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V4 Wochenend Journal NUMMER 199 SAMSTAG, 30.

AUGUST 2014

1934 1935 1936 1937 1938 1939

Der „Lange Marsch“ von 100 000 Kommu- Jesse Owens stellt innerhalb von 45 Mi- Liebesheirat: Der britische König Eduard Bomben: Die deutsche „Legion Condor“ Otto Hahn und sein Assistent entdecken Kardinal Pacelli wird zum Papst Pius XII.
nisten unter Führung Maos durch China. nuten vier neue Weltrekorde auf. VIII. verzichtet dafür auf den Thron. zerstört die spanische Stadt Guernica. in Berlin die Kernspaltung des Urans. gewählt. Er verhält sich neutral zu Hitler.

2. August: Tod Hindenburgs. Hitler wird 10. September: Auf dem Reichsparteitag Am 1. August 1936 werden in Berlin die Adolf Hitler ernennt Albert Speer zum 9. November: Pogrom gegen die jüdi- Hitler landet in Warschau, um eine Parade
nun auch Reichspräsident. verkündet Hitler die „Nürnberger Gesetze“. XI. Olympischen Spiele eröffnet. Generalbauinspekteur für Berlin. sche Bevölkerung in ganz Deutschland. der siegreichen Truppen abzunehmen.

29. März: Albert Einstein wird aus dem 27. April: Eröffnung der Weltausstellung Reichsparteitag in Nürnberg, Hitler propa- In München wird die Propaganda-Aus- Hitler legt den Grundstein für den Bau Hitler entgeht am 8. 11. einem Bomben-
Deutschen Reich ausgebürgert. in Brüssel. Großer Auftritt für Neonlicht. giert den Kampf gegen die Sowjetunion. stellung „Entartete Kunst“ eröffnet. des Volkswagenwerks bei Wolfsburg. attentat im Münchner Bürgerbräukeller.

„Wir sahen,
Feuchtwanger: Es wurde immer war politisiert. Auch die Schule. Ich hatte ich Glück, das hat mir viel ge- nell erfolgreich, und England wie
schwieriger, in einem jüdischen war auch schon sehr selbstbewusst, holfen. Frankreich haben ihm so lange
Haushalt ein nicht-jüdisches Kin- weil ich mitgekriegt habe, es sind die nichts entgegen gestellt bis es fast zu
dermädchen zu haben, alles wurde anderen, die im Unrecht sind – nicht Wann wurde Ihnen bewusst, welches spät war. Er schien den Menschen
immer enger. So genau kann ich wir. Glück Sie hatten, den Nazis entkom- damals fast wie ein Zauberer, der sie

wenn Hitler
mich da nicht mehr erinnern. Aber men zu sein? die Niederlage des 1. Weltkriegs
ich weiß noch, dass ich Hakenkreuze Sie sind dann doch gegangen, mit ei- Feuchtwanger: Ich möchte sagen, so- vergessen ließ. Und sie wollten lange
gemalt habe und dass ich Hitler oft nem teuren Familienvisum gelang die fort. Mein Vater brachte mich da- nicht glauben, dass der erfolgreiche
gesehen habe. Wir wohnten ja gleich Flucht nach England … mals an die holländische Grenze. Da Diktator scheitern könnte.
gegenüber. Feuchtwanger: Dieses Kapitalisten- schauten die Grenzer in unsere Pässe

da war“
Visum war eine Möglichkeit rauszu- und fragten Vater, warum er nicht Ist Hitler denn aus der Zeit erklärbar?
Ihr Jüdischsein wurde Ihnen erst so kommen. Sonst wären wir umge- auch auswandere. Er musste noch Wie sehen Sie als Historiker heute den
richtig bewusst, als es Ihnen von außen kommen. Für uns war es ja beson- einiges regeln vor der Flucht und Nachbarn von damals?
aufgedrängt wurde. Die Familie feierte ders gefährlich, weil Onkel Lion ein deshalb wieder zurück nach Mün- Feuchtwanger: Natürlich hat die da-
Weihnachten wie die Nachbarn auch. prominenter Gegner der Nazis war. chen. So fuhr ich allein weiter. Ir- malige Zeit den Diktator hervorge-
Das änderte sich nach den Nürnberger So gesehen ist es schon bemerkens- gendwie habe ich das damals schon bracht. Für Deutschland war der 1.
Edgar Feuchtwanger war als Kind ein Gesetzen. Der Vater beschäftigte sich
intensiv mit dem Judentum, Sie feier-
wert, dass wir so lange unbehelligt
blieben. Die 1000 Pfund für das Vi-
als Befreiung empfunden. Ich war
raus aus dem „evil empire“, dem
Weltkrieg ein Trauma. Darauf
konnte Hitler aufbauen. Die Wei-
Nachbar des Führers. Ein Gespräch ten Ihre Bar Mizwa. Waren es die
Nazis, die Sie bekehrt haben?
sum waren damals viel Geld. Onkel
Lion und andere Verwandte konn-
Reich des Bösen. Und ich habe auch
keine Minute daran gedacht, dass
marer Republik hat sich nie so recht
etablieren können. Hitler schien da
über Verfolgung, Flucht und Glauben Feuchtwanger: Nicht ganz. Mein Va-
ter kam aus einem orthodox-jüdi-
ten die Summe auftreiben und uns
so zur Flucht verhelfen.
meine Eltern in Gefahr sein könn-
ten. In England haben sich dann die
eine andere Möglichkeit. Also, man
sieht ziemlich klar, wie es zur

A
ls kleines Kind hat er Hitler ist, dass Hitler vor dem Putschversuch schen Haus, er war ja der Bruder Menschen gleich für mich interes- Machtübernahme kommen konnte.
ins Gesicht gesehen. Für Ed- 1923 Lion Feuchtwanger und Bertolt von Lion Feuchtwanger, der mit Und der Name Feuchtwanger öffnete siert, ich kam zu einer Familie nach Wir haben es direkt miterlebt. Vis-
gar Feuchtwanger, den Nef- Brecht im Café Heck mit Handschlag dem Roman „Jud Süß“ Aufsehen er- Ihnen in England viele Türen. Sie ha- Cornwall. Es war alles ein großes a-vis. Auch die Villa Röhm gegen-
fen des Erfolgsautors Lion Feucht- begrüßt hat? regt hatte. Das Elternhaus meiner ben Karriere als Historiker gemacht. Abenteuer. über dem Prinzregententheater war
wanger, war der kurz zuvor zum Feuchtwanger: Wie es wirklich war Mutter war liberal jüdisch. So wurde Wie ging es Ihren Eltern? in unserer Nähe. So waren wir quasi
Reichskanzler gekürte Mann mit und wer welche Gespräche geführt ich nicht orthodox aufgezogen. Das Feuchtwanger: Mein Onkel war da- Sie haben nach dem Krieg auch in in der Mitte des Geschehens. Ich er-
dem schwarzen Oberlippenbart da- hat, daran habe ich heute keine ge- Jüdische rückte erst allmählich ins mals der bekannteste deutsche Deutschland, in Frankfurt, gelehrt. innere mich noch an den 30. Juni
mals nichts anderes als ein Nachbar. nauen Erinnerungen mehr. Es sind Bewusstsein. Man hat es nie geleug- Schriftsteller in England. Das mach- Wie war es für Sie, ins Land der Täter 1934, den Röhm-Putsch. Da war ich
Edgar wohnte in der Grillparzerstr. eher Bruchstücke, die sich zu einem net, aber wichtig wurde es erst te mir vieles leichter. Für die Eltern zurückzukehren? acht und gerade groß genug, um
38, der Nachbar Hitler im Eckhaus Ganzen fügen. durch die Verfolgung. Tatsächlich war es nicht so einfach. Sie mussten Feuchtwanger: Ich war ja schon frü- übers Fensterbrett zu schauen. Das
Prinzregentenplatz 16, beide im haben die Nazis erreicht, dass der sich durchschlagen, die Mutter mit her wieder in Deutschland, 1957 das ist mir noch im Gedächtnis: Wie da
zweiten Stock. Man konnte einander Sie hatten ja lange eine behütete Kind- Glaube ab 1933 immer wichtiger Näharbeiten. Aber was sollte mein erste Mal mit meiner Mutter. Da- die Autos gebracht wurden, mit de-
also in die Wohnung schauen. Edgar heit in einer wohlhabenden Familie. wurde. Vater, der Verleger, in England ma- mals empfand ich es als etwas selt- nen Hitlers Gefolge an den Tegern-
war fünf Jahre alt, als Hitler seine Der Vater war Verleger, Ihr Onkel chen? Irgendwie hat er sich so sam, dass es offensichtlich keine Na- see gefahren ist, um Röhm und seine
Wohnung bezog, er war 15 als der Lion Feuchtwanger ein schon damals Sie waren 14, als Ihr Vater nach durchgeläppert. zis mehr gab. Das konnte nicht stim- SA festzunehmen und zu ermorden.
Diktator die Welt in eine Katastro- erfolgreicher Schriftsteller. Prominen- Dachau gebracht wurde und die Gesta- men. Es wäre besser gewesen, die
phe stürze. Zehn Jahre lang hat der te Menschen gingen ein und aus. Trotz po die Bibliothek plünderte. Was ging Sie haben dagegen in England Karrie- Menschen hätten zugegeben auf Vor kurzem waren Sie auf Lesereise
Junge mit angesehen, wie die Nazis aller Ängste, die mit Hitlers Machter- da in Ihnen vor? re gemacht. Hitler reingefallen zu sein statt die wieder hier. Wie erleben Sie das
ihre Macht ausbauten, wie aus dem greifung einhergingen, dachte die Fa- Feuchtwanger: Das war ein großer Feuchtwanger: Ich kam 1939 in die ganze Zeit aus dem Gedächtnis zu Deutschland von heute?
Nachbarn ein Diktator wurde. In milie lange nicht an Flucht, obwohl im Schrecken, eine direkte Bedrohung. Winchester-Schule, eine der be- tilgen. Es war ja auch für die Leute Feuchtwanger: Ich finde, Deutsch-
