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MAUREEN MAISHA EGGERS, GRADA KILOMBA,

PEGGY PIESCHE, SUSAN ARNDT (HRSG.)

MYTHEN, MASKEN UND SUBJEKTE


KRITISCHE WEIßSEINSFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND

UNRAST
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

MAUREEN MAISHA EGGERS, GRADA KILOMBA,


PEGGY PIESCHE, SUSAN ARNDT (HRSG.):
MYTHEN, MASKEN UND SUBJEKTE

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018


ISBN 978-3-95405-044-4

3. Auflage, Oktober 2017


© UNRAST Verlag, Münster
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Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet
werden.

Umschlag: Filiz Dýndýn, Münster


Satz: UNRAST Verlag, Münster
INHALT

FATIMA EL-TAYEB
Vorwort
DIE HERAUSGEBERINNEN
Konzeptionelle Überlegungen

VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die Kritische
Weißseinsforschung?
MAUREEN MAISHA EGGERS
Ein Schwarzes Wissensarchiv
GRADA KILOMBA
Becoming a Subject
SUSAN ARNDT
Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands

DER WEIßE FLECK UND DAS SUBJEKT SCHWARZE PERSPEKTIVEN ZU WEIßSEIN


IN DEUTSCHLAND

PEGGY PIESCHE
Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des
weißen Subjekts
ARNOLD FARR
Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines
rassifizierten Bewusstseins
MAUREEN MAISHA EGGERS
Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen
Weißseinsforschung in Deutschland.
PAUL MECHERIL
Der doppelte Mangel, der das Schwarze Subjekt hervorbringt
GRADA KILOMBA
No Mask
OBIOMA NNAEMEKA
Bodies That Don’t Matter: Black Bodies and the European Gaze
KIEN NGHI HA
Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft
NICOLA LAURÉ AL-SAMARAI
Inspirited Topography: Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die
Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und
Wissenstraditionen
HITO STEYERL
White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs
MAKOTO TAKEDA
Zaubersprüche
AMY EVANS
Achidi J’s Final Hours: This Thing that Happened in Aschaffenburg …
JINTHANA HARITAWORN
»Der Menschheit treu«: Rassenverrat und Multi-Themenpolitik im
derzeitigen Multikulturalismus
RONAMBER DELONEY
Muse:Ich
IYIOLA SOLANKE
Where Are the Black Lawyers in Germany?
REGINA M. BANDA STEIN
Schwarze deutsche Frauen im Kontext kolonialer Pflegetraditionen oder
von der Alltäglichkeit der Vergangenheit
EDDIE BRUCE-JONES
Survived (for Audre Lorde)
NISMA CHERRAT
Mätresse – Wahnsinnige – Hure: Schwarze SchauspielerInnen am
deutschsprachigen Theater
SÉNOUVO AGBOTA ZINSOU
EIN FREMDER, WER’S GLAUBT! Klischees da, wo man sie am
wenigsten erwarten würde
MUTLU ERGÜN
Hayal
ARETHA SCHWARZBACH-APITHY
Interkulturalität und anti-rassistische Weis(s)heiten an Berliner
Universitäten
GBIANGO JUNIOR
Das Auge ist der Zeuge
AISCHA AHMED
»Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen«. Passing in Deutschland –
Überlegungen zu Repräsentation und Differenz
JOSHUA KWESI AIKINS
Wer mit Feuer spielt… Aneignung und Widerstand – Schwarze
Musik/Kulturen in Deutschlands weißem Mainstream

ÜBERGÄNGE
TIMO WANDERT & RANDOLPH OCHSMANN
»Even the rat was white.« Whiteness, Rassismus und ›Race‹ in der
Psychologie
MARÍA DO MAR CASTRO VARELA & NIKITA DHAWAN
Of Mimicry and (Wo)Man: Desiring Whiteness in Postcolonialism

WEIßE MYTHEN, WELCHE MASKEN?


KRITISCHE WEIßE PERSPEKTIVEN
SUSAN ARNDT
›Rassen‹ gibt es nicht, wohl aber die symbolische Ordnung von Rasse. Der
›Racial Turn‹ als gegennarrativ zur Verleugnung und Hierarchisierung von
Rassismus
ANETTE DIETRICH
Konstruktionen weißer weiblicher Körper im Kontext des deutschen
Kolonialismus
KATHARINA WALGENBACH
›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ – historische Interdependenzen
SANDER L. GILMAN
Die jüdische Nase: Sind Juden/Jüdinnen weiß? Oder: die Geschichte der
Nasenchirurgie
ESKE WOLLRAD
Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies
CARSTEN JUNKER
Weißsein in der akademischen Praxis: Überlegungen zu einer kritischen
Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften
ASTRID ALBRECHT-HEIDE
Weißsein und Erziehungswissenschaft
KATHARINA SCHRAMM
Weißsein als Forschungsgegenstand. Methodenreflexion und ›neue Felder‹
in der Ethnologie
ANTJE HORNSCHEIDT
(Nicht)Benennungen: Critical Whiteness Studies und Linguistik
JULIA ROTH
»Stumm, bedeutungslos, gefrorenes Weiss«. Der Umgang mit Toni
Morrisons Essays im weißen deutschen Kontext
JULIANE STROHSCHEIN
Als weiße Studierende in einer weißen Universität: erste Positionierung
DAGMAR SCHULTZ
Witnessing Whiteness – ein persönliches Zeugnis
URSULA WACHENDORFER
Weiße halten weiße Räume weiß
Angaben zu den Herausgeberinnen
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
FATIMA EL-TAYEB
VORWORT

Als im Jahr 2002 Kölner Kanak Attak Aktivisten dem ›Weißen Ghetto‹
Köln-Lindenthal einen Besuch abstatteten, stießen sie auf wenig
Verständnis. Das gleichnamige Kanak TV Video dokumentiert die
verwirrten bis aggressiven Reaktionen der ›bio-deutschen‹ BewohnerInnen,
die von den Kanakstas über ihre mangelnde Integration und Selbst-
Isolierung befragt wurden. Das Video entlarvt auf simple, aber effektive
Weise unhinterfragte Machtstrukturen, indem es die Mehrheit, die
›Normalen‹ zum Objekt des kritisch-ethnologischen Blicks macht. Die
ironische Umkehrung des Integrationsdiskurses legt den Fokus auf
Weißsein als markierter Kategorie und gibt der Minderheit die
Repräsentationsmacht, auf einmal ist es die dominante Mehrheit, deren
Verhalten kritisch an etablierten Normen gemessen wird. Eine Strategie, an
die mehrheitsdeutsche ZuschauerInnen offensichtlich nicht gewöhnt sind
und die ablehnende Reaktionen auch bei denjenigen auslöst, die sich als
sensibilisiert in Rassismusfragen empfinden: die Benennung ›rassischer‹
Unterschiede wird als Tabubruch empfunden, als umgekehrter Rassismus
oder unangemessene Übernahme eines aggressiven US-amerikanischen
Rassendiskurses. Stattdessen erscheint eine so genannte ›Farbenblindheit‹,
ein ›ich sehe keine Unterschiede, für mich sind alle Menschen gleich‹ als
politisch korrekte, kaum anzugreifende anti-rassistische Haltung. Es ist
eben dieser liberale Diskurs, der es verbietet, die Position der dominanten
Mehrheit zu relativieren, indem die Parameter ihrer Dominanz benannt
werden. Rassismus als kritisiertes Phänomen bleibt so gebunden an und
bestimmend für die Existenz von People of Color. Wenn eine
Auseinandersetzung Weißer mit ihrem Weißsein stattfindet, wird sich meist
von einem Rassismus distanziert, der entweder in der Vergangenheit oder
bei anderen, weniger gebildeten/progressiven/weitgereisten Weißen verortet
wird, aber sicher nicht innerhalb eines linken Diskurses oder der eigenen
Identitätskonstruktion.
Das vorliegende Buch stellt sich diesem bewussten Wegsehen entgegen,
indem es die Relevanz rassifizierter Hierarchien für die Struktur der
gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft insgesamt aufzeigt.
›Rassen‹ sind zwar keine biologische Realität, das Rassenkonzept hat aber
soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen, hat
nachhaltig und bis in die Gegenwart unsere Wahrnehmung der Welt
strukturiert. Auch wenn die Unhaltbarkeit des Konstrukts menschlicher
›Rassen‹ wissenschaftlich inzwischen unumstritten ist, ist es im Alltag,
auch im akademischen, nach wie vor ein zentrales, wenn auch nicht immer
explizit benanntes Kriterium. Rassische Zuweisungen wirken sich täglich
auf unzähligen Ebenen aus, beeinflussen banale zwischenmenschliche
Interaktionen (und durchaus nicht nur, wenn Nicht-Weiße beteiligt sind),
konstruieren unsichtbare, aber unüberwindliche Grenzen, zeigen sich in als
selbstverständlich begriffenen, nicht einmal als solchen wahrgenommen
Privilegien. Es liegt auf der Hand, dass ein derartig komplexes System nicht
durch einen bloßen Willensakt unwirksam gemacht werden kann, selbst
wenn ein entsprechender Wille vorausgesetzt wird, was durchaus keine
Selbstverständlichkeit wäre. Eine als anti-rassistisch begriffene
›Farbenblindheit‹, die die Negierung von, oft als natürlich
wahrgenommenen, Unterschieden als ausreichende Lösung begreift, ist so
tatsächlich kontraproduktiv. Sie macht es doch zum einen unmöglich, den
Prozess der Erziehung zur Wahrnehmung und Bewertung dieser
Unterschiede zu analysieren und lässt zum anderen keinen Raum zur
Benennung der Ursachen und Konsequenzen von Rassifizierungsprozessen,
die sich nicht auf diese ›Unterschiede‹ zurückführen lassen. Konsequenzen
zudem, die wirkungsmächtig bleiben, auch wenn sich die äußeren Formen
der Implementierung der Rassenhierarchie ändern. Dass diese
›Farbenblindheit‹ schließlich gewöhnlich nur gegenüber Nicht-Weißen ins
Feld geführt wird, macht vollständig ihre Einbindung in den Prozess der
Normalisierung von Weißsein deutlich; ein Normalisierungsprozess, der
immer nur die ›Anderen‹ als rassifiziert wahrnimmt und Rassismus so
letztlich als an die Existenz dieser ›Anderen‹ gebunden betrachtet.
Entgegen der landläufigen Meinung, dass Rassismus nur dann und dort
existiert, wo als Nicht-Weiß Definierte präsent sind, ist es vielmehr die
Präsenz sich als weiß definierender Bevölkerungen, die Rassismus
produziert.
Das ist natürlich alles andere als eine neue Erkenntnis – zumindest für
Minderheiten im weißen Westen, für die die Critical Whiteness Studies eine
notwendige Überlebensstrategie darstellen. Ein ausdifferenzierter
Rassismusbegriff, der Ursprung, Wirkung und veränderte
Erscheinungsformen des Rassendiskurses ebenso analysiert wie er
Verbindungen zu anderen Machtsystemen aufzeigt, ist so zumeist in Texten
von People of Color zu finden. Spätestens seitdem W.E.B. DuBois, einer
der wichtigsten US-amerikanischen Denker des 20. Jahrhunderts, sein
bahnbrechendes The Souls of Black Folk mit einem Aufsatz zu »The Souls
of White Folk« ergänzte,[1] ist eine Dekonstruktion der pseudo-natürlichen
Kategorie Weißsein Teil einer lebhaften intellektuellen Debatte, die bis in
die Gegenwart fast gänzlich vom weißen Mainstream ignoriert wird.
Allerdings hat seit den 1990ern eine unter anderem von Peggy
MacIntoshs Artikel »White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack«
(1989) initiierte Umorientierung des weißen anti-rassistischen Diskurses
weg von einer Identifizierung mit den ›Opfern‹ hin zu einer Analyse der
eigenen Ethnisierung stattgefunden. In ihrem Beitrag in diesem Band gibt
Susan Arndt einen informativen Einblick in die Entstehungsgeschichte und
Methodik dieses neuen Forschungsfeldes, einschließlich der Probleme, die
aus der Auffassung von Weißsein als überwindbarer Kategorie entstehen.
Gutgemeinte Zurückweisungen weißer Privilegien können so, wie Arndt
diskutiert, zu einer Analyse des Rassifizierungssystems führen, in dem nur
die weiß sind, die es auch sein wollen – ein politischer Ansatz, der
ungewollt genau die eigentlich abgelehnten weißen Privilegien fortschreibt.
Trotz dieser methodischen und inhaltlichen Probleme, die zu berechtigter
Skepsis bei TheoretikerInnen und AktivistInnen of Color führten, stellen
die Critical Whiteness Studies einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten
Schritt aus der politischen Sackgasse dar, die Paul Gilroy 1992 als »the end
of anti-racism« beschrieb[2] – besser geeignet, das Rassenkonzept zu de-
essentalisieren, als ein Festhalten am Sprechen für die unterdrückten
›Anderen‹, welches (inner)weiße rassifizierte Dynamiken unhinterfragt
lässt. Trotz des nach wie vor verbreiteten Glaubens, Rassismus sei ein
Phänomen, das für Deutschland, dank der mangelnden Präsenz von People
of Color und der weitgehend fehlenden Kolonialgeschichte,[3] nicht oder
erst seit allerneuestem relevant sei, ist die Kritische Weißseinsforschung
inzwischen auch hier angekommen.[4] Schon seit einiger Zeit sind die
vielfältigen Verbindungen von Weißsein und Deutschsein Thema bei
AutorInnen mit migrantischem Hintergrund.[5] Die Ergänzung dieses
wichtigen Diskurses durch eine kritische weiße Perspektive ist nicht nur
begrüßenswert, sondern überfällig. Allerdings verhindern strukturelle
Rassismen, die von eben dieser neuen Forschung addressiert werden, oft
noch einen gleichberechtigten Dialog, zu leicht werden Beiträge von
Minderheiten sowohl instrumentalisiert als auch marginalisiert. Der
vorliegende Band stellt den bisher deutlichsten Versuch dar, einen solchen
Dialog für den deutschen Kontext zu initiieren. Masken, Mythen und
Subjekte fasst aber nicht nur den Stand der Kritischen Weißseinsforschung
in Deutschland zusammen, sondern schreibt sich auch in internationale
Diskussionen ein. Hito Steyerls Überlegungen zur Farbmetaphysik des
Kunstbegriffs, die um Konnotationen von White Cube und Black Box
kreisen, öffnen ebenso neue Dimensionen des Diskurses um Weißsein wie
Aischa Ahmeds Untersuchung des Themas passing im spezifischen Kontext
der Bundesrepublik oder Nisma Cherrats Erfahrungsbericht einer
Schwarzen Schauspielerin an deutschen Theatern.
Insgesamt lassen sich die AutorInnen nicht auf eine Sicht von Sinn und
Zweck einer Kritischen Weißseinsforschung festlegen, nähern sich dem
Thema aus literarischer, psychologischer oder linguistischer Perspektive. So
folgt etwa Kien Nghi Ha den Traditionslinien des deutschen Kolonialismus
bis in die Gegenwart, während Nicola Lauré al-Samarai eine kulturelle
Topographie des Widerstands nachzeichnet und Jinthana Haritaworn die
Ethnisierungspolitik weißer Queers und Feministinnen untersucht und nach
produktiven Formen des weißen ›Rassenverrats‹ fragt. So bietet diese erste
deutsche Anthologie zum Thema Weißsein Denkanstöße, die in diesen
Zeiten der erneuten Normalisierung weiß-christlich-westlicher Dominanz
mehr als nötig sind.

San Diego, Oktober 2005

ANMERKUNGEN
1 DuBois, W. E. B.: The Souls of Black Folk. Chicago: A. C. McClurg & Co., 1903; Ders.: »The
Souls of White Folk.« In: Ders.: Darkwater. Voices From Within the Veil. New York: Harcourt,
Brace & Howe, 1920.
2 Gilroy, Paul: »The End of Antiracism.« In: Donald James & Ali Rattansi (Hrsg.): ›Race‹,
Culture and Difference. Newbury Park, CA.: Sage, 1992, S. 49-61.
3 Inzwischen ist der deutsche Kolonialismus recht gut erforscht, zahlreiche Studien beschäftigen
sich mit verschiedenen Aspekten dieses Herrschaftssystems, und auch wenn in der
Öffentlichkeit nach wie vor kaum ein Bewusstsein der deutschen Kolonialgeschichte,
geschweige denn ihrer Bedeutung für die Gegenwart existiert, werden Jahrestage wie der des
Völkermords an den Herero 1904 zunehmend zur Kenntnis genommen (für einen kritischen
Überblick der Rezeption deutscher Kolonialgeschichte siehe auch Kien Nghi Ha in diesem
Band). Anders sieht allerdings der Umgang mit dem Thema deutsche Minderheiten aus, das in
Öffentlichkeit wie Wissenschaft immer noch ein marginales Dasein führt.
4 Vgl. etwa: Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany.
Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002; und: Wollrad, Eske: Weiss-sein im
Widerspruch. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 2005.
5 Eine Anzahl dieser AutorInnen, so Hito Steyerl, Kien Nghi Ha und Peggy Piesche, ist in diesem
Band vertreten.
DIE HERAUSGEBERINNEN
KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN

Mehr als ein Jahrzehnt nach der wissenschaftlichen Etablierung kritischer


Perspektiven zu Weißsein in den USA hält die Forschungsrichtung der
Critical Whiteness Studies ihren Einzug auch in den hiesigen akademischen
Diskurs. Der vorliegende Band fasst zum ersten Mal ein breites Spektrum
der Auseinandersetzung mit dieser Kategorie in Deutschland zusammen.
Diese postkoloniale Perspektiverweiterung, die das weiße Subjekt
zusätzlich zum Schwarzen Subjekt ins Zentrum des Interesses rückt, soll
auf diese Weise einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden.
Auch wenn die Auseinandersetzung mit Weißsein wissenschaftspolitisch
eine Errungenschaft der letzten 10 bis 15 Jahre ist, so bleibt unbenommen,
dass Schwarze Menschen und People of Color die weiße Hegemonie seit
Beginn der »Europäisierung der Erde« (W. Reinhardt) mit
hegemonialkritischen Gegenblicken auf Weiße und Weißsein begleitet
haben. Über Jahrhunderte hinweg waren diese Gegenstand Schwarzer
künstlerischer Ausdrucksformen in Text und Bild. Vor diesem Hintergrund
ist es kein Zufall, dass auch die Anfänge der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit Weißsein von Schwarzen und People of Color
ausgingen (wie etwa Frantz Fanon, Toni Morrison und bell hooks). Diesen
enormen und durchaus nachhaltigen Einfluss Schwarzer Menschen und
People of Color in Kunst und Wissenschaft sowie der Tatsache, dass sich
diese Gegenblicke gegen einen enormen Widerstand weißer Diskurse und
Gewalten behaupten und durchsetzen mussten,[1] versucht der Band auf
eine entsprechende Art und Weise konzeptuell und strukturell Rechnung zu
tragen.
Ganz prominent steht dafür die Einteilung des Buches in drei Kapitel. In
dem ersten Teil, Der weiße Fleck und das Subjekt. Schwarze Perspektiven
zu Weißsein in Deutschland, begegnen den LeserInnen zunächst Texte, die
aus Schwarzer Perspektive geschrieben wurden. Im zweiten Teil,
Übergänge, schließen sich Texte an, die von jeweils zwei AutorInnen
geschrieben wurden und eine Schwarze/People of Color und eine weiße
Perspektive verbinden. Der dritte Teil des Buches, der den Titel Weiße
Mythen, welche Masken? Kritische weiße Perspektiven trägt, beinhaltet
dann Texte von weißen AutorInnen. Analog zu dieser Struktur werden auch
die drei Schwarzen Herausgeberinnen (Maureen Maisha Eggers, Grada
Kilomba und Peggy Piesche) vor der weißen Herausgeberin (Susan Arndt)
genannt.
Gerade diese Positionierung, die für den hiesigen Kontext einzigartig ist,
hat den (wissenschafts-)politischen Rahmen dafür geboten, die auch in der
deutschen Wissenschaftslandschaft strukturell und diskursiv verankerte
weiße Dominanz und Ressourcenbindung zu zähmen. Zudem bietet sie die
Grundlage für einen deutlich positionierten Zugang Schwarzer Perspektiven
zu diesem Buch, das sich als komplexer und vor allem gegenhegemonialer
Beitrag zur Kritischen Weißseinsforschung versteht. Die damit verbundene
Relevanz der Positionalität jeder einzelnen Forschungsperspektive wird vor
allem auch in dem sich hier anschließenden vierstimmigen Dialog der
Herausgeberinnen verdeutlicht, der aber eben auch den thematischen
Rahmen dieses Bandes skizziert.
Der langen Geschichte und multimedialen Form der
Auseinandersetzungen mit Weißsein versucht der vorliegende Band zudem
dadurch strukturell Ausdruck zu verleihen, als er Beiträge aus Wissenschaft
und Praxis vereint und dabei darauf bedacht ist, die Originalität der
Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland heraus zu arbeiten. So
finden sich neben wissenschaftlichen Beiträgen, die aus wissenschafts- und
gesellschaftskritischer Perspektive Weißsein in seiner Historizität und
Dynamik verorten, auch Essays, die Erfahrungen um und mit Weißsein in
der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft reflektieren, sowie literarische
Texte und visuelle Arbeiten von Schwarzen KünstlerInnen und
KünstlerInnen of Color, die mit ihrer Perspektive das weiße
Selbstverständnis des kulturellen Kanons, welches zumeist
unausgesprochen bleibt, als solches verorten. Vor diesem Hintergrund ist
der Band auch bewusst zweisprachig (deutsch und englisch) konzipiert,
weil er allen AutorInnen die Möglichkeit offerieren sollte, sich in der
Sprache zu artikulieren, in der sie sich am ehesten zu Hause fühlen.
Übersetzt wurden ein französischsprachiger Beitrag und zwei Artikel, die
bereits in englischsprachigen Publikationen vorliegen, die jedoch für den
Zusammenhang dieses Buches relevant sind und auf diese Weise einem
erweiterten Lesepublikum auch im hiesigen Diskurs nunmehr nahe gebracht
werden können.
Die Beiträge des Bandes unterziehen die Debatte um die Kategorie
Weißsein in Deutschland einer kritischen Prüfung und fragen nach den
Transferpotentialen, Grenzen und Leerstellen, die sich aus der
transatlantischen Applikation eröffnen. In diesem Zusammenhang werden
nicht nur die aus den anglo-amerikanischen Wissenschaften bekannten
Parameter der postkolonialen Studien neu beleuchtet, sondern auch einzelne
geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen selbst aus
wissenschaftskritischer Perspektive diskutiert und verortet. Die
Herausgeberinnen haben mit diesem Band einen interdisziplinären Blick
aus Schwarzen, People of Color und weißen Perspektiven auf die Kategorie
Weißsein freigelegt und versuchen damit, die Grundlage für einen Diskurs
zu schaffen, der jenseits von hegemonialtypischen Dynamiken eine
Bereicherung nicht nur für die hiesige akademische Debatte darstellen
kann, sondern auch für eine gesamtgesellschaftliche
(Aufarbeitungs-)Debatte in Deutschland und Europa.
Um die Relevanz der Kategorien Weißsein und ›Rasse‹ für die deutsche
Gesellschaft und Wissenschaft unzweideutig herauszustreichen, steht das
Buch konzeptuell für die Überzeugung, in der deutschsprachigen kritischen
Weißseinsforschung mit den deutschen Begrifflichkeiten zu arbeiten. Denn
nur diese Sprachwahl ermöglicht es, einen deutlichen Bezug zur deutschen
Geschichte und Gesellschaft herzustellen – gerade auch in bestehenden
historischen Zusammenhängen, die den diskursiven Bogen zwischen
Antisemitismus und Rassismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus,
Transatlantischem Sklavenhandel, kolonialem Genozid und der Shoa
benennen und dabei Deutschland in europäischen Diskursen verorten, aber
nicht verschwinden lassen. In Bezug auf den Begriff der Rasse haben sich
die Herausgeberinnen für den Modus entschieden, ›Rasse‹ in
Anführungszeichen zu schreiben, sobald die biologistische Konstruktion
›Rasse‹ gemeint ist und Rasse in Kursivschreibung zu verwenden, wann
immer auf die Wissens- und kritische Analysekategorie rekurriert wird. Als
editorische Richtlinie galt neben der geschlechtsensitiven Schreibweise die
Großschreibung von Schwarz (auch in adjektivischer Verwendung).
Hinsichtlich von weiß entschieden wir uns statt der Großschreibung für eine
Kursivsetzung, um den Konstruktcharakter markieren zu können und diese
Kategorie ganz bewusst von der Bedeutungsebene des Schwarzen
Widerstandspotenzials, das von Schwarzen und People of Color dieser
Kategorie eingeschrieben worden ist, abzugrenzen.
Mit seinem Fokus auf die weißen Subjekte rassialisierender
Konstruktionsprozesse und Herrschaft, die in ihrem komplexen Verhältnis
zu Schwarzen Subjekten sowie weißen Mythen und Masken zu verorten
sind, entwirft das Buch neue kritische Perspektiven auf Debatten um
Kolonialismus, Rassismus, Feminismus und Postkolonialiät und strebt nach
einer grundlegenden Resituierung von Rassialisierungsprozessen – von
Schwarzsein ebenso wie Weißsein.

Berlin, im Oktober 2005

ANMERKUNG
1 So ist es auch bezeichnend, dass dieser Band vor allem mit Hilfe einer finanziellen
Unterstützung von ADEFRA e.V. (Schwarze Frauen in Deutschland) entstehen konnte, während
sich traditionelle Publikationsförderungen diesem Projekt nicht ohne Weiteres erschlossen. Die
für die Perspektive des vorliegenden Bandes unerlässlichen Übersetzungen konnten schließlich
mit dieser Unterstützung realisiert werden.
VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
DAS DING MIT DEM SUBJEKT, ODER: WEM GEHÖRT
DIE KRITISCHE WEIßSEINSFORSCHUNG?

Die zentralen Strategien in der Konstruktion von Weißsein sind bekannt und
vor allem für marginalisierte und ethnisierte Menschen in ihrem
Alltagsleben immer wieder zu dekodieren. Denn, die Prozesse der
Dekonstruktion weißer Normalitäten sind integrierte und essentielle
Bestandteile der vielschichtigen Schwarzen Befreiungs- und
Widerstandskämpfe in weißen hegemonialen Machtzusammenhängen.
Wenn sich die Kritische Weißseinsforschung nunmehr auch in den
deutschen akademischen Diskurs einzuschreiben scheint und der hier
vorliegende Band auch genau dies unter anderem dokumentiert, drängen
sich Fragen nach der Originalität, der Adressiertheit und dem Nutzen dieser
sich nunmehr durchaus etablierenden Disziplin auf. Im Vorfeld und
während der Entstehung des vorliegenden Buches wurde das hier zugrunde
liegende Konzept einer historischen Integrativität Schwarzer Perspektiven
in der Kritischen Weißseinsforschung immer wieder mit Originalitäts- und
Tradierungsansprüchen einer weißen hegemonialen Forschungsperspektive
konfrontiert und herausgefordert. Die Kritische Weißseinsforschung als
Analysekategorie, die in der bisherigen dominanten Rezeption durchgängig
in ihrer englischsprachigen Entsprechung als Critical Whiteness Studies
bereits auf seine angloamerikanische Herkunft verweist, sollte demnach als
Teil eines akademischen Diskurses aus dem US-amerikanischen Kontext
auch im deutschen Diskurs fruchtbar gemacht werden. Dieser
Argumentation folgend wäre die Kritische Weißseinsforschung nunmehr
auch im deutschen Kontext angekommen. Erste Arbeiten dazu sind in der
Tat bereits in den späten 1990er Jahre erschienen. Diese Leseart
vernachlässigt nicht nur bereits früher zu datierende akademische Arbeiten,
sie negiert auch vollständig die tief greifenden und fortlaufenden
Auseinandersetzungen mit den jeweils auch kontextspezifischen
Bedingungen von Weißsein in den politischen und emanzipatorischen
Kämpfen von Schwarzen Menschen und People of Color in Deutschland.
Deren permanente Dekonstruktion und Dekodierung der Mythen im Alltag
stellen eine reichhaltige Quelle für die Kritische Weißseinsforschung dar.
So konfrontiert – ähnlich wie in den USA von Toni Morrison
vorgelegt[1] – wohl die erste Arbeit zum Thema Weißseinsforschung in
Deutschland bereits 1983 die normative Rezeption des Eigenen, mit einer
üblichen Rassifizierung des Anderen, mit eben diesen Gewohnheiten und
markiert Weißsein in seinen kontextspezifischen Bedingungen in einer
Spannbreite vom bundesdeutschen kirchlichen Alltag hin zum universitären
Wissenschaftsdiskurs. Diana Bonnelamé wendet in ihrer Dissertation zu den
Initiationsverfahren weißer deutscher Jugendlicher evangelischen Glaubens
Methoden der Völkerkunde an und fordert so mit ihrer Arbeit die
völkerkundliche Betrachtung auch der weißen Deutschen ein. Die
Schwierigkeiten, denen sie im universitären Diskurs mit einem solchen
Ansatz begegnet, stellt sie schließlich in der Dokumentation »Wie andere
Neger auch«,[2] die die Entstehungsbedingungen ihrer Dissertation
schonungslos aufzeigt, dar. In dieser bemerkenswerten Arbeit, die Einblicke
in die Hierarchien, Diskussionen und Machdynamiken sowohl im
Wissenschaftskontext als auch in den alltäglichen, konfessionsbestimmten
Bedingungen gibt, arbeitet Bonnelamé deutlich die Unterschiede und
Grenzen einer Verfahrensübernahme auf das Thema Weißsein heraus. In der
Einstiegssequenz analysiert sie ein Wandgemälde, welches eine klassische
Kolonialszene darstellt: Umringt von spärlich bekleideten Schwarzen
Menschen sitzt ein weißer Mann mit Notizbuch. Bonnelamé verweist auf
die Selbstverständlichkeit des weißen Ethnologen, der sich der ihm eigenen
Definitionsmacht, der Macht mit seinen Beobachtungen Wissen zu
schaffen, vollständig bewusst ist. Im Unterschied zu ihm muss Bonnelamé
durchaus auf ihre ›Neger hier‹ Rücksicht nehmen, haben diese schließlich
Einfluss darauf, was an die Öffentlichkeit gelangt und was nicht.
Bonnelamé entlarvt bereits in einem prä-postmodernen
Wissenschaftsdiskurs Nicht-Problematisierung eigenen Weißseins und die
Schwarze Statthalterschaft des Abgespaltenen, welches aus weißer Sicht
das verkörpert, was faszinierend und begehrenswert ist, was Lust macht,
aber auch Angst. Mit Schlüsselbegriffen des ethnologischen Diskurses
provoziert Bonnelamé im weißen hegemonialen Blick dieses Unbehagen
der eigenen Differenzmarkierung, die, dem System folgend, ja unweigerlich
mit einer Abwertung verbunden sein müsste. Die von Bonnelamé
angewandten Techniken der Mimikry zeigen Schwarze
Überlebensstrategien im weißen Mainstream auf.
Auch hinsichtlich der Adressiertheit der Analysekategorie Weißsein
haben die Diskussionen um die Entstehung dieses Bandes durchaus
unterschiedliche Positionalitäten aufgedeckt. VertreterInnen der hier
beschriebenen Forschungsperspektive positionierten die
Auseinandersetzung mit der Analysekategorie Weißsein in einem
ausschließlich weißen akademischen Raum, wobei die Partizipation
Schwarzer Perspektiven in der Kritischen Weißseinforschung eher als ein
gewollt politisches Beiwerk, als eine Art ›token‹ verstanden wurde, von
dem es sich vor allem mit dem Wissen um die Machtdynamiken der
Konstruktion von Weißsein abzugrenzen galt. Dabei wurde zwar
vornehmlich auf eben jene weiterhin dominierende weiße Perspektive
gezielt, die Kritik an ihrer Dominanz gern dadurch unterlaufe, dass sie
VertreterInnen bislang ausgeschlossener Gruppen in ihre Reihen aufnimmt
und sich somit moralisch legitimiert, bei gleichzeitiger Beibehaltung
überkommener hegemonialer Strukturen. Damit entzog sich jedoch dieses
›analytisch korrekte Weißsein‹ ganz eloquent den praxis- und
handlungsorientierten lokalen Schwarzen Kritiken und einer dahingehenden
Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein. Vielmehr wurde so einer
Kritik an und der Analyse von Weißsein aus einer Schwarzen
wissenschaftlichen, künstlerischen und aktivistischen Perspektive der
Subjektstatus abgesprochen und in eine – zwar diesmal nicht zu
untersuchende, jedoch für diesen Diskurs – vermeintlich irrelevante
Objektposition verwiesen. Die von Fatima El-Tayeb im Vorwort
beschriebene Gefahr einer wieder alles vereinnahmenden
Selbstreferenzialität des weißen hegemonialen Diskurses zeigt sich hier
bereits auf. Mit Positionen wie ›Wir brauchen keine Schwarzen, um uns
über Weißsein auseinander zu setzen‹ scheint sich dieses ›kritische weiße
Subjekt‹ wieder als Ergebnis asymmetrischer Machtverhältnisse und deren
Zuschreibungspraxen zu situieren, wobei auch hierbei die Positionierung
des Anderen die eigenen Grenzen zu erkennen gibt. Die privilegierte
Position des weißen Subjektes wird so erfolgreich verschleiert.
Wenn Kritische Weißseinsforschung als innerweiße Analyse einer
kollektiven Imagination, welche ausschließlich durch die Existenz der
Anderen definiert werden kann, betrachtet würde und die Fragen nach der
Sichtbarkeit von Weißsein innerhalb verschiedener historischer, kultureller
und biographischer Zusammenhänge nur in diesem Rahmen verhandelt
werden sollte, dann führte diese Kritische Weißseinforschung durchaus zu
einer Re-Zentrierung des weißen Subjekts. Eine solche, vermeintlich
alternative Nischenbesetzung im deutschen akademischen Diskurs
entspräche so jedoch einer Reproduktion der dem Weißsein zugrunde
liegenden Dimensionen der Machtausübung und Gewalt. Diese
symbolische selbstrepräsentative politische Korrektheit läuft dabei der
Dynamik der Dekonstruktion von Weißsein entschieden entgegen. Vor
diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, eine weiße
›antirassistische‹ Kritikelite zu bilden, die ihr eigenes Weißsein analysiert
und von dieser Nische aus Diskurse produziert, die es ihr ermöglichen, sich
wieder in ihrer eigenen weißen Progressivität zu verlieren. Weißsein wird so
nicht dekonstruiert, sondern erhält lediglich eine kritische Verpackung und
die ihr zugrunde liegende tagtäglich realisierte wirk- und
definitionsmächtige Gewalt bleibt ungetastet und normalisiert.[3]
Vor allem auch deshalb steht der vorliegende Band nicht nur für eine,
erstmals auch in Deutschland vorgelegte, Problematisierung der
Normativität von Weißsein als Rassekonstrukt und gewaltvoller
gesellschaftlicher Realität, sondern vielmehr auch für eine explizite
Schwarze Kritik an diesen exklusiven, mächtigen weißen ›kritischen‹
Diskursen für die Selbstrepräsentation eines (antirassistischen) Weißseins.
Dieser Band soll daher auch der Tatsache Rechnung tragen, dass dem
hegemonialen Fokus auf sich selbst, der Selbstmarkierung des Markierers,
der marginalisierte Blick der Markierten voraus ging: Die Analysekategorie
Weißsein wurde nicht zuletzt auch im Kontext Schwarzer Hegemonialkritik
gebildet und ist ebenso Teil einer tradierten Schwarzen Überlebensstrategie
wie auch Schwarzer politischer Bewegungen. Kritische Weißseinsforschung
in Deutschland ist damit keineswegs ein rein akademisches Feld, sondern
auch die alltägliche Reflexion Schwarzen Lebens in einem hegemonialen
weißen Setting. Diese, in diesem Band fruchtbar gemachten Schwarzen
Perspektiven dechiffrieren Weißsein als Bedeutung produzierende
Wirklichkeitskonstruktion mit realen, nicht selten gewaltvollen Realitäten.
Die Repräsentationskritik in so unterschiedlichen Bereichen wie z.B.
kanonisierter Kultur (Schwarze SchauspielerInnen im weißen Theater) oder
historisch uneingebettetes Gesundheitssystem (Schwarze Menschen in der
Pflege) richtet die Analyse auf die soziale Praxis von Weißsein. Gerade
solche Perspektiven tragen dazu bei, die Normalität/Normativität des
hegemonialen Diskurses zu durchbrechen, indem Weißsein ins Zentrum des
Blickfeldes gerückt, explizit benannt und in sozialen Interaktionen
subversiv umgedeutet wird. Die Dekonstruktion der hegemonialen weißen
Positionalitäten benötigt eine Kontextualisierung von Weißsein in historisch
verankerten und reflektierten Zusammenhängen. Die Arbeiten zu einer
Schwarzen Historisierung im weißen Setting, die eine von einer weißen
Definitionsmacht unabhängigen Subjektivität situieren wollen, tragen dazu
bei, die Dialogizität, die der Analysekategorie Weißsein schließlich auch
eingeschrieben ist, aufzuzeigen und eröffnen Wege, Weißsein theoretisch
bzw. methodisch erfassen zu können, ohne dessen Hegemonie zu stützen.
Kritische Weißseinsforschung ist in Deutschland daher nicht ohne Schwarze
Forschungsperspektiven zu denken. Dieser Band stellt dazu eine
Standortbestimmung dar, sondiert sozusagen den Diskurs im deutschen
(akademischen) Kontext und möchte schließlich zu einer
Begriffsmakrotesierung der Kritischen Weißseinsforschung führen. Dabei
tragen gerade die Arbeiten des ›markierten Blickes‹ dazu bei, dass sich die
fragile Komplexität der Instabilität der Konstruktion Weißsein nicht zu
Gunsten einer Aufhebbarkeit des Weißseins verschiebt. Dieses »instabile[s]
Produkt von Kämpfen auf den Bedeutungsfeldern von Rassekonstruktionen
[…]«,[4] das Weißsein als fragilen Besitz zeichnet, kann jedoch nicht
darüber hinweg täuschen, dass Weißsein in seiner sich selbst
eingeschriebenen Essentialität gerade nicht verhandelbar ist. Gerade die
immer wieder betonte (Aus-)Differenzierung des Herrschaftssubjektes in
ein prototypisches – weiß, männlich, heterosexuell besetzt –, die eine
›weniger-weiß-Setzung‹ weißer (deutscher) Frauen propagiert[5] und das
Überwinden von Weißsein mit einschließt, stellt zwar die Diskursivität von
Weißsein in den Fokus der Auseinandersetzung, verschleiert jedoch die
privilegierte Position des weißen sprechenden Subjektes. Vielmehr will der
Band die Positionen dokumentieren, die die Rekonstruktion eines weißen
Subjekts ohne Mantel leistet und Einsprüche gegen populistische Varianten
der Dekonstruktion, die sich unterschiedslos aller Identitäten bemächtigen,
bilden. Geraten nämlich hierbei die gesellschaftlichen Machtgefälle aus
dem Blick, so verwandeln sich die Rekonstruktionen in einen inhaltslosen
Universalismus, der die Unsichtbarkeit und Unterdrückung rassfizierter
Markierungen reproduziert.

ANMERKUNGEN
1 In gleicher Zeit stellt Toni Morrison mit ihrer kleinen Geschichte »Recitatif« die bis dato
gängigen Rezeptionsgewohnheiten US-amerikanischer Literaturgeschichte durch die
Verweigerung konsensgestützter Markierungen radikal zur Disputation. Das eigentlich
Revolutionäre daran ist, wie diese Erzählung gleichsam als Spiegel für die sich anschließende
Diskussion fungierte und hegemoniale Definitions- und Interpretationsstrategien aufdeckte. Vgl.
Morrison,Toni: »Recitatif.« in: Amiri Baraka & Amina Baraka (Hrsg.): Confirmation. An
Anthology of African American Women. New York: William Morrow & Company, 1983, S. 243-
261.
2 Vgl. Bonnelamé, Diana & Peter Heller: Wie andere Neger auch. Dokumentarfilm. BRD 1983.
3 Eine Strategie, die, Coco Fusco folgend, die Verdoppelung der weißen Hegemonie einschließt
und die Machtvermessenheit des weißen Subjektes aufzeigt. Vgl. dazu: hooks, bell: Yearning –
Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1996, S.
180.
4 Wollrad, Eske: »Der Weißheit letzter Schluss. Zur Dekonstruktion von ›Weißsein‹.« In: polylog:
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8(2001): 77-82.
5 Diese Argumentation kann sich bis hin zu einer Metapher für ›nicht-weiß‹ ausweiten. Vgl. dazu
auch den gerade erst erschienenen Band innerhalb des Periodiukms: WerkstattGeschichte
39/2005 (»Die Farbe ›weiß‹«).
MAUREEN MAISHA EGGERS
EIN SCHWARZES WISSENSARCHIV

»… (in) describing a slave as a socially dead person …«[1]

Die Konstruktion von Sklavinnen und Sklaven sowie von kolonialisierten


Subjekten und rassistisch markierten ›Anderen‹ gründet auf dem Mythos,
dass sie observiert werden können, sie diesen observierenden Blick jedoch
nicht zu erwidern vermögen. Mit anderen Worten: ›Schwarze sehen Weiße
nicht‹. Wir sehen nur die positiven Projektionen von Weißsein
(naturalisierte weiße Führungsansprüche, eine vermeintliche universelle
weiße Neutralität, automatische weiße Kompetenzen und ein
selbstverständlich universell gültiger weißer Machtanspruch). Wir sind den
Bildern vermeintlich ausgesetzt und unterworfen, die durch weiße
Identitätskonstitutionsinstanzen in zeitlicher und zeitspezifischer
Kontinuität medial und diskursiv verbreitet werden.
Literarische Werke, Hollywood und auch aktuelle deutsche ›Afrikafilme‹
(Die weiße Massai, Nirgendwo in Afrika), theoretische Texte und sogar
Interpretationen von der Bibel, vermitteln Weißsein in Assoziation mit
Milde, Güte, Rettung von ahnungslosen Schwarzen, weißer Unschuld,
Reinheit und weißem Heldentum. Gegenwärtige Diskurse und mediale
Repräsentanzen erzeugen und tradieren Weißsein als humanistisch,
fortschrittlich, demokratisch, an egalitären Verhältnissen interessiert, der
Genderdemokratie verpflichtet.
Wenn rassistisch markierte ›Andere‹ diese Erzählversion von Weißsein
als die einzige annehmen, dann könnten wir in der Tat genauso gut – wie
Mills in der oben zitierten Aussage ironisch bemerkt – tot sein. Zumindest
als Subjekte.
Der soziale Tod oder auch der Subjekttod rekurriert auf den effektiven
Ausschluss aus sozialen Interaktionen mit anderen Subjekten. Er suggeriert
aber vor allem eine fehlende Berechtigung zu sozialen Interaktionen.
Tatsächlich trug sich ein enormer Fundus an Beobachtungen Schwarzer
Bediensteter von Weißen zusammen. Ein spezifisches Schwarzes Wissen
von kolonialisierten Schwarzen Subjekten, von Schwarzen Sklavinnen und
Sklaven entstand. Diese ›Daten‹ und Deutungen wurden vermittelt und
tradiert in Sprichwörtern, verschlüsselten Predigten, Parabeln, Witzen über
Weiße, in Liedgut (Blues, Spirituals), in Legenden und Erzählungen und
vor allem im erzieherischen Sprechen. Wie bell hooks und Nancy Boyd-
Franklin feststellen, entstand dieses Wissen in Zusammenhang mit der
Entwicklung von Überlebensstrategien.[2] Es sicherte das nackte Überleben
und gleichzeitig den Zusammenhalt Schwarzer Gemeinschaften während
des Kolonialismus und der Sklaverei.
Subalterne Schwarze Subjekte beobachteten Abläufe in weißen
Zusammenhängen, sie lernten es, weiße Kommentare zu entziffern. Sie
beobachteten weiße Individuen und weiße Kollektive eingehend. Sie
sammelten somit also nicht nur Daten, sondern auch Detailwissen. Sie
diskutierten diese Alltagsbeobachtungen, werteten sie aus, reflektierten und
interpretierten sie.[3] Sie gaben ihnen diskursive Strukturen. Sie
vermittelten ihre Einsichten instruktiv als Einweisungen im diplomatischen
Umgang mit Weißen. Diese wurden als Erziehungsbotschaften an Schwarze
Kinder weitergegeben – und zwar in Form von Anweisungen, wie man
Weiße ansprechen solle, wohin man sehen solle, während man mit Weißen
sprach, welche Antworten auf welche Fragen empfehlenswert wären usw.
Schwarze Menschen haben Weiße immer ganz genau – wenn auch
unauffällig, wie Boyd-Franklin und Elsie J. Smith betonen – observiert,
taxiert und analysiert.[4] Schwarzes Wissen über weiße Hegemonie
funktioniert somit als ein Wissensarchiv. Die ›wohlwollenden‹
Maskierungen, die Schwarze Subjekte im Umgang mit Weißen
performieren und tradiert haben, täuschen nicht darüber hinweg, dass wir
uns schon immer eigene Bilder über Weiße und Weißsein gemacht haben.
Unser experimentelles Vorgehen als Herausgebende dieses Bandes,
bezogen auf die Situierung und Aufteilung der Beiträge in ›Kritische weiße
Perspektiven‹ und ›Schwarze Perspektiven‹ gründet maßgeblich auf dem
Bestreben, eben dieses tradierte Schwarze Wissen anzuerkennen. Wir
erhoffen damit ein zugleich, irritierend-destabilisierendes und konstruktiv-
anregendes Wechselspiel von ›View and Gaze‹ (wie Peggy Piesche es
nennt) eröffnet zu haben. Unser Ziel ist es, diesen Prozess nicht beliebig ins
›Nichts‹ laufen zu lassen, sondern durch eine klare und klar positionierte
Struktur zu konkreten und spannenden Einsichten über Weißsein und
rassifizierte Konstruktionen in Deutschland hinzuführen.

WAS GIBT ES DENN SCHON ZU ›WEIßSEIN IN DEUTSCHLAND‹ ZU SAGEN?


In den letzten Monaten haben wir uns als Team von Herausgeberinnen sehr
intensiv mit ganz verschiedenen Perspektiven auf Weißsein in Deutschland
auseinandergesetzt. Dabei sind wir zu einer ganzen Reihe von
denkanregenden Einsichten und auch zu einigen durchaus irritierenden
Erkenntnissen gelangt. Erstens mussten wir feststellen, dass offensichtlich
ein großer Widerstand gegen eine explizite Kennzeichnung und damit
Markierung von Weißsein in Deutschland herrscht. Uns begegnete häufig
die Aussage, dass (gerade) in Deutschland ja doch nicht ›alles ganz so
schwarz-weiß‹ sei, wie die Kritische Weißseinsforschung es sieht. Dabei
blieb allerdings offen, wie es denn dann tatsächlich in Deutschland aussähe.
Ein häufig vorgebrachtes Hauptargument für diesen Zweifel an der
Relevanz von Weißsein war, dass Deutschland an der spezifischen
Produktion von (Wissen über) Weißsein weitgehend unbeteiligt gewesen
wäre, da Deutschland ja (wir kennen diesen so oft bemühten Mythos) nur
vergleichsweise kurz eine offizielle Kolonialmacht gewesen sei. Für den
Kontext der deutschen Geschichte und Gesellschaft sei vielmehr die
Aufarbeitung von Antisemitismus und Shoa und (vor dem Hintergrund
gegenwärtiger Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik) die
Auseinandersetzung mit ausgrenzenden Konstruktionen (weißer)
osteuropäischer Subjekte relevant. Forschungen zu ›Schwarzen europäische
Identitäten‹ im Rahmen der ›Black European Studies‹, wie sie in dem
›BEST Projekt‹ verankert sind, dürften beide Vorstellungen nachhaltig
erschüttern und ergänzend zeigen, dass es historisch bedingte und relevante
Zusammenhänge zwischen diesen Narrativen der Erinnerungspolitik und
Aufarbeitung gibt.[5] Erstens verorten diese Forschungsrichtungen die
afrikanische Diaspora in Europa als integralen und selbstverständlichen Teil
innereuropäischer Geschichtsentwicklung. Zweitens zeigen sich durch und
aufgrund dieser Verankerungsebene wesentliche Verbindungen zwischen
der Historizität Schwarzer Präsenz in Europa und dem Nationalsozialismus,
wobei es eben auch aufzuarbeiten gilt, dass Schwarze Bevölkerungen
ebenfalls konkret betroffen waren von der nationalsozialistischen
Rassenideologie.
Unsere Perspektive als Herausgebende beruht ohnehin keinesfalls auf
einem dichotomen Verständnis von Schwarz und weiß, sondern unser Ziel
besteht vielmehr darin, Weißsein in seiner historischen Dynamik und
Komplexität als Analysekategorie in Deutschland fruchtbar machen. Unser
Ziel ist es, die hegemoniale Funktion rassifizierender Markierungspraxen in
Zusammenhang mit der Normalisierung von Weißsein reflektorisch zu
erfassen.
Zweitens wurden wir mit einer fast automatischen, reflexartigen
Positionierung weißer Reflektionen und Beiträge außerhalb weißer
Kollektive konfrontiert, die auf der Grundlage eines antirassistisch
definierten Selbstverständnisses und einer Positionierung als ›weiße
Ausnahme‹ erfolgte. Unsere eigene Perspektive geht von der Möglichkeit
und sogar von der Notwendigkeit einer kritischen und zugleich
konstruktiven Positionierung innerhalb weißer Kollektive aus. Die Beiträge
in dem Teil ›Kritische weiße Perspektiven‹ sollen eben diese Möglichkeit
zugleich verdeutlichen und zugänglich machen.
Drittens begegnete uns eine Tendenz zur Relativierung von Weißsein
entlang von Argumenten sozialer Ungleichheit. Es erschien beinahe so, als
wären solche sozialen Kategorien wie ›weiße Frau‹ oder ›weißes
osteuropäisches Subjekt‹ aufgrund von der Verflochtenheit von Weißsein
mit Ungleichheitskonstruktionen automatisch weniger weiß und daher
eigentlich näher dran am Schwarzsein oder gar praktisch Schwarz. Eine
Reihe von Texten in diesem Band leisten eine differenzierte Analyse
hinsichtlich spezifischer Ungleichheitskonstruktionen oder auch der
Verwobenheit von Konstruktionen. Grundlegend ist jedoch, dass wir als
Herausgebende davon ausgehen, dass Weißsein vielmehr als
steigerungsfähige Konstruktion konzipiert ist.
Weißsein wird in diesem Band als ein Konzept theoretisiert, welches
exklusivere Formen von ›weiß‹ als Zentrum der Hegemonie konstruiert.
Dazu zählt etwa die ›Arierkonstruktion‹, wobei ›arisches Weißsein‹
gewissermaßen als ›superweiß‹ positioniert wird. Ein anderes Beispiel dafür
ist die US-amerikanische WASP Konstruktion (White Anglo-Saxon
Protestant), welche als kapitalistisches Machtzentrum und als ein tradiertes
weißes wirtschaftliches Beziehungsgeflecht bis in die Gegenwart hinein
wirkt. Wir gehen also davon aus, dass exklusivere Formen von Weißsein
nicht dazu gedacht sind, andere Formen von Weißsein zu negieren oder aus
dem weißen Kollektiv zu verstoßen und auszuschließen. Ihre Funktion
scheint maßgeblich darin zu bestehen, Macht, auch innerhalb der weißen
Hegemonie, zu konzentrieren und ungleich zu verteilen.
Die Beiträge in diesem Buch zeichnen Deutschland als ein unsichtbares,
aber wirksames weißes Machtfeld, eine weiße Machtlandschaft. Das
Verdienst dieses Bandes ist es, ein interdisziplinär besetztes Feld von
Autorinnen und Autoren versammelt zu haben, die über die Spezifik von
Weißsein in Deutschland intensiv reflektiert – geforscht oder literarisch
gearbeitet – haben. Ihre Erkenntnisse leisten einen wesentlichen Beitrag
dazu, Weißsein als eine kritische Analysekategorie in der
bundesrepublikanischen Gesellschaft zu kontextualisieren und zu
verankern.

ANMERKUNGEN
1 Orlando Patterson zit in Mills, Charles Wade: Blackness Visible. Essays on Philosophy and
Race. Ithaca: Cornell University Press, 1998, S. 37.
2 Vgl. hooks, bell: Black Looks. Race and Representation. Boston: South End Press, 1992, S. 165;
und: Boyd-Franklin, Nancy: Black Families in Therapy. New York: Guilford Press, 1989, S. 96.
3 Der ›Maji-Maji Widerstand‹, ein gemeinschaftlich organisierter Befreiungskrieg in
Kolonialtanzania, wird in der Erzählung Kinjeketile überliefert. Er basiert auf eben diesen
diskursiven Techniken. Unter der (spirituellen) Führung von ›Kinjeketile Ngwale‹ werden
unterschiedlichste Gesellschaften in Kolonialtanzania vereint. Sie werden auf der Grundlage
gedeuteter Alltagsbeobachtungen und von Detailwissen kommunikativ in die Struktur der
weißen deutschen Kolonialdiktatur eingeweiht und somit befähigt, effektiv gegen sie
vorzugehen. Vgl. Hussein, Ebrahim N.: Kinjeketile. Nairobi & Dar es Salaam: Oxford
University Press, 1969 (ins Deutsche übersetzt in: Fiebach, Joachim (Hrsg.): Stücke Afrikas.
Ost-Berlin: Henschel, 1974, S. 5-53).
4 Boyd-Franklin: Black Families in Therapy, S. 96; und: Smith, Elsie J.: »Cultural and Historical
Perspectives in Counseling Blacks.« In: Derald Wing Sue (Hrsg.): Counseling the Culturally
Different. New York & Toronto: Wiley Interscience, 1981, S. 153-155.
5 Vgl. BEST, Black European Studies, Research Project an den Universitäten Mainz und
Massachusetts. www.best.uni-mainz.de. Das Projekt trägt Forschungsperspektiven und
Ergebnisse zusammen, die eine lange Geschichte Schwarzer Präsenz in Russland, Rumänien und
weiteren osteuropäischen Ländern belegen.
GRADA KILOMBA
BECOMING A SUBJECT

Why do I write?
‘Cause I have to.
‘Cause my voice,
in all its dialects,
has been silent too long
(Jacob Sam-La Rose)

This is one of my favourite poems. I have read it a thousand times, again


and again. And each time I read it, it seems that my whole history is
summarized within it. I see my ancestors with a bit in their mouths,
clamped to their tongues and to their jaws to assure their speechlessness; I
see myself searching for words among colonial languages to complete my
fragmented story. All this seems to be written there. The short five lines
recall quite ingeniously this long history of imposed silence. It awakes
imponent images. Images of tortured voices, disrupted languages,
interrupted speeches, prohibited places and, of course, white severe
procedures. At the same time, this is not only a poem about the continual
loss of ›dialects‹ urged by colonialism. Rather, it is also a poem about
resistance and about a collective hunger to come to voice, to write, to
document and to recover our hidden history. That is why I like it so much,
that is why I have read it a thousand times.
Writing emerges, here, as a political act. The poem illustrates writing as
an act of becoming[1]. While I write, I become, the narrator, the describer
and the writer of my own history. I become the absolute opposition of what
the colonial project has predetermined. I am the author and the authority of
my own reality. Writing allows me, in this sense, to reappear as the subject,
instead of the object or the so called objectified Other. It is this passage
from objecthood to subjecthood, or as the author alludes in his poem, from
the silent to the speaking subject, which marks writing as a political act - as
a form of opposing against colonial positions and as a way of reinventing
ourselves anew.[2]
The idea that one has to write, almost as a virtual moral obligation, also
reminds us of the very many spaces where we are voiceless. Spaces we
usually cannot enter, and which have to »be interrupted, appropriated, and
transformed through artistic and literary practice.«[3] This book is one of
those spaces, where we are neither absent nor Other, but instead we are the
subjects in all of our ›dialects‹.

[This is in Remembrance of Our Ancestors]

ANMERKUNGEN
1 The concept of ›becoming‹ has been used within Cultural Studies to elaborate the relationship
between self and other.
2 I write opposition along with reinvention, taking into account bell hooks’ argument, that
opposing is not enough. One cannot simply oppose dominance, she argues, since in the vacant
space after one has resisted »there is still the necessity to become – to make oneself anew«
(hooks, bell: »The Politics of Radical Black Subjectivity.« In: Dies.: Yearning. Race, Gender,
and Cultural Politics. Boston: South End Press, S. 15). In other words, there is still the necessity
to become subjects.
3 hooks, bell: »Choosing the Margin as a Space of Radical Openness«. In: Dies.: Yearning, S. 152.
SUSAN ARNDT
WEIßSEIN. DIE VERKANNTE STRUKTURKATEGORIE
EUROPAS UND DEUTSCHLANDS

In Europa, besser: im Mainstream-EU-Europa, gibt es gegenwärtig nur


noch eine machtvolle Utopie. Sie lässt sich leicht auf einen Begriff bringen:
›Europa‹. Zwar ist diese Utopie jahrhundertealt. Wie allen Utopien ist auch
ihr ein ausgeprägtes, verheißungsvolles Ziel eigen. Es heißt ›Europa‹. Eine
solche, scheinbar tautologische, Unsinnigkeit ist Utopien schon deshalb
wesensnah, weil sie einen paradiesischen Endzustand preisen, ohne einen
auch nur annähernd plausiblen Weg präsentieren zu können, wie aus dem
Jetzt die unendliche Zukunft entspringen könne. Utopien leben von der
Hoffnung, das Paradies im Diesseits errichten zu können. Das macht
zugleich ihre große Strahlkraft aus, ihre Anziehungskraft, die das Teuflische
jeder Utopie zum verschmerzbaren Betriebsunfall, zur Hobelspäne
verniedlicht.
Die Europa-Utopie ist jahrhundertealt. Doch ab wann Menschen in
Europa begannen, sich auch als Europäer und Europäerinnen zu begreifen,
ist ebenso umstritten wie die Frage, ob Europa je zu einem zentralem
Identifikationsmuster für Menschen in Europa reifte, reifen kann und reifen
wird. ›Europa‹ als nach Außen abgesicherte Größe ist zunächst einmal ein
Produkt des Mittelalters. Einige MediävistInnen sehen diesen Prozess
bereits im Hochmittelalter als in seinen zentralen Konturen abgeschlossen,
andere ForscherInnen nehmen den Übergang vom Spätmittelalter zur
Frühen Neuzeit als Scheitelachse Europas. Weithin einig aber sind sich
viele HistorikerInnen in der Annahme, die ›europäische‹ Abwehr der
Hegemonieansprüche des Osmanischen Reiches zuerst in den 1520er
Jahren und dann nochmals etwa 160 Jahre später, als jeweils ›die‹ Türken
vor den Toren Wiens standen, habe ›Europa‹ zusammengeschweißt. Im
Inneren heftig miteinander in Konkurrenz und in blutige Kriege verwickelt,
erwiesen sich die europäischen Staaten in der Abwehr und vor allem der
Eroberung und Unterwerfung des ›Außen‹ mindestens gleichgerichtet, auch
wenn sie nicht immer am selben Strang zogen. Moderne
Selbstverständnisse von ›Europa‹ und ›EuropäerInnen‹ sind ein Produkt des
19. und 20. Jahrhunderts, maßgeblich konturiert von der europäischen
Aufklärung, ihren ›Rassentheorien‹ und dem Kolonialismus und jüngst
rekonturiert durch die (vorerst gescheiterte) EU-Verfassung, derzufolge als
›international‹ nur noch Beziehungen außerhalb der EU gelten und
innerhalb der EU ›europäisch‹ statt ›national‹ firmieren.
Im Kontext dieser politischen Suchprozesse ›eines Europas‹ ist Europa
stets ein dem Wandel der Zeit unterworfener unscharfer Begriff geblieben,
letztlich eine Metapher wie ›Westen‹, ›Okzident‹, ›Orient‹ und viele andere.
Europa ist kein religiös und kulturell homogenes ›natur‹gegebenes Gebilde,
sondern vielmehr ein historisches und politisches Konstrukt, das sich vor
allem in seiner Abgrenzung nach Außen Form und Inhalt zu geben suchte.
Dabei bildeten sich, die jüngsten Debatten um die EU-Mitgliedschaft der
Türkei zeigen es in aktueller Perspektive, das Römische Recht, das
Christentum und die Aufklärung als willkommene Requisiten des
europäischen Selbst heraus, wobei ›Rassentheorien‹, Kolonialismus und
Shoa weitgehend als Konstituenten verleugnet werden. Folgerichtig wird
auch jene Kategorie verleugnet, die dem Sprechen von Christentum,
Römischen Recht und Aufklärung diskursiv und strukturell eingeschrieben
ist und die bis heute zu den strukturell und diskursiv dominantesten
Konstituenten des ›Hauses Europa‹ zählt: Weißsein.
Mit Blick auf Deutschland zeigt sich dies exemplarisch: Der biologisch
begründete ›Volkstum-Begriff‹ (ius sanguinis), der sich über Kriterien wie
›Abstammung‹ oder ›Blutsverwandtschaft‹ konstituiert, bewegt sich im
Rahmen der diskursiv und strukturell präsenten Nähe von Deutschsein und
Weißsein. Dabei schließt er noch eine Kongruenz zum Christentum ein.
Diese Formierung der deutschen Nation als christlich vollzog sich zunächst
primär in offensiver Abgrenzung zum Judentum. Die Abgrenzung zum
Islam und anderen Religionen ist diesen Formationsprozessen ebenfalls seit
jeher immanent (wie sich etwa schon in der Bibel, in Wolfram von
Eschenbachs Parzival oder der kolonialistischen Missionierungshysterie
zeigt), war jedoch – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden innenpolitischen
Prominenz dieser Religionen und imperialer Ansprüche auf den kolonialen
Raum – diskursiv der alterisierenden und homogenisierenden Herstellung
des Kolonisierten als Nicht-Weiße (als Schwarze) untergeordnet. Ausgelöst
durch die Formierung Neuer Diasporas in Europa seit der Zerschlagung der
europäischen Kolonialreiche, befördert durch die Arbeitsmigration seit den
1960er Jahren und katalysatorisch verstärkt durch 9/11 hat die Herstellung
von Deutschsein als weiß und christlich in den letzten Jahrzehnten eine
Rekonturierung erfahren.
Diese strukturelle und diskursive Relevanz von Weißsein im
europäischen Formationsprozess verweist unmissverständlich darauf, dass
der Kolonialismus und die ihn stützende Ideologie von der Existenz
menschlicher ›Rassen‹ nachhaltig auf das kulturelle, politische und religiöse
Wesen Europas ausgewirkt hat und deswegen als transnationale
Meistererzählung ernst zu nehmen ist. Das ist in historischer Perspektive zu
begründen.
Ihre blutigen kolonialen Welteroberungsfeldzüge legitimierten die
betreffenden Länder Europas allesamt mit der selben Ideologie – einer
Ideologie, die Anleihen aus der langen europäischen Tradition des
Antisemitismus bezog und erste Formulierungen bereits im klassischen
Athen und Rom gefunden hatte: Orientalistische Ideologeme von
›Hautfarbe‹ und ›Heidentum‹, die bereits Rassialisierungsmuster aufzeigen,
lassen sich bis in die Anfänge der europäischen Geistes- und
Kulturgeschichte zurückverfolgen. Doch erst im Europa der Neuzeit, ab
dem 16./17. Jahrhundert, wurden diese Theoreme von ›Rasse‹ zu einer
vermeintlichen Rationalität erhoben, die als unumstößlich galt. Die einfache
wie törichte, in vielen unsäglichen Abhandlungen, Vorträgen und populären
Schriften immerfort wiederholte Botschaft dieser Ideologie lautete: »Die
weiße ›Rasse‹ ist eine ›natur‹gegebene Norm und allen anderen ›Rassen‹
überlegen.« Dabei bemerkte Europa nicht, oder wollte es auch nicht
merken, wie es mehr und mehr einem ›Rassenwahn‹ verfiel, der zunächst in
einem blutigen Kolonialrausch und später im nationalsozialistischen
Rassenwahn mündete.
Die Lust am Kolonialismus stellte sich in der Selbstrechtfertigung als
»Last und Bürde des weißen Mannes« dar, der nicht anders konnte, als den
Rest der Welt an seinen ›Segnungen‹ teilhaben zu lassen, d.h. den Rest der
Welt zu ›zivilisieren‹, sprich: zu ›normalisieren‹. Dabei inszenierte sich
Europa als weißes, also einzig legitimes, weil einzig existierendes
handelndes Subjekt der Geschichte. Dies war und ist (zumal in
Deutschland) eine so selbstverständliche Annahme, dass es müßig scheint,
an dieser Stelle Belegstelle um Belegstelle aufzulisten. In dem vorliegenden
Band werden selbst missmutige LeserInnen so viele Belege dazu finden,
dass eine konkrete Beweisführung an dieser Stelle unterbleiben kann. Den
›Anderen‹ aber fehlte es, so die weiße Botschaft, an Geschichte, und
deshalb auch an Zukunft; oder, wie es Hegel ausdrückte: »[W]ie wir sie
heute sehen, so sind sie immer gewesen«.[1] Diesen angeblichen Stillstand
der Geschichte aufzuheben, hatte sich die weiße Welt aufgebürdet – so
jedenfalls sah sie es selbst. In diesem Verständnis von ›Geschichte machen‹
meint dies automatisch, zu handeln, verändern, denken, rationalisieren,
herrschen, ›erziehen‹ und zu ›zivilisieren‹ – wobei Weißsein in einer
gedachten Prozentskala als Einhundert, als förmlich naturgegebenes Axiom
fungiert. Alles, was nicht dem Idealtyp entspricht, fällt aus der gesetzten
Norm heraus, ist aus der Perspektive eines Master-Signifiers Weißsein
heraus zu debattieren, zu klassifizieren, zu organisieren, zu zivilisieren. Das
Axiom selbst entfaltet ein Eigenleben, das alles und jedes zu definieren, zu
okkupieren, zu beherrschen, zu verändern und zu objektivieren sucht.
Auf dieser Grundlage stand für die KolonisatorInnen außer Frage, dass
sie auch in der Fremde nicht als die Fremden, sondern als HerrscherInnen
und ErzieherInnen über die ›Fremden‹ zu gelten hatten. Dies setzten sie
auch durch, mit allen Mitteln. Die Barbarei, die sie den ›Fremden‹
unterstellten, kennzeichnete ihr System der Herrschaft und ›Erziehung‹.
Millionen Schwarze Tote und noch mehr Versklavte, Gedemütigte und
andere Gewaltopfer waren der von Weißen bereitwillig bezahlte Preis für
die Ausbreitung ihrer ›Kultur‹ über das, was sie zum Heil ihrer
todbringenden Pläne als ›Natur‹ hergestellt hatten. So jedenfalls sahen es
nicht nur die Hohenpriester rassistischer und kolonialer Theorien und
Politiken, sondern nahezu geschlossen die europäischen Gesellschaften bis
weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der moderne europäische Kolonialismus,
wie er sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entfalten konnte, war
zwar auch ein ›Kalter Krieg‹ Europas außerhalb der Kontinentalgrenzen, er
beförderte aber zugleich die Entstehung einer »imperial race«[2] in Europa,
die supranational trotz bestehender innereuropäischer Rivalitäten in der
gemeinsamen Abwehr und Eroberung wirkte und agierte.
Diese rassistischen Herrenmenschenideologien, die den
Transatlantischen Sklavenhandel und den Kolonialismus ideologisch zu
mythisieren und maskieren versuchen, und die kolonialistische Praxis von
Vertreibung, Verschleppung, Rassengesetzgebung, Konzentrationslagern,
Massenmord und Genozid – um nur einige der gewaltsamsten Hausmarken
der europäischen Weltpolitik zu nennen – bildeten zusammen mit der
jahrhundertealten Theorie und Praxis des europäischen Antisemitismus den
Boden, den der Nationalsozialismus bestellen konnte und auf dem er seine
bestialische Realität der Shoa züchten konnte.
Und selbst als der Nationalsozialismus zerschlagen und – nicht zuletzt
dadurch katalysatorisch beeinflusst – auch die koloniale Welt Europas
endgültig unter den sich selbst befreienden kolonisierten Gesellschaften
zusammenbrach, zauberte die weiße westliche Moderne eine neue Theorie
hervor – die Modernisierungstheorie, die vorgab, die Welt könne nicht
anders, als sich nach ihrem Ebenbild zu organisieren und zu strukturieren.
In diesen Annahmen unterschieden sich übrigens, obwohl sie andere
Begrifflichkeiten und scheinbar antagonistische Theoreme bedienten, der
weiße Ostblock und die weiße Westallianz keinen Deut voneinander. Gerade
deshalb mündete der ›Kalte Krieg‹ in Europa bis 1989 in Afrika, Asien
sowie Mittel- und Südamerika immer wieder in ›Heiße Kriege‹. Und die
Bürde dieses Erbes lässt uns wohl fassungsloser auf die globalen
Entwicklungen seit Ende des Kalten Krieges 1989/91 blicken, als es nötig
wäre und als es in Regionen außerhalb Nordamerikas und des EU-Europas
üblich ist. Was erwartet der Imperator eigentlich im Prozess seines
Machtverlustes? Warum sollte es auch nur annähernd verwundern, wenn
dem angeblichen Heilsbringer nach seinem Rückzug und seinen
gelegentlichen Gegenschlägen Gegenwehr entgegenschlägt? Wieso
eigentlich ist es der Rede Wert, wenn diejenigen, die Jahrhunderte lang als
Zivilisierungsobjekte weißen Sehnsüchten unterlagen, nun massenhaft ins
›weiße Paradies‹ pilgern und nicht mehr aufs Jenseits warten wollen?
Die noch immer rezenten Migrationsströme und die stetig wachsenden
Neuen Diasporas in Europa und Nordamerika sind ein direktes Ergebnis der
jahrhundertelangen europäischen Eroberungspolitik. Die Sucht, die Erde zu
europäisieren,[3] hat unweigerlich und irreversibel auf Europa
zurückgewirkt und verlangt nach einer postkolonialen Provinzialisierung
und Resituierung Europas. Dies ist ein Stoß ins Mark europäischer
Selbstvergewisserung – nicht ein Stoß in Unterleib oder Niere, sondern ins
Herz jenes ›Europas‹, dass sich als weiß inszeniert hatte und noch immer als
weiß, christlich und tugendhaft zu inszenierten sucht. Dabei hat sich aber
ein gewichtiger Inszenierungswechsel vollzogen. In gewollter
Distanzierung zu Kolonialismus und Nationalsozialismus wird Weißsein
heute aus vermeintlich liberaler Gesinnung verleugnet und damit auf neue
Weise ermächtigt. Weißsein wird zwar weiterhin als quasi Gesetz-Norm
gesetzt, wird im Prozess der verzeichnenden »Entnennung« (Lauré al-
Samarai) aber zur Selbstverständlichkeit, die nicht einmal betont zu werden
braucht. Auf diese Weise revitalisiert Weißsein als »unsichtbare
Normalität« (Wachendorfer) Geschichte, wobei sie die rassialisierte
Differenz und weiße Hegemonie ent-historisiert und ent-politisiert, sprich:
dethematisiert.
Der vorliegende Studienband will an eben jenem diskursiven und
strukturell geschützten Selbstverständnis Europas und konkret der
deutschen Gesellschaft – und der in ihr lebenden weißen Subjekte sowie
seiner Mythen und Masken – rütteln. »Der Mythos leugnet nicht die
Dinge,« schreibt Roland Barthes, »seine Funktion besteht im Gegenteil
darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie
unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine
Klarheit, die nicht die Erklärung ist, sondern eine Feststellung.«[4] Und
gerade deswegen fürchtet der Mythos nichts so sehr, wie mit seiner
Geschichte konfrontiert, seines Gewordenseins überführt und seiner
Masken beraubt zu werden. Unter Zuhilfenahme tautologischer
Beweissätze wie »Das ist so, weil es so ist…«,[5] flüchtet er sich daher in
die Verleugnung seiner selbst sowie seiner Subjekte und Masken. Weißsein
ist ein solcher Mythos. Will man es hinterfragen, so heißt das zunächst vor
allem, die eigene Subjektposition überhaupt einmal wahrzunehmen, zu
thematisieren, seine Mythen zu dekonstruieren und Masken zur Disposition
zu stellen und es aus dem Raum des angeblich ›Gott gegebenen‹ (vom
›christlichen Gott gegebenen‹) zu verbannen. Weißsein ist zu befreien aus
seiner ›unmarkierten Normalität‹.
Gerade auch die Vor- und Entstehungsgeschichte dieses Buches zeigt,
dass Weiße stets des Anstoßes der von ihnen zu ›Anderen‹ gemachten
bedürfen, um sich selbst zu entmythisieren und demaskieren – ihre Macht,
Privilegien und Ressourcen, zu erkennen. Dabei ziehen sie aber die
homöopathische Reform der diskursiven Revolution vor, wodurch sie
Dynamiken eröffnen, die weiße Räume vor einer diskursiven Springflut zu
schützen wissen und Schwarzen dabei zugleich ›geschützte‹ Räume in der
rassistischen Präsenz von Weißsein verwehren. Vor diesem Hintergrund
konturiert sich die wissenschafts-politische Leistung des Bandes, erstmalig
in Deutschland einen Rahmen dafür zu bieten, dass Rasse mit einem
postkolonialen Fokus auf Weißsein in der Dialogizität Schwarzer und
kritischer weißer Perspektiven verhandelt werden kann, ohne dass dabei
aber die rassialisierte Differenz (und insbesondere auch die Omnipräsenz
weißer Hegemonie) und die daraus erwachsenden Spannungen zwischen
diesen Perspektiven geleugnet werden würden. Dem trägt insbesondere
auch die Zuordnung der Beiträge in die drei Hauptkapitel »Schwarze
Perspektiven«, »Übergänge« und »Kritische weiße Perspektiven«
Rechnung. Mit dem Ansatz, die vielerorten verleugneten, ja, entnannten
Differenzen zwischen den Schwarzen und weißen Positionen aus
postkolonialer Perspektive zu benennen, bietet das Buch einen Weg an, mit
dem sich Europa seiner kolonialen Vergangenheit stellen, der
postkolonialen Resituierung Europas öffnen und der politischen, sozialen
und kulturellen jahrhundertealten hegemonial geprägten Präsenz von
Schwarzen, People of Color und Weißen in Europa stellen kann. Wenn
dieses Buch dazu beitragen könnte, Europa im Allgemeinen und
Deutschland im Besonderen auf diesem Fundament zu resituieren und dabei
dazu beitragen könnte, Weißsein als selbstverständliche wissenschaftliche
und politische Kategorie in Deutschland zu etablieren, dann hätte sich nicht
nur ein wichtiges Ziel des Buches erfüllt, sondern wäre auch die Vision von
einem anderen, (welt)offenen ›Europa‹ ein gutes Stück weiter gereift.

ANMERKUNGEN
1 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837).
Stuttgart: Reclam, 1961, S. 162.
2 Frevert, Ute: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.:
Fischer Taschenbuch Verlag, 2003, S. 82.
3 Vgl. Reinhard, Wolfgang: »Die Europäisierung der Erde und deren Folgen.« In: Jörg A.
Schlumberger & Peter Segl (Hrsg.): Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in
interdisziplinärer Sicht. Köln, Weimar & Wien: Böhlau, 1994, S. 76-93.
4 Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt /M.: Suhrkamp, 1996, S. 131.
5 Für diese tautologische Grundformel vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 143.
DER WEIßE FLECK UND DAS
SUBJEKT
SCHWARZE PERSPEKTIVEN ZU
WEIßSEIN IN DEUTSCHLAND
PEGGY PIESCHE
DER ›FORTSCHRITT‹ DER AUFKLÄRUNG – KANTS
›RACE‹ UND DIE ZENTRIERUNG DES WEIßEN
SUBJEKTS

Die in den postmodernen theoretischen Diskursen nunmehr durchgängig zu


findende Perspektive der Dekonstruktion hegemonialer Normativität weißer
Positionalitäten benötigt eine Kontextualisierung von Weißsein in historisch
verankerten und reflektierten Zusammenhängen. Eine Problematisierung
der Normativität von Weißsein als Rassekonstrukt und gewaltvoller
gesellschaftlicher Realität – z.B. in gegenwärtigen Analysen weißer
Globalhegemonie – muss, will sie den eigentlichen eingeschriebenen
Dynamiken auf die Spur kommen, immer auch die ihr eigenen Traditionen
und Tradierungen reflektieren, um nicht zuletzt auch jenen mächtigen
weißen ›kritischen‹ Diskursen, die sich in den letzten Jahren anschickten
›Rasse‹ als auch Weißsein zu dekonstruieren, begegnen zu können. Wenn
Weißsein mittlerweile in seiner fragilen Komplexität der Instabilität als
Konstruktion durchaus so zu setzen ist, dass es möglich erscheint, selbiges
zu überwinden, stellt sich die Frage nach dessen Ursprüngen, nach den
Determinanten einer Konstruktion von Weißsein als Normativität.
Im Folgenden wird der hegemoniale Fokus auf sich selbst, die
Selbstmarkierung des Markierers, im Diskurs der Aufklärung und deren
Nachwirkung beleuchtet und die zentrale Rolle, die Denkern wie Immanuel
Kant und Georg Friedrich Wilhelm Hegel dabei zufielen, diskutiert. Dabei
soll vor allem auf das Phänomen eines hegemonialen weißen Settings
eingegangen werden, welches unter Zuhilfenahme einer Theoretisierung
des Begriffes ›Race‹ Weißsein als Bedeutung produzierende
Wirklichkeitskonstruktion anfänglich selbst dechiffrierte und durch eine
eigene Markierung historisch a priori setzte. In den Anfängen des deutschen
Diskurses um ›Rasse‹ wurde nämlich ein Weißsein ins Zentrum des
Blickfeldes gerückt, welches sich selbst markierte und ausdifferenzierte, um
schließlich in einer normativen Setzung seine nunmehr bekannte
transparente Gestalt anzunehmen. Der Beitrag geht daher auch von der
These aus, dass die Einführung des Begriffes ›Race‹ in den deutschen
intellektuellen Diskurs der Aufklärung durch Immanuel Kant (Von den
verschiedenen Racen der Menschen, 1775) und die weitere Theoretisierung
seiner Bedeutungsebene durch Hegel maßgeblich dazu beitrugen, dass
Weißsein als eine erweiterungs- und dehnungsfähige Konstruktion
konzipiert ist und eine mögliche Relativierung von Weißsein, vor allem
aber seine betonte (Aus-)Differenzierung des Herrschaftssubjektes in ein
prototypisches – weiß, männlich, heterosexuell –, lediglich die Diskursivität
von Weißsein aufzeigt. Dabei sind jedoch exklusivere Formen von
Weißsein dazu gedacht, hegemoniale Macht zu konzentrieren und zugleich
zu stabilisieren. Dieser These folgend soll schließlich auch auf die so
genannte Forster-Meiners-Debatte eingegangen werden, die durchaus als
eine anfängliche Diskussion um die Fragilität der Kategorie Weißsein und
damit um die Bedeutung von ›Rasse‹ für den innereuropäischen Diskurs
verstanden werden darf. Damit soll nicht zuletzt das bis heute unsichtbare,
aber wirksame weiße Machtfeld ›Aufklärung‹ neu beleuchtet werden.

1. SINNSTIFTUNG FORTSCHRITT: ›RASSE‹ UND IHRE BEWEGLICHKEIT


»Nicht die ›Rassen‹ formen das Bild der Geschichte, sondern
die Geschichte formt das Bild der ›Rassen‹.«[1]

Diese durchaus komplex und differenziert anmutende These, die sich


augenscheinlich gegen ein Konzept von ›Rasse‹ zu wenden scheint, ist eine
der zentralen Argumentationen in der kommunistischen Geschichtsdebatte
gegen das gerade zurückliegende nationalsozialistische Geschichts- und
Rassekonzept. Walter Girnus, seit 1929 KPD-Mitglied und von 1935 bis
1945 von den Nationalsozialisten inhaftiert, 1946 bis 1949 Intendant des
Berliner Rundfunks, 1949 bis 1953 Redakteur des Neuen Deutschlands
sowie später Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und
Herausgeber von Sinn und Form setzt bereits 1945 gegen eine
nationalsozialistische Geschichtstradierung einen rassefreien
Ursprungsmythos der ›eigenen‹ Geschichte und proklamiert dagegen eine
ständige Umbildung und Entwicklung, bzw. deren Gesetzmäßigkeit, als
Triebfeder der Geschichte.[2] Das Erstaunliche an dieser kleinen Schrift ist
dabei, dass sich die darin verfolgte Argumentation gegen das Rassekonzept
der Nationalsozialisten auf die große ›humanistische‹ Tradition beruft und
sich explizit Anleihen auch bei Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder
und Christoph Meiners holt.[3] Der neue, sozialistische Mensch, der in
Anlehnung an die aufklärerische Tradition der Erziehbarkeit einer Formung
unterzogen werden sollte, differenziert sich offensichtlich ›nur‹ hinsichtlich
seiner Fortschrittsfähigkeit. Die Tatsache, dass ein nationalsozialistisches
Rassekonzept mit den inhaltlichen Argumentationen des 18. Jahrhunderts
bestritten werden soll und dabei die Begriffe (interessanterweise) ›Rasse‹,
›Varietät‹, ›Spielart‹, ›Volk‹ und vor allem schließlich auch ›Nation‹ mit
aufklärerischem Impetus wieder belebt werden, gibt nicht nur hinsichtlich
einer kommunistischen Variante von ›Rasse‹ zu denken,[4] sondern auch
hinsichtlich der so wieder belebten Begriffseinschreibungen. Dabei fällt auf,
dass ein Konzept mit demselben bekämpft werden soll. ›Rasse‹ in ihrer
nationalsozialistischen Prägung – als unveränderlich und stagnierend,
welches schließlich die Stigmatisierung einzelner Menschengruppen erst
hervorriefe, wird mit einem Konzept von ›Rasse‹ begegnet, welches die
Einheitlichkeit der Menschheit durchaus in sich vereinbart. Die Referenzen
hierzu sind deutlich, stellt doch auch Immanuel Kant in seiner viel
beachteten Schrift Von den verschiedenen Racen der Menschen, in der er
1775 den Begriff der ›Race‹ schließlich in ein folgenschweres Konzept
kleidet, gleich zu Beginn fest:
Nach diesem Begriffe gehören alle Menschen auf der weiten Ebene zu ein und derselben
Naturgattung, weil sie durchgängig miteinander fruchtbare Kinder zeugen, so große
Verschiedenheiten auch sonst in ihrer Gestalt mögen angetroffen werden. Von dieser Einheit der
Naturgattung […] kann man nur eine einzige natürliche Ursache anführen: nämlich, daß sie alle zu
einem einzigen Stamme gehören […].[5]

Die Proklamierung dieses Gleichheitsaspekts im Ursprung der Menschheit


wird immer wieder herangezogen um Kants – für die weitere
Aufklärungsideologie maßgebliches – Rassekonzept als ein neutrales, gar
fortschrittliches – und schließlich auch für das postfaschistische 20.
Jahrhundert fruchtbar zu machendes – Theorem immer wieder zu tradieren.
[6] Demnach wären alle Menschen, gleich welcher ›Rasse‹, von einem
Ursprung. Diese Ursprungsbezeichnung, deren Verweis fast ausschließlich
nur auf die eben zitierte Einleitungsstelle bei Kant zurückgeht,[7] wird dann
wahlweise als gemeinsamer ›Stamm‹, gemeinsame ›Gattung‹ oder
›Familie‹ verstanden. Das erfolgt in enger Anlehnung an Kant, der in seiner
Einleitung Von der Verschiedenheit der Racen überhaupt all diese Begriffe
gleichsetzt, um sie schließlich gezielt in den Begriff der ›Race‹ münden zu
lassen. Eine der wesentlichsten Zuschreibungen, die eine Hierarchisierung
innerhalb seines Rassekonzeptes bereits andeuten, hat Kant schon zuvor
unmissverständlich dargestellt, als er sich in den Beobachtungen über das
Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) David Hume anschließt und
festhält,
daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt
werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger
jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder in Wissenschaft, oder irgend einer andern
rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig
welche aus dem niedrigsten Pöbel emporschwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein
Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei
Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Anlehnung der Gemüthsfähigkeiten, als
der Farbe nach zu sein.[8]

Wenn Girnus und andere[9] – ein jüngeres Beispiel ist Franz Martin
Wimmer[10] – gegen den nationalsozialistischen Rassebegriff vor allem das
Moment der Entwicklung ins Felde führen und dabei versuchen, den
Rassebegriff der Aufklärung dagegenzusetzen, so zielt dies besonders auf
die Fortschrittstheorie, die Kant in seinen geschichtsphilosophischen
Schriften[11] vornehmlich in Abgrenzung zu Rousseaus Konzept der
›Perfektibilität‹[12] entwickelt hat. Eine sich immer weiter entwickelnde
Menschheit, deren Naturgesetz es sei, mit zunehmender ›Entwicklung‹ eine
›zunehmende Zivilisation‹ zu erreichen, lässt das biologistische Konzept
›Rasse‹ durchaus zu und kleidet es gar in ein entwicklungsdynamisch
harmloses Moment. Girnus’ geistige Verwandtschaft mit Kant zeigt sich vor
allem hierin:
Die Rasse ist eine biologische Kategorie, die von der körperlich-seelischen Anlage ausgeht. Die
gesellschaftlichen Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Kultur vollziehen sich aber unter
unseren Augen, d.h. tausendmal und hunderttausendmal schneller als die biologischen (Rasse
[sic!]) Die biologischen Veränderungen ganzer Rassen und Menschengruppen von fortwirkendem
Charakter sind an die Generationen gebunden, die gesellschaftlichen Veränderungen dagegen in
Wirtschaft, Technik, Politik, Kultur vollziehen sich täglich, ja stündlich, also können nur sie die
Ursachen typologischer Veränderungen beim Menschen sein, nicht aber die Rassenumbildungen
Ursache geschichtlicher Veränderungen. Der Einfluss der biologischen Faktoren (Rasse) auf die
geschichtlichen ist den gesellschaftlichen Faktoren gegenüber eine Größe, die man
vernachlässigen kann.[13]

Die immer wieder tradierte These, dass mit Kant zwar ein Rassekonzept
auch in den deutschen Aufklärungsdiskurs Einzug hielt, dieses aber nicht
hierarchisierend, sondern lediglich strukturierend sei, lässt diese m.E.
entscheidende Argumentation außer Acht. Das bis heute den westlichen
Gesellschaften eigene und in Aufklärungstradition selbstbewusst
angeeignete Fortschrittsmoment, welches zu weiten Teilen auf Kant zurück
geht, schreibt demgegenüber eine klare Positionierung der Hierarchien fort:
Völker, die mit dem Begriff der ›Zivilisation‹ verbunden werden, haben
bzw. sind keine ›Rasse‹ oder haben vielmehr dieses Studium überwunden,
sind dieser Stufe quasi entwachsen. Völker, die mit eben jenem Begriff
nicht verbunden werden – man vergleiche den ausschließlichen Verweis auf
die ›Gemüthsfähigkeiten‹ der zitierten afrikanischen Völker, wobei niemals
auf die ›Verstandesfähigkeit‹ verwiesen wird –, verharren gleichsam auf der
ihnen zugeschriebenen Stufe der ›Rasse‹. Die in diesem Zusammenhang
viel beschworene Verschiedenheit unter Gleichrangigen, mit der versucht
wird, das biologistische Konzept von ›Rasse‹ zu retten, verschleiert die
Position des weißen sprechenden Subjektes, welches sich aus der
Perspektive der Zuschreibungsmacht eben jener Begrifflichkeiten
(›Zivilisation‹, ›Volk‹, ›Nation‹ etc) artikuliert.
Die Überführung dieser von Kant wesentlich inspirierten Gleichung
(›Fortschritt‹ = ›Zivilisation‹ = ›Volk‹ versus ›Stagnation‹ = ›Wildheit‹/
›Ursprünglichkeit‹ = ›Rasse‹) in die westliche Geschichtswissenschaft und
die damit verbundene ultimative Einschreibung von ›Wissenschaftlichkeit‹
im Konzept ›Rasse‹ kommt wohl Hegel zu, der in seinen Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte mit ›Afrika‹[14] ein Gegenbild zur
europäischen Fortschrittsdynamik entwirft:
Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische grade, daß ihr Bewußseyn noch nicht zur
Anschauung irgend einer festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei
welcher der Mensch mit seinem Willen wäre, und darin die Anschauung seines Wesen hätte. Zu
dieser Unterscheidung seiner des Einzelnen, und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der
Afrikaner in seiner unterschiedslosen gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das
Wissen von einem absoluten Wesen, das ein Anderes, Höheres gegen das Selbst wäre, ganz fehlt.
Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen
Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem was Gefühl heißt
muß man abstrahiren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche
Anklingende in diesem Charakter zu finden.[15]

Mit diesem um das Moment des Fortschritts erweiterten biologistischen


Konzept ›Rasse‹ ließ sich schließlich auch die Sklaverei als ein Mittel der
Entwicklungsmöglichkeit dieser ›Rasse‹ rechtfertigen.[16]
Die Neger werden von den Europäern in die Sclaverei geführt und nach Amerika hin verkauft.
Trotzdem ist ihr Loos im eigenen Lande fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sclaverei
vorhanden ist; denn es ist die Grundlage der Sclaverei überhaupt, daß der Mensch das
Bewußtseyn seiner Freiheit noch nicht hat, und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen
herabsinkt.[17]

Diese durchaus bekannten Strategien der Markierung des ›Anderen‹ als


Projektionsfläche des ›Eigenen‹ konnte so glatt und bruchlos bis in die
heutige Zeit fortgeschrieben werden, weil sie mit der Kategorie ›Rasse‹
arbeitete, die im Aufklärungsprojekt über das hier aufgezeigte
Fortschrittsmoment hinaus mit Annahmen, Setzungen und Zuschreibungen
gefüllt wurde.

2. DIE ABSURDITÄT DES WEIßEN SUBJEKTS ODER: DIE AUFLÖSUNG IN DER


NORM
Kant entwickelt seinen Rassebegriff entlang an den bis dahin gültigen
Begrifflichkeiten der Zoologie. Um ausgehend von seiner Eingangsthese
des einheitlichen Menschenursprungs die für ihn offensichtlichen
›Verschiedenheiten‹ begründen zu können, sind die »erblichen Merkmale
der Abstammung«[18] wichtig, um schließlich über den Begriff der
›Abartungen‹ zu dem der ›Rasse‹ zu kommen.
Unter Abartungen, d.i. den erblichen Verschiedenheiten der Thiere, die zu einem einzigen Stamme
gehören, heißen diejenigen, welche sich sowohl bei allen Verpflanzungen […] in langen
Zeugungen unter sich beständig erhalten, als auch in der Vermischung mit anderen Abartungen,
desselbigen Stammes jederzeit halbschlächtige Junge zeugen, Racen.[19]

Die weiter oben bereits beschriebene Verknüpfung von ›Rasse‹ und


Fremdzuschreibung, die vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten in einer
kritischen Theorie[20] vermeintlich neu herausgearbeitet und analysiert
wurde und damit gleichsam einer Verschüttung entrissen wurde, lässt sich
hier bei Kant ganz unverblümt nachlesen. Denn, wenn jenen
›halbschlächtigen Jungen‹ diejenigen entgegengesetzt werden, die sich
›beständig erhalten‹ und dementsprechend ›nacharten‹ – im Unterschied
zum ›Abarten‹ – dann werden diese schließlich ›Spielarten‹ und nicht
›Race‹ genannt. Eine besondere Form dieser ›Nachartung‹ wird dann als
›Varietät‹ angezeigt. Es gelingt Kant so, das Weiße aus der bereits
stigmatisierend besetzen Zuschreibung von ›Rasse‹ quasi herauszuhieven
und in eine Art Neutralität zu setzen. Mit dem Begriff der ›Spielarten‹, dem
ein deutliches Entwicklungsmoment eingeschrieben ist und der klar von
negativ besetzten Zuschreibungen wie ›Abartungen‹ abgegrenzt wird,
konstruiert Kant den Begriff der ›Race‹ als fragmentierte Kategorie, aus der
sich zu entziehen durchaus möglich erscheint. Dass dies jedoch nicht allen
obliegt, wird eilends unmissverständlich deutlich gemacht:
Auf diese Weise sind Neger und Weiße zwar nicht verschiedene Arten von Menschen (denn sie
gehören vermuthlich zu einem Stamme), aber doch zwei verschiedene Racen: weil […] beide mit
einander nothwendig halbschlächtige Kinder oder Blendlinge (Mulatten) erzeugen. Dagegen sind
Blonde und Brunette nicht verschiedene Racen von Weißen, weil ein blonder Mann von einer
Brunetten auch lauter blonde Kinder haben kann, obgleich jede dieser Abartungen sich bei allen
Verpflanzungen lange Zeugungen hindurch hält. Daher sind sie Spielarten der Weißen.[21]

Das Vererbungsmoment ist hier ebenfalls bereits eingeschrieben. Darüber


hinaus suggeriert Kant den Zusammenhang zwischen physiologischen und
geistig-kulturellen Merkmalen, die nicht notwendigerweise in einer
Verbindung mit den jeweiligen geographischen Bedingungen stünden.[22]
Dies ist umso bemerkenswerter, als vor allem die Verteidiger Kants –
schließlich auch Hegels –, die eine neutrale Setzung des Rassebegriffs bei
diesen dahingegen diskutieren,[23] dass eine vermeintliche
Hierarchisierung der ›Rassen‹ den unterschiedlichen Lebensbedingungen
geschuldet sein könnte,[24] diese Argumente immer wieder ins Feld führen.
In seiner Einteilung der Menschengattung in ihre verschiedene Racen geht
Kant von vier solcher ›Rassen‹ aus und eröffnet jedoch aberwitzige
geographische Positionen, die einer ›Vermischung‹ entgegen wirkten. Diese
Gedanken greift er später noch einmal auf, wenn er 1785 in der Abhandlung
Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse[25] die angeborenen
›Rassemerkmale‹ von denen der Lebensumstände trennt und Schwarze
Menschen in Frankreich für weniger Schwarz hält. Hier spielen allerdings
wieder die eingangs diskutierten Thesen der jeweils höheren
Entwicklungsstufe und der Bedeutung von ›Zivilisation‹ eine große Rolle.
Es darf dabei nicht übersehen werden, dass Kant eben nicht über die
Bedingungen der Wirklichkeit, sondern über die Bedingungen der
Möglichkeit spricht. Da er – in Selbstaussage[26] – kein Empiriker ist,
spricht er vom moralischen Sollen, ein Sollen, welches dann die Realität
verändern muss.

HEGEMONIALES PARADOX: DIE ZENTRIERUNG DES WEIßEN SUBJEKTS ODER:


3.
DIE EINGESCHRIEBENE RÜCKFÜHRBARKEIT INS WEIßSEIN
Da auch geographisch für die ›Race der Weißen‹ ein zwar mit vornehmlich
Europa doch durchaus weiteres Feld positioniert wird, ermöglicht Kant mit
dem Begriff der ›Race‹ Weißsein als eine Kategorie zu gestalten, die
durchaus Veränderungen an ihren Rändern unterliegt, aber gerade mit
diesem othering within auch immer ein Prinzip von Rückführbarkeit ins
Weißsein trägt. Dies kann durchaus bis zur Markierung visueller
Differenzen führen, was natürlich noch nicht automatisch zu einer
Aufhebung von Weißsein führt. Die Ausdifferenzierung der
»Stammgattung«[27] in »Weiße von brünetter Farbe«, die noch einmal
abgetrennt wird von der »erste[n] Race, hochblonde (nordl. Eur.) von
feuchter Kälte« steht für ein Prinzip des othering, welches ›Rasse‹ nicht nur
zulässt, sondern vielmehr mit einschließt. Die Ausdifferenzierung von
Weißsein nimmt Kant vornehmlich in der bereits erwähnten Schrift
Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse vor, in der er zehn Jahre
nach der Einführung des ›Race‹begriffs ausführlich auf die Variationsbreite
der weißen Europäer eingeht:
Unter uns Weißen gibt es viele erbliche Beschaffenheiten, die nicht zum Charakter der Gattung
gehören, worin sich Familien, ja gar Völker voneinander unterscheiden; aber auch keine einzige
derselben artet unausbleiblich an, sondern die, welche damit behaftet sind, zeugen mit andern von
der Klasse der Weißen auch Kinder, denen diese unterscheidende Beschaffenheit mangelt.[28]

Die anschließend von Kant minutiös aufgelisteten und beschriebenen


Augen- und Haarfarben im europäischen Spektrum werden hier in ihrer
Grundmarkierung gesichert. Sie sind, in welchen ›abgesonderten Volk‹[29]
auch immer, nicht von der ›Abartung‹ betroffen, sondern werden als
durchgängig vererbungsaffirmativ und darüber hinaus als Norm gesetzt,
indem gerade die pathologischen Beispiele in den ›Spielarten‹ des Weißen
in einem einzigen Verweis auf eben jene ›anderen‹ ›Rassen‹ projiziert
werden. Die hier deutlich verankerte Subjektivierung der ›weißen Rasse‹
wird so einem erzwungenen Kollektiv der vermeintlich anderen ›Rassen‹
gegenüber gestellt, die schließlich die zuvor als singulär gezeichneten
pathologischen Beispiele innerhalb der »weißen Rasse« als
Gruppenzuschreibung quasi übernehmen.[30] Wesentlich später beschäftigt
sich Kant in der Anthropologische[n] Charakteristik (1798) noch einmal
mit dem Komplex ›Volk‹, ›Rasse‹ und ›Gattung‹ und arbeitet die
unterschiedlichen ›Nationalcharaktere‹[31] der europäischen Völker heraus.
Dass er sie dabei in weniger und weiter ›zivilisierte‹ Völker unterteilt, führt
zu keinem Zeitpunkt seiner Argumentation zum Ausschluss erstgenannter
aus der in über zwanzigjähriger Arbeit gefestigten Konstruktion des
Weißseins. Vielmehr trägt diese späte Schrift zur Festigung des Konzeptes
bei, indem Kant entlang einer Argumentationslinie, bei der wir heute von so
genannten Mentalitäten sprechen würden, ein so ausdifferenziertes Bild
europäischen Weißseins zeichnet, dass dieses den normativen Platz in
Opposition zu »Rasse« einnimmt, wobei es sich als strukturell gleichwertig
anbietet, verweist es doch mit seinen inneren Ausschlüssen auch auf
Hierarchisierungen und – vermeintliche – Fremdzuschreibungen. So
werden die innereuropäischen Rivalitäten um Territorium und politische –
vor allem auch außereuropäische – Herrschaft mit einer dem Charakter
eigenen Anlage begründet,
denn die Affectation eines Charakters ist gerade der allgemeine Charakter des Volkes, wozu er
selbst gehörte, und ist Verachtung aller Auswärtigen, besonders darum weil es sich allein einer
ächten, staatsbürgerlichen Freiheit im Innern mit Macht gegen Außen verbindenden Verfassung
rühmen zu können glaubt.[32]

Kant entwirft ein verzweigtes Feld nationalcharakterlicher Eigenheiten,


deren vermeintliche Rassifizierung durch die natürliche Grundlegung von
Entwicklungsmomenten erfolgt. Dabei behält er jedoch die Gesamtheit der
europäischen ›Race‹[33] explizit im Auge.[34] Die hier vorgenommene
natürliche Grundlegung der einzelnen europäischen ›Vatietäten‹ greift auf
den bereits 1764 entwickelten Begriff des Nationalcharakters in den
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zurück. Darin
entwarf Kant gleichsam die Eckpfeiler einer Definierbarkeit eines
zukünftigen Nationalcharakters,[35] indem er das ›Moralische‹ in
»Anlehnung an das Erhabene und Schöne«[36] ins Zentrum seiner Analyse
stellt, wobei er selbstredend allen europäischen Völkern die ›rühmlichen
Charaktere‹ gleich mit zusprach. Unter diesem Eindruck entspann sich auch
die 1784 beginnende so genannte Kontroverse zwischen Georg Forster und
Christoph Meiners.[37] Der Anthropologe und ›Rassetheoretiker‹ Christoph
Meiners, dem oft der Vorwurf des armchair travellers gemacht wurde,
schickte sich in den 1780er Jahren an, selbst zu reisen und seine Thesen mit
eigener Erfahrung zu untermauern. In Briefe über die Schweiz[38] entwirft
er ein Bild kultureller und ›ethnisierender‹ Differenz innerhalb Europas,
welches aus einer, dem damals klassischen ›physiognomischem Blick‹
geschuldeten Perspektive heraus historisch-kulturelle und ästhetisch-
physiologische Beobachtungen und Argumentationsketten miteinander
verbindet und diese in ›nationale‹ und ›körperliche‹ Unterschiede kleidet.
Dabei werden die ausführlich beschriebenen so genannten kulturellen
Unterschiede mit einer Visualisierung verbunden, die den Körper als
visuelle Evidenz für schließlich erfolgende ethnisierende Zuschreibungen –
gleichsam die Eröffnung von Differenzen innerhalb des Eigenen – so
benutzt, dass sie den Einschluss im europäischen weißen Rahmen nie
gefährden. Die Abgrenzung zu eigentlichen Rassifizierungen bleibt
selbstverständlich gewahrt, wenn die ›gemeinen Walliser‹ zwar an
›Hottentotten‹ erinnern und deren Lebensart mit denen der ›Neger‹
verglichen wird, ihnen aber zu keinem Zeitpunkt die Zughörigkeit zu dem
›zivilisierten‹ System versagt wird, welches o.g. rassifizierende
Zuschreibungen erst erschafft.[39] Wenn die Berner Bevölkerung mit
spanischen Kolonialherren, denen wiederum Müßiggang und
»Ausschweifungen« zugeschrieben wird, verglichen wird, so geschieht dies
vor allem auch immer in Opposition zu ›unserem Vaterland‹[40] und
schließt damit an Kants innereuropäischer Rivalitätsthese an. Damit
manifestieren Meiners Grenzüberschreitungen nationale Stereotypen und
die Fixierung von Ein- und Ausschlüssen, die sich jedoch alle auf dem
Boden des zuvor bereiteten weißen Feldes bewegen.
Georg Forsters Blick in seinen Ansichten vom Niederrhein[41] ist so
verschieden nicht. Mit ähnlichen rassifizierenden Formulierungen –
»Vermischung« mit »französischem Blut«[42] – will er allerdings mit
seinen Beobachtungen zu den ›Nuancierungen der Nordeuropäer‹ Meiners
nationale Engstirnigkeit ins Positive verkehren. Forsters Augenmerk auf
›Nationalgestalt‹,[43] ›Nationalcharakter‹[44] und ›Menschenrace‹[45]
zeigen deutlich das geistige Fahrwasser, in dem er sich ebenso wie Meiners
bewegt. Auch Forster ging es um einen Zusammenhang von
›Nationalphysiologie‹ und ›Nationalcharakter‹, wobei auch er wechselseitig
biologistisch und umweltbedingt argumentiert. Doch zeigen beide
Reisebeschreibungen und vor allem auch deren Gegenbezug auf einander,
dass eine vermeintliche Verhandelbarkeit von Weißsein immer bereits in
einem zuvor abgesteckten Feld entfalten wird, so dass dieses sich
schließlich wesentlich differenzierter und heterogener – in ihren
›Spielarten‹ –, stets jedoch als ein Ganzes auf Basis des zuvor Markierten
präsentieren kann.

BIBLIOGRAFIE
Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatsphilosophie. Erstes Buch: Die Entwicklung des Staates.
Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1989
Aufklärung. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Texte zur Philosophie. Heft 15, hrsg. von der
Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V., Leipzig 2005
Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein. Berlin: Vossische Buchhandlung, 1791
Girnus, Wilhelm: Wer macht Geschichte? Zur Kritik der faschistischen Geschichtsfälschung,
Leipzig: Volk und Wissen Verlags GmbH, 1945
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche
Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. 11. Stuttgart:
Frommann, 1971
Kant, Immanuel: Anthropologische Charakteristik. Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der
Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII. Berlin: Verlag von Georg
Reimer, 1905
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Kants gesammelte Schriften, hrsg.
von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II. Berlin: Verlag von Georg
Reimer, 1905
Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse. Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der
Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII. Berlin: Verlag von Georg
Reimer, 1905
Von den verschiedenen Racen der Menschen: Von der Verschiedenheit der Racen überhaupt.
Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Bd. II. Berlin: Verlag von Georg Reimer, 1905
Kowalczuk, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front.
Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945-1961. Berlin: Ch. Links Verlag, 1997
Meiners, Christoph: Briefe über die Schweiz, Tübingen: Cotta, 1791 (1. Aufl. 1784)
Thom, Martina: »Immanuel Kant: ›Rousseau hat mich zurechtgebracht‹.« In: Aufklärung. Beiträge
zur Philosophie Immanuel Kants, Texte zur Philosophie. Heft 15, hrsg. von der Rosa-
Luxemburg-Stiftung e.V., Leipzig 2005, S. 21-56
Wimmer, Franz Martin: »Rassismus und Kulturphilosophie.« In: Gernot Heiß u.a. (Hrsg.):
Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik,
1989, S. 89-114
Zantop, Susanne: »Ansichten und Angesicht. Forster und Meiners als physiognomische Grenz-
Gänger.« In: Renate Schlesier & Ulrike Zellmann (Hrsg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und
Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster: Waxmann 2003, S. 165-177

ANMERKUNGEN
1 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 15.
2 Zu einer Analyse dieser kaum beachteten marxistisch-leninistischen Geschichtsprogrammatik
und deren pamphletische Tendenz vgl.: Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates, S. 64-66.
3 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 11.
4 Eine solche Analyse steht immer noch aus, wäre jedoch für das Verständnis der Aufbauphase
der DDR unverzichtbar.
5 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 429-430.
6 Vgl. dazu z.B. auch: Thom: »Immanuel Kant«, S. 37.
7 Gelegentlich wird auch auf die geschichtsphilosophischen Schriften Kants [hier vor allem Idee
zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und Mutmaßlicher Anfang der
Menschengeschichte (1786)] verwiesen.
8 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 253.
9 Vgl. hierzu: Aufklärung.
10 Wimmer versuchte in vergleichbarer Weise wie Girnus einen ›Rasse‹begriff weiterhin fruchtbar
zu halten und dessen biologistische Protagonisten Kant und Hegel damit zu rehabilitieren, indem
er in Abgrenzung von nationalsozialistischer Prägung eine positive Definition für den Begriff
Rassismus suchte zu erarbeiten und vor allem auch den Fortschritt bei Hegel betonte. Hierin
zeigt sich, dass diese biologistische Perspektive auch über fünfzig Jahre später noch
ungebrochen weiter tradiert werden kann. Vgl. Wimmer: »Rassismus und Kulturphilosophie«.
11 Vgl. Anm. 7.
12 Die Rousseauische Perspektive begründet sich ja vor allem auf die Umkehrung des Fortschritts
in der Entwicklung der Menschheit.
13 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 15.
14 Dass hier kein geographischer Verweis stattfindet, sondern lediglich eine Imagination
geographisch legitimiert wird, ist m.E. hinlänglich bekannt. Hegels Ausführungen zum
›geschichtslosen Kontinent‹ sollen an dieser Stelle nicht noch einmal bemüht werden, dagegen
verweise ich auf die ausführliche Analyse dazu bei Arnold Farr in diesem Band.
15 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 137.
16 Ebenda, S. 138. Hier folgt Hegel in seiner Argumentation weitestgehend Aristoteles, der bereits
in seiner Politik die naturgegebenen Bedingungen für eine anzunehmende Ungleichheit unter
den Menschen anführte und das darauf aufbauende Entwicklungsmoment, welches dem Prinzip
der Sklaverei mit eingeschrieben sei, explizit zu deren Legitimierung setzte. Vgl. Aristoteles:
Politik (hier vor allem: Pol I 2, 1252 a 30ff/ Pol I 4, 1254 a 14/ Pol I 4, 1253 b 30ff/ Pol I 3,
1252 b 20ff/ Pol I 6, 1255 a 12ff/ Pol I 13, 1260 a 11f/ Pol I 13, 1260 b 18).
17 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 140.
18 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 430.
19 Ebenda.
20 Vgl. dazu meine Anmerkungen in: Das Ding mit dem Subjekt in diesem Band.
21 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 430.
22 Diese Verbindung wurde dann ja schließlich auch von Hegel und anderen bereitwillig
aufgriffen.
23 Hier vor allem der bereits erwähnte Wimmer: Rassismus und Kulturphilosophie.
24 Dazu Kant: »Der Mensch war für alle Klimaten und für jede Beschaffenheit des Bodens
bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche anlagen in ihm bereit
liegen, um gelegentlich entweder ausgewickelt oder zurückgehalten zu werden, damit er seinem
Platze in der Welt angemessen würde und in dem Fortgange der Zeugungen demselben
gleichsam angeboren und dafür gemacht zu sein schiene.« Vgl. Kant: Von den verschiedenen
Racen der Menschen, S. 435.
25 Ders.: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, S. 92-99.
26 Kant macht aus seiner Geringschätzung der Empirik keinen Hehl: »Es liegt gar viel daran, den
Begriff,welchen man durch Beobachtung aufklären will, vorher selbst wohl bestimmt zu haben,
ehe man seinetwegen die Erfahrung befragt; denn man findet in ihr, was man bedarf, nur
alsdann, wenn man vorher weiß, wonach man suchen soll.« Ebenda, S. 91.
27 Hier und im Folgenden: ebenda, S. 441.
28 Ebenda, S. 94.
29 Ebenda.
30 Kant spricht von Schwindsucht und der Vererbbarkeit von ›Schwachsinn‹.
31 Kant: Anthropologische Charakteristik.
32 Ebenda, S. 311.
33 Ebenda, S. 320.
34 Auch hier zeigt sich Kants Geringschätzung der Empirik: »Die angestammten oder durch langen
Gebrauch gleichsam zur Natur gewordenen und auf sie gepfropften Maximen, welches die
Sinnesart eines Volkes ausdrücken, sind nur so viel gewagte Versuche, die Varietäten im
natürlichen Hang ganzer Völker mehr für den Geographen, empirisch, als für den Philosophen,
nach Vernunftprinzipien, zu classifizieren.« Ebenda, S. 312.
35 Damals noch ›Gemüthscharakter‹ genannt. Vgl. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen, S. 245.
36 Ebenda.
37 Vgl. zur Vorgeschichte und Einbettung dieser Kontroverse in den Physiognomischen Diskurs
der Aufklärung vor allem: Zantop: Ansichten und Angesicht.
38 Vgl. Meiners: Briefe über die Schweiz.
39 So heißt es z.B., dass »die Walliser nicht in ihre Häuser hinein gehen, sondern nach Art von
Negern, und meisten Wilden in allen Erdtheilen hinein kriechen wollen.« Ebenda, S. 197.
40 Ebenda, S. 240.
41 Vgl. Forster: Ansichten vom Niederrhein, 1791.
42 Ebenda, S. 250.
43 Ebenda, S. 362.
44 Ebenda, S. 299.
45 Ebenda, S. 232.
ARNOLD FARR
WIE WEIßSEIN SICHTBAR WIRD.
AUFKLÄRUNGSRASSISMUS UND DIE STRUKTUR
EINES RASSIFIZIERTEN BEWUSSTSEINS[1]

DIE HERAUSFORDERUNG VON ›RASSE‹


Vor ein paar Jahren kam ein Kollege auf mich zu und fragte: »Was meinen
die Leute, wenn sie von zwei Amerikas sprechen, einem weißen und einem
Schwarzen?« Ich versuchte meinem Kollegen zu erklären, dass es in
Amerika eine color line (Farbtrennungslinie) gibt, die Weiße von
Schwarzen trennt. Diese Trennung ist keine rein physische oder
geografische, sondern manifestiert sich in Bezug auf die Verteilung von
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen, kulturellem Kapital,
Respekt und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Mein Kollege wollte
nicht glauben, dass eine solche color line radikal verschiedene Erfahrungen
der amerikanischen Gesellschaft produziert. Ein anderes Mal fragte mich
derselbe Kollege nach meinem aktuellen Tagesplan. Ich erklärte ihm, ich sei
gerade damit beschäftigt, den Gastgeber für Professor Charles Mills zu
spielen, der unsere Institution besuchte, um einen Vortrag zum Thema
›Rasse‹ zu halten. Meinem Kollegen waren weder die Philosophie der
›Rasse‹ noch Africana-Philosophie ein Begriff. Nachdem ich ihm etwas
ausführlicher erklärt hatte, was Philosophie der ›Rasse‹ bedeutet, ermahnte
er mich, dass wir vorsichtig sein müssten, denn »das klingt so wie das, was
die Nazis gemacht haben«. Selbstverständlich war ich über diese Äußerung
ziemlich verwundert. Die Bemerkung meines Kollegen beruhte auf der
Annahme, dass ›Rasse‹ ein Mythos ist und deshalb jeder Versuch,
Rassenunterschiede zu untersuchen, nur zu weiteren Rassenkonflikten
führen kann. Nachdem ich näher zu erklären versuchte, dass das, was wir
tun, in keiner Weise mit der rassistischen Wissenschaft der Nazis zu
vergleichen sei, wurde mir klar, dass er mich einfach nicht hörte. Während
ich seinen Ausführungen lauschte, wurde er für mich zum
Untersuchungsobjekt, so wie ich es für ihn gewesen war (wie ich später
erkannte). Mir wurde klar, dass dieser Kollege einen ganz und gar weißen
Ausblick auf die Welt hatte. Dieser Kollege war kein fieser Rassist, sondern
einfach ein weißer Mann, dessen gesamtes erkenntnistheoretisches Raster
zur Dechiffrierung gesellschaftlicher Daten zu weiß war, um die
afroamerikanische Erfahrung nachempfinden oder verstehen zu können.
Mit ›zu weiß‹ meine ich, dass dadurch, dass mein Kollege die Welt als
weißer Mann erfuhr, eine Schranke zwischen ihm und jenen entstand, die
die Welt in einem Schwarzen Körper erfahren. Ein solcher Mensch neigt
dazu, sich zwar an jene zu richten, deren andere Körper sie dazu
gezwungen haben, die Welt anders zu erfahren, diese aber nicht zu hören.
Leider ist diese Art von Anekdote in akademischen Kreisen nichts
Ungewöhnliches. Jene von uns, die ihre analytischen Fähigkeiten auf
Themen wie ›Rasse‹, Gender, sexuelle Orientierung, Unterdrückung und
Ähnliches konzentrieren, werden oft von unbeteiligten oder wenig
einfühlsamen KollegInnen marginalisiert. In diesem Text konzentriere ich
mich auf das Problem der ›Rasse‹ in akademischen Kreisen, vor allem in
der Philosophie. Der Titel wurde zum Teil durch das Buch von Charles
Mills Blackness Visible: Essays on Philosophy and Race inspiriert. Mills
stellt die Vorstellung in Frage, die Philosophie wäre farbenblind. Ich werde
Mills’ Argumentation weiterführen, allerdings aus einer anderen
Perspektive. Mills hatte sich zum Ziel gesetzt, Schwarzsein in der
Philosophie sichtbar zu machen. Mein Ziel ist es, Weißsein sichtbar zu
machen.[2] Bis vor kurzem war Weißsein als Untersuchungskategorie so
gut wie nicht vorhanden. Weiße Identität und all ihre beschränkten Belange
konnten sich hinter einer Fassade von Neutralität und Normalität
verstecken. Durch die systematischen Versuche, Schwarzsein und Weißsein
in der Philosophie unsichtbar zu machen, hat die Philosophie nicht dazu
beigetragen, die color line in westlichen Gesellschaften zu überwinden,
sondern diese color line und alles, was diese an gesellschaftlichen
Konsequenzen mit sich bringt, fortzuschreiben. Es ist merkwürdig, dass
eine Disziplin wie die Philosophie, die sich mit Weisheit, Moral und der
conditio humana beschäftigt, die Rolle, die ›Rasse‹ in der Herausbildung
von Bewusstsein und einer gesellschaftlichen Ordnung spielt, aussparen
kann. In diesem Text werde ich die Grundlage für eine systematische
Untersuchung von Weißsein und der Rolle, die diese Kategorie in der
Fortschreibung der Rasseproblematik spielt, erarbeiten. Mein Versuch,
Weißsein sichtbar zu machen, wird durch etwas entwickelt, was ich
rassifiziertes Bewusstsein nenne. Dieser Bergriff wird, so wie ich ihn in
diesem Text verwende, den üblicherweise in Rassediskursen verwendeten
Begriff des Rassismus ersetzen. Das Konzept des rassifizierten
Bewusstseins wird uns dabei behilflich sein, zu untersuchen, wie das
Bewusstsein hinsichtlich rassistischer Gesellschaftsstrukturen geformt wird.
Ich werde den Begriff Rassismus vermeiden, weil er zu implizieren scheint,
dass man sich bewusst mit auf ›Rasse‹ beruhender Diskriminierung und
Akten des Hasses auseinandersetzt.[3] ›Rassifiziertes Bewusstsein‹ ist ein
Begriff, der uns helfen wird, zu verstehen, wie selbst der wohlmeinendste
weiße Liberale, der sich am Kampf gegen Rassismus beteiligt hat,
unbewusst eine Form von Rassismus fortsetzen kann.
Meinen Ansatz möchte ich damit einleiten, dass ich einen Fall
offensichtlich rassifizierten Bewusstseins in der Philosophie untersuche.
Die neuere Literatur zu Rassismus in der Philosophie hat den versteckten
Rassismus in den Werken einiger unserer wichtigsten Philosophen
aufgedeckt. Es gibt immer mehr Literatur zum Rassismus solcher Denker
wie Hume, Locke, Kant, Hegel und anderer. Ich werde mich auf Hegel
konzentrieren, da seine Philosophie den Höhepunkt des
Aufklärungsprojekts darstellt und eine der systematischsten Philosophien in
der Geschichte der westlichen Philosophie ist. Zunächst wollen wir jedoch
die Vorstellung der Farbenblindheit in der Philosophie näher betrachten.

DER MYTHOS DER COLORBLINDNESS PHILOSOPHISCHER FORSCHUNG


Philosophen afrikanischer Herkunft haben die Vorstellung von einer
Philosophie, die angeblich dazu in der Lage ist, den Blick aus dem
Nirgendwo zu konstruieren und zu einer farbenblinden Erforschung der
conditio humana fähig ist, in Frage gestellt. Wenn man die Geschichte der
Philosophie nur oberflächlich betrachtet, scheint es so, als ob ›Rasse‹ in der
Philosophie nicht vorkommt. Tatsächlich versucht die Philosophie,
physische, empirische Grenzen zu überwinden, um irgendeine universelle
Wahrheit zu entdecken und zu offenbaren, die nicht durch materielle
Bedingungen wie ›Rasse‹, Klasse, Gender und Sexualität bestimmt werden
kann. Der Mensch, von dem die Philosophie spricht, wird als Gehirn in
einem Bottich oder das denkende Ding in Descartes’ skeptischem
Kleiderschrank oder reine Rationalität unter Rawls’ Schleier der
Unwissenheit gesehen.
Das Selbstverständnis der Philosophie ist für viele von uns, die wir uns
als Menschen afrikanischer Herkunft mit der Disziplin der Philosophie
befassen, äußerst problematisch. Der universelle Anspruch der Philosophie
zur conditio humana spart die Erfahrung unterdrückter
Gesellschaftsgruppen systemisch und hartnäckig aus, und das betrifft
insbesondere jene afrikanischer Herkunft. Es gibt unendlich viele
philosophische Texte, die versuchen, Rationalität oder die Entwicklung
eines menschlichen Bewusstseins zu erklären, ohne zu berücksichtigen, wie
die Unterdrückten ein Bewusstsein entwickeln. Es wird gemeinhin
angenommen, dass ›Rasse‹ in der Philosophie keinen Platz hat. Wie Lucius
Outlaw schreibt:
Doch warum eine solch gefährliche und scheinbar diskreditierte Vorstellung wie ›Rasse‹ in die
Philosophie einführen, um sich zu legitimieren, wenn auch nicht ›wirklich‹ zu rechtfertigen, um
einen möglicherweise fehlgeleiteten Versuch zu unterstützen, rassische und ethnische Gruppen zu
›konservieren‹? Denn sollte das Philosophieren, wie es seit Jahrhunderten der Anspruch gewesen
ist, nicht dazu dienen, vernünftige Prinzipien und Normen festzulegen, die die Menschen darin
leiten, ihr Leben so zu gestalten, dass sie sich ganz und gar menschlich entfalten? Verschiedene
Philosophen haben schon seit langem argumentiert, dass wenn solche Prinzipien und Normen –
beispielsweise Ehrlichkeit und Gerechtigkeit – für alle verbindlich sein sollen, diese nicht auf der
Aufwertung und Privilegierung der Normen und Lebenspläne einzelner Gruppen, Rassen oder
Ethnien gründen dürfen.[4]

Das Ziel der Universalität der Philosophie zwingt sie dazu, auf Einzelheiten
der individuellen Existenz zu verzichten. Die Möglichkeit, ›Perspektive‹ in
die Philosophien einzuführen, unterminiert deren Anspruch auf den
privilegierten Blick von Nirgendwo. Es wird befürchtet, dass, sobald die
Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher Gruppen eingeführt werden,
die Philosophie damit zu kämpfen haben wird, den Sinn unangemessener
Wahrheitsansprüche zu verstehen. Doch, wie Outlaw im Anschluss
aufzeigt, sind wir biologische Wesen, unseren biologischen und
geografischen Umständen unterworfen.
Eine der tragischen Vorstellungen westlicher Philosophie ist die, dass wir
philosophische Fragestellungen irgendwie auf eine unbeteiligte Art und
Weise angehen können. Ein zweites Problem ist die Annahme, dass, auch
wenn wir keine unbeteiligte Haltung einnehmen können, unsere Interessen
trotzdem universell bleiben. Der Philosoph/die Philosophin neigt zu der
Annahme, dass seine/ihre Interessen universell sind, ohne die biologische,
geografische, ›rassische‹, kulturelle und klassenbedingte Grundlage für
dieses Interesse genau zu untersuchen. Der Blick aus dem Nirgendwo ist
eine Unmöglichkeit, da dieser Blick durch ein Interesse motiviert ist, das in
der materiellen Welt des Philosophen gründet. Wie Charles Mills dargelegt
hat, gehören wir verschiedenen erkenntnistheoretischen Gemeinschaften an.
Diese erkenntnistheoretischen Gemeinschaften beeinflussen unsere
Interessen und bestimmen ebenfalls, welche Fragen für uns von Bedeutung
sind. Unsere erkenntnistheoretischen Gemeinschaften bieten uns auch die
Grundlage für die Auswertung dessen, was außerhalb unserer
Gemeinschaften liegt.[5]
Die Vorstellung, dass unser philosophisches Forschen innerhalb einer
bestimmten erkenntnistheoretischen Gemeinschaft beginnt, von dieser
Gemeinschaft legitimiert wird und sich durch Einsatz des theoretischen
Werkzeugs dieser Gemeinschaft entwickelt, ist keine, die bisher von
Philosophen positiv aufgenommen wurde. Die Vorstellung, dass
philosophische Prinzipien universell sind und dass die Philosophie selbst
farbenblind ist, ermöglicht es dem Weißsein der traditionellen westlichen
Philosophie, sich unsichtbar zu machen. Dieser Text setzt sich zum Ziel, das
Weißsein der Philosophie sichtbar zu machen. Es gibt viele Wege, dies zu
erreichen, obwohl es im Rahmen dieses Textes nicht möglich sein wird,
jeden davon zu erörtern oder anzuwenden. Daher werde ich mich auf die
Fallstudie von Hegel und das Weißsein des Geistes beschränken.

DAS WEIßSEIN DES GEISTES


Hegels Philosophie bildet in mancherlei Hinsicht den Höhepunkt des
Aufklärungsprojekts. Das Projekt der Aufklärung wird am besten von Kant
in seinem Essay »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1784
definiert. Kant behauptet:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
andern zu bedienen.[6]
Es gibt zwei Aspekte des oben genannten Zitats, die wir bedenken müssen,
wenn wir den Aufklärungsrassismus untersuchen: den Gedanken der
Unmündigkeit und die Vorstellung von der selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Der erste Gedanke bezieht sich schlicht auf einen Zustand
oder einen Umstand, in dem sich die Menschheit befindet. Der zweite
enthält eine normative Wertung. Er impliziert, dass manche Menschen
aufgrund von Entscheidung, moralischer Schwäche oder Faulheit unmündig
sind.
In seinen rassistischsten Schriften wie der Anthropologie oder den
Beobachtungen impliziert Kant, dass manche ›Rassen‹ eher zu Faulheit
neigen als andere, ja, dass manche ›Rassen‹ unmündiger seien als andere. In
seinem Essay Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen
von 1763 schreibt Kant:
Die Neger von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr
Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente bewiesen
habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern
anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch
nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder in Wissenschaft, oder
irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den
Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel emporschwingen und durch vorzügliche
Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei
Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Anlehnung der Gemüthsfähigkeiten, als
der Farbe nach zu sein. Die unter ihnen weit ausgebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine
Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen
Natur möglich zu sein scheint. Eine Vogelfeder, ein Kuhhorn, eine Muschel, oder jede andere
gemeine Sache, so bald sie durch einige Worte eingeweiht worden, ist ein Gegenstand der
Verehrung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart
und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müssen aus einander gejagt werden.[7]

Diese Haltung findet ihren Widerhall in Hegels Abhandlung über Afrika in


seiner Philosophie der Geschichte. Dies weist auf zwei wichtige Aspekte
der Aufklärung hin, die Vorstellung von Fortschritt und ›Rasse‹.
Es ist kein Geheimnis, dass eine der grundlegenden Antriebskräfte der
Aufklärung der Fortschrittsgedanke war. Kants Gedanke der Reife
impliziert eine fortschreitende Entwicklung der menschlichen Spezies.
Hegel entwickelte den Fortschrittsgedanken auf systematischere Weise als
sonst jemand im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Der Historiker
Robert Nisbet schreibt: »Bei keinem der Philosophen oder Wissenschaftler
des neunzehnten Jahrhunderts hatte der Fortschrittsgedanke oder die
Vorstellung einer sich entfaltenden Weiterentwicklung in
aufeinanderfolgenden Stufen, die von großen Zivilisationen in der
Vergangenheit gekennzeichnet sind, größere Bedeutung als in Hegels
Denken.«[8] Des Weiteren war es Hegel, der das Konzept von ›Rasse‹ am
erfolgreichsten mit einer universellen Geschichtsphilosophie verband.[9]
Hegels Philosophie ist auf Entwicklung ausgerichtet, wobei es zwei
verschiedene Entwicklungslinien gibt. Die erste Entwicklungslinie entsteht
im Kontext der Metaphysik und Epistemologie. Hier wird die
Epistemologie selbst schließlich abgelöst, wenn Hegel die Leser und
Leserinnen über Formen theoretischen Bewusstseins zu einer höheren
Ebene praktischen Bewusstseins führt. Das ist die Bewegung der
Phänomenologie des Geistes. Diese Entwicklungslinie soll hier nicht von
Interesse sein. Wir beschäftigen uns hier mit der zweiten Entwicklungslinie,
bei der die Geschichte Entwicklungsstufen durchläuft. In der menschlichen
Geschichte verwirklicht sich der Geist oder die historische Essenz der Welt
selbst.
Problematisch ist hierbei die Stellung, die bestimmte Gruppen von
Menschen oder ›Rassen‹ in diesem Drama der Entfaltung des Geistes
einnehmen. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
behauptet Hegel, die menschliche Geschichte beginne in Asien und ende in
Europa. In Anbetracht einiger seiner Äußerungen über Amerika ist es
berechtigt, die USA in dieses Ende der Geschichte einzuschließen. Hier ist
von Interesse, wer aus der Geschichte ausgeschlossen wird – und warum.
Hegels Text ist ein detaillierter Bericht zur Entfaltung des Geistes in
verschiedenen Epochen bei unterschiedlichen Völkern oder ›Rassen‹. Es ist
nicht möglich, Hegels gesamte Argumentation im Rahmen dieses Beitrags
darzustellen.[10] Ich werde mich hier auf die Verortung Afrikas in Hegels
Schema konzentrieren.
Die Position Afrikas in Hegels Drama ist, dass Afrika gar keine Position
hat. Hegel erwähnt Afrika und seine Völker nur, um (in seiner Systematik)
zu zeigen, warum es in der Geschichte nicht vorkommt. Was sind die
Bedingungen für einen solchen Ausschluss? Hegel versucht aufzuzeigen,
dass aufgrund von bestimmten geografischen Aspekten und
Gruppeneigenschaften die Entfaltung des Geistes in jener Region nicht
stattgefunden hat. Natürlich ist die Entfaltung des Geistes die Entfaltung der
Rationalität. Dies bedeutet, dass Menschen erst dann wirklich zu Menschen
werden, wenn sie die Natur beherrschen. Der Geist muss stets die Natur
unter seiner Kontrolle haben. Die Menschheitsgeschichte ist der Kampf
zwischen Natur und Geist.[11] In seinen Vorlesungen ist Hegels
Ausschlussprinzip die Überrepräsentation der Natur bei nicht-europäischen
›Rassen‹.
Hegels Verteidiger argumentieren oft, dass seine negativen, rassistischen
Äußerungen über Afrika den Blick auf sein allgemeines philosophisches
System nicht beeinträchtigen sollten. Es kommt häufig vor, dass jene, die
Hegel und Kant studieren, deren negative Haltung gegenüber Afrika zu
persönlichen Vorurteilen erklären, die für die Wahrheit ihrer Philosophien
keinerlei Bedeutung haben. Ich werde später etwas detaillierter auf einige
Versuche eingehen, Hegel zu verteidigen, doch ein Punkt muss an dieser
Stelle angesprochen werden. Es ist doch etwas unaufrichtig zu behaupten,
die Einstellungen Kants und Hegels gegenüber Afrika stünden nicht in
Zusammenhang mit ihren Philosophien. Dies ist eine Behauptung, die Kant
und Hegel zurückgewiesen hätten. Tatsächlich leitet sich Hegels
Ausschlussprinzip direkt von seiner Interpretation der Bewegung des
Geistes, seiner Sicht von Universalität, Bewusstsein und anderen
eurozentrischen Werten ab.
Wenn Hegel seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte hält,
wendet er auf die Entwicklung der Spezies bewertende, normative
Konzepte an, die er anderswo in seinem System entwickelt hat. Diese
Konzepte und Kategorien basieren auf der griechischen und europäischen
Philosophie und sind die Kriterien, anhand derer andere Kulturen und
Völker bewertet und von der Geschichte ausgeschlossen werden. In der
Einleitung zu den Vorlesungen schreibt Hegel:
Der eigenthümlich afrikanische Charakter ist daher schwer zu fassen, weil wir dabei ganz auf das
Verzicht leisten müssen, was bei uns in jeder Vorstellung mitunter läuft, die Kategorie der
Allgemeinheit. Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische grade, daß ihr Bewußseyn noch
nicht zur Anschauung irgend einer festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott,
Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre, und darin die Anschauung seines Wesen
hätte. Zu dieser Unterscheidung seiner des Einzelnen, und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist
der Afrikaner in seiner unterschiedslosen gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch
das Wissen von einem absoluten Wesen, das ein Anderes, Höheres gegen das Selbst wäre, ganz
fehlt. Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen
Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem was Gefühl heißt
muß man abstrahiren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche
Anklingende in diesem Charakter zu finden.[12]

Hegels Charakterisierung afrikanischer Menschen spiegelt die weit


verbreitete Auffassung vieler Denker seiner Zeit wider.[13] Die unter
europäischen Denkern während des 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein
üblichen negativen Ansichten über Afrika gingen auf Reiseberichte und
Berichte von Missionaren zurück – beides fragwürdige Quellen. Viele der
Einzelheiten, die in diesen Berichten zur Sprache kamen, sind inzwischen
widerlegt worden. Allerdings soll hier nicht zur Debatte stehen, wie genau
Hegels Quellen waren und wie er sie verwendete. Es reicht, dass Afrika und
seine Völker als untermenschlich dargestellt werden.
Hegels Kritik an Afrika entwickelt sich durch seinen Vergleich von
Afrika mit dem, was in der europäischen Gesellschaft wertgeschätzt wird,
insbesondere in seiner Philosophie. Natürlich ist dies nicht schon an sich
etwas Schlechtes. Hier geht es darum, dass der philosophische Diskurs
immer irgendwo verortet ist. Das Prinzip, mit dem Hegel Afrika von der
Weltgeschichte ausschließt, ist die scheinbare Abwesenheit des
Universalitätsprinzips. Dabei ist die Universalität selbst ein Wert, eine
Perspektive, die in Frage gestellt werden kann. Des Weiteren trifft Hegels
Sichtweise schlichtweg nicht auf alle AfrikanerInnen zu. Selbst die
»beunruhigendsten« Praktiken der AfrikanerInnen hatten irgendeine
Bedeutung, die die EuropäerInnen nicht begriffen. In seinen Ausführungen
zur afrikanischen »Anbetung der Toten« schreibt Hegel:
Daraus aber, daß der Mensch als das Höchste gesetzt ist, folgt, daß er seine Achtung vor sich
selber hat, denn erst mit dem Bewußseyn eines höheren Wesens erlangt der Mensch einen
Standpunkt. Der ihm eine wahre Achtung gewährt.
Denn wenn die Willkür das Absolute ist, die einzige feste Objektivität, die zur Anschauung
kommt, so kann der Geist auf dieser Stufe von keiner Allgemeinheit wissen. Die Neger besitzen
daher diese vollkommene Verachtung der Menschen, welche eigentlich nach der Seite des Rechts
und der Sittlichkeit hin die Grundbestimmung bildet. Es ist auch kein Wissen von Unsterblichkeit
der Seele vorhanden, obwohl Todtengespenster vorkommen. Die Wertlosigkeit der Menschen geht
ins Unglaubliche.[14]

Der oben zitierte Absatz scheint eine Kritik religiöser Praktiken in Afrika
zu sein. Auf den Seiten, wo sich dieser Absatz befindet, schreibt Hegel über
afrikanischen Kannibalismus und andere beunruhigende/nicht-europäische
Praktiken. Obwohl manche der Praktiken, die Hegel erwähnt, jeden
›zivilisierten‹ Menschen abstoßen würden, hatten viele tatsächlich eine
religiöse Bedeutung. Auch wenn man diese Praktiken nicht gutheißen mag,
kann man aus ihnen nicht eine Verachtung der Menschheit ableiten.
Außerdem, auf welcher rationalen Grundlage kann man, betrachtet man die
schiere Brutalität des Sklavenhandels und der Institution der Sklaverei,
behaupten, dass diese dem Kannibalismus moralisch überlegen sind? Auf
welcher Grundlage kann man behaupten, dass jene mit dem Sklavenhandel
beschäftigte Europäer keine barbarische, vollkommene Verachtung für die
Menschheit hegten? Hegel schreibt weiter:
Etwas anderes Charakteristisches in der Betrachtung der Neger ist die Sclaverei. Die Neger
werden von den Europäern in die Sclaverei geführt und nach Amerika hin verkauft. Trotzdem ist
ihr Loos im eigenen Lande fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sclaverei vorhanden ist;
denn es ist die Grundlage der Sclaverei überhaupt, daß der Mensch das Bewußtseyn seiner
Freiheit noch nicht hat, und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt. Bei den Negern
sind aber die sittlichen Empfindungen vollkommen schwach, oder besser gesagt, gar nicht
vorhanden. Die Eltern verkaufen ihre Kinder, und umgekehrt ebenso diese jene, je nachdem man
einander habhaft werden kann.[15]

Hier sind Hegels Schlussfolgerungen verwirrend. Man fragt sich, wer


schlimmer ist, die AfrikanerInnen, die nichts für ihren Mangel an
moralischen Gefühlen ›können‹, oder die Europäer, die diesen Missstand zu
Geld machten.

DER GEIST UND RASSIFIZIERTES BEWUSSTSEIN


Im vorhergehenden Abschnitt haben wir gesehen, dass Hegels Einstellung
gegenüber Afrika sehr problematisch war. Doch reicht Hegels Kritik an
Afrika dafür aus, ihn als Rassisten zu etikettieren? Ja und nein. Bezüglich
der angeblichen Überlegenheit der EuropäerInnen scheint klar zu sein, dass
Hegel ein Rassist war. Jedoch führt er auch an, dass die Sklaverei im
ganzen Schema der Dinge falsch sei und dass AfrikanerInnen, die in die
Sklaverei verkauft wurden, letztendlich befreit werden sollten. Man könnte
schlussfolgern, dass Hegel noch mal davonkommt, da er nicht behauptet,
Afrikaner seien von Natur aus und für alle Ewigkeit minderwertig. Ein
solcher Schritt wäre jedoch übereilt und gefühllos gegenüber den Opfern
der Langzeitfolgen von Rassismus.
Die Vorstellung, dass dadurch, dass offen rassendiskriminierende
Handlungen illegal und von der Mehrheit der Gesellschaft verpönt sind,
Rassismus nicht mehr existiert, hat maßgeblich zu dem Irrglauben
beigetragen, dass wir heute einer ›farbenblinden‹ Gesellschaft angehören –
mit nur ein paar wenigen Rassisten. Jedoch geht es in diesem Text nicht um
offenen Rassismus. Dieser Text hat das Ziel, Hegel als Fallstudie zu
analysieren, um die unsichtbare, stillschweigende Form des Rassismus
freizulegen, das rassifizierte Bewusstsein. In diesem letzten Teil werde ich
auf einige Versuche zur Verteidigung Hegels gegen den Vorwurf des
Rassismus eingehen und werde das Konzept des rassifizierten Bewusstseins
weiter ausarbeiten.
Wohlmeinende Hegelausleger neigen oft dazu, Hegel gegen den Vorwurf
des Rassismus zu verteidigen. Das Problem dabei ist, dass diese Ausleger
dem wirklichen Problem der ›Rasse‹ in der westlichen Philosophie nicht
gerecht werden. In seinem Buch Hegel on History schreibt Joseph
McCarney:
In Hegels Ausführungen gibt es keinen Hinweis darauf, dass Afrikaner oder Lappen von
minderwertiger Herkunft sind. Es ist eher so, dass jedes Volk in ihrer Situation überwältigt wäre:
die klimatischen Bedingungen sind einfach ›zu mächtig für die Menschen‹. Ein letzter Aspekt, der
an diesem Punkt der Diskussion berücksichtigt werden sollte, ist, dass rassistische Annahmen in
Hegels Argumentation nicht nur zwecklos sind, sondern es auch an textlichen Belegen fehlt. Sie
würden außerdem dem Universalismus seiner Philosophie des Geistes mit ihren zentralen Themen
der Freiheit als Geburtsrecht aller Menschen als Träger des Geistes und der Geschichte als
Prozess, durch den sie diesen erlangen, direkt widersprechen. Es ist wahr und auch nur zu
erwarten, dass unterschiedliche Völker zu unterschiedlichen Zeiten bezüglich des Grades, in dem
sie diese Themen verkörpern und weiterentwickeln, Unterschiede aufweisen werden. In Hegels
Vision gibt es jedoch keinen Raum für solch radikale und elementare Trennungen zwischen
Gruppen von Menschen wie es Rassisten typischerweise nahe legen. Tatsächlich ist kaum eine
solidere theoretische Basis für die grundsätzliche Gleichberechtigung von Menschen vorstellbar
als der Hegelianische Geist.[16]

Die oben zitierte Textpassage ist ein klassisches Beispiel für einige der
theoretischen Manöver, die Philosophen angewandt haben, um Hegel vom
Rassismusvorwurf zu bewahren. Interessanterweise wird Hegel als
Verfechter der Gleichberechtigung dargestellt. In gewisser Weise haben
McCarney und andere Verteidiger Hegels Recht. Hegels Äußerungen
mögen nicht unbedingt offen rassistisch sein. Im Gesamtschema der Dinge
sollen versklavte AfrikanerInnen irgendwann befreit werden. Insgesamt ist
die Sklaverei nach Hegels Ansicht falsch. Doch während diese
Rettungsversuche Hegels auf einem relativ genauen Verständnis seiner
Intentionen beruhen, sind sie bezogen darauf, dass viele weiße männliche
Philosophen den Rassegedanken internalisiert haben und bezüglich der
gesellschaftlichen und historischen Realität der Opfer von Rassismus,
fehlgeleitet und viel zu vereinfacht. Außerdem ist nicht eindeutig klar, ob
Hegel nicht im altmodischen Sinne einer Überzeugung von der Doktrin der
weißen Überlegenheit ein Rassist war. Ein Schritt zur Verteidigung Hegels
ist zu betonen, dass er sich nicht einem Gedanken der biologischen
Überlegenheit einer ›Rasse‹ verschreibt, sondern dass seine Behauptungen
über Afrika sich auf die Auswirkungen geographischer Bedingungen auf
die Entwicklung von Geist oder Vernunft beziehen. Für diese Ansicht gibt
es gewisse textliche Belege. In seiner Philosophie des subjektiven Geistes
schreibt Hegel: »Der Unterschied zwischen den Menschenrassen ist noch
immer ein natürlicher Unterschied, weil er sich in erster Linie auf die
natürliche Seele bezieht. Als solcher hängt er mit den geographischen
Unterschieden jener Umgebungen zusammen, in denen sich Menschen in
großer Zahl zusammenfinden.«[17] Diese Verteidigung ist jedoch zu
vereinfacht, und Hegel ist damit nicht aus dem Schneider; hier ist es die
Geographie statt der Hautfarbe, die die menschliche Seele formt. Diese
Dichotomie wird jedoch nicht so leicht erreicht. In ihren Anmerkungen zu
diesen Vorlesungen schreiben Kehler und Griesheim:
Die Rassen sind verbunden mit und abhängig von Orten, so dass sich nicht eindeutig bestimmen
lässt, ob es einen ursprünglichen Unterschied zwischen ihnen gab. Die Frage rassischer Vielfalt
zielt auf die Rechte, die man Menschen zugestehen sollte; wenn es verschiedene Rassen gibt, wird
eine die erhabenere sein und die andere muss ihr dienen. Das Verhältnis zwischen Menschen steht
in Übereinstimmung mit ihrer Vernunft. Menschen sind was sie sind durch ihre Rationalität und
deshalb haben sie ihre Rechte, wobei weitere Vielfalt für untergeordnete Beziehungen von
Bedeutung ist. Bestimmte Vielfalt tritt überall zutage, doch solche Überlegenheit ist nur auf
bestimmte Beziehungen beschränkt, und bezieht sich nicht auf das, was Wahrheit und Würde des
Menschen ausmachen. Dies zu untersuchen ist deshalb nicht wichtig oder von wesentlichem
Interesse. Schwarzsein ist die direkte Folge des Klimas, wobei die Abkömmlinge der Portugiesen
so schwarz sind wie die schwarzen Ureinwohner (eingeborenen Neger), jedoch auch durch
Mischung. Keine Hautfarbe ist überlegen, es ist nur eine Frage der Gewöhnung, jedoch kann man
von der objektiven Überlegenheit der Hautfarbe der weißen Rasse gegenüber der des Schwarzen
(Negers) sprechen.[18]

Hier ist ›Rasse‹ (zumindest da sie in Verbindung mit bestimmten


körperlichen Eigenschaften steht) das Produkt geographischer und
klimatischer Bedingungen. Nichtsdestotrotz benutzt Hegel dies, um eine
Hierarchie unter den ›Rassen‹ aufzustellen. In allen Schriften Hegels zu
›Rasse‹ wird deutlich, dass es zwischen geographischen Bedingungen, der
Entstehung von ›Rasse‹ und der Hierarchie der ›Rassen‹, wobei der Geist
eher bei den ›überlegenen Rassen‹ vorhanden ist, eine Verbindung gibt.
Es gibt noch viel zu sagen über den Platz, den ›Rasse‹ in Hegels System
einnimmt. Das Problem ist sehr komplex und im Rahmen dieses Textes
nicht in jeder Einzelheit zu behandeln. Worauf ich hier hinaus will, ist, dass
wir die Tatsache, dass Hegel Afrika aus der Weltgeschichte ausschließt und
den Höhepunkt der Geschichte in Europa sieht, nicht beschönigen können.
Als erwählter Ort, an dem sich der Geist manifestiert hat, ist Europa die
wahre Wiege der zukünftigen Menschheit. Alle anderen Völker müssen sich
Europa, seinen Werten, seinem Willen und seiner Vernunft unterwerfen,
wenn sie wirklich in die Menschheitsgeschichte eintreten wollen. Robert
Bernasconi schreibt: »Was Hegel angeht, so haben die Afrikaner nichts zur
Geschichte beigetragen, doch sie könnten von den so genannten
zivilisierteren Völkern in die Weltgeschichte integriert werden, wobei diese
dafür die Mittel anwenden mögen, die sie für nötig halten.«[19]
Bernasconis Interpretation bezieht sich auf folgende Aussage von Hegel:
Aus derselben Bestimmung geschieht, daß civilisirte Nationen andere, welche ihnen in den
substantiellen Momenten des Staates zurückstehen, (Viehzuchttreibende die Jägervölker, die
Ackerbauende beide u.s.s.) als Barbaren mit dem Bewußtseyn eines ungleichen Rechts, und deren
Selbstständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln.[20]

Das obige Zitat ist ein bemerkenswertes Zeugnis von Hegels Überzeugung
von der Überlegenheit einer ›Rasse‹ gegenüber einer anderen. Hegel
legitimiert die Misshandlung so genannter weniger entwickelter Völker.
Entwickelte Nationen – die mit Ausnahme von Amerika zufällig Europäer
sind – sind durch ihren überlegenen Status berechtigt, andere zu versklaven.
In den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist der Staat die
Manifestation des Geistes oder Gottes auf Erden.
Hegels Geschichtsphilosophie macht deutlich, dass sich der Geist in
weißen Völkern verwirklicht hat. Als Träger des Geistes sind weiße
Menschen europäischer Herkunft ganz Mensch und mit der Aufgabe
betraut, den Rest der Welt zu humanisieren. Merkwürdig ist dabei, dass
diese Humanisierung der übrigen Welt durch so unmenschliche
Maßnahmen wie die Sklaverei geschehen kann. Doch eine solche Ansicht
ist unter Denkern wie Kant und Hegel nichts Ungewöhnliches. Es gibt eine
Reihe von Problemen, auf die ich hinweisen möchte. Erstens stellen Hegels
Verteidiger niemals seine Thesen zu Rationalität, Geschichte oder Kultur in
Frage. Hegels Sicht der Weltgeschichte beginnt mit problematischen
Behauptungen und ist von fragwürdigen europäischen Werten geleitet. Wie
Bernasconi betont, war Hegels Sichtweise nicht die einzig mögliche.
Tatsächlich wurden die offen rassistischen Ansichten sowohl Hegels als
auch Kants von einigen ihrer Zeitgenossen in Frage gestellt. Zweitens
stellen Hegels Verteidiger niemals den Zusammenhang zwischen Hegels
Denken über ›Rasse‹ und Afrika und den undenkbaren Erfahrungen von
AfrikanerInnen her, die Opfer des transatlantischen Sklavenhandels wurden.
Sie haben die entmenschlichenden Auswirkungen der Sklaverei und
rassistischer Diskriminierung niemals ernst genommen. Sie berücksichtigen
niemals die Langzeitfolgen von Rassismus und rassistischen
Gesellschaftsstrukturen.
In ihrem Eifer, Hegel zu verteidigen, versuchen seine Ausleger zu
verbergen, wie sich ihr Weißsein auf ihren philosophischen Ansatz
auswirkt. Ihr (bewusstes oder unbewusstes) Ziel ist es, Weißsein unsichtbar
zu machen. Das heißt, in der Philosophie gibt es keine weiße Perspektive,
sondern nur den universellen, unparteiischen, unbeteiligten Blick von
Nirgendwo. Doch für jene, die Opfer von Rassismus und seinen
Langzeitfolgen wurden und sind, ist das Weißsein dieser Ausleger ziemlich
sichtbar. Weißsein wird gerade dadurch sichtbar, dass eine ernsthafte
Berücksichtigung des Problems der ›Rasse‹ in der Philosophie fehlt.

SCHLUSS: WIE WEIßSEIN ALS RASSIFIZIERTES BEWUSSTSEIN SICHTBAR WIRD


Obwohl sich Philosophen mit Stolz auf die angebliche Farbenblindheit der
Philosophie berufen, ist eine solche Sicht fehlgeleitet und Ausdruck
mangelnder Selbstreflektion. Das Weißsein der Philosophie wird auf zwei
Arten sichtbar. Erstens wird die Disziplin an sich von weißen Männern
dominiert. Das offenbart schon ein flüchtiger Blick in ein philosophisches
Lehrbuch oder jede Geschichte der Philosophie. Jedoch ist dies nicht der
problematischste Aspekt. Die zweite Art, in der Weißsein in der Philosophie
sichtbar wird, ist durch den Versuch der Philosophie, die Tatsache zu
ignorieren, dass wir rassifizierte Wesen sind. In diesem Sinne wird
Weißsein als Privileg sichtbar. Das heißt, die Möglichkeit, ›Rasse‹ und die
Auswirkungen dieser Kategorie auf die Entwicklung eines
gesellschaftlichen Bewusstseins in der westlichen Welt zu ignorieren, ist ein
Merkmal weißer Privilegierung. Der so genannte Blick aus dem Nirgendwo
in der Philosophie ist ein Blick der Privilegierung. Sogar die Fragen, die
von Philosophen gestellt werden, weisen auf den Grad gesellschaftlichen
Absicherung hin, den der Philosoph genießt. In seiner Analyse von Ralph
Ellisons Unsichtbar schreibt Charles Mills in seinem Buch Blackness
Visible:
Was sind die Probleme, mit denen dieser Mensch konfrontiert ist? Geht es um globalen Zweifel?
Ganz und gar nicht; ein solcher Zweifel wäre niemals möglich, denn bei der untergeordneten
schwarzen Erfahrung oder allgemein der Erfahrung unterdrückter Gruppen dreht sich alles darum,
dass diesen Untergeordneten in keiner Weise zugestanden wird, die Existenz der Welt und anderer
Menschen in Frage zu stellen, vor allem nicht die ihrer Unterdrücker. Man könnte sagen, dass nur
jene, die am stabilsten mit der Welt verbunden sind, sich den Luxus leisten können, ihre Realität
in Zweifel zu ziehen, während jene, deren Verbindung stärker gefährdet ist, deren Existenz vom
guten Willen oder den Übellaunigkeit anderer abhängig ist, dazu gezwungen sind, ihre Existenz
anzuerkennen. Das erste ist ein Ausdruck von Macht, das zweite einer des Unterworfenseins.
Wenn deine tagtägliche Existenz größtenteils durch Unterdrückung geprägt ist, durch
erzwungenen Verkehr mit der Welt, wird der Zweifel an der Existenz deines Unterdrückers
niemals zu einem ernsthaften oder drängenden philosophischen Problem werden; ein solcher
erschiene schlicht frivol, ein Bonus gesellschaftlicher Privilegierung.[21]

Mills will damit sagen, dass die Position, die man im Leben innehat,
bestimmt, welche Fragen wichtig sind. Die Fragen, die im Allgemeinen von
Philosophen gestellt werden, spiegeln einen gewissen Grad an
gesellschaftlicher Absicherung und die Abwesenheit der unmittelbaren
Bedrohung durch Entmenschlichung wider. Mills und viele Feministinnen
argumentieren, dass wir in bestimmte erkenntnistheoretische
Gemeinschaften hineingeboren werden. Das heißt, dass der kulturelle und
gesellschaftliche Kontext, in den wir hineingeboren werden, bereits von
einem Erfahrungshintergrund geprägt ist, einem bestimmten
Selbstverständnis, einem Netz von Bedeutungen, Erwartungen, Interessen
und Anliegen. Dieser Kontext gibt uns eine bestimmte Fragelaufbahn vor,
die durch unsere Gemeinschaft legitimiert wird.
Die Annahme, dass Philosophen eine farbenblinde Erforschung der
conditio humana unternehmen können, kann nur durch ein Ignorieren der
conditio humana verständlich gemacht werden. Der fragende Blick des
Philosophen muss sich auf den Philosophen selbst richten und untersuchen,
wie unsere Fragen durch unseren gesellschaftlichen Standort bestimmt
werden. Dieser gesellschaftliche Standort wirkt sich auf den Prozess aus,
der uns manche Fragen in unsere philosophische Forschung aufnehmen
lässt, während wir andere ausschließen. Größtenteils haben es weiße
Philosophen versäumt, sich dem fragenden Blick zu unterwerfen, den sie
auf andere gerichtet haben. Dieses Versäumnis, die eigene Frageperspektive
und wie diese Perspektive in Bezug zu anderen steht, zu untersuchen, macht
Weißsein nicht unsichtbar, sondern offenbart die Blindheit des Philosophen.
Die Erfahrung der AfroamerikanerInnen als Opfer der color line bringt
uns in eine gesellschaftlichen Position, die sich von der weißer
PhilosophInnen unterscheidet. Weiße PhilosophInnen haben das Privileg,
sich selbst als Menschen und nicht als rassifizierte Wesen oder als rassische
Kategorie zu erfahren. Sie werden nicht tagtäglich an ihre rassische
Identität erinnert. Die weißen PhilosophInnen sind nicht gezwungen,
aufgrund ihrer ›Rasse‹ ihr Menschsein in Frage zu stellen. Diese Privilegien
erlauben ihnen zu glauben, dass ihre Fragen und Anliegen in keinem
Zusammenhang mit ihren Positionen als rassifizierte Wesen stehen. Wir
sind hier in einen Kreislauf geraten. Der Luxus, sich selbst als Menschen
und nicht als rassifiziertes Wesen zu etablieren, ist von Anfang an das
Ergebnis von Rassifizierung. Das Weißsein der Philosophie wird insofern
sichtbar, dass die conditio humana in Amerika dadurch bestimmt ist, dass
Schwarzen Philosophen dieser Luxus nicht erlaubt ist. Es liegt also auf der
Hand, dass es einen bestimmten Aspekt der conditio humana gibt, den die
traditionelle Philosophie ausgespart hat.
Das Bedürfnis, universelle Behauptungen zur conditio humana
aufzustellen, hat auf zwei Arten rassifiziertes Bewusstsein produziert und
unterstützt. Erstens haben PhilosophInnen europäischer Herkunft zu schnell
die gesamte Menschheit auf ihren theoretischen Rahmen reduziert, ohne
diesen Rahmen zunächst ernsthaft in Frage zu stellen. Diese Philosophen
und Philosophinnen entwickeln ihre ›universellen‹ Prinzipien im
Selbstgespräch und gehen dann davon aus, dass solche Prinzipien oder
Werte angemessen sind, um die Erfahrung nicht-europäischer Völker zu
beschreiben. Wie bei Hegel entspricht der Grad, in dem nicht-europäische
Völker den EuropäerInnen ihre europäischen Werte und Seinsformen nicht
widerspiegeln, dem Grad, in dem sie als untermenschlich betrachtet
werden. Zweitens arbeiten zeitgenössische PhilosophInnen europäischer
Herkunft weiterhin in einem theoretischen Rahmen, der niemals ernsthaft
von nicht-europäischen PhilosophInnen geprüft wurde.
Der Unterschied zwischen historischen Figuren wie Kant und Hegel und
zeitgenössischen PhilosophInnen europäischer Herkunft ist, dass Kant und
Hegel versuchten, ›Rasse‹ in ihre philosophischen Systeme einzubinden,
indem sie eine Rassenhierarchie konstruierten, in der AfrikanerInnen und
ihre Nachkommen auf der untersten Stufe platziert wurden. Zeitgenössische
PhilosophInnen europäischer/angelsächsischer Herkunft versuchen ›Rasse‹
aus ihren philosophischen Systemen auszuklammern und begründen das mit
ihrer Irrelevanz. Das Problem ist jedoch, dass die Jahrhunderte lange
Unterwerfung nicht-europäischer Völker durch weiße Männer eine
Situation entstehen ließ, in der bedeutende Ungleichheiten zwischen
Weißen und AfrikanerInnen geschaffen wurden. Diese gesellschaftliche
Realität hat Auswirkungen auf die Lebensaussichten der benachteiligten
gesellschaftlichen Gruppe. Die Aufgabe für die afrikanische Philosophie ist
es nun, dem vorzeitigen Abschluss der europäischen/angelsächsischen
philosophischen Systeme zu trotzen. Der theoretische Rahmen
europäischer/angelsächsischer Philosophie hat Weißen Vorteile beschert,
während die Kämpfe von Menschen afrikanischer Herkunft ignoriert
wurden. Daher verkörpert die Philosophie ein gewisses Maß an Weißsein,
das hinterfragt werden muss. Europäische DenkInnen der Aufklärung
definierten sich und ihren Ort in der Geschichte vor dem Hintergrund von
Schwarzsein, eine afrikanistische Präsenz. Die Konstruktion von Weißsein
war das unbewusste Ergebnis der Konstruktion von Schwarzsein und seiner
angeblichen negativen Eigenschaften.
Eine Kritik von Weißsein an sich und am Weißsein der Philosophie
impliziert nicht, dass die Fragen, die weiße Philosophen und
Philosophinnen aufwerfen, nicht legitim oder wichtig sind. Es wäre ein
großer Fehler, wenn die afrikanische Philosophie versuche würde, die
traditionelle Philosophie außer Gefecht zu setzen. Die Fragen, die Platon,
Aristoteles, Kant, Hegel, Descartes, Quine und andere gestellt haben, sind
sehr wichtige Fragen. Wenn jedoch das Forschungsobjekt der
PhilosophInnen die conditio humana ist, muss die Forschung
berücksichtigen, dass wir als rassifizierte Wesen angelegt sind und dass die
Zugehörigkeit zu einer ›Rasse‹ Auswirkungen darauf hat, welche
Möglichkeiten wir haben und wie sich unser Selbstbewusstsein entwickelt.
Vor uns liegt die Aufgabe, philosophische Theorien wirklich universell und
allumfassend zu machen, indem wir berücksichtigen, wo wir als
PhilosophInnen verortet sind. Der Diskurs, den wir Philosophie nennen,
darf sich nicht auf einen einzigen Ort beschränken, sondern muss
ausgedehnt werden, um allen Orten Rechnung zu tragen.

Aus dem Englischen von Ekpenyong Ani

BIBLIOGRAFIE
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2000
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201
»With What Must the History of Philosophy Begin? Hegel’s Role in the Debate on the Place of
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Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hg. von Hermann Glockner, Bd. 17, Stuttgart: Frommann, 1964
Houlgates, Stephen: Freedom, Truth and History. An Introduction to Hegel’s Philosophy. London:
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Kant, Immanuel: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764).« In: Kants
gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd.
II: Vorkritische Schriften, 1757-1777, Berlin 1905
»Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« In: Berlinische Monatsschrift Dezember-Heft
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Kovel, Joel: White Racism. A Psychohistory. New York: Columbia University Press, 1984
McCarney, Joseph: Hegel on History. London: Routledge, 2000
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Morrison, Toni: Im Dunkeln Spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays. Reinbek b.
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Nisbet, Robert: History of the Idea of Progress. New York: Basic Books, 1980
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Walsh, W. H.: »Principle and Prejudice in Hegel’s Philosophy of History.« In: Z. A. Pelczynski
(Hrsg.): Hegel’s Political Philosophy: Problems and Perspectives. Cambridge, UK: Cambridge
University Press, 1971, S. 181-198
Willett, Cynthia: Maternal Ethics and Other Slave Moralities. New York: Routledge, 1995
Young, Iris M.: Justice and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press, 1990

ANMERKUNGEN
1 Der Beitrag erschien zuerst in: Yancy, George (Hrsg.): What White Looke like. African-
American Philosophers on the Whiteness Question. New York & London: Routledge, 2004, S.
143-158.
2 In ihrem Buch Im Dunkeln Spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination untersucht Toni
Morrison wie weiße Identität im amerikanischen Roman vor dem Hintergrund einer
unsichtbaren afrikanistischen Präsenz konstruiert wird. Schwarzsein wird unsichtbar gemacht,
mit dem Ziel, den weißen Helden des Romans sichtbar zu machen. Allerdings definiert sich der
weiße Held nicht als weiß, sondern als Mensch. Der Sieg des weißen Helden ist der Sieg der
Menschheit. Damit ist auch Weißsein unsichtbar. Morrison und Mills decken den Schwarzen
Hintergrund auf, vor dem weiße Identität konstruiert wird. Ich behaupte, dass mit dem
Sichtbarwerden von Schwarzsein auch die weiße Identität zum Vorschein kommt, die auf seinem
Rücken konstruiert wurde.
3 Mein Versuch, einen Sprachgebrauch zu konstruieren, um über Rassismus zu sprechen und
gleichzeitig die Fallen des Begriffs ›Rassismus‹ zu meiden, wurde von Joel Kovel und Iris M.
Young inspiriert. In ihrem Buch Justice and the Politics of Difference untersucht Young die
Rolle des Körpers in der Herausbildung gesellschaftlicher Gruppen, deren Schikanierung und
Unterdrückung. So wendet Kovels drei Formen von Rassismus auf das Problem der ›Rasse‹ an.
In seinem Buch White Racism argumentiert Kovel, dass es drei Formen von Rassismus gibt. Bei
dominierendem Rassismus wird direkte Herrschaft ausgeübt. Hier ist das Opfer nicht einmal im
Besitz von oder hat die Kontrolle über den eigenen Körper. Aversiver Rassismus manifestiert
sich in der Vermeidung der verhassten ›Rasse‹. Metarassismus ist eine unbewusste Form von
Rassismus. Der/die Metarassist/in hat sich nicht mehr der Ansicht verschrieben, dass seine/ihre
›Rasse‹ anderen überlegen ist. Jedoch ist dem/der Metarassist/in nicht bewusst, wie struktureller
Rassismus tagtäglich seine/ihre Entscheidungen und Interaktionen prägt. Zum Beispiel ist vielen
wohlmeinenden Weißen nicht bewusst, wie sie von ihrem Weißsein profitieren. Sie behaupten
schnell mal, dass wir durch die Illegalisierung und starke Reduzierung von dominierendem und
aversivem Rassismus heute in einer farbenblinden Gesellschaft leben.
4 Outlaw: On Race and Philosophy, S. 9.
5 Man kann weiße männliche westliche Philosophie auch als eine Art Narrativ über Wahrheit,
Vernunft, Menschheit und so weiter betrachten, das alle Personen assimiliert, ohne mit den
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die darin vertreten sind, ernsthaft ins Gespräch zu
kommen. Mensch werden durch ein Herrennarrativ definiert, das Personen entsprechend der
rationalen Sicht des Herren verortet. In ihrem Buch Maternal Ethics and Other Slave Moralities
schreibt Cynthia Willett: »Eine der Hauptzielscheiben der postmodernen Kritik ist das, was
Lyotard als die Herrennarrative der Aufklärung und der europäischen Philosophie des
neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet. Hinter diesen Narrativen steckt die narzisstische
Annahme, dass die eigenen Standards für den ›Fortschritt der Menschheit‹ für die Interpretation
anderer Kulturen angemessen sind. Diese Haltung führt zu der Wahrnehmung von Nicht-
EuropäerInnen als Kinder und/oder untermenschliche Bestien, denen es an der nötigen
Rationalität oder der moralischen Entwicklung fehlt, um als selbständige reife Personen zu
gelten« (S. 97).
6 Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, S. 481.
7 Kant: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, S. 253.
8 Nisbet: History of the Idea of Progress, S. 276.
9 Bernasconi & Lott: The Idea of Race, S. ix.
10 In mehreren Artikeln untersucht Robert Bernasconi sehr detailliert Hegels Verortung
verschiedener Völker in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Ich bin Professor
Bernasconi sehr dankbar dafür, mir diese Artikel zur Verfügung gestellt zu haben. Siehe
Bernasconi: »Hegel at the Court of the Ashanti«; »With What Must the Philosophy of World
History Begin?«; »With What Must the History of Philosophy Begin?«; »Krimskrams«.
11 Der Kampf zwischen Geist oder Verstand und Natur ist von Anfang an ein problematisches
weißes männliches Konstrukt, das nur zur Rechtfertigung von Rassismus und Sexismus benutzt
wurde. Vgl. Willett: Maternal Ethics and Other Slave Moralities.
12 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 137. Hervorhebung vom Verfasser.
13 Die Tatsache, dass Hegels Ansichten mit der weitverbreiteten Auffassung seiner Zeit im
Einklang sind, stellt keinesfalls ein Argument dafür dar, dass Hegel davonkommen sollte, weil
er ein Produkt seiner Zeit ist. Es gab auch Gegner der rassistischen Ansichten Hegels. Hegels
Hauptgegner war Alexander von Humboldt. Kants Hauptgegner war sein ehemaliger Schüler
Johann Gottfried von Herder. Festzuhalten ist auch, dass Humes Rassismus von seinem
Gesprächspartner James Beatte angefochten wurde.
14 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 139-140.
15 Ebenda, S. 140.
16 McCarney: Hegel on History, S. 144-145. Für ähnliche Strategien unter Berufung auf die
Nutzung kultureller Unterschiede siehe Kapitel 1 von: Houlgates Freedom, Truth and History.
Vgl. auch: Walsh: »Principle and Prejudice in Hegel’s Philosophy of History«.
17 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. Vol. 2, hrsg. und
übers. von M. J. Petry. Dordrecht: D. Reidel Publishing Company, 1978, S. 47-48, übersetzt
nach: Arnold Farr: »Whiteness Visible: Enlightenment Racism and the Structures of Racialized
Consciousness.« In: George Yancy (Hrsg.): What White Looks Like: African-American
Philosophers on the Whiteness Question. New York & London: Routledge, 2004.
18 Ebenda, S. 152.
19 Bernasconi: »With What Must the Philosophy of World History Begin?«, S. 189.
20 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 451.
21 Mills: Blackness Visible, S. 8.
MAUREEN MAISHA EGGERS
RASSIFIZIERTE MACHTDIFFERENZ[1] ALS
DEUTUNGSPERSPEKTIVE IN DER KRITISCHEN
WEIßSEINSFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND.

Das Konzept der rassifizierten Machtdifferenz soll in Auseinandersetzung


mit Konstruktionen von Differenz (als einem grundlegenden konstitutiven
Element rassifizierter Ordnungen) eine Verschiebung erwirken, weg von
kulturalistischen Deutungen von Differenz hin zu machtkritischen Analysen
von Differenzkonstruktionen. Zugleich soll der Begriff auf die
Notwendigkeit hinweisen, sich mit Aspekten aus differentiell und
sozialpsychologischen Ansätzen, die sich mit Wahrnehmungen und
Verarbeitungen von sozialen Hierarchien und gesellschaftlichen
Statusunterschieden beschäftigen, auseinander zu setzen.
Differenzkonstruktionen werden entlang des Begriffs der rassifizierten
Machtdifferenz aufgrund rassismustheoretischer Forschungen als
konstitutiv für eine rassifizierte Markierungs-, Differenzierungs-,
Positionierungs- und Ausschlusspraxis interpretiert. Vor dem Hintergrund
differentiell psychologischer und sozialpsychologischer Forschungen
bezieht sich der Begriff rassifizierte Machtdifferenz vor allem auf die
Wahrnehmung sozialer Bewertungen von Unterschieden und auf die damit
zusammenhängende Herausbildung evaluativer Urteile über rassifizierte
Konstruktionen. Diese beiden Ebenen werden als ursächlich für das
Entstehen von rassifizierter Hierarchisierung und für ihre Reproduktion
mittels rassifizierter Interaktionen verstanden.
Entlang des Begriffs der rassifizierten Machtdifferenz soll
veranschaulicht werden, wie die Konstruktion von Weißsein durch die
komplementäre hierarchische Positionierung von Konstruktionen rassistisch
markierter ›Anderer‹ als unmarkiertes, normatives Zentrum hervorgebracht
wird. Rassifizierung wird demzufolge als ein dreifach ausgerichteter
Prozess verstanden – als Konstruktionsprozess, Vermittlungsprozess und
Prägungsprozess. Im Hinblick auf performative Aspekte hierarchischer
Positionierungspraxen verweist Machtdifferenz auf Verarbeitungsformen,
Selbstpositionierungen und Verhandlungen von Differenz. Diese basieren
auf der Wahrnehmung von in Differenzkonstruktionen enthaltenen subtilen
Machtbotschaften durch hegemoniale weiße und subalterne, rassistisch
markierte Subjekte. Diese Machtbotschaften werden auf diskursivem Wege
verbreitet und innerhalb gesellschaftlicher Handlungskontexte
interaktionistisch ausgehandelt. Durch ihre Alltäglichkeit tragen sie zu einer
Normalisierung der vermeintlichen Natürlichkeit hierarchischer
Positionierungen und Ordnungen bei und wirken somit normativ.

VIER KONSTITUTIVE EBENEN RASSIFIZIERTER MACHTDIFFERENZ


Auf der Grundlage des Begriffs der rassifizierten Machtdifferenz
unterscheide ich vier Ebenen als konstitutiv für die Genese rassifizierter
Ordnungen.[2] Diese sind nur methodologisch linear zu denken, ansonsten
sind sie miteinander verschränkt und bedingen sich auch gegenseitig, wobei
jede Praxisebene in sich noch weiter ausdifferenziert werden könnte. Die
›Logik‹ von Machtdifferenz als gesellschaftlichem Phänomen wird mithilfe
dieser vier Ebenen erläutert; durch die Analyseebene von Rassifizierung
wird auf Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsprinzip eingegangen.
Die erste Ebene setzt eine rassifizierte Markierungspraxis voraus:
Subalterne Kategorien, Personen und Gruppen werden mit Eigenschaften
belegt. Es wird ein ›Wissen‹ über ihr Wesen erzeugt. In diesem Wissen
besteht die Hauptaussage in der Artikulation ihrer ›Differenz‹ in Relation zu
der hegemonialen weißen Gruppe.[3] In einer dichotomischen Anordnung
werden ihnen Eigenschaften zugeschrieben, die in Opposition zu den
(vermeintlichen) Eigenschaften der weißen Gruppe stehen.
Die zweite Ebene ist durch eine rassifizierte Naturalisierungspraxis oder
eine rassifizierte Differenzierungspraxis gekennzeichnet: Die erfundenen
oder konstruierten Differenzmerkmale werden naturalisiert. Sie werden als
unüberwindbarer Teil der ›Natur‹ von rassistisch markierten ›Anderen‹
gesetzt. Die auf diese Weise konstruierte Differenz wird festgelegt und
verabsolutiert. Mit Autorität ausgestattete hegemoniale SprecherInnen
verbreiten ›rassistisches Wissen‹ (über rassistisch markierte ›Andere‹) als
Allgemeinwissen und erzeugen somit institutionell abgesicherte
Wissenskomplexe.
Die dritte Ebene besteht aus einer rassifizierten hierarchischen und
zugleich komplementären Positionierungspraxis: Rassistisch markierte
Subjekte werden keineswegs ›sich selbst überlassen‹. Sie werden an die
hegemoniale weiße Gruppe in engen komplementären ›Beziehungen‹
eingebunden. In Relation zu der weißen Gruppe werden sie untergeordnet
positioniert und in die weiße hegemoniale Struktur eingeschlossen.
Schließlich entstehen auf der vierten Ebene als Resultat der
Markierungs-, Naturalisierungs- und hierarchischen Positionierungspraxen
rassifizierte Ausgrenzungspraxen. Tatsächliche Ausschlussrealitäten können
jetzt ›logisch‹ mit einem Hinweis auf die ›Natur‹ der subalternen Positionen
und auf der Grundlage einer natürlich erscheinenden hierarchischen
Ordnung erklärt werden. Das hegemoniale weiße Zentrum kann somit
unbenannt und unmarkiert bleiben und funktioniert dann sogar als eine
neutrale Instanz.

DER VERTRAGSCHARAKTER VON WEIßSEIN, HIERARCHISCHEN


SUBJEKTIVIERUNGEN UND DIE MODERNE ENTSTEHUNG RASSIFIZIERTER
ORDNUNGEN
Die Arbeiten des jamaikanisch-amerikanischen Philosophen Charles Wade
Mills zum Zusammenhang zwischen der Entstehung eines
Gesellschaftsvertrags (›Social Contract‹) und eines rassifizierten Vertrags
(›Racial Contract‹) bieten eine ergiebige Grundlage, um die
Institutionalisierung der vier Rassifizierungsebenen zu erläutern.[4] Damit
wird veranschaulicht, wie Rassifizierung als institutionalisierte Ordnung auf
der Grundlage eines (weißen) gesellschaftlichen Konsens’ als eine
verbindliche Praxis hervorgebracht wird.
Mills Forschungen basieren auf der Analyse der Herausbildung des
Staatswesens als Organisationsform im Zeitalter der europäischen
Aufklärung und der gleichzeitigen Entstehung eines rassifizierten
wissenschaftlich begründeten Differenzglaubens. Erklärt mit der Schule des
Contractarianism (die Begründung von Vertragsverhältnissen) geht Mills
davon aus, dass unsere moderne Gesellschaftsform auf einen
Gesellschaftsvertrag zurückgeht. Diese entspringe einer Vereinbarung – auf
der Basis der aufklärerischen Konzepte der Rationalität und Moraltheorie –,
den Staat als Gesellschaftsform zu installieren. Der Akt der
Institutionalisierung bestehe darin, einen Staat zu gründen und seine Organe
und Regierungsapparate mit Legitimität auszustatten. Durch diesen Prozess
der staatsrechtlichen Konstruktion des Volkes wurden aus prä-
soziopolitischen Wesen mündige und gleichberechtigte post-soziopolitische
BürgerInnen.
Der Gesellschaftsvertrag besteht aus zwei Teilverträgen. Unterschieden
wird zwischen einem politischen Vertrag, der den Staat und seine
Regierungsapparate begründet (die Entstehung des Staatswesens und unsere
politischen Verpflichtungen einem Staat gegenüber) und einem ethischen
Vertrag als moralischem Fundament (handlungsleitend für den Staat) und
als Verhaltenskodex (handlungsleitend für mündige und inhärent
gleichberechtigte Individuen bzw. BürgerInnen untereinander).
In seiner Theorie des rassifizierten Vertrages erweitert Mills den
Gesellschaftsvertrag um einen epistemologischen Aspekt und begründet
damit einen dritten Teilvertrag. Damit soll die rassifizierte gesellschaftliche
Prägung und Legitimierung von kognitiven Normen und der Rassifizierung
der Erkenntnisvalidierung beschrieben werden. Es gibt, so Mills, eine
Verständigung darüber, was als eine korrekte, objektive Interpretation der
Welt zählt; für eine Zustimmung zu dieser Praxis bekommen Personen eine
vertraglich geregelte kognitive Anerkennung in der akademischen
Community.[5] Mills argumentiert, dass der rassifizierte Vertrag einer
eigenen moralischen und empirischen Epistemologie bedarf, um Normen
und Prozeduren dafür festzulegen, was als moralisch und faktisches Wissen
der Welt gilt. »The Racial Contract is political, moral and epistemological;
the Racial Contract is real; and economically, in determining who gets
what, the Racial Contract is an exploitation contract.«[6]
Die Logik des rassifizierten Vertrages als Theorie besteht darin, den als
illusorisch bezeichneten neutralen Gesellschaftsvertrag gemäß der
politischen Realität rassifizierter gesellschaftlicher Ausschlüsse
umzudefinieren. Hiermit wird das Mythos von der Gründung des
Staatswesens durch abstrakte, ›rassenlose Männer‹, wodurch das
ursprünglich naturgebundene Wesen zu sozialen Subjekten werden, die
einem neutralen Staat gegenüber verpflichtet wären, zurückgewiesen. Die
Transition von »Menschen im Naturzustand« hin zu zivilen, politischen
Subjekten wird als ein Prozess erkannt, der eine Vielzahl von Elementen
enthält, die konkrete gesellschaftliche Ausschlüsse erzeugen. Die
Vereinbarung, über die unsere moderne Gesellschaftsform zustande kommt,
gilt somit zugleich als Herrschaftsvertrag. Die inhärente
Gleichberechtigung, welche als Grundlage des ›Idealen-
Gesellschaftsvertrags‹ gilt, stellt sich als trügerisch heraus.
Die bereits beschriebene Entstehung eines für alle BürgerInnen
verbindlichen sozialen Regulationssystems geht einher mit der Entstehung
ausbeuterischer Verträge (nicht-idealen Verträgen). Der ›rigorose Raub- und
Plunderungscharakter‹ des frühen Handelskapitalismus, große
gesellschaftliche Unterschiede und die Realität von
Herrschaftsverhältnissen und Praktiken gelten als ein deutlicher Beweis für
soziale Ungleichheiten, die in einem Idealvertrag nicht thematisiert werden.
Als Hauptbeispiele solcher ausbeuterischen Verträge gelten der ›Sexual
Contract‹ und der ›Racial Contract‹. Ersterer soll die Unterwanderung des
ursprünglich als ›geschlechtsneutral‹ konzipierten ›Social Contract‹
beschreiben, resultierend in eine patriarchalische Dominanz des
Staatswesens und in der von Friedrich konstatierten »weltweit historischen
Niederlage des weiblichen Geschlechts«.[7] Der ›Racial Contract‹ versucht
die Transformation menschlicher Bevölkerungen in weiße und ›nicht-
weiße‹ Menschen und ihre politischen, moralischen und epistemologischen
Folgen zu beschreiben.[8]
Mills Theorie des ›Racial Contract‹ geht von der methodologischen
Prämisse aus, dass weiße Dominanz treffend betrachtet werden kann als
basierend auf einer Vereinbarung, einem ›Kontrakt‹ zwischen Weißen – auf
einem rassifizierten Vertrag.
The Racial Contract is that set of formal or informal agreements or meta-agreements […] between
the members of one subset of humans, henceforth designated by (shifting) ›racial‹
(phenotypical/genealogical/cultural) criteria C1, C2, C3 […] as ›white‹, and coextensive (making
due allowance for gender differentiation) with the class of full persons, to categorize the
remaining subset of humans as ›nonwhite‹ and of a different and inferior moral status, subpersons,
so that they have a subordinate civil standing in the white or white-ruled polities the whites either
already inhabit or establish or in transactions as aliens with these polities, and the moral and
juridical rules normally regulating the behavior of whites in their dealings with one another either
do not apply at all in dealings with nonwhites or apply only in a qualified form (depending in part
on changing historical circumstances and what particular variety of nonwhite is involved), but in
any case the general purpose of the Contract is always the differential privileging of the whites as
a group with respect to the nonwhites as a group, the exploitation of their bodies, land, and
resources, and the denial of equal socio-economic opportunities to them. All whites are
beneficiaries of the Contract, though some whites are not signatories to it.[9]

Mills Definition vom ›Racial Contract‹ lässt sich besser unter Hinzuziehung
seiner Kritik an Kants Konzept der moralischen Erziehbarkeit der
verschiedenen ›Menschenrassen‹ verstehen. Die in Kants Arbeiten
aufgeführte Kategorisierung weiße und ›nicht-weiße‹ Menschen
(Markierungspraxis), die Feststellung der ›Andersheit‹ von rassistisch
markierten Menschen (Differenzierungspraxis), die Festlegung der
Minderwertigkeit ihres moralischen Status’ (hierarchische Positionierung)
und schließlich ihr Ausschluss aus dem zivilpolitischen Regulationssystem,
das für Weiße gültig ist – etwa durch ihre Versklavung oder
Kolonialisierung (Ausschlusspraxis), lassen sich wie folgt konkretisieren:
Kant demarkiert und theoretisiert eine farbkodierte, rassifiziert geprägte
Hierarchie. Gegenstand seines Konzepts sind die von ihm eingeschätzten
differentiellen Kapazitäten zur moralischen Erziehbarkeit verschiedener
menschlichen ›Rassen‹. Mills bezieht sich hierbei auf Kants Aufsatz Von
den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) und in Anlehnung an
Emmanuel Eze auch auf die Verbindung zu den beiden Disziplinen der
Anthropologie und der physischen Geographie, welche Kant vierzig Jahre
lang begleitend unterricht hat. Eze und Mills kommen beide zu dem
Schluss, dass für Kant Full Personhood von der Zugehörigkeit des
jeweiligen ›Subjekts‹ zu einer rassifizierten Kategorie abhängig war.[10]
Als Differenzierungsmerkmal nennt Kant »das Talent zur Rationalität«.
Ausgehend von der seiner Ansicht nach am höchsten gestellten weißen
›Rasse‹ (Europäer) begründet er ein Rationalitätskonzept, nach dem Weiße
auf natürliche Weise in der Lage seien, sich selbst zu einer hohen Moral zu
erziehen. Er geht von der Annahme einer weißen moralischen
Überlegenheit aus. In seiner Hierarchie folgt darauf die ›gelbe Rasse‹
(Asiaten), die auch zur Rationalität fähig sei, jedoch laut Kant nicht in der
Lage sei, abstrakte Konzepte zu begreifen. Zu der ›schwarzen Rasse‹ mit
ihrer »angeborenen Faulheit« weiß Kant zu sagen, dass sie immerhin soweit
moralisch erzogen werden könne, um als Sklaven und Dienstboten von
Nutzen zu sein – und zwar mit Hilfe eines gespaltenen Bambus-
Schlagstocks. Der Königsberger Philosoph bietet sogar einige Ratschläge
an, wie man Schwarze effektiv schlagen kann, wenn man das Hindernis
ihrer angeborenen »dicken Haut« berücksichtigt. Die von Kant als ›rote
Rasse‹ bezeichnete indigene Bevölkerung Amerikas (First Nations People
of Americas) sei überhaupt nicht erziehbar und somit praktisch »wertlos für
die Zivilisation«.
Kant hatte offensichtlich ohnehin eine sehr eingeengte Konzeption
davon, von welcher Art Individuen erwartet werden könne, dass sie die
Reife und Autonomie eines politischen Urteils erlangen. Seine Vorstellung
schloss einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus. Weiße Frauen
betrachtete Kant als passive Bürgerinnen, die einen Mangel an ziviler
Persönlichkeit aufweisen, (weißen) Männern ungleich und abhängig von
dem Willen ›Anderer‹ seien. Frauen aus den Gruppen der rassistisch
markierten ›Anderen‹ waren offensichtlich nicht einmal einer Erwähnung
wert.[11]
In Bezug auf Kant und den Wissenschaftsglauben der Aufklärung
können die vier Rassifizierungsebenen am Begriff der ›Vernunft‹
folgendermaßen exemplarisch veranschaulicht werden. Kant setzt
›Vernunft‹ als exklusives Konzept fest. Davon teilweise ausgeschlossen
sind weiße Frauen. Sie werden dennoch innerhalb des weißen Kollektivs
angesiedelt und somit über die konstruierten, rassistisch markierten
›Anderen‹ gesetzt.
Kant markiert die ›anderen Subjekte‹ über phantasierte Eigenschaften.
Im Sinne einer rassifizierten Naturalisierungspraxis werden sowohl die
Eigenschaften des hegemonialen weißen Subjekts (natürliche Begabung zur
Vernunft) als auch die des subalternen Subjekts (angeborene Dienstbarkeit,
angeborene »dicke Haut«) festgelegt und verabsolutiert.
Bezogen auf die Praxis der komplementären hierarchischen
Positionierung sind meines Erachtens zwei Schritte von Interesse. Erstens
ist die lineare Abfolge klar festgelegt (weißer Mann, weiße Frau und dann
die rassistisch markierten ›Anderen‹ Männer und Frauen; Asiatische
Andere; Schwarze Andere und Indigene Amerikanische Menschen als
wertlos, weil „nicht erziehbar“ am Ende der Skala). Da aber nicht nur der
Akt der Hierarchisierung für meine Argumentationslinie wichtig ist,
sondern auch der Aspekt der Komplementarität, ist von Interesse, wie Kant
diese herstellt – nämlich über die (symbolische) Einteilung, wer
»erziehungsbefugt« ist. Kant gibt ›Anweisungen‹ dafür, wie man (also
Weiße) Schwarze Menschen mit Hilfe von Schlägen zu Dienstboten
erziehen kann. Es ist meines Erachtens offenkundig, dass er Schwarze auf
naturalisierte Weise zum Dienst an Weißen in einer symbolischen
Beziehung vorsieht und auch symbolisch positioniert.
Im Sinne des letzten Moments der rassifizierten Ausschluss- oder
Ausgrenzungspraxen funktioniert Kants Anweisung nicht nur als eine
›Empfehlung‹, sondern auch epistemologisch als ›wissenschaftliche‹
Begründung rassenideologischer Differenz und trägt wesentlich zur
Grundlage moderner Rassifizierung bei. Es ist impliziert, dass Schwarze
oder Indigene AmerikanerInnen (First Nations People of Americas) sich
nicht selbst regieren können, weiße Frauen keine vollständige Teilhabe an
der Regierung zusteht, und im Verhältnis zwischen Weißen und asiatisch
markierten ›Anderen‹ sollten Letztere, wenn es darauf ankommt, sich
Weißen unterordnen – oder zumindest der weißen Vernunft und Moral.

EINE PHANTASIERTE NÄHE? WEIßSEIN POSITIONIEREN ÜBER


KOMPLEMENTARITÄT
Komplementarität kennzeichnet in diesem Beitrag eine Praxis, durch die
rassistisch markierte ›Andere‹ in Beziehung gesetzt werden zu weißen
Personen oder Kollektiven. Vor dem Hintergrund von rassifizierter
Machtdifferenz wird erstens davon ausgegangen, dass diese Praxis
vorwiegend auf symbolischen Ebenen stattfindet und somit einen
epistemischen Aspekt aufweist; zweitens, dass weiße Positionen erst
aufgrund und durch die Markierung und Setzung von rassistisch markierten
›Anderen‹ definiert werden; und drittens, dass die vollzogene Grenzziehung
in dieser hierarchisierenden Positionierungspraxis die rassistisch markierten
Subjekte eher in eine symbolische Nähe zwingt denn in eine Distanz.
In Anlehnung an die Analyse Sara Ahmeds zu
Fremdheitskonstruktionen, deren grundlegende Erkenntnis damit
beschrieben werden kann, dass es sich bei Fremdheitskonstruktion nicht um
›Fremde‹ handele, sondern ganz im Gegenteil um ›gute Bekannte‹, wird
davon ausgegangen, dass die hierarchische, komplementäre
Positionierungspraxis markierte Subjekte eher ein- als ausschließt.[12]
Nach Ahmeds Ansatz entsteht der Bedrohungseffekt als Kern der
Fremdheitskonstruktion nicht aus einer tatsächlich gegebenen Bedrohung,
sondern in der Funktion als Symbol für die Unerwünschheit und Nicht-
Zugehörigkeit ›des Fremden‹. Das sofortige Erkennen von und Furcht vor
›Fremden‹ funktioniere nur dadurch, dass festgelegt wird, ›wer‹ als fremd
gilt. Das bedrohliche Potential wäre wirkungslos, wenn ›der Fremde‹ nicht
eindeutig und vor allem nicht relativ schnell zu erkennen wäre. Demnach
handele es sich gar nicht um ›Fremde‹, sondern vielmehr um ›Bekannte‹,
die als fremd konstruiert werden und bei denen ein Interesse darin besteht,
dass sie nicht zugehörig-werden.
Ähnlich wird in diesem Beitrag davon ausgegangen, dass rassistische
Grenzziehungen rassistisch markierte Subjekte in eine Art
Zwangsbeziehung mit Weißen einbinden sollen. Erstere sollen verfügbar
gemacht werden und nicht außerhalb des Einflusses von Weißen oder
vielmehr von hegemonialem Weißsein stehen.
Indem ein weiß geprägtes und definiertes epistemisches Wissen über
markierte ›Andere‹ erzeugt und legitimiert wird, wird auch die Normalität
und Normativität einer hierarchischen komplementären rassifizierten
Ordnung verankert und tradiert. Für die normative Setzung dieser
hierarchischen Komplementarität stellt sich die weiße Phantasie als zentral
heraus. Wie Mills feststellt, entstehen im Rahmen dieses ›Wissens‹
white mythologies, invented Orients, invented Africas, invented Americas, with a corresponding
fabricated population, countries that never were – Calibans and Tontos, Man Fridays and Sambos
– but who attain a virtual reality through their existence in traveler’s tales, folk myth, popular and
highbrow fiction, colonial reports, scholarly theory, Hollywood cinema, living in the white
imagination and determinedly imposed on their alarmed real-life counterparts.[13]

Weiße erzeugen innerhalb einer rassifizierten Epistemologie rassistisches


Wissen, und in dem ›Sprechen-Über‹ rassistisch markierte Subjekte
positionieren sie sich hierarchisch als ›Wissende‹.
Der Kolonialdiskurs funktionierte als Prozess maßgeblich über die
Information der weißen Öffentlichkeit durch weiße KolonialautorInnen und
AbenteurInnen über die fiktive ›Natur‹ von rassistisch markierten
›Anderen‹. Zwei bekannte historische Beispiele für die Wirksamkeit solcher
imaginierter rassifizierter Figurationen sind die Romane Oroonoko - Der
edle Sklave der weißen englischen Autorin Aphra Behn und Onkel Toms
Hütte der weißen amerikanischen Autorin Harriet Beecher Stowe. Beide
Werke galten in weißen Interpretationen als humanistisch. Auf die erst
genannte Erzählung wird im Folgenden ausführlicher eingegangen.
Der erste Roman, der von einer weißen Frau veröffentlichte wurde,
erschien vermutlich 1678 in England. Die Autorin soll die weiße englische
Dramaturgin und Poetin Aphra Behn gewesen sein. Das Buch, um das es
sich handelt, trug den Titel Oroonoko - The Royal Slave. Es wird sogar
davon ausgegangen, dass dies der erste Roman überhaupt gewesen sei, der
in englischer Sprache veröffentlicht wurde.[14]
Es ist auf den ersten Blick schon sehr erstaunlich, dass ein Roman von
solcher Bedeutung für eine weiße Kultur, Schwarze Lebenserfahrungen als
Hauptgegenstand zur Grundlage hat. Der erste Roman einer weißen Frau,
was auch für die weiße feministische Bewegung, zumindest die europäische
bedeutungsvoll sein dürfte, handelt maßgeblich von einer Schwarzen
männlichen Figur. Nach einem genaueren Blick erscheint diese
Erzählkonstellation dennoch logisch vor dem Hintergrund des Konzepts
rassifizierter Machtdifferenz – und zwar bezogen auf die zentrale
Bedeutung von Komplementarität für die Konstitution weißer
Identitätspositionen. Das bedeutet, dass, um weiße hegemoniale
Positionierungen zu erzeugen und zu untermauern, müssen Konstruktionen
von Schwarzsein (oder anderen rassistischen Markierungen) komplementär
eingesetzt werden. Diese erweisen sich als effizient, wenn sie eine
rassifizierte hierarchische Ordnung natürlich erscheinen lassen und die
gewalttätige Herstellung des hegemonialen Beziehungskontexts durch
Weiße verwischen, also relativieren. Somit wird Weißsein als diffuse aber
wirkmächtige Entität reingewaschen, und es erscheint als unschuldig
und/oder humanistisch und/oder demokratisch, je nach zeitlichem Kontext.
An sich unlogische Inhalte werden über die Einhaltung dieser
hierarchischen performativen Einstellung integriert.[15]
Der Held in der Erzählung ist der junge afrikanische Prinz Oroonoko. Er
wird als ein gut aussehender, nobler, mutiger junger Mann beschrieben, der
dem Christentum gegenüber zutiefst misstrauisch und feindselig
gegenübersteht. Oroonoko ist zu intensiver romantischer Liebe fähig. Seine
tiefe Liebe zu Imoinda, einer zur gleichen Zeit mit ihm versklavten jungen
afrikanischen Frau, findet ein tragisches Ende. Oroonoko sieht sich
gezwungen, Imoinda und ihr gemeinsames ungeborenes Kind zu töten, weil
er es nicht erträgt, zusehen zu müssen, wie sie von den weißen
Sklavenhaltern vergewaltigt wird und auch weil es für ihn unvorstellbar ist,
ein Leben lang auf der Plantage gefangen gehalten zu werden. Er selbst
wird bei lebendigem Leibe (trotzend – bis zuletzt Pfeife rauchend) von den
Weißen PlantagenbesitzerInnen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Oroonokos Verzweiflung und sein Streben nach Freiheit und Ehre sollte bei
dem weißen Publikum Empathie erwecken.
Die Autorin Aphra Behn platziert sich selbst in der Geschichte als
Oroonokos Vertraute. Oroonoko adressiert sie in der Erzählung als »Great
Mistress«. Das stellt eine doppelte Vergrößerung dar. Die Betonung liegt
zwar auf eine Nähe, aber vor allem auf einer komplementären Hierarchie.
Die Vermittlung weißer konsensueller rassifizierter Bilder verstärkt den
Komplex von rassistischem Wissen in der Erzählung. Behn betont
ausdrücklich, dass Oroonokos Antlitz keineswegs die eines ›typischen
Afrikaners‹ wären:
His face was not that of that rusty black which most of that nation are, but a perfect ebony, or
polished jet. His eyes were the most awful that cou’d be seen, and very piercing; the white of ‘em
being like snow, as were his teeth. His nose was rising and Roman, instead of African and flat. His
mouth the finest shaped that could be seen; far from those great turn’d lips, which are so natural to
the rest of the Negroes.[16]

Oroonoko ist also in Behns Vorstellung eine Ausnahme, ein durch und
durch ›untypischer Afrikaner‹. Oroonoko gilt als akzeptabel, weil Behn ihn
entlang einer weißen ästhetischen Differenzphantasie (ebenholzfarben, mit
schneeweißen Zähnen und aufsteigender römischer Nase) markiert.
Die in der Erzählung implizierte Gesellschaftskritik scheint sich eher auf
das gewalttätige Verhalten der ›Sklavenhalter(Innen)‹ zu beziehen und
keinesfalls grundsätzlich auf das weiße hegemoniale und imperialistische
System, welches die ›Haltung von Sklavinnen und Sklaven‹ ermöglicht und
sichert. Weißsein wird als humanistisch (in Behns Verständnis für und
Empathie mit Oroonoko und in der Empörung des weißen Publikums über
den dramatischen Ausgang der Erzählung) und wissend (indem Behn
Oroonoko berät und dann als Erzählerin seine ›Sicht‹ dem weißen Publikum
näher bringt) stilisiert. Die Phantasie der weißen Autorin ist dafür die
alleinige Grundlage. Eine fiktive Wahrnehmung fungiert als ›Wissen‹ über
Schwarze Menschen.
Die Verbreitung von phantasiertem ›Wissen‹ als Basis für die Erzeugung
rassistischen Wissens erweist sich als ein äußerst lukratives Geschäft (nicht
zuletzt aufgrund kolonialer Eroberungen). »Oroonoko became one of the
most internationally popular stories of the eighteenth century […] a
prototype for a vast literature depicting noble african slaves.«[17] Das
Stück wurde von Thomas Southerne unmittelbar nach der Publikation 1678
dramatisiert. Die Folgen dieses Theaterstücks waren tiefgreifend. Oroonoko
hat die Theaterlandschaft Londons nachhaltig geprägt. Seit der ersten
Aufführung wurde es zu jeder Saison fast ein Jahrhundert lang aufgeführt.

DAS TICKET IN DEN MAINSTREAM[18] – RASSISTISCHES WISSEN ALS EIN


WEIßER KONSENS

Mit dem Konzept des rassistischen Wissens soll die Frage beantworten
werden, wie Machtsysteme mit Wissenssystemen verschränkt werden, um
legitimierte, abgesicherte Wissenskomplexe zu erzeugen und einen
rassifizierten gesellschaftlichen, einen weißen Konsens zu etablieren. Mark
Terkessidis beschreibt rassistisches Wissen als gesellschaftlich geteilte
Wissensbestände, in denen eine bestimmte institutionelle Ordnung
erkennbar wird. Als Basis des rassistischen Wissens definiert er Prozesse
der Objektbildung und der Vermittlung von Inhalten über diese
rassifizierten Objekte.[19] Der Informationsgehalt von rassistischem
Wissen scheint sich weitgehend (im Endergebnis) in der Reproduktion eines
hierarchischen komplementären Verhältnisses zu erschöpfen. Die
Herstellung dieser rassifizierten Ordnung wirkt dennoch integrativ. Wie
Daniela Marx feststellt, erkaufen sich weiße SprecherInnen ein durch die
Zustimmung zu und Beteiligung an der Produktion rassistisches Wissens
›Ticket in den Mainstream‹.
Die Anschlussfähigkeit rassifizierter Diskursformationen kann über die
Einhaltung der vier Rassifizierungsebenen beschrieben werden. Wenn
diskursive Inhalte oder Komplexe eine rassifizierte Markierungspraxis, eine
rassifizierte Differenzierungspraxis, eine rassifizierte hierarchische
Positionierungspraxis und eine rassifizierte Ausschluss- oder
Ausgrenzungspraxis aufweisen, dann kann davon ausgegangen werden,
dass sie an den Komplex rassistisches Wissen ›anschlussfähig‹ sind.
Die in der deutschen Sprachkultur weit verbreitete Verwendung des
Ausdrucks ›getürkt‹ oder der Redewendung ›etwas sei getürkt‹ wirkt in
erster Linie als eine rassistische Markierung. Subjekte mit einem türkischen
Hintergrund werden auf implizite Weise als ›unehrlich‹ oder ›schlitzohrig‹
konstruiert (rassifizierte Differenzierungspraxis). Implizit gilt die
unbenannte weiße Kategorie als ehrlich (und somit ›besser-als‹; rassifizierte
hierarchische Positionierungspraxis). Weißsein inszeniert sich als ›ehrlich‹
in Abhängigkeit zu der negativen Positionierung einer rassistisch
markierten Kategorie (Komplementarität). Die Ausgrenzungspraxis kann in
dem implizierten Ausschluss (türkischer Subjekte) aus dem Kollektiv der
›vertrauenswürdigen, ehrlichen (HändlerInnen)‹ verortet werden.
Möglicherweise kann das Folgen für alltägliche Handlungsbeziehungen
haben, etwa dadurch, dass suggeriert wird, dass man sich (in Geschäften)
vorsehen müsse. Die damit verbundene Wissensvermittlung, was ›türken‹
genau bedeutet, welches Wissen dieses über eine ganze Nation bzw. über
einen wesentlichen Teil der damit angesprochenen Gruppe zusammenfasst,
begründet die Anschlussfähigkeit zum Komplex des ›rassistischen Wissen‹.
Die Feststellung von Gloria von Thurn und Taxis in der Sendung
Vorsicht Friedmann hinsichtlich der AIDS-Prävention in afrikanischen
Ländern, man wisse »der Neger schnackselt gerne«, erfüllt nicht nur die
Funktion der Anschlussfähigkeit, sondern auch die der Zentrierung eines
weißen Kollektivs. Vom Bedeutungsgehalt her kann die Aussage kaum als
inhaltlich schwerwiegend bezeichnet werden. Sie ist dennoch zu einer viel
(wenn auch ironisch) zitierten und diskursiv verbreiteten Information in
Deutschland geworden.
In dem Artikel »Botschafter des Genusses« wird über einen
gemeinsamen Besuch Alfred Bioleks und Barbara Beckers in Addis Abeba
und Nairobi berichtet.[20] Beide nahmen in November 2003 an einem
Projekt zur AIDS-Prävention teil, eine Aufklärungsaktion der Stiftung
gegen AIDS und Weltüberbevölkerung. Dazu lautete Bioleks Stellungnahme
»Obwohl die Menschen dort inzwischen ja nicht mehr im Stamm leben,
sondern im Slum, verbieten alte Rituale ihnen immer noch, über Sexualität
zu reden. […]) Wir versuchen vor allem, die 14- bis 15-Jährigen
anzusprechen, bei denen man noch etwas machen kann.«[21] Biolek spricht
als weißer ›Wissender‹ über die Schwarze Bevölkerungen Äthiopiens und
Kenias. Die humanistische Verpackung entpuppt sich als eine weiße
Positionierung, die zeitgenössische afrikanische Lebensarten mittels
kulturalistischer Argumentationen als statisch und somit rückständig
definiert. Zwar wohnen ›die‹ nicht mehr im ›Stamm‹, aber die ›Slums‹ sind
der neue rückständige Lebenszusammenhang Schwarzer Gesellschaften in
afrikanischen Staaten.
Beide diskursive Positionen informieren die weiße deutsche
Bevölkerung über bereits bekannte rassistische Markierungen. Bewertungen
von Schwarzer Sexualität, Bilder sexueller Triebhaftigkeit und Devianz
werden mit implizierter weißer Kontrolle komplementar verbunden
(Überbevölkerungsargument). Die angenommene Differenz (alte Rituale)
wird artikuliert. Die hierarchische Positionierung wird in beiden Positionen
durch die Konstruktion der weißen Wissenden (deutlicher bei Biolek)
suggeriert. Der restliche Teil der Bevölkerung über 15 Jahren wird implizit
als ›verloren‹ (Auschluss) konstruiert – im Gegensatz zu den aufgeklärten
Weißen.
Durch die Beteiligung an rassifizierten Diskursen und der damit
zusammenhängenden Aktualisierung rassistischen Wissens entsteht eine
Verbindung zwischen weißen Sprechenden, die üblicherweise kaum
zusammengedacht worden wären. Gloria von Thurn und Taxis galt lange
Zeit als ein Schreckensgespenst ähnlich wie die Herausgeberin der
Zeitschrift EMMA, Alice Schwarzer.[22] Alfred Biolek firmierte lange als
eine progressiv denkende öffentliche Stimme. Durch die Rassifizierung
ihrer einzelnen Beiträge verbinden sich weiße Diskurspositionen zu einem
Diskursgeflecht und aktualisieren somit einen weißen hegemonialen
Konsens.

BEISPIELE FÜR DIE INTEGRATIVE WIRKUNG EINES RASSIFIZIERTEN ›OTHERING‹


UND FÜR DIE AKTUALISIERUNG DES WEIßEN KONSENS

Ein Beispiel für die integrative Struktur des rassifizierten Otherings und für
die Aktualisierungsfunktion weißer Beiträge in der (weißen) deutschen
Medienlandschaft ist eine Überschrift auf der Titelseite des Satiremagazins
Titanic zum Thema »Wahl des Bundespräsidenten 2003«. Unter einem Bild
des Schwarzen Entertainers Roberto Blanco ist zu lesen: »Bundespräsident
Blanco: Warum nicht mal ein Neger? Muss es denn immer ein Mann oder
eine Frau sein?« In einer Anzeige zu dieser Titanic-Ausgabe in der taz – die
tageszeitung wird dann unter anderem auf die Größe des Geschlechtsteils
von Herrn Blanco Bezug genommen.[23] Darin steht: »9 Zentimeter sind zu
kurz! Deshalb wird auch nicht Kai Diekmann Bundespräsident, sondern
unser potenter Neger: Roberto Blanco.«
Das Schwarze (männliche) Subjekt wird gewissermaßen einer dritten
›Genderkategorie‹ zugeordnet und somit markiert. Er ist also weder Mann
noch Frau – seine Geschlechtskategorie heißt ›Neger‹. Zur Natur seiner
Gruppe gehört offenbar ein großes Geschlechtsteil, auf jeden Fall ein
größeres als das eines weißen deutschen Mannes (in diesem Fall Kai
Dieckmanns). Darin besteht die Differenzierungspraxis. Implizit lautet die
Aussage weiter: ›andere N…‹ sind ebenfalls weder Mann noch Frau,
sondern ›Etwas‹ anderes. Darin besteht sowohl eine negative
Hierarchisierung und ein Ausschluss aus der Subjektposition weißer
Männer und Frauen.
Ironie wird als Brücke funktionalisiert, um Anschluss an rassifizierte
Diskurse und an der Produktion von rassistischem Wissen zu finden. Eine
(weiße) Satire-Zeitschrift, die sich als ›links‹ versteht, integriert sich in
einen weißen kollektiven Diskurskonsens durch eine scheinbare
Ironisierung, aber gleichzeitige Tradierung rassifizierter Vorstellungen und
Konstruktionen. Die ›erlaubte‹ Vermittlung diskursiver rassifizierter
Differenzbotschaften wird von ihrem ›linken‹ Standpunkt aus durch Ironie
legitimiert. Vor diesem Hintergrund können die rassistischen
Formulierungen sogar penetranter ausfallen als sich das bürgerliche Medien
erlauben würden.
Ein weiteres Beispiel für den integrativen Charakter der Aktivierung
rassifizierter weißer Diskurspositionen ist die öffentliche
Auseinandersetzung mit dem Fall des Vize-Polizeipräsidenten Hessens,
Wolfgang Daschner. Ihm wurde vorgeworfen, am 1. Oktober 2002 Markus
Gäfgen, den Entführer und Mörder des elfjährigen Frankfurter
Bankierssohns Jakob von Metzler, mit Folter gedroht zu haben. Daschner
wollte auf diese Weise den Täter dazu zwingen, das Versteck seines Opfers
zu enthüllen. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Ermittler davon aus, dass der
entführte Junge noch lebte. Daschner soll am Morgen des 1. Oktober 2002
den Hauptkommissar Ortwin E. angewiesen haben, den Jurastudenten
Gäfgen, der zu dieser Zeit als Hauptverdächtiger der Entführung Jakob von
Metzlers galt, zu bedrohen, wenn er nicht aussage, wo der Junge sei.
Das Verfahren gegen Daschner sowie eines weiteren ausführenden
Beamten hat eine bundesweite Diskussion entfacht, ob Folter unter
bestimmten Bedingungen erlaubt sein kann bzw. erlaubt werden dürfe. Vor
dem Frankfurter Landgericht sagte der 29-Jährige Markus Gäfgen, begleitet
von seinem Verteidiger Ulrich Endres als Rechtsbeistand, mit ruhiger
Stimme und in konzentrierten Formulierungen aus. Der ihm unbekannte
Kriminalbeamte E. habe ihm am frühen Morgen des 1. Oktober 2002
erklärt:
Bei weiterer Verweigerung von Angaben würden ihm Schmerzen zugefügt, wie er sie noch nie
erlebt habe. […] Der Beamte sei herangerückt und habe in drastischsten Formulierungen von
sexuellem Missbrauch durch ›Neger‹ in einer Zelle gesprochen. Schließlich habe ihn der
Kriminalbeamte, der jetzt auf der Anklagebank sitze, geschüttelt und auf den Brustkorb
geschlagen.[24]

Die gesamte Boulevardpresse zitierte das und wiederholte die


Foltervorwürfe Gäfgens. Dabei fällt auf, dass die Androhung der »noch nie
gekannten Schmerzen« gewissermaßen als Vorstufe gesetzt wurde für die
Folterung durch Vergewaltigung durch zwei (fiktive) Schwarze Subjekte.
Die als seriös geltenden Printmedien ignorierten vorwiegend die
rassifizierte Inhalte der Foltervorwürfe und berichteten vornehmlich zu den
Hintergründen des Falls (zu den eigentlichen Themen). Die Reaktionen der
Öffentlichkeit konzentrierten sich indessen darauf abzuwägen, ob Zwang
(bzw. angedrohte Folter) ein erlaubtes Mittel sein kann, um Täter unter
Druck zu setzen, wenn dadurch möglicherweise ein Menschenleben zu
retten sei.
Besonders hinsichtlich rassifizierten Otherings und die integrative
Funktion des weißen Konsens ist der Umgang mit den zwei offensichtlich
fiktiven Schwarzen Subjekten. In einer tragischen Geschichte, in der nahezu
ausschließlich weiße männliche Subjekte involviert sind, werden zwei
Schwarze männliche Subjekte diskursiv eingesetzt, um ein Bedrohungs-
oder Schreckensszenario aufzubauen. Genauso plötzlich wie sie diskursiv
eingeführt werden, gestaltet sich ihr diskursives Verschwinden und macht
Platz für die wirklichen Themen, um die es offenkundig geht. Es folgt eine
öffentliche Diskussion um Ethik und Menschenrechte. Diese bezieht sich
auf die Rechte und den Schutz von mutmaßlichen (weißen) Tätern.
Die zwei Schwarze Mitgefangenen werden nicht weiter personifiziert. Es
ist nicht klar, ob es sie überhaupt gibt. Es ist zu vermuten, dass dabei
hauptsächlich auf die als abweichend und als gefährlich konstruierte
sexuelle Potenz Schwarzer männlicher Subjekte angespielt werden soll. In
ihrer (konstruierten und fiktiven) Überzahl dem mutmaßlichen (weißen)
Täter gegenüber sollte Gäfgen offensichtlich noch weiter unter Druck
gesetzt werden und das Subjektseins eines als einzelnen Individuums
auftretenden Schwarzen Mannes relativiert werden.
Vor dem Hintergrund der europäischen Anti-Diskriminierungsgesetze
und der Berichte der Europäischen Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz ließe sich aber auch ein kollektives Recht Schwarzer Subjekte in
diesem Fall formulieren.[25] Die Androhung der Vergewaltigung durch
zwei schwarze Mitgefangene – in dem Zitat der Bild-Zeitung »zwei dicke,
fette Neger« – stellt in meinem Verständnis eine diskriminierende Praxis
dar. Daher wäre eine Untersuchung der Aussage des beschuldigten
Beamtens notwendig – und zwar nicht als Privatperson, sondern als
Vertreter des Staatsapparates. Genauso wäre zu überprüfen, auf welche
Weise die Boulevardpresse zu dieser Praxis beiträgt, in dem sie für eine
kritiklose oder gar reißerische diskursive Verbreitung von Inhalten sorgt.
Die Rolle der seriösen Printmedien und von solchen
Menschenrechtsorganisationen wie das DMI (Deutsche
Menschenrechtsinstitut) gibt Aufschluss über die integrative Wirkung von
Rassifizierung für weiße Kollektive. Sie sprechen sich gegen das Foltern
von mutmaßlichen Täter aus, ergreifen Partei für ihre Menschenrechte,
ignorieren jedoch völlig die mit der rassifizierenden Androhung
zusammenhängenden Menschenrechte rassistisch markierter Subjekte. Sie
üben keinerlei Kritik an den rassifizierten Inhalten der Foltervorwürfe oder
an der aufreißerischen Verbreitung dieser Inhalte durch die
Boulevardmedien. Sie de-thematisieren die darin enthaltene Rassifizierung,
d.h. koppeln diese Inhalte ab und beschäftigen sich mit den Themen, die
offensichtlich als die wesentlichen wahrgenommen werden. Die damit im
Zusammenhang stehende Verleugnung von Weißsein als eine vermeintlich
liberale oder gar humanistischen Strategie wirkt als ein weißer Konsens.
[26]
Ein letztes Beispiel für die Normativität rassifizierten Otherings als
integrative Ordnung wird entlang der zurzeit allgegenwärtigen rassifizierten
Konstruktion einer übernationalen, als ›islamistisch‹ definierten
Bedrohungsgemeinschaft erläutert. Diese diskursive und mediale
Darstellungspraxis hat zu einer Atmosphäre des Generalverdachts
gegenüber sämtlichen ›muslimisch aussehenden‹ männlichen Subjekten
geführt. Auf diese Weise sehen sich eine ganze Reihe von Individuen in
eine Kollektivität gezwungen: das betrifft insbesondere Männer im Alter
zwischen 18 und 60 Jahren, die entweder ihre kulturelle Herkunft in
arabischen Ländern haben und/oder arabisch aussehen und/oder arabisch
klingende Namen tragen und/oder muslimischen Glaubens sind, technische
Fächer studieren etc. Diese Personen bzw. Personengruppe wird als
›potentiell terroristisch‹ konstruiert und (mittels Rasterfahndung) markiert.
Die ›Natur‹ dieser Subjekte wird mit Attributen wie ›antidemokratisch‹,
›gewaltbereit‹ und ›rückständig‹ hinsichtlich der Frauenemanzipation
festgelegt und diskursiv verbreitet. Als ›islamistisch‹ konstruierte Subjekte
werden überdies als ›nicht-zugehörig‹ und als Bedrohung für die
›Zugehörigen‹ der weißen deutschen hegemonialen Gruppe
wahrgenommen.
Als Beispiel für die Aktualisierung rassifizierter Ausgrenzungspraxen
der (weißen) deutschen Gemeinschaft dieser Gruppe gegenüber soll eine
Aussage aus der Tagesschau von Donnerstag, dem 16. Mai 2002
herangezogen werden: In einem Kommentar zur Aufnahme des Diplom-
Ingenieurs Jamal Karsli in die FDP-Fraktion von Nordrhein-Westfalen wird
der ehemalige (inzwischen verstorbene) FDP-Fraktionsvorsitzende als
»Araberfreund Möllemann« bezeichnet.[27] Diese Bezeichnung verweist –
trotz ihrer Ironie – auf eine rassifizierte Differenzlinie zwischen einer
konstruierten arabischen bzw. ›islamistisch‹ bezeichneten Gemeinschaft
und einer als homogen und demokratisch konstruierten (weißen) deutschen
Gemeinschaft.
Die Betitelung Jürgen Möllemanns als ›Araberfreund‹ stellt in diesem
Zusammenhang eine Transgression, einen Übertritt einer anerkannten, weil
›logischen‹ Grenze dar. Die Aussage suggeriert, dass Möllemann aufgrund
seiner weißen Herkunft und Zugehörigkeit zur (weißen) deutschen Gruppe,
die (vermeintlich) ›grundsätzlich demokratischer Natur‹ ist, eigentlich
erkennen müsste, dass sich eine solche Nähe zu einem Mitglied aus der
anderen Gruppe, deren ›Natur als antidemokratisch‹ festgelegt wird,
verbiete. In der emotional aufgeladenen diskursiven Verbreitung dieses
Konflikts bleibt in der öffentlichen Meinung nicht die Person Jamal Karsli
als ein (möglicherweise) nicht geeigneter Kandidat für die FDP-Fraktion
stehen, sondern ein Bild davon, dass es sich um einen Mann islamischen
Glaubens bzw. islamischer Sozialisation handelt, dem beim ersten geringen
Anzeichen ›antidemokratischen Verhaltens‹ mit kollektivem weißen
Misstrauen und Auschlusspraktiken begegnet wird.

AUSBLICK: DER PREIS DER INTEGRATION INS WEIßE KOLLEKTIV


Im Anschluss an das letzte Beispiel soll im Ausblick zusammengefasst
werden, welche Gefahren in einem weißen Schulterschluss auch für weiße
Kollektive bestehen können. Ein besonders irritierendes Beispiel für den
hohen Preis der Integration ins weiße Kollektiv sind die aktuellen
Relativierungen der Verbrechen des ›Dritten Reiches‹ durch die weiße
deutsche Feministin und Herausgeberin der Zeitschrift EMMA, Alice
Schwarzer.
Schwarzer wird inzwischen als Expertin für den Themenbereich
»islamistischer Fundamentalismus und Frauen« gehandelt und ist
insbesondere in jüngster Zeit in konservativen und populistischen Blättern
vermehrt präsent. Zu den Themen »muslimische Frauen«, »Kopftücher«,
»Zwangsehen« oder so genannte islamistische Morde und Terrorakte ist
ihre Meinung auf Podiumsdiskussionen und in Interviews fast überall
gefragt. Ihre rassifizierten Aussagen können im engen Zusammenhang mit
einer Signalwirkung an das weiße deutsche Kollektiv betrachtet werden.
Alice Schwarzers aktuelle diskursiven Outputs und die darin vertretenen,
oftmals reaktionären weißen Positionen werden im Sinne eines ›integrativen
Angebots‹ verstanden.
Die Berichterstattung Alice Schwarzers und verschiedener Emma-
AutorInnen zum Thema ›Islamismus‹ (mit ihrem Höhepunkt in der
Veröffentlichung des Dossiers Fundamentalismus im Emma-Heft
Juli/August 1993) ruft seit längerer Zeit heftige Reaktionen in
transkulturellen-feministischen Zusammenhängen hervor. Ihre jüngsten
Relativierungen der Ausmaßes der NS-Verbrechens sind jedoch bislang
kaum kommentiert worden.[28] Das kann auch daran liegen, dass
Schwarzer diese Äußerungen am schärfsten in anderen europäischen
Printmedien (außerhalb Deutschlands) formulierte.
Normativer Bezugspunkt ihrer Äußerungen bildet gleichzeitig die Kritik
am Islamismus wie auch an dem Misserfolg von Toleranz gegenüber
›Fremden‹ in Europa. Vor dem Hintergrund der Irak- und Afghanistan-
Kriege und der 9/11-Anschläge konstatiert sie das Scheitern der
›multikulturellen Gesellschaft‹.
Nach dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam am 2. November
2004 wurde der Täter gefasst und als ›Islamist‹ identifiziert. In den Tagen
nach dem Mord wurde Alice Schwarzer zu einer gefragten öffentlichen
Stimme zum Thema ›Gefahr des Islamismus‹. Innerhalb von vier Tagen
fand die weiße deutsche Feministin in vier verschiedenen Printmedien
Gehör: Am 12. November 2004 erschien in der Welt am Sonntag ein von ihr
verfasstes Statement mit dem Titel »Gemeinsam gegen die dunklen Kräfte«.
Am 14. November 2004 veröffentlichte der Schweizer Sonntagsblick ein
Interview mit ihr unter dem Titel: »Islamisten sind gefährlicher als die
Nazis«. Am gleichen Tag erschien auch ein Interview in der
regierungsnahen italienischen Kommentar- und Analysenzeitung Il Foglio,
die von dem ehemaligen Sprecher Berlusconis, Giuliano Ferrara,
herausgegeben wird. Schließlich erschien einen Tag später die
Titelgeschichte »Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in
Deutschland« in der deutschen Wochenzeitung Der Spiegel. Darin berichtet
Alice Schwarzer ȟber den schwierigen Umgang der Deutschen mit
Musliminnen und den wachsenden Einfluss des Islam«.
Der Grundtenor Alice Schwarzers Position lautet: Der Anstieg des
Islamismus in Europa sei auf eine »falsche Toleranz« der Linken zurück zu
führen. »Die islamischen Fundamentalisten sind in den letzten 25 Jahren
von der Linken offensiv umarmt worden. Die Konservativen haben sich da
bedeckter gehalten« (Sonntagsblick). Der »pseudotolerante Multi-Kulti-
Differenzialismus« der 68er-Generation habe zur heute in Deutschland
vorherrschenden »Fremdenliebe« geführt. Die Niederlanden seien ein gutes
Beispiel dafür, wohin so eine falsche Toleranz hinführe. »Diese
selbstgerechten Fanatiker glauben, sie hätten selbst mitten in unseren
Demokratien das Recht, ›Ungläubige‹ abzuschlachten – um so jede Kritik
an ihrem Wahn mundtot zu machen« (Spiegel). Sich selbst zählt Alice
Schwarzer zu den »wenigen in Deutschland […], die das Ausmaß der
Gefahr« erkennen und benennen. Seit ihrem Iran-Besuch 1979 habe sie
unaufhörlich über den »Kreuzzug der Islamisten« berichtet, sei aber als
Reaktion nur als »Rassistin« bezeichnet worden – eine Reaktion, die auf
dem »Selbsthass« von Frauen beruhe.[29]
Laut Alice Schwarzer wäre der Islamismus eine »neue Variante des
Faschismus« (Spiegel). Im Sonntagsblick bekräftigt sie »Ich halte die
Islamisten für gefährlicher als die Nazis […]«. Ihre Begründung lautet:
»[…] weil sie wirklich im Weltmaßstab operieren. Der deutsche
Flächenbrand hatte ja noch Grenzen.« Auf den Ausruf des Interviewers:
»Den industrialisierten Judenmord der Nazis vergessen Sie!«, erwidert sie:
»Der Anti-Semitismus in der islamistischen Bewegung lässt ja nichts zu
wünschen übrig. Und tönt nicht anders als bei den Nazis« (Sonntagsblick).
Abschließend plädiert Alice Schwarzer für den »Schulterschluss […] mit
den aufgeklärten Muslimen« – »gegen den Terror der Dunkelmänner« (Il
Foglio).
Die Ermordung Theo Van Goghs schlug hohe Wellen im Vergleich zu
der des rechts-populistischen niederländischen Politikers Pim Fortuyn (die
gewissermaßen medial betrachtet nach dem ersten Schock sang und
klanglos verschwand). Die Diskussion der beiden Morde in der weißen
Öffentlichkeit (beide begangen durch junge Männer sozialisiert in den
Niederlanden) könnte unterschiedlicher nicht sein. Der weiße Täter im Falle
Pim Fortuyns erscheint als Individuum; es wird nicht von einer
grundsätzlichen Krise der weißen männlichen ›Gesellschaft und ihrer
inhärenten Gewaltbereitschaft‹ gesprochen. Bei dem als ›islamistisch‹
markierten Täter aber werden sämtliche markierte Themen (naive Toleranz,
Terrorbereitschaft, Koranschule, Kopftücher) abgespult.
Diese unterschiedliche Bewertung wirft offene Fragen nach der Funktion
Alice Schwarzers Schulterschluss mit dem weißen Kollektiv auf. Könnte
ihre Relativierung der NS-Verbrechen unkommentiert geblieben sein, weil
sie nicht in Deutschland gemacht wurden? Lautet die integrative Botschaft:
›Sie darf sich so äußern, so lange sie es in Deutschland nicht tut‹ oder ›So
lange sie es nicht in Deutschland ausspricht, müssen wir (das weiße
Kollektiv) nicht reagieren‹? Erweist sie dem weißen deutschen Kollektiv
letztlich womöglich sogar einen Dienst, in dem sie es anderen weißen
europäischen Kollektiven gegenüber (Schweiz, Italien) re-etabliert?
Ein kritischer Umgang mit Weißsein als Analysekategorie könnte dazu
beitragen, den Automatismus einer verkürzten Suche nach Antworten zu
gegenwärtigen europäischen Konflikten in dem konstruierten Status der
›Nicht-Zugehörigen‹ zu unterbinden. Die Dekonstruktion eines als
selbstverständlich angenommenen ›Zugehörigen-Status‹ des weißen
Kollektivs könnte Platz schaffen für eine tiefere und fundierte
Auseinandersetzung.

BIBLIOGRAFIE
Ahmed, Sara: Strange Encounters – Embodied Others in Post-Coloniality. London: Routledge, 2000
Biolek, Alfred: »Botschafter des Genusses.« In: Deutsche Bundesbahn mobil – Was uns bewegt
12/2003
ECRI, Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz: 3. Deutschland-Länderbericht.
Straßbourg: Europäisches Parlament, Juni 2004
Eggers, Maureen Maisha: Rassifizierung und kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und weiße
Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln auf der Ebene von Identität. Unveröffentlichte
Dissertation an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel, Juli 2005
Marx, Daniela: »Vom ›feministischen Schreckgespenst‹ zur gefragten Expertin. Alice Schwarzers
Islamismuskritik als Eintrittskarte in die Welt der Mainstream-Medien.« Unveröffentlichter
Aufsatz, Berlin 2005
Melbers, Henning: Der Weißheit letzter Schluss. Rassimus und kolonialer Blick. Frankfurt/M.:
Brandes & Apsel, 1992
Mills, Charles W.: Blackness Visible. Essays on Philosophy and Race. Ithaca: Cornell University
Press, 1998
The Racial Contract. Ithaca: Cornell University Press, 1999
Terkessidis, Mark: Psychologie des Rassismus. Opladen & Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998
Ware, Vron: Beyond the Pale. White Women, Race and History. London: Verso, 1996

ANMERKUNGEN
1 Der hier als Analyserahmen zugrunde gelegte Begriff ›rassifizierte Machtdifferenz‹ wurde im
Rahmen meiner Dissertation »Rassifizierung und kindliches Machtempfinden« entwickelt.
2 Die vier Rassifizierungsebenen sind in Auseinandersetzung mit Terkessidis’ Arbeiten zum
»Apparat des Rassimus« entwickelt worden, vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 74-
81.
3 Differenz bezieht sich in diesem Beitrag nicht auf tatsächlich vorhandene Unterschiede
zwischen Menschen und Gruppen, sondern auf die Konstrukthaftigkeit und die
interessensgebundene Aufladung von ›Unterscheidungskriterien‹ und
›Unterscheidungmerkmale‹.
4 Vgl. Mills: The Racial Contract.
5 Vgl. ebenda, S. 11, 18.
6 Ebenda, S. 9.
7 In: ebenda, S. 19.
8 In diesem Beitrag gilt der Fokus dem ›Racial Contract‹, es ist jedoch m. E. weder möglich noch
sinnvoll, einen ausbeuterischen Vertrag isoliert zu betrachten. Vielmehr müssen miteinander
verschränkte ausbeuterische Verträge als einander stützend betrachtet werden. Die Begriffe des
›rassistischen Sexismus‹ oder ›rassistischen Klassismus‹ sind als Ergebnisse solcher ineinander
verwobener Ausbeutungsverträge aufzufassen, die spezifische Folgen für Schwarze Frauen oder
Schwarze politische Systeme haben.
9 Ebenda, S. 11.
10 Vgl. ebenda, S. 71, und: Ders.: Blackness Visible, S. 73-75. (Hegel knüpft auch an Kants
rassifizierte Demarkierung des Rationalitätskonzept an und begründet eine eurozentrische
Hierarchie menschlichen Daseins: »Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den
natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; … es ist nichts an das
Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“ Hegel zit. nach: Melber: Der
Weißheit letzter Schluß, S. 29.) Siehe dazu auch Arnold Farr im vorliegenden Band.
11 Vgl. Mills: Blackness Visible, S. 212-214.
12 Vgl. Ahmed: Strange Encounters.
13 Mills: The Racial Contract, S. 18-19.
14 Vgl. Ware: Beyond the Pale, S. 50.
15 Figuren wie der Schwarze männliche Erwachsene in Robinson Crusoe, genannt ›Man Friday‹
(weil er am Freitag ›gefunden‹ wurde), sind hierarchisch und komplementär positioniert. Ein
weißer Mann kommt an einen Ort an, wo er fremd und offensichtlich verloren ist. Von den
Lebensbedingungen hat er vermutlich keine Ahnung. Dennoch wird er nicht von dem dort
ansässigen Schwarzen Mann unterworfen und zum Dienst als Aushilfe herangezogen, sondern
auf ›selbstverständliche‹ Weise verläuft der Prozess umgekehrt. ›Man Friday‹ wird sogar von
dem weißen Mann benannt und damit nicht nur markiert, sondern bekommt implizierte dadurch
erst eine Identität und wird in Abhängigkeit subjektiviert.
16 Ware: Beyond the Pale, S. 51.
17 Ebenda, S. 50.
18 Diese Überschrift geht auf einen Aufsatz von Daniela Marx zurück, vgl. Marx: »Vom
›feministischen Schreckgespenst‹«.
19 Vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 117-118 (marginalisierte rassifizierte Objekte,
d.h. Gruppen, Systeme, Individuen, Länder, Schwarze Menschen, afrikanische Regierungen,
islamische EinwanderInnen, Gemeinschaften von People of Color, die ersten BewohnerInnen
Australiens und ihre Kultur, etc.).
20 Auf die Rolle Barbara Beckers wird im Text nicht eingegangen. Es wirkt ›logisch‹, dass sie als
Schwarze dabei ist; als Schwarze Deutsche wird sie nicht positioniert und auch als ›Wissende‹
nicht. Sie wirkt wie eine Begleiterscheinung.
21 Biolek: »Botschafter des Genusses«, S. 8.
22 Auf Alice Schwarzers Rolle bei der Aktualisierung rassistischen Wissens wird an späteren Stelle
in diesem Beitrag eingegangen
23 Vgl. Titanic, Das Endgültige Satiremagazin, Oktober 2003, Nr. 10 (erschienen am 29.
September 2003) und: taz – die tageszeitung vom 28. September 2003.
24 Bild-Zeitung vom 25. November 2004: »Jakobs Mörder. Polizisten drohten mit sexuellem
Missbrauch in der Zelle«; vgl. auch u.a.: Der Tagesspiegel vom 25. November 2004;
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 2004.
25 ECRI: 3. Deutschland-Länderbericht.
26 Verleugnung von Weißsein in Anlehnung an Susan Arndts Beitrag in diesem Band.
27 tagesschau vom Donnerstag, den 16. Mai 2002, um 20.00 in der ARD.
28 Ein Artikel erschien unter dem Titel: »Alice Schwarzer tingelt durch TV-Shows und warnt vor
der islamistischen Weltverschwörung. Die sei ›gefährlicher als die Nazis‹«. In: junge welt vom
3. Dezember 2004 (Autorin: Christina Fischer). Dieser scheint eine Ausnahme zu sein.
29 Vgl. Marx: »Vom ›feministischen Schreckgespenst‹«.
PAUL MECHERIL
DER DOPPELTE MANGEL, DER DAS SCHWARZE
SUBJEKT HERVORBRINGT

In meinem Beitrag möchte ich andeuten, dass die Möglichkeitsbedingung


des Schwarzen Subjekts in der Struktur eines doppelten Mangels besteht.
Auf der einen Seite werden die nachfolgenden Überlegungen herausstellen,
dass ein unspezifischer und allgemeiner Mangel an Geschlossenheit und
Identität konstitutiv für den Status als Subjekt überhaupt ist. Diesem
Mangel ist – mit Bezug auf das Schwarze Subjekt – ein spezifischer Mangel
zugeordnet, der aus der hegemonialen Struktur des Rassismus resultiert. Die
Doppelstruktur des Mangels ist die Bedingung der Möglichkeit des
Schwarzen Subjekts, seines Selbstverständnisses, seiner Leidenschaft,
seiner Furcht, seines Widerspruchs und seines Widersinns, welche an die
Unterscheidung zwischen weiß und Schwarz gebunden bleiben – bis zu
dem Zeitpunkt, da sich das Schwarze Subjekt – was uns, ›Schwarzen (oder
zumindest: Schwarz-affinen)‹ Intellektuellen, die wir uns an seiner Existenz
intellektuell zu schaffen machen, unvorstellbar erscheint – aufgelöst hat.
Die defiziente Doppeltstruktur soll nachfolgend untersucht werden. Aus
Gründen der Dramaturgie wähle ich hierbei den zwar zur Reifikation
neigenden Ausdruck ›das Schwarze Subjekt‹; es sollte aber klar sein, dass
es mir um die Skizze einer strukturellen Realität geht, in der
Subjektivierungsprozesse stattfinden, die freilich empirisch an die
Komplexität, die Kontextualität und Dynamik des Wechselspiels einer
ganzen Reihe weiterer ›strukturellen Realitäten‹ (Klassen- und
Geschlechterverhältnisse) gebunden bleiben. Empirisch, also auf der Ebene
erleidbarer und beschreibbarer Verhältnisse, sind Prozesse und
(Zwischen-)Resultate der Subjektivierung nur sehr unzutreffend und
eingeschränkt mit ›das Schwarze Subjekt‹ beschrieben. Die Artifizialität der
Schreibweise, die das Subjekt als Schwarzes Subjekt nominalisiert, es
beschreibend in die Welt setzt, sein intellektuelles In-die-Welt-gesetzt-Sein
wiederholt, diese gekünstelte und gespreizte Rede, dieser Manierismus [im
Übrigen: eine doppelte Gespreiztheit, die das Hervorlocken des Subjektes
als solches und des Schwarzen Subjektes (oder auch: das Subjekt Frau, das
proletarische Subjekt etc.) umspinnt] soll anzeigen, dass es sich hier, mein
Text, um eine intellektuelle und ironisierenswerte, vielleicht sogar
notwendig zu ironisierende Praxis handelt.
Nehmen wir Louis Althussers Ideologiekonzept, ähnlich wie dies Stuart
Hall in der Kennzeichnung des ›strukturalistischen Paradigmas‹ der
Cultural Studies tut,[1] zum Ausgangspunkt, um zunächst über das
Verhältnis von ›Subjekt‹ und ›Diskurs‹ nachzudenken. Ideologie ist für
Althusser nicht räuberisch,[2] sie nimmt den Subjekten nicht etwas weg, sie
hintergeht sie nicht und täuscht sie nicht hinsichtlich ihrer ›eigentlichen‹
und ›wahren‹ Interessen. Vielmehr ist Ideologie produktiv. Sie erzeugt und
ermöglicht Subjekte dadurch, dass Individuen durch imaginäre ›große
Subjekte‹ (wie beispielsweise Gott oder die Nation) angerufen werden. So
ermöglichen Ideologien Welt- und Selbst-Verständnisse. Vermittels dieser
imaginären Repräsentationen werden aus Individuen Subjekte. Althussers
Interpellationskonzept beschränkt ›Ideologie‹ nicht allein auf ihre
materialistische Funktion, sondern betont die symbolische Funktion der
Ideologie für die Konstituierung von Subjekten. Das Individuum wird als
Subjekt identifiziert, wobei diese Identifikation insofern eine Art von
Verkennen darstellt, als das angerufene Subjekt als Produzent und Ursprung
der Bedeutungen dargestellt wird, deren Effekt es bloß ist.
Den Prozess der Subjektivierung denkt Althusser als Herrschaft, als
Unterordnung des Individuums unter die Regeln des kapitalistischen
Staates, die sich nicht alleine im Denken, sondern allgemeiner in der Praxis
und vermittels der Praxis des Subjektes vollzieht, in der sich das Subjekt
konstituiert. Herrschaft wendet sich also nicht gegen das Subjekt, sondern
verwirklicht sich durch das Subjekt. Bedeutsam an diesem Verständnis von
Subjektivierung ist, dass es gegenüber voluntaristischen Ansätzen auf dem
zweiten Teil des Marxschen Diktums, dass Menschen ihre Geschichte
machen auf der Grundlage von Bedingungen, die sie selbst nicht geschaffen
haben, insistiert und es weiterführt. Diese Bedingungen sind den Individuen
nicht äußerlich, sondern durchziehen sie in einer Weise, die sie in ihren
Erfahrungen, ihren Stellungnahmen, Wünschen und Ansichten konstituiert.
Freilich tendiert dieser Strukturalismus zu einem deterministischen
Verständnis, in dem Kategorien wie ›Abweichung‹, ›Widerstand‹, aber auch
›Unvorhergesehenes‹ nicht angemessen vorkommen.
Wenn nun aber – anders als bei Althusser – ›Ideologie‹ oder ›diskursive
Zusammenhänge‹ nicht als kohärente und durch ein Prinzip einheitlich
gestiftete, sondern als in sich uneinheitliche, widersprüchliche, mehrwertige
und uneindeutige Zusammenhänge angesehen werden, dann handelt es sich
beim Prozess der Subjektivierung selbst um einen uneinheitlichen,
widersprüchlichen, mehrwertigen und uneindeutigen Vorgang, dessen
Ergebnis nicht Kohärenz und Zentrierung ist. Es wird somit möglich, das
Subjekt als fragmentiert und dezentriert zu beschreiben, weil es sich im
Prozess der Anrufung oder Artikulation als ein solches, fragmentiert und
dezentriert, konstituiert. Und über diesen Punkt hinausgehend, ihn
radikalisierend, muss die Möglichkeit des Subjektes als analytisch von der
Mehrwertigkeit und Offenheit der Diskurse abhängig gedacht werden. Nur
weil das ›Subjekt‹ der Nichtabgeschlossenheit der Diskurse entspricht,
existiert es, so zumindest argumentieren Ernesto Laclau und Chantal
Mouffe in ihrem rigoros antiessentialistischen Ansatz.[3]
Laclau und Mouffe lehnen die Foucaultsche Unterscheidung zwischen
diskursiven und nicht-diskursiven Praxen ab. Alle Objekte konstituieren
sich ausschließlich als diskursive Objekte, da »kein Objekt außerhalb
jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist«.[4] Als
Diskurs bezeichnen sie eine aus der Praxis der Artikulation hervorgehende
›strukturierte Totalität‹. Was nicht artikuliert werden kann, liegt außerhalb
des Diskurses. Dieses ›Außen‹ kann nicht artikuliert werden, da
Artikulation allein innerhalb von Diskursen erfolgt. Diskurse sind keine
endgültig festgelegten, vielmehr offene und im Wandel befindliche
Zusammenhänge. Reartikulationen und Neuknüpfungen sind Prinzipien des
Diskurses. Diese beständige Unruhe, die sich in einem Feld der
Unbestimmtheit ereignet, wird durch die antagonistische Verfassung des
Diskurses vermittelt. Der Antagonismus ist die Grenze zwischen dem
Diskurs und seinem diskursiven Außen, er durchzieht den Diskurs aber
auch und unterläuft die diskursive Abgeschlossenheit, die ›endgültige
Naht‹. Der Antagonismus ist somit das Prinzip, das die Unmöglichkeit
eines endgültigen Abschlusses verbürgt.
Die artikulativen Verknüpfungen sind nie gänzlich und endgültig
vollzogen.
Somit kommt ein Niemandsland zum Vorschein, das die artikulatorische Praxis erst möglich
macht. Von daher gibt es keine gesellschaftliche Identität, die völlig geschützt ist vor einem
diskursiven Äußeren, das sie umformt und verhindert, das sie völlig genäht wird. Sowohl die
Identitäten als auch die Beziehungen verlieren ihren zwangsläufigen Charakter. Als
systematisches, strukturelles Ganzes sind die Beziehungen nicht in der Lage, die Identitäten zu
absorbieren. Da aber die Identitäten rein relationale sind, ist dies nur eine andere Art und Weise zu
sagen, daß es keine Identität gibt, die vollkommen konstituiert werden kann.[5]

Die diskursive Formation wird somit »weder durch die logische Kohärenz
ihrer Elemente noch durch das Apriori eines transzendentalen Subjekts,
noch durch ein sinnstiftendes Subjekt à la Husserl oder durch die
Einheitlichkeit der Erfahrung vereinheitlicht«.[6] Dem Typus von
Kohärenz, der einer diskursiven Formation zugeschrieben werden kann,
liegt vielmehr allein die Regelmäßigkeit der Verstreuung zugrunde.
Diskursive Zusammenhänge existieren nicht als einfach gegebene und
abgeschlossene Positivitäten,[7] sondern sie sind relational und
unvollständig, kontingent und unbestimmt. Die Unbestimmtheit eines
Diskurses wird nicht durch ein außerdiskursives Moment konstituiert,
sondern durch die Grenze zu dem Außen des Diskurses. Dieses Außen ist
konstitutiv für den Diskurs. Der relativen Unbestimmtheit eines diskursiven
Zusammenhangs, der aufgrund von Regelmäßigkeiten seiner Verstreuung
als ›diskursive Totalität‹ bezeichnet werden kann, muss zugleich aber eine
relative Bestimmtheit korrespondieren. Das Feld der Bedeutungen und
Identitäten ist weder absolut fixiert noch absolut nicht fixiert.[8] »Jedweder
Diskurs konstituiert sich als Versuch, […] das Fließen der Differenzen
aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren.«[9]. Dieser Prozess der Fixierung
von Identitäten kann als Hegemonie bezeichnet werden, wobei der
Hegemoniebegriff, den Laclau und Mouffe entwickeln, nicht darauf
aufmerksam macht, dass soziale Gruppierungen ihre Dominanz
durchsetzen, sondern auf kontingente Verfestigungen, auf den Prozess, der
eine kontingente gesellschaftliche Ordnung zum Ergebnis hat. Der
›Antagonismus‹ verunmöglicht den Abschluss des Sozialen, ›Hegemonie‹
hingegen verhindert den Schwund des Sozialen in dieser Unmöglichkeit.
Die partielle Fixierung von Bedeutung bezeichnen Laclau und Mouffe
als Knotenpunkte. Diesen durch die Praxis der Artikulation hergestellten
Knotenpunkten korrespondieren Subjektpositionen, die insofern als
diskursive Positionen zu verstehen sind. Als diskursive Positionen haben sie
»an dem offenen Charakter eines jeden Diskurses teil; infolgedessen
können die vielfältigen Positionen nicht gänzlich in einem geschlossenen
System von Differenzen fixiert werden.«[10] Das (kollektive oder
individuelle) Subjekt kann hierbei nicht als Ansammlung der Vielzahl von
antagonistischen Subjektpositionen beschrieben werden, weil diese
Auffassung nur einen ›Essentialismus der Trennung‹ befördern würde. Und
insofern sich Subjektpositionen nicht als getrennte Positionen je einzelner
in sich geschlossener Bedeutungen darstellen, ist das Subjekt Ausdruck
eines Mangels: »[T]he subject is the metaphor of an absent fullness.«[11]
Das Subjekt ›entsteht‹ nicht durch Identifikation und Artikulation, es
entsteht nicht durch das Investment und die Anrufung, weil es diese
Identifikation nicht ist, sondern vielmehr die Unmöglichkeit der
Identifikation; aber auch diese Unmöglichkeit ist es, das Subjekt, nicht.
Man könnte also sagen, dass die paradoxe Struktur des Subjektes darin
besteht, dass es mehr und weniger ist als das, womit es sich identifiziert,
dass es das ist, womit es sich identifiziert, und es nicht ist und dass das, was
mehr oder weniger ist, als das, womit es sich identifiziert, fullness,
abwesend ist. Genau diesen Aspekt hat Slavoj Zizek in einer Lacanschen
Interpretation der Laclauschen Überlegungen hervorgehoben: »The subject
is a paradoxical entity which is so to speak its own negative, i.e. which
persists only insofar as its full realization is blocked – the fully realized
subject would be no longer subject but substance.«[12]
Salvoj Zizek erläutert die Mangelhaftigkeit des Subjektes an der
Hegelschen Herr-Knecht-Figur; für den Knecht gilt: »[T]he moment of
victory is the moment of greatest loss.«[13] Der Knecht wird in einer
Struktur konstituiert, in der er nicht, zumindest nicht mit dem Anspruch, zu
sich selbst kommen zu wollen, siegen, den Herrn und die Struktur ihrer
Beziehung besiegen kann. Denn sobald er siegt, wird er sich des Mangels
seiner selbst bewusst. Der Knecht träumt von der Abschaffung des Herr-
Knecht-Antagonismus. Zwar kämpft er für einen Zustand, in dem er zu sich
selbst kommen, er selbst sein kann. Dieser Zustand ist aber unerreichbar.
Insofern stellt der Herr die positive Verkörperung der knechtischen
Unmöglichkeit dar; er ist, Zizek greift den Hegelschen Ausdruck
›Reflexionsbestimmung‹ auf, der positive Spiegel, in dem sich die
Negativität des Knechts spiegelt, die Unmöglichkeit, mit sich selbst
identisch zu sein. Da dies umgekehrt nicht gilt, haben wir es in der Herr-
Knecht-Figur mit einer asymmetrischen Reflexionsbestimmung zu tun.
Diese ist überall dort relevant, wo Subjektpositionen in einem binären
Schema der Über- und Unterordnung verteilt sind: der und die
Heterosexuelle als Reflexionsbestimmung der lesbischen oder schwulen
Position, Whiteness (Europeanness, oder, wenn man so will:
Zivilisationness …) als Reflexionsbestimmung des Schwarzen,
muslimischen Anderen, der Mann als Reflexionsbestimmung der Frau:
»[M]an is the reflexive determination of women’s impossibility of
achieving an identity with herself (which is why woman is a symptom of
man).«[14]
Das Konstatieren des Mangels an fullness, einer Ganzheit, die es nie
gegeben hat, des Mangels, identisch mit sich selbst zu sein und das
Konstatieren des Verlustes des Mangels in der Erfahrung und der Einsicht,
dass das Mit-sich-selbst-identisch-Sein eine Illusion ist (»loss of the loss«)
[15], geht aber mit zwei Verkürzungen einher. Erstens operieren von einer
Lacanschen Psychoanalyse inspirierten Subjekttheorien (Laclau, Zizek) mit
der Unterstellung eines Bedürfnisses nach Komplettierung.
Diese Unterstellung ist nicht deshalb problematisch, weil sie auf einen
(Totalitäts-)Mangel des Subjektes hinweist, der durch die Sprache der
Anderen, das Symbolische eingebracht wird und der die Bedingung für
Subjektivität darstellt (das Subjekt verfehlt sich in der Reflexion).
Schwierig ist vielmehr, dass in universalistischer Manier der Drang nach
Kompensierung des Mangels ubiquitär geltend und allgemein gesetzt wird.
Diese Setzung ist aber nur unter der allgemeinen Voraussetzung plausibel,
dass ein, was immer dies heißen soll, vorsprachliches und ›ungeteiltes Ich‹
die (Erinnerungs-)Spur bezeichnet, auf deren Fährte sich das mangelhafte
Subjekt defizitär begibt. In diesen Zusammenhang passt auch Slavoj Zizeks
in ihrer Undifferenziertheit naive Kommentierung des kolonialen Eingriffs
als einer Intervention, die eine vorhergehende in sich geschlossene Identität
durcheinander bringe.[16] Zizek, Lacan folgend operiert er mit einer
starken Vorstellung von Kontinuität, die ihren paradiesischen Anfang an
einem Zustand vollkommener, deshalb unbenannter Übereinkunft nimmt.
Was aber wäre, wenn ein mögliches Subjekt sich, ohne dass ihm dies
bewusst ist oder auch nur bewusst sein kann, seinem Mangel hingäbe (und
ihn durch Hingabe an den Topos des Mangels aufhöbe, ohne der Illusion
aufzusitzen, der Mangel sei irrelevant) und nicht fortwährend, aber
zuweilen einem vermeintlich ›irgendwie‹ gegebenen und dadurch
relevanten Zustand der Unzerstückeltheit, einem Zustand, der dem
Imaginären und der Zergliederung durch die ›Selbst‹-Gegenüberstellung im
nichtsprachlichen und sprachlichen Reflexiven enteilt ist, nicht
hinterheragiert – sei es in resignierter Haltung oder als Phänomen des
tatsächlich Zur-Sprache-gekommen-Seins, das als prekäres und
undurchschaubares Verhältnis erfahren und praktisch bejaht wird?
Die zweite Verkürzung der Ansätze, die das Subjekt als Mangel denken,
besteht in einer unzureichenden Differenzierung. Die Herr-Knecht-
Dialektik wird von Slavoj Zizek als allgemeine Figur kommentiert, in der
gesellschaftliche Verhältnisse der Über- und Unterordnung nur insofern
bedeutsam sind, als sie einen (asymmetrischen) Raum der Projektion der
Unmöglichkeit abgeben, mit sich selbst identisch zu sein:
[It] is not the external enemy who is preventing me from achieving identity with myself, but every
identity is already in itself blocked, marked by an impossibility, and the external enemy is simply
the small peace, the rest of reality upon which we ›project‹ or ›externalize‹ the instrinsic,
immanent impossibility.[17]

Doch ›der Feind‹ ist nicht allein sublime Referenz einer verlagerten
Verortung subjektiver Unmöglichkeit, er ist auch ›real‹, er (konkretes
Gegenüber wie Struktur eines Raumes) verhindert, verbietet und untersagt.
Um ein Beispiel zu geben: Die rassistische Figuration (weißer Herr,
Schwarzer Knecht) wird nur bedingt erfasst, wenn die Unmöglichkeit, ein
mit sich selbst identisches Subjekt zu sein, nicht mit Blick auf die Spezifität
des rassistischen Komplexes betrachtet wird, der racialised subjects
hervorbringt. Durch das Wissen, ein ›Anderer‹ zu sein, werde ich dem
Wissen und der affektgenerativen Struktur unterworfen, die mich zum
Anderen macht – dieser Andere ist in der rassistischen Figuration aber ein
spezifischer Anderer, der einen spezifisch unmöglichen Traum einer
postrassistischen Identität träumt. Vervollständigt wird dieser
Zusammenhang der Inferiorität/Superiorität durch die spezifische
Angewiesenheit der anderen Seite: »Die Engländer sind nicht deshalb
rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die
Schwarzen nicht wissen, wer sie sind.«[18]
Ansätze, die das Subjekt als prinzipiell defizitäres Phänomen denken,
tendieren dazu, spezifische Mängel, Knappheiten und Unzulänglichkeiten
zu vernachlässigen. Diese Tendenz zur Ausblendung spezifischer
Verhältnisse der Über- und Unterordnung und der Vernachlässigung ihrer
Relevanz für Subjektivierungsprozesse kann in den Zusammenhang der
Dominanz eines Psychoanalytizismus gestellt werden. Zwar kann nicht
bestritten werden, dass ›das Psychische‹ ein bedeutsamer und sozusagen
autopoietischer Zusammenhang der Konstituierung des Subjektes ist. »Aber
dies ist etwas ganz anderes«, so führt Stuart Hall dies im Zuge einer Kritik
am »strukturalistischen Strang« der Cultural Studies aus, »als die
Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse, im Sinne besonderer
Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen, einfach beiseite zu lassen
und sie ausschließlich auf der Ebene unbewusster psychoanalytischer
Prozesse zu lokalisieren.«[19]
In einem doppelten Mangel - dem allgemeinen subjektkonstitutiven
Mangel an fullness und dem spezifischen aus der hegemonialen Struktur
des Rassismus resultierenden Mangel – kommt das Schwarze Subjekt zu
sich und der Welt, einer Welt, die ihm, erst dadurch können wir überhaupt
sinnvoll von ›Subjekt‹ sprechen, einen Spielraum des Handelns, der
Aneignung und Schaffung von Selbstverständnissen, der Gegenwehr und
des Widerstreites zugesteht, der freilich an die Struktur gebunden bleibt, die
ihn hervorbrachte. Das Schwarze Subjekt ist eine Spiegelung und, sobald es
sich selbst erfährt und es erfährt sich immerzu selbst, eine Selbst-
Spiegelung; es ist eine Spiegelung von Spiegelungen von Spiegelungen. Es
kommen Sätze vor, Erinnerungen, vergebliche Versuche, es kommt eine
Bitterkeit vor, die nur aus der Erfahrung rassistischer Herabwürdigung
resultieren kann, deren Subtilität die Sprachen verschlägt, deren
Unverfrorenheit Wut gefriert. Es kommen Sätze über Sätze, Erinnerungen
über Erinnerungen, Sprachlosigkeiten über Sprachlosigkeiten vor, die sich
zu einem Leben aufschichten, das an den Beulen, die es sich in der Praxis
der Gebundenheit zufügt, Befreiung ebenso wie Resignation erfährt, das
gewusst wird, das unerreichbar ist, das sich dem Lebenden entzieht und ihn
als Schwarzes Subjekt in die Welt einführt, ihn in der Welt bestätigt.
Welche Effekte nun aus dem praktischen Leben, den widerständigen
Praxen der intentionalen Gegenwehr oder auch der gleichsam
versehentlichen Verrückung durch illegitime Nachahmung resultieren, wie
sie Bhaba untersucht hat,[20] scheint mir eine sinnvolle Frageperspektive
einer kritischen Wissenschaft zu sein, die unter einer sowohl
Repressionsverhältnisse beobachtenden wie Machtverhältnisse in einer
totalisierenden Perspektive bedenkenden Einstellung die wechselseitige,
gleichwohl ›bivalente‹ Gebundenheit von Schwarz und weiß aufhebt.

BIBLIOGRAFIE
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Bhabha, Homi K.: »Signs Taken for Wonders. Question of Ambivalence and Authority Under a Tree
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Hall, Stuart: »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies.« In: Karl H. Hönring & Rainer Winter
(Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1999, S. 13-42
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Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of Our Time. London & New York: Verso, 1990
& Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus.
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Zizek, Slavoj: »Beyond Discourse-Analysis.« In: Ernesto Laclau (Hrsg.): New Reflections on the
Revolution of our Time. London & New York: Verso, 1990, S. 249-260
Die Tücke des Subjekts. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001

ANMERKUNGEN
1 Vgl. Hall: »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«.
2 Althusser: Marxismus und Ideologie.
3 Laclau & Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie.
4 Ebenda, S. 157.
5 Ebenda, S. 162.
6 Ebenda, S. 155.
7 Ebenda, S. 162.
8 Ebenda, S. 163.
9 Ebenda, S. 164.
10 Ebenda, S. 168.
11 Laclau: New Reflections, S. 63.
12 Zizek: »Beyond Discourse-Analysis«, S. 254.
13 Ebenda, S. 252.
14 Ebenda, S. 253.
15 Ebenda, S. 252.
16 Ders.: Die Tücke des Subjekts, S. 349-350.
17 Ders.: »Beyond Discourse-Analysis«, S. 252.
18 Hall: »Ein Gefüge von Einschränkungen«, S. 93.
19 Ders.: »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«, S. 38.
20 Vgl. etwa: Bhabha: »Signs Taken for Wonders«.
GRADA KILOMBA
NO MASK

The mask that I want to refer here to, is not the conceptual mask described
by Frantz Fanon, but rather a factual one: the mask of speechlessness. This
mask was a very concrete piece, a real instrument, which became a part of
the European colonial project for more than three hundred years. It was
composed of a bit or a horn, placed inside the mouth of the Black subject,
clamped between the tongue and the jaw, and fixed behind the head with
two strings: one surrounding the chin, and the second surrounding the nose
and the forehead. Formally, the mask was used by white masters to prevent
enslaved[1] Africans from eating sugar cane or cacao beans, while working
on the plantations, but its primary function was to implement a sense of
speechlessness, inasmuch as the sealed mouth was, at the same time, a place
of torture and a place of muteness. The mask represents, in this sense,
colonialism as a whole. It symbolizes its brutal and sadistic politics of
conquest and the white racial fear of dispossession, reminding us of how a
plausible anxiety of speaking might also carve the Black imaginary.
In this article I intend to remember this mask as a symbol of
speechlessness and of violence, and how these are employed within
academic spaces. I begin, therefore, with the question: how come African
and African diaspora people have been so radically disfigured as speaking
subjects? followed by: how is this disfiguration – speechlessness and
violence – performed within scholarship?

THE FASTENED MOUTH


Within colonialism the mouth becomes the organ of oppression par
excellence, it represents the organ whites want – and need – to control. In
this particular scenario, the mouth is a metaphor to possession and
acquisition. It is fantasized that the Black subject wants to possess
something which belongs to the white master, the plantation. She or he
wants to eat it, to devour its fruits. Although the fruits and the plantation do
›morally‹ belong to the colonized, the colonizer interprets it perversely,
reading it as a sign of robbery. »They want to take what is (not) mine«.
Denial plays here a crucial role, the master denies its project of colonization
and projects it onto the colonized. »They want to take what is mine«. In
racism this mechanism of denial is used to maintain and to legitimate
violent structures of racial exploitation. This is based upon processes in
which split off parts of the psyche are projected out into the ›Other‹, who
becomes a screen of projection for what the white subject designated as
taboo. The colonized becomes then a representation of what the white
master fears to knowledge about itself: the violent thief, the indolent and
malicious robber. Such brutal aspects are asserted on the ›Other‹, allowing
the white subject to look at itself as morally ideal, correct, virtuous, honest,
democratic, impartial. Here, whiteness can assume itself not as the
impersonator and actor of colonialism, but rather as its victim. As the
victim of an assault. To mask the mouth of the Black subject, is then to
interrupt this fantasmatic assault and to control who within colonialism can
possess or acquire.
Another aspect of the fastened mouth is its link with muteness. The
mouth symbolizes speech and enunciation, and therefore, it must be
severely confined. What could the Black subject say, if her or his mouth
were not sealed? And what would the white subject have to listen to? There
is an apprehensive fantasy that if the colonial subject speaks, the colonizer
will have to listen. It would be forced into an uncomfortable confrontation
with other truths. Truths, which have been kept quiet, as secrets. This
phrase ›quiet as it’s kept‹ is an expression of the African diaspora, which
announces how someone is about to reveal what is presumed to be a secret.
Collective secrets of racist oppression and denied aspects of a ›dirty‹ history
would be revealed. In order to deny knowledge of its own ›dirt‹ or savagery
and of itself as responsible, the white subject has to maintain the fantasy,
that only its own words, only its own speech is true, valid, authentic and
authoritative. The mask serves, in this sense, to protect the white subject
from ›Other‹ knowledges.
But, the mouth symbolizes not only speech and enunciation, but also
possibility – the possibility of saying ›yes‹ or ›no‹. Yet, the mask controls
this possibility. The Black subject can neither say one nor the other, it
becomes impossible. In the realm of racism and colonialism there is no
possibility. There is no ›yes‹ or ›no‹. We become nothing, (no)body, an
object – a machine – dispossessed of any authority to speak. The sealed
mouth guarantees this condition, in which the Black subject is constructed
as fundamentally different from the white subject, that is, as a speechless
object. The mask maintains, therefore, the fiction that only the white subject
can speak.

THE VIOLENT CENTER


This center, that I refer to here as the academic center, is a white location
where we have been denied the privilege to speak. Historically, it is a space
where we have been voiceless and where theoretical discourses have
constructed us as silent, as mute and as inferior. The academic center has,
therefore, a very problematic relationship with Blackness. Here, we have
been researched, described, classified, exhibited, desired and killed. And in
this sense, the university is not only a space of knowledge and wisdom, of
science and scholarship, but also a space of violence. V– i– o– l– e– n– c– e
and S– p– e– e– c– h– l– e– s– s– n– e– s– s. That space where we were
made the objects »of predominantly white aesthetic and cultural
discourses«,[2] but we have rarely been the subjects. bell hooks argues that
only those who »have the right to define their own reality, establish their
own identities, name their history«,[3] are subjects. As objects, however,
our reality is defined by others, our identity created by others, our »history
named only in ways that define [our] relationship to those who are
subjects«.[4] We have indeed been the objects, not the subjects of our own
history.
The position of objecthood which we commonly occupy, that place of
›Otherness‹, does not indicate a lack of resistance or of interest, as it is
common to believe[5], but rather a lack of access to representation by
Blacks themselves. It is not that we have not been speaking, but instead that
our voices have been systematically disqualified, or represented by whites,
who ironically become the ›experts‹ of ourselves. We are, in this sense,
sealed in the mask of speechlessness.
Since long that we have been producing independent and specialized
knowledge, but as Patricia Hill Collins argues,[6] because we lack control
over the societal apparatuses, the articulation of our own perspective and
discourse become extremely difficult, if not unrealizable. When groups are
unequal in power, she adds, they are, as well, unequal in their access to the
resources which are necessary to implement their own voices, outside the
group. In other words, as long as we are denied positions of authority and
command within the academic rooms, the concept of what true scholarship
is prevails intact – it remains an exclusive and unquestionable ›property‹ of
whiteness.
Since structures of knowledge validation are controlled by the white
subject, we are not dealing with a simple apolitical study of truth, but rather
with the reproduction of power relations. It is not an objective scientific
truth, which we encounter in the academic rooms, but rather the result of
unequal power relations, which define what counts as true and in whom to
believe. The themes, the paradigms and the methodologies of traditional
scholarship[7] – the so called epistemology – reflect the specific political
interests of a white colonial patriarchy. Epistemology as the Greek words
say: episteme = knowledge and logos = science, is the science of the
acquisition of knowledge. It determines which questions merit to be
questioned (themes); how to analyse and explain a phenomenon
(paradigms), and how to conduct a research to produce knowledge
(methods). It defines, therefore, not only what true scholarship is, but also
in whom to believe and trust. But who is asking the questions? And to
whom are the answers?
Any scholarship which does not convey this eurocentric knowledge
validation is rejected, on the ground that it does not constitute true and
credible science. Since Black people experience a different reality than
white people, we also question, interpret and write this reality differently.
We pose ›Other‹ questions and encounter ›Other‹ answers. The themes, the
paradigms and the methodologies to explain this ›Other‹ reality differ from
the dominant, as a result our discourses have been continually distorted
from what counts as valid knowledge. This exclusion from the institutional
structures and their agendas announces that the right to do scholarship is
intrinsically linked with racial power and racial authority. At this moment, I
inevitably have to ask how can I, as a Black woman, produce knowledge in
an arena which systematically constructs the discourses of Black scholars as
less valid? Within such masterful constellation white discourses are
invariably secured at the center, while the discourses of Black scholars
remain a the margins, as deviating from the white norm. When they speak is
scientific, when we speak is unscientific.
Universal / specific;
objective / subjective;
neutral / personal;
rational / emotional;
impartial / partial;
they have facts, we have opinions;
they have knowledge, we have experiences.[8]
These are not simple semantic categorizations, they own a dimension of
power which maintain hierarchical positions and upheld white supremacy.
Indeed, we are not dealing here with a ›peaceful coexistence‹ of words, as
Jacques Derrida emphasizes, »but rather with a violent hierarchy«,[9] which
defines who can speak.

THE MASK AND THE VIOLENT CENTER


As a scholar, I am commonly told by white colleagues, that my work is very
interesting, but not really scientific, a remark which illustrates this violent
hierarchy in which Black scholars reside: »You have a very subjective
perspective«; »You are very personal«; »I find it too emotional«; »This
seems to be very specific«; »That’s your opinion!« »You should be less
partial;« »Are these objective facts?«; or »You do over-interpret, you must
think that you are the queen of interpretation!«. Such comments, reveal the
endless control over the Black subject’s voice and the longing to govern and
to command how we approach and interpret reality. The ›dirty‹ reality. The
comments function as a mask which urgently have to silence our voice.
By using these remarks the white subject is assured of its sense of power,
and of its own authority over a group labeled as ›less knowledgeable‹. The
last comment, in particular, have two powerful moments. The first moment
is a form of warning which describes my standpoint as a distortion of the
truth, expressed here through the word ›over‹. The female colleague was
warning me that I am reading over, beyond the norms of monolithic
epistemology, and therefore, I am producing invalid knowledge. It seems to
me that this idea of over-interpretation addresses the thought that, the
oppressed is seeing ›something‹ which is not to be seen, is saying
›something‹ which not to be said. Curiously, in feminist discourses as well,
men try to irrationalize the thinking of women, as if such feminist
interpretations were nothing but a fabrication of the reality, an illusion,
maybe even a female hallucination. Within this constellation it is the white
woman who irrationalizes my own thinking, and by doing so she defines to
the Black woman what ›real‹ scholarship is and how it should be expressed.
In the second moment, she speaks then of hierarchical places, of a queen
she fantasizes I want to be, but who I cannot become. The queen is a
metaphor for power. A metaphor, also to the idea that certain bodies belong
to certain places: a queen or a king do naturally belong to the palace of
knowledge, but not the plebeians, they can never achieve the position of
royality. They are sealed in their subordinate bodies. The metaphor
embodies thus the relationship between body, its social construction and the
inadequacy of dominant scholarship to relate to marginal experiences. The
comment is a fruitful combination of power, intimidation and control which
succeeds in silencing oppressed voices. Fruitful indeed, for I remember I
stopped writing for more than a month. I became temporarily voiceless. I
had a white out, was waiting for a Black in. So, I keep remembering Audre
Lorde’s words:
»And when we speak/ we are afraid our words will not be heard/ nor welcomed/ but when we are
silent/ we are still afraid./ So it is better to speak/ remembering/ we were never meant to survive«

Or we were meant to survive at the margins.

DISCOURSES OF PAIN AND OF RESISTANCE


Speaking about these positions of marginality evokes, of course, pain. They
are reminders of the places we can hardly enter. The places we never
›arrive‹ or ›can’t stay‹, because »our […] presence is a disruption«,[10] a
disturbance to the center. Such positions compel difficult explorations of
our cartography: they announce not only which places we can(not) occupy,
but also how we are marked and captived in peripheral places. This
›captivity‹ is linked with pain, for it restages a scene of a Colonial trauma.
Such pain must be spoken and theorized. It must have a place within
discourse, because we are not dealing here with ›privat information‹. Such
apparently ›privat information‹ is not privat at all. These are not personal
stories or intimate complains, but rather accounts of racism. And since
racism is a social problem, such personal interventions should not be seen
as opinions, but as Philomena Essed says, as »systems of knowledge«.[11]
They mirror the historical, political and social realities of ›race relations‹
within the academic spaces, and these should be articulated in both theory
and methodology. It is impossible for a Black scholar to write disembodied
from such pain and passion, as ›disembodied theorists‹[12], for we are
transgressing boundaries of speechlessness and violence. We are moving
between rigid and oppressive boundaries, between the margin and the
center.

THE MARGIN AND THE VIOLENT CENTER


The margin and the center that I am speaking of here, refer to the terms:
›margin‹ and ›center‹, as used by bell hooks. To be at the margin, she
argues, »is to be part of the whole but outside the main body«.[13] As she
recalls, she was part of a small Kentucky town, but the railroad tracks were
daily reminders that she was actually outside. They were reminders of her
marginality. Across those tracks was the center: stores she could not enter,
restaurants she could not eat in, and people she could not look directly in
the face. That was a world she could work in as prostitute, maid or servant,
but she could not live in. She always had to return to the margin. There
were laws to ensure her return to the periphery. And severe punishments for
those who would try to remain at the center. In this context of
marginalization, she argues, Black women and Black men develop a
particular way of seeing reality: both from the ›outside in‹ and from the
›inside out‹. This means, we focus our attention on both the center as well
as the margin, since our survival depends on this awareness. Since the
beginning of Slavery, we became experts of »psychoanalytic readings of the
white Other«,[14] and of how white supremacy is both structured and
performed. As Philomena Essed argues we are the experts.[15]
In this sense, the margin should not only be seen as a peripheral space, as
a space of loss and deprivation, but rather as a space of resistance and
possibility. It is a »space of radical openness«[16] and creativity – where
new critical discourses take place. It is here that oppressive boundaries set
by race, gender, sexuality and class domination are questioned, challenged
and deconstructed. In this critical space »we can imagine questions that
could not have been imagined before; we can ask questions that might not
have been asked before«.[17] Questions which challenge the hegemonic
discourses at the center and question its colonial authority.
But, speaking of the margin as a place of creativity can, of course,
convey the danger of romanticizing oppression. To what extent are we
idealizing peripheral positions and by doing so undermining the violence of
the center? Some authors argue that this is not a romantic exercise, but the
simple acknowledgment that the margin is a complex location which
embodies more than one site. The margin is both: a site of repression and a
site of resistance.[18] Both sites are always there: where there is oppression
there is resistance. Oppression forms the conditions to resistance. A deep
nihilism and destruction would penetrate us, if we would only consider the
margin as a mark of ruin or speechlessness, and not as a place of possibility.
In this sense, it is a location which nourishes our capacity to resist
oppression and to transform – to imagine alternative new worlds and new
discourses.

RACE AND PLACE


These new discourses remain often at the periphery since the work of Black
scholars has been displaced from the academic body, and its agendas. These
discourses, however, are not accidentally at the margin, they are placed
there by dominant regimes which regulate what true scholarship is, as I
wrote before. The fact that such discourses are absent at the center, reminds
me that we are dealing with a cartography in which race defines place.
Within this cartography whiteness signifies mobility, while Blackness
incarceration. Here, whiteness has theability to move, and this ability to
move results in the unmarking of the white body. That means, it results of
its absence or disembodiment. In contrast, Blackness is capitive at the
periphery, and this captivity results from its embodiment. It is the marking
of the Black body which, at the same time, fixes the limits of its space, as
Radhika Mohanram rgues.[19] Mohanram’s concept of space describes,
therefore, radical difference also as a spatial difference, since “the
inequitable power relationships between various spacesand places are
rearticulated as the inequitable power relations between races”.[20] This
injurious constellation between race and place, naturally, leads to the
frightening but realistic question: wich bodies can ideed enter the
university? Furthermore, if race and place are so interlocked and define
who can enter the academic rooms, then we also have to ask: who has
indeed the permission to produce knowledge?
In this sense, we inhabit a space where Black bodies must remain
voiceless and captive while white bodies can speak and circulate. They are
proper and unmarked bodies. An unmarked body is, at the same time, a
body marked by privilege. It is a body ›at home‹, ›in place‹. Improper
bodies on the contrary are out of place, and marked as fantasmatically
speechless and immobile, they cannot travel or circulate. Using Sara
Ahmed’s terminology we are »bodies with skin«[21]. She offers this
terminology of ›bodies with skin‹ to address the idea of racial and spatial
boundaries. The skin, she argues, is not simply invested with meaning as a
visual signifier of difference, as a visual object, which can be seen and
fetishized. The skin is also a border. It is a border which keeps the white
subject inside, and the ›Other‹ outside, as improper. And in this sense, it is
an informant of our place. Frantz Fanon articulates this dialectiv of race and
place within scholarship, when he writes:
There was a myth of the Negro that had to be destroyed at all costs. The time had long since
passed when a Negro priest was an occasion for wonder. We had physicians, professors,
statesmen. Yes, but something out of the ordinary still clung to such cases. ›We have a Senegalese
history teacher. He is quite bright. … Our doctor is colored. He is very gentle.‹ It was always the
Negro teacher, the Negro doctor; brittle as I was becoming, I shivered at the slightest pretext. I
knew, for instance, that if the physician made a mistake it would be the end of him and of all those
who came after him. What could one expect, after all, from a Negro physician? […] The black
physician can never be sure how close he is to disgrace. I tell you, I was walled in: No exception
was made for my refined manners, or my knowledge of literature, or my understanding of the
quantum theory. I request, I demanded explanations. Gently, in the tone that one uses with a child,
they introduced me to the existence of a certain view that was held by certain people, but, I was
always told, ›We must hope that it will very soon disappear‹. What was it? Color prejudice.[22]

Fanon describes how the skin is used by the white subject as a »seal«,[23]
and how difficult it is to escape the body and its racial constructions within
scholarship. The Black subject and its body are perversely constructed as
improper and as incompetent to the academic center, which remains, that
white violent space »where our words would be if we were speaking, […],
if we were there«.[24]
Every semester, on the first day, I always play a quiz with my students. I
start by posing very simple questions such as: Who wrote Black Skin, White
Masks? or »Who was May Ayim?« and conclude with more specific
questions. Most of the white students do not know the answers, while the
Black students answer successfully one question after the other. Suddenly,
those who are usually silent start speaking, while those who always speak
do not have a reply. Those whose history has been hidden, become
represented; while those whose history has been represented, become
speechless. Speechless, not because they do not possess the words, or the
mask, but rather because they do not possess ›that‹ knowledge. At this
moment, the whole class starts visualizing how the concept of knowledge
intrinsically linked with the idea of power and improper bodies, and with
the politics of racial and spatial exclusion. This is also a moment of
empowerment because we are rethinking and rearranging the relationship
between race, place and knowledge. In other words, we are questioning
scholarship, and as I wrote in the title of this article, with ›No Mask‹.

[This is in Remembrance of Our Ancestors]

BIBLIOGRAPHY
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Collins, Patricia Hill: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of
Empowerment. New York: Routledge, 2000
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Essed, Philomena: Understanding Everyday Racism. An Interdisciplinary Theory. London:
Routledge, 1981
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Difference. London: Sage, 1992, p. 252-259
hooks, bell: Feminist Theory. From the Margin to Center. Boston: South End Press, 1984
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Killing Rage. Ending Racism. New York: Owl Books, 1995
Mirza, Heidi Safia: Black British Feminism. A Reader. London: Routledge, 1997
Mohanram, Radhika: Black Body. Women, Colonialism and Space. London: University of Minnesota
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Nkweto Simmonds, Felly: »My Body, Myself: How Does a Black Woman Do Sociology?« In: Heidi
Safia Mirza (Eds.): Black British Feminism. A Reader. London: Routledge, 1997, p. 226-239

NOTES
1 I use the term enslaved Africans and not slave, to emphasize the fact that African and African
descent people were not slaves, but made slaves. The term enslavement focuses on this process
of becoming - becoming a slave -, that is, it unfolds the system of de-humanization which
characterized the politics of European Expansion. Because the term slave focuses only on the
individual, and not on the system of Slavery in which the individual lives, it often leads to the
commodious white fantasy that during this period being a slave was not an imposed, but rather a
natural condition for Africans, de-politicizing history. A sentence such as: ›The population was
composed by Europeans and slaves‹ differs from ›The population was composed by Europeans
and enslaved Africans‹. The second sentence implies always the subject of action and, therefore,
it forces us to ask: enslaved by whom? And how?
2 Hall: »New Ethnicities«, p. 252.
3 hooks: Talking Back, p. 42.
4 Ibid.
5 This assumption is expressed in sentences such as: »They are not here, because they are not
interested;« or »They are not here, because they are not that many.« Such sentences reveal a
massive unawareness of what racism is and how it functions.
6 Collins: Black Feminist Thought.
7 Ibid.; Nkweto Simmonds: »My Body, Myself«.
8 Black students routenly come to me and say their works have been rejected by other lecturers,
because the topic does not seem relevant, the literature list is unknown or their writing is not
scientific enough. The chain of metaphores are: too personal, too subjective, too partial, too
much based on experiences, too emotional – »please write something new!«.
9 Derrida: Positions, p. 41.
10 hooks: Yearning, p. 148.
11 Essed: Understanding Everyday Racism, p. 54.
12 Nweto Simmonds: My Body, Myself.
13 hooks: Feminist Theory, p. xvi.
14 hooks: Killing Rage, p. 31.
15 Essed: Understanding Everyday Racism.
16 hooks: Yearning, p. 149.
17 Mirza: Black British Feminism, p. 4.
18 hooks: Yearning.
19 Mohanram: Black Body. Women, Colonialism and Space
20 Ibid., p. 3.
21 Ahmed: Strange Encounters, p. 44.
22 Fanon: Black Skin, White Masks, p. 117.
23 Ibid., p. 9.
24 Hooks: Yearning, p. 151.
OBIOMA NNAEMEKA
BODIES THAT DON’T MATTER: BLACK BODIES AND
THE EUROPEAN GAZE

From his native land of darkness to the country of the free in the
interest of science and of broad humanity brought wee little Ota
Benga dwarfed, benighted, without guile scarcely more than ape
or monkey yet a man a while!
(The New York Times, September 10, 1906)

DÉJÀ-VU ALL OVER AGAIN


For centuries, the imperial inscription of inferiority, depravity, bestiality,
primitivism, and ›abnormality‹ on the Black body has served as justification
for the brutalization and dehumanization of the Black race. The power of
the mythologies of the African lies in its regeneration in perpetuity. In 1906,
Ota Benga, an African man spirited away from Central Africa, was put on
display in a monkey cage in the Bronx Zoo in New York City. A century
later in 2005, an exhibit planned for the Zoo of Augsburg, Germany, in the
racist tradition of ethnographic shows (Völkerschauen) raised the ire of the
African German community and unleashed a massive global protest letter –
writing to the director of the zoo, Barbara Jantschke. It’s déjà-vu all over
again!
The organizers of the Augsburg exhibit/event planned to set up an
›African village‹ in the zoo where »artisans, silversmiths, basket makers
and traditional hairdressers are grouped in a unique African savannah
landscape«. In her response to a protest letter from a Black Swiss, Ms.
Jantschke insisted that the zoo »is the exact place to fully confer the desired
exotic atmosphere«. The exhibit/event purporting to »nurture tolerance and
understanding among peoples« was nothing short of a reminder of the
outrageous, racist, eugenic practices of Nazi Germany and the exoticizing
of Africans in freak shows in Europe. In a strongly worded letter of protest,
the Initiative Schwarzer Menschen (ISD) and ADEFRA (Initiative of Black
Women in Germany/Black German Women) condemned the Augsburg
exhibit as a throwback to racist, colonial-era representations of Africans as
sub-humans and freaks of nature:
It is obvious that the conveners do not understand the historical implications of their project. Even
in Germany the ongoing impact of German colonialism and racism on African peoples are
nowadays debated in public. Reproducing colonial perspectives, which turns people of African
descent into exotic objects, into sub-humans or non-humans, harmoniously embedded in a
perpetual village life, serving as objects of observation and as inspiration to members of the
dominating, so-called majority population for future tourist expeditions, can hardly be interpreted
as an encounter on equal footing. After forty years of German colonialism and twelve years of
National Socialism the racist gaze is still very much alive in Germany.[1]

Focusing on the intersection of history, race and sexuality, this essay seeks
to expose the mind-set, inclinations, and ideologies that produced/produce
mythologies of the abject Black body, examine the mechanisms, agendas,
institutions, and discourses that are deployed to legitimize and sustain
mythologies of the Black world, and explain the inevitability of their
persistence.
In his book, The Anatomy of Racial Inequality, Glenn C. Loury argues
that it is not racial discrimination (i.e. how people are treated) that
marginalizes African Americans and hinders them from achieving their
goals, but rather ›racial stigma‹ which is about whom we understand
African Americans to be. But how do these racial stigma or stereotypes
emerge? They are usually opinions that are sustained not by reason but by
passion. Opinions are dangerous because they are not open to discussion;
they forestall scrutiny and engagement. In his study of anti-Semitism, Anti-
Semite and Jew, Jean-Paul Sartre argues that:
This word opinion makes us stop and think. It is the word a hostess uses to bring to an end a
discussion that threatens to become acrimonious. It suggests that all points of view are equal’s it
reassures us, for it gives an inoffensive appearance to ideas by reducing them to the level of tastes.
All tastes are natural’s all opinions are permitted. Tastes, colors, and opinions are not open to
discussion. In the name of democratic institutions, in the name of freedom of opinion, the anti-
Semite asserts the right to preach anti-Jewish crusade everywhere […] But I refuse to characterize
as opinion a doctrine that is aimed directly at particular persons and that seeks to suppress their
rights or to exterminate them. Anti-Semitism does not fall within the category of ideas protected
by the right of free opinion. Indeed, it is something quite other than an idea. It is first of all a
passion.[2]

The most pervasive and insidious stigmatization, stereotyping, and


prejudice derive from the visual because they forestall contact-race or
gender-based, for example. A racist does not have to make contact with a
Black to know that he/she is Black. He sees the Black and avoids him/her.
But to stigmatize a Marxist, one has to make contact and talk with him/her
to know his/her ideological leaning and in the process may discover other
aspects of the Marxist one likes. In other words, an anti-Marxist can love a
Marxist if he/she does not know that he/she is a Marxist. Contact creates the
possibility of absorbing complexity. Stigmatization is rooted in distance
(between ›Self‹ and the ›Other‹) and the ›something wrong‹. The
›something wrong‹ is evoked to maintain the distance and ensure
stigmatization. »I don’t hate Blacks but there is something about them that
rubs me the wrong way«:
There is disgust for the Jew, just as there is disgust for the Chinese or the Negro among certain
people. Thus it is not from the body that the sense of repulsion arises; rather it is something that
enters the body from the mind. It is an involvement of the mind, but one so deep-seated and
complete that it extends to the physiological realm, as happens in cases of hysteria. This
involvement is not caused by experience.[3]

The basis for prejudice is often neither empirical nor rational; rather, it is
anchored in mythologies from which pathologies are constructed and acted
upon. The inscription of criminality, immorality, abnormality, and
threatening sexuality on the Black body has a long and enduring history. It
is to the construction of ›Black icons‹ and its consequences that I now turn.

ICONOGRAPHY AS MYTHOLOGY
Studies in iconography show that icons represent the world; they do not
present it. Icons are totalizing constructs that are woven out of pieces of
reality and invested with mythic extension capable of homogenizing,
reifying, and codifying a group, occluding diversity and complexity, and
creating as it were a one-dimensional sketch (›un croquis‹) that lacks depth.
In iconographic constructions, isolated individual idiosyncrasies of
members of a group are projected onto the group-ultimately, essentializing
and/or pathologizing a group through time-specific acts of its individual
members. This mythic transformation of time-specific and location-bound
individual realities into an essentialist, a-historical, and universal collective
identification is mediated by the ideology of the observer/knowledge
producer as Jean-Paul Sartre argues in the case of an anti-Semite:
A young woman said to me: »I have had the most horrible experiences with furriers; they robbed
me. They burned the fur I entrusted to them. Well, they were all Jews.« But why did she choose to
hate Jews rather than furriers? Why Jews or furriers rather than such and such a Jew or such an
such a furrier? Because she had in her a predisposition toward anti-Semitism.[4]

Sander Gilman’s study of the ideologies that subtend iconographies of a


specific historical moment shows that the force of objectivity and authority
that medical conventions lent to aesthetic icons was symptomatic of the rise
of science in the nineteenth century. But the authority and legitimacy
occlude the fact that
medical icons are no more ›real‹ than ›aesthetic‹ ones. Like aesthetic icons, medical icons may (or
may not) be rooted in some observed reality. Like them, they are iconographic in that they
represent these realities in a manner determined by the historical position of the observers, their
relationship to their own time, and to the history of the conventions which they employ.[5]
›OTHER‹ BODIES: TRAVELS AND MYTHMAKING
In the Old World, nations and the distinctions of their
civilization form principal points in the picture; in the New
World, man and his productions almost disappear amidst the
stupendous display of wild and gigantic nature.
(Alexander von Humboldt, Personal Narrative)

I could not agree more with Alexander von Humboldt. The quasi-
disappearance of man (read ›native‹) is an enduring feature of European
travel writing. In the literature of 19th century imperial adventurism in
Africa, European travelers, and explorers, and missionaries – Mungo Park,
Paul Du Chaillu, David Livingstone, John Speke, Richard Burton, etc. –
mediated knowledge about the ›Dark Continent‹ and fixed Africans in the
European imagination. It is interesting to note that these encounters are
usually described as the Europeans’ ›contact with Africa‹ not ›contact with
Africans‹. Mary Louise Pratt’s study of 19th century travel writing identifies
two categories of texts – the informational text and the sentimental text.
Both created space between the observer and the observed although the
discourse in the latter is more dialogic in the Bakhtinian sense of the word.
According to Johannes Fabian, the physics rule that two bodies cannot
occupy the same space at the same time is applicable to the processes of
›Othering‹. In other words, ›Othering‹ mandates the separation of observer
and the observed. Space is necessary to maintain what Fabian calls the
›denial of coevaleness‹. I argue that the vertical (not horizontal) positioning
of the bodies separated by space inscribes a subject/object hierarchy of
unequal power relations. It is the vertical positioning of bodies that
valorizes both space and bodies.
Competing views on three ›scapes‹ – seascape, landscape, and
bodyscape – mark important differences between Africans and the
Europeans who came to dominate them. In Part I (›Nature of a Continent‹)
of the film series, The Africans, Ali Mazrui argues that Africans value the
sea for the sustenance it yields not the access it provides for dominating
others. Not surprisingly, there are no ›inglorious Nelsons‹ who were
African. In the narratives of European contact with Africa, discourse on
seascape are either absent or marginalized, and understandably so. The sea
has already performed its task – i.e., provide access. Thus, many of the
travelogues begin in medias res, so to speak, and their focus on landscape
and bodyscape are, therefore, understandable.
Narratives of imperial adventurism present tableaux of sites and
encounters but, more importantly, project ideologies of domination and
triumphalism on the canvass. In terms of engendering meaning, ideology is
a double-edged sword – on the one hand reductive in its homogenizing
strategy and on the other hand expansive in its capacity to proliferate
meanings. Thus, the opening up of Africa and Latin American to European
domination and capitalist exploitation positioned European explorers and
travelers as producers of knowledge about indigenous peoples that was
geared towards justifying and legitimating the European project of plunder,
domination, and expansion. Grounded in the ideology that land matters and
Africans don’t count, the literature of imperial adventurism »reverses and
refuses heroic priorities; it narrates place and describes people«.[6]
Nineteenth century narratives about Africa and Latin America usually
constitute a long interplay of multiple discourses – lengthy presentations of
discursively depopulated landscape sprinkled with interludes of descriptions
of bodyscape: »This discursive configuration, which centers landscape,
separates people from place, and effaces the speaking self, is characteristic
of a great deal of [19th century] travel writing, especially the literature of
exploration and especially that which aspired to scientific status.«[7] As it
were, embedded in the narrative of the landscape are textual homelands of
bodyscapes reduced to body parts (often the genitalia) – this clinical
scrutiny is a strategy concocted to deny human reasoning, coherence and
bodily integrity.
The main task of the European travelogues is to produce information in
several domains – agriculture, economy, climate, aesthetics, ethnography,
ecology, etc. But the task is the means to an end – the exploitation and
domination of land and people for economic gain. The two-pronged process
of information gathering and dissemination was geared towards
disseminating knowledge of natural history (what Alexander von Humboldt
called »the problem of the physical description of the globe«) and
expanding capitalist world system (»the spirit of commerce and
adventurous industry«, according to John Barrow).
Often, textual strategies are deployed to occlude or isolate the
ideological underpinnings and economic intent/interest. The narrative
locates the self-effaced observer/narrator at the periphery from where he
gazes at the panoramic view he narrates. Perched as it were on the edge of
an interminable expanse of land, the self-effacing narrator plays the
omnipotent, omniscient hidden god. Furthermore, discussions of capitalist
expansionism are located in the preface, not in the main body of the work.
As Pratt notes, David Livingstone elaborates on the link between landscape
and commercial expansion but locates it in the preface where he admits that
his work »is written in the earnest hope that it may contribute to the
information which will cause the great and fertile continent of Africa to be
no longer kept wantonly sealed, but made available as a scene of European
enterprise«.[8]
As stated earlier, the European authors of travelogues cared about Africa;
they cared less about Africans (except, of course, as ›beasts of burden‹). In
the information texts, the voices of Africans are absent. We get a glimpse
into their lives through the author’s descriptions of manners-and-customs
that are embedded in long narratives of landscape: »the portrait of manners
and customs is a normalizing discourse whose work is to codify difference,
to fix the Other in a timeless present where all ›his‹ actions and reactions
are repetitions of ›his‹ normal habits.«[9] The manners-and-customs
narratives function as a normalizing force legitimized by scientific and
academic discourses. The indigenous people (the ›Other‹) do not tell the
reader who they are; rather the observer/narrator/author creates who they
are through what they did or do. The indigenous people to be ›Othered‹ are
homogenized, a-historized, normalized, naturalized, decontextualized, fixed
in a timeless present, and maintained in an immutable form to be evoked at
will to produce the same meaning. The ideology that homogenizes, herds
contradictions into the same battlefield, normalizes, and names, creates, its
mythology by inscribing unchanging ›subjects‹ that can transcend neither
time nor space. What the imperial eye sees (›eye‹ because it sees one
dimensionally and obsessively) is very much linked to the processes by
which the mythology is formed. The voice (mythmaker) that creates the
›Other‹ in this instance separates indigenous people (body) from their
habitat (landscape):
The normalizing, generalizing, voice that produces the ethnographic manners-and customs
portraits is distinct from but complementary to the landscape narrator. The voice scans the
prospects of the indigenous body and body politic and in the ethnographic present, abstracts them
out of the landscape that is under contention and away from the history that is being made–a
history into which they will later be inserted as an exploited labor pool.[10]

The African bodyscape on which the European observer/narrator projects


his fears and desires is periodically inserted in the narrative as pathetic,
exotic, abject, and comic figures. What is often missing in the narratives are
descriptions of human interaction – strange but not surprising. The
Europeans and the contingent of Africans that traveled with them did not
interact due to the distancing mentioned earlier – white and Blacks may
occupy the ›same‹ physical location but are socially distant because of race.
The social isolation of Blacks is necessary to maintain distance and create
possibilities for the ›viewing‹. The Europeans needed the
distance/alienation to ›view‹ the African in order to comment on their
physiology and actions. The Europeans are not interested in what the
Africans ›think‹ (they are not credited with the capacity to think/reason) but
on ›what they do‹ and ›how they look‹.
Europeans were more interested in the land – its immensity, beauty, and
riches – than the people who own the land; more interested in what is
buried in the land than the humans that walk/work on the land. The
narrative of the everyday is usually long descriptions of the expanse and
beauty of the landscape:
Ten or fifteen miles north of Morambala stands the dome-shaped mountain Makanga, or Chi-
kanda; several others, with granitic-looking peaks, stretch away to the north […] we came to the
broad belt of palm and other trees, crossing the fine plain on the right bank. Marks of large game
were abundant.[11]
The following day we passed the Great Fish River […] the opposite side presented a very
beautiful country, well wooded and watered, and plentifully covered with grass.[12]
From this elevation-about 5000 feet above the ocean level – I enjoyed an unobstructed view as far
as the eye could reach […] On all sides stretched the immense virgin forests […] And far away in
the east loomed the blue tops of the farthest range of the Sierra del Crystal, the goal of my desires
[…] as I strained my eyes toward those distant mountains which I hoped to reach.[13]
The termination of the Snowy mountains is about twelve miles to the northeastward of
Compassberg; and here a port or pass through them opens upon a plain extending to the
northward, without a swell, farther than the eye could command.[14]

The language of domination, ›command‹, is noteworthy. Incapable of


›commanding‹ the landscape, the imperial eye creates a world it could
command – it reduces the Black body to manageable sizes (body parts –
genitalia, etc.).
The strategies deployed in the texts of European explorers and travelers
to Africa echo in the work of Alexander von Humboldt whose attempt to
travel to Egypt was foiled by Napoleon Bonaparte. In 1799, Alexander von
Humboldt and his partner, Aimé Bonpland, sailed (in their vessel called
Pizarro) to Venezuela and spent the next five years traveling the length and
breadth of what they called the New Continent. Charles Darwin, who
admitted the great influence von Humboldt had on him, proclaimed him
»the greatest scientific traveler who ever lived«. Born in Berlin, Germany,
in 1769, Humboldt studied at the University of Göttingen and at the
Freiberg Academy of Mines (Bergakademie) and, subsequently, worked for
the government as a mines inspector in Franconia, Prussia. An intellectual
drawn to natural sciences, Humboldt was truly fascinated by travel and
exploration. After attempts to travel to the West Indies, Egypt, and around
the world fell through, he and his partner, Aimé Bonpland, received an
authorization from Charles IV of Spain to travel to Spanish territories in
South America at Humboldt’s expense. Through the thirty volumes (on
topography, flora, and fauna) he wrote about his field studies, Humboldt
brought geography to the world.
Like his fellow European travelers and explorers in Africa, Humboldt
traveled and wrote in the name of science and, like them, one of his
principal discursive strategies was to reduce America to landscape and
marginalize its inhabitants: »After walking two hours, we arrived at the foot
of the high chain of the interior mountains, which stretches from the east to
the west; from Brigantine to the Cerro de San Lorenzo.«[15] Humboldt was
a mining inspector who was specifically charged to look for precious metal
deposits in Latin America. He traveled with large and heavy equipments
that created the need for a large number of indigenous people (porters) in
his party. Though Humboldt includes some manners-and customs portraits,
he hardly mentioned the many indigenous people that traveled with him;
they did not hold his interest. At the end of his work, Humboldt does not
reminisce about the many indigenous people that helped him along the way;
instead, he fantasizes about a future America that will be the site for
European capitalist expansion: »If then some pages of my book are
snatched from oblivion, the inhabitant of the banks of the Oroonoko will
behold with ecstasy, that populous cities enriched by commerce, and fertile
fields cultivated by the hands of freemen, adorn these spots.«[16]

SEXUALITY, RACE, DEPRAVITY


The imagined threat of Black sexuality and the need for its control has
necessitated its construction around issues of potency, concupiscence,
monstrosity, and depravity. The linking of race and sexuality to national
identity places the fear of miscegenation at the center of social dynamics
and citizenship discourses in racially diverse societies. The slave culture of
the United States was gripped by this fear. It was rife in Austria between the
two World Wars. One of the earliest National Socialist propaganda leaflets
addressing Austrian youths appealed to girls and young women:
Aryan girls, [you must be] on your guard against Jewish girls as friends. The Jewish community
has ordered them to prepare you for the sin against your blood. They will lead you to dances, bars,
etc. that are Jewish contaminated, alien to the Volk, where you will become helpless victims of
Jewish playboys and lecherous Jews. You will be lost to your German people from the day you
become captivated by these lechers. As women you will only get Jewish children.[17]

Austrian youths bought into the construction of gender relations around


questions of virtue and moral decline, translating gender conflicts into racial
conflicts through the ubiquitous image of the seduced or raped German girl
in the publications of youth organizations in the Austrian National Socialist
German Workers Party (NSDAP). The racist projection of fears on sexually
threatening Jews led to the demarcation in the Austrian imagination
between the good, pure German females and those ›polluted by Jews‹.
These racist fears paradoxically lumped together white German women and
Jewish men as threats and danger – Jewish men as danger to German
women and German women as danger to the Aryan ›race‹ because of the
possibility of miscegenation. The image of the Jewish man as the ›Other‹
allowed the use of nationality and race to construct gender identity. The
conflation of nation and race in Nazi thinking led to the relentless search
for the internal alien that must be expunged for a true and pure
Volksgemeinschaft to emerge.
One of the most prominent nineteenth century attempts to link race and
sexuality was the coupling of two unrelated female images; the icon of the
prostitute (sexualized woman) and that of the ›Hottentot Venus‹ (freak of
nature) to offer two predominant notions about Africans – (physical)
abnormality and moral depravity. As far back as the twelfth century, a
Jewish traveler, Benjamin of Tudela, wrote pointedly about the
concupiscence of the sub-humans he saw in Africa: »[…] at Seba on the
river Pishon […] is a people […] who, like animals, eat of the herbs that
grow on the banks of the Nile and in the fields. They go about naked and
have not the intelligence of ordinary men. They cohabit with their sisters
and anyone they can find […] And these are the Black slaves, the sons of
Ham.«[18]
The ubiquitous Black servant in the eighteenth and nineteenth century
European literature, visual and performing arts was linked to illicit sexual
activity. (Manet’s Olympia, and William Hogarth’s A Rake’s Progress and A
Harlot’s Progress.). The polygenetic notion of the Blacks’ lower position in
the chain of beings allowed their representation as more primitive and
sexually aggressive, and conflated their sexual desire with the
uncontrollable sexual appetite of animals. Biological differences were
exploited by the polygenetic argument both as evidence and scientific
authentication of the normative (white) and the deviant (Black). In other
words, the Black body and Black sexuality came to represent the antithesis
of white normativity and superiority. A mark of that difference was the
›abnormal‹ part of the Black woman’s genitalia (the so-called ›Hottentot
apron‹) – a hypertrophy of the labia and nymphae – that was popularized in
nineteenth century travel writing. Gilman credits J. J. Virey with
inaugurating the use of scientific discourse (anatomy) to legitimate and
promote the racist ideology that mythologized Black (female) sexuality and
drew a clear line between Blacks and whites. Building on the work of
George Cuvier that links the Black female’s ›abnormal‹ genitalia to her
primitive sexual appetite, Virey contributed an essay to the Dictionnaire des
sciences médicales/Dictionary of medical sciences citing the Hottentot
Venus as an icon of Black female sexuality and noting that the Black
females’ »voluptiousness [is] developed to a degree of lascivity unknown in
our climate, for their organs are much more developed than those of
whites«.
The rediscovery of Saatjie Baartman (the so-called ›Hottenton Venus‹) in
the second half of the twentieth century can be attributed to the Richard
Altick’s 1978 work, The Shows of London, in which he irreverently
described Baartman as a ›heavy-arsed heathen‹. Soon followed the studies
of constructions of sexuality and race in science, aesthetics, and medicine
by Stephen Jay Gould and Sander L. Gilman.[19]
Saartjie Baartman, a Khoisan, was born in Kaffraria in eastern Cape
Colony of South Africa in the late 1780s. Renamed Saartjie when her
homeland came under Dutch colonial rule, the Khoisan woman moved to
the Cape of Good Hope after the death of her only child to work as a
domestic servant for a Boer farmer, Peter Cezar. In 1810, Saartjie entered
into an agreement with Hendrik Cezar, Peter Cezar’s brother, and
Alexander Dunlop, an English surgeon of an African ship. Saartjie agreed
to travel with them to Britain where she would serve them as a domestic
help and also be exhibited in England and Ireland with the understanding
that she would return to her homeland after five years with part of the
proceeds from the exhibition. Saartjie was small in stature (about four feet
six inches tall) but was endowed with big buttocks that were as »large as a
cauldron pot« according to an English ballad. Dunlop and Cezar might have
chosen her because of her severe steatopygia.
In September 1810, she was brought to London, renamed Sarah
Bartman, and exhibited as a freak of nature because of her larger than
›normal‹ buttocks. Evangelical abolitionists, outraged by the indecent
exhibition of an African woman whom they thought was a slave, took
Bartman’s ›owners‹ to court where they made an unsuccessful attempt to
free the African woman. The court proceedings and the subsequent bad
publicity it generated forced Bartman’s keepers to transport her to the
provinces where she was exhibited until she was shipped off to Paris. From
September 1810 when Baartman was first exhibited at 225 Piccadilly in
London till September 1814 when Cezar sold her off to another owner
(Réaux, a showman specializing in wild animals) in Paris, the one-woman
exhibition attracted crowds of spectators who came to taunt, jeer, and laugh
at her because of her ›abnormal‹ physique. In France as in England,
Baartman became the subject of satirical cartoons, engravings, bawdy
ballads, and theatrical performances including a one-act vaudeville entitled
La Vénus hottentote, ou haine aux Françaises.
In March 1815 at the Jardin du Roi, Georges Cuvier, the famous French
naturalist and anatomist, and a group of anatomists, zoologists, and
physiologists conducted a three-day thorough examination of Bartman and
their findings published in Histoire naturelle des mammifères and Discours
sur les révolutions du globe had the primary objective of placing Baartman
where she belongs in the chain of beings, a placement that questions her
humanity. Believing that seeing the Black female body is tantamount to
knowing the Black female, Cuvier and his team disseminated ›authoritative
knowledge‹ that pulls Baartman closer to the animal kingdom, as references
to animals in their work would seem to confirm:
Everyone who had been able to see her over the course of eighteen months in our capital could
verify the enormous protuberances of her buttocks and the brutal appearance of her face […] Her
movements had something of a brusqueness and unexpectedness, reminiscent of those of a
monkey. In particular, she had a way of pushing out her lips in the same manner we have observed
in the Ourangutan.[20]

Immediately after Bartman’s death, Cuvier obtained permission from the


authorities to dissect her body for further probing and discoveries. Cuvier
brought Baartman’s body back to the Jardin du Roi where his detailed
examination of her buttocks revealed an underlying mass of fat and a more
persistent probing of her genitalia led him to ›a great discovery‹ – the
infamous ›Hottentot apron‹ (hypertrophy of the labia minora or nymphae)
that Cuvier called a ›remarkable particularity of her organization‹. Cuvier
saw this ›abnormality‹ as another sign of the Black woman’s primitivism.
He also found Baartman’s pelvis to be smaller and less flared than the white
woman’s and resembles more the pelvis of a female monkey.
Bartman’s racial difference demoted her below human level and linked
her to other social outcasts such as lesbians and prostitutes: »The perception
of the prostitute in the late nineteenth century thus merged with the
perception of the Black. Both categories are those of outsiders, but what
does this amalgamation imply in terms of the perception of both groups? It
is a commonplace that the primitive was associated with unbridled
sexuality.«[21] The ›plumpness‹ of prostitutes and their not so beautiful
physiognomy (misshapen nose, etc.) were identified as some of their
peculiarities that are also evident in the Black woman – the ›plump‹
Hottentot. An English commentator noted »the grossest and stoutest of
these women are to be found amongst the lowest and most disgusting
classes of prostitutes«.[22] By mid-century, gynecologists were linking
anomalies of the Hottentot vagina such as the ›overdevelopment‹ of the
clitoris to consequences of lesbian practices. The depravity of the Black
female is thus constructed by linking her insatiable sexual appetite to the
sexuality of the lesbian.
Paula Giddings links the iconization of Bartman to slavery: »It is no
coincidence that Sara Bartman became a spectacle in a period when the
British were debating the prohibition of slavery […] there, as in North
America, race took on a new significance when questions arose about the
entitlement of nonenslaved Blacks to partake of the fruits of Western liberty
and citizenship.«[23] Arguing that scientific racism surged in the nineteenth
century to fight back the threat to social instability engineered by
emancipated slaves, Giddings goes on to show how sexual difference
formed the basis for ›race‹ ideology at that historical moment. Also,
Hortense Spillers argues that scientific racism reinforced the conflation of
sexism and racism by making the connection between slavery and deviant
Black sexuality.
Before the arrival of Bartman in London in 1810, stories of the Hottentot
pervaded European construction of the African: »The tale of the Hottentot
is a story of willful misunderstanding so persistent and so bizarre that one is
tempted to qualify it as a collective hallucination.«[24] Her arrival gave a
human form to the collective imaginings. The mythology of the
concupiscence of the Black female icon (Hottentot Venus) became linked to
another growing mythology – ›sexual potency‹ of the Black male that
created the icon of the Black man as a sexualized beast – threatening to and
seductive for white women. The numerous references to animals in
descriptions of Bartman and Black female sexuality are reminders that
Blacks are closer to animals in the chain of beings. In France, it is
interesting to note the juxtaposition of Bartman and an animal during her
appearances: »The price to view this one-woman spectacle was three francs.
At rue de Castiglione and for the same admission price, Réaux was also
exhibiting a five-year-old rhinoceros. Baartman was exhibited from 11:00
A.M. to 10:00 P.M. at the ground level of 188, rue Saint-Honoré.«[25]
Yvette Abrahams aptly notes that Bartman was doubly victimized by
British imperialism in view of the fact that the imperial foot soldiers that
were fed notions of Africans as freaky sub-humans were better equipped to
carry out the brutality of imperial intervention and expansion. The savagery
to which Africans were linked offered a justification for the imperial
›civilizing mission‹. Imperialism brought Bartman to Britain and her
exhibition served to prepare new recruits for future imperialist adventurism:
»In a sense, Sara Bartman was doubly a victim of British imperialism. Had
it not been for the British colonization of the Cape, she would never have
been brought to London. Once there, her perceived physical characteristics
were pressed into the service of imperialism through the medium of the
freak show.«[26]

FREAKS: IT’S ALL ABOUT SIZE OR IS IT?


From his native land of darkness to the country of the free in the
interest of science and of broad humanity brought wee little Ota
Benga dwarfed, benighted, without guile scarcely more than ape
or monkey yet a man a while!
(The New York Times, September 10, 1906)

Ota [is] an as an interesting little fellow…active as a cat, lithe


as a monkey, and extremely strong for his size. His front teeth
had been filed to a sharp point in imitation of the crocodile’s
tooth.
(Samuel Phillips Verner, qtd. in Bradford & Blume)
A decade after Bartman’s ordeal, an African man, Ota Benga, was
displayed in a monkey cage in the United States as an animal and a freak
(often photographed carrying a monkey). Freak shows, a dominant feature
of European popular culture and entertainment, were racialized in the sense
that ›race‹ was a determining factor in the encoding of meanings. The white
freaks were seen as oddities and abnormalities of the white ›race‹ while
Black freaks were presented as representative of a homogenized group, the
Black race. The individuation of and isolation of the white freaks from the
white race expunges aberration and ensures normality while the
representational figure of the Black freak that is integral to the group taints
the entire Black ›race‹ with abnormality. Furthermore, unlike the white
freaks, the Black freaks were presented as primitive, savage, and
animalistic; closer to the animal kingdom than the human race. Born out of
an imperialist mind-set, the freak show drew a line between the sexualized,
deviant African woman and the fair, wholesome white women.
Put on display in the Bronx Zoo (New York City) at the-turn-of the
twentieth century was a human being described as »elf, dwarf, cannibal,
Wildman, savage loose in the metropolis, beyond ape but not quite human,
stunted, retarded, incomplete; someone to gawk at, tease, put in cages,
ridiculed« and crowned with the title ›King of the Congo‹. Who was the
›King of the Congo‹ and how did he get here? In 1903, Samuel Phillips
Verner, an American »eccentric and ambitious missionary with scientific
ambitions« and scion of racists (his father was a South Carolinian slave-
owner and his grandfather a militant white supremacist), traveled to Africa
on a ›specimen-gathering mission‹ for the World’s Fair committee and the
›specimen‹ he brought back to the US was Ota Benga, a Congolese
›pygmy‹.
Ota Benga was put on display at the 1904 St. Louis World’s Fair where
he played the molimo among other ›performances‹ and was later exhibited
in a monkey cage in the Bronx Zoo. After more than a decade of putting up
with indignities and frustration, Ota Benga committed suicide and was
buried in an unmarked grave in the town of Lynchburg. The popular belief
that Blacks did not feel pain was given a ›scientific‹ backing by the French
scientist Louis Figuer who performed experiments on Blacks and came to
the conclusion that »blacks were endowed with thick skins and insensitive
nervous systems, making them impervious to pain«.[27] Bradford and
Blume describe their account of Ota Benga’s travails as »one man’s
degradation in the turn-of-the century America«.
The advertisement for Ota Benga’s ›viewing‹ read as follows: »The
African Pygmy, ›Ota Benga‹. Age 23 years. Height 4 feet 11 inches.
Weight, 103 pounds. Brought from the Kasai River, Congo Free State,
South Central Africa by Dr. Samuel P. Verner, Exhibited each afternoon
during September.« Thousands flocked to the Bronx Zoo to see the joint-
man-and-monkey exhibition, especially on weekends, as the September 10
(Monday), 1906 issue of the New York Times reports:
Several thousand persons took the Subway, the elevated, and surface cars to the New York
Zoological Park in the Bronx, yesterday, and there watched Ota Benga, the Bushman, who has
been put up by the Management on exhibition there in the monkey cage. The Bushman didn’t
seem to mind it, and the sight plainly pleased the crowd […] Perhaps as a concession to the fact
that it was Sunday; a pair of canvas shoes had been given to the Bushman to wear. He was
barefooted on Saturday. He seemed to like his shoes very much. Over and over again the crowd
laughed at him as he sat in mute admiration of them on his stool in the monkey cage. But he didn’t
mind that.

Visitors to the zoo ridiculed, taunted, jeered at the man and once in a while
turned a hose on him – an abuse that infuriated him so much that once he
allegedly attempted to stab one of his keepers, promptly the New York Daily
Tribune of September 26, 1906 to warn the public: »Benga Tries to Kill.«
Often the physical stature and anatomical features of Blacks are marks of
their anomaly and inferiority – they are always ›more than‹ or ›less than‹.
The Hottentot Venus was ›less than‹ in stature and ›more than‹ as far as her
buttocks and ›Hottentot apron‹ go. At 4 feet 11 inches (Samuel P. Verner
put him at 4 feet 8 inches), Ota Benga is ›less than‹. But the questions
remain: Less then what/who? More than what/who? In fact, anthropologists
insisted on quantifying everything about Benga:
His head size, foot size, the distance between heel and toe, nose and forehead, the space between
his eyes. It was considered worthy of scientific note to put a baseball in his hand and find out how
far he could fling it. All these numbers would then be rubbed together, mumbled and jumbled and
chanted over, to determine what a pygmy was…to others what matters most of all was the color of
his skin. In their eyes he was black, or black enough, and that was decisive.

What this number crunching does is to give ›scientific‹ authority and


legitimacy to a priori irrational positions. In situations where showmen have
scientific pretensions and scientists popularizing their inquiry, the numbers
will always be used against Benga, Bartman and those that look like them.

CONCLUSION
The Black body did not matter centuries ago when Europeans reified it,
fixed it in the present, and implanted it in European imagination. White
supremacist ideology of domination and economic expansion backed by
spurious science and academic discourses demoted Blacks below human
level, justifying and legitimizing their oppression and exploitation. The
problem is not about Benga, Bartman or people who look like them. The
problem is their being pitted against a nebulous, intractable standard that is
imagined to ensure their perpetual ›Otherness‹ and ›anomaly‹, and justify
the notion that there is ›something‹ wrong with ›these people‹. There is
nothing ›wrong‹ with them. If anything is wrong, it is with the invention,
the mythology. Recasting Sartre’s famous phrase – »If the Jew did not exist,
the anti-Semite would invent him«[28] (Si le Juif n’existait pas, l’anti-
Sémite l’inventerait) – I assert that if the Black did not exist, white
supremacist racist would invent him. Poor Ota Benga is not the issue; the
problem is with the imagination and mentality that can evoke him at will,
reified, and beyond the bounds of history. Today, it’s Ota Benga; tomorrow
it’s Sara Baartman; the following day it’s Mgbeke or Mgbafor – it never
ends. The problem lies with the atavism of the mythmaking ideology. In
this sense, the Augsburg Zoo incident in 2005 is a replay of a never-ending
script. Slavery, colonization, Rwanda, and New Orleans are reminders that
so long as white supremacist ideology of Black inferiority exists, our
humanity will remain diminished.

BIBLIOGRAPHY
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Strother, Zo, S.: »Display of the Body Hottentot.« In: Bernth Lindfors (ed.): Africans on Stage.
Studies in Ethnological Show Business. Bloomington: Indiana University Press, 1999, p. 1-61

NOTES
1 ›Völkerschau 2005! Aufruf zum Protest gegen den Augsburger Zoo. Ein offener Brief der ISD
e.V. und ADEFRA e.V.‹, München 18.5.2005, by Peggy Piesche and Nicola Lauré al-Samarai.
2 Sartre: Anti-Semite and Jew, p. 7, 9-10.
3 Ibid., p. 11.
4 Ibid., p. 12.
5 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 205.
6 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 127.
7 Ibid., p. 124.
8 Livingston & Livingston: Narrative of an Expedition, p. 2.
9 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 120.
10 Ibid., p. 126.
11 Ibid, p. 124, my italics.
12 Barrow: An Account of Travel, 1, p. 190, my italics.
13 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 134, my italics.
14 Barrow: An Account of Travel, 1, p. 244, my italics.
15 Humboldt & Bonpland: Personal Narrative, 1, p. 9; my italics.
16 Ibid., p. 1.
17 Gehmacher: »Men, Women, and the Community Borders«, p. 205.
18 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 209.
19 Gould: »The Hottentot Venus«; Gilman: Difference and Pathology.
20 Sharpley-Whiting,: Black Venus, p. 23-24, my italics.
21 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 229.
22 Ibid., p. 223.
23 Giddings: »The Last Taboo«, p. 449.
24 Strother: »Display of the Body Hottentot«, p. 1.
25 Sharpley-Whiting,: Black Venus, p. 19.
26 Abrahams: »Images of Sara Bartman«, p. 225.
27 Cohen: The French Encounter with Africans, p. 241.
28 Sartre: Anti-Semite and Jew, p. 13.
KIEN NGHI HA
MACHT(T)RAUM(A) BERLIN – DEUTSCHLAND ALS
KOLONIALGESELLSCHAFT[1]

Kolonialismus ist in Deutschland – sobald er als kritische Analysekategorie


und nicht wie gewohnt als ideologischer Gewaltapparat gebraucht wird –
ein unnahbarer, geradezu un-heimlicher Begriff. Seine Untiefen erscheinen
in ihrer unbehaglichen Abgründigkeit so un-wirklich, dass dieses Unwort
sorgsam ver- und gemieden wurde. Wie die Rassismuskritik löst die
Erinnerung an kolonialen Unterdrückungen bei Weißen das Bedürfnis nach
augenblicklicher Distanzierung aus. Meist schlagen sich solche
Entlastungsstrategien in der Sehnsucht nach einem endgültigen
Schlussstrich nieder. Die Weigerung der deutschen Dominanzgesellschaft,
sich mit den kolonialen Grundlagen ihrer eigenen Kulturgeschichte und
politischen Identität auseinander zu setzen, hat weitreichende Folgen. Sie
reflektiert einen Prozess, in dem weder die Unterwerfung des Anderen noch
die Frage nach der kolonialen Konstruktion der deutschen Nation zur
Sprache kommt. Entsprechend steht auch das Fortwirken dieses
Machtfeldes auf die gegenwärtige Verfassung der deutschen Gesellschaft
nicht im Fokus der Debatte. Diese Frage wird um so gefährlicher und
unzulässiger, je stärker der Blick auf das gebrochene, aber uneindeutige
Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf den Zusammenhang
von äußeren und inneren Zwängen, kurz auf die ungeklärte Aktualität
deutscher Kolonialkultur gelenkt wird. Bisher hat das gesellschaftliche
Schweigen, das Verschweigen, das Totschweigen das Feld des notwendig
Sagbaren weitgehend verdrängt. Das Schweigen ist eine bewusste Amnesie,
und die Amnesie ist eine politische Ausdrucksform des kollektiven
Gedächtnisses. Daher ist das konsensuale Schweigen eine dominante
Machtartikulation, die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung
imperialer Praktiken und Bilder durch Entinnerung aktiv widersetzt und nur
durch Gegen-Erzählungen aufgebrochen werden kann. In ihren
totalisierenden Dimensionen kann sich die Macht des Entinnerten zu einer
sekundären Kolonialisierung verdichten. Die sekundäre Kolonialisierung
bezeichnet keine Leerstelle, sondern eine gesellschaftliche Dynamik, die
immer wieder durch einen Set von Machtpraktiken hergestellt wird. In ihr
werden nicht nur die Kontinuitäten, Übergänge und Brüche, sondern auch
die realgeschichtliche Kolonialisierung selbst immer wieder neu mit einem
weißen Schleier des Schweigens überzogen. Auf der anderen Seite werden
die Schwarzen Subjekte, die oftmals auch als Opfer widerständig gehandelt
haben, durch die Täterverehrung in den hegemonialen Diskursen erneut
viktimisiert. Indem die diskursiven Mittel zur Bezeichnung kolonial
eingefärbter Realitäten tabuisiert werden, bleibt die gesellschaftliche
Macht- und Infrastruktur jener kolonialen Präsenzen verborgen. Durch
diese erinnerungspolitische und geschichtsmächtige Weißwaschung der
Geschichte wurde eine komfortable Scheinwelt für weiße
MetropolenbewohnerInnen aufgebaut und stabilisiert. Obwohl koloniale
Einschreibungen nicht nur die Wirklichkeit der europäische Moderne
prägen, sondern auch für die Ausbildung deutscher Kultur- und
Identitätsvorstellungen bis in die Gegenwart hinein fundamental sind,
werden sie in der Regel entthematisiert.

VON DER HISTORISCHEN AUFARBEITUNG ZUR ANALYSE KOLONIALER


PRÄSENZEN
Wie weitreichend die deutsche Unfähigkeit bei der Aufarbeitung der
eigenen Kolonialgeschichte ist, lässt sich am Bedarf der akademischen
Entwicklungshilfe ablesen. Obwohl die westdeutsche
Geschichtswissenschaft erst Ende der 1960er-Jahre anfing sich mit dieser
Epoche auseinander zu setzen, erlahmte bereits Mitte der 1970er-Jahre
wieder das Forschungsinteresse.[2] Die neueren Anstöße für eine
wissenschaftliche Aufarbeitung des deutschen Imperialismus kamen daher
zunächst auch nicht aus den hiesigen Universitäten, sondern von den
Schwarzen (deutschen) Gelehrten und AktivistInnen der transatlantischen
Black Diaspora Studies, der anglo-amerikanischen German Studies und der
transnational ausgerichteten postkolonialen Kritik.[3] Zwar hat auch in der
BRD die Zahl der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten zu
diesem Themenbereich in den letzten Jahren spürbar zugenommen.
Allerdings erfolgt diese diskursive Konjunktur als nachholende Bewegung
vor einem Hintergrund, der die langanhaltende akademische
Marginalisierung und gesellschaftliche Unerwünschtheit kritischer
Interventionen dokumentiert. Aufgrund dieser Konstellation hat sich ein
erheblicher Bedarf an inhaltlicher Defizitdeckung in Wissenschaft, Politik
und Gesellschaft angestaut sowie eine enorme zeitliche Verspätung der
Grundlagenforschung ergeben.
Zwei weitere Beschränkungen haben sich zudem innerhalb dieser
historiographischen Wissensproduktion als strukturbildend und
trendsetzend herausgestellt. So beschäftigt sich das Gros der
kolonialhistorischen Forschung mit der Kolonialisierung außereuropäischer
Gebiete, wodurch der wechselseitige und dialektische Prozess von äußerer
Fremd- und innerer Selbst-Kolonialisierung aufgespalten wird und die
Produktion entgrenzter Räume im Prozess der Kolonialisierung
unterbelichtet bleibt. Zwar existieren eine Handvoll einschlägiger Bücher,
die die Auswirkungen der imperialistischen Expansion auf das deutsche
Kernland im Wilhelminischen Zeitalter untersuchen.[4] Aber auch diese
Ansätze verbleiben innerhalb eines historischen Untersuchungs- und
Deutungsrahmens, der meist von 1884 bis 1918 und in selteneren Fällen bis
1945 reicht. Studien, die die Kontinuität und Transformation kolonialer
Denkweisen, Bilder und Strukturen bis in die gegenwärtige Bundesrepublik
hinein analysieren, sind sehr selten und finden sich am ehesten im Bereich
der Medien- und Filmanalyse. Solange die Überlagerung
ineinanderlaufender Zeit- und Gesellschaftssedimente kein Thema ist und
die wissenschaftliche Aufarbeitung rein historisch verbleibt, solange
können die Einflüsse kolonialer Effekte auf die rassistischen Konditionen
der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht in den Blick genommen
werden. Geschichte nicht als offenes und dynamisches Feld zu begreifen,
bedeutet die Aktualität kolonialer Präsenzen[5] als Fragestellung nicht
zuzulassen. Bisher werden auch in der kritisch intendierten deutschen
Rassismusforschung die kolonialen Ursprünge und Elemente rassistischer
Herrschafts- und Gewaltformen nur unzureichend beachtet und in den
Analyserahmen einbezogen. Die historische Materialität und
Verschränktheit kolonialrassistischer Macht- und Ausbeutungspraktiken zu
übersehen, trägt dazu bei, die Chancen für ein vertiefendes Verständnis
heutiger Konfliktlagen nicht zu nutzen. Gerade aus der Verschränkung
unterschiedlicher Zeitlichkeiten und der Überlappung räumlicher
Interaktionsprozesse ergeben sich jedoch neue Einsichten und politische
Ansatzpunkte der Intervention.

DEUTSCHLAND ALS KOLONIALGESELLSCHAFT


Aus den eben genannten Gründen möchte ich in diesem Beitrag auf die
widersprüchlichen Überlagerungen von Raum – Traum – Trauma als
Ausgangsbedingungen kolonialer Politik eingehen und dabei vor allem
skizzieren, wie der Kolonialisierungsprozess sich auf die politische Kultur
Deutschlands auswirkte. Dabei entstanden vielfältige kulturelle Artefakte
und Praktiken, deren Bedeutungen sich als kolonialer Machtraum,
kolonialer Machttraum und koloniales Machttrauma in den imaginären
Weiten der deutschen Kultur-, Erinnerungs- und Wissenschaftslandschaft
eingeschrieben haben. So sind koloniale Spuren etwa im Berliner Stadtraum
und der politischen Topographie Deutschlands weiterhin greifbar nahe.[6]
Der lange Schatten der inneren Kolonialisierung hat sich keinesfalls nur als
kolonialer Blick auf Schwarze Menschen und tradierte Afrikaklischees am
Leben erhalten.[7] Noch immer sind wir mit einer historischen Situation
konfrontiert, die durch diskriminierende Praktiken und eine fehlende
Erfahrung der inneren Dekolonialisierung gekennzeichnet ist. Auch ist
anzuerkennen, dass das heutige Ausmaß und die spezifische Ausrichtung
rassistischer Gewaltverhältnisse nicht von der kolonialen Erfahrung
abgetrennt werden kann. Sicherlich hat die begeistert aufgenommene
Kolonialpolitik zu einer strukturellen, kulturellen und nicht zuletzt auch
administrativen Verankerung von Aggressionspotentialen gegen People of
Color beigetragen. Nicht zuletzt deshalb müssen wir uns nach wie vor mit
Trägern eines kolonialen Rassismus auseinandersetzen, die nicht an den
gesellschaftlichen Rändern sitzen, sondern wie selbstverständlich aus der
Mitte des staatstragenden Establishments heraus agieren.[8]
Der deutsche Beitrag zur globalen Kolonialisierung spielt sich im
Rahmen eines über mehrere Jahrhunderte anhaltenden weltpolitischen
Destruktions- und Transformationsprozesses ab. Mich interessiert, wie
durch die Kolonialisierung in den Metropolen selbst koloniale Räume und
Praktiken entstanden, die im Rahmen eines Kolonialismus ohne Kolonien
bis in die heutige Zeit tradiert wurden. Die Kolonialisierung wirkte sich
nicht nur verheerend auf die Menschen und Gesellschaften in den neu
geschaffenen Kolonien aus. Sie veränderte nachhaltig auch die deutsche
Gesellschaft, deren Lebenswelten und Institutionen sich in umfassender
Weise an den modernen Erfordernissen eines kolonialisierenden Staates
angepassten. Die Kolonien wurden nicht nur als Rohstofflieferanten,
Siedlungsräume, Absatz- und Kapitalmärkte, sondern auch als
›Laboratorien der Moderne‹ und ›Schule der Nation‹ genutzt. Entsprechend
waren die Auswirkungen der Selbstkolonialisierung auf die militärische,
politische, kulturelle, ideologische, ökonomische, wissenschaftliche,
technische und städtebauliche Sphäre der Wilhelminischen Gesellschaft
unübersehbar und tiefgreifend. Die Anatomie der deutschen
Kolonialgesellschaft kann ich an dieser Stelle nur kurz skizzieren.
Infolge der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben- und Arbeitsteilung
wurden viele Gesellschaftsbereiche Bestandteil einer kolonialen
Infrastruktur. Das koloniale Moment trat damit als gesellschaftlich
organisierende Kraft in Bewegung. Es entstand eine zusammenhängende
Kette von kolonialen Orten und Produktionsstätten in Deutschland, die nach
imperialistischen Interessen organisiert und ausgerichtet wurden. Der
Aufstieg zu einer global agierenden Imperialmacht ging notwendigerweise
mit der Ausbildung eines kolonialen Apparates einher. Gerade in Berlin,
das als Reichshauptstadt des ›Imperial Germany‹ fungierte, entstand ein
neues Machtzentrum. Dieser Ort wurde zum Ausgangspunkt eines
kolonialen Weltreiches, das mittels verschiedener staatlicher Organe wie
dem Reichstag, dem Reichskolonialamt oder dem Oberkommando der
Kolonialtruppen über die außereuropäischen Gebiete und ihre
BewohnerInnen zu herrschen versuchte. Die Opposition gegen die
Kolonialpolitik war in der deutschen Gesellschaft wie im Reichstag denkbar
gering: Nicht einmal die sozialdemokratische Fraktion war sich in ihrer
Ablehnung einig. Ein nicht unwesentlicher Teil der Sozialdemokratie
betrachtete die Schaffung von Kolonien zuweilen als notwendige
zivilisatorische ›Kulturtat‹.[9] In den bürgerlichen Kreisen und in den Eliten
war die Kolonialbegeisterung nahezu einmütig. Man berauschte sich an der
Vorstellung von einer deutschen Weltmacht und gefiel sich in der Rolle als
›Herrenmenschen‹. Die Kolonialbewegung sammelte sich in
Massenorganisationen wie der einflussreichen ›Deutschen
Kolonialgesellschaft‹ und dem ›Alldeutschen Verband‹.[10] Neben
ausgiebiger Lobbyarbeit und Propaganda versuchten diese Organisationen,
die Germanisierung der okkupierten Überseegebiete durch
Siedlungsmigration zu befördern. Auf der anderen Seite brachte die
koloniale Zwangsverbindung auch eine Verstärkung Schwarzer Präsenzen
in den deutschen Städten mit sich. Die Anwesenheit Schwarzer Menschen
erregte mit der Zeit zunehmend migrations- und biopolitische Debatten über
die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Akkulturation und Niederlassung.
[11] Besonders bei Fragen der interethnischen Sexualität und ehelichen
Bindung nahmen diese Wortgefechte einen unversöhnlichen Ton an. Neben
der Kolonialmigration wanderten auch im Import- und Exportgeschäft
materielle Kultur und Konsumprodukte verschiedenster Art über
transkontinentale Handelsrouten nach Deutschland. Die ökonomischen
Verflechtungen zwischen Peripherie und Zentrum ließen einen
weitverzweigten Wirtschaftskreislauf und eine Infrastruktur für
Kolonialwaren aller Art entstehen. Die Schauplätze dieser
Kolonialwirtschaft, ihre Fabriken, Handelshäuser und Ausstellungsräume
wurden Teil des städtischen Raums und der deutschen Alltagswelt.
Ökonomische Interessen begünstigten auch die Entwicklung einer
deutschen Kolonialkultur und Kulturindustrie, die das Konsuminteresse
nach exotischer Fremdheit und rassistischen Stereotypisierungen bediente.
[12] Durch Reiseromane, Zeitungsberichte, Fotografien, später auch Filme,
Werbeplakate, ›Völkerschauen‹ und anderen Medien der Populärkultur
wurden koloniale Phantasien massenhaft erfahrbar gemacht. In diesen
Praktiken der Fremdrepräsentation wurde die koloniale Begegnung zu einer
alltäglichen Ware und gleichzeitig zu einem Raum der hierarchischen
Inszenierung. Diese Repräsentationsräume verbanden die symbolische mit
der realen Welt zu imaginären Projektionsflächen, die durch den Blick des
weißen Subjekts bestimmt wurden und kolonialpädagogisch aufgeladen
waren. Zweifellos hat die koloniale Erfahrung mit ihren weiterhin
hierzulande zirkulierenden Bildern die Konstruktion von Weißsein und
Andersheit wesentlich geprägt. Durch koloniale Zuschreibungen und
rassistische Prozesse der Machtungleichheit wurden die Möglichkeiten der
offenen Begegnung faktisch negiert. Unter diesen Bedingungen wurden die
Selbst- und Fremdbilder rassistisch formatiert und in einem starren
Verhältnis von Zugehörigkeit und Fremdheit, von Über- und Unterordnung
gebracht. Solche deformierten Weltbilder haben sozialdarwinistische
Menschenbilder und Überlegenheitsgefühle, aber auch missionarischem wie
kolonialpädagogischem Eifer Vorschub geleistet. In diesem Prozess hat die
wissenschaftliche Wissensproduktion weder eine aufklärerische noch
emanzipatorische Rolle gespielt. Statt als kritisches Korrektiv fungierten
akademische Disziplinen wie Botanik, Tropenmedizin, Geographie,
Anthropologie und Sprachwissenschaften nahezu ausnahmslos als willige
Kolonialtechniken.[13]

ZWISCHEN NOSTALGIE, REVISIONISMUS, VIRTUELLEN KOLONIEN UND


GRÖßENWAHN
Am Ende des selbst entfachten Ersten Weltkrieges waren die
imperialistischen Expansionspläne Deutschlands zunächst gescheitert. Das
Land musste seine Kolonialterritorien in den Friedensverhandlungen von
Versailles unwillig abtreten. Mit dieser formalen Schlussakte schien die
Kolonialzeit in Deutschland besiegelt zu sein. Tatsächlich wurde die
deutsche Kolonialpolitik lediglich in eine neue, nun revisionistisch
inspirierte Phase überführt. Dieser Kolonialismus ohne Kolonien erfüllte
sich in einem Feld der virtuellen Realität. Indem die nostalgisch verklärten
Kolonialerinnerungen die Zukunftspläne für die Wiedererlangung
außereuropäischer Räume vorbereitete, drohte die Phantasie immer real zu
werden. Die Reminiszenzen an die ›gute alte Zeit‹ verstärkte den Wunsch
diesen Zustand möglichst bald wiederherzustellen, um die deutsche Nation
zur alten Stärke zurückzuführen. Bereits Mai 1919 wurde in der offiziellen
Stellungnahme zum Versailler Vertrag der Verlust der Kolonialgebiete
abgelehnt:
Als ein großes Kulturvolk hat das deutsche Volk das Recht und die Pflicht, an der
wissenschaftlichen Erforschung der Welt und an der Erziehung unterentwickelter Rassen als einer
gemeinsamen Aufgabe der zivilisierten Menschheit mitzuarbeiten […] Die deutsche Verwaltung
hat dem Land Frieden und Ordnung gebracht […] Die Erschließung des Landes durch Straßen und
Eisenbahnen für den Weltverkehr und seinen Handel und die Förderung vorhandener und die
Einführung neuer Kulturen hat das wirtschaftliche Leben der Eingeborenen auf eine höhere Stufe
gehoben.[14]

Der Verlust der ›Schutzgebiete‹ wurde allgemein als eine schmerzhafte


Amputation empfunden. Er traf das nationale Selbstverständnis als
Weltmacht ins Mark und verunsicherte die deutsche Sehnsucht nach
Weltgeltung. Kolonialrevisionistische Diskurse rekurrierten auf eine
weitverbreitete politische Einstellung in der Bevölkerung: Neben
Massenkundgebungen in vielen Städten beteiligten sich 1919 auch mehr als
3,8 Millionen Deutsche an einer Unterschriftenaktion, um gegen den ›Raub
der Kolonien‹ zu protestieren.[15] Die Abwehr der ›kolonialen Schuldlüge‹
spielt bis in die heutige Zeit eine wichtige Rolle. »Viele Deutschen erschien
es, als sei der Unwillen, die Ergebnisse des Krieges anzuerkennen,
nirgendwo so berechtigt wie in der Frage der Kolonien […] Nichts traf die
Deutschen nach 1919 so empfindlich ins Gemüt wie die Behauptung der
Alliierten, dass sie sich kolonisatorisch als unfähig erwiesen hatten.«[16]
Zur Bearbeitung des deutschen Kolonialtraum(a)s erscheinen bis heute
Publikationen, die die vermeintlichen Segnungen der deutschen
Kolonialisierung proklamieren und das Bild von dankbaren
Kolonialuntertanen zeichnen, die voller Bewunderung zu den
Errungenschaften der deutschen Zivilisation aufblicken. Ein beliebter Topos
der Kolonialromantik versteifte sich darauf, deutsche Pioniere und
Techniker unbeirrt als wagemutige und erfolgreiche Helden zu feiern,[17]
welche die ›Wildnis‹ kultivieren. Gerade in der eigenen zivilisatorischen
Überhöhung wird Whiteness fortlaufend mit politischer Bedeutung
aufgeladen, wodurch eine globale wie innergesellschaftliche Hierarchie
etabliert und reproduziert wird.
Es gab aber auch andere Wege, das deutsche Kolonialtrauma zu
kompensieren. Noch während der Kolonialzeit begann man damit, der
deutschen Kolonialwelt auf der Berliner Straßenlandkarte ein Denkmal im
kollektiven Gedächtnis zu setzen. Das Zentrum dieser symbolhaften
geopolitischen Aneignung in Wedding besteht hauptsächlich aus dem
›Afrikanischen Viertel‹, das durch pazifische und chinesische Destinationen
komplettiert wird. Einen wichtigen Impuls für das zwischen 1899 und 1958
entstandene Kolonialviertel gab der berüchtigte Hamburger Kaufmann Carl
Hagenbeck, der mit Tierhandel und Menschenzoos ein florierendes
Geschäft betrieb. Wie die Kolonialausstellung 1896 im großen Maßstab
bewies, konnten die so genannten Völkerschauen Zuschauermassen
anlocken.[18] Aufgrund des regen Interesses plante Hagenbeck, im
angrenzenden Volkspark Rehberge eine Dauerausstellung mit wilden Tieren
und exotisierten Menschen zu installieren.[19] Der Entstehungshintergrund
dieser Straßentopographie legt es nahe, diesen Stadtraum in einem Konzept
einzuordnen, in dem dieses Viertel Teil einer konsumierbaren
Koloniallandschaft werden sollte. Letztlich ist dieser Traum von einem
Vergnügungs- und Erlebnispark mit kolonialen Attraktionen virtuell
geblieben. Trotzdem hat diese Geschichte nicht nur Spuren hinterlassