inzwischen er-
folgten Übertritt in die Sekundarstufe I auf verschiedene Schulen verteilt, was
die Auffindbarkeit und Erreichbarkeit der Jugendlichen erschwerte. Auch bei den
Erhebungswellen 20077 und 20088 unterschieden sich die teilnehmenden und die
nicht teilnehmenden Jugendlichen nicht in Bezug auf motivationale, persönliche
und familiäre Variablen (vgl. Neuenschwander et al., 2007e; Neuenschwander &
Frank, 2009). Allerdings ergab sich in der Erhebung 2008 für die ältere Kohorte
eine leichte Verzerrung nach Geschlecht: Männliche Jugendliche nahmen ver-
gleichsweise weniger häufig an der Erhebung 2008 teil als weibliche Jugendliche
(vgl. Abschnitt Erhebungswelle 2008).
4.3 Instrumente
In den meisten Datenerhebungen kam ein schriftlicher Fragebogen für die Ju-
gendlichen, ihre Eltern und Lehrpersonen zum Einsatz. Zugrunde lag ein mehr-
perspektivischer Zugang, weil die drei Akteurgruppen Jugendliche, Eltern und
Lehrpersonen mit sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen und Werthaltungen
die Sozialisationsprozesse von Jugendlichen begleiteten. Daher wurden für die
drei Personengruppen unterschiedliche Fragebogen entwickelt. Alle drei Perso-
nengruppen beantworteten einerseits spezifische, auf sie zugeschnittene Items.
Andererseits wurden den drei Personengruppen gleiche Items im Bereich der
Schnittstelle Schule und Familie vorgelegt, was einen direkten Vergleich der
verschiedenen Sichtweisen ermöglichte. Es wurden bewährte Skalen mit guten
Gütekriterien, Eigenkonstruktionen, die sich bei den früheren Erhebungswellen
5 Jeweils in Klammern sind jene Jugendliche, welche keiner Person der Erhebungswelle 2002
zugeordnet werden konnten.
6 Bei zwei Personen konnte die Kohorte nicht rekonstruiert werden.
7 Untersucht wurden extrinsische und intrinsische Motivation, Leistungserwartungen der Eltern,
Schulinteresse der Eltern.
8 Untersucht wurden extrinsische und intrinsische Motivation, Schicht, Elternbeziehung, Selbst-
wert.
92 4 Methode
als reliabel erwiesen hatten, und neu konstruierte Items verwendet. Nach Mög-
lichkeit wurden die gleichen Items wie bei den früheren Erhebungswellen einge-
setzt, um die Vergleichbarkeit im Längsschnitt zu gewährleisten.
Im FASE B-Projekt wurden zudem Leistungstests in Mathematik und
Deutsch eingesetzt, da diese Fächer in den Übertrittsverfahren in die
Sekundarstufe I und II eine zentrale Rolle spielten. Die Leistungstests wurden
für die beiden ersten Erhebungswellen 2002 und 2006 für beide Kohorten
entwickelt. Gesamthaft wurden somit vier verschiedene Leistungstests in
Deutsch und vier Leistungstests in Mathematik konstruiert. Die Konstruktion der
Leistungstests im Jahre 2002 orientierte sich für beide Kohorten an den
jeweiligen Lehrplänen des vorangegangenen Schuljahres. Die Struktur der Auf-
gaben bei der Erhebungswelle 2002 war für die zwei Kohorten ähnlich, sodass
die Ergebnisse vergleichbar waren. Doch wurden die Aufgaben an das jeweilige
Alter angepasst. Die im Jahr 2006 verwendeten Leistungstests für das neunte und
elfte Schuljahr sollten mit denjenigen aus dem Jahr 2002 vergleichbar sein. Die
Aufgabenauswahl orientierte sich wegen der Vergrößerung der Stichprobe im
Jahre 2006 an den Lehrplänen der Kantone Bern, Zürich und Aargau. Weil sich
die Jugendlichen im elften Schuljahr in einer Mittelschule oder einer Berufslehre
befanden und daher nicht von einem einheitlichen mathematischen Kenntnis-
stand ausgegangen werden konnte, wurden die mathematischen Kompetenzen
gemäß dem Lehrplan des neunten Schuljahres getestet. Die Aufgaben wurden
von einem Fachdidaktiker/einer Fachdidaktikerin entwickelt, mit Fachexperten
diskutiert, in Pretests erprobt und allenfalls überarbeitet (vgl. Neuenschwander et
al., 2003d, 2003e, 2007c; 2007d). In der Tabelle 4.3 sind die Inhalte der
Leistungstests dargestellt.
Weiter wurden bei der Erhebungswelle 2002 halbstrukturierte Interviews
durchgeführt. Für die Interviewstudie wurden sechs sogenannte „Tripletten“
gebildet. Dabei handelte es sich um Gruppen von drei Personen aus dem Kanton
Bern, bestehend aus einer Lehrperson, einem Elternteil und ihrem Kind, die im
vorangegangenen Schuljahr häufig Kontakt gepflegt hatten, also bereits eine
Zusammenarbeit stattgefunden hatte. Bei der Auswahl wurde auf eine möglichst
gleichmäßige Verteilung bezüglich des Geschlechts und der Schulstufe geachtet.
Insgesamt wurden 18 Interviews mit je sechs Lehrpersonen, Elternteilen und
Schülerinnen und Schülern geführt. Der Interviewleitfaden gliederte sich in zwei
Hauptteile: (a) Die Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrpersonen
sollten den Verlauf ihrer Zusammenarbeit schildern, aus welchem Anlass es zu
einer Zusammenarbeit gekommen war, wie das Problem behandelt wurde und
welche Konsequenzen daraus resultierten. (b) Die Lehrpersonen und die Eltern
äußerten sich weiter zur Form der Zusammenarbeit, die zwischen ihnen, aber
auch zwischen Schule und Elternhaus allgemein gepflegt wurde. Zudem wurde
4.3 Instrumente 93
festgehalten, welchen Nutzen sie sich von der Form der Zusammenarbeit ver-
sprachen.
Bei der Erhebungswelle 2007 wurden drei ausgewählte Aufgabengruppen
aus dem Intelligenztest I-S-T 2000R von Amthauer, Brocke, Liepmann und
Beauducel (2001) vorgelegt. Die Aufgabengruppen waren Gemeinsamkeiten,
Zahlenreihen und Würfelaufgaben. Nach Amthauer et al. (2001) erfassen die drei
Subtests die fluide Intelligenz. 9 In der Tabelle 4.3 sind die Inhalte der Subtests
dargestellt.
Die Messinstrumente der Leistungstests sowie die Fragebogen sind
ausführlich in separaten Dokumentationsbänden beschrieben (Neuenschwander
et al., 2003a, 2003b, 2003c, 2003d, 2003e; Neuenschwander et al., 2007a, 2007b,
2007c, 2007d, 2007e; Neuenschwander & Frank, 2009). Diese geben auch
Auskunft über die Herkunft der Items, Gütekriterien und Ergebnisse der
verwendeten Items, Skalen und Aufgaben. Detaillierte Angaben zu den
halbstrukturierten Interviews sind in Neuenschwander et al. (2004) zu finden.
Alle verwendeten Instrumente sind in der Tabelle 4.3 nach Erhebungswellen und
Fragebogeninhalten zusammengefasst präsentiert.
Fragebogenteile Inhalte
Schülerfragebogen Demografische Angaben zur Schul- und Familien-
situation, personale und soziale Ressourcen, El-
tern-Lehrpersonen-Zusammenarbeit
Elternfragebogen Demografische Angaben zur Familiensituation,
Eltern-Lehrpersonen-Zusammenarbeit, Schule und
Erhebung 2002
Klassenlehrperson, Erziehungswerte
Lehrerfragebogen Berufs- und soziodemografische Angaben, Unter-
richt und Klassenführung, Schulleitung, Kollegi-
um, Zusammenarbeit mit Eltern, Unterrichtswerte
Leistungstest Hörverständnis, Schreiben, Leseverstehen, gram-
Deutsch matische Korrektheit, Ausdrucksfähigkeit
Leistungstest Vorstellungsvermögen im Umgang mit Zahlen,
Mathematik Kenntnisse und Fertigkeiten,
Mathematisierfähigkeit, Problemlöseverhalten
4.4 Datenauswertung
10 Vergleichbar mit der Sekundarstufe I, circa siebte bis neunte Klasse in der Schweiz
Der Übertritt in die Sekundarstufe I und die Veränderung der schulischen Umge-
bung interagiert mit wichtigen Entwicklungsprozessen in anderen Lebensberei-
chen der Jugendlichen (vgl. Eccles et al., 1993), welche hier als individuelle
Entwicklungsvoraussetzungen der Selektion kurz dargestellt werden. Der Schul-
übertritt in die Sekundarstufe I findet im Alter von elf bis 14 Jahren statt. In
dieser Altersphase sind die Jugendlichen mit biologisch bedingten (Pubertät),
kognitiven (Entwicklung der formalen Operationen) und sozialen (Geschlechter-
rolle, Elternbeziehung) Veränderungen und Anforderungen konfrontiert. Das
Bildungssystem soll eine Lernumwelt bieten, welche die Schülerinnen und Schü-
ler, abgestimmt auf ihr jeweiliges Entwicklungsniveau, optimal fördert (Eccles,
100 5 Übergang in die Sekundarstufe I
2004). Denn nach Eccles et al. (1993; Eccles, 2004) führt eine Passung des Ent-
wicklungsstandes der Jugendlichen mit ihrer schulischen Umgebung (stage-
environment-fit) zu höherer Motivation und zu Lernerfolg.
In der Sekundarstufe I wird von den Jugendlichen vermehrt die Fähigkeit
zum abstrakten Denken und logischen Schlussfolgern erwartet. Studien belegen,
dass gerade in der Adoleszenz die Fähigkeit zu abstraktem Denken zunimmt
(vgl. Keating & Clark, 1980; Petersen, 1983). Piaget (1948) zufolge verläuft die
kognitive Entwicklung über unterscheidbare Stufen. Die formalen Denkope-
rationen, die als letzte Stufe gelten, entwickeln die Jugendlichen mit etwa zehn
oder elf Jahren. Dieser Entwicklungsprozess kann auch verspätet oder gar nie
eintreten. Dieses formale Denken wird in der Sekundarstufe I verlangt, aber nicht
von allen Jugendlichen in gleichem Masse beherrscht. Die Schulleistung hängt
nicht nur von der Qualität der kognitiven Prozesse ab, sondern auch von der
Verfügbarkeit von (Allgemein-)Wissen, welches in der Adoleszenz kontinuier-
lich zunimmt. Zudem erweitert sich in dieser Phase die Kapazität des Arbeits-
gedächtnisses. Jugendliche beginnen ihre Welt kognitiv zu erkunden, indem sie
sich für ihre Umwelt in sozialer und sachlicher Hinsicht interessieren (Flammer
& Alsaker, 2002). Daraus folgt, dass je nach dem Stand der kognitiven
Entwicklung ein Übertritt in die Sekundarstufe I begünstigt oder erschwert wird.
Ein Schulwechsel bietet neue Anregung durch neue Mitschülerinnen und
Mitschüler, Lehrpersonen, Themen und Arbeitsformen, ist aber auch mit neue
Belastungen und Herausforderungen verbunden. Nach Havighurst (1972) ist der
Aufbau sozialer Beziehungen zu Gleichaltrigen eine wichtige Entwicklungs-
aufgabe der Jugendlichen (vgl. Berndt, Hawkins & Jiao, 1999). Gerade in der
Adoleszenz bekommen die Gleichaltrigenbeziehungen neue Inhalte und
Funktionen, sie werden differenziert (vgl. Flammer & Alsaker, 2002). Der
Übertritt in die Sekundarstufe I bringt nicht nur höhere kognitive Anforderungen
mit sich. Die Schule ist nach dem Übertritt häufig grösser, bringt mehr
Anonymität mit sich und der Freundeskreis wird neu zusammengesetzt.
Allerdings suchen Jugendliche in diesem Alter soziale Nähe und nicht eine
anonyme Schulumgebung (Brown, 1990; Eccles, Lord, Roeser, Barber &
Hernandez Jozefowicz, 1994). Daher sind beim Übergang in eine neue
Schulumgebung soziale Kompetenzen besonders wichtig. Jugendlichen mit
hohen sozialen Kompetenzen fällt es leichter, neue Freundschaften in der neuen
Schulstufe zu schließen (French & Underwood, 1996; Asher, Parker & Walker,
1996). Die sozialen Kompetenzen hängen aber auch vom Stand der kognitiven
Entwicklung ab: Die kognitive Entwicklung in der Adoleszenz fördert nicht nur
die schulischen Leistungen, sondern bildet auch die Grundlage für die
Selbstreflexion und die Perspektivenübernahme. Die Perspektivenübernahme ist
für den Aufbau positiver Peerbeziehungen wichtig (Flammer & Alsaker, 2002).
5.1 Entwicklungsvoraussetzungen bei Jugendlichen 101
Für einen erfolgreichen Übergang in die Sekundarstufe I spielt somit auch der
Entwicklungsstand sozialer Kompetenzen eine wichtige Rolle.
Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Altersphase stellt die Pubertätsent-
wicklung dar. Der Körper verändert sich, ein neues Körperkonzept muss
erarbeitet werden. Bei Mädchen vollzieht sich dieser Entwicklungsschub in der
Regel zwei Jahre früher als bei Jungen, wobei es große interindividuelle Varianz
im Timing gibt. Bei der körperlichen Entwicklung ist der Unterschied zwischen
früh und spät reifenden Jugendlichen zu beachten. So zeigte sich, dass frühreife
Mädchen und Jungen anfälliger für Problemverhalten in der Schule sind (Stattin
& Magnusson, 1990; Petersen & Crockett, 1985). Dabei interagieren diese
biologischen Veränderungen mit der kognitiven und der sozialen Entwicklung
(Kumulation) und zeigen je nach Konstellation unterschiedliche Auswirkungen
(Flammer & Alsaker, 2002). Je nachdem, wie das individuelle Timing der
Pubertätsentwicklung mit dem Zeitpunkt der Selektion zusammenfällt, können
Jugendliche benachteiligt oder aber bevorzugt werden. Dies kann eine
zusätzliche Herausforderung für Jugendliche sein, wenn mit dem Eintritt in die
Sekundarstufe I neue und höhere schulische und kognitive Anforderungen an die
Jugendlichen gestellt werden (vgl. Eccles, Lord & Buchanan, 1996). Simmons
und Blyth (1987) zufolge verursacht das Zusammentreffen von mehreren
Entwicklungsaufgaben mit dem Schulwechsel bei den Jugendlichen in der
Pubertät Stress.
Im Alter von elf bis 14 Jahren, in der Zeit des Übertritts in die Sekundar-
stufe I, sind die Jugendlichen mit vielen entwicklungsbedingten Veränderungen
konfrontiert. Die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten und die körperliche
und soziale Entwicklung erfolgt in individuell unterschiedlichem Tempo. Im
schweizerischen Schulsystem erfolgt die Selektion beim Übergang in die
Sekundarstufe I in den Kantonen in verschiedenen Alterszeitpunkten. Dadurch
sind die Jugendlichen, die den Selektionsprozess durchlaufen, je nach Kanton
unterschiedlichen Alters und weisen verschiedene kognitive, biologische und
soziale Entwicklungsstände auf. Befunde von Studien belegen, dass gerade frühe
Übergänge in weiterführende Schulen ungünstig für das Selbstbild und das
Bewältigungsverhalten von Jugendlichen sind (zum Beispiel Crockett, Petersen,
Graber, Schulenberg & Ebata, 1989). Damit stellt sich die Frage, in welchem
Alter die Selektion stattfinden soll, um Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung
je nach Zeitpunkt des Übertrittsverfahrens zu verhindern und eine optimale
Passung der Bedürfnisse der Jugendlichen und der Ausbildung zu erreichen.
Im nächsten Abschnitt werden die institutionellen Grundlagen des
Übertrittsentscheids verschiedener Kantone aufgezeigt. Zudem werden die Bil-
dungsbeteiligung und mögliche Gründe für die Ungleichheiten im schweize-
rischen Bildungssystem dargestellt.
102 5 Übergang in die Sekundarstufe I
Das besuchte Bildungsniveau in der Sekundarstufe I hat für die berufliche Zu-
kunft der Jugendlichen, insbesondere für Erfolg und Misserfolg bei der Lehrstel-
lensuche, eine große Bedeutung (Haeberlin, Imdorf & Kronig, 2004). Die Bil-
dungsforschung hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Zugang zu den
verschiedenen Schulformen nicht allen Jugendlichen gleichermaßen offen steht
(zum Beispiel Maaz et al., 2006; Baumert & Schümer, 2001a). Nach wie vor
bestehen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung in Abhängigkeit von der sozia-
len Herkunft, weshalb der Begriff Chancengleichheit im Bildungssystem zu
einem öffentlich diskutierten Thema geworden ist (Kapitel 2.3). Die Sekundar-
stufe I ist in Niveaus mit unterschiedlichen Leistungsansprüchen gegliedert.
Dadurch muss beim Übertritt von der Primarschule in die Sekundarstufe I eine
Zuweisung zu einem der Niveaus erfolgen, was eine Selektion voraussetzt. Die
Selektion erfolgt auf der Basis unterschiedlicher Faktoren wie Schülerkompeten-
zen, Elternwünschen, Werten von Jugendlichen (Eccles et al., 1998), sozialen
Prozessen im Unterricht (Neuenschwander & Malti, 2009) sowie auf der Grund-
lage askriptiven Merkmale wie Geschlecht, soziale Herkunft und Migrationshin-
tergrund (Kronig, 2007; Ditton & Krüsken, 2006). Wie in diesem Kapitel darge-
legt werden wird, ist der Übertrittsentscheid neben den Schulleistungen der
Schülerinnen und Schüler zu einem beachtlichen Teil durch soziale Kriterien
gesteuert. Dies führt zu sozialen Bildungsungleichheiten, wie sie seit vielen Jah-
ren zu beobachten sind (Ditton et al., 2005, Kronig, 2007, Baeriswyl et al.,
2006). Der Selektionsprozess ist an institutionelle Vorgaben gebunden. Diese
variieren im schweizerischen Bildungssystem zwischen den Kantonen, was zu
kantonal unterschiedlichen Verfahren und Kriterien führt, welche sich auf den
Selektionsentscheid auswirken. Im Folgenden sollen die institutionellen Vorga-
ben für den Selektionsentscheid in verschiedenen Kantonen dargestellt und deren
Folgen anhand der Bildungsbeteiligung in den unterschiedlichen Schulniveaus
der Sekundarstufe I aufgezeigt werden.
5.2 Institutionelle Grundlagen und Folgen der Selektion 103
Als Grundlagen für die Darstellung der kantonalen Selektionskriterien dienen die
Übertritts- und Rekursverfahren von der Primarstufe (Grundschule) in die Se-
kundarstufe I der Kantonsumfrage 2007/2008 (Messerli, 2007; vgl. auch EDK,
Informationszentrum IDES, 2009). Die Daten basieren auf dem achten Schul-
jahr, da in dieser Jahrgangsstufe die Schülerinnen und Schüler aller Kantone die
Selektion durchlaufen haben. In die Untersuchung werden zwölf Kantone einbe-
zogen: Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Glarus, Graubünden,
Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, St. Gallen, Zürich und Zug. Es werden nur
deutschsprachige Kantone mit vergleichbaren Schulmodellen untersucht. Schul-
modelle mit integrierten Bildungsniveaus werden für den Schulformvergleich
nicht beigezogen, da keine Bildungsniveaus mit Grundansprüchen und erweiter-
ten Ansprüchen in vergleichbarer Art vorliegen. Diese Kantone werden daher
aus methodischen Gründen in dieser Zusammenstellung weggelassen. Außerdem
soll die Zusammenstellung übersichtlich bleiben. Die in die Untersuchung einge-
schlossenen Kantone haben sehr unterschiedliche Bildungsstrukturen in der Se-
kundarstufe I und verwenden unterschiedliche Bezeichnungen für die einzelnen
Bildungsniveaus. Zur Erklärung der in die Untersuchung einbezogenen Bil-
dungsniveaus sollen die Schulformen kurz eingeführt werden: (a) Das Unter-
oder Progymnasium gestattet Jugendlichen den prüfungsfreien Übertritt in das
Gymnasium. (b) Die Bezirksschule oder spezielle Sekundarschule (hohe Ansprü-
che) bereitet Schülerinnen und Schüler auf den Übertritt in das Gymnasium, in
Fachmittelschulen oder in eine anspruchsvolle Berufslehre vor. (c) In der Sekun-
darschule (erweiterte Ansprüche) werden die Jugendlichen auf eine anspruchs-
volle Berufslehre oder auf Fachmittelschulen vorbereitet. (d) Die Oberschule,
Realschule, Sek C (Schulen mit Grundansprüchen) bereiten die Jugendlichen auf
einfache Berufslehren vor.
Die Schulen auf den unterschiedlichen Bildungsniveaus streben somit
verschiedene Ziele und Anschlusslösungen an und eröffnen unterschiedliche
Entwicklungschancen. In den meisten Kantonen dauert die Primarstufe sechs
Jahre und die Sekundarstufe I drei Jahre (siebtes bis neuntes Schuljahr, vgl.
Tabelle 5.1). In manchen Kantonen beginnt die Sekundarstufe I früher und
dauert vier Jahre (zum Beispiel Kanton Aargau und Basel-Landschaft). Eine
Ausnahme bildet der Kanton Basel-Stadt, in welchem die Zuweisung in ein
höheres Schulniveau erst nach dem 7. Schuljahres stattfindet und die
Jugendlichen in die sogenannte Weiterbildungsschule (Sekundarstufe I mit zwei
Bildungsniveaus: A- und E-Zug) oder in das Gymnasium übertreten.
104 5 Übergang in die Sekundarstufe I
und Schüler. Neben den Fachnoten können die Übertrittsverfahren auch fach-
übergreifende Kompetenzbewertungen enthalten wie Selbstständigkeit, Problem-
lösefähigkeit, Auffassungsgabe oder Entwicklungspotenzial. In der Praxis wird
der sogenannte Gesamteindruck berücksichtigt. In der Regel werden diese fach-
übergreifenden Kompetenzen nicht mit standardisierten Verfahren erfasst, was
den Lehrpersonen und den Erziehungsberechtigten einen Ermessensspielraum
verschafft. In den meisten Kantonen schlagen die Lehrpersonen ein Bildungsni-
veau vor und sprechen sich mit den Eltern ab. In einigen Kantonen werden zur
Standortbestimmung der Leistungen und Fähigkeiten sogenannte Orientierungs-
arbeiten durchgeführt. Diese sollen den Lehrpersonen als Entscheidungshilfe,
Standortbestimmung und zur Überprüfung der Fähigkeiten der Schülerinnen und
Schüler ihrer Klasse im Vergleich zu den Jugendlichen anderer Klassen dienen.
Die Eltern haben ein Rekursrecht und im Konfliktfall sind in den meisten Kanto-
nen die Schulaufsichtsbehörden (Schulkommission, Schulpflege, Schulinspek-
torat) für den endgültigen Übertrittsentscheid zuständig. In manchen Kantonen
werden zudem auf Wunsch der Eltern bei Uneinigkeit hinsichtlich des Zuwei-
sungsentscheids oder bei Schülerinnen und Schüler, welche keine Empfehlung
durch die Lehrkraft für den Übertritt in die Sekundarstufe I erhalten,
Übertrittsprüfungen durchgeführt. (vgl. Kantonsumfrage 2007/2008; Informati-
onszentrum IDES, 2009).
Die Kriterien für den Übertrittsentscheid in den verschiedenen Kantonen
sind in der Tabelle 5.1 dargestellt. Nicht alle Kriterien können an dieser Stelle
ausführlich beschrieben werden. Lediglich der Übertrittszeitpunkt, die
involvierten Instanzen und die offiziellen Kriterien werden dargestellt. Die
Tabelle 5.1 illustriert die Vielfalt der Übertrittsverfahren und Bildungsstrukturen.
Gegenwärtig fehlt ein Konsens darüber, wie die Sekundarstufe I organisiert und
das Selektionsverfahren gestaltet werden soll. Meinungsverschiedenheiten gibt
es hinsichtlich der Zahl der Schulniveaus, des Zeitpunkts der Selektion, der
Durchlässigkeit (segregiert, integriert), der Übertrittsquoten in die einzelnen
Schulniveaus, der Rekurs- und Selektionsverfahren (Zensur, Leistungstests,
Lehrpersonenempfehlungen, Elternempfehlungen, Aufnahmeprüfungen, Verhal-
tensratings) sowie der Selektionskriterien (fachliche versus überfachliche Kom-
petenzen). Entsprechend werden die Bildungsstrukturen und Übertrittsverfahren
in verschiedenen Kantonen reorganisiert.
Wie verteilen sich die Schülerinnen und Schüler auf die kantonalen Schulniveaus
der Sekundarstufe I? Wie verhält sich die Bildungsbeteiligung nach Geschlecht
5.2 Institutionelle Grundlagen und Folgen der Selektion 107
und Nationalität? Die Tabelle 5.2 enthält die Quoten für die achte Klasse im
Schuljahr 2007/2008 gemäß eigenen Berechnungen auf der Basis von Daten des
Bundesamtes für Statistik. In der ersten Zeile wird je Kanton das Schulniveau
mit den tiefsten Ansprüchen, in der untersten Zeile das Schulniveau mit den
höchsten Ansprüchen aufgelistet. Jugendliche in Privat- und Sonderschulen wer-
den nicht berücksichtigt. Es ist festzuhalten, dass die kantonalen Selektionskrite-
rien (vgl. Tabelle 5.1) in die Sekundarstufe I die Grundlage für die Zuweisung
bilden. Die Populationsdaten in der Tabelle 5.2 und die Übertrittskriterien in der
Tabelle 5.1 lassen einige Trends erkennen.
In der Tabelle 5.2 zeigen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Bildungs-
beteiligung zwischen den einzelnen Kantonen. Die abweichenden Bildungsquo-
ten lassen auf unterschiedliche Ansprüche der Bildungsniveaus schließen. Wäh-
rend der Anteil der Oberschülerinnen und -schüler im Kanton Solothurn
15.8 Prozent beträgt, liegt der Anteil der Realschülerinnen und -schüler im Kan-
5.2 Institutionelle Grundlagen und Folgen der Selektion 109
ton Bern immerhin bei 38.6 Prozent. In der Zürcher Sek C ist der Anteil der
Lernenden mit 5.5 Prozent im Vergleich zu den beiden anderen zwei Schulni-
veaus sehr niedrig. Das Leistungsniveau im Sek C-Niveau gleicht sich demjeni-
gen der Sonderschulung an. In den Kantonen Basel-Landschaft, Zürich, Bern,
Glarus, Graubünden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz und Zug besucht die
vergleichsweise größte Gruppe das mittlere Niveau der Sekundarschule (40
bis 62 Prozent je Jahrgang). In anspruchsvollen Bildungsniveaus wie dem Unter-
gymnasium sind die Quoten verhältnismäßig niedrig (zwei bis 20 Prozent), weil
die Schweiz im Gegensatz zu Deutschland keine Bildungsexpansion erlebt hat.
Die unterschiedlichen Quoten in den Unter-/Progymnasien bzw. Bezirksschulen
hängen mit kantonalen Bildungsstrategien zusammen. Außerdem treten die Ju-
gendlichen in vielen Kantonen erst nach dem achten oder neunten Schuljahr ins
Gymnasium über. Die Kantone Basel-Stadt, Aargau und Basel-Landschaft wei-
sen eine hohe Bildungsbeteiligung im anspruchsvollsten Niveau (Gymnasium,
Sek Progymnasial, Bezirksschule) auf (Basel-Stadt: 38.4 Prozent, Aargau:
37.4 Prozent, Basel-Landschaft: 31.8 Prozent). Allerdings korrespondiert dies
nicht mit einer besonders hohen Maturitätsquote in diesen Kantonen, weil das
Gymnasium entweder eine hohe Abbruchquote (Basel-Stadt) besitzt oder der
Eintritt in das Gymnasium nach der Sekundarstufe I eine weitere hohe Hürde
darstellt (vgl. Bundesamt für Statistik11, Maturitätsquoten im Jahr 2009 im Kan-
ton Basel-Stadt betrug 22.5 Prozent, Kanton Basel-Landschaft: 19.5 Prozent,
Kanton Aargau: 13.6 Prozent). Der Übertritt in das Gymnasium in Basel-Stadt,
in die Bezirksschule in Aargau und die Sek Progymnasial in Basel-Landschaft
basiert auf den Empfehlungen aufgrund der Leistungen (Noten); eine Prüfung
muss nur bei Uneinigkeit zwischen Eltern und Lehrpersonen abgelegt werden. In
anderen Kantonen wird für den Übertritt in das Untergymnasium eine Aufnah-
meprüfung verlangt (zum Beispiel St. Gallen, Zürich, Glarus). Die hohe Bil-
dungsbeteiligung in den anspruchsvollen Bildungsniveaus in Basel-Stadt, Aar-
gau und Basel-Landschaft hängt vermutlich mit einem weniger anforderungsrei-
chen Übertrittsverfahren auf der Basis der Noten der abgebenden Schulen zu-
sammen.
5.2.2.1 Geschlecht
Zu Beginn der 1960er-Jahre galten vor allem die Mädchen als das in der Bildung
benachteiligte Geschlecht. In der Sekundarstufe herrschte eine wesentliche ge-
schlechtsspezifische Benachteiligung von Mädchen (Bellenberg, 1999). Bereits
11 http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/15/06/dos/blank/05/01.html,
retrieved 23.5.2011
110 5 Übergang in die Sekundarstufe I
in den 1970er-Jahren konnte jedoch Häfeli (1979) zeigen, dass in der Schweiz
bei vergleichbarer nationaler und sozialer Herkunft sowie vergleichbarer schuli-
scher Leistung Mädchen öfter für ein höheres Schulniveau in der Sekundarstufe I
empfohlen wurden als Jungen. Gemäß dem Bundesamt für Statistik (2007) hat
sich seit 1980 die Geschlechterdifferenz noch ein wenig zugunsten der Mädchen
verschoben. Rund ein Drittel der Jungen besucht einen Bildungsgang mit Grund-
ansprüchen; bei den Mädchen ist es nur rund ein Viertel (vgl. Haeberlin et al.,
2004). Dies mag daran liegen, dass Schülerinnen in diesem Alter kooperativer
und motivierter sind und bessere Leistungen erbringen als Schüler (Neuen-
schwander et al., 2005).
Tabelle 5.2 zeigt den Anteil der Jungen pro Kanton und Bildungsniveau.
Tendenziell ist der Anteil der Jungen in anspruchsvollen Bildungsniveaus
niedriger als der Anteil der Mädchen. Eine Ausnahme bildet der Kanton Basel-
Stadt, in dem der Anteil der Jungen im Gymnasium über 50 Prozent liegt. Die
Selektion in ein bestimmtes Bildungsniveau erfolgt in diesem Kanton auf der
Grundlage eines Punktesystems erst nach dem 7. Schuljahr. Der Kanton St.
Gallen bildet eine weitere Ausnahme. Der Jungenanteil ist im Vergleich zu dem
der anderen Kantone mit 55.1 Prozent im Untergymnasium am höchsten. Im
Kanton St. Gallen muss eine Prüfung abgelegt werden und die Empfehlung für
ein bestimmtes Schulniveau basiert auf den fachlichen Noten. Die Grundlagen
für den Übertritt bilden somit die fachlichen Leistungen. Betrachtet man bei den
einzelnen Bildungsniveaus die Abweichung des Jungenanteils vom kantonalen
Durchschnitt (erste Zeile je Kanton in Tabelle 5.2), erkennt man eine Streuung,
welche von Kanton zu Kanton unterschiedlich groß ist. Diese Streuung ist ein
Maß für die Bildungsungleichheit. Während in den Kantonen Solothurn,
Schaffhausen, Zug und Basel-Landschaft die Geschlechterstreuung eher gering
ausfällt, zeigt sich in den Kantonen Bern, Zürich, Glarus und Schwyz eine
erhebliche Streuung.
So spielen in den Kantonen Bern (43.2 Prozent Spezielle Sekundarschule),
Zürich (46.1 Prozent Langgymnasium), Glarus (36.7 Prozent Untergymnasium)
und Schwyz (45.8 Prozent Untergymnasium) überfachliche Kompetenzen und
das Arbeits- und Lernverhalten beim Übertritt in ein höheres Bildungsniveau
eine große Rolle. Befunde zeigen, dass Schüler häufiger den Unterricht stören
und weniger konzentriert arbeiten als Schülerinnen, was ihre Übertrittschancen
beeinträchtigt (Neuenschwander & Malti, 2009). Daraus lässt sich die Annahme
ableiten, dass die Jungen von einem Übertrittsverfahren profitieren, wenn die
Leistungen ein hohes Gewicht erhalten, obwohl die durchschnittlichen
Leistungen von Schülerinnen in vielen Fächern eher besser als die der Schüler
sind. Gesamthaft betrachtet zeigen die Quoten der Bildungsbeteiligung, dass das
5.2 Institutionelle Grundlagen und Folgen der Selektion 111
Unter- bzw. Langgymnasium ein eher seltener Bildungsweg ist, von dem vor
allem Mädchen profitieren.
5.2.2.2 Nationalität
5.2.3 Fazit
Der Übertritt in die Sekundarstufe I wird nicht nur durch institutionelle Anforde-
rungen und Kriterien (vgl. Kapitel 5.2) gesteuert, sondern auch durch individuel-
le Fähigkeiten und Ressourcen der Jugendlichen, die gestellten Anforderungen
und die damit verbundenen, erhöhten Leistungsansprüche zu erfüllen. Dabei
müssen unterschiedliche kognitive, affektive und soziale Fähigkeiten der Jugend-
lichen berücksichtigt werden (Ditton & Krüsken, 2006). Die Lernenden tragen
mit ihren Dispositionen und ihrem Verhalten zu Schulleistungsunterschieden bei
(Helmke & Weinert, 1997). Es gibt große intra- und interindividuelle Unter-
schiede in der kognitiven Entwicklung (Goodlad & Anderson, 1963), was zu
unterschiedlichen Schulleistungen führt. Kognitive Fähigkeiten treten jedoch
nicht isoliert auf. Weitere wichtige Einflüsse auf das aufgabenbezogene Verhal-
ten und das Leistungsniveau der Jugendlichen stellen ihre Lernabsichten, Lern-
einstellungen sowie von ihrer Aufmerksamkeit, Konzentration, Anstrengung,
Ausdauer, Handlungsstrategie und Selbstkontrolle dar. Dabei besteht zwischen
den Schulleistungen und den verschiedenen, individuellen Determinanten dieser
Leistungen eine Wechselwirkung: So werden kognitive Fähigkeiten durch das
schulische Lernen beeinflusst (Helmke & Weinert, 1997). Allerdings hängen die
Übertrittsentscheide nicht nur von Noten und Schülerleistungen ab, sondern auch
von sozialen Merkmalen (vgl. Kapitel 5.2). Schulbezogenes Verhalten, darunter
114 5 Übergang in die Sekundarstufe I
berlin et al. (2004) zeigten die Noten als Prädiktor für die schulische Selektion
einen höheren Erklärungsanteil (86.9 Prozent) an der Variation der Selektions-
empfehlungen als die Leistungen (68.5 Prozent). Es wird daher vermutet, dass
Noten den Übertrittsentscheid besser vorhersagen als Leistungen, zumal die
Ergebnisse aus Leistungstests Lehrpersonen und Eltern oft gar nicht vorliegen.
Die Schülerinnen und Schüler im FASE B-Projekt gaben zum ersten Mess-
zeitpunkt (2002) für verschiedene Fächer ihre letzten Zeugnisnoten des voran-
gegangenen fünften Schuljahres an. Zudem wurden ein Deutsch- und ein
Mathematiktest durchgeführt, welche sich beide an den Lehrplänen des Kantons
Bern orientierten. Zum zweiten Messzeitpunkt (2006) wurde das Schulniveau
(Realschule, Sekundarschule, Progymnasium) erfasst (vgl. Kapitel 4.3; Neuen-
schwander et al., 2003a, 2003b, 2003d, 2003e, 2007a).
Die Ergebnisse in Tabelle 5.3 zeigen, dass die Noten in Mathematik und
Deutsch des fünften Schuljahres die Schultypzugehörigkeit vorhersagen und
52 Prozent der Varianz erklären. Wenn die Ergebnisse der Leistungstests im
zweiten Schritt einbezogen werden, verbessert sich die Varianzaufklärung nur
wenig (56 Prozent). Die Noten weisen also eine höhere Vorhersagekraft als die
Leistungen auf.
Status der Familie wurde auf der Basis der Berufsangaben der Eltern ermittelt,
denen ein ISEI-Wert zugeordnet wurde (vgl. Neuenschwander et al., 2003b).
In einem dritten Schritt wurden familiäre Variablen in die Analyse
einbezogen. Der sozioökonomische Status wurde im Vergleich zu den Bildungs-
erwartungen der Eltern nicht signifikant und bestätigte die Mediation. Die Vari-
anzaufklärung stieg auf 61.7 Prozent. Wenn die Testleistungen nicht in der
Analyse berücksichtigt werden, zeigte sich, dass der Einfluss der Deutsch- und
Mathematiknoten und der der Elternerwartungen vergleichbar hoch ist (vgl.
Tabelle 5.3).
5.3.3 Verhaltensprobleme
Die Übertrittsentscheidungen hängen nicht nur von den Noten und Schülerleis-
tungen ab, sondern auch von sozialen Selektionsprozessen. Aufseiten des Indivi-
duums kann das Sozialverhalten bzw. können Verhaltensprobleme von Jugendli-
chen im Unterricht die Bildungsentscheidung beeinflussen. Verhaltensprobleme
im Unterricht beeinträchtigen nicht nur die Leistungsbeurteilung durch die Lehr-
person (Neuenschwander et al., 2005). Verhaltensauffällige Schülerinnen und
Schüler wechseln auch mit kleinerer Wahrscheinlichkeit in ein höheres Schulni-
veau (Houghton, Wheldall & Merrett, 1988). Verhaltensprobleme wirken sich im
Unterricht deutlich erschwerend auf den Unterrichtsablauf aus und belasten die
Lehrpersonen (Neuenschwander, 2005). Damit kann eine negative Erwartungs-
haltung der Lehrperson gegenüber den entsprechenden Schülerinnen und Schü-
lern entstehen, dies wiederum kann die Übertrittsentscheidung beeinträchtigen
(Van Lier & Crijnen, 2005). Verhaltensprobleme sind ein Ausdruck mangelnder
sozialer Kompetenzen (Malti & Noam, 2009). Wie in Kapitel 5.2.1 erläutert,
wird bei den Übertrittsverfahren auch die Gesamtbeurteilung (Arbeits- und
Lernverhalten, Sozialkompetenz) der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt;
sie fließt in den Selektionsentscheid ein.
Die Verhaltensprobleme im Unterricht wurden mithilfe von neun Items wie
zum Beispiel: „Ich mache mit, wenn wir den Unterricht stören oder die
Lehrpersonen ärgern wollen“ und „Bei Gruppenarbeiten rede ich meistens über
andere Dinge als ich sollte“ erfasst (vgl. Neuenschwander et al., 2003a).
Nach den Elternerwartungen werden in der Analyse das Geschlecht und die
Verhaltensprobleme der Jugendlichen berücksichtigt. Die Resultate in der Ta-
belle 5.3 zeigen eine Varianzaufklärung von 64.8 Prozent, wobei das Geschlecht
keinen signifikanten Einfluss auf den Übertritt zeigt. Nach wie vor bilden die
Noten und die Leistungen in Mathematik und Deutsch erklärungsstarke Prädik-
toren für den Übertritt in ein neues Schulniveau. Dies verdeutlicht die große
5.3 Bedingungen für den Selektionsentscheid 119
Bedeutung der Noten als Übertrittskriterium. Auch unter Ausschluss der Noten
und Leistungen sowie der Elternerwartungen zeigt sich ein signifikanter Effekt
der Verhaltensprobleme, was darauf hinweist, dass dieser Effekt unabhängig von
den Leistungen und den Elternerwartungen zu finden ist.
5.3.4 Falschzuweisungen
5.3.5 Fazit
Die Familie ist einer der wichtigsten Sozialisationskontexte für Schülerinnen und
Schüler (Wurzbacher, 1977; Schauenberg, 2007; Kapitel 2.2 im vorliegenden
Band). Die Kompetenzentwicklung von Lernenden wird nicht nur durch die
Schule beeinflusst, sondern wesentlich auch durch familieninterne Prozesse.
Boudon (1974) prägte den Begriff der primären Disparität oder des primären
Herkunftseffektes (Kapitel 3.3), Heid (1988) den der primären Chancengleich-
heit. Damit rücken die Sozialisationsprozesse in der Familie und ihr Einfluss auf
die Schülerleistungen in den Vordergrund. Im Folgenden werden (a) Struktur-
und (b) Prozessmerkmale der Familie unterschieden.
(a) Wichtige Strukturmerkmale der Familie sind die Zugehörigkeit zu einer
sozialen Schicht, das Bildungsniveau der Eltern, der Migrationshintergrund und
die Familienzusammensetzung. Diese Strukturmerkmale erklären einen wesent-
lichen Anteil des Schulerfolgs. Watermann und Baumert (2006) konnten auf-
zeigen, dass der Einfluss von familiären Strukturmerkmalen, wie des öko-
nomischen Status, des Bildungsniveaus der Eltern und des Migrationsstatus auf
fachliche und überfachliche Kompetenzen durch sogenannte familiäre Prozess-
merkmale vermittelt wird.
(b) Unter familiären Prozessmerkmalen versteht man die kulturelle Praxis in
Form von kulturellen Aktivitäten oder der Summe an Kulturgütern in der
Familie, wie zum Beispiel der Erziehungsstil, die Eltern-Kind-Beziehung, Bil-
dungserwartungen der Eltern, die kognitive Stimulation in der Familie und das
Familienklima. Diese Prozessmerkmale vermitteln überwiegend den Effekt der
Strukturmerkmale auf den Kompetenzerwerb in der Sekundarstufe I. Als
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schulbesuch wurden unter anderem die
Förderung der Unabhängigkeit und Individualität der Jugendlichen sowie das
Interesse der Eltern an den Schulleistungen und an intellektuellen Aktivitäten des
Kindes ermittelt (Helmke, Schrader & Lehneis-Klepper, 1991; Bofinger, 1994).
Im Kapitel 5.3 wurde der Einfluss von Struktur- und Prozessmerkmalen auf
den Selektionsentscheid und den Übergang in die Sekundarstufe I erläutert.
Familiäre Struktur- und Prozessmerkmale beeinflussen jedoch auch die schu-
5.4 Familiäre Bedingungen von Leistungen 123
lischen Leistungen, welche, wie bereits dargestellt, einen großen Stellenwert bei
der Selektion haben (vgl. auch Themenheft, herausgegeben von Hascher & Neu-
enschwander, 2008). Im Folgenden interessiert der Einfluss von intrafamiliären
Prozessen wie der (1) Bildungs- und Leistungsaspirationen (vgl. 5.4.1), (2) des
Erziehungsverhaltens und der (3) kulturellen und intellektuellen Stimulation in
der Familie auf die schulische Leistung:
(1) Für Jugendliche sind Eltern zentrale Bezugspersonen und daher sind
deren Erwartungen und Zuschreibungen in hohem Maß wirksam. Eltern setzen
Leistungsstandards und erheben Ansprüche. Gerade Eltern aus höheren Bil-
dungsschichten wählen ein höheres Bildungsziel für ihre Kinder als Eltern aus
tieferen Schichten. Dies tun sie auch dann, wenn die Empfehlungen der Lehr-
person und die Leistungen des Kindes das angestrebte Bildungsziel nicht
rechtfertigen (Ditton, 1989).
Weiter erklären Eltern Misserfolg und Erfolg ihrer Kinder unterschiedlich.
Sie schreiben den Erfolg ihrer Kinder internal deren Intelligenz oder Anstren-
gung bzw. Misserfolg external den äußeren stabilen und instabilen Begleit-
umständen zu. Die Kinder lassen sie ihr Verständnis von der Ursache des
Schulerfolgs oder -misserfolgs spüren. Dadurch werden Erwartungen und Attri-
butionen von Eltern zu wesentlichen Prädiktoren für kognitive Lernprozesse und
Leistungen der Jugendlichen (Frome & Eccles, 1998; Neuenschwander et al.,
2005).
(2) Das elterliche Erziehungsverhalten spielt für die Grundhaltung des
Kindes, mit der es seine Umgebung erkundet und sich an neue Herausforde-
rungen wagt, eine wichtige Rolle. Untersuchungen zum Erziehungsstil repli-
zieren die Vorteile des autoritativen Erziehungsstils, welcher sich sowohl durch
ein hohes Maß an Zuwendung und emotionaler Wärme als auch durch ein
Grenzensetzen und Kontrolleausüben auszeichnet (Dornbusch et al., 1987;
Schauenberg, 2007). Autoritativ erzogene Kinder sind kompetenter als Gleich-
altrige, weisen einen höheren Selbstwert, bessere Schulleistungen und eine
positivere Einstellung zur Schule auf und können Stress besser bewältigen
(Schwarz & Silbereisen, 1998). Autoritativ erzogene Kinder gehen mit
unvertrauten Situationen selbstbewusst um (Wild, 1999).
Zwischen dem Elternverhalten und den Schulleistungen besteht eine Wech-
selwirkung: Schulische Leistungen können eine Folge des Erziehungsverhaltens
sein. Das elterliche Erziehen kann jedoch auch eine Reaktion auf schulische
Leistungen sein (Schauenberg, 2007). In diesem Zusammenhang bildet das
Elternengagement bei den Hausaufgaben eine weitere wichtige Variable.
Während die Art, Menge und Häufigkeit der Hausaufgaben eher eine geringe
Wirkung für den Schulerfolg zeigen (Trautwein & Köller, 2003), beeinflusst das
Elternengagement bei den Hausaufgaben die Schulleistungen nachweislich.
124 5 Übergang in die Sekundarstufe I
Gerade die Ermutigung der Eltern zur Selbstständigkeit bei den Hausaufgaben
übt einen positiven Einfluss aus (Wild, 1999; Neuenschwander et al., 2005).
(3) Nebst den Erwartungen und Attributionen der Eltern ist auch die
kognitive Stimulation bedeutend (Weinert, 1987). Damit ist eine kulturell aktive
und stimulierende, anregende Familie gemeint. Der Anregungsgehalt des fami-
liären Umfelds hängt mit dem Bildungsstand, dem Haushaltseinkommen und der
Anzahl erwachsener Bezugspersonen in der Familie zusammen (Votruba-Drzal,
2003).
In den Kapiteln 5.2 und 5.3 zeigte sich, dass Schulleistungen nach wie vor
eine entscheidende Rolle für den Selektionsentscheid spielen. Da die Leistungen
eine Voraussetzung für den Selektionsentscheid bilden, werden im Folgenden
Befunde zum Einfluss der Bildungsaspirationen der Eltern der Kinder und der
familiären Lernmilieus auf Leistungen dargestellt.
rige Schullaufbahn vor, weshalb die Aspirationen sowohl der Eltern als auch der
Jugendlichen auf frühere Leistungen gründen.
Diese Annahmen wurden mittels eines Strukturgleichungsmodells über-
prüft. Die Stichprobe bestand aus 191 Schülerinnen und 150 Schülern aus dem
Kanton Bern (vgl. Kapitel 4). Um Bildungsaspirationen der Jugendlichen zu
operationalisieren, stützte man sich auf die höchste Schulform, welche die
Jugendlichen vor Eintritt in die Erwerbstätigkeit voraussichtlich erreichen. Die
Bildungsaspirationen der Eltern wurden wie in Kapitel 5.3.2 beschrieben
erhoben. Für die Erfassung der Leistungen wurden im Jahr 2002 und 2006
Deutsch- und Mathematiktests durchgeführt. Der sozioökonomische Status (SES)
wurde auf der Grundlage der Berufsangaben der wichtigsten Bezugspersonen des
Kindes ermittelt, indem dem Beruf der sogenannte ISEI-Wert zugeordnet wurde
(vgl. Neuenschwander et al., 2003b, 2003d, 2003e; 2007a).
Die Ergebnisse in Abbildung 5.1 illustrieren, dass die Unterschiede in den
Leistungen im neunten Schuljahr im Fach Deutsch zu 63 Prozent aufgeklärt
werden, wobei der stärkste Prädiktor die Leistungen im sechsten Schuljahr sind.
Der direkte Pfad vom SES (sozioökonomischer Status) auf die Leistungen ist
nicht signifikant und wird durch die Bildungsaspirationen der Eltern und der
Schülerinnen und Schüler vermittelt. Das Modell bestätigt zudem die Annahme,
dass sich die Bildungsaspirationen der Eltern und auch die der Schülerinnen und
Schüler auf frühere Deutschleistungen gründen. Als Kontrollvariable wurde das
Geschlecht eingeführt. Die Resultate zeigen, dass Mädchen bessere Deutsch-
leistungen erbringen und Eltern gleich hohe Bildungsaspirationen an die Jugend-
lichen der beiden Geschlechter richten, die Mädchen aber tendenziell geringere
Elternaspirationen wahrnehmen als die Jungen. Die Bildungsaspirationen der
Jugendlichen selbst sind jedoch wieder geschlechtsunabhängig.
Es wurde ein analoges Modell für die Mathematikleistungen gerechnet. Die
Befunde dafür sind ziemlich ähnlich. In diesem Modell wurde jedoch der
Zusammenhang der wahrgenommenen Bildungsaspirationen der Eltern mit dem
Geschlecht nicht signifikant (vgl. Neuenschwander et al., 2007f).
126 5 Übergang in die Sekundarstufe I
Geschlecht
.18 -.11 .61
R2=19%
.17 Wahrgen. BA-E
Leistungstest-D
durch Schüler/-in R2=63%
.15
.30 .53 Leistungstest-D
R2=13% R2=56%
.33
.20
BA-Eltern BA-Schüler/-in
.20
SES
2002 2006
5.4.3 Fazit
5.5 Schlussfolgerungen
Der Selektionsprozess in die Sekundarstufe I ist für den Bildungsverlauf und die
Entwicklung von Jugendlichen sehr bedeutsam. Dabei ist eine Passung des Ent-
wicklungsstandes der Jugendlichen mit ihrer schulischen Umgebung anzustre-
ben. Die Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I erfolgt auf der Grund-
lage kantonal unterschiedlichen Kriterien und institutionellen Vorgaben. Der
Zeitpunkt des Übertritts und die beteiligten Instanzen beim Übertrittsentscheid
variieren zwischen den Kantonen. Zudem werden je nach Kanton verschiedene
Schulmodelle mit entweder drei oder vier Bildungsniveaus geführt. Es fehlt ein
nationaler Konsens darüber, wie die Sekundarstufe I organisiert und das Selekti-
onsverfahren gestaltet werden soll. Der Übertritt in die Sekundarstufe I findet in
einem Alter statt, in dem sich wichtige kognitive, biologische und soziale Ent-
wicklungsprozesse vollziehen. Diese stehen in Konkurrenz miteinander und
finden zur selben Zeit wie der Selektionsprozess statt. Im schweizerischen Bil-
dungssystem durchlaufen die Jugendlichen die Selektionsprozesse in die Sekun-
darstufe I je nach Kanton in einem anderen Alter. Die individuellen Entwick-
lungsvoraussetzungen bringen gleichzeitig Ressourcen und Belastungen für die
Jugendlichen beim Übertrittsverfahren mit sich. Um Ungleichheiten bei der Bil-
dungsbeteiligung je nach Zeitpunkt des Übertrittsverfahrens zu verhindern und
eine optimale Passung der Bedürfnisse der Jugendlichen und ihrer Ausbildung zu
schaffen, bietet sich eine Vereinheitlichung des Übertrittszeitpunktes in die Se-
kundarstufe I an. Dieser sollte möglichst spät angesetzt werden, damit die kogni-
tiven, biologischen und sozialen Entwicklungsprozesse und -voraussetzungen
5.5 Schlussfolgerungem 131
len: 13.7 Prozent). Zusätzlich besteht die Möglichkeit für Erwachsene, die Eid-
genössische Maturitätsprüfung zu absolvieren, nachdem sie sich in der Regel
während mehrerer Jahre in einer Maturitätsschule für Erwachsene darauf vorbe-
reitet haben. Die Fachmittelschule (FMS) wird mit einem Diplom oder der
Fachmaturität abgeschlossen und ermöglicht den Zugang zu höheren Fachschu-
len, unter bestimmten Bedingungen auch zu Fachhochschulen und zu einigen
pädagogischen Hochschulen.
ISCED 5a ISCED 5a
Tertiärstufe
Maturitätsschule für
Berufliche Zweit- Erwachsene
ausbildung
BMS II/Matura
Sekundarstufe II
ISCED 4b
ISCED 4a
Brückenangebote 10. SJ
Neben dem Mittelschulsystem ist in der Schweiz vor allem das Berufsbildungs-
system ausgebaut (vgl. ausführlicher Kapitel 7, sowie Wettstein & Gonon,
2009). Es gibt vollzeitschulische Berufsausbildungen (zum Beispiel Handels-
schule, Informatikmittelschule), die in der Romandie verbreiteter sind als in der
Deutschschweiz. Die meisten der rund 230 Ausbildungsgänge sind aber dual
organisiert, d. h. Lehrbetriebe und Berufsfachschulen teilen sich die Ausbil-
dungsverantwortung. Während die eidgenössische Attestausbildung (EBA) zwei
Jahre dauert und geringe Anforderungen stellt, können die Anforderungen in
drei- bis vierjährigen beruflichen Lehren, an deren Abschluss das eidgenössische
Fähigkeitszeugnis (EFZ) steht, erheblich sein. Nach bestandener Lehrabschluss-
prüfung (Kapitel 8) treten die jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt ein,
138 6 Übergang in die Sekundarstufe II
beginnen eine neue berufliche Grundbildung oder treten in eine Ausbildung auf
Tertiärstufe B ein (Vorbereitung auf höhere Fachprüfungen oder höhere Fach-
schulen).
Bei ausreichenden Leistungen können Berufslernende während (BMS I)
oder nach der Berufslehre (BMS II) die Berufsmaturitätsschule besuchen. Die
bestandene Berufsmaturität ermöglicht den prüfungsfreien Übertritt in Fachhoch-
schulen, aber auch zu Passerellen, die bei einer bestandenen Abschlussprüfung
den prüfungsfreien Zugang zur Universität ermöglichen. Im Jahr 2006 legten
3.5 Prozent aller Personen mit einem Berufsmaturitätstitel die Ergänzungs-
prüfung ab, allerdings nahmen nur 80 Prozent von ihnen ein Studium an einer
universitären Hochschule auf. Dies führt beim Übertritt nach der Berufsmaturität
auf die universitäre Hochschule zu einer Übertrittsquote von 2.8 Prozent
(Gallizzi, 2010). Mit dieser Passerelle wird also Berufslernenden über mehrere
Qualifikationsschritte der Zugang zu Universitäten ermöglicht.
Jugendliche, die nach dem neunten Schuljahr weder zu einer Mittelschule
zugelassen worden sind noch eine Lehrstelle erhalten haben, können als
Zwischenlösung ein Brückenangebot (im Sinne eines freiwilligen zehnten
Schuljahres, vgl. Kapitel 6.1.2) besuchen. Die meisten Jugendlichen treten nach
dieser Zwischenlösung in eine berufliche Grundbildung ein (Neuenschwander &
Bleisch, 2003; Egger & Dreher, 2007).
Hupka (2003) berichtete aufgrund einer für die gesamte Schweiz
repräsentativen Längsschnittstudie (TREE), dass von den Jugendlichen, die im
Jahr 2000 das neunte Schuljahr abgeschlossen haben, 46 Prozent in die
Berufsbildung, 27 Prozent in die Allgemeinbildung (Mittelschulen) übergetreten
sind, 23 Prozent eine Zwischenlösung (Brückenangebot) gewählt haben und
4 Prozent nicht in Ausbildung waren. Im zweiten Jahr nach Ausbildungs-
abschluss befinden sich 64 Prozent in der Berufsbildung, 25 Prozent in der
Allgemeinbildung, 6 Prozent in einer Zwischenlösung und 5 Prozent sind ohne
Ausbildung.
Zwischen der Allgemeinbildung (Gymnasium) und der Berufsausbildung
gibt es formal Durchlässigkeit. Jugendliche mit abgebrochener Mittelschul-
ausbildung können sich um eine Lehrstelle bewerben und einen Lehrabschluss
erreichen. Eigene Analysen von Populationsdaten im Kanton Zürich zeigten
aber, dass nur rund 5 Prozent der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen in die
Berufsbildung wechseln. Der Übergang von der Berufsbildung in das Gymna-
sium ist nicht direkt möglich, nur nach Bestehen einer Aufnahmeprüfung; dieser
Weg wird faktisch kaum begangen. Wie erwähnt, ermöglicht aber die Berufsma-
turität den Zugang zu Fachhochschulen und über die Passerelle den Zugang zur
Universität. Obwohl zwischen der Allgemeinbildung und der Berufsbildung
formal Durchlässigkeit besteht, sind es nur wenige Jugendliche, die zwischen
6.1 Institutionelle Perspektive: Strukturen 139
diesen Bildungsgängen wechseln. Mit dem Entscheid für die Berufsbildung wird
eine praxisbezogene Ausbildung gewählt, die zwar vielfältige berufliche
Karrierechancen bietet, den Zugang zur Universität jedoch nur mit sehr hohem
Aufwand der Jugendlichen und mit einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren
ermöglicht. Insofern kanalisieren die Bildungsentscheidungen vor dem Übergang
in die Sekundarstufe II Jugendliche in einen Weg, der zu bestimmten Ausbil-
dungsabschlüssen und zu bestimmten beruflichen Karrierewegen und haben
daher eine weitreichende Bedeutung für den Lebensweg.
Die kantonalen Gesetze sehen nach neun Schuljahren den Übertritt in die Be-
rufsbildung vor. Allerdings entwickeln sich Jugendliche unterschiedlich schnell.
Es gibt im Hinblick auf die kognitive, körperliche und soziale Entwicklung von
Jugendlichen erhebliche Unterschiede (vgl. Kapitel 5.1). Entsprechend geht auch
der Berufswahlprozess in einem individuellen Tempo vonstatten (Herzog et al.,
2006). Trotz dieser interindividuellen Unterschiede treten alle Jugendlichen zum
gleichen Zeitpunkt, am Ende des neunten Schuljahres, aus der Volksschule aus.
Manche Jugendliche haben bereits zu Beginn des neunten Schuljahres klare
berufliche Vorstellungen und eine Lehrstellenzusage, während andere Jugendli-
che am Ende des 9. Schuljahres weder Berufsentscheidungen gefällt haben noch
eine Anschlusslösung besitzen. Um die Passung zwischen Entwicklungsstand der
Jugendlichen und ihrer Ausbildung (stage - environment - fit nach Eccles et al.,
1993; Kapitel 2.1) zu erhöhen, sind flexible Ausbildungsformen im neunten
Schuljahr (Schulabschlussjahr) bzw. Zwischenlösungen und Brückenangebote
nach dem neuenten Schuljahr wünschbar.
Schulabschlussjahr: Jugendliche im Abschlussjahr der Volksschule befin-
den sich unabhängig von ihrem Schulniveau in unterschiedlichen Ausbildungs-
situationen: (a) Jugendliche mit der Option Gymnasium brauchen allgemein-
bildenden Unterricht, um sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten; (b)
Jugendliche mit der Option Berufslehre brauchen Hilfe im Berufswahl- und
Lehrstellensuchprozess; (c) Jugendliche mit einer verbindlichen Lehrstellen-
zusage sind an Unterrichtsinhalten interessiert, die für ihre zukünftige berufliche
Tätigkeit bedeutsam sind. Die Schwierigkeiten bei der Befriedigung der
Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer großen Heterogenität
dürfte die geringe Lernbereitschaft im Schulabschlussjahr erklären. Eine hohe
innere Differenzierung in der Unterrichtsorganisation ist erforderlich. Oft werden
überdies Betriebspraktika und außerschulische Tätigkeiten vorgeschlagen
(Kapitel 6.5.4). Vermutlich ist für Jugendliche mit der Option Berufsbildung eine
140 6 Übergang in die Sekundarstufe II
Schulische Vorbereitungsangebote,
Vorbereitungsangebote mit einem Bildungsteil und einem externen oder
internen Praktikumsteil (kombinierte Vorbereitungsangebote, Vorlehren,
Werkjahre, Vorkurse),
Sprachaufenthalte in einer anderen Sprachregion der Schweiz oder im Aus-
land sowie
Motivationssemester (finanziert von der Arbeitslosenversicherung)
Tabelle 6.2: Nutzen der Zwischenlösung aus der Sicht von Jugendlichen im
Kanton Zürich: Mittelwerte und Standardabweichungen
Wartejahr, weil zu jung für Wunschausbildung 3.32 (.79)
Verbesserte Chancen auf gute Lehrstelle 3.15 (.81)
Zeit für berufliche Orientierung 3.11 (.82)
Gab Zeit für persönliche Entwicklung 3.10 (.81)
Hat Schul- und Ausbildungszeit unnötig verlängert 3.00 (.88)
Half mir, schulische Lücken zu schließen 2.74 (.89)
Notlösung, da keine Lehrstelle/Ausbildungsplatz gefunden 2.45 (1.09)
Legende: Wertebereich: 1 (stimmt überhaupt nicht) bis 4 (stimmt voll und ganz).
Quelle: Neuenschwander et al., 2010a
6.1.3 Fazit
prozess, den Wissenszuwachs und die Lernintensität, aber auch die Entwicklung
von bildungsbezogenen Einstellungen beeinflussen. Vor allem in Schulniveaus
mit Grundansprüchen wurden mit der Reorganisation der Sekundarstufe I, vor
allem im Schulabschlussjahr, die Anstrengungen verstärkt, Jugendliche auf die
Berufsausbildung vorzubereiten. Sie erhalten eine frühzeitige, individualisierte
Begleitung im Berufswahlprozess. Indem sich die Sekundarstufe I intensiver mit
der Berufsvorbereitung beschäftigt, soll die Bedeutung der Brückenangebote und
damit das Übergangssystem reduziert werden. Allerdings kann auch eine
verstärkte Koordination von Sekundarstufe I und Berufsbildung durch Individu-
alisierung im Schulabschlussjahr das Problem nicht lösen, dass sich die
Jugendlichen im internationalen Vergleich sehr früh für eine Berufsausbildung
entscheiden müssen, was vor allem bei entwicklungsverzögerten Jugendlichen
zum Nachteil wird.
Für entwicklungsverzögerte Jugendliche, aber auch für Jugendliche, die im
Lehrstellenmarkt gescheitert sind, bleiben Brückenangebote eine gute Wahl. Wir
stimmen der Norm der EDK zu, dass möglichst alle Jugendlichen einen
qualifizierenden Abschluss auf dem Niveau der Sekundarstufe II erreichen
sollen. Daher sind vorzeitige Austritte aus dem Ausbildungssystem unerwünscht
und sollten aufgefangen werden. Brückenangebote sind in diesem Sinn Auffang-
institutionen mit dem Ziel, die Lernenden möglichst rasch in eine qualifizierende
Ausbildung (in der Regel eine Berufsausbildung) zu führen. Damit sollen
Wartezeiten verkürzt, Bildungskosten gespart und individuelle Ausbildungswege
zielführender werden.
Brückenangebote verstärken die Durchlässigkeit zwischen Bildungsniveaus,
insofern Jugendliche aus Schulniveaus mit Grundansprüchen nach dem Besuch
eines Brückenangebots in eine anspruchsvolle Berufsausbildung oder in die
Berufsmaturitätsschule eintreten und so einen tertiären Ausbildungsabschluss
erreichen können. Während das Erreichen höherer Schulabschlüsse im Über-
gangssystem in Deutschland verbreitet ist, ist das Problem in der Schweiz wegen
des Fehlens von Schulabschlüssen entschärft. Dies gilt umso mehr, weil sich die
Leistungen zwischen den Sekundarstufe I-Niveaus mit Grundansprüchen und
erweiterten Ansprüchen stark überlappen. So können gegebenenfalls Jugendliche
aus Schulniveaus mit Grundansprüchen eine anspruchsvolle Berufsausbildung
antreten.
6.2 Inst. Perspektive: Selektionsprozesse in die duale Berufsbildung 145
Gerade wenn die Zahl der angebotenen Lehrstellen kleiner als die Nachfrage ist
(Lehrstellenknappheit), gewinnt die Selektion von Lernenden bei den Jugendli-
chen, aber auch bei den Berufsbildenden an Aufmerksamkeit. Wie soll vorge-
gangen werden, dass die passenden Jugendlichen die Lehrstelle erhalten und dass
Lernende und Lehrbetriebe optimal profitieren? Transparenz im Lehrstellen-
markt hilft nicht nur Jugendlichen, eine gute Bewerbungsstrategie zu entwickeln,
sondern auch Lehrpersonen der Volksschule, Jugendliche effektiv auf die An-
schlusslösung vorzubereiten. Berufsbildende können mit genaueren Kenntnissen
der Marktprozesse ihr eigenes Selektionsverfahren optimieren, sodass sie die
geeigneten Lernenden aufnehmen.
Zur Bearbeitung der oben formulierten Fragen wurde eine Studie zur
Selektion von Lernenden durchgeführt (Neuenschwander & Wismer, 2010). Es
wurden Betriebe der drei größten Ausbildungsfelder Wirtschaft und Verwaltung,
Baugewerbe/Hoch- und Tiefbau sowie Handel aus Datenregistern in den Kanto-
nen Bern und Luzern zufällig ausgewählt. Insgesamt 600 Berufsbildenden wurde
im Winter 2007 ein schriftlicher Fragebogen zugestellt, den sie anonym ausfül-
len und zurückschicken sollten. 243 auswertbare Fragebogen wurden schließlich
146 6 Übergang in die Sekundarstufe II
Nur eine eher wichtige Rolle spielen nach Angabe der befragten Berufsbildenden
besondere Eigenschaften wie Aussehen und Kleidung, Körperhygiene, Körper-
bau, Schultyp, Geschlecht, Nationalität und familiäres Umfeld des Jugendlichen.
Im Baugewerbe spielen diese askriptiven Merkmale offenbar eine wichtigere
Rolle als in der Wirtschaft und der Verwaltung. Es ist aber insgesamt unklar, ob
hier ein Effekt der sozialen Erwünschtheit sichtbar wird, weil viele Berufsbil-
dende vorgeben, auf der Grundlage der Kompetenzen der Schülerinnen und
Schüler und nicht aufgrund von askriptiven Merkmalen zu entscheiden. Nach
Häberlin et al. (2004) sind Geschlecht, Nationalität und Schultyp wichtige vor-
strukturierende Bedingungen bei der Selektion von Lernenden. Die Berufsbil-
denden geben an, dass diese Kriterien zwar wichtig seien, aber weniger wichtig
als Sozial- und Selbstkompetenzen sowie Methodenkompetenzen, die von
Häberlin et al. (2004) nicht untersucht wurden. Eine andere Erklärung könnte
sein, dass Geschlecht und Nationalität unterschwellige Selektionskriterien sind,
die nicht bewusst reflektiert werden, aber intuitiv die Entscheidungsfindung stark
beeinflussen.
unentschuldigte Absenzen
entschuldigte Absenzen
Handel
Selektionshilfen Wirtschaft und Verwaltung
Bau
Methodenkompetenzen
schul. Fachkompetenzen
bes. Eigenschaften
sional beschreibbar sind und (2) mithilfe welcher Kompetenzen und Einstellun-
gen von Jugendlichen diese Anforderungsdimensionen von Berufslehren vorher-
sagbar sind. Damit soll untersucht werden, ob Jugendliche mit hohen schulischen
und überfachlichen Kompetenzen später auch Berufslehren mit hohen Ansprü-
chen in den verschiedenen Anforderungsdimensionen absolvieren.
In der Literatur gibt es bereits Versuche, die Berufslehren nach Profil und An-
forderungsdimensionen zu beschreiben. Beispielsweise entwickelte der Kauf-
männische Gewerbeverband des Kantons Zürich (2005) mit Experten aus der
Bildungs- und Berufswelt Kompetenzprofile für 55 Berufslehren. Diese Profile
geben differenzierte Informationen darüber, welche Anforderungen die einzelnen
Berufe an die Jugendlichen stellen. Überdies werden minimale Kompetenzen in
verschiedenen Schulfeldern formuliert, die für das Erfüllen der beruflichen An-
forderungen nötig sind. Daraus wurde ein Selbsteinschätzungstest entwickelt, um
verschiedene Leistungen (zum Beispiel Sprachen, Geometrie) zu prüfen. Auf der
Basis der Testresultate kann abgeschätzt werden, ob die Anforderungen eines
bestimmten Berufs voraussichtlich erfüllt werden können. Allerdings liegen
diese Profile nur für die Berufslehren im kaufmännischen Bereich vor.
Im ersten Schritt wurde das Rating der Berufsberatenden intern validiert. Wie
aus Tabelle 6.4 ersichtlich ist, wurden Interkorrelationen zwischen den Anforde-
rungsdimensionen von Lehren berechnet. Holland postulierte, dass die sechs
Anforderungsdimensionen nur schwach miteinander korrelierten, wobei sich
gewisse Anforderungsdimensionen ähnlicher seien als andere.
Im nächsten Schritt wurde die zweite Frage bearbeitet, wie die Anforderungsdi-
mensionen der gewählten Berufslehre durch fachliche Leistungen, Bildungsein-
stellungen und soziale Kompetenzen von Jugendlichen vorhergesagt werden
können. Treten Jugendliche mit guten schulischen Leistungen in anspruchsvolle
Berufslehren ein? Eingangs wurde die Hypothese formuliert, dass Jugendliche
aus Schulformen mit Grundansprüchen an Berufslehren übervertreten sind, deren
Anforderungen in der Dimension untersuchend-forschend gering sind, und dass
diese in Lehren übervertreten sind, deren Anforderungen im handwerklich-
technischen Bereich höher sind. Gemäß Tabelle 6.5 finden sich zahlreiche, signi-
fikante Unterschiede zwischen den Schulformen. Jugendliche aus Schulformen
mit Grundansprüchen treten Berufslehren an, deren Anforderungen im hand-
werklich-technischen Bereich vergleichsweise hoch sind. Bezüglich der anderen
Anforderungsdimensionen sind die Anforderungen aber im Durchschnitt gerin-
ger als diejenigen von Berufslehren, welche Schülerinnen und Schüler aus Schul-
formen mit höheren Ansprüchen angetreten haben.
Nachdem gezeigt wurde, dass die Schulform einen Einfluss auf die Höhe der
Anforderungen der Berufslehre hat, soll in einem weiteren Schritt untersucht
werden, ob es einen solchen Zusammenhang auch mit den Kompetenzen und
Einstellungen der Jugendlichen gibt. Inwiefern stehen schulische Leistungen,
überfachliche Kompetenzen und Bildungseinstellungen in einem Zusammenhang
mit der Höhe der Anforderung der zukünftigen Lehre?
Zur Vorhersage der Anforderungsdimensionen wurden erstens soziale
Kompetenzen, zweitens schulische Leistungen und Bildungswerte von Jugend-
lichen und drittens das Geschlecht des Jugendlichen sowie Misserfolgsattribu-
tionen von Eltern verwendet. Soziale Kompetenzen sind insbesondere erfor-
derlich, um die Anforderungen in den Dimensionen erziehend-pflegend sowie
führend-verkaufend zu erfüllen. Wie in Kapitel 6.2.1 gezeigt worden ist, sind
überdies die Selbst- und Sozialkompetenzen von Berufslernenden wichtige
Kriterien bei der Lehrstellenvergabe von Berufsbildenden, wobei diese Kriterien
primär für ein erfolgreiches Zusammenarbeiten im Betrieb wichtig sind. Die
wahrgenommenen Sozialkompetenzen wurden mithilfe der drei Variablen
Durchsetzungsvermögen, Konfliktfähigkeit und Einfühlungsvermögen erhoben.
Ein Itembeispiel zum Durchsetzungsvermögen lautet: „Wenn ich mit anderen
Jugendlichen diskutiere, sage ich immer meine Meinung.“ Ein Beispielitem zum
Einfühlungsvermögen ist: „Wenn jemand traurig oder bedrückt ist, bemerke ich
dies immer sehr schnell.“ Ein Beispielitem zu Konfliktfähigkeit heißt: „Wenn ich
eine Meinungsverschiedenheit mit jemandem habe, kann ich sehr gut
akzeptieren, dass der andere nicht die gleiche Meinung hat wie ich.“
Gute schulische Leistungen und positive Bildungseinstellungen dürften dazu
führen, dass Jugendliche in Berufslehren mit hohen untersuchend-forschenden
Anforderungen eintreten. Die Variablen Deutsch und Mathematik beziehen sich
auf die Ergebnisse in den Leistungstests in Deutsch und Mathematik. Die Fächer
Deutsch und Mathematik wurden in die Berechnung einbezogen, weil sie bei der
schulischen Selektion gemäß Lehrplanvorgaben sehr wichtig sind. Die Variablen
deutschspezifische Werte und mathematikspezifische Werte erhoben die jeweilige
Einstellung der Schülerinnen und Schüler zu den Fächern Deutsch und
Mathematik (Beispielitem: „Was ich im Fach Deutsch lerne, halte ich für sehr
nützlich.“).
Das Geschlecht ist ein wichtiges implizites Kriterium bei der Berufswahl
(Gottfredson, 2005). So wie sich die Fähigkeitsselbstkonzepte bereichsspezifisch
zwischen den Geschlechtern unterscheiden, dürften männliche und weibliche
Jugendliche Berufslehren antreten, deren Anforderungen mit ihrem geschlechts-
spezifischen Fähigkeitsprofil korrespondieren. Das Geschlecht wurde deshalb als
Kontrollvariable mit einbezogen. Die Misserfolgsattributionen der Eltern bilden
ein weiteres Konzept, um die Reaktion von Jugendlichen bei schulischem
154 6 Übergang in die Sekundarstufe II
156
Misserfolgsattributionen (Kohorte 1, 2006)
N M SD 2 3 4 5 6 7 8 9 10
1. SK Konflikt- 586 3.0 0.5 .24*** .14*** .07 .23*** .0 .14*** .17*** .04 .09†
fähigkeit
2. SK Einfühlungs- 586 3.3 0.5 .37*** .06 .19*** .13** .10* .14*** .03 .01
vermögen
3. SK Durchset- 587 3.1 0.5 .16 .06 .15*** .15*** .18*** .0 .06
zungsvermögen
4. Deutschtest 511 50.1 10.0 .01 .56*** .13** .15*** .06 .09†
Legende: SK: Sozialkompetenz, *** p < .001, ** p < .01, * p < .05, † p < .1.
157
Tabelle 6.7 (Fortsetzung) Anforderungsdimensionen von Berufslehren im Jahr 2007, erklärt durch Merkmale im
158
Jahr 2006 (Regressionsanalysen, Kohorte 1)
Erziehend-pflegend Führend-verkaufend Ordnend-verwaltend
1 SK Konflikt- .19† .13 .09 .07 .03 .02 .23* .17† .14
fähigkeit
SK Einfühlungs- .15 .06 .04 .24 .19† .20† .14 .09 .08
vermögen
SK Durchset- .01 .08 .17† .32** .26* .17† .23* .14 .06
zungsvermögen
Legende: SK: Sozialkompetenz, *** p < .001, ** p < .01, * p < .05, † p < .1.
6 Übergang in die Sekundarstufe II
6.2 Inst. Perspektive: Selektionsprozesse in die duale Berufsbildung 159
signifikant und illustrieren erneut die zentrale Rolle der Eltern im Berufs-
wahlprozess.
Das Geschlecht war in dieser Analyse der stärkste Erklärungsfaktor.
Männliche Jugendliche sind eher in einer Lehre mit hohen handwerklich-tech-
nischen oder untersuchend-forschenden Ansprüchen zu finden, während
weibliche Jugendliche eher in Lehren mit hohen erziehend-pflegenden, führend-
verkaufenden und ordnend-verwaltenden Anforderungen anzutreffen sind. Wir
wissen, dass die Berufswahl durch geschlechtsspezifische Rollenbilder einer
Gesellschaft beeinflusst wird. Dieser Effekt kann durch die Geschlechtsspezifität
der Identität erklärt werden. Demzufolge erreichen Jugendliche je nach
Geschlecht zu unterschiedlichen Berufen eine hohe Passung (Hackett, 1995;
Gottfredson, 2005).
6.2.3 Fazit
R2 = 24%
.20
Einkommen E-Erwartung .48 R2 = 43%
.39
SES .29 .21 Gym vs. VET
.11 ns .31
E-Ausbildung Mathtest
.24
R2 = 9%
Das analoge Modell wurde im nächsten Schritt mit den Leistungen im Fach
Deutsch erneut geschätzt (Abbildung 6.4) und weitgehend repliziert. Die
Modelle zeigen, wie die Leistungen in Mathematik und Deutsch durch die
soziale Herkunft vorhergesagt werden und gemeinsam mit den Elternerwar-
tungen gute Vorhersagen des Ausbildungsverlaufs nach zwei Übergängen (in die
Sekundarstufe I und II) zulassen. Die Elternerwartungen sind stärker von der
Ausbildung der Eltern abhängig als von früheren schulischen Leistungen ihrer
Kinder (Neuenschwander et al. 2007). Offenbar bilden Leistungen und
Elternerwartungen wichtige Grundlagen für die Entscheidung zwischen den
Ausbildungsformen in der Sekundarstufe II.
6.3 Individuelle Perspektive: Wahlen 165
R2 = 24%
.21
Einkommen E-Erwartung .47 R2 = 45%
.38
SES .29 .25 Gym vs. VET
.03 ns .33
E-Ausbildung Deutschtest
.29
R2 = 9%
Im nächsten Schritt wurde überprüft, ob die Erwartungen und Werte von Jugend-
lichen als Mediatoren zwischen den Leistungen und Elternerwartungen einerseits
und der Ausbildungsform in der Sekundarstufe II andererseits fungieren. Ausge-
hend von der Erwartungs-Wert-Theorie müssten soziale Herkunft, Leistungen
und Elternerwartungen in den Bildungseinstellungen von Jugendlichen internali-
siert werden und Bildungsentscheidungen beeinflussen. Die präsentierten Model-
le wurden daher mit Indikatoren für die Schülererwartung (Schüleritem: „Wel-
ches ist der höchste Ausbildungsabschluss, den du vor dem Eintritt in die Er-
werbstätigkeit erreichen wirst?“) und die Werte in Mathematik (Itembeispiel:
„Wie wichtig ist Mathematik für dich?”) im neunten Schuljahr angereichert. Der
fachspezifische Schülerwert wurde als latente Variable anhand von drei Items
modelliert.
Wie Abbildung 6.5 zeigt, werden die Schülererwartungen in hohem Maß
durch die Elternerwartungen und die Mathematiktestleistungen vorhergesagt. Sie
erlauben sehr gute Vorhersagen des Ergebnisses der Entscheidung Gymnasium
versus Berufsbildung. Die Varianzaufklärung des Ausbildungsverlaufs erreicht
in dieser probit-Regression 81 Prozent.
Auch die subjektive Bewertung der Mathematik ermöglicht eine
signifikante Vorhersage. Der negative Pfad von beta = -.32 besagt, dass eine
positive Bewertung der Mathematik dazu führt, dass die Berufsbildung
favorisiert wird. Die Wichtigkeit von Mathematik wird überdies durch den sozio-
ökonomischen Status (SES) der Familie vorhergesagt. Interessanterweise wird
der Einfluss der Elternerwartungen vollständig durch die Schülererwartungen
166 6 Übergang in die Sekundarstufe II
Eine weitere Abweichung zum Modell Mathematik besteht darin, dass die Schü-
lererwartungen nicht durch die Deutschtestleistungen, sondern nur durch die El-
ternerwartungen vorhergesagt werden können.
Die Pfadmodelle für Mathematik und Deutsch illustrieren Erklärungsmus-
ter, die zeigen, wie die soziale Herkunft über Elternerwartungen und Schüler-
leistungen die Bildungserwartungen und -werte von Jugendlichen und dadurch
Bildungsentscheidungen in der Sekundarstufe II vorhersagen. Die hohen
Varianzaufklärungen zeigen, dass hier zentrale Variablen berücksichtigt worden
sind, und dass die zugrunde liegende Theorie erklärungsstark ist. Die Ergebnisse
zeigen erstmals für die Schweiz, dass Bildungsverläufe in der Sekundarstufe II
6.3 Individuelle Perspektive: Wahlen 167
.00ns R2=3%
.18
Deutsch-Wert t2
R2=27%
.25 .11ns
Einkommen E-Erwartung t1 .53 .17
R2=76%
.39
.28 .25 S-Erwartung t2 Gym vs. VET t31
.07ns .71
.14ns R2=36%
E-Ausbildung Deutschtest t1
.29
.27
R2=10%
.13*
13-jährig 20-jährig
Gemäß Abbildung 6.8 erklärt die Müttererwartung die College Erwartung der
Schülerinnen und Schüler recht gut. Der Effekt der Müttererwartung wird durch
die Schülererwartungen vollständig vermittelt. Das erreichte Bildungsniveau im
6.3 Individuelle Perspektive: Wahlen 169
.14**
.34*** Mütter-
.17
erwartung
.33*** .46***
Familien-
einkommen S College .34*** Bildungs-
.41*** erwartungen niveau
.26** .11
.14** R2 = 34%
Ausb
Noten
Mutter .11* .15***
-.02
besteht das Risiko, dass ein Beruf aufgrund von positiven Erlebnissen wäh-
rend der Schnupperlehre im Team eines Lehrbetriebs gewählt wird, sodass
die Entscheidung nicht nachhaltig ist, sondern einem Neuheitseffekt unter-
liegt. Der Beruf wurde positiv bewertet, weil die Jugendlichen neue, ab-
wechslungsreiche Aufgaben in einem freundlichen Arbeitsteam erleben
konnten.
3. Traumberuf - Frühentschiedene: Eine kleine Gruppe von Jugendlichen
favorisiert sehr früh einen Beruf und realisiert diesen. Diese Jugendlichen
hatten früh ein ausgeprägtes und fokussiertes Interesse an einem Beruf,
planten daher ihre Ausbildung so, dass sie diesen Beruf realisieren können.
Ein Jugendlicher verfolgte zum Beispiel von der vierten Klasse an die Ver-
wirklichung des Traumberufs des Lokomotivführers, absolvierte dann eine
Lehre als Polymechaniker, unterzog sich wegen geringer Sehschärfe einer
Augenoperation und erhielt im Alter von 20 Jahren die Stelle als Lokomo-
tivführer.
4. Spätentschlossene: Eine Gruppe von Jugendlichen kann sich bis zum Ende
des neunten Schuljahres nicht für einen Beruf entscheiden und wählt eine
allgemeinbildende, schulische Anschlusslösung, eine berufliche Grundbil-
dung, die für möglichst unterschiedliche berufliche Tätigkeiten qualifiziert,
oder eine Zwischenlösung.
Um den Stellenwert verschiedener Kriterien bei der ersten Berufs- und Lehrstel-
lenwahl zu illustrieren, baten wir Jugendliche des FASE B-Projekts (Kapitel 4,
ältere Kohorte, Erhebung 2006), die eine Berufslehre (Dentalassistent/ Dentalas-
sistentin, Pharmaassistent/Pharmaassistentin, Koch/Köchin, Fachangestellter/
Fachangestellte Gesundheit, Coiffeur/Coiffeuse, Detailhandelsangestell-
ter/Detailhandelsangestellte, Gärtner/ Gärtnerin, Sanitärmonteur/ Sanitärmonteu-
rin, Automonteur/ Automonteurin, Montageelektriker/ Montageelektrikerin) im
Kanton Zürich absolvierten und im zweiten Lehrjahr waren, anzugeben, wie sehr
ausgewählte Berufswahlkriterien bei ihrer Berufswahl leitend waren. Die Ergeb-
nisse in Tabelle 6.8 zeigen, dass je nach Beruf die ausgewählten Kriterien als
sehr unterschiedlich wichtig eingeschätzt wurden. Generell waren die eigenen
Interessen und die Schnupperlehre sehr wichtig, wohingegen die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie und die Geschlechtsspezifität des Berufs als weniger
wichtig bewertet wurden.
Tabelle 6.8: Wichtigkeit verschiedener Berufswahlkriterien nach Berufslehren (Mittelwerte und Varianzanalyse)
172
Eigene Interessen
Schulnoten
Schnupperlehre
Reisezeit
Pers. Bekanntschaften
mit Berufsbilden-
den/Berufsfachschul-
lehrpersonen
Ratschläge von Be-
kannten
Karrierechancen
Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf
Ansehen des Berufs
Typischer Beruf des
Geschlechts
Dentalassis-
3.61 3.29 3.45 3.11 2.71 3.08 3.22 2.80 2.97 2.26
tent/-in
Pharmaas-
3.51 3.06 3.30 2.90 2.55 2.80 2.92 2.70 2.92 2.26
sistent/-in
Koch/
3.56 2.20 2.20 2.96 2.47 2.92 3.25 2.72 2.80 2.00
Köchin
Fachange-
stellte/r 3.67 2.93 3.35 2.93 2.20 2.74 3.00 2.62 2.66 1.71
Gesundheit
Coiffeu-
3.59 2.86 3.38 2.72 2.72 3.05 3.10 2.87 3.04 2.25
se/Coiffeur
Detailhan-
delsan- 3.55 3.04 3.26 2.90 2.68 2.95 3.36 2.68 3.04 2.16
gestellte/r
6 Übergang in die Sekundarstufe II
Tabelle 6.8 (Fortsetzung): Wichtigkeit verschiedener Berufswahlkriterien nach Berufslehren (Mittelwerte und
Varianzanalyse)
Eigene Interessen
Schulnoten
Schnupperlehre
Reisezeit
Pers. Bekanntschaften
mit Berufsbilden-
den/Berufsfachschul-
lehrpersonen
Ratschläge von Be-
kannten
Karrierechancen
Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf
Ansehen des Berufs
Typischer Beruf des
Geschlechts
Gärtner/-in 3.61 2.94 3.15 3.01 2.52 2.89 2.79 3.00 2.82 2.38
6.3 Individuelle Perspektive: Wahlen
Sanitärmon-
3.53 2.80 3.31 2.85 2.70 3.05 3.48 2.67 3.25 2.68
teur/-in
Automon-
3.41 2.93 2.83 2.82 2.74 2.85 3.30 2.82 2.87 2.79
teur/-in
Montage-
elektriker/ 3.35 3.05 3.05 2.77 2.63 2.90 3.40 2.75 2.97 2.87
-in
F (df = 9,
3.17** 2.93** 5.0*** 1.8† 3.2** 1.7† 5.6*** 1.1 2.3* 10.2***
620)
Legende: Wertebereich: 1 (stimmt überhaupt nicht) bis 4 (stimmt voll und ganz), *** p < .001, ** p < .01, * p < .05, † < .1.
173
174 6 Übergang in die Sekundarstufe II
6.3.3 Fazit
Die soziale Herkunft, Leistungen, Erwartungen und Werte von Eltern und ihren
Kindern sagen Bildungsverläufe in die Sekundarstufe II recht gut vorher. Insbe-
sondere erlauben Bildungseinstellungen von Jugendlichen gute Vorhersagen von
Bildungsverläufen. Dies impliziert aber nicht zwingend, dass Bildungsentschei-
dungen rationale Wahlen sind. Vielmehr belegen Interviews mit Jugendlichen
über deren Berufswahlprozess, dass positive bzw. negative Emotionen in
Schnupperlehren und Betriebspraktika eine wichtige Entscheidungsgrundlage
dafür bilden, welche Berufslehren Jugendliche präferieren. Die Vorlieben wer-
den vermutlich im Nachgang mehr oder weniger rational gerechtfertigt. Gerade
wegen der Komplexität von Berufswahlen scheinen Jugendliche immer wieder
auf ein „ganzheitliches“ Bauchgefühl auf der Basis von einschlägigen Erfahrun-
gen und Empfehlungen von Bezugspersonen mehr zu vertrauen als auf ein kon-
sequent rationales Abwägen von Vor- und Nachteilen, Kosten und Nutzen einer
Ausbildungsalternative (vgl. auch bounded rationality nach Simon, 1956, in
Kapitel 3.3). Bildungseinstellungen von Jugendlichen bilden insofern ein zentra-
les Erklärungskonstrukt, als mit ihnen Entscheidungstendenzen angelegt sind,
die durch situative emotionale Erfahrungen vervollständigt werden.
Jugendliche verinnerlichen Bildungseinstellungen von Eltern und anderen
Bezugspersonen. Allerdings spielen die Erwartungen, die mit Schulformen bzw.
Bildungsniveaus verbunden sind, vermutlich auch eine wesentliche Rolle. Wenn
Jugendliche einer Schulform mit geringen Ansprüchen angehören, haben sie
wenige Ausbildungsalternativen (Heinz, Krüger, Rettke, Wachtveitl & Witzel,
1987) und müssen weitgehend diejenigen Angebote annehmen, die sie überhaupt
erhalten. Wir vermuten, dass Jugendliche im Berufswahlprozess mehr Entschei-
dungsspielraum besitzen als bei der Lehrstellensuche, die durch Marktprozesse
und institutionelle Vorgaben stark gesteuert wird.
Während bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Lehrstellenwahl in hohem Maß
durch die soziale Herkunft, die Bildung und das Geschlecht bestimmt war, nah-
men im Laufe des Modernisierungsprozesses die individuellen Spielräume bei
der Berufs- und Lehrstellenwahl zu (Beck, 1986). Gleichzeitig stiegen aber auch
die Belastungen beim Übergang von der Schule in den Beruf (Roberts, 2009). Im
Lehrstellenmarkt müssen sich Jugendliche für einen Beruf entscheiden, sich um
Lehrstellen bewerben, Bewerbungsabsagen verarbeiten, sich auf eine neue beruf-
6.4 Individuelle Perspektive: Herausforderung und Entwicklungsanlass 175
N M SD t-Test, df
11.9***,
Schulische Leis- 9. Klasse 495 3.29 .48
1559
tungsanforderungen
11. Klasse 1066 2.93 .60
Lebensrhythmus 9. Klasse 497 3.10 .64 1.17, 1564
11. Klasse 1069 3.14 .65
4.7***,
Eltern als Ressource 9. Klasse 493 2.78 .47
1558
11. Klasse 1067 2.64 .57
Legende: Wertebereich: 1 (stimmt überhaupt nicht) bis 4 (stimmt voll und ganz),
*** p < .001.
und eine neue Rolle erhalten, welche unabhängig vom Bildungsniveau mit dem
Alter der Jugendlichen im neuen Schultyp zusammenhängt und mit einer
Neuorientierung der Bildungseinstellungen und Handlungsmuster verbunden ist
(Witzel & Kühn, 2000).
Die beiden Positionen führen zu konkurrierenden Hypothesen, wie sich
schulische Übergänge auf das Individuum auswirken: Schulübergänge können
als Entwicklungsanlass oder als „Entwicklungshemmer“ interpretiert werden. Im
Zentrum dieser Betrachtung steht, über welche individuellen und sozialen Res-
sourcen Individuen für die Bewältigung der Anforderungen des Übergangs ver-
fügen. Im Folgenden wird die Bedeutung von schulischen Übergängen für das
Selbstkonzept von Jugendlichen thematisiert. Sind schulische Übergänge eine
Belastung und wirken sie sich negativ auf das Selbstkonzept aus? Oder sind sie
eher als Entwicklungsanlässe mit positiven Folgen für das Selbstkonzept der
Jugendlichen zu verstehen?
Wir bearbeiten die Frage exemplarisch anhand der schulbezogenen
Einschätzungen Schulzufriedenheit (d. h. die Zufriedenheit der Schülerinnen und
Schüler mit der Schule) und Lernmotivation sowie anhand von Aussagen über
das Selbstkonzept am Beispiel des Selbstwerts und der Selbstwirksamkeits-
überzeugung. Wir vermuten, dass sich schulbezogene Einstellungen bei
Schulübergängen stärker verändern, weil sie stärker von der Schule bestimmt
sind, als Selbstkonzepte. Die Schulzufriedenheit ist ein subjektives Mass für die
subjektive Einstellung, dass die eigenen Wünsche und Ziele in der jeweiligen
Schule tatsächlich erreicht werden (Neuenschwander & Hascher, 2003). Die
Lernmotivation wird hier als Anstrengungsbereitschaft verstanden, wie sehr die
Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu lernen bereit sind. Neuenschwander
(1996) beschreibt Selbstwert und Selbstwirksamkeitsüberzeugung als Dimensi-
onen des Selbstkonzepts. Während der Selbstwert ein globaler bereichsübergrei-
fender Ausdruck der eigenen Wertigkeit ausdrückt, versteht man unter Selbst-
wirksamkeitsüberzeugung die Einschätzung dessen, wie sehr das eigene Selbst
die Ursache von Handlungen und Ereignissen ist.
Schulische Übergänge wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts zu
Berufswahlprozessen im Jugendalter längsschnittlich in der Schweiz untersucht
(Herzog et al., 2006). Rund 500 Jugendliche verschiedener Kantone der
Deutschschweiz wurden am Anfang und am Ende des neunten Schuljahres sowie
sechs Monate nach dem Übertritt in die Anschlusslösung befragt. Außerdem
wurden je rund 120 junge Erwachsene am Anfang und am Ende des letzten
Jahres im Gymnasium, in der Diplommittelschule (heute Fachmittelschule) und
im ehemaligen Lehrerseminar sowie sechs Monate nach dem Übergang befragt.
Dieses Forschungsdesign erlaubt die empirische Beschreibung der Selbstkon-
zeptentwicklung beim Übergang in die Sekundarstufe II und in die Tertiärstufe.
6.4 Individuelle Perspektive: Herausforderung und Entwicklungsanlass 177
3,5
Übertritt in die
Schulzufriedenheit
3 Berufsbildung
Übertritt ins
2,5 Gymnasium
2 Übertritt in Zj/Erwerb
1,5
1
Anfang 9. Sj. Ende 9. Sj. Nach Übertritt
Sekundarstufe II und in die Tertiärstufe (vgl. hingegen Kapitel 8.6.2.3 für den
Übergang aus der Berufslehre) positiver.
4
3,5
Übertritt in die
3 Berufsbildung
Selbstwert
2 Übertritt in Zj/Erwerb
1,5
1
Anfang 9. Sj. Ende 9. Sj. Nach Übertritt
Wir haben postuliert, dass der Übergang in die Sekundarstufe II einerseits durch
strukturelle Faktoren, andererseits durch individuelle Ziele und Pläne gesteuert
wird. Diese Ziele und Pläne können die Jugendlichen nur realisieren, wenn sie
auf geeignete Ressourcen zurückgreifen können. Ressourcen sind Puffer, die
Jugendliche in belastenden Situationen zur Erhaltung ihres psychischen Wohlbe-
findens und ihrer Gesundheit einsetzen können. Ressourcen sind Unterstüt-
zungsquellen, die bei Schwierigkeiten zur Zielerreichung aktiviert werden. Im
Folgenden konzentrieren wir uns auf die sozialen Ressourcen Familie, Schule,
Gleichaltrige (vgl. Kapitel 3.2; vgl. auch Kapitel 8.2.1 für die Unterstützung bei
der Stellensuche nach dem Lehrabschluss) und auf professionelle Ressourcen.
6.5.1 Familie
Zur Illustration zeigt Tabelle 6.10 das Ausmaß der Unterstützung, das Jugendli-
che differenziert nach Geschlecht von ihren Eltern erfahren haben. Die Informa-
6.5 Soziale Ressourcen 181
tionen basieren auf den Angaben der rund 300 Jugendlichen der jüngeren Kohor-
te des FASE B-Projekts zum Messzeitpunkt 2006, als diese im neunten Schuljahr
waren (vgl. Kapitel 4). Konzeptionell unterschieden wir drei Formen der Unter-
stützung bei der Übergangsvorbereitung: Sachhilfe, persönliches Engagement
und finanzielle Hilfe. Gemäß einer multivariaten Varianzanalyse fühlten sich die
weiblichen Lernenden in der Übergangsvorbereitung durch ihre Eltern stärker
unterstützt als die männlichen. Der Effekt ist vor allem auf die geschlechtsspezi-
fische Wahrnehmung der finanziellen Beiträge zurückzuführen. In der Über-
gangsvorbereitung bezahlen Eltern häufig die Bewerbungsschreiben und geben
Informationen und Tipps. Die Hilfe der Eltern bei der aktiven Suche nach einer
Lehrstelle wurde als gering eingeschätzt. Die Eltern lieferten eher eine Form der
passiven Unterstützung für die Jugendlichen, welche im Hintergrund als stabili-
sierende sowie treibende Kraft bei der Wahl von Berufen und bei der Suche nach
einer Stelle wichtig ist.
Zum Schluss bleibt zu ergänzen, dass neben strukturellen Merkmalen der
Herkunftsfamilie wie der sozialen Schicht und dem Migrationsstatus auch die
Qualität der elterlichen Unterstützung im Berufswahlprozess und bei der
Lehrstellensuche eine wichtige und wirksame Ressource darstellt (Neuen-
schwander, 2008). Die Familie bildet den zentralen Sozialisationskontext von
Jugendlichen auf dem Weg in die Berufsbildung. Die Art der Unterstützung, die
Jugendliche von ihren Eltern erfahren, ist für den Übergangsprozess in die
Sekundarstufe II von zentraler Bedeutung.
Männlich Weiblich F, df
Männlich Weiblich F, df
6.5.2 Schule
tische Probleme. Beispielsweise müsste sich die Schule auf die Vermittlung von
Grundkompetenzen und überfachlichen Kompetenzen konzentrieren. Unabhän-
gig davon soll die Schule aktiver dazu beitragen, dass möglichst alle Jugend-
lichen eine Anschlusslösung nach Abschluss der Volksschule finden, d. h. die
Jugendlichen sollen bereit und fähig sein, den Übergang in den Arbeitsmarkt zu
vollziehen. Grundsätzlich sind schulische Wirkungen auf der Ebene des
Bildungssystems, auf der Ebene der Schule als Organisation und der Ebene des
Unterrichts zu unterscheiden.
Auf der Systemebene beschreibt der Lehrplan, wie Jugendliche auf den
Beruf vorbereitet werden sollen und wie wichtig diese Berufsvorbereitung neben
der fachlichen und überfachlichen Qualifikation ist. Dazu gehört die Frage, ob
die Berufswahl als eigenes Fach geführt wird oder als Querschnittsthema in allen
Fächern eine Rolle spielen soll. Im Fach Berufswahl werden Jugendliche darauf
vorbereitet, wie Stellenbewerbungen geschrieben und Bewerbungsgespräche
geführt werden, wie sie herausfinden, welche Stärken und Schwächen Jugend-
liche haben und wie sie sich über Berufe und Ausbildungen informieren können.
Berufliche Orientierung als Querschnittsthema meint hingegen, dass Fachinhalte
im Hinblick auf berufliche Anwendungen vermittelt werden sollen. Fachinhalte
sollen aus dieser Perspektive nicht nur auf der Grundlage einer Fachsystematik
ausgewählt und präsentiert werden, sondern im Hinblick auf ihre Bedeutung in
beruflichen Tätigkeiten.
Auch die Strukturierung in verschiedene Bildungsniveaus ist auf der
Systemebene angesiedelt. Schülerinnen und Schüler werden verschiedenen
Bildungsniveaus zugeordnet, die die Bildungsverläufe in hohem Maß vorstruk-
turieren. Das erreichte Schulniveau beeinflusst die Chancen beim Übergang in
die Sekundarstufe II (Häberlin et al., 2004). Die Selektionslogik eines Bildungs-
systems steuert daher die Übergangsprozesse in hohem Maße.
Ebenfalls auf der Systemebene stellt sich die Frage, wie die Aufgaben der
verschiedenen involvierten Akteure verteilt bzw. koordiniert sind: Berufs-
beratung, Bildungsverwaltung, individuelles Coaching von Jugendlichen in
schwierigen Situationen und Freizeitgruppen teilen sich mit der Schule und der
Familie die Aufgabe, die Jugendlichen auf die Berufsbildung vorzubereiten. Es
sind institutionelle Ressourcen, die den Weg von Jugendlichen in den Beruf
unterstützen.
Auf der Ebene der Schulorganisation stellt sich gegenwärtig die Frage, wie
Schulleitung, Berufswahllehrperson, Klassenlehrperson und Fachlehrperson die
Aufgabe der Berufsvorbereitung aufteilen sollen. Einerseits erfordert diese
Aufgabe ein hohes berufsspezifisches Wissen (Spezialisierung), andererseits
bereiten Lehrpersonen dann wirksam die Schülerinnen und Schüler auf den
Beruf vor, wenn sie niederschwellig erreichbar sind und zu den Schülerinnen
184 6 Übergang in die Sekundarstufe II
und Schülern eine gute Beziehung haben (vgl. Neuenschwander & Schaffner,
2010). Als zentral erwies sich ebenfalls die schulinterne Vereinbarung, wie
Schulen Schnupperlehren, Betriebsbesichtigungen und andere direkte berufliche
Erfahrungen ermöglichen und fördern (Neuenschwander & Schaffner, 2010).
Auf der Unterrichtsebene stellt sich die Frage nach der Didaktik des
Berufswahlunterrichts bzw. danach wie der Berufsbezug der Schulfächer erhöht
werden kann (vgl. Übersicht in Jung, 2008; Neuenschwander & Schaffner,
2010). Konkret wird im Deutschunterricht etwa das Verfassen von Bewerbungs-
schreiben und das Führen von Bewerbungsgesprächen geübt, ebenso werden
Vorträge über Berufe gehalten oder Aufsätze verfasst. Schulische Lernanlässe
und Rückmeldungen von Lehrpersonen tragen zur Klärung und Differenzierung
der individuellen Fähigkeits- und Interessenprofile bei. Nicht zuletzt dürfte die
Vorbereitung und Reflexion von Betriebspraktika und Schnupperlehren Jugend-
lichen helfen, ihre beruflichen Ziele und Optionen realistisch einzuschätzen und
zu klären.
Lehrpersonen haben die Möglichkeit, den Berufswahlprozess von
Jugendlichen auch außerhalb des Unterrichts zu fördern, indem sie sich mit
Lehrbetrieben vernetzen und Schnupperlehren, Praktika und Lehrstellen vermit-
teln, Jugendliche zum Besuch des Berufsinformationszentrums und der Berufs-
beratung ermutigen, Wochenplätze in Betrieben initiieren, vermitteln und beglei-
ten und Eltern über den Berufswahlprozess und die Ausbildungsoptionen
informieren. Lehrpersonen sind in Übergangssituationen entscheidend, wenn sie
Übertrittsempfehlungen abgeben. Ihre Beurteilung der schulischen Leistungen
von Schülerinnen und Schülern kann die Schullaufbahn entscheidend beein-
flussen. Engagierte Lehrpersonen beraten im Berufswahlprozess und vermitteln
wichtige Fertigkeiten, etwa hinsichtlich des Verfassens von Bewerbungen oder
in der Lehrstellensuche (Neuenschwander & Schaffner, 2010).
Lehrpersonen haben also vielfältige Funktionen im Berufswahlprozess von
Jugendlichen, die über die Weitergabe von Informationen hinausgehen. Herzog
et al. (2006) fanden allerdings keine nachweisbaren Wirkungen des
Berufswahlunterrichts auf den Verlauf und den Erfolg des Berufswahlprozesses.
Wir stellten sie unter anderem die Fragen, ob der schulische Berufswahl-
unterricht (und damit verbunden die Unterstützung durch die Lehrpersonen) vor
allem Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine Hilfe sein könnte, weil deren
Eltern oft die Ausbildungs- und Berufssituation in der Schweiz nicht gut kennen.
Weiter gehende Analysen zur Wirksamkeit der Schule im Berufsorientie-
rungsprozess von Neuenschwander und Schaffner (im Druck) konnten hingegen
Effekte nachweisen. So wurde beispielsweise gezeigt, dass bestimmte Methoden
im Berufswahlunterricht wie das Üben von Bewerbungsschreiben oder das
6.5 Soziale Ressourcen 185
Besprechen von Schnupperlehren im Unterricht die Chance auf das Finden einer
qualifizierenden Anschlusslösung erhöht.
Auch aus den retrospektiven Daten der Lernenden aus dem Kanton Zürich
(Kohorte 2, Erhebung 2006) geht die wichtige Funktion der Lehrperson bei der
Berufswahl hervor. 74 Prozent der Jugendlichen bejahten eine Unterstützung der
Lehrperson im neunten Schuljahr. Dies unterschied sich nicht nach Geschlecht,
Nationalität, Schicht der Eltern und Anschlusslösung (Berufsfachschule versus
Berufsmaturitätsschule) bzw. aktueller Berufslehre. Die Qualität der Berufswahl-
unterstützung durch Lehrpersonen wurde zudem rückblickend von den
Jugendlichen als gut bis sehr gut (M = 3.33, SD = .85, Skala 1-4) bewertet. Diese
Einschätzung ist unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Schultyp, den
Berufen der Anschlusslösung und der sozialen Schicht der Eltern. Jugendliche,
die nach dem neunten Schuljahr ein Zwischenjahr belegten, befanden die
Qualität als besser als Jugendliche, die nach dem neunten Schuljahr kein
Zwischenjahr einlegten.
Die Beurteilung der Unterstützungsqualität der Lehrperson hing mit
gewissen Berufswahlkriterien der Jugendlichen zusammen. Diese Qualität wurde
hoch bewertet, wenn Jugendliche bei der Berufswahl den Einfluss ihrer eigenen
Interessen als hoch bewerteten (r = .11, p < .01), wenn sie das verfügbare
Angebot an Lehrstellen als hoch bewerteten (r = .15, p < .001) und wenn sie
stark auf Ratschläge von Bekannten achteten (r = .14, p < .001). Die
Korrelationen waren aber insgesamt nicht sehr hoch. Jugendliche beurteilten
offenbar die Unterstützung durch Lehrpersonen besser, wenn sie sich selbst in
einer günstigen Situation befanden, ihre persönliche Situation eher positiv
einschätzten und eher nicht auf Unterstützung durch die Lehrperson angewiesen
waren.
6.5.3 Gleichaltrige
12 Das gilt natürlich nicht nur für die Gleichaltrigen, sondern auch für Eltern oder Lehrpersonen.
186 6 Übergang in die Sekundarstufe II
sie eine negative Rückmeldung und werden von ihrem Ziel eher abgebracht. Dies
kann ungünstig sein, wenn die präferierte Berufslehre zur Persönlichkeit des
Jugendlichen gut passen würde. Umgekehrt können Rückmeldungen von Gleich-
altrigen, insbesondere von Freunden, Jugendliche zu beruflichen Optionen füh-
ren, die sehr gut zu deren Persönlichkeit passen. Die Wirkung von Urteilen von
Gleichaltrigen ist vor allem im frühen Jugendalter substanziell, wenn Jugendli-
che versuchen, sich mit der jeweiligen Gleichaltrigengruppe konform zu verhal-
ten, um einen hohen Selbstwert aufrecht zu erhalten.
Jugendliche der gleichen Generation können auch durch ihre Vorbild-
funktion die berufliche Karriere von Jugendlichen beeinflussen. Beispielsweise
kommen Jugendliche in altersdurchmischten Vereinen in Kontakt mit älteren
Jugendlichen mit beruflichen Erfahrungen. Oder sie tauschen sich mit Gleichal-
trigen im Berufswahlprozess aus und lernen von ihnen Strategien und Hinweise.
Peers können zur Optimierung der beruflichen Exploration und zum Berufswahl-
prozess beitragen, indem sie auf wichtige Informationsquellen, auf angemes-
senes Verhalten in Schnupperlehren und Betriebspraktika oder auf den Bewer-
bungsprozess verweisen. Gleichaltrige können überdies Sicherheit vermitteln,
wenn sie sich gegenseitig in neuen beruflichen Situationen begleiten und Infor-
mationen über Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten austauschen. Schließlich
können Jugendliche getröstet werden, wenn sie sehen, dass auch ihre Freunde
oder Freundinnen Absagen auf Bewerbungen erhalten bzw. sie können durch
eine Lehrstellenzusage eines Freundes/einer Freundin angespornt werden, sich
anzustrengen, bzw. um auch rasch eine Lehrstelle zu erhalten.
einandersetzung mit der Berufs- und Lehrstellenwahl oder aber die Suche von
Informationen über Berufsbildung und Berufsfelder. Schließlich sind Maßnah-
men/Angebote für alle Jugendlichen (primäre Prävention) von Maßnah-
men/Angeboten für Jugendliche in Risikosituationen (sekundäre Prävention) zu
unterscheiden.
Die Vielfalt von institutionellen Angeboten und Unterstützungsmaßnahmen
beim Übergang in die Berufslehre hat zugenommen. Neben der traditionellen
Berufsberatung sind insbesondere Maßnahmen für Jugendliche in Risiko-
situationen (vgl. Kapitel 6.6) entwickelt worden (Coaching- und Mentoring-
Programme). In diesen Programmen wird individualisierte Hilfe bereitgestellt,
die dank einer guten Beziehung zwischen Mentor bzw. Mentorin und Mentee
und geeigneten beruflichen Netzwerken der Mentoren Jugendliche im Berufs-
wahlprozess und bei der Lehrstellensuche intensiv, niederschwellig und zielge-
richtet unterstützen. Damit erhalten die Mentoren und Mentorinnen eine Art
Elternersatzfunktion bezüglich des Berufswahlprozesses.
Im Unterschied dazu bietet die Berufsberatung einerseits berufsbezogene
Informationen an (sogenannte Berufsinformationszentren BIZ) und andererseits
Entscheidungshilfen durch Einzelberatung. Sie führt Informationsveranstal-
tungen in Schulen durch und führt Projekte für spezifische Zielgruppen durch.
Herr et al. (2003) präsentierten einen umfassenden Überblick über Beratungs-
kontexte beim Übergang von der Schule in den Beruf in verschiedenen Ländern
(vgl. zur Schweiz auch Zihlmann, 2009). Sie beschrieben vier Phasen der
Berufsberatung: (1) Die Beratung informiert über Bildungsniveaus, Berufsfelder
und Berufe, Leistungsanforderungen und die Bedeutung des Geschlechts im
Berufswahlprozess. (2) Die Beratenden unterstützen Jugendliche bei deren
Selbstexploration, sodass sie ein elaboriertes und differenziertes Selbstkonzept
ihrer Fähigkeiten und Interessen entwickeln. Die Berufsberatenden fördern die
Exploration der Berufsfelder, sodass die Jugendlichen adäquates Wissen über
ihre Optionen und deren Anforderungen erlangen. Die Jugendlichen sollen
einerseits Informationen erhalten, andererseits befähigt werden, wichtige
Informationen selbst zu finden. (3) Die Beratung unterstützt Jugendliche im
Entscheidungsprozess, zeigt ihnen wie mögliche Optionen eingegrenzt werden
und die verfügbaren Optionen mit dem eigenen Selbstkonzept der Fähigkeiten
und Interessen in Passung gebracht werden können. (4) Schließlich unterstützt
die Beratung Jugendliche bei der Lehrstellensuche und gibt Hilfestellungen,
damit sich ihre Chancen auf dem Lehrstellenmarkt verbessern. Wichtig ist, dass
die Beratenden mit den Problemlagen der Jugendlichen vertraut sind, sich mit
anderen Unterstützungspersonen koordinieren und kohärente Hilfe anbieten und
dass sie eine optimistische und positive Einstellung zu den Jugendlichen
entwickeln (vgl. Häfeli & Schellenberg, 2009).
188 6 Übergang in die Sekundarstufe II
6.5.5 Fazit
Die Analysen und Befunde belegen die hohe Bedeutung von sozialen Ressour-
cen im Übergangsprozess. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung
von Bildungseinstellungen (Kapitel 6.3.1). Die sozialen Ressourcen beeinflussen
aber auch in hohem Maß, wie Einstellungen zu Entscheidungen und Handlungen
führen. Jugendliche können bei geeigneten Ressourcen erfolgreich ehrgeizige
Ziele verfolgen. Beispielsweise können sich Jugendliche aus Schulniveaus mit
Grundansprüchen dank guter familiärer und schulischer Unterstützung für eine
anspruchsvolle Lehre und die Berufsmaturitätsschule qualifizieren und den Zu-
gang zu Fachhochschulen erlangen. Die Bedeutung der Ressource Gleichaltrige,
vor allem der Freundinnen und Freunde, ist leider erst wenig untersucht worden.
Gleichaltrige spielen als Informations- und Motivationsquelle, aber auch als
Trostspender eine Rolle. Sie werden aber von den Jugendlichen als weniger
kompetente und verlässliche Ratgeber in Berufswahlfragen als Eltern und andere
erwachsene Autoritäten wahrgenommen (Herzog et al., 2006). Die aktuellen
Angebote professioneller Dienstleistungen werden von den Jugendlichen nur
teilweise positiv wahrgenommen. Professionelle Ressourcen sind dann eher hilf-
reich, wenn sie individualisiert sind und sowohl Informationen wie auch konkre-
te Erfahrungen ermöglichen. Sie sind vor allem in komplexen Fällen erforder-
lich, wenn Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrige überfordert sind, effektive Un-
terstützung zu leisten.
erster Linie nicht Risikogruppen charakterisiert werden, die für einen vorzeitigen
Ausstieg aus der Ausbildung prädestiniert sind, weil mit dem Konzept der Risi-
kogruppen ein negatives Label verbunden ist (Kapitel 2.6). Vielmehr werden
Risikosituationen gesucht, die als Konstellationen von individuellen und kontex-
tuellen Merkmalen verstanden werden. Wenn Jugendliche mit besonderen
Merkmalen und in einer bestimmten Phase des Übergangsprozesses mit definier-
ten Anforderungen der Umwelt konfrontiert sind, wird von einer Risikosituation
gesprochen. Mit dem Konzept der Risikosituation wird der Fokus von den Ju-
gendlichen auf eine Mensch-Umwelt-Konstellation verschoben.
Eine Risikosituation liegt vor, wenn Jugendliche kurz vor dem Übertritt in
die Sekundarstufe II in ihrer Berufswahl sehr unentschieden sind und über keine
Anschlusslösung verfügen. Gemäß Herzog et al. (2006) sind rund 9 Prozent der
Jugendlichen im 9. Schuljahr in einer solchen Situation. Sie besitzen eine erheb-
liche Wahrscheinlichkeit, aus dem Ausbildungssystem zu fallen. In der Tat zei-
gen Herzog et al. (2006), dass diese Jugendlichen mit einer Wahrscheinlichkeit
von 85 Prozent keine neue Ausbildung beginnen, diese in der Probezeit wieder
abbrechen oder in ein Zwischenjahr, im Sinne eines Brückenangebots, über-
treten. Herzog et al. (2006) zeigen regressionsanalytisch, dass diese Risikosi-
tuation auf der Basis von sechs Faktoren zu Beginn des neunten Schuljahres
recht gut vorhergesagt werden kann:
Den Überlegungen zugrunde liegt die Idee, dass sich die Chance erhöht, in eine
Risikosituation zu geraten, je mehr dieser Kriterien auf einen Jugendlichen bzw.
eine Jugendliche zutreffen. Durch Lehrpersonen oder ander Sachverständige als
Checkliste verwandte, können diese Kriterien zur frühen Identifikation von ge-
fährdeten Jugendlichen beitragen.
190 6 Übergang in die Sekundarstufe II
6.7 Schlussfolgerungen
Die Analyse des Übergangs in die Sekundarstufe II richtete sich zuerst auf insti-
tutionelle und strukturelle Steuerungsprozesse auf der Ebene des Bildungssys-
tems; danach wurden individuelle Entscheidungsprozesse thematisiert, die den
Übergang regulieren, und schließlich wurden soziale Ressourcen von Jugendli-
chen beim Übergang in die Sekundarstufe II besprochen. Damit folgte die Ar-
gumentation dem postulierten theoretischen Ansatz, Übergänge als Ausdruck
6.7 Schlussfolgerungen 191
messen den Hausaufgaben ein hohes Gewicht bei, wenn sie das Gefühl haben,
dass es sich gelohnt hat, Zeit und Aufwand für sie zu investieren. Neben diesem
sehr direkten Einfluss auf das Selbststudium tragen Eltern einen großen Teil zur
Ausbildung ihrer Kinder bei: Erziehungsstil, Attribution, Stimulation, Erwar-
tungen und Werte, emotionale Zuneigung, Möglichkeit zur Erholung und Ent-
spannung sowie finanzielle Unterstützung (vgl. Kapitel 5.4 und 7.6).
Dieses Kapitel thematisiert die Wechselwirkungen zwischen Familie,
Lehrbetrieb und Berufsfachschule. Aus transitionstheoretischer Sicht werden
Übergänge während der Berufsbildung beschrieben. Als erstes werden
Ausbildungsmodelle der beruflichen Grundbildung vorgestellt und ihre Auswir-
kungen auf das Lernen der Jugendlichen dargestellt (7.1). Die Einflüsse der
Lernorte auf den Ausbildungserfolg werden anhand der Veränderungen in der
Selbsteinschätzung der berufsbezogenen Kompetenzen der Jugendlichen
während der Ausbildung mittels des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts ge-
zeigt (7.2). Spezielle Übergangssituationen treten bei Lehrvertragsauflösungen
(7.3) als vorzeitigen Verlassens bestimmter Kontexte - meistens des Lehr-
betriebs, manchmal der Berufsfachschule oder von beidem - sowie andererseits
das Nichtbestehen der Lehrabschlussprüfungen (7.4), sodass kein Übergang mit
einer Berufsqualifikation in die Erwerbstätigkeit erfolgen kann, auf. Damit diese
Übergänge zwischen den sozialen Kontexten aufeinander abgestimmt, allenfalls
Lehrvertragsauflösungen verhindert und Lehrabschlüsse ermöglicht werden
können, arbeiten die beteiligten Personen aus Lehrbetrieben und Berufsfach-
schulen in Form der Lernortkooperation zusammen (7.5). Zusammenarbeit findet
nicht ausschließlich zwischen diesen beiden Systemen, sondern auch zwischen
diesen und dem Kontext Familie statt (7.6). Das Kapitel schließt mit
zusammenfassenden Schlussfolgerungen zu den Übergängen während der dualen
Berufsbildung (7.7).
7.1 Ausbildungsmodelle
1) Die Bildung in beruflicher Praxis erfolgt über die ganze Dauer der beruflichen
Grundbildung im Durchschnitt an 4 Tagen pro Woche. 2) Die schulische Bildung im
obligatorischen Unterricht erfolgt in 1080 Lektionen. Davon entfallen auf den
Sportunterricht 120 Lektionen. 3) Die überbetrieblichen Kurse umfassen, je nach
Beruf, insgesamt mindestens 35 und höchstens 50 Tage zu 8 Stunden (BBT Verord-
nung über die Berufliche Grundbildung Berufsfeld Verkehrswegbau, 2008, S. 4).
Wettstein (2008) schlug eine Typisierung der Ausbildungsmodelle mit fünf For-
men der beruflichen Grundbildung vor, welche er in den „Unterlagen zum Bil-
dungswesen der Schweiz“ beschrieb und die folgenden Kategorien umfassen: 1)
klassische handwerkliche Berufslehre, 2) industriell geprägte Berufslehre, 3)
Berufslehre mit Basislehrjahr, 4) Berufslehre mit degressivem Berufsfachschul-
13 Dies gilt nur für die Zweitausbildung; in der Erstausbildung gehen sie einen Tag pro Woche
zur Schule.
7.1 Ausbildungsmodelle 199
Für diese Typisierung sind vor allem die Art der Lernorte und die Zahl der
Berufsfachschultage wichtig. Die ersten beiden Kategorien unterscheiden sich
kaum hinsichtlich der Art der Ausbildungsaufteilung zwischen Berufsfachschule
und Lehrbetrieb. Das Basislehrjahr hingegen grenzt sich von den erst beiden ab,
da die Lernenden im ersten Lehrjahr nicht im Lehrbetrieb arbeiten. Der Typ
Lehrbetriebsverbund beschreibt einen Spezialfall der Organisationsform, welche
auf die Ausbildungsorganisation zwischen den Lernorten keine Auswirkung hat.
Für das Verständnis der synchronen Übergänge erachten wir eine Typisie-
rung dessen als hilfreich, wie sich Lehrbetrieb und Berufsfachschule die Ausbil-
dungsverantwortung aufteilen. In dieser Betrachtung wird der zeitlichen Perspek-
tive große Beachtung geschenkt und die Person und ihr Erleben der Ausbildung
treten in den Vordergrund. Gewisse Typen der vorgestellten Systematik sind
ähnlich derjenigen von Wettstein (2008). Die Tabelle 7.1 zeigt Beispiele für die
verschiedenen Typen von Ausbildungsmodellen. Die meisten Ausbildungsgänge
werden nach dem Muster des Typs A mit zusätzlichen Blockkursen angeboten.
Die anderen Typen sind weniger häufig, gewinnen aber an Bedeutung.
Tabelle 7.1: Beispiele für Ausbildungsmodelle
Lehr- Anzahl Tage
Typ Beruf Berufsfachschule, Internetlink (alle 29.3.2010)
jahre Berufsfachschule
Chemielaboran- 3 1½ bis 2 Schultage/Woche Berufsschule Aarau BSA
tin/ Chemielabo- www.bs-aarau.ch/i4Def.aspx?Tabindex=0&TabId =260
rant
Forstwartin/ 3 1 Schultag/Woche Berufsbildungszentrum Herisau BBZ AR
Forstwart www.berufsschule.ch/site/page.php?ID=MTEsMjMsNDY=
Woche
Typ A: 1–2
&cms=323f03acaba42bdea627fc53ad7ace43
Schultage pro
7.1 Ausbildungsmodelle
Typ B
te/Fachange- Schultage/Woche; www.ag.ch/bfgs/shared/dokumente/pdf/lektionentafel_fage.
Degressiv
stellter Gesund- 2. Lj 2 Schultage/Woche; pdf
heit 3. Lj 1 Schultag/Woche .
Kauffrau/Kauf- 3 1. und 2. Lj 2 Schultag pro Wirtschafts- und Kaderschule KV Bern WKS
mann B-Profil Woche; www.wksbern.ch/Web/de/Grundbildung/Die_kaufmaennisc
3. Lj 1 Schultag pro Woche. he_Grundbildung/BProfil.htm
Informatikerin/ 4 Lehre im Betrieb oder Lehre Zürcher Lehrmeistervereinigung Informatik
Informatiker mit Basislehrjahr http://www.zli.ch/Informatik-Ausbildung.53.0.html
Automatikerin/ 4 1. Lj, Basislehrjahr ; Industrielle Werke Basel
Automatiker 3. Lj im Lehrbetrieb. http://www.iwb.ch/de/automatikerin.php#Ausbildung
Typ C
Basislehrjahr
Legende: Lj: Lehrjahr.
201
Tabelle 7.1 (Fortsetzung): Beispiele für Ausbildungsmodelle
202
Lehr- Anzahl Tage
Typ Beruf Berufsfachschule, Internetlink (alle 29.3.2010)
jahre Berufsfachschule
Fachfrau/ Fach- 3 3 Schulblöcke à 3 bis 4 Wo- Berufs- und Weiterbildungszentrum Obwalden BWZ,
mann Betriebs- chen pro Lj; Berufsfachschule Giswil
unterhalt www.bwz-ow.ch/grund_berufe_betrieb.htm
Gemüsegärt- 3 Berufsschule insgesamt 29 Inforama Bildungs-, Beratungs- und Tagungszentrum Zolli-
nerin/Gemüse- Wochen in Blockkursen à 1 kofen BE
gärtner bis 6 Wochen www.vol.be.ch/site/inforama/inforama-bildung/inforama-
gemuesegaertner/inforama-gemuesegaertner-
berufsschule.htm
Geomatikerin/ 4 10 Wochen Blockkurse pro Lj. Baugewerbliche Berufsschule Zürich BBZ
Typ D
Geomatiker http://www.bbz.zh.ch/#id=87&target=berufe
Blockkurs
Straßenbau- 3 Pro Lj. 4 bis 5 Blockkurse à 2 Berufsfachschule Verkehrswegbauer Sursee BFS
erin/Straßen- bis 3 Wochen: Kurse zwi- www.verkehrswegbauer.ch/strassenbauer/documents/EFZ_
bauer EFZ schen 2 und 10 Tagen deutsch_STB.pdf
Winzerin/ Win- 3 4 Blöcke pro Lj. à 3 Wochen Branchenverband Deutschschweizer Wein BDW Wädens-
zer, Obstbäuer- 60 Tage wil ZH
in/Obstbauer www.weinbauverband.ch/seiten/ausbildung/2_ausbildung.ht
m
Landwirtin/ 2 2 Winterkurse à 18 Wochen Amt für Landwirtschaft BZ Wallierhof SO
Landwirt November bis März www.so.ch/?id=4091
(2. Bildungsweg)
Typ E
Saison
Chemie- und 3 Blockweise Ausbildung im Ausbildungsverbund Aprentas Basel
Pharmatechnolo- Ausbildungszentrum und an www.aprentas.com/content.cfm?nav=72&content=78
gin/-technologe Arbeitsplätzen in versch.
Typ F
Praktika
EFZ Produktionsbereichen in der
Lehrfirma
Legende: Lj: Lehrjahr.
7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
7.1 Ausbildungsmodelle 203
Typ A: Ein Schultag pro Woche. Die Lernenden sind einen Tag pro Woche in der
Berufsfachschule und vier Tage im Lehrbetrieb. Diesem Muster folgen die
meisten Berufslehren. Mittlerweile führen fast alle Lehrgänge zusätzliche
Blockkurse von mehreren Tagen durch, welche von den Berufsverbänden
organisiert werden (sogenannte überbetriebliche Kurse). Auswirkung auf
Lernende: Die Lernenden arbeiten den größten Teil der Woche im Lehrbetrieb
und wechseln für einen Tag in die Rolle der Berufsfachschülerin bzw. des
Berufsfachschülers. Die Lerneinheiten der Berufsfachschule werden durch eine
Arbeitswoche unterbrochen, wobei Hausaufgaben die Konsolidierung der
Lerninhalte unterstützen. Die Sequenzierung der schulischen und betrieblichen
Ausbildung im Wochenrhythmus bedingt, wenn sie nicht parallel, sondern
aufeinander aufbauend und vernetzend sein soll, eine engmaschige Abstimmung
zwischen den Lernorten. Aufgrund von Rückmeldungen der Lernenden, welche
die Vernetzung und Absprache als unzureichend kritisieren (Pätzold & Walden,
1999) sowie den Transfer des berufsbezogenen Wissens auf ihre praktische
Tätigkeit als schwierig erleben, wäre zu überlegen, ob das Ausbildungsmodell
mit einem Schultag pro Woche in dieser Form hilfreich ist. In einer
Interviewstudie von 28 jungen Erwachsenen beim Übergang von der Berufslehre
in die erste Tätigkeit als Koch/Köchin bzw. Detailhandelsangestellte/-r von
Affolter-Huber und Richner (2008) wurde die geringe Absprache der Lernorte
sowie der Mangel an aufeinander abgestimmten Lerninhalten kritisiert. Diese
Abstimmung der Inhalte der Berufsfachschule auf die praktische Ausbildung im
Betrieb konnten die meisten Jugendlichen nicht vollumfänglich bestätigen“
(Affolter-Huber & Richner, 2008, S. 94).
Typ B: Degressiv. Die Lernenden verbringen am Anfang der Lehre mehr
Zeit in der Berufsfachschule, im ersten Lehrjahr abwechselnd zwei und drei
Tage, im zweiten Lehrjahr zwei Tage und im dritten Lehrjahr einen Tag pro
Woche (zum Beispiel Ausbildungsgang Fachangestellte Gesundheit). Aus-
wirkung auf Lernende: Die Lernenden dieses Ausbildungstyps erleben einen
sanfteren Übergang von der Sekundarstufe I in die Berufsausbildung, weil der
Schulanteil am Anfang hoch ist. Sie passen sich an die Bedingungen des
Lehrbetriebs (Arbeitszeiten, körperliche Arbeit etc.) an. Der Übergang in die
Berufsrealität wird in Teilschritte gegliedert, da zu Beginn mehr Zeit im bereits
bekannten Umfeld „Schule“ verbracht wird. Die Schwierigkeiten der Abstim-
mung der Lerninhalte und des Lerntransfers bleiben wie bei Typ A „Schultag pro
Woche“ bestehen.
Typ C: Basislehrjahr. Im Basislehrjahr eignen sich die Lernenden Grund-
fertigkeiten ihres Berufs in einem Ausbildungszentrum an und besuchen
gleichzeitig die Berufsfachschule. Die obligatorischen, überbetrieblichen Kurse
sind im Basislehrjahr integriert. Obwohl die Lernenden während des Basis-
204 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
lehrjahres nur selten oder nie im Lehrbetrieb sind, haben sie einen Lehrvertrag,
erhalten einen Lohn und leisten Arbeit. Ziel des Basislehrjahres ist die
Vorbereitung auf die weitere Ausbildung im Lehrbetrieb und damit auch die
Entlastung des Betriebs von der Vermittlung der Grundfertigkeiten sowie von
der Berufseinführung. Das Basislehrjahr versteht sich weniger als Schule denn
als herkömmlicher Lehr- und Ausbildungsbetrieb - mit dem Unterschied, dass
das Verhältnis zwischen Ausbildung und praktischer Arbeit anders ist.
Auswirkung auf Lernende: Die Umgebung im Ausbildungszentrum kann an die
Möglichkeiten der Jugendlichen angepasst werden, was eine betriebliche
Arbeitsumgebung in diesem Maß nicht leisten kann. Da sich Lernende nicht in
den betrieblichen Produktionsprozess integrieren müssen, könnte ihnen der
Schritt von der Schule in den Lehrbetrieb durch den Zwischenschritt im Basis-
lehrjahr erleichtert werden. Die hohen schulischen Anforderungen könnten sich
aber als Einstiegshürde erweisen.
Typ D: Blockkurs. In diesem Modell finden die Schultage nicht im Wochen-
rhythmus statt, sondern gruppieren sich zu Blöcken unterschiedlicher Länge.
Beispielsweise haben die zukünftigen Verkehrswegbauerinnen und Ver-
kehrswegbauer oder Kellnerinnen und Kellner Blockkurse von wenigen Tagen
bis zu drei Wochen Dauer. Auswirkung auf Lernende: Durch die Zusammenfüh-
rung von Lerneinheiten wird von den Lernenden weniger häufig eine Umstellung
von der Arbeits- auf die Schulumgebung verlangt. Die Koordination der Lernorte
und die Vernetzung von berufsbezogenem Wissen mit praktischen Tätigkeiten
könnten sich als einfacher und für die Lernenden transparenter erweisen als bei
Typ A und B. Wenn die Themenschwerpunkte den Lehrmeistern bekannt sind,
können sie im Lehrbetrieb Arbeitssituationen ermöglichen, in welchen das er-
worbene Wissen angewandt und die Fertigkeiten gefestigt werden können.
Typ E: Saison. Die angehenden Landwirtinnen und Landwirte auf dem
zweiten Bildungsweg (im Anschluss an eine Lehre oder die Matura) sind über
den Sommer in den Betrieben tätig und gehen im Winter ausschließlich zur
Berufsfachschule.14 Diese saisonale Abstimmung ergibt sich aus den
Rahmenbedingungen, welche in der Landwirtschaft in den Sommermonaten
Mehrarbeit erfordern. Auswirkung auf Lernende: Die Umstellung der Lernenden
von der körperlichen Arbeit im Betrieb während des Sommers auf die
intellektuelle Tätigkeit in der Berufsfachschule im Winter erfordert Anpassungs-
fähigkeit. Damit ist eine direkte Verzahnung von Hintergrundinformationen und
Praxiserfahrungen erschwert. Gelerntes Wissen muss in den Betrieben wieder
aktiviert werden. Eine Vertiefungsmöglichkeit in konkreten Situationen ist
weniger gegeben.
14 Die Berufsfachschule für Landwirtinnen und Landwirte (Erstausbildung) findet wie Typus A
an einem Tag in der Woche statt.
7.1 Ausbildungsmodelle 205
Typ F: Praktika. Die Lernenden der ersten fünf Typen haben alle einen
Lehrvertrag mit ihrem Lehrbetrieb. Im Gegensatz dazu haben sich die Chemie-
technologinnen und Chemietechnologen (ehemals Chemikantinnen und Chemi-
kanten) bei der Schule eingetragen. Neben der Schule absolvieren sie jedoch
auch Praktika in Lehrbetrieben. Die Praktika werden in mehreren Blöcken
abgeleistet. Auswirkung auf Lernende: Ähnlich wie beim Typ D Blockkurs ist
auch hier eine enge Vernetzung zwischen Wissensvermittlung und Handlungs-
erwerb möglich, wenn die Lernorte koordiniert zusammenarbeiten. Insbesondere
wenn das zu vermittelnde, berufsbezogene Wissen umfangreich ist, kann diese
Form der Ausbildungsorganisation den Anforderungen gerecht werden.
Die Dualität der Berufsbildung führt dazu, dass sich die Lernenden Wissen und
Können an einem Lernort aneignen und an einem anderen Lernort anwenden. In
diesem Zusammenhang wird oft von Lerntransfer gesprochen. Eine Definition
für Lerntransfer bietet Gnefkow (2008) an: „Transfer bezeichnet die kontinuier-
liche Anwendung der im Lernfeld erworbenen Inhalte im Funktionsfeld. Dabei
generalisiert der Teilnehmer die erlernten Inhalte, entscheidet über deren An-
wendung und führt die Anwendung im Funktionsfeld aus“ (Gnefkow, 2008, S.
41). Dabei kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass das Lernfeld mit
der Berufsfachschule und das Funktionsfeld mit dem Lehrbetrieb gleichgesetzt
werden kann. Vielmehr werden die Lernorte wechselseitig zum Lern- bzw.
Funktionsfeld. Von den Lernenden werden Berufsfachschule und Lehrbetrieb oft
als zwei gänzlich unterschiedliche Lernorte wahrgenommen (Affolter-Huber &
Richner, 2008). Die Zusammenarbeit zwischen Berufsfachschule und Lehrbe-
trieb bei der Erstellung von Jahresplänen sowie die fortlaufende Information der
Berufsbildnerin bzw. des Berufsbildners darüber, welcher Stoff in der Berufs-
fachschule durchgenommen wird, scheinen von zentraler Wichtigkeit zu sein.
Beim Wissenstransfer besteht die Möglichkeit unvollständiger Übermittlung
oder fehlender Übereinstimmung, sodass nicht das gesamte erworbene Wissen
im Funktionsfeld angewendet werden kann. Trotz dieser Gefahr hat sich die
duale Ausbildung bewährt. Da in Berufsfachschulen ökonomisch (eine Lehrper-
son unterrichtet viele Lernende) und systematisch (Curricula) komplexes, berufs-
relevantes Wissen vermittelt wird, können sich die Lehrbetriebe auf die Vermitt-
lung von betriebsspezifischem und praxisrelevantem Wissen konzentrieren. Die-
se Aufgabenteilung ist so effektiv, dass damit in der Regel ihre Vorteile die Ein-
bußen durch den Lerntransfer überwiegen.
206 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
Ein weiterer Vorteil der Berufsfachschule besteht darin, dass dieser Lernort
nicht im produktiven Wertschöpfungsprozess steht und damit eine klare
Fokussierung auf die Ausbildung der Lernenden möglich ist. Die Dualität von
Schule und Betrieb führt einerseits zu einem Abstand zwischen Lern- und Funk-
tionsfeld (sogenannte Transferdistanz) und damit zu Schwierigkeiten bei der
Anwendung von Gelerntem (Staehle, Syndow & Conrad, 1999). Die distanz (die
zeitliche, geografische und inhaltliche Entfernung zwischen den Lernorten)
fördert andererseits die Unabhängigkeit der Lernenden (Mentzel, 2005), was die
Lernleistung verbessert. Gleichwohl gilt: Je größer der Abstand zwischen Theo-
rie und Anwendung zeitlich, lokal und inhaltlich ist, desto mehr Schwierigkeiten
müssen beim Lerntransfer bewältigt werden (Staehle et al., 1999).
In der Literatur werden verschiedene Transferkonzepte diskutiert. Beispiels-
weise sagt die Ähnlichkeit von Lern- und Funktionsfeld, obwohl oft untersucht,
wenig darüber aus, wie der Lerntransfer gefördert werden kann (Mandl, Prenzel
& Gräsel, 1992). Wichtig sind neben der Ähnlichkeit auch Differenzen zwischen
dem Lern- und Funktionsfeld (Marton, 2006) sowie zwischen dem Kontext, in
dem gelernt wird, und dem Kontext der Anwendung (Bredo, 1994). Greeno,
Collins und Resnick (1996) umschreiben Denken und Lernen als situiert. Der
Transfer von Wissen in andere Systeme bedingt, dass Lern- und Denkprozesse in
anderen Systemen angepasst werden müssen. Es gilt nun festzustellen, welche
Umstände den Lerntransfer unterstützen bzw. hemmen. Transfererfolg setzt
voraus, dass Lerninhalte und die zeitliche Abfolge der Lerninhalte zwischen
Berufsfachschule und Lehrbetrieb koordiniert werden. Der Transfer von Wissen
aus einem arbeitsplatzfernen Umfeld (Schule) in den Betrieb geschieht nicht von
selbst, sondern setzt zusätzliche Anstrengung voraus. Die Kognitionspsychologie
beschreibt den Wissenstransfer als Prozess, in welchem von Lernenden
gespeichertes Wissen in einer anderen Situation und zu einem anderen Zeitpunkt
angewendet wird (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl, 1996). Aus konstruktivis-
tischer Sicht wird das Wissen sowohl in der Lern- als auch in der Anwendungs-
situation neu konstruiert (Duffy & Jonassen, 1992), weshalb der proaktive
Wissenserwerb zentrale Voraussetzung für die Anwendung ist.
Der Typ A „Schultag pro Woche“ gemäß der oben eingeführten Ausbil-
dungsmodelle hat sich über die Jahre bewährt und zeigt organisatorische, zwi-
schenmenschliche und auf der persönlichen Erlebnisebene angesiedelte Vorteile:
Er zeichnet sich durch die synchronen Übergänge zwischen Familie, Schule und
Lehrbetrieb aus, welche sich innerhalb einer Woche mehrmals ereignen. Durch
dieses kontinuierliche Pendeln zwischen den Kontexten wird die Grundlage
dafür geschaffen, dass das in einem Lernkontext erlernte Wissen rasch in einem
anderen Kontext angewendet werden kann. Die Arbeits- und Lernphasen erleben
eine wiederkehrende, rhythmisierte Abfolge, was den Transferprozess unter-
7.1 Ausbildungsmodelle 207
stützt. Ähnlich verhält es sich bei den Typen D „Degressiv“ und F „Praktika“:
Der Transfer von beruflichem Wissen in berufliches Handeln geschieht innerhalb
kurzer Zeit.
Anwendung findet das neu erworbene Wissen nicht nur am Arbeitsplatz,
sondern auch in der Familie verschiedenen, alltäglichen Beschäftigungen im
Haushalt und in der Freizeitgestaltung. Dies kann in berufsnahen Tätigkeiten
sein: Der Bäcker-Konditor stellt ein Dessertbuffet für das Familienfest zusam-
men, die Elektromonteurin verlegt ein neues Stromkabel im Haus. Umgekehrt
beeinflussen Kompensationsprozesse wie Erholung und Entspannung in der Fa-
milie sowie motivierende und kognitiv stimulierende Anlässe in der Familie das
Lernen in Berufsfachschule und Lehrbetrieb. Insgesamt beeinflussen Soziali-
sationsprozesse in der Familie den Lernprozess, die Leistungen und die Bil-
dungswege in die Erwerbstätigkeit erheblich (vgl. Kapitel 5.4, Kapitel 6.5.1).
7.1.3 Lehrbetriebsverbund
Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) haben oft nicht die Mög-
lichkeit, alle Auflagen für die Ausbildung eines Lernenden zu erfüllen. Mit der
Mitgliedschaft in einem Lehrbetriebsverbund können diese Unternehmen den-
noch Lernende ausbilden. Die Lehrverträge und die Administration werden über
den Verbund abgewickelt; zudem besteht die Möglichkeit, den Lehrbetrieb zu
wechseln.
Das wirtschaftliche Umfeld lässt es nicht immer zu, dass die Firmen über
mehrere Jahre im Voraus wissen, ob genügend Aufträge bis zum Ende der
Ausbildung der Lernenden vorhanden sein werden. Verantwortungsvolle Berufs-
bildende prüfen die längerfristige Auftragslage, bevor sie eine Lehrstelle
vergeben. Im Lehrverbund muss der einzelne Betrieb nicht eine über Jahre
hinaus gesicherte Auftragslage haben, sodass einzelne Betriebe im Rahmen eines
Verbundes eher eine Berufslehre anbieten können. Für die Lernenden ergeben
sich damit mehr Lehrstellen, sichere Ausbildungsmöglichkeiten und ein Netz-
werk, das ihnen professionell hilft, ihre Lehre mit guten Qualifikationen
abzuschließen.
Die Ausbildung in einem Lehrbetriebsverbund übernehmen mehrere
Ausbildungsbetriebe. Damit sind eine Reihe von Chancen und Herausfor-
derungen verbunden. Durch die Koordinationsstelle oder den Leitbetrieb ergeben
sich Chancen der zusätzlichen, fachlichen Betreuung. Bei Problemen kann die
Stelle oder der entsprechende Betrieb eine vermittelnde Rolle einnehmen oder in
konflikthaften Fällen einen neuen Lernort vermitteln. Den Ausbildenden stehen
Ansprechpersonen zur Verfügung. In einigen Lehrbetriebsverbünden wechseln
208 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
die Lernenden in einem bestimmten Turnus die Abteilung oder den Lehrbetrieb
und erhalten so Einblick in verschiedene Aufgabenbereiche. Da diverse Personen
beteiligt sind, besteht das Risiko der Verantwortungsdiffusion, wenn die Zustän-
digkeiten nicht klar geregelt sind. Die Jugendlichen brauchen Zeit, sich in einer
großen und unübersichtlichen Organisation zurechtzufinden. Zudem müssen sie
sich mehrmals von einem Lernort und den jeweiligen Bezugspersonen verab-
schieden und offen sein für ein neues Umfeld.
7.1.4 Fazit
Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept wird durch die Person selbst, die Familie,
den Lehrbetrieb und die Berufsfachschule (vgl. Abbildung 7.1) beeinflusst. Im
Folgenden sollen Bedingungen aus den vier Bereichen empirisch untersucht
werden, welche die Veränderung des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts vom
zweiten zum dritten Lehrjahr erklären können.
Person Familie
Berufliches
FSK
Berufsfach-
Lehrbetrieb
schule
Wir vermuten, dass es Jugendlichen, welche über positivere Werte in den vier
Aspekten (Person, Familie, Lehrbetrieb und Berufsfachschule) verfügen, leichter
fällt, berufsbezogene Fähigkeitsselbstkonzepte zu entwickeln, als Jugendlichen,
welche tiefere Werte aufweisen (vgl. zur Passungswahrnehmung Gerber-Schenk,
Rottermann & Neuenschwander, 2010). Zudem wird angenommen, dass bei
diesen Jugendlichen die Ausprägung des Fähigkeitsselbstkonzepts stärker
wächst.
Zur Überprüfung dieser Thesen wurde aus den vier Aspekten jeweils ein
Faktor ausgewählt. Im Folgenden wird die Wahl der Faktoren begründet, zudem
wird die Operationalisierung der Faktoren näher beschrieben (vgl. auch Kapitel
4). 1). Für den persönlichen Bereich wurde der Selbstwert als Faktor bestimmt.
Der Selbstwert bezeichnet die globale Bewertung, welche die Person von sich
selbst hat (Rosenberg, 1979) und ist die evaluative Dimension des Selbst-
konzepts (Dalbert & Stöber, 2008). Die Ausprägung des Selbstwerts wurde mit
verschiedenen Fragen erhoben; es folgen zwei Beispiele: „Ich nehme mir
gegenüber eine positive Haltung ein“ und „Ich habe das Gefühl, ein wertvoller
Mensch zu sein, mit anderen mindestens auf gleicher Stufe zu stehen“. 2) Für
7.2 Beitrag der Lernorte zum Erfolg 211
212
Berufliches FSK M (SD)
2
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr F df
Person: hoch 3.12 (.34) 3.23 (.40) HF Gruppe 34.1 *** 1, 494 .07
Selbstwert tief 2.92 (.28) 3.10 (.40) HF Zeit 80.3 *** 1, 494 .14
Interaktion 3.3 ns 1, 494 .01
Familie: hoch 3.09 (.34) 3.26 (.39) HF Gruppe 35.8 *** 1, 490 .07
Elternbeziehung tief 2.95 (.30) 3.07 (.39) HF Zeit 81.3 *** 1, 490 .14
Interaktion 2.2 ns 1, 490 .00
Berufsfachschule: hoch 3.18 (.34) 3.42 (.47) HF Gruppe 0.0 ns 1, 479 .00
Klassenführung tief 3.18 (.33) 3.43 (.43) HF Zeit 148.0 *** 1, 479 .24
Deutsch Lehrperson Interaktion 0.0 ns 1, 479 .00
Lehrbetrieb: hoch 3.25 (.33) 3.50 (.42) HF Gruppe 25.5 *** 1, 485 .05
Zufriedenheit mit tief 3.11 (.32) 3.34 (.45) HF Zeit 149.7 *** 1, 485 .24
Ausbildner/-in Interaktion 0.4 ns 1, 485 .00
Legende: 2: Varianzaufklärung, ns: nicht signifikant, *** p < .001.
Lesebeispiel: Bei der Gruppe der Lernenden mit hohem Selbstwert steigt der Mittelwert des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts
von 3.12 im zweiten Lehrjahr auf 3.23 im dritten Lehrjahr; in der Gruppe mit tiefem Selbstwert von 2.92 auf 3.10. Der Hauptef-
fekt Gruppe ist bei einem F-Wert von 34.1 statistisch bedeutsam (p < .001), 7 Prozent der Varianz wird erklärt.
7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
7.2 Beitrag der Lernorte zum Erfolg 213
4
berufliches Fähigkeitsselbstkonzept
2.92 3.10
3
3.23
3.12 hoher Selbstwert
tiefer Selbstwert
1
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr
Des Weiteren zeigen die Befunde zu den Bereichen Familie und Lehrbetrieb
signifikante Gruppenunterschiede. Die Ausprägung des beruflichen Fähigkeits-
selbstkonzepts steigt signifikant vom zweiten zum dritten Lehrjahr an. Aber es
treten keine Interaktionen auf (vgl. Tabelle 7.2). Lernende mit guter Elternbezie-
214 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
Da sich das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept während der Lehre als sehr stabil
erwiesen hat, lohnt sich die Analyse dessen, wie das berufliche Fähigkeitsselbst-
konzept in der Volksschule entsteht. Wir vermuten, dass schulische und außer-
schulische Bedingungen in der Sekundarstufe I wichtige Voraussetzungen für
eine hoheAusprägung des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts sind. Interessant
ist insbesondere, wie die fachlichen Fähigkeitsselbstkonzepte in Deutsch und
Mathematik das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept vorhersagen können, und
inwiefern familiäre Sozialisationsbedingungen vor Lehrbeginn bedeutsam sind.
Um die beiden Fähigkeitsselbstkonzepte Deutsch und Mathematik zu
erfassen, wurden die Jugendlichen um die Selbsteinschätzung ihres schulischen
Leistungsvermögens im jeweiligen Fach gebeten. Es geht nicht um die tat-
sächliche Leistung, sondern darum, wie gut die Schülerinnen und Schüler die
eigenen fachlichen Leistungen einschätzen. Zwei Beispielitems sollen dies
verdeutlichen. Die Schülerinnen und Schüler gaben auf einer vier-Punkte-Skala
an, wie stark die Aussagen auf sie zutreffen: „Ich bin in Deutsch gut“ und „Es ist
leicht für mich, im Mathematikunterricht mitzumachen“.
Hausaufgaben können zu einem Konfliktherd zwischen Eltern und
Jugendlichen werden (Wild, 2004), vor allem, wenn die Kinder die Leistungs-
erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen (Trautwein, 2008). Daher wird angenom-
men je geschickter die Eltern mit Schwierigkeiten ihrer Kinder bei schulischen
Aufgaben umgehen, desto besser entwickelt sich das schulische Fähigkeitsselbst-
konzept. Die Hausaufgaben-Konflikte wurden unter anderem mit den folgenden
Fragen erhoben: „Wie häufig hast du mit deinen Eltern wegen den Hausaufgaben
Streit?“ und „Wie häufig werden deine Eltern ungeduldig, weil du die Hausauf-
gaben nicht kannst?“.
Eltern machen sich Gedanken über die Leistungen ihres Kindes in der
Schule. Die Erwartungen der Eltern wirken sich auf das Verhalten ihres Kindes
aus. Die Jugendlichen wurden gefragt, welche Erwartungen ihre Eltern an sie im
Vergleich zur Klasse richten würden, ob sie zu den Besten, zur besseren Hälfte
218 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
oder zum Durchschnitt gehören. Dieser Faktor wird als soziale Leistungser-
wartung bezeichnet.
Studien zeigen schwache, aber konsistente Zusammenhänge zwischen der
Strukturierung der Inhalte durch die Lehrpersonen und der Leistungsentwicklung
der Schülerinnen und Schüler (zum Beispiel Weinert & Helmke, 1997). Mithilfe
einer Selbsteinschätzung der Lehrpersonen der befragten Schülerinnen und
Schüler (Lehrerbefragung im Jahr 2002) wurden folgende Themen erfasst:
Strukturierung der Inhalte im Unterricht und Leistungsanforderungen an die
Schülerinnen und Schüler. Beispielitems für Strukturierung: „Im Unterricht
werden von mir wichtige Inhalte und Ergebnisse zum Abschluss einer Sequenz
prägnant zusammengefasst“ und „Im Unterricht werden von mir oft Hinweise
auf bereits bearbeiteten Stoff gegeben.“ Beispielitems für Leistungsanforde-
rungen: „Bei der Leistungsbeurteilung verwende ich meist einen höheren Maß-
stab als meine Kolleginnen und Kollegen“ und „Ich möchte, dass in meinen
Klassen überdurchschnittliche Leistungen erbracht werden.“ Es sollte das beruf-
liche Fähigkeitsselbstkonzept im zweiten Lehrjahr vorhergesagt werden. Die Be-
rechnungen der Regressionsanalysen wurden mit den Daten der Teilstichprobe
der Jugendlichen der ersten Kohorte, die zum ersten und zweiten Messpunkt in
den Jahren 2002 und 2006 an der Studie teilgenommen haben, durchgeführt.
Den größten Beitrag zur Erklärung des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts
im zweiten Lehrjahr leistet das Fähigkeitsselbstkonzept in Deutsch. Zudem
zeigen die Hausaufgabenkonflikte mit den Eltern und die Strukturierung der
Unterrichtsinhalte durch die Lehrperson einen negativen Einfluss (Tabelle 7.4).
Fähigkeitsselbstkonzepte sind (schul-)fachspezifisch bzw. bereichsspezi-
fisch, was eher geringe Korrelationen zwischen einzelnen Fähigkeitsselbstkon-
zepten vermuten lässt (Shavelson, Hubner & Stanton, 1976). Eine Kontinuität
zwischen Schule und Beruf wird eher nicht erwartet, weshalb die gute Vorher-
sage durch das fachliche Fähigkeitsselbstkonzept erstaunt. Das berufliche Fähig-
keitsselbstkonzept wird entscheidend durch die Ausprägung des schulischen
Fähigkeitsselbstkonzepts im Fach Deutsch, aber nicht durch das Fähigkeits-
selbstkonzept in Mathematik, durch die Hausaufgabenkonflikte als Indikator für
Eltern-Kind-Konflikte und durch die didaktische Strukturierung der Lerninhalte
durch die Lehrpersonen geprägt. Offenbar ist vor allem sprachliche Kompetenz
(kommunizieren, lesen, sprechen, schriftliche und mündliche Aufträge verste-
hen) für das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept wichtig.
7.2 Beitrag der Lernorte zum Erfolg 219
7.2.4 Fazit
Eine wichtige Bedingung für gelungenes Berufshandeln ist die Einschätzung der
eigenen beruflichen Fähigkeiten. Wie die Befunde zeigen, basiert das berufliche
Fähigkeitsselbstkonzept stark auf dem schulischen Selbstkonzept in der Unter-
richtssprache (Deutsch). Das Fähigkeitsselbstkonzept wird aber sowohl vor als
auch während der Berufsbildung zusätzlich durch familiäre Faktoren beeinflusst.
Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept ist sehr stabil. Es ist aber auch durch
Variablen in der Berufsfachschule und im Lehrbetrieb beeinflussbar. Offenbar
haben Lehrpersonen der Berufsfachschule und Ausbildende in den Lehrbetrieben
220 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
7.3 Lehrvertragsauflösungen
Lehrvertragsauflösung
(N = 2082; 25 % der Lernenden mit
Lehrbeginn 1993)
Abbruch
(23 %)
direkter Wechsel
(29 % /22 %) Abstieg Ausstieg
(13 %/3 %) (87 %/20 %)
kurzfristiger Unterbrechung
(20 %/15 %)
langfristiger Unterbrechung
(29 %/ 23%)
sucht, in 19 Prozent ist der Kontakt beidseitig initiiert worden“ (Stalder &
Schmid, 2006, S. 72).
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen findet innerhalb von zwei Monaten nach
der Vertragsauflösung eine neue Lehrstelle. Schlechtere Chancen haben vor
allem jene Jugendliche, die bereits mehr als eine Lehrvertragsauflösung erlebt
haben, schulisch leistungsschwach sind oder einer anderen Nationalität angehö-
ren (Schmid & Stalder, 2008). Jugendliche, die von verschiedenen Seiten (El-
tern, Kolleginnen und Kollegen, Berufsbildner/-innen, Lehrpersonen, Berufsbe-
rater/-innen etc.) unterstützt werden oder ein Motivationssemester besuchen,
haben größere Chancen, einen Lehrabschluss zu erreichen. Über 80 Prozent der
Jugendlichen, welche von einer Lehrvertragsauflösung betroffen sind, wollen ein
Zertifikat der nachobligatorischen Ausbildung erwerben (Schmid & Stalder,
2008), was zeigt, dass diese Jugendlichen ihre beruflichen Ziele nicht aufgege-
ben haben, sondern motiviert sind, sich für eine berufliche Qualifikation zu en-
gagieren.
Fast 90 Prozent der Jugendlichen mit Lehrvertragsauflösung haben ein Mal
oder mehrere Male mit Eltern über ihre spätere berufliche Grundbildung
gesprochen und etwa drei Viertel der Jugendlichen werden von ihren Eltern bei
der Suche nach einem neuen Ausbildungsplatz unterstützt (Stalder & Schmid,
2006). Auch für weitere Hilfe wendet sich fast die Hälfte der Jugendlichen an
ihre Eltern und bespricht mit ihnen zusammen mögliche Lösungen. Besonders
wichtig war ein solches Gespräch für die Jugendlichen ohne Anschluss“ (Schmid
& Stalder, 2007, S. 46). Diese Befunde legen nahe, dass die Eltern eine wichtige
Ressource bei der Bewältigung der Lehrvertragsauflösung und der Fortführung
der Ausbildung sind. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Eltern über genügend
Hintergrundwissen verfügen, um ihre Kinder zu unterstützen und anzuleiten, sich
an die richtigen Stellen zu wenden. Andere Bezugspersonen wie Freunde,
Verwandte oder Lehrpersonen werden weniger oft als Unterstützungspersonen
genannt. Wie Schmid und Stalder (2008) herausstreichten, brauchen Jugendliche
nach Lehrvertragsauflösungen eine enge Begleitung, bis sie eine neue Lehrstelle
gefunden und den Lehrabschluss erreicht haben. In vielen Fällen können diese
Begleitung die Eltern gewährleisten. In den anderen Fällen wäre eine
professionelle Begleitung (professionelles Mentoring) wünschenswert.
In der Untersuchung von Süss et al. (1996) schilderten 40 Prozent der Ju-
gendlichen, welche von einer Lehrvertragsauflösung betroffen waren, belastende
Familienverhältnisse: Trennung oder Scheidung der Eltern, Konflikte mit Stief-
7.3 Lehrvertragsauflösungen 225
7.3.4 Fazit
7.4 Lehrabschlussprüfung
der Durchfallquote zwischen der Art der Ausbildung (Tabelle 7.5), den Kanto-
nen, den Ausbildungsfeldern und den Geschlechtern (Tabellen 7.6 und 7.7).
Im Jahr 2008 traten fast 87 Prozent aller Kandidierenden zur Lehrab-
schlussprüfung für das eidgenössische Fähigkeitszeugnis EFZ an (vgl. Tabelle
7.5). Von ihnen reüssierten im ersten Anlauf knapp 91 Prozent.
Die beruflichen Mittelschulen wiesen eine Durchfallquote von über
10 Prozent und Prüfungen, die zu anderen Fähigkeitszeugnissen führen, welche
nicht durch das Berufsbildungsgesetz BBG reglementiert sind (zum Beispiel
Pflegeassistentin/ Pflegeassistent) von fast 8 Prozent auf. Das Eidgenössische
Berufsattest EBA und die Anlehre hatten aber deutlich niedrigere Durchfall-
quoten. Die Geschlechtsunterschiede waren zum Teil beachtlich und meist zu-
ungunsten der Männer. Ein außergewöhnlicher Befund ergab sich für die
Abschlussprüfung der Attestausbildung in den Kantonen Genf und Tessin. Im
Kanton Genf fielen 20 Prozent und im Kanton Tessin 47 Prozent der Abschluss-
kandidierenden EBA bei der Prüfung durch, während in den anderen Kantonen
alle Kandidierenden die Abschlussprüfung bestanden. In den beiden Kantonen
waren vor allem Lernende aus den Berufsfeldern „Gastgewerbe und Catering“
sowie „Sekretariats- und Büroarbeit“ vom Nichtbestehen betroffen.
Die Tabelle 7.6 zeigt die Durchfallquoten der EFZ-Lehrgänge beim ersten
Durchgang nach Kantonen geordnet. Kleinere und innerschweizerische Kantone
weisen tendenziell niedrige Durchfallquoten (2 bis 6 Prozent) auf. Die Kantone
der lateinischen Schweiz verzeichnen überdurchschnittlich hohe Durchfallquoten
7.4 Lehrabschlussprüfung 229
(10 bis 20 Prozent). In allen Kantonen außer dem Jura schneiden die Frauen
deutlich besser ab als die Männer. Die Frauen können demnach ihren Vorteil aus
der obligatorischen Schule (vgl. Kapitel 5.2.2; Zahner, Rossier & Holzer, 2007)
in der dualen Berufsbildung konservieren. Ähnliche Befunde hinsichtlich der
beiden Geschlechter liegen ebenfalls für die Maturaprüfungen der Gymnasien
vor, denn auch dort bestehen mehr Maturandinnen als Maturanden die Prüfungen
(Gallizzi, 2009; Buschor, Denzler & Keck, 2008).
In der Tabelle 7.7 werden die Durchfallquoten nach den Berufsfeldern
differenziert gezeigt. Wiederum zeigen sich deutliche Geschlechtereffekte.
Tendenziell weisen männerdominierte Berufsfelder eine höhere Durchfallquote
als frauendominierte Berufsfelder auf, wobei dies für „Maschinenbau und
Metallverarbeitung“, „Werkstoffe“ und „Elektronik und Automation“ nicht gilt.
In den Berufsfeldern „Maschinenbau und Metallverarbeitung“, „Informatik“,
„Pflanzen und Tierzucht“ sowie „Design“ sind Männer sogar weniger vom
Nichtbestehen der Lehrabschlussprüfung betroffen als Frauen. Eine fundierte
Interpretation der Durchfallquote erweist sich als schwierig, weil die Berufs-
felder jeweils Berufe mit unterschiedlichem Anforderungsniveau und
unterschiedlicher Lehrdauer umfassen. Weiter wurden die Repetierenden
ausgeschlossen. Lernende, welche zum zweiten Mal antreten, haben eine höhere
Wahrscheinlichkeit, nochmals durchzufallen als diejenigen, welche zum ersten
Mal antreten (Amos et al., 2003a).
In der Vertiefungsstudie gelap untersuchten Amos et al. (2003b) die
Lehrabschlussprüfung folgender sechs Berufe im Detail: Automechaniker/Auto-
mechanikerin, Coiffeur/Coiffeuse, Detailhandelsangestellte/Detailhandelsange-
stellter, Informatiker/Informatikerin, Koch/Köchin und Schreiner/ Schreinerin.
Es wurden die Prüfungen in den Kantonen Bern, Luzern, Aargau, Neuenburg
und Genf genauer betrachtet. Große Unterschiede zeigen sich nach Sprachregion,
nach Kanton oder Prüfungskreis, nach Prüfungsort, betreffend des zeitlichen
Umfangs und der zeitlichen Gliederung der Prüfung, bezüglich der Stoffauswahl
sowie hinsichtlich der Bewertungssysteme.
Die schriftlichen Prüfungen sind gesamtschweizerisch eher einheitlicher
gestaltet und daher untereinander vergleichbarer als die praktischen Prüfungen,
die kantonal oder regional vorbereitet, durchgeführt und bewertet werden. Bei
den mündlichen Prüfungen werden in dieser Hinsicht die größten Unterschiede
beobachtet, da sie in höherem Maß von den einzelnen Expertinnen und Experten
gestaltet werden.
Es könnte sein, dass die Anforderungen in den Lehrabschlussprüfungen mit
den Anforderungen bei der Lehrlingsselektion noch nicht bei allen Berufen gut
abgestimmt sind. Diese geringe Koordination könnte die hohe Durchfallquote
miterklären. In Interviews im Frühling 2010 äußerten sich Fachpersonen aus dem
230 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
Tabelle 7.7 (Fortsetzung): Durchfallquote LAP (nur EFZ) im Jahr 2008 nach
Ausbildungsfeld und Geschlecht
Tabelle 7.7 (Fortsetzung): Durchfallquote LAP (nur EFZ) im Jahr 2008 nach
Ausbildungsfeld und Geschlecht
15 Mit Funktion ist hier eine Aufgabe im Sinne von Aufgabenzuschreibung gemeint. Eine Zu-
schreibung enthält einen normierenden (präskriptiven) und einen beschreibenden (deskriptiven)
Aspekt. Die Aufgabe wird zur Norm, wenn sie erfüllt werden soll. Sie ist beschreibend, wenn
damit die Tätigkeit gemeint ist.
7.5 Zusammenarbeit von Berufsfachschule und Lehrbetrieb 235
Anders sieht die Funktion der Berufsfachschule aus. Der Auftrag der
Berufsfachschule lautet gemäß Berufsbildungsgesetz BBG:
Die Berufsfachschule vermittelt die schulische Bildung. Diese besteht aus berufli-
chem und allgemeinbildendem Unterricht. Die Berufsfachschule hat einen eigen-
ständigen Bildungsauftrag; sie fördert die Entfaltung der Persönlichkeit und die So-
zialkompetenz der Lernenden durch die Vermittlung der theoretischen Grundlagen
zur Berufsausübung und durch Allgemeinbildung (BBG 2002, Art. 21 §1 und 2a).
80
70
Kontaktanlässe in Prozen
60
50
Ausbildende
40 75
68 Lehrpersonen
30
54 50 51
47
20
33
27
10 20 15 3
9
0
Lernschwierigkeiten Disziplinprobleme Zwischen-/Abschluss-zeitliche/organisato- inhaltliche Ausbildung-
prüfungen rische Abstimmung Abst imm ung /Unterrricht sm et hoden
Auf welchen vier Ebenen die Zusammenarbeit zwischen den Lernorten gesche-
hen kann, zeigt Günter Pätzold im Buch „Lernortkooperation - Stand und Per-
spektiven“ (Pätzold & Walden, 1999). Er postuliert vier mögliche Varianten, wie
die Lernortkooperation verstanden werden kann: 1) Pragmatisch-formales Koo-
perationsverständnis: Die Lernortkooperation beschränkt sich auf die Absprache
7.5 Zusammenarbeit von Berufsfachschule und Lehrbetrieb 237
16 Wir bedanken uns herzlich bei der stellvertretenden Geschäftsführerin der Zentralschweizeri-
schen Bildungskonferenz für das Telefoninterview vom 1.9.2009.
238 7 Übergänge während der dualen Berufsbildung
kennzeichnet ist. Bei Schneewind (1998) ist die Familie17 bestimmt durch das
Prinzip des gemeinsamen Lebensvollzugs als intimes Beziehungssystem
zwischen Personen verschiedener Generationen, welches das soziale System Fa-
milie von anderen sozialen Systemen unterscheidet. Dafür sind vier Facetten
entscheidend: 1) Familien sind privat und werden nur marginal staatlich
reguliert, 2) die Beziehungen in der Familie sind in der Regel dauerhaft, 3) Fami-
lienmitglieder grenzen sich explizit von anderen Personen ab (ingroup-outgroup)
und 4) in vielen Familien gibt es physische und emotionale Intimität, zumindest
in bestimmten Lebensphasen. Familien haben wesentlich die Funktionen der
Reproduktion (Nachwuchs erzeugen) und der Sozialisation (Nachwuchs pflegen
und erziehen). Überdies regenerieren sich die Familienmitglieder in der Familie
(Erholung, Gesundheit, gilt insbesondere für Männer), helfen einander und
geben sich gegenseitig emotionale Stabilität.
Während Eltern bei schulischen Selektionsverfahren beim Übergang in die
Sekundarstufe I in der Regel wesentlich beraten und mitreden (Kapitel 5.2),
nimmt ihr expliziter Einfluss mit dem Eintritt in die Berufslehre und an der
zweiten Schwelle ab. Die Familie beschränkt sich zunehmend auf eine
informelle Beratung ihrer Kinder. Dies hängt mit den unterschiedlichen Selek-
tionsverfahren zusammen, die in den schulischen und beruflichen Kontexten
angewendet werden: Übertritte zwischen staatlichen Schulen basieren auf
öffentlichen Regelungen, die rekursfähig sein müssen. Viele Kinder werden zu
den einzelnen Schulniveaus zugelassen; dies ist nicht Einzelpersonen vorbe-
halten. Bei beruflichen Selektionsprozessen gelten hingegen Regeln des
Arbeitsmarktes: Arbeitgebende wählen Mitarbeitende abschließend nach eige-
nen, mehr oder weniger transparenten Regeln und ohne Rekursmöglichkeit aus.
Die Verfahren werden von den Betrieben festgelegt. Stellen werden in der Regel
an Einzelpersonen vergeben. Persönliche Beziehungen der Eltern zu Arbeitge-
benden kommen stärker zum Tragen. Tabelle 7.8 fasst die Funktionen der
Lehrbetriebe, der Berufsfachschule und der Familie zusammen und grenzt sie
voneinander ab.
Normativ kann von der Zusammenarbeit von Familie, Berufsfachschule und
Lehrbetrieb erwartet werden, dass durch sie ein Umfeld geschaffen wird, in dem
sich Jugendliche zur Selbstständigkeit entwickeln und ihre berufspraktischen und
theoretischen Kompetenzen erweitern. Dafür sind Wissen über den jeweils
anderen Kontext und die Akzeptanz der Aufträge der einzelnen Lernorte
Voraussetzungen. Der Austausch von Informationen über Lernfortschritte,
besondere Anlässe etc. sorgt einerseits bei Problemen für eine gute Beziehung
sich die Frage, ob eine stärkere Einbindung der Eltern in die Ausbildung die
Identifikation der Jugendlichen mit der Arbeitswelt erhöht und zu höherer
Motivation, besseren Leistungen und zu weniger Lehrvertragsauflösungen,
Ausbildungsabbrüchen sowie einer niedrigeren Durchfallquote bei der
Lehrabschlussprüfung führen könnte.
7.7 Schlussfolgerungen
passen aber ihre Ziele an, wenn sie ihre ursprünglich gesetzten Ziele nicht
erreichen können (Brandstädter & Renner, 1990; Heckhausen & Schultz, 1995;
Lerner & Walls, 1999). Aus dieser Perspektive ist der Übergang in die
Erwerbstätigkeit nach der Berufslehre mit Stress und Belastungen verbunden.
Eine erfolgreiche Bewältigung des Übergangs hat aber auch positive Auswirkun-
gen auf das Selbstkonzept der jungen Erwachsenen. An der zweiten Schwelle
übernehmen junge Erwachsene eine neue soziale Rolle als Erwerbstätige und
erlangen ökonomische Selbstständigkeit.
Auch arbeitspsychologische Theorien zur Berufs- und Organisations-
sozialisation beschäftigen sich mit dem Übergangsprozess in einen Beruf
respektive in einen neuen Betrieb (Feij, 1998). Die Sozialisation in einen Betrieb
wird als Transformationsprozess verstanden, in welchem Rollen, Werte,
Fähigkeiten und Verhaltensweisen erworben werden, die für die Arbeit in einem
Betrieb nötig sind. Dabei wird nicht ein einseitiger, passiver Anpassungsprozess
der Person an die Vorgaben des Betriebs postuliert. Denn Personen verhalten
sich beim Eintritt in den neuen Betrieb (pro-)aktiv. Das heißt, die neuen
Mitarbeitenden handeln antizipatorisch, mit dem Ziel, sich selbst oder ihre
Umwelt zu verändern (Grant & Ashford, 2008). Es wird also von einer
gegenseitigen Beeinflussung von Person und Organisation ausgegangen (vgl.
Kapitel 3.2: Person im Kontext). Die Person versucht aktiv herauszufinden,
welche Verhaltensweisen im neuen Betrieb von ihr erwartet werden. Sie passt
sich an den neuen Betrieb an, bringt aber durch ihre Handlungen und bisherigen
Erfahrungen Neues in den Betrieb ein und trägt damit zur Veränderung des
Betriebes bei. Nach der Berufslehre stehen viele junge Erwachsene vor einem
doppelten Übergang: Sie übernehmen neu die Rolle als Berufsfachperson und
gleichzeitig integrieren sie sich in einen neuen Betrieb. Obwohl diese Situation
junge Erwachsene belastet, profitieren sie insgesamt vom Wechsel und steigern
sogar ihre berufliche Zufriedenheit (Kälin, Semmer, Elfering, Tschan,
Dauwalder, Heunert et al., 2000).
Verschiedene soziologische und psychologische Theorien (Übersicht in
Maaz et al., 2006) stellen Bildungsentscheidungen in den Mittelpunkt ihrer
Analysen (vgl. Kapitel 3.3). Sie gehen davon aus, dass Personen rationale
Kosten-Nutzen-Kalkulationen vornehmen, um eine Bildungsentscheidung zu
treffen, bzw. sie postulieren, dass die Werte und Erwartungen einer Person zu
einer bestimmten Bildungsentscheidung führen. Im Unterschied zu früheren
Übergängen treffen, die jungen Erwachsenen selbstständig die Entscheidung
über ihren weiteren beruflichen Weg. Dennoch haben Eltern als soziale
Ressourcen weiterhin Einfluss auf die Entscheidungsfindung (vgl. Kapitel 3.2).
Eine Besonderheit des Übergangs nach der Berufslehre ist, dass neben den
Bildungsinstitutionen der Arbeitsmarkt den weiteren Berufsweg beeinflusst (vgl.
8 Übergänge nach der Berufslehre 249
Kapitel 2.1 und 3.1). Während an der ersten Schwelle die Jugendlichen mit
Gleichaltrigen um Ausbildungsplätze konkurrieren, stehen die jungen Er-
wachsenen nach der Berufslehre mit allen Erwerbstätigen im Wettbewerb um
Arbeitsplätze. Um erfolgreich zu sein, benötigen sie gute Stellensuchstrategien
und motivationale Ressourcen. Forschung zur Stellensuche konzeptualisiert diese
als zielgerichtetes Handeln, welches durch selbstregulierte, motivationale
Prozesse gesteuert ist und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bezweckt (Saks,
2005). Dabei beeinflussen das Geschlecht, biografische Merkmale (zum Beispiel
die Ausbildung), psychologische Merkmale (zum Beispiel Selbstwirksamkeit,
wahrgenommene Kontrolle und Fähigkeiten) sowie situationale Variabeln (wie
zum Beispiel soziale Unterstützung und Einschränkungen bei der Stellensuche)
die berufliche Zielsetzung und das Verhalten bei der Stellensuche. Die Intensität
der und Anstrengung bei der Stellensuche oder die Networking-Intensität
erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Stellensuche (Kanfer,
Wanberg & Kantrowitz, 2001; Saks, 2005; Wanberg et al., 1999).
Vertreter des „Employability“-Ansatzes (Fugate, Kinicki & Ashforth, 2004)
gehen davon aus, dass in der heutigen, sich schnell wandelnden Arbeitswelt die
Fähigkeit berufliche Chancen wahrzunehmen und umzusetzen (= Employability)
für Arbeitnehmende unabdingbar ist. Employabilität besteht aus drei Aspekten,
welche für die Stellensuche entscheidend sind: (1) Karriere-Identität: Gedankli-
che Vorstellung von der eigenen bisherigen berufliche Erfahrungen (wer bin
ich?) und den beruflichen Wünschen (wohin möchte ich?), (2) Persönliche
Adaptabilität: Bereitschaft und Fähigkeit, sich proaktiv an die sich ändernde
Berufswelt anzupassen und (3) Human- und Sozialkapital: Ressourcen in Form
von Ausbildung und Berufserfahrung respektive dem individuellen sozialen
Netzwerk.
Vor dem Hintergrund dieser Theorien bzw. der theoretischen Grundlagen in
den Kapiteln 2 und 3 wird in diesem Kapitel der Austritt aus der dualen Berufs-
lehre analysiert. Dabei wird berücksichtigt, dass vielfältige Bildungswege
existieren. Im einleitenden Kapitel 8.1 werden überblicksartig die verschiedenen
Anschlusslösungen nach der Berufslehre dargestellt. Es wird gezeigt, wie häufig
diese nach der Berufslehre ergriffen werden und ob ein Zusammenhang mit
askriptiven Merkmalen und mit den erlernten Berufen besteht. Danach werden
jeweils einzelne berufliche Wege nach der Berufslehre vertiefend untersucht. In
Kapitel 8.2 steht der Übergang in die Erwerbstätigkeit im Zentrum. Anschlie-
ßend werden zwei nonnormative Übergänge untersucht, nämlich in Kapitel 8.3
der Übergang in die Arbeitslosigkeit und in Kapitel 8.4 der Übergang in eine
Zwischenlösung. In Kapitel 8.5 wird der Übergang in eine tertiäre Ausbildung
analysiert. In Kapitel 8.6 werden schließlich die Bewältigung des Übergangs
nach der Berufslehre und die Entwicklung der jungen Erwachsenen untersucht.
250 8 Übergänge nach der Berufslehre
Zwischenlösun g
19%
Beru flic he
Gru ndbildu ng
10%
Erwerbstä tigkeit
61%
Tertiäre Aus bildun g
10%
Es ist nun gezeigt worden, dass askriptive Merkmale keinen Einfluss auf den
Übergang von der Berufslehre in die Erwerbstätigkeit haben, hingegen aber im
Hinblick auf den Übergang in eine tertiäre Ausbildung eine Rolle spielen. In
einem weiteren Schritt werden Unterschiede zwischen den absolvierten Lehrbe-
rufen untersucht, da diese die Übergangschancen prägen (Konietzka, 2007).
Als Erstes wurde der Frage nachgegangen, ob sich die gewählten
Anschlusslösungen unterschieden, je nachdem, ob während der Berufslehre die
Berufsmaturitätsschule besucht wurde oder nicht. Der 2-Test ergab einen
signifikanten Unterschied, 2(3) = 61.68, p < .001. Die Berufsmittelschülerinnen
und -schüler absolvierten erwartungsgemäß signifikant häufiger eine tertiäre
Ausbildung und waren seltener erwerbstätig als Berufslernende ohne Maturitäts-
schulbesuch.
Als Zweites wurde analysiert, ob sich die Anschlusslösungen nach
absolvierter Berufslehre unterschieden. Um eine 2-Analyse durchführen zu
können, müssen genügend Personen pro Beruf vorhanden sein. Daher wurden
nur die zehn Lehrberufe berücksichtigt, welche in der Zürcher Ergänzungs-
stichprobe enthalten waren (vgl. Kapitel 4.2.2). Zusätzlich wurden aufgrund der
254 8 Übergänge nach der Berufslehre
8.1.4 Fazit
Der grösste Teil (61 %) der Absolventinnen und Absolventen einer Berufslehre
hat den Übergang in eine erste Erwerbstätigkeit vollzogen. Dennoch sind die
Bildungswege vielfältig. So haben 20 % der Lehrabsolventinnen und Lehrabsol-
venten eine weitere Ausbildung begonnen. Die restlichen 20 % haben neun Mo-
nate nach Lehrabschluss den Übergang noch nicht vollzogen und sind weder
erwerbstätig noh absolvieren sie eine Zwischenlösung. Hier zeichnet sich ab,
dass der Übergang nach der Berufslehre für viele junge Erwachsene nicht rei-
bungslos verläuft.
Im Gegensatz zum Übergang an der ersten Schwelle (Kapitel 6.3.1; Häber-
lin et al., 2004) gibt es beim Übergang an der zweiten Schwelle kaum Unter-
schiede hinsichtlich der Anschlusslösungen nach Geschlecht, Migrationshinter-
grund und sozialer Herkunft. Wenn Frauen, Personen mit Migrationshintergrund
oder Personen aus einer tiefen sozialen Schicht einmal eine Berufslehre
erfolgreich absolviert haben, sind sie beim zweiten Übergang nicht mehr benach-
teiligt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Anstrengungen für mehr Chan-
cengleichheit bei der Lehrstellenvergabe fortgeführt werden. Eine Ausnahme
bildet allerdings der Übergang in eine tertiäre Ausbildung nach der Berufslehre.
Gegen Ende der Berufslehre muss der Übergang in die erste Erwerbstätigkeit
vorbereitet werden. Damit ist ein Stellensuch- und Bewerbungsprozess verbun-
den. Deshalb ist es wichtig, dass Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger Stellen-
such- und Bewerbungsstrategien kennen und wissen, wie sie ihre Chancen im
Arbeitsmarkt erhöhen können.
In der arbeitspsychologischen Forschung zur Stellensuche werden
individuelle Merkmale, Verhaltensweisen und Ressourcen von Personen nach
dem Ausbildungsabschluss und von Arbeitslosen untersucht, welche zu
zielgerichtetem Stellensuchverhalten führen und damit die Wahrscheinlichkeit
einer Anstellung erhöhen (zum Beispiel Kanfer et al., 2001; Saks, 2005). Bisher
wurden solche Studien vor allem mit Erwachsenen, jugendlichen Schulab-
gänger/-innen oder Hochschulabgänger/-innen durchgeführt. Wir wollen diese
Forschung durch die Untersuchung von Stellensuchstrategien bei neu in den
Arbeitsmarkt eintretenden Berufslehrabgängerinnen und Berufslehrabgängern
ergänzen.
Eine wichtige Rolle für eine erfolgreiche Stellensuche spielt die Ergeb-
niserwartung der jungen Erwachsenen. Damit wird die Stärke der Erwartung
bezeichnet, mit eigenen Handlungen (zum Beispiel Stellensuchaktivitäten) ein
erwünschtes Ergebnis (zum Beispiel Finden einer Stelle) herbeiführen zu können
(Bandura, 1997). Nach der sozial-kognitiven Theorie hat die Ergebniserwartung
in der Stellensuche einen positiven Einfluss auf die Intensität des Stellen-
suchverhaltens (vgl. Zikic & Saks, 2009). Wir nehmen deshalb an, dass die
Ergebniserwartung bei der Stellensuche von Berufslernenden im letzten Lehrjahr
vor Lehrabschluss einen Einfluss auf die Anschlusslösung hat. Es ist zu
erwarten, dass Personen mit einer hohen Ergebniserwartung eher eine Stelle
finden und so eher erwerbstätig sind und sich seltener in einer Zwischenlösung
befinden. Im FASE B-Projekt wurde die Ergebniserwartung bei der Stellensuche
(Erhebung 2007, im letzten Lehrjahr) mit der Frage erhoben, als wie wichtig die
Berufslernenden verschiedene Strategien (vgl. Tabelle 8.3) beurteilten, um ihre
Chancen, nach Lehrabschluss eine Arbeitsstelle zu finden, zu verbessern. Diese
Items zu den Strategien wurden zum Faktor Ergebniserwartung gruppiert
( = 0.74).
Die Hypothese wurde mit einer Varianzanalyse mit den vier Anschluss-
lösungen als Gruppierungsfaktor überprüft. Sie zeigte, dass sich Personen in den
vier Anschlusslösungen signifikant in ihrer Ergebniserwartung zur Stellensuche
vor Lehrabschluss unterschieden, F(3, 318) = 3.05, p < .05. In Übereinstimmung
mit unserer Hypothese hatten Erwerbstätige eine signifikant höhere
Ergebniserwartung bei ihren Stellensuchstrategien als Personen in einer Zwi-
258 8 Übergänge nach der Berufslehre
schenlösung. Wenn Lernende den Übergang aktiv angehen und daran glauben,
durch eigene Anstrengungen etwas erreichen zu können, ist ihrer Stellensuche
erfolgreicher.
Im zweiten Schritt wurde untersucht, als wie nützlich die jungen Er-
wachsenen die verschiedenen Stellensuchstrategien beurteilten. Diejenigen Ler-
nenden, die nach dem Übergang einer Erwerbstätigkeit nachgingen (N = 208),
beurteilten rückblickend (2008, nach dem Übergang), wie wichtig für sie die
genannten fünf Stellensuchstrategien tatsächlich gewesen sind. Tabelle 8.3 zeigt,
dass ein großer Einsatz im Lehrbetrieb und eine frühzeitige Stellensuche von
ihnen als wichtig beurteilt wurden. Kontakt zu potenziellen Arbeitgebern, gute
Beziehungen zu Berufsbildnerinnen bzw. Berufsbildnern und gute Zeugnisnoten
wurden als eher wichtig beurteilt.
Ein Vergleich der Ergebniserwartung vor Lehrabschluss (2007) mit der
rückblickenden Beurteilung nach der zweiten Schwelle (2008) mittels einer
multivariaten Varianzanalyse mit Messwiederholung zeigte, dass die Wichtigkeit
von Stellensuchstrategien von den Lernenden vor Lehrabschluss rückblickend
eher überschätzt worden war, T23 = 0.29, F(5, 104) = 6.05, p < .001. Ins-
besondere gute Zeugnisnoten, Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern und großer
Einsatz im Lehrbetrieb wurden rückblickend als weniger wichtig eingeschätzt.
Es gibt verschiedene mögliche Erklärungen dafür: (1) Die jungen Erwachsenen
schrieben ihren Erfolg bei der Stellensuche teilweise dem Zufall zu. (2) Sie
beurteilten andere Stellensuchstrategien als wichtiger als die fünf genannten. (3)
Die Stellensuche war einfacher als von den jungen Erwachsenen befürchtet,
sodass der Einsatz von Stellensuchstrategien in geringerem Ausmaß erforderlich
war. Insgesamt zeigen die Analysen, dass die Berufslernenden um den Einfluss
von Stellensuchstrategien wissen und glauben, mit eigenen Handlungen ihre
Erfolgsaussichten auf dem Stellenmarkt positiv beeinflussen zu können.
Dabei ergaben sich keine signifikanten Unterschiede in der Beurteilung von
Stellensuchstrategien nach Migrationshintergrund24, dafür zwischen den
Geschlechtern25. Während für Frauen rückblickend Stellensuchstrategien im
Bereich berufliches Netzwerk (Kontakt zu potenziellen Arbeitgebern, gute
Beziehung zu Berufsbildenden) nach dem Übergang an Bedeutung abgenommen
hatten, war dies für Männer gerade umgekehrt.
rischen Post über eine mangelnde Unterstützung beim Übergang in die Erwerbs-
tätigkeit nach der Berufslehre (Trippolini & Schreiber, 2010).
In der Beurteilung der Wichtigkeit der sozialen Unterstützung gab es keine
signifikanten Unterschiede nach Geschlecht, Hotelling’s T = 0.04, F(4,
114) = 1.01, ns, oder Migrationshintergrund, Hotelling’s T = 0.01, F(4,
114) = 0.41, ns.
Ähnlich wie beim Übergang in die Berufslehre (vgl. Kapitel 6.5) sind auch beim
Übergang an der zweiten Schwelle soziale Ressourcen entscheidend. Soziale
Kontakte werden von Bewerbungsratgebern (zum Beispiel Gisler, 2007) als
wichtig für die Stellensuche beschrieben. Eine Befragung von KV-Lehrabgän-
gerinnen und KV-Lehrabgängern der Schweiz zeigt außerdem, dass etwa gleich
viele Personen ihre neue Stelle durch ihr Beziehungsnetz wie durch eine reguläre
Bewerbung auf ein Stelleninserat gefunden haben (Margreiter & Heinimann,
2006). Andere Studien (Wanberg, Kanfer & Banas, 2000; Wolff & Moser, 2009)
zeigten, dass der Aufbau von beruflichen Netzwerken (Networking) in einem
positiven Zusammenhang mit dem Finden einer Anstellung und der Höhe des
Gehalts steht. (Betriebs-)internes Networking hat einen positiven Zusammen-
hang mit der Zufriedenheit mit der eigenen beruflichen Entwicklung. Im Folgen-
den soll untersucht werden, ob Networking auch für den Karriereerfolg respekti-
ve die Übergangsbewältigung von jungen Erwachsenen an der zweiten Schwelle
relevant ist. Dies wird anhand von zwei objektiven (Lohn, Arbeitslosigkeit) und
einem subjektiven Indikator (Arbeitszufriedenheit) überprüft. Außerdem wird
der Einfluss von Networking auf das allgemeine Wohlbefinden (positive Le-
benseinstellung) untersucht.
Mit Networking werden Verhaltensweisen bezeichnet, „die dem Aufbau
und der Aufrechterhaltung von informellen Beziehungen dienen, deren
(potenzieller) Effekt es ist, arbeitsbezogene Handlungen der beteiligten Personen
8.2 Übergang in die erste Erwerbstätigkeit 261
eine gewisse Zeit braucht, bevor sich Networking auf diese Bereiche auswirken
kann.
8.2.3 Berufswechsel
Depressi- Berufs- 2.03 2.13 1.95 F(2, 342) F(1,171) F(2, 342)
vität wechselnde = 6.07* = 0.00 = 0.19
Berufstreue 2.01 2.12 1.90
Legende: *** p < .001, ** p < .01, * p < .05; 1 Greenhouse-Geisser-Korrektur.
nach dem Übergang in die Erwerbstätigkeit konstant blieb, fiel sie bei den
Berufswechslern am Ende der Berufslehre ab. Sie stieg nach dem Berufswechsel
an der zweiten Schwelle wieder so stark an, dass die Berufswechselnden zufrie-
dener waren als die Berufstreuen. Die jungen Erwachsenen konnten demnach
durch den Berufswechsel ihre berufliche Zufriedenheit verbessern. In Bezug auf
das allgemeine Wohlbefinden gab es aber keinen signifikanten Unterschied
zwischen Berufwechselnden und Berufstreuen. Bei allen Lernenden nahmen
depressive Tendenzen gegen Ende der Lehrzeit signifikant zu und nach dem
Übergang in die Erwerbstätigkeit wieder ab. Vermutlich wurde dies durch den
erhöhten Stress in der Zeit der Lehrabschlussprüfungen und Stellensuche be-
günstigt (vgl. Kapitel 8.6.2).
Zusammengefasst zeigte sich, dass sich Berufswechsel negativ auf den
Lohn auswirken, dafür aber die berufliche Zufriedenheit steigerten. Berufswech-
selnde hatten Schwierigkeiten im Berufswahlprozess respektive in der
Berufssozialisation, welche auch nach dem Berufswechsel noch anhalten. Der
Befund von Semmer et al. (2005), dass Berufswechselnde ein schlechteres
allgemeines Wohlbefinden hätten, konnte hingegen nicht bestätigt werden.
8.2.4 Weiterbildungsbereitschaft
8.2.5 Fazit
Der Übergang von der Berufslehre in die Erwerbstätigkeit erfordert von den
jungen Erwachsenen einen erfolgreichen Stellensuchprozess. Dieser stellt eine
große Herausforderung dar, da sie sich als Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger
nicht nur gegenüber ihren Peers durchsetzen müssen, sondern mit allen Erwerbs-
tätigen um Stellen konkurrieren. Dabei sind Stellensuchstrategien und soziale
Netzwerke wichtig. Unsere Analysen haben gezeigt, dass junge Erwachsene die
8.2 Übergang in die erste Erwerbstätigkeit 269
Nach der Lehre treten nicht nur normative Übergange in eine erste Erwerbstätig-
keit auf, sondern auch institutionell erwartungswidrige Übergänge (vgl. Kapitel
2.6) in die Arbeitslosigkeit. Die Gefahr von Arbeitslosigkeit bereitet vielen Ju-
gendlichen Sorgen (Goldner et al., 2010; Hurrelmann & Albert, 2006). Beim
Übergang nach der Berufslehre muss ein großer Anteil der Lehrabgängerinnen
und Lehrabgänger eine neue Arbeitsstelle suchen und sich mit der Möglichkeit
einer drohenden Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. In Kapitel 8.3.1 wird des-
halb der Frage nachgegangen, wie viele Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger in
der Schweiz von Arbeitslosigkeit betroffen sind. In Kapitel 8.3.2 werden aus
einer Entwicklungsperspektive Risikofaktoren für Arbeitslosigkeit an der zwei-
ten Schwelle untersucht. Bisher ist kaum etwas darüber bekannt, welche Grup-
pen von jungen Erwachsenen unter welchen Bedingungen beim Übergang in die
Erwerbstätigkeit gefährdet sind, arbeitslos zu werden. In Kapitel 8.3.3 diskutie-
ren wir schließlich die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das psychische
Wohlbefinden der jungen Erwachsenen.
30 Quote von Personen, die laut eigenen Angaben in einer Befragung erwerbslos sind.
272 8 Übergänge nach der Berufslehre
15-19 Jahre
10
20-24 Jahre
9
Gesamt
8
Arbeitslosenquote (%).
7
6
5
4
3
2
1
0
93
94
95
96
97
98
06
99
00
07
08
09
10
01
02
03
04
05
19
19
19
19
19
19
19
20
20
20
20
20
20
20
20
20
20
20
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beim Übergang von der Schule in den
Beruf für junge Erwachsene die zweite Schwelle einen kritischen Moment dar-
stellt. Trotz der mit ihm verbundenen Herausforderungen bewältigt eine Mehr-
31 Es wurde jeweils die Arbeitslosenquote des Monats Januar des jeweiligen Jahres verwendet.
32 Vgl. http://www.amstat.ch/amstat/public/index.jsp?lingua=de, vom 9.12.2010
8.3 Arbeitslosigkeit nach Lehrabschluss 273
heit der Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger diesen Schritt mehr oder weniger
problemlos. Für eine Minderheit der jungen Erwachsenen stellt dieser Übergang
aber eine Hürde auf dem Weg zu einer erfolgreichen Integration in die Erwerbs-
tätigkeit dar. Arbeitslosigkeit ist demnach als eine Risikosituation (vgl. Kapitel
2.6) für die weitere berufliche Entwicklung der Lehrabgängerinnen und Lehrab-
gänger zu sehen (mehr dazu in Kapitel 8.3.3).
Arbeitslosigkeitsquote (%)
Erwachsenenarbeitslosigkeit
14
4.5
Verhältnis Jugend- zu
12 4
10 3.5
8 3
6 2.5
4 2
2 1.5
0 1
da
n
rn
en
k
nd
en
n
en
A
en
z
pa
ar
ei
lie
US
ga
eg
na
la
hi
ed
ni
m
hw
Ja
ra
nn
it a
Un
ec
rw
Ka
ne
hw
st
Sc
ch
Fi
br
Au
No
Dä
Sc
ss
Ts
ro
G
8.3.2 Risikofaktoren
33 Die Missings wurden mit dem Softwarepaket Norm (Version 2.03) imputiert.
276 8 Übergänge nach der Berufslehre
34 Damit meinen wir nicht, dass es für eine Person nur einen einzigen passenden Beruf gibt.
Dennoch zeigen unsere Resultate, dass die Wahl eines Berufes allein aufgrund des Angebots an
Lehrstellen, ohne genügende Berücksichtigung der Interessen und Fähigkeiten der Jugendli-
chen, problematisch ist.
8.3 Arbeitslosigkeit nach Lehrabschluss 279
Konstrukte (vgl. Kapitel 3.2) wie die wahrgenommene Passung, welche aus einer
Interaktion zwischen Individuum und Ausbildungskontext entsteht, dürften für
die weitere Forschung zum Verstehen von Jugendarbeitslosigkeit vielverspre-
chend sein.
Erwerbslosigkeit ist für die Betroffenen eine belastende Erfahrung und eine Ri-
sikosituation für die weitere Entwicklung. So weisen Erwerbslose ein geringeres
psychisches und körperliches Wohlbefinden auf (McKee-Ryan, Song, Wanberg
& Kinicki, 2005), sehen weniger Sinn im Leben und haben Zukunftsängste (Hur-
relmann & Albert, 2006; Oser & Düggeli, 2008; Spiess Huldi et al., 2006). Diese
gesundheitlichen und psychischen Belastungen sind Folgen der Erwerbslosig-
keit. Sie erhöhen aber auch das Risiko, erwerbslos zu werden (Berth, Peter,
Stöbel-Richter, Balck & Bähler, 2006).
Jugendliche leiden besonders stark unter einer Erwerbslosigkeit (McKee-
Ryan et al., 2005). Erwerbslosigkeit verzögert den Erwerb des Erwachsenen-
status, da durch die fehlende Erwerbstätigkeit und die damit fehlende
ökonomische Selbstständigkeit ein wichtiges Kriterium für den Erwerb der Er-
wachsenenrolle nicht erfüllt wird (Feather, 1990; Hurrelmann, 1999). Außerdem
wirkt sich Erwerbslosigkeit auf das berufliche Selbstkonzept der jungen
Erwachsenen aus, da dieses in dieser Altersgruppe aufgrund der fehlenden
beruflichen Erfahrung noch wenig entwickelt ist. So zeigten Winefield,
Winefield, Tiggemann und Goldney (1991), dass sich das psychische
Wohlbefinden junger Erwachsener verbessert, wenn sie eine zufriedenstellende
Erwerbstätigkeit nach der Ausbildungszeit aufgenommen haben. Umgekehrt
stagniert das psychische Wohlbefinden bei erwerbslosen Personen und bei
unzufriedenen jungen Erwerbstätigen.
Allerdings sind Phasen der Erwerbslosigkeit verbreitet, welche viele junge
Erwachsene dank ihrer Adaptationsfähigkeit und großer Flexibilität gut
bewältigen (Kokko, Pulkkinen & Puustinen, 2000). So sind junge Erwachsene in
der Schweiz weniger lang erwerbslos als Erwachsene (SECO, 2005; Zimmer-
mann, 2000). Die oben genannten gesundheitlichen und psychischen Belastun-
gen treten insbesondere bei Langzeitarbeitslosen auf (Weber, 2007b). Aufgrund
der kurzen Arbeitslosigkeitsdauer ist im Durchschnitt eine eher geringe
Belastung junger Erwachsener durch Erwerbslosigkeit zu erwarten.
Anhand des Vergleichs der Gruppe der Erwerbstätigen mit der der
Erwerbslosen soll nun untersucht werden, wie sich Arbeitslosigkeit von Lehrab-
gängerinnen und Lehrabgängern auf deren psychisches Wohlbefinden auswirkt.
280 8 Übergänge nach der Berufslehre
Dies wurde mithilfe von drei Indikatoren erfasst: (1) die positive Lebensein-
stellung (basierend auf Grob, Lüthi, Kaiser, Flammer, Mackinnon & Wearing,
1991; Beispielitem: „Ich bin zufrieden mit der Art und Weise, wie sich meine
Lebenspläne verwirklichen“), (2) der Selbstwert (basierend auf Rosenberg, 1979;
Beispielitem: „Ich glaube, dass ich eine Reihe von sehr guten Eigenschaften
habe“) und (3) die berufliche Zufriedenheit („Wie zufrieden sind Sie mit ihrer
aktuellen Arbeitssituation resp. mit der Zwischenlösung?“). Dazu wurden mit
Daten des zweiten Lehrjahres (2006), des dritten Lehrjahres (2007) und nach
dem Übergang (2008) Varianzanalysen mit Messwiederholung gerechnet. Die
Ergebnisse sind in Tabelle 8.9 dargestellt.
Die Analysen zeigten, dass sich das psychische Wohlbefinden von jungen
Erwachsenen, welche im Jahr 2008 von Arbeitslosigkeit betroffen waren, nicht
anders entwickelt hatte als dasjenige von zu diesem Zeitpunkt Erwerbstätigen.
Beide Gruppen hatten einen vergleichbar hohen Selbstwert. Lernende, die im
Jahr 2008 arbeitslos wurden, hatten hingegen eine weniger positive Lebens-
einstellung und waren weniger zufrieden mit ihrer aktuellen beruflichen
Situation. Allerdings hatten diese Einschränkungen im psychischen Wohlbe-
finden bereits während der Berufslehre bestanden. Das verminderte psychische
Wohlbefinden konnte demnach nicht als Folge der erlebten Arbeitslosigkeit
aufgetreten sein. Vielmehr deutete es auf allgemeine psychische Belastungen
hin, welche sich auch in einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko manifestierten.
Nach dieser Interpretation hatte nicht die Arbeitslosigkeit zu einem verminderten
psychischen Wohlbefinden geführt, sondern hatten umgekehrt bereits vorhan-
dene psychische Belastungen ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko begünstigt.
Nach Winefield et al. (1991) kann unser Befund auch auf eine mangelnde
berufliche Integration während der Lehre hindeuten, welche sich innerhalb eines
Jahres nach Lehrabschluss noch nicht gelöst hat. Diese unbefriedigende beruf-
liche Situation verhindert ein alterstypischer Anstieg des psychischen Wohlbe-
findens der jungen Erwachsenen.
8.3 Arbeitslosigkeit nach Lehrabschluss 281
Selbstwert Erwerbstätige 3.27 3.26 3.31 F(2, 4581) F(1,249) F(2, 4581)
= 1.09 = 2.64 = 1.41
Erwerbslose 3.24 3.14 3.16
Berufliche Erwerbstätige 2.99 3.06 3.14 F(2, 4711) F(1, 249) F(2, 4711)
Zufriedenheit = 0.40 = 8.52** = 1.69
Legende: ** p < .01, 1 Greenhouse-Geisser Korrektur, 2006: 2. Lehrjahr, 2007: 3. Lehr-
jahr, 2008: nach dem Übergang.
8.3.4 Fazit
de dafür (Kapitel 8.4.2)? Wie haben die jungen Erwachsenen ihre berufliche
Ausbildung erlebt und wie blicken sie in ihre berufliche Zukunft (Kapitel 8.4.3)?
100%
90%
80%
Urlaub
70%
Erwerbslosigkeit
60%
Militär
50%
Sprachschule /-aufenthalt
40%
Praktikum
30%
befriste Erwerbstätigkeit
20%
10%
0%
nach der Matura nach dem Lehrabschluss
Tabelle 8.11: Gründe für die Wahl einer Zwischenlösung nach der Lehre und
nach der Mittelschule
Gründe für Zwischenlösung Lehrabsolventen/-innen Maturanden/-innen
(N = 58) (N = 38)
Keine feste Stelle 17 (29 %) 3 (8 %)
Militärdienst absolvieren 12 (21 %) 6 (16 %)
Pause innerhalb der Ausbildung 9 (16 %) 14 (37 %)
Keine Ausbildung gefunden 8 (14 %) 4 (11 %)
Übergang zur Ausbildung 6 (10 %) 2 (5 %)
Voraussetzung für Ausbildung 2 (3 %) 11 (29 %)
Persönliche Weiterentwicklung 0 (0 %) 5 (13 %)
Legende: Weniger als 10 Prozent der ehemaligen Lernenden und Gymnasiastinnen und
Gymnasiasten nannten die folgenden Gründe: Geld verdienen, Berufserfahrungen sam-
meln, Übergang zu einer festen Stelle, fehlender Abschluss oder Abbruch der Ausbildung
und gesundheitliche Gründe.
286 8 Übergänge nach der Berufslehre
Der Vergleich von Gruppe 1 und 2 zeigt, ob bei Lehrabgängerinnen und Lehrab-
gängern sowie Maturandinnen und Maturanden ähnliche Konstellationen zum
Übergang in eine Zwischenlösung führen und ob sich die beiden Ausbildungs-
gruppen hinsichtlich ihrer Einstellungen zur Zwischenlösung unterscheiden. Der
Vergleich von Gruppe 1 mit Gruppe 3 ermöglicht eine Kontrastierung der ver-
schiedenen Wege von Berufslernenden. Es wurde untersucht, ob sich 1) die Zu-
friedenheit mit der beruflichen Situation, 2) die Entwicklung einer beruflichen
Identität und 3) die Zukunftsaussichten zwischen diesen drei Gruppen unter-
scheiden.
Als Erstes wurden die drei Gruppen bezüglich ihrer Zufriedenheit mit ihrer je-
weils aktuellen beruflichen Situation über drei Zeitpunkte hinweg (2006: zweit-
letztes Ausbildungsjahr, 2007: letztes Ausbildungsjahr, 2008: nach dem Über-
gang) mithilfe einer Varianzanalyse mit Messwiederholung verglichen. Die
Gruppenunterschiede waren nicht signifikant, F(2, 258) = 1.21, dafür waren der
Zeitfaktor, F(2, 49536) = 5.18, p < .01, und die Interaktion, F(4, 49541) = 5.66,
p < .001. Simple effect Analysen (vgl. Field, 2009) zeigten, dass die Zufrieden-
heit mit der beruflichen Situation bei den beiden Lehrlingsgruppen während der
beruflichen Ausbildung vergleichbar war (vgl. Abbildung 8.5).
4.0
beruflichen re sp. schulischen Situa tion
Zufrieden heit mit der a ktue llen
3.5
3.0
1.0
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr nac h Übe rga ng
Nach dem Übergang stieg die Zufriedenheit bei den Erwerbstätigen signifikant
an, während sie sich bei den Lehrabgängerinnen und Lehrabgängern in einer
Zwischenlösung nicht signifikant veränderte. Bei den Maturandinnen und Matu-
randen war die Zufriedenheit hingegen im zweitletzten Ausbildungsjahr höher,
verschlechterte sich gegen Ende der Ausbildung und nahm danach wieder zu.
Möglicherweise wurden die Maturandinnen und Maturanden gegen Ende ihrer
Ausbildung schulmüde und damit unzufriedener und legten mit dem Zwischen-
jahr eine Erholungspause von ihrer Ausbildung ein. Die Lehrabsolventinnen und
Lehrabsolventen in einer Zwischenlösung waren hingegen während der Lehre
ähnlich zufrieden wie Lehrabsolventinnen und Lehrabsolventen mit einer ande-
ren Anschlusslösung. Sie wählten die Zwischenlösung nicht aufgrund einer Un-
zufriedenheit mit der Ausbildung. Die Zwischenlösung hatte nach dem Übergang
aber weder einen positiven Einfluss auf die Zufriedenheit, wie dies bei den Ma-
turandinnen und Maturanden noch einen negativen Einfluss.
288 8 Übergänge nach der Berufslehre
Im zweiten Schritt wurde untersucht, ob sich die drei Gruppen hinsichtlich ihrer
Entwicklung der beruflichen Identität unterschieden. Dazu wurden vier Indikato-
ren verwendet: (1) Passungswahrnehmung zwischen Interessen bzw. Fähigkeiten
und der Ausbildung der Jugendlichen, (2) berufliche Sozialisation, (3) Identifika-
tion mit dem Beruf bzw. der Ausbildung, (4) Wert/subjektive Wichtigkeit des
Lebensbereichs „Arbeit und Ausbildung“.
1) In der Varianzanalyse mit der abhängigen Variablen Passungs-
wahrnehmung wurden der Gruppeneffekt, F(2, 181) = 3.32, p < .05, der
Zeiteffekt, F(2, 31341) = 6.23, p < .01, und die Interaktion, F(4, 31341) = 2.93,
p < .05, signifikant. Die Passungswahrnehmung war bei allen drei Gruppen
während der Ausbildungszeit vergleichbar (vgl. Abbildung 8.6). Nach dem
Übergang verschlechterte sich die Passungswahrnehmung bei der Gruppe der
Maturandinnen und Maturanden signifikant. Im Vergleich zu den Erwerbstätigen
hatten die beiden Zwischenlösungsgruppen nach dem Übergang eine signifikant
geringere Passungswahrnehmung. Die Zwischenlösung wurde als wenig zu den
eigenen Fähigkeiten und Interessen passend beurteilt.
4.0
3.5
Pa ssu ngswahrnehmung
3.0
Lehrabgä nger/inne in
2.5 Zwis chenlösu ng
Maturande n in
2.0 Zwis chenlösu ng
Lehrabgä nger/innen in
1.5 Erwe rbs tätig keit
1.0
2. Le hrjahr 3. Leh rjahr na ch Üb erga ng
4.0
Wic htigkeit des Leb ensb ere ichs "Arbe it und
3.5
3.0
Ausbildung"
Lehrabgä nger/inne in
2.5 Zwis chenlösun g
Maturanden in
2.0 Zwis chenlösun g
Lehrabgä nger/innen in
1.5 Erwerbstätigkeit
1.0
3. Lehrja hr na ch Überg ang
8.4.3.3 Zukunftsaussichten
Die positive Lebenseinstellung wurde mit einem Faktor, bestehend aus acht
Items, erhoben, wie zum Beispiel „Meine Zukunft sieht gut aus“. Es konnten
Angaben aus dem zweitletzten Ausbildungsjahr (2006) mit denjenigen nach dem
Übergang (2008) verglichen werden. Die Lehrabsolventinnen und Lehra-
bsolventen in einer Zwischenlösung unterschieden sich auch nicht in ihrer
positiven Lebenseinstellung von den anderen (Gruppeneffekt: F(2, 274) = 1.12,
ns, Zeiteffekt: F(1, 274) = 3.82, p < .01, Interaktion: F(2, 274) = 1.48, ns). Trotz
der beruflichen Schwierigkeiten während der Lehre blickten Lehrabsolventinnen
und Lehrabsolventen in einer Zwischenlösung insgesamt optimistisch in ihre
Zukunft.
Die Ergebnisse zeigen, dass Zwischenlösungen nach der Lehre nicht
unproblematisch sind. Sie werden von den jungen Erwachsenen häufig aufgrund
von Schwierigkeiten bei der Stellensuche oder bei der Berufssozialisation
gewählt. Die Wahl einer Zwischenlösung kann dennoch als positiver,
angestrebter Weg der jungen Erwachsenen angesichts der Schwierigkeiten inter-
pretiert werden. So nimmt der Wert von Arbeit und Ausbildung nach dem
Übertritt in eine Zwischenlösung für die Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger
eher zu und sie blicken optimistisch in ihre berufliche Zukunft.
8.4.4 Fazit
Die soziale Herkunft entfaltet ihre größte Wirkung auf die beruflichen Lebens-
wege an den Übergängen innerhalb des Bildungssystems (Maaz et al., 2004).
Untersuchungen zeigten, dass die Bildungsbeteiligung an verschiedenen Über-
gängen des Bildungssystems in Deutschland und der Schweiz von der sozialen
Herkunft abhängt: beim Übergang in die Sekunderstufe I (zum Beispiel Becker,
2010a; Ditton & Krüsken, 2009; vgl. auch Kapitel 5.3), in die Sekundarstufe II
(zum Beispiel Neuenschwander & Malti, 2009; vgl. auch Kapitel 6.3.1) und
beim Übergang in tertiäre Ausbildungen (zum Beispiel Becker & Hecken, 2008;
Müller & Pollak, 2007). Damit wird das meritokratische Prinzip verletzt, wonach
der Zugang zu Bildung und Beruf allein von den individuellen Leistungen ab-
hängen sollte (Becker & Hadjar, 2009; vgl. auch Kapitel 2.3).
Rational-Choice- und Erwartungs-Wert-Theorien (Maaz et al., 2006;
Kapitel 3.3) zufolge entsteht Bildungsungleichheit zwischen unterschiedlichen
sozialen Schichten als Ergebnis individueller Bildungsentscheidungen, die von
den Jugendlichen respektive ihren Familien im Kontext des Bildungssystems
getroffen werden. Boudon (1974) unterschied dabei zwischen primären und
sekundären Herkunftseffekten (vgl. Kapitel 3.3).
Bisher ist der Einfluss der sozialen Herkunft auf die beruflichen Wege
junger Erwachsener mit gleichen Ausbildungsabschlüssen selten untersucht
worden. Maaz und Mitarbeitende (2004) verglichen die beruflichen Pläne von
Schülerinnen und Schülern in Gymnasien und Fachoberschulen in Deutschland.
Letztere führen zum Abitur (Matura), aber die Schülerinnen und Schüler belegen
ein berufsbezogenes Profilfach (zum Beispiel Ernährungswissenschaft oder
Bautechnik). Die Autoren zeigten, dass die Schülerschaft in diesen Schulen im
Vergleich zu Gymnasien sozial heterogener zusammengesetzt sind, aber dennoch
häufiger von Realschülerinnen und Realschülern38 aus einer vergleichsweise
höheren sozialen Schicht besucht werden. Hingegen unterschieden sich
Schülerinnen und Schüler der Fachoberschulen mit unterschiedlicher sozialer
Herkunft nicht in ihren angestrebten Berufen. Diese Studie zeigte, dass eine
institutionelle Öffnung der allgemeinbildenden Sekundarstufe II in Deutschland
teilweise zu einer Verringerung des Einflusses der sozialen Herkunft geführt hat.
Für die Schweiz konnte für den tertiären Bereich gezeigt werden, dass der
Einfluss der familiären Herkunft auf den Zugang zu den Fachhochschulen
bedeutend geringer ist als der auf den Zugang zu den Universitäten (Annen et al.,
2010). Im Allgemeinen hat der Ausbau des Bildungssystems aber nur einen
schwachen Einfluss auf die Chancengleichheit und die Befunde sind inkonsistent
(Hadjar & Becker, 2009).
Bisher nicht untersucht wurden junge Erwachsene, die nicht einen
allgemeinbildenden Ausbildungsweg eingeschlagen haben, sondern eine
Berufslehre im dualen Ausbildungssystem absolvieren. Hat die soziale Herkunft
auch einen Einfluss auf die Entscheidung für eine tertiäre Ausbildung nach der
Berufslehre in der Schweiz? Die Zugangsmöglichkeit von der Berufslehre über
die Berufsmaturität an die Fachhochschulen stellt eine wichtige Öffnung des
Bildungssystems dar und bietet die Möglichkeit, den früh eingeschlagenen
Bildungsweg zu ändern. Außerdem bestehen nach der Berufslehre direkte
Anschlussmöglichkeiten auf der Tertiärstufe B (höhere Fachschulen, höhere
Fach- und Berufsprüfungen). Bietet der berufliche Ausbildungsweg bessere
Chancen im Hinblick auf den Zugang zur tertiären Ausbildung für junge
Erwachsene aus einer tiefen sozialen Schicht, als allgemeinbildende Ausbil-
dungswege dies tun? Oder anders gefragt: Können Berufslernende dies mit guten
schulischen Leistungen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft profitieren?
Mit der FASE B-Längsschnittstichprobe wurde geprüft, ob der familiäre
sozioökonomische Status im Sinne eines primären Herkunftseffekts, vermittelt
durch die schulischen Leistungen im zweiten Lehrjahr, einen Einfluss auf den
erwarteten zukünftigen Bildungsabschluss der Lernenden hat. Weiter soll unter-
sucht werden, ob sich die soziale Herkunft auch bei gleichen schulischen Leis-
tungen auf den erwarteten Bildungsabschluss auswirkt. Unser hypothetisches
Modell ist in Abbildung 8.8 dargestellt.
Die soziale Schicht respektive der sozioökonomische Status der Herkunfts-
familie wurde mithlife des internationalen Index für den sozioökonomischen
Status (ISEI) nach Ganzeboom, De Graaf, Treiman und de Leeuw (1992)
operationalisiert, wobei jeweils der höchste ISEI-Wert der beiden Elternteile
verwendet wurde (vgl. auch Kapitel 5.3).
8.5 Übergang in eine tertiäre Ausbildung 295
Schulische
Leistung
2006
Akteure können sich nicht frei für einen bestimmten Bildungsweg entscheiden,
sondern ihre Chancen, einen bestimmten Bildungsweg einschlagen zu können,
werden von den institutionellen (vgl. Kapitel 3.1) und situationalen Gegebenhei-
ten (vgl. Kapitel 3.2) beeinflusst. Bei den Übergängen in die Sekundarstufe I und
II hängt der Ausbildungsweg stark von der zuvor besuchten Schule ab, zum
Beispiel werden ein bestimmter Notendurchschnitt im Zeugnis oder eine Über-
trittsempfehlung der Lehrperson gefordert. So passen die Akteure mit der Zeit
ihre Bildungsaspirationen den Gegebenheiten an (zum Beispiel der Empfehlung
der Lehrperson, Ditton & Krüsken, 2010, oder den Schulleistungen, Heckhausen
& Tomasik, 2002).
Beim Übergang in eine tertiäre Ausbildung liegt die Entscheidung für eine
weitergehende Ausbildung bei den jungen Erwachsenen selbst, nicht mehr bei
ihren Eltern oder Lehrpersonen. Ob sie diese Entscheidung umsetzen können,
hängt von den Anforderungen der entsprechenden aufnehmenden Schule ab
(zum Beispiel Aufnahmeprüfung, Eignungsabklärung oder Erreichen eines
bestimmten Notendurchschnitts bei der Lehrabschlussprüfung). Anders gesagt
garantiert eine Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg noch nicht, dass
diese auch umgesetzt werden kann. Außerdem wird der Entscheid für ein
Studium in Anbetracht der Erwartungen der jungen Erwachsenen dazu gefällt, ob
sich diese zutrauen ein Studium erfolgreich zu absolvieren (Becker & Hecken,
2008). Die jungen Erwachsenen brauchen deshalb genügend Ressourcen, um
sich auf den Übergang in eine tertiäre Ausbildung vorzubereiten und diese an-
schließend erfolgreich zu absolvieren. Damit der Übergang gelingt, muss eine
Passung zwischen den vorhandenen Ressourcen des Individuums und den Anfor-
derungen der Institution bestehen oder hergestellt werden (vgl. Kapitel 3.2: Per-
son im Kontext).
Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive wird ein Übergang als
Entwicklungsaufgabe (Havighurst, 1972) oder kritisches Lebensereignis (Filipp,
2007) gesehen, welcher bzw. welches von den jungen Erwachsenen bewältigt
werden muss (vgl. Kapitel 2.1). Aus einer Stressbewältigungsperspektive
brauchen Menschen genügend körperliche, psychische, soziale und materielle
8.5 Übergang in eine tertiäre Ausbildung 299
Schulische
Leistung
2006
Lebens-
ereignisse
2007
Wie in Kapitel 8.1.2 gezeigt wurde, absolvieren Frauen häufiger eine tertiäre
Ausbildung, 2(1) = 3.04, p < .10. Basierend auf Odds Ratios war das Verhältnis
von Frauen, die den Übergang in die tertiäre Ausbildung vollzogen haben, zu
Männern 1.85-mal größer. Personen ohne Migrationshintergrund hatten eine
signifikant höhere Übergangsrate für eine tertiäre Ausbildung, 2(1) = 7.90,
p < .01, Odds Ratio = 6.21. Von den 37 Personen mit Migrationshintergrund
hatte nur eine Person eine tertiäre Ausbildung begonnen. Obwohl also der Mig-
rationshintergrund einen Einfluss auf den Übergang in eine tertiäre Ausbildung
hatte, konnte dieser nicht als Kontrollvariable einbezogen werden, da der Anteil
an Personen mit Migrationshintergrund zu klein war. Damit wurden in einer
Regressionsanalyse Standardfehler zu groß und die Ergebnisse unzuverlässig
(vgl. Tabachnick & Fidell, 2007).
In einem weiteren Schritt werden die Korrelationen zwischen den
postulierten Prädiktoren sowie der Wahrscheinlichkeit, dass ein Übertritt in eine
tertiäre Ausbildung erfolgt, berechnet (vgl. Tabelle 8.13). Alle postulierten
Prädiktoren korrelieren signifikant mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Übertritt
in eine tertiäre Ausbildung erfolgt. Die Korrelation von r = .53 weist auf einen
starken Effekt des erwarteten Bildungsabschlusses auf die Übergangswahr-
scheinlichkeit hin, zeigt aber auch, dass der Übergang in eine tertiäre Ausbildung
von weiteren Faktoren beeinflusst wird.
8.5 Übergang in eine tertiäre Ausbildung 301
Resultate in der dritten Spalte von Tabelle 8.14 bestätigten unsere Hypothese.
Insgesamt kann damit unser Modell (vgl. Abbildung 8.9) gestützt werden. Neben
den Plänen der jungen Erwachsenen für ihren weiteren beruflichen Weg haben
ihre Schulleistungen einen Einfluss darauf, ob sie den Übergang in eine tertiäre
Ausbildung vollziehen. Weiter haben auch die persönliche Lebenssituation
respektive die persönlichen Belastungen einen Einfluss auf den tatsächlichen
Bildungsverlauf.
8.5.3 Fazit
Rund 10 Prozent der Lernenden des FASE B-Projekts wählen nicht den Weg in
eine Erwerbstätigkeit, sondern schließen an ihre Lehre eine tertiäre Ausbildung
oder eine auf eine solche vorbereitende (Berufs-)Maturitätsschule an. Bei ihnen
haben gute schulische Kompetenzen, insbesondere sprachliche, einen wesentli-
chen Einfluss auf ihren erwarteten Bildungsweg nach der zweiten Schwelle. Im
Sinne von primären Herkunftseffekten sind die schulischen Leistungen der Ler-
nenden vom familiären sozioökonomischen Status abhängig. Über diesen indi-
rekten Einfluss der familiären Schichtzugehörigkeit auf den erwarteten Bil-
8.5 Übergang in eine tertiäre Ausbildung 303
Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt wurde, ist der Übergang von
der Berufslehre in die Erwerbstätigkeit oder in eine Ausbildung für junge Er-
wachsene eine Herausforderung. Einerseits können Belastungen während des
Übergangsprozesses durch die Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung und
die Suche nach einer Stelle oder Anschlusslösung entstehen. Andererseits kann
der Anpassungsprozess an die neue berufliche Situation nach dem Übergang in
die Anschlusslösung für die jungen Erwachsenen belastend sein (vgl. Eder, 1989,
sowie Kapitel 2.5 und 6.4).
8.6 Subjektive Bewältigung des Übergangs 305
In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie sich die jungen Erwachsenen
nach dem Berufslehrabschluss entwickeln, welche Belastungen sie erleben und
über welche Ressourcen sie verfügen. Dazu wird zuerst auf das subjektive
Erleben von Belastungen nach dem Übergang und das Vorhandensein von
sozialen Ressourcen eingegangen (Kapitel 8.6.1). Als Zweites wird auf die
Entwicklung der wahrgenommenen Passung zwischen Individuum Ausbildung
und die Ausbildungszufriedenheit vor und nach dem Übergang eingegangen
(Kapitel 8.6.2). Abschließend werden die subjektiven beruflichen Zukunfts-
aussichten der jungen Erwachsenen untersucht (Kapitel 8.6.3).
Lernende, welche den Übergang erfolgreich bewältigt und ihre erste Erwerbstä-
tigkeit als Berufsfachperson angetreten haben, wurden in einer offenen Frage
nach den größten Schwierigkeiten beim Antritt der Arbeitsstelle gefragt. Ihre
Antworten wurden kategorisiert, und zwar in Anlehnung an Ergebnisse von
Kutscha, Besener und Debie (2009) zu Problemen von Auszubildenden im De-
tailhandel in der Einstiegsphase. Die Resultate sind in Abbildung 8.10 zusam-
mengefasst.
Keine Probleme 34
Verantwortung 17
Fehlendes Arbeitswissen 17
Interpersonale Beziehungen 16
Selbstständigkeit 9
Wohnsituation 5
Motivationsprobleme 3
0 5 10 15 20 25 30 35 40
Sie zeigen, dass ein Großteil der jungen Erwachsenen keine nennenswerten
Schwierigkeiten beim Stellenantritt hatte. Für einige von ihnen bestand die
Schwierigkeit in der Durchsetzung ihres Rollenwechsels zu einer Fachperson
gegenüber den Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen. Eine Person beschrieb
das folgendermaßen: Viele hatten mich anfangs unterschätzt, bis ich sie vom
Gegenteil überzeugte. Sie waren skeptisch, was mein Alter und meine Ausbil-
8.6 Subjektive Bewältigung des Übergangs 309
dung anging.“ Der Rollenwechsel bringt aber auch erhöhte Erwartungen an die
jungen Erwachsenen mit sich. Für einige war der Umgang mit der erhöhten Ver-
antwortung und die Forderung von mehr Selbstständigkeit eine Herausforderung.
Zu Beginn eines neuen Jobs durchlaufen die Erwerbstätigen eine Phase der be-
trieblichen Sozialisation, welche als anstrengend erlebt wird. Sie erwähnten
deshalb Schwierigkeiten beim Einleben in einen neuen Betrieb, bei der Ausfüh-
rung einer neuen Arbeitsaufgabe oder wegen fehlenden Fach- oder Arbeitspro-
zesswissens, welches man sich aneignen musste, bedingt durch den Wechsel.
Aber auch allgemeine, vom Übergang unabhängige Faktoren, wie Konflikte in
den sozialen Beziehungen oder Stress in der Arbeit, wurden genannt.
Die Lernenden waren im zweiten Lehrjahr (2006) gefragt worden, als wie prob-
lematisch die acht Herausforderungen (siehe Tabelle 8.16) im vergangenen Aus-
bildungsjahr erlebt worden waren. Dieselbe Frage wurde ihnen im dritten Lehr-
jahr (2007) und ein Dreivierteljahr nach Lehrabschluss (2008) erneut gestellt.
Dies ermöglicht ein Vergleich der Belastungen während und nach der Berufsleh-
re der 279 Personen im FASE B-Projekt, welche 2008 den Übergang in eine
Erwerbstätigkeit oder eine erneute Ausbildung vollzogen hatten. Um dieser Ver-
änderungen der wahrgenommenen Belastungen zu untersuchen, wurde eine
multivariate Varianzanalyse mit Messwiederholung gerechnet. Signifikante Ef-
fekte wurden anschließend mit univariaten Varianzanalysen und Post-hoc-Tests
gesucht. Die multivariate Varianzanalyse zeigte, dass sich die Belastungen signi-
fikant veränderten, Hotelling's T = 0.80, F(14, 128) = 7.35, p < .001. Aus Tabelle
8.16 ist ersichtlich, dass die Schwierigkeiten mit der eigenen Motivation nach
der Lehre signifikant problematischer erlebt wurden. Dies erstaunt, da doch mit
dem Antritt einer neuen Stelle häufig die Motivation zunimmt (Kälin et al.,
2000). Weiter erlebten die jungen Erwachsenen im letzten Lehrjahr weniger
Probleme, bedingt durch die Übernahme von Verantwortung, als im zweiten
Lehrjahr. Nach dem Übergang nahmen die Probleme im Umgang mit Verant-
wortung wieder zu, so wie tendenziell auch der Leistungsdruck nach dem Über-
gang als problematischer erlebt wurde. Nach dem Übergang werden die Berufs-
lernenden als Berufsfachpersonen behandelt und entsprechend werden höhere
Anforderungen an sie gestellt.
310 8 Übergänge nach der Berufslehre
Tabelle 8.16: Erleben von Herausforderungen während der Lehre und nach dem
Übergang (N = 143)
2006 2007 2008
F-Test, df
M (SD) M (SD) M (SD)
Eigene Motivation 3.11 (0.71) 3.13 (0.80) 2.92 (0.71) 6.46**, 2, 282
Fehlende Befriedigung
bei der Berufsaus- 3.06 (0.68) 3.04 (0.81) 2.98 (0.74) 0.61, 2, 282
übung/im Studium
Leistungsdruck 3.04 (0.62) 3.09 (0.77) 2.94 (0.71) 2.57†, 2, 282
Übernahme von Ver-
3.18 (0.56) 3.43 (0.61) 3.16 (0.60) 12.15***, 2, 282
antwortung
Umgang mit Vorge-
3.17 (0.85) 3.28 (0.88) 3.32 (0.66) 2.06, 2, 282
setzten/Lehrpersonen
Umgang mit Mitar-
beitenden/Mitstudie- 3.21 (0.69) 3.54 (0.65) 3.35 (0.64) 9.95***, 2, 282
renden
Einhalten von Regeln 3.69 (0.42) 3.88 (0.33) 3.68 (0.43) 16.13***, 2, 282
Legende: *** p < .001, ** p < .01, † p < .1, Wertebereich: 1 (ein großes Problem) bis 4
(überhaupt kein Problem); 2006: 2. Lehrjahr, 2007: 3. Lehrjahr, 2008: nach dem Über-
gang.
Ebenfalls wird kurz vor Lehrabschluss der Umgang mit Mitarbeitenden und das
Einhalten von Regeln als weniger problematisch wahrgenommen als noch im
zweiten Lehrjahr, wohingegen die Probleme in diesem Bereich nach dem Über-
gang wieder zunehmen. Vermutlich ist im dritten Lehrjahr die berufliche und
betriebliche Sozialisation so weit fortgeschritten, dass die Lernenden mit den
Arbeitsanforderungen und im Umgang mit Mitarbeitenden problemlos zurecht-
kommen. Nach dem Übergang steigen hingegen die Anforderungen durch den
Rollenwechsel von Lernenden zu Berufsfachpersonen und häufig muss durch
einen Stellenwechsel erneut eine Phase der betrieblichen Sozialisation durchlau-
fen werden.
In der Wahrnehmung von beruflichen Herausforderungen bestand kein
signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern (Faktor: Hotelling's
T = 0.10, F(7, 134) = 1.83, ns; Interaktion: Hotelling’s T = 0.18, F(14,
127) = 1.60, ns) und Migrationshintergrund (Faktor: Hotelling’s T = 0.06, F(7,
134) = 1.06, ns; Interaktion: Hotelling’s T = 0.08, F(14, 127) = 0.70, ns).
Hingegen bestand ein signifikanter Unterschied in den wahrgenommenen
beruflichen Herausforderungen in Abhängigkeit von der gewählten Anschluss-
lösung (Faktor: Hotelling’s T = 0.16, F(14, 264) = 1.52, ns; Interaktion:
Hotelling’s T = 0.46, F(28, 250) = 2.05, p < .01). Im Bereich Leistungsdruck
unterschieden sich die drei Gruppen während der Berufslehre nicht signifikant
8.6 Subjektive Bewältigung des Übergangs 311
In diesem Kapitel wird untersucht, wie sich das berufliche und allgemeine
Wohlbefinden der jungen Erwachsenen entwickelt. Vor allem werden drei Fakto-
ren betrachtet, die auf das Wohlbefinden einen wesentlichen Einfluss haben: 1)
die wahrgenommene Passung zwischen der beruflichen Tätigkeit und den per-
sönlichen Interessen bzw. Fähigkeiten, 2) die Zufriedenheit mit der Berufs- resp.
Ausbildungssituation, 3) Selbstwert und depressive Tendenzen.
Da von diesen Konstrukten Messungen über drei Zeitpunkte (zweites
Lehrjahr, drittes Lehrjahr und nach dem Übergang) vorliegen, kann die Entwick-
lung längsschnittlich analysiert werden. Der Übergang kann als „erfolgreich
bewältigt“ angesehen werden, wenn die berufliche Zufriedenheit, die Passungs-
wahrnehmung und das Wohlbefinden nach dem Übergang gleich wie in der
Lehre bleibt oder sogar zunimmt. Dabei soll untersucht werden, ob sich Gruppen
je nach Anschlusslösung und nach askriptiven Merkmalen vor und nach dem
Übergang unterschiedlich entwickeln. Dafür wurden mehrere Varianzanalysen
mit Messwiederholungen gerechnet.
312 8 Übergänge nach der Berufslehre
Insgesamt ist die Passungswahrnehmung während der Lehre und nach dem
Übergang stabil geblieben, F(2, 378) = 1.10, ns. Es gab keine signifikant unter-
schiedlichen Entwicklungen der Passungswahrnehmung nach Geschlecht (Grup-
peneffekt: F(1, 215) = 2.26, ns; Zeiteffekt: F(2, 430) = 0.39, ns; Interaktion: F(2,
430) = 0.78, ns) oder bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund (Grup-
peneffekt: F(1, 197) = 0.55, ns; Zeiteffekt: F(2, 294) = 0.45, ns; Interaktion: F(2,
294) = 1.92, ns).
Die Varianzanalyse mit dem Gruppierungsfaktor Anschlusslösung ergab
hingegen einen signifikanten Zeiteffekt, F(2, 368) = 3.33, p < .05, einen nicht
signifikanten Gruppeneffekt, F(3, 210) = 1.91, ns, und eine signifikante
Interaktion, F(6, 368) = 4.20, p < .01. Die Interaktion ist in Abbildung 8.11
dargestellt. Simple main effect-Analysen (Field, 2009) zeigten, dass während der
Lehre keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der wahrgenommenen
Passung zwischen den Gruppe bestanden. Nach dem Übergang gab es eine
signifikante Zunahme der Passungswahrnehmung für Personen, die sich in einer
tertiären Ausbildung und in einer beruflichen Grundbildung befanden.
Diejenigen, die nach dem Übergang in einer dieser zwei Ausbildungsformen
waren, hatten das Gefühl, dass diese Ausbildung noch besser zu ihren Interessen
und Fähigkeiten passe als ihre Berufslehre. Nach dem Übergang empfanden die
Personen in einer Zwischenlösung eine signifikant geringere Passung als die
anderen drei Gruppen. Für sie bleibt es eine Übergangslösung, die als weniger
passend erlebt wird.
4.0
3.5
.
Passungswahrnehmung
3.0
2.5 Erwerbstätigkeit
2.0 Berufliche Grundbildung
Tertiäre Ausbildung
1.5
Zwischenlösung
1.0
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr nach Übergang
Die Zufriedenheit mit der aktuellen beruflichen Situation veränderte sich wäh-
rend der Lehre und nach der zweiten Schwelle nicht signifikant, F(2,
582) = 1.03, ns. Es gab keine signifikant unterschiedlichen Entwicklungen der
beruflichen Zufriedenheit nach Geschlecht (Gruppeneffekt: F(1, 300) = 0.71 ns;
Zeiteffekt: F(2, 580) = 0.65 ns; Interaktion: F(2, 580) = 0.87, ns), nach Migrati-
onshintergrund (Gruppeneffekt: F(1, 191) = 0.03, ns; Zeiteffekt: F(2,
355) = 0.60, ns; Interaktion: F(2, 355) = 1.43, ns) oder nach Anschlusslösung
(Gruppeneffekt: F(3, 289) = 0.68, ns; Zeiteffekt: F(2, 558) = 0.04, ns; Interakti-
on: F(2, 558) = 1.71, ns).
Kapitel 7.4) und die Zeit um die Lehrabschlussprüfung deshalb für Männer eine
größere Belastung ist.
4.0
3.5
Depressive Tendenzen .
3.0
2.5
2.0 Frauen
Männer
1.5
1.0
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr nach Übergang
Der Selbstwert entwickelt sich ähnlich wie die depressiven Tendenzen mit einer
Abnahme im letzten Lehrjahr, wobei der Effekt nicht signifikant war, F(2,
574) = 2.71, p < .10. Wiederum ergaben sich keine signifikanten Unterschiede
nach Anschlusslösung (Zeit: F(2, 590) = 1.03, ns; Faktor: F(1, 295) = 0.68, ns;
Interaktion: F(6, 590) = 0.26, ns) oder nach Migrationshintergrund (Zeit: F(2,
400) = 1.07, ns; Faktor: F(1, 200) = 1.89, ns; Interaktion: F(2, 400) = 0.20, ns).
Beim Selbstwert bestand ein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlech-
tern (Zeit: F(2, 573) = 3.42, p < .05; Geschlecht: F(1, 303) = 6.36, p < .05; Inter-
aktion: F(2, 573) = 0.95, ns). Männer haben einen höheren Selbstwert als Frauen.
Anders als bei den depressiven Tendenzen entwickelt sich der Selbstwert bei
Frauen und Männern über die Zeit nicht signifikant anders. Bei beiden Ge-
schlechtern sinkt der Selbstwert während des letzten Lehrjahres. Dies ist die Zeit,
während derer die jungen Erwachsenen die Vorbereitung des Übergangs bewäl-
tigen müssen. Nach dem Übergang steigt der Selbstwert aber wieder an, und
zwar unabhängig davon, in welcher Anschlusslösung sich die Lehrabgängerin-
nen und Lehrabgänger befinden.
8.6 Subjektive Bewältigung des Übergangs 315
In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie junge Erwachsene kurz nach der
zweiten Schwelle ihre berufliche Zukunft sehen. 1) Welche beruflichen Ziele
haben sie? 2) Machen sie sich bezüglich ihrer beruflichen Zukunft Sorgen?
Die Antworten der jungen Erwachsenen, die im Rahmen des des FASE B-
Projektes befragt wurden, wurden kategorisiert. Das Analysesystem wurde ver-
feinert, das Resultat ist zusammen mit der Anzahl an Nennungen in Abbildung
8.13 dargestellt. Sofort ersichtlich ist, dass für Lehrabgängerinnen und Lehrab-
gänger die Entwicklung der beruflichen Karriere das wichtigste berufliche Ziel
ist. Sie setzen dabei in überwältigendem Ausmaß auf Weiterbildung. Die jungen
Erwachsenen haben die Forderung nach „lebenslangem Lernen“ verinnerlicht
und sehen Weiterbildungen nach Lehrabschluss als Voraussetzung für ihre wei-
tere berufliche Entwicklung. Die Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger sind
erfolgs- und leistungsmotiviert. Sie wollen längerfristig in ihrem Beruf etwas
erreichen und geben sich nicht damit zufrieden, eine Stelle mit angenehmer Ar-
beitsumgebung zu haben.
Manhard (1972) untersuchte in seiner Studie, ob Männer und Frauen
unterschiedliche Arbeitsorientierungen haben. Mit seinen Daten aus den 1960er
und 1970er-Jahren zeigte er, dass amerikanischen Wirtschafts-College-Absol-
ventinnen längerfristige Karriereerfolgsfaktoren weniger wichtig waren als ihren
männlichen Kollegen, wohingegen sie Faktoren der Arbeitsumgebung als
wichtiger erachteten. Hinsichtlich intrinsischer Faktoren der Arbeitsorientierung
bestand kein Unterschied zwischen den Geschlechtern. Der Autor schloss, dass
die Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch eine Subgruppe von Frauen
zustande kamen, welche für sich keine längerfristige berufliche Karriere
316 8 Übergänge nach der Berufslehre
Autonomie &
Selbstverwirklichung
Arbeitszufriedenheit
Anderes
Intrinsiche Belohnung
Interpersonale Beziehungen
Sicherheit
Internationalität
Anderes
Arbeitsumgebung
Anstellung
Gehalt
Aufstieg
Selbstständigkeit
Anderes
Karriereerfolg
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200
Erstes berufliches Ziel Zweites berufliches Ziel
Einen Hinweis, wie die Bewältigung des Übergangs für die jungen Erwachsenen
gelungen ist, liefern nicht nur Analysen des aktuellen Erlebens der beruflichen
Situation, sondern auch die Perspektiven, mit welchen die jungen Erwachsenen
ihre berufliche Zukunft sehen. Deshalb wurden sie nach sechs Aspekten zu ihren
antizipierten beruflichen Schwierigkeiten befragt. Die Frage lautete: „Welche
Schwierigkeiten erwarten Sie in den nächsten 5 Jahren im schulischen und beruf-
lichen Leben?“ Aufgrund dieser Fragen soll analysiert werden, ob die jungen
Erwachsenen nach dem Übergang zuversichtlich in ihre Zukunft blicken und in
Bezug auf welche Themen sie sich Sorgen machen. Dabei sollen Unterschiede je
nach Anschlusslösung und nach askriptiven Merkmalen untersucht werden.
In Tabelle 8.17 sind die Einschätzungen der jungen Erwachsenen aufge-
führt. Im Durchschnitt sehen die jungen Erwachsenen für ihre berufliche Zukunft
kaum Probleme, am ehesten zum Thema Lohn. Die multivariate Varianzanalyse
zu Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigt signifikante Effekte
(Hotelling’s T = 0.17, F(6, 215) = 6.15, p < .001). Frauen antizipierten signifi-
kant mehr Schwierigkeiten in ihrem beruflichen Leben als Männer. Univariate
Analysen zeigen, dass dies für die Bereiche Arbeitsdruck (F(1, 220) = 17.67,
p < .001), Konflikte am Arbeitsplatz (F(1, 220) = 25.41, p < .001) und
Stellenunsicherheit (F(1, 220) = 6.04, p < .05) zutrifft. Erstaunlich ist, dass sich
die jungen Frauen hinsichtlich Lohn oder Vereinbarkeit von Arbeit und Familie,
in welchen eine Benachteiligung der Frauen öffentlich diskutiert wird, nicht
mehr Sorgen machen als ihre männlichen Gleichaltrigen. Dies gilt, obwohl die
erwerbstätigen Frauen (M = 3366 SFr.) kurz nach Lehrabschluss tatsächlich
weniger verdienen als die Männer (M = 3796 SFr.; t(206) = 3.38, p < .01). Die
Lohnbenachteiligung der Frauen bleibt auch bestehen, wenn nur Personen
berücksichtigt werden, die vollzeiterwerbstätig sind und wenn der Status des
erlernten Berufs (ISEI) statistisch kontrolliert wird (MMänner = 3988 SFr.; MFrauen
= 3696 SFr.; F(1, 164) = 14.94, p < .001).
318 8 Übergänge nach der Berufslehre
Dieser Befund wird durch Ergebnisse der TREE-Studie erhärtet (Bertschy et al.,
2007), welche für junge Erwachsene mit Berufsabschluss einen im Durchschnitt
um 500 sFr. niedrigeren Lohn der Frauen feststellt. Hier wird eine klare Benach-
teiligung der Frauen ersichtlich, die nur neun Monate nach Lehrabschluss nicht
auf unterschiedliche Berufserfahrung zurückgeführt werden kann. Wie dieser
Unterschied zustande kommt, kann aufgrund der vorliegenden Daten nicht er-
klärt werden. Lohndiskriminierung durch die Arbeitgebenden kann eine Rolle
spielen, ebenso unterschiedliche Lohnniveaus der Berufe. Obwohl für den ISEI
kontrolliert wurde, könnte es sein, dass mehr Frauen in Berufen arbeiten, in de-
nen das Lohnniveau niedriger ist.
Die jungen Frauen sehen allerdings im Hinblick auf ihren Lohn nicht mehr
Schwierigkeiten als die jungen Männer, sondern sie sehen Schwierigkeiten,
welche die konkrete Arbeitstätigkeit betreffen, wie Arbeitsdruck und soziale
Konflikte. Das kann so interpretiert werden, dass junge Frauen in Berufen
arbeiten, in denen die Arbeit belastender ist als in den Berufen, in denen die
jungen Männer vorwiegend arbeiten. Eine mögliche andere Interpretation ist,
dass die jungen Frauen für solche Schwierigkeiten empfindlicher sind, sich
ernsthafter mit ihnen auseinandersetzen oder berufliche Schwierigkeiten als
belastender erleben. Frauen machen sich mehr Sorgen bezüglich Arbeitslosig-
keit, obwohl sie beim Übergang an der zweiten Schwelle nicht häufiger von
Arbeitslosigkeit betroffen sind (vgl. Kapitel 8.3.2). Dies könnte ein Hinweis
darauf sein, dass die jungen Frauen den Übergangsprozess als schwieriger
8.6 Subjektive Bewältigung des Übergangs 319
wahrnehmen als die jungen Männer und ihre Stellen als unsicherer wahrnehmen,
auch wenn sie eine Anschlusslösung gefunden haben. Möglicherweise machen
sie sich aufgrund der erlebten Schwierigkeiten, an der ersten Schwelle eine
Berufslehrstelle zu finden (vgl. Häberlin et al., 2004), auch an der zweiten
Schwelle mehr Sorgen.
Eine weitere multivariate Analyse zum Migrationshintergrund wurde nur
marginal signifikant (Hotelling’s T = 0.06, F(6, 215) = 2.03, p < .10; vgl. Tabelle
8.17). Univariate Analysen zeigten, dass Personen mit Migrationshintergrund
mehr Schwierigkeiten im Bereich Stellenunsicherheit befürchten (F(1,
220) = 5.00, p < .05) und sich mehr Sorgen bezüglich des zukünftigen Lohns
machen, F(1, 220) = 8.65, p < .01. Ähnlich wie bei den jungen Frauen könnte es
sein, dass Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger mit Migrationshintergrund beim
Übergang an der zweiten Schwelle mehr Schwierigkeiten erlebt haben, obwohl
sie nicht häufiger arbeitslos waren als Personen ohne Migrationshintergrund
(vgl. Kapitel 8.3.2). Andere Erklärungen sind, dass sie bereits an der ersten
Schwelle mehr Schwierigkeiten erlebt hatten (vgl. Häberlin et al., 2004) oder
viele Personen mit Migrationshintergrund kennen, die von Arbeitslosigkeit
betroffen waren. Solche persönlichen Erfahrungen oder auch stellvertretende
Erfahrungen einer Bezugsgruppe könnten die Sorgen um die eigene berufliche
Zukunft nähren. Dies wäre auch eine mögliche Erklärung für die größeren
Sorgen von Personen mit Migrationshintergrund bezüglich des zukünftigen
Lohns. Denn hinsichtlich des aktuellen Lohns besteht kein signifikanter
Unterschied zwischen erwerbstätigen Personen mit und ohne Migrations-
hintergrund, t(131) = -0.89, ns.
Schließlich wurde eine weitere multivariate Varianzanalyse für die vier
Anschlusslösungen gerechnet, die signifikant war (Hotelling’s T = 0.18 F(18,
620) = 2.03, p < .01). Es besteht ein signifikanter Unterschied zwischen den
Anschlusslösungen im Hinblick auf den erlebten Arbeitsdruck (F(3, 213) = 3.26,
p < .05). Personen in einer tertiären Ausbildung (M = 2.71, SD = 0.67)
antizipieren signifikant mehr Schwierigkeiten in diesem Bereich als
erwerbstätige Personen (M = 2.27, SD = 0.69). Für sie ist der Wechsel in eine
tertiäre Ausbildung mit ihren höheren Anforderungen eine Belastung. Ein
weiterer Unterschied besteht im Bereich Stellenunsicherheit (F(3, 213) = 4.91,
p < .01). Personen in einer tertiären Ausbildung (M = 1.79, SD = 0.61)
antizipieren signifikant weniger Schwierigkeiten als Personen in einer
Zwischenlösung (M = 2.45, SD = 0.93) oder in einer beruflichen Grundbildung
(M = 2.62, SD = 0.96). Mit dem Wechsel in eine tertiäre Ausbildung müssen sich
die jungen Erwachsenen kurzfristig keine Sorgen wegen der Stellensuche
machen. Hinzu kommt, dass sie sich möglicherweise mit ihrer zusätzlichen
Ausbildung für die weitere Zukunft gute Stellenchancen ausrechnen.
320 8 Übergänge nach der Berufslehre
8.6.4 Fazit
8.7 Schlussfolgerungen
In diesem Kapitel wurde der Übergang von der Berufsbildung in die erste quali-
fizierte Erwerbstätigkeit als kritischer Punkt in der Erwerbsbiografie von jungen
Erwachsenen analysiert. Die Bildungswege der Lehrabgängerinnen und Lehrab-
gänger sind vielfältig. Lehrabgänger und Lehrabgängerinnen nahmen entweder
eine erste Erwerbstätigkeit auf, begannen eine weitere Ausbildung in der berufli-
chen Grundbildung bzw. auf Tertiärstufe, wichen auf eine Zwischenlösung aus
oder wurden mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Aber auch erwerbstätige Lehrab-
gängerinnen und Lehrabgänger hatten verschiedene Wege eingeschlagen: Einige
konnten im Lehrbetrieb bleiben, viele andere hatten den Betrieb, wenige sogar
den Beruf gewechselt. Wieder andere hatten bereits mit einer (berufsbegleiten-
den) Weiterbildung begonnen. Aus einer zeitlichen Perspektive betrachtet,
zeichnet sich der Übergang nach der Berufslehre durch eine Sequenz verschiede-
ner kleiner Übergänge aus, die teilweise zeitgleich, teilweise nacheinander ablau-
fen: Bewältigung der Lehrabschlussprüfung, Planung der weiteren beruflichen
Laufbahn, Stellensuche, Übergang in einen neuen Status zum Beispiel als Be-
rufsfachpersonen oder Studierende, Übergang in einen neuen Betrieb bzw. eine
neue Schule.
Ein qualifizierter Lehrabschluss garantiert den jungen Erwachsenen nicht,
dass der Übergang an der zweiten Schwelle reibungslos gelingt. Ein bedeutender
Anteil der Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger vollzieht einen institutionell
erwartungswidrigen Übergang (vgl. Kapitel 2.6). Nicht wenige erleben Phasen
der Arbeitslosigkeit, welche bei vielen jedoch nur von kurzer Dauer sind. Dazu
trägt die große Anpassungsfähigkeit der jungen Erwachsenen bei. Circa 20 % der
Lehrabgängerinnen und Lehrabgänger befinden sich nach der Berufslehre in
einer Zwischenlösung. Obwohl vielfältige Gründe zum Einlegen einer
Zwischenlösung führen, werden Zwischenlösungen häufig zur Vermeidung von
Arbeitslosigkeit gewählt. Zwischenlösungen tragen im Durchschnitt kaum etwas
zu einer herausfordernden beruflichen Weiterentwicklung bei und werden als zu
322 8 Übergänge nach der Berufslehre
Trotz der vielfältigen Herausforderungen belastet der Übergang nach der Berufs-
lehre junge Erwachsene im Durchschnitt wenig. Es ergeben sich keine wesentli-
chen Veränderungen im Vergleich zur Berufslehre und die jungen Erwachsenen
blicken optimistisch in ihre berufliche Zukunft. Der Übergang nach der Berufs-
lehre löst im Sinne eines ökologischen Übergangs nach Bronfenbrenner eher
einen Entwicklungsschub aus (Kapitel 2.1). Allerdings äußert sich die Kumulati-
on von Stressfaktoren im letzten Lehrjahr vor der Lehrabschlussprüfung in einer
kurzzeitigen Verschlechterung des Selbstwerts und einer erhöhten depressiven
Neigung bei den Männern. Nach dem Übergang in einen Betrieb erleben die
jungen Erwachsenen durch den Rollenwechsel und die betriebliche Sozialisation
im neuen Betrieb größere Herausforderungen im Sozial- und Leistungsbereich.
Die Anforderungen, die die Bewältigung des Übergangs an die jungen
Erwachsenen stellt, unterscheiden sich danach, ob der Übergang innerhalb des
Wirtschafts- und Berufsbildungssystems (d. h. Übergang in Erwerbstätigkeit
oder in eine berufliche Grundbildung) erfolgt oder ob ein Wechsel in eine tertiäre
Ausbildung stattfindet. Personen, die eine tertiäre Ausbildung beginnen, stehen
unter größerem Leistungsdruck und haben größere motivationale Probleme, den
Wechsel durchzuziehen, als Personen in einer anderen Anschlusslösung. Trotz
dieser Belastungen können sie aber ihre Passungswahrnehmung erhöhen und
sind weniger besorgt, arbeitslos zu werden.
Eine Risikosituation (vgl. Kapitel 2.6) entsteht, wenn junge Erwachsene
während der Berufslehre nur eine geringe Passung zwischen ihrer beruflichen
Tätigkeit und ihren Fähigkeiten bzw. Interessen wahrnehmen. In einer solchen
8.7 Schlussfolgerungen 323
bei der Stellensuche bei anderen Betrieben unterstützen. Häufig können Betriebe
aber die ausgebildeten jungen Erwachsenen nach Lehrabschluss nicht anstellen.
In diesem Fall ist es weniger nachvollziehbar, dass Lehrabgängerinnen und
Lehrabgänger bei ihrer Stellensuche nur wenig vom beruflichen Netzwerk der
Betriebe profitieren können. Dies ist bedauerlich angesichts des nachgewiesenen,
positiven Einflusses eines eigenen beruflichen Netzwerkes auf das Finden einer
Arbeitsstelle und das allgemeine Wohlbefinden der jungen Erwachsenen.
Die Chancen der Übergangsbewältigung werden wesentlich auch von den
institutionellen Bedingungen mitgestaltet. So hat die Gestaltung der Ausbil-
dungsgänge einen Einfluss darauf, welche Anschlusslösung jeweils gewählt
wird. Ebenso sind das Arbeitslosigkeitsrisiko und die Berufswechselwahr-
scheinlichkeit abhängig davon, welchen Beruf die jungen Erwachsenen erlernt
haben. Sie werden auch von ihrer Entscheidung bei Eintritt in die Berufsbildung
beeinflusst.
Am Beispiel des Übergangs in eine tertiäre Ausbildung konnten wir zeigen,
dass Bildungswege nicht nur von den eigenen Plänen, sondern auch von den
persönlichen Lebensumständen und Belastungen beeinflusst werden. Wenn
Lernende viele kritische Lebensereignisse erleben, beginnen sie seltener eine
tertiäre Ausbildung. Es ist deshalb wichtig, dass Bildungssysteme offen gestaltet
werden, damit verpasste Chancen nachgeholt und Bildungsabschlüsse auf
verschiedenen Wegen erreicht werden können.
davor, ihre Stelle zu verlieren. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Frauen
den Übergang trotz objektiv gleichen Erfolgs als schwieriger erleben als Männer.
Lehrabsolventinnen und Lehrabsolventen mit Migrationshintergrund sind
beim Übergang in die erste Erwerbstätigkeit nicht benachteiligt. Sie werden
weder häufiger arbeitslos noch befinden sie sich häufiger in einer
Zwischenlösung. Hingegen sind ihre Chancen, nach der Berufslehre eine tertiäre
Ausbildung zu absolvieren, deutlich geringer als diejenigen von Personen ohne
Migrationshintergrund. Personen mit Migrationshintergrund machen sich
außerdem mehr Sorgen um den zukünftigen Lohn und die Stellensicherheit, auch
wenn sie objektiv gesehen nach der zweiten Schwelle nicht weniger verdienen
und auch nicht häufiger arbeitslos werden als Personen ohne Migrations-
hintergrund. Ähnlich wie bei den Frauen könnte dies eine Folge von subjektiv
erlebtem Stress bei der Übergangsbewältigung sein, Nachwirkung negativer
Erfahrungen beim Übergang in die Sekundarstufe II sein oder auch die Erfah-
rung aus dem familiären Umfeld widerspiegeln.
9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Der Weg von der Schule in den Arbeitsmarkt ist eine wichtige, mehrjährige
Phase im Lebenslauf, während der verschiedene Übergänge zu bewältigen sind.
Zwischen diesen Übergängen gibt es Gemeinsamkeiten. Jugendliche treffen in
Absprache mit ihren Bezugspersonen persönliche Bildungsentscheidungen.
Gleichzeitig finden Selektionsprozesse statt, durch welche Jugendliche im posi-
tiven Fall zu Ausbildungen und beruflichen Optionen Zugang erhalten. Jugendli-
che müssen nach einem Übergang die neuen Anforderungen der aufnehmenden
Institution (Anschlusslösung) meistern, um die gewählte Ausbildung erfolgreich
absolvieren zu können. Trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen be-
wältigen die meisten Jugendlichen die Übergänge in das Berufsleben erfolgreich.
Der Übergang von der Volksschule in die Erwerbstätigkeit wird durch
Institutionen, aber auch durch die Jugendlichen selbst und ihr soziales Umfeld
gesteuert. Institutionen definieren zu bestimmten Zeitpunkten normative
Übergänge, schaffen Bildungs- und Erwerbsangebote und erzwingen dadurch
von den Jugendlichen Entscheidungen. Zu diese zu treffen, können die
Jugendlichen auf personale und soziale Ressourcen zurückgreifen. Gerade die
Jugendlichen - aber auch Erwachsene - sind mit Entscheidungen, die lang-
fristigen Konsequenzen haben, überfordert, weshalb sie sich bei ihrer Entschei-
dungsfindung auf soziale Bezugspersonen stützen (soziale Ressourcen).
Institutionelle Strukturen erweitern oder begrenzen an den einzelnen Übergängen
die Möglichkeiten, wie der weitere Bildungsverlauf aussehen könnte, je nach
individuellen Fähigkeiten und sozialen Ressourcen. Institutionen, Individuen und
Bezugspersonen stehen in einer Wechselwirkung zueinander (vgl. Kapitel 3) und
repräsentieren die Perspektiven, aus welchen die verschiedenen Übergangs-
prozesse analysiert werden.
Der Eintritt in die Berufsbildung stellt die erste Schwelle auf dem Weg in die
Erwerbstätigkeit dar. Im Unterschied zur Selektion beim Übergang die Sekun-
darstufe I wird das Aufnahmeverfahren in die Sekundarstufe II häufiger durch
die aufnehmende Institution (Mittelschule, Lehrbetrieb usw.) bestimmt und nicht
durch die Lehrpersonen der abgebenden Schule. Auf der Sekundarstufe II gibt es
zwei hauptsächliche Bildungskanäle - die Mittelschule und die Berufslehre -
welche unterschiedliche Sozialisations- und Entwicklungskontexte darstellen.
Diese Institutionen strukturieren die Bildungsverläufe der Jugendlichen und
lassen aufgrund ihrer vielfältigen Angebote einen Spielraum für individuelle
Entscheidungen. Beim Übergang in die Sekundarstufe II stellen die institutionel-
len Strukturen (Selektionsverfahren und -kriterien) analog zum Übergang in die
Sekundarstufe I Anforderungen an die Jugendlichen, welche diese erfüllen müs-
sen. Jedoch bestehen diese Anforderungen nicht primär aus schulischen Fach-
kompetenzen. Aus der Perspektive der Berufsbildenden sind unentschuldigte
Absenzen, Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenzen die wichtigsten Selekti-
onskriterien (vgl. Kapitel 6.2.1).
Allerdings stellen die Berufslehren und die allgemeinbildenden Schulen
unterschiedliche Anforderungen an die Jugendlichen. Während im Gymnasium
hohe intellektuelle Anforderungen gestellt werden, sind in einigen Berufslehren
die handwerklichen und sozialen Anforderungen deutlich höher als im
Gymnasium. Dadurch entsteht eine große Vielfalt an institutionellen Bildungs-
angeboten, zu denen individuelle Kompetenzprofile und Interessenmuster mehr
oder weniger passen. Die Ergebnisse im Kapitel 6.2.2 zeigen, dass gute schu-
lische Leistungen das Erfüllen der Anforderungen von Berufslehren nicht alleine
prognostizieren können. Dies eröffnet Jugendlichen mit schlechteren schulischen
Leistungen und aus Schulniveaus mit Grundansprüchen Chancen, da sie sich
gegebenenfalls mit anderen Kompetenzen im Beruf bewähren können. Je nach
Berufslehre werden andere Anforderungen gestellt. Manuelle Kompetenzen sind
in handwerklich-technisch anspruchsvollen Lehren wichtig; in anderen Berufs-
9.1 Überblick über die wichtigsten Ergebnisse 331
lehren (zum Beispiel KV40) werden jedoch gute schulische Leistungen voraus-
gesetzt.
Die Ausbildungs- und Berufswahl stellt für Jugendliche einen wichtigen
Entscheidungsprozess dar. Die in den Interviews mit den Jugendlichen erfassten
Entscheidungskriterien belegen, dass positive oder negative Emotionen in
Schnupperlehren oder Betriebspraktika für Jugendliche eine wichtige Entschei-
dungsgrundlage bilden. Aufgrund der Komplexität der Berufswahl und der mit
ihr verbundenen Überforderung vertrauen die Jugendlichen auf eine intuitive
Entscheidung („Bauchgefühl“), die auf einer Kombination von rationalen
Überlegungen und Informationen, berufspraktischen Erfahrungen und Empfeh-
lungen von Bezugspersonen und Heuristiken beruht. Die Jugendlichen entschei-
den sich für einen Beruf, der für sie eine hohe subjektive Attraktivität besitzt und
dessen Anforderungen sie erfüllen können und sie somit ihre Interessen und
Fähigkeiten optimal einbringen können. Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche
aufgrund ihrer Bildungseinstellung, im Sinne von Erwartungen und Werten
sowie aufgrund des sozialen Einflusses von nahestehenden Bezugspersonen eine
Berufsentscheidung fällen (vgl. Kapitel 6.3).
Der Übergang in die Berufsbildung wird also von strukturellen Faktoren,
aber auch von Zielen, Plänen und Bildungseinstellungen der Jugendlichen ge-
steuert. Soziale Ressourcen wie Familie, Schule und Gleichaltrige unterstützen
die Jugendlichen. In Kapitel 6.5 wurde gezeigt, dass insbesondere die Qualität
der elterlichen Unterstützung von zentraler Bedeutung ist. Eine gute familiäre
und schulische Unterstützung kompensiert strukturelle Benachteiligungen. Ju-
gendliche aus Schulniveaus mit Grundansprüchen können sich für eine an-
spruchsvolle Lehre qualifizieren. Für Jugendliche ohne diese elterliche Unter-
stützung erhalten engagierte Lehrpersonen und ein Netz von Beraterinnen und
Beratern besondere Bedeutung.
Obwohl der Übergang in die Berufsbildung in der Regel gut gelingt, gibt es
Jugendliche, welche den Übergang nicht gut meistern, d. h. sie finden keine
qualifizierende oder keine passende Anschlusslösung nach der Volksschule.
Dafür ist insbesondere die Belastungs- und Ressourcenlage wichtig. Risikositua-
tionen, als Konstellation von individuellen und kontextuellen Merkmalen, bilden
ein vielversprechendes Konzept, um Jugendliche zu identifizieren, deren Über-
gangsprozess gefährdet ist. Aufgrund der Ergebnisse lassen sich Risikofaktoren
zeigen, welche einen erwartungswidrigen „Bildungsabstieg“ (keine Anschluss-
lösung, welche dem vorausgehenden Schulniveau entspricht) beim Übergang in
die Sekundarstufe II vorhersagen können. Eine geringe subjektive Erfolgser-
wartung und bildungskritische persönliche Werte können einen erwartungs-
Durch Übertritt in die Berufslehre werden neue Mikrosysteme (vgl. Theorie von
Bronfenbrenner, Kapitel 2.1) wie der Lehrbetrieb und die Berufsfachschule er-
schlossen. In der Schweiz gibt es zwei Arten der Berufsbildungsorganisation: die
Vollzeitberufsschule und die Ausbildung, die sowohlin Lehrbetrieben als auch in
Berufsfachschulen stattfindet, die sogenannte duale Berufsbildung. Letztere ist in
der Deutschschweiz die am häufigsten gewählte Ausbildung. Durch die Tren-
nung von Betrieb und Schule müssen Jugendliche zwischen verschiedenen Aus-
bildungsinstitutionen pendeln (synchrone Transitionen). Ein Wechsel zwischen
den Lernorten bedeutet, dass berufsbezogenes Wissen und Können in der Berufs-
fachschule erworben und im jeweiligen Lehrbetrieb praktisch angewendet wird
(Wissenstransfer, Kapitel 7.1). Dadurch ergibt sich zwischen den Lernorten
Koordinationsbedarf.
Innerhalb der Berufsbildung wird ein Zuwachs an Fähigkeiten und
Fertigkeiten angestrebt, welcher in Kapitel 7.2 anhand des beruflichen
Fähigkeitsselbstkonzepts, also der subjektiven Bewertung der eigenen beruf-
lichen Kompetenzen, untersucht wurde. Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept
wird vor wie auch während der Berufsbildung durch schulische, betriebliche,
familiäre und individuelle Faktoren beeinflusst. So schätzen Lernende ihr beruf-
liches Fähigkeitsselbstkonzept höher ein, wenn sie eine gute Beziehung zu ihren
Eltern haben, eine hohe Zufriedenheit mit den Berufsbildenden wahrnehmen und
einen hohen Selbstwert aufweisen. Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept wird
schon in der Volksschule aufgrund von fachlichen Fähigkeitsselbstkonzepten im
achten Schuljahr und von Volksschullehrpersonen gesetzten Leistungsstandards
geprägt. Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept erweist sich während der
Berufslehre als sehr stabil. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass familiäre Bedin-
gungen und schulische Kompetenzen in der obligatorischen Schulzeit die späte-
ren subjektiven beruflichen Kompetenzen wesentlich beeinflussen.
In der Berufsbildung gibt es vor allem zwei nonnormative Übergänge:
Lehrvertragsauflösungen und das Nichtbestehen der Lehrabschlussprüfung. In
der Schweiz werden jährlich zehn bis 40 Prozent aller Lehrverhältnisse aufge-
löst, wobei dies nur bei fünf bis sieben Prozent aller Lernenden zu problemati-
9.1 Überblick über die wichtigsten Ergebnisse 333
chen in schulischen und beruflichen Bereichen stärkt nicht nur die Passungs-
wahrnehmung, sondern dient auch als Ressource bei der Bewältigung der Über-
gänge. Als entscheidend haben sich außerdem bei allen Übergängen die Bil-
dungseinstellungen der Jugendlichen erwiesen. Die Unterstützung nahestehender
Bezugspersonen ist für die Jugendlichen bei allen Übergängen von großer Be-
deutung. Verstärkt wird deren Bedeutung in kritischen Situationen wie einem
Lehrabbruch, dem Durchfallen bei der Lehrabschlussprüfung oder einer Arbeits-
losigkeit. Bei allen Übergängen wurde deutlich, dass Jugendliche, die wenige
familiäre Ressourcen haben, außerfamiliäre Unterstützung bei der Bewältigung
der Übergänge brauchen. Andernfalls sind sie bei schulischen Selektionsverfah-
ren, bei der Berufswahl, der erfolgreichen Absolvierung einer Ausbildung und
der Bewältigung von kritischen Situationen in und nach der Ausbildung benach-
teiligt.
Wir haben den Übergang von der Schule in den Beruf aus der Perspektive dreier
Akteure analysiert: Institutionen, Jugendliche sowie deren Bezugspersonen. Die
Ergebnisse bestätigen, dass sich diese konzeptuelle Breite bewährt hat. Nur eine
mehrperspektivische Sicht auf die Übergangsprozesse lässt eine plausible Analy-
se der Transitionsprozesse zu. Insbesondere bewährt sich das Konzept der Pas-
sung als Korrespondenz zwischen Individuum und Institution, um die Wechsel-
wirkung zwischen den Akteuren zu beschreiben. Passung ist sowohl ein Erfolgs-
kriterium für einen Schulwechsel als auch eine Bedingung für die berufliche
Entwicklung. Daher bergen geringe Spielräume von Jugendlichen bzw. Berufs-
bildenden im Entscheidungs- und Selektionsprozess das Risiko, dass keine Pas-
sung hergestellt werden kann. Beispielsweise wird bei nonnormativen bzw. er-
wartungswidrigen Übergängen die Passung reduziert (Neuenschwander & Gar-
rett, 2008), was zu Unzufriedenheit und Problemen in Brückenangeboten führt.
Allerdings zeigen die Ergebnisse, dass diese drei Akteure bei den verschie-
denen normativen und nonnormativen Übergängen unterschiedliche Funktionen
haben. Bei innerschulischen Übergängen werden die Jugendlichen auf der Basis
von Beurteilungs- und Selektionsverfahren Anschlusslösungen zugeordnet. Die
Chancen der Jugendlichen hängen von Angeboten und Aufnahmequoten sowie
von der Ausgestaltung des Selektionsverfahrens ab. Die Übergänge in die
Sekundarstufe I bzw. in eine allgemeinbildende Vollzeitschule der Sekundar-
stufe II sind durch Verfahren vorgezeichnet, die durch formale und informelle
Merkmale beeinflusst werden, wobei die schulischen Noten in vielen Verfahren
das wichtigste (formale) Kriterium bilden. Die Zahl der Ausbildungsoptionen ist
9.2 Konsequenzen für das Verhältnis von Schule und Beruf 337
in der Sekundarstufe I gering und in der Sekundarstufe II, vor allem in der
Berufsbildung, sehr groß. Im Tertiär- und Quartärbereich stehen nochmals viele
Wege offen. Die Entscheidung, welche dieser Wege gewählt werden, wird aber
deutlich durch die erste Berufswahl eingeschränkt.
Bei betrieblichen Selektionsverfahren fließt die Sympathie und der erste
Eindruck zwischen Arbeitnehmendem und Arbeitgebendem in die Entschei-
dungsfindung über die Vergabe einer Lehr- oder Arbeitsstelle ein. Neben den
beruflichen bzw. fachlichen Kompetenzen erhalten soziale Kompetenzen eine
hohe Bedeutung, weil die soziale Akzeptanz bei Mitarbeitenden im Betrieb, aber
auch bei Kundinnen und Kunden hohes Gewicht hat. Während sich Lehrende
und Lernende in der Schule nicht gegenseitig auswählen können, spielen die
persönlichen Vorlieben und Sympathien im Arbeitsmarkt eine große Rolle.
Überdies vertrauen große Betriebe Zeugnissen und Diplomen anderer Institutio-
nen aufgrund von deren beschränkter Aussagekraft nur bedingt und entwickeln
für die Personalselektion eigene Verfahren.
Neben diesen institutionell bedingten Unterschieden zwischen den verschie-
denen normativen Übergängen beeinflussen auch Entwicklungsprozesse der
Jugendlichen den Verlauf des Übergangs. Die Jugendlichen sind beim Übergang
in die Sekundarstufe I bzw. II stark gefordert, selbstständig langfristige
Bildungs- und Berufsentscheidungen zu fällen und stützen ihre Präferenzen auch
auf die Empfehlung von vertrauenswürdigen Bezugspersonen ab. Hinweise aus
Interviews in Kapitel 6.3.2 gehen in die Richtung, dass Jugendliche die Komple-
xität der Übergangsentscheide reduzieren indem sie sich von konkreten, emotio-
nalen Erfahrungen in Ausbildungssituationen und beruflichen Situationen (zum
Beispiel Schnupperlehren) leiten lassen. Allerdings dürfte dieses Vorgehen
manchmal zu suboptimalen Entscheidungen führen.
Die Bedeutung der Bezugspersonen nimmt mit zunehmenden beruflichen
Erfahrungen in der Berufsbildung bzw. in der Erwerbstätigkeit sowie mit
zunehmenden Kenntnissen über das Ausbildungs- und Berufssystem ab, d. h. je
mehr die Jugendlichen über Ausbildung und Beruf selbst Bescheid wissen, desto
weniger sind sie auf die Unterstützung durch andere angewiesen - wobei wegen
der Komplexität des Arbeitsmarktes die Beratung durch Bezugspersonen lebens-
lang bedeutsam sein dürfte. Die Jugendlichen sind mit zunehmendem Alter in
der Lage, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt realistisch einzuschätzen und
selbstständige Entscheidungen zu fällen. Während die erste Berufswahl vor der
Berufsbildung durch singuläre Erfahrungen und Empfehlungen von Bezugs-
personen beeinflusst ist, basieren Laufbahnentscheide im (jungen) Erwachsenen-
alter auf differenzierten Kenntnissen des Bildungs- und Erwerbssystems und
einer erarbeiteten Identität.
338 9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Fend (1980, 2006) definierte die Schule als gesellschaftliche Institution mit den
Funktionen Qualifikation, Selektion, Allokation, Integration und gesellschaftli-
che Kontrolle. Für den Staat und die Gesellschaft ist die Bildung so wichtig, dass
sie diese nicht der Familie bzw. dem Zufall überlassen wollen, sondern dafür
eigens eine große Institution geschaffen haben und eine allgemeine Schulpflicht
durchgesetzt haben. Staat und Gesellschaft stellen damit sicher, dass alle Jugend-
lichen das notwendige Wissen für die Ausübung ihrer demokratischen Rechte
und die Grundlagen für produktive Erwerbstätigkeit erhalten, aber auch auf ein
souveränes, unabhängiges Leben vorbereitet werden. Die Schule soll die Jugend-
lichen qualifizieren und vor diesem Hintergrund unterschiedlichen Bildungsgän-
gen zuweisen, die ihnen die entsprechenden Ausbildungsabschlüsse ermöglichen
(Selektion). Damit treten die Jugendlichen in unterschiedliche Segmente des
Arbeitsmarktes ein (Dickens & Lang, 1988). Neben der Vermittlung von Fähig-
keiten und Fertigkeiten soll die Schule außerdem soziale und kulturelle Aufga-
ben übernehmen (gesellschaftliche Reproduktion), die Heranwachsenden in die
Gesellschaft integrieren und grundlegende Regeln des gesellschaftlichen Um-
gangs vermitteln (vgl. Kapitel 9.2.2).
Zur Erfüllung dieser Funktionen schufen Staaten Bildungssysteme mit einer
eigenen Organisation und eigenen Regeln. Von diesen Bildungssystemen ist das
Wirtschaftssystem abzugrenzen, das eine ganz andere Organisation aufweist
(vgl. Analysen in Chaponnière, Flückiger, Hotz-Hart, Osterwalder, Sheldon &
Weber, 2005). In der Marktwirtschaft sind Betriebe bemüht, ihr Überleben zu
sichern bzw. Gewinn zu erwirtschaften. Entsprechend steht die Aus- und Weiter-
9.2 Konsequenzen für das Verhältnis von Schule und Beruf 339
bildung der Mitarbeitenden unter dem Zeichen, die Produktivität des Betriebs zu
steigern. Eine wichtige Grundlage dafür bildet die Personalselektion, weil nur
Personen, die in den Betrieb passen, maximale Produktivität sichern. Diese
Personen werden in einem freien Arbeitsmarkt rekrutiert. Dabei ist ein zentrales
Interesse der Betriebe, Personen mit umfangreicher und passender Ausbildung
zu finden, zumal hohe intellektuelle Kompetenzen in kognitiv anspruchsvollen
Berufen am ehesten hohe Produktivität garantieren (Schmidt & Hunter, 1998).
Aus diesem Grund fordern Betriebe, dass die Heranwachsenden im
Bildungssystem die Kompetenzen erwerben, die im Betrieb erforderlich sind.
In der Schweiz spielt die Berufsbildung eine Schlüsselrolle bei der
Vermittlung der erforderlichen Kompetenzen. Der Übergang in die Erwerbs-
tätigkeit erfolgt daher in der Regel über eine Berufsausbildung. Die Berufs-
soziologie hat gezeigt, dass sich Berufe durch den Aspekt der Organisation
(Berufsverbände) auszeichnen, deren Zugehörigkeit durch formale Qualifi-
kationen (Berufsabschluss) definiert ist (Daheim, 1992). Die Zugehörigkeit zu
einem Beruf bzw. die formale Mitgliedschaft in einem Berufsverband setzt
spezifische Tätigkeiten voraus, die dank erlernter Kompetenzen von den Ju-
gendlichen erbracht werden können. Entsprechend sind Stellenausschreibungen
keine reinen Tätigkeitsbeschreibungen, sondern mit beruflichen Qualifikationen
versehen, die in einer Ausbildung erworben worden sind. Die Organisation der
Erwerbstätigkeit als Vorhandensein verschiedener Berufe verstärkt die Bedeu-
tung der Ausbildung im Arbeitsmarkt und schafft eine Verbindung von Aus-
bildung und Erwerbstätigkeit. Die Ergebnisse in Kapitel 7 illustrieren die hohe
strukturierende Kraft der Berufe für individuelle Ausbildungsverläufe und
Selbstkonzepte. So unterscheiden sich nicht nur die Ausbildungsmodelle und die
jeweilige Lernortgestaltung wesentlich zwischen den Berufen, sondern auch die
Häufigkeit von Lehrvertragsauflösungen und die Durchfallquote bei Lehrab-
schlussprüfungen.
Allerdings reduziert der Berufsabschluss den Spielraum der Arbeit-
suchenden auf dem Stellenmarkt. Sie erhalten nur Arbeitsstellen, für die sie be-
ruflich qualifiziert sind. Gemäß den Ergebnissen in Kapitel 8 unterscheiden sich
die Stellenchancen, die Art der Anschlusslösung sowie die Möglichkeit, dass ein
Berufswechsel stattfindet, wesentlich je nach Beruf. Institutionelle Beschrän-
kungen beim Erreichen von Abschlüssen führen zu starken, geografisch beding-
ten Ungleichheiten im Lehrstellen- bzw. Arbeitsmarkt (zum Beispiel kantonale
Unterschiede in den Quoten des Sekundarstufe I-Niveaus, vgl. Kapitel 5, oder
Ausbildungsangebote der Berufsbildung).
Im angloamerikanischen Raum treten die jungen Stellensuchenden mit eher
allgemeinbildenden Abschlüssen von einem College in den Arbeitsmarkt ein und
erwerben die beruflichen und betriebsspezifischen Kompetenzen im Rahmen
340 9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
eines festen Arbeitsverhältnisses („on the job“). Sie sind dank ihrer breiten
Ausbildung vielfältig einsetzbar, was ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht.
Allerdings können sie erst nach einigen Jahren der Erwerbstätigkeit eine selbst-
ständige Funktion in einem Betrieb übernehmen, nachdem sie die spezifischen
beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben haben. Es kann geprüft
werden, ob eine Annäherung der beiden Systeme für die Stellensuchenden und
die Arbeitgebenden Vorteile bringt. Die Heranwachsenden sollen sich zwar in
einer Berufsausbildung qualifizieren, zugunsten einer größeren Flexibilität im
Hinblick auf den Arbeitsmarkt aber eher für ganze Berufsfelder und nicht für eng
definierte Berufe. Die Zahl der unterschiedlichen Berufsausbildungen in der
Schweiz41 wäre demnach zu reduzieren, sodass die Jugendlichen einen Ab-
schluss in einem Berufsfeld erhalten würden. Sie würden damit praxisbezogenes
Wissen erwerben und zugleich hohe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erlangen.
Die Ausbildung erfolgte weiterhin dual, die Qualifikation würde aber nicht für
einen hochspezialisierten Beruf erlangt werden, sondern für ein Feld von Be-
rufen mit ähnlichen Qualifikationsanforderungen. Damit könnten Unterschiede
zwischen dem Lehrstellen- und Arbeitsangebot (vgl. Bildungsbericht Schweiz)
reduziert werden.
Diese Überlegungen beruhen darauf, dass das Bildungssystem und das
Wirtschaftssystem zwei getrennte Systeme sind, die unterschiedliche Funktionen
und Organisationsformen aufweisen. Obwohl mit dem Konzept des Berufs eine
Art Verbindung zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit geschaffen werden
soll, bleibt die Grenze zwischen den beiden Systemen deutlich sichtbar. Diese
Grenze wird aus der Perspektive des Wirtschaftssystems kritisiert, weil sie für
dieses mit dem Aufwand verbunden ist, die jungen Stellensuchenden bei der
Bewältigung der Anforderungen beim Stellenantritt zu unterstützen. Umgekehrt
betont die Schule ihre allgemeinbildende Ausrichtung, der zufolge sie die
Jugendlichen nicht nur auf das Wirtschaftssystem vorbereiten will, vielmehr will
sie den Lernenden auch Lebenstüchtigkeit sowie politische Verantworutng als
Staatsbürgerin und Staatsbürger vermitteln. Die Schule stellt einen breiteren Bil-
dungsbegriff ins Zentrum ihrer Arbeit. Trotz Koordinationsbemühungen zwi-
schen dem Bildungs- und dem Wirtschaftssystem wird daher ein Unterschied
weiterbestehen.
Versuche, die Grenze zwischen Bildungssystem und Wirtschaftssystem zu
aufzuweichen, finden sich in Brückenangeboten an der ersten und zweiten
Schwelle. Die Analysen in Kapitel 6 und 8 haben gezeigt, dass Brückenangebote
häufig gewählt werden und dass offenbar ein großer Bedarf besteht, durch
Zwischenlösungen, die auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt sind, den
Eine Leitfrage in Kapitel 1 war, wie die Jugendlichen in Schule und Familie auf
den Beruf vorbereitet werden. Berufsvorbereitung schließt einerseits den Erwerb
von fachlichen und berufsrelevanten Kompetenzen ein. Die Jugendlichen sollen
in der Schule, der Familie und in anderen Lebenskontexten die Bildung erhalten,
die sie zur Ausübung eines Berufs befähigt. Die fachlichen Kompetenzen werden
in der Schule vermittelt, wobei dieser Vermittlungsprozess in der Familie und in
anderen Kontexten wesentlich unterstützt wird (vgl. Kapitel 5). Die Qualifikatio-
nen in Form von Diplomen und Zertifikaten sind Belege für die erworbenen
Kompetenzen. Andererseits impliziert die Berufsvorbereitung den Erwerb von
sozialem Wissen, von Regeln, sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten, die in
spezifischen Situationen eingesetzt werden können (skills; vgl. auch Neuen-
schwander, im Druck a). Betriebe sind arbeitsteilig organisiert, weshalb die Zu-
sammenarbeit zwischen den verschiedenen Mitarbeitenden eine Voraussetzung
für die Produktivität des jeweiligen Betriebs bildet. Entsprechend bilden die
sozialen Kompetenzen und die Motivation von Jugendlichen wichtige Kriterien
bei der Lehrstellenvergabe und für die Entstehung einer Passung zwischen Ler-
nenden und Lehrbetrieb (vgl. Kapitel 6). Unsere Ergebnisse belegen, dass die
Sozialisationsfunktion der Schule bzw. der Erwerb von sozialen Kompetenzen in
Familie, Gleichaltrigengruppen und anderen Kontexten bei der Berufsvorberei-
tung eine große, möglicherweise unterschätzte Rolle spielen dürfte.
Aus einer übergeordneten Perspektive und in Weiterführung der eingeführ-
ten theoretischen Grundlagen vertieft das Konzept des latenten Lernens unser
342 9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Selektivität der Schule zentral ist. Infolge der Schulpflicht müssen sich alle
Schülerinnen und Schüler mit diesen Regeln auseinandersetzen, weshalb sich
Subkulturen und moralisch fragwürdige Taktiken (zum Beispiel Abschreiben,
Verweigerung der Zusammenarbeit) entwickeln können (Heinze, 1980). Damit
ist die oben angesprochene Integrations- und Reproduktionsfunktion der Schule
gemeint, durch welche die Schülerinnen und Schüler zu sozial angepassten
Mitgliedern der Gesellschaft werden sollen. Die Ergebnisse in Kapitel 6 illus-
trieren, dass diese Integrations- und Reproduktionsfunktion im Lehrstellenmarkt
hohes Gewicht hat, und dass die vooraussichtlich erfolgreiche soziale Integration
der angehenden Berufslernenden in den Betrieb ein entscheidendes Kriterium bei
der Lehrstellenvergabe darstellt. So wie die Schule fachliche Bildung
gewährleisten und soziales Verhalten fördern soll, fordern Arbeitgebende im
Arbeitsmarkt hohe berufliche Kompetenzen und sozial angepasstes Verhalten.
Allerdings werden schulische Sozialisationsprozesse wesentlich von fami-
liären Sozialisationsprozessen überlagert. Die Ergebnisse in Kapitel 5 zeigen in
Übereinstimmung mit früheren Studien, dass die Schicht und der Migrations-
hintergrund wesentlich die familiäre Förderung von Kindern beeinflussen, sodass
die Kinder je nach Bildungseinstellungen der Eltern, deren Stimulation und
Erziehungsstil Vorwissen aufbauen, das das Lernen von Fachinhalten in der
Schule wesentlich beeinflusst. Außerdem entwickeln Jugendliche Werte und
Lebensziele, wenn Eltern mit stabilen Verhaltensmustern auf schulischen Erfolg
und Misserfolg reagieren (Neuenschwander & Frank, 2011). Jugendliche
bekommen im familiären Erziehungsalltag Werte, Regeln und Kompetenzen
vermittelt, um sich sozial angemessen verhalten zu können (Mollenhauer,
Brumlik & Wudtke, 1975). Bei der kontinuierlichen Interaktion zwischen den
Familienmitgliedern werden Regeln gesetzt; diese werden von den Jugendlichen
verinnerlicht und in außerfamiliären Situationen angewendet. Entsprechend
tragen ungünstige familiäre Sozialisationsprozesse zu Regelverstößen von Ju-
gendlichen in der Schule bei (Neuenschwander et al., 2005). Jugendliche aus
„schwierigen Familien“ verstoßen häufiger in der Schule und in anderen Kontex-
ten gegen Regeln.
Als Kriterium für einen erfolgreichen Übergang in den Beruf wurde immer
wieder eine passende Ausbildung bzw. eine passende Erwerbssituation postu-
liert. In der Tat zeigen die Ergebnisse in Kapitel 8, dass eine hohe Passungs-
wahrnehmung in der Berufsausbildung das Risiko senkt, arbeitslos zu werden
bzw. den Beruf zu wechseln. Wir haben dabei den Begriff der Passung direkt als
Passungswahrnehmung der Jugendlichen operationalisiert. In Ergänzung dazu
sollten zukünftige Forschungsarbeiten die Passungswahrnehmung auch aus der
Perspektive der Berufsbildenden bzw. Betriebsmitarbeitenden erfassen oder aber
anhand äußerer Kriterien die Passung indirekt erschließen (vgl. die Passungs-
344 9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
lichen zu ihren Eltern und das Interesse der Eltern an der Ausbildung der
Jugendlichen schützen beispielsweise vor Jugendarbeitslosigkeit. Wenn Jugend-
liche über gute Kontakte zu erwachsenen Personen verfügen, sind ihre Stellen-
chancen im Arbeitsmarkt besser. Insofern bilden die Eltern nicht nur wichtige
Ressourcen während des Berufswahlprozesses, sondern bereiten ihre Kinder
auch auf die sozialen Anforderungen in der Berufsbildung und in der
Erwerbstätigkeit vor.
Mit der abnehmenden Bedeutung der Eltern für die Jugendlichen, die mit
der Transformation der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter zusammenhängt,
gewinnen andere Bezugspersonen wie Lehrpersonen, Gleichaltrige, Berufs-
bildende, Arbeitskolleginnen und -kollegen und weitere Personen an Einfluss.
Die Ergebnisse in den Kapiteln 5 bis 8 zeigen, dass Jugendliche in
Risikosituationen geraten, wenn sie nicht auf diese Ressourcen zurückgreifen
können. Die soziale Unterstützung der Jugendlichen ist nicht an eine bestimmte
Person (zum Beispiel die Mutter oder die Lehrperson) gebunden. Eine qualitativ
gute Unterstützung ist auf das Alter der Jugendlichen bzw. den entsprechenden
Übergang abgestimmt. Vor dem Übergang in die Berufsbildung braucht es eine
niederschwellig erreichbare, glaubwürdige Vertrauensperson, welche die Jugend-
lichen zur Wahl eines geeigneten Berufs ermutigt, bei den einzelnen
Explorations- und Bewerbungsschritten berät, bei Absagen ermutigt und
Optimismus vermittelt (vgl. Häfeli & Schellenberg, 2009). Wenn die Eltern die
dafür erforderlichen Kompetenzen nicht besitzen oder wenn die Beziehung der
Eltern zu ihren Kindern nicht vertrauensvoll ist, kann diese Aufgabe von einer
anderen Person übernommen werden. Entscheidend dürfte sein, dass alle
Jugendlichen eine solche glaubwürdige und kompetente Vertrauensperson
haben, die bei Bedarf kontaktiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist die
Stärkung der Berufsorientierung an Schulen sinnvoll, durch welche Lehrper-
sonen Jugendliche intensiver im Berufswahlprozess begleiten. Vermutlich sind
professionelle Mentoring-Angebote, in denen Jugendliche bei der Lehrstellen-
suche gecoacht werden, aus diesem Grund wirksam (vgl. auch Neuenschwan-
der & Schaffner, 2010). Diese individualisierten Angebote sind jedoch aus
prinzipiellen Gründen nicht in der Lage, strukturelle Probleme (zum Beispiel
Lehrstellenknappheit, Lehrstellenangebote, die nicht mit dem Arbeitsmarkt und
den Interessen der Jugendlichen korrespondieren) zu lösen. Dafür sind
strukturelle Maßnahmen erforderlich.
Die Ergebnisse zeigen, dass soziale Ressourcen auch bei jungen Erwachse-
nen am Ende der Berufslehre eine zentrale Rolle spielen. So belegen die Ergeb-
nisse in Kapitel 8 die Bedeutung des Interesses der Eltern daran, einer Arbeits-
losigkeit vorzubeugen. Allerdings brauchen wir noch spezifischere Hinweise
darauf, wie Eltern ihre Kinder in den verschiedenen Transitions- und Belastungs-
346 9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
situationen optimal fördern können. Zusätzlich ist ein persönliches Netzwerk von
Personen außerhalb des eigenen Betriebs hilfreich. Von Interesse sind daher em-
pirisch gestützte Informationen dazu, unter welchen Bedingungen und mit
welchen Methoden Mentorinnen und Mentoren Jugendliche auf dem Weg in die
Erwerbstätigkeit effektiv unterstützen. Auf einer solchen Grundlage könnte dann
besser abgeschätzt werden, wie Eltern sowie Mentorinnen und Mentoren bei der
Begleitung ihrer Kinder von der Schule in den Beruf unterstützt werden können.
Interventionen gegen Arbeitslosigkeit an der zweiten Schwelle sollten insofern
nicht nur berufliche und betriebliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch
das soziale Verhalten und das soziale Netzwerk der jungen Erwachsenen im
Blick haben.
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