dem Buch „Als Hitler unser Nach- Familien- und Freundeskreis immer Wir wussten ja nicht einmal, ob rühmtesten Schulen Englands. Da nicht einfach. Hitler war sensatio- land hat sich vollkommen geändert.
bar war“ versetzt sich der 90-Jähri- wieder darüber diskutiert wurde. Wa- mein Vater Dachau überleben wür- Ich wohne seit 75 Jahren in England.
ge zurück in diese Zeit. Wir spra- rum nicht? de. Bis dahin hatten wir uns daran England hat nie die Erfahrung ge-
chen mit Edgar Feuchtwanger, der Feuchtwanger: Ja warum? Flucht ist gewöhnt, dass Juden abgestempelt macht, dass sich plötzlich alles um-
seit 1939 in England lebt und sich als schwierig. Man hat gemeint, es geht und verfolgt wurden. Immerhin dreht. Die Niederlagen in den Welt-
Geschichtsprofessor einen Namen vorüber. Oder man könne damit fer- konnte ich weiterhin in die Schule kriegen und die Wiedervereinigung
gemacht hat. tig werden, die Zeit überdauern. gehen, nach der Gäbele Schule ins waren auch eine Chance für einen
Mein Vater war Verleger, wir lebten Maximilian Gymnasium –bis zur Neuanfang. Den hat Deutschland
Ihr Buch erzählt Weltgeschichte als gut. So leicht tut man sich nicht, ein- Kristallnacht am 10. November genutzt.
Kindheitsgeschichte. Es war sicher fach wegzugehen und alles aufzuge- 1938. Alles passierte ganz allmäh-
nicht einfach für Sie, sich in den Jun- ben. Ich war neun Jahre alt, als die lich, fast schleichend. Hitler war bei Und Europa? Sehen Sie die Gefahr ei-
gen von damals zu versetzen, nachzu- Nazi-Herrschaft anfing. uns immer präsent. Man konnte von nes Rechtsrucks?
fühlen, was er empfand. Wie schwer ist uns aus sehen, wenn er da war. Seine Feuchtwanger: Es sind sicher Gefah-
es Ihnen gefallen, sich den Erinnerun- Als Kind wollten Sie einfach dazuge- Autos standen vor dem Haus. Ich ren da. Und ich sehe es als einen
gen zu stellen? hören, malten Hakenkreuze und waren wusste auch, dass Geli Raubal, Hit- Fehler, so zu tun als sei diese Art Re-
Edgar Feuchtwanger: Also, ich konn- stolz, wenn die Lehrerin Sie lobte. Und lers Nichte, sich in der Wohnung er- volte gegen Europa unbedeutend.
te mich ungefähr erinnern. Es ist dann wollte Ihr damals bester Freund schossen hatte. Aber die Zusam- Edgar Feutschwanger Die Bürger sind mit Brüssel nicht
auch immer wieder etwas zurückge- Sie plötzlich nicht mehr sehen. Was menhänge sind mir heute nicht Geboren am 28. September 1924 in München als Sohn des sehr zufrieden. Das kann man nicht
kommen an Erinnerungsstücken. haben Sie dabei empfunden, als Au- mehr präsent. Verlegers Ludwig Feuchtwanger. Seine Mutter ist Pianistin, ignorieren. Vielleicht müsste Brüs-
ßenseiter abgestempelt zu werden? sein Onkel Lion berühmter Autor. Edgar wächst in behüteten sel viel vorsichtiger vorgehen. Die
Bei den Feuchtwangers wurde viel dis- Schon vorher hatten Sie ja Ihr katho- Kein Wunder, Sie waren damals sie- Verhältnissen auf. Er ist fünf, als die Familie einen neuen Nach- Verantwortlichen brauchen einfach
kutiert und politisiert. Wie ist es Ihnen lisches Kindermädchen verloren, das ben Jahre alt! barn bekommt: Adolf Hitler. Hitlers Aufstieg legt einen Schat- mehr Fingerspitzengefühl. Trotz-
gelungen, die Diskussionen zu rekon- zu Ihrer glücklichen Kindheit beige- Feuchtwanger: Ja, aber vielleicht ten auf die Kindheit, immer neue Schikanen gegen die Juden dem: Ich wäre schon froh, wenn es
struieren, etwa das Gespräch mit „On- tragen hatte. War es damals schon eine habe ich damals mehr verstanden als treffen die Feuchtwangers, die das Land 1939 verlassen. Der mit Europa weiter ginge.
kel Berthold“, in dem davon die Rede Art Vertreibung aus dem Paradies? es ein Kind für gewöhnlich tut. Alles Historiker berichtet davon in seinem Buch. Fotos: afp, dpa Interview: Lilo Solcher

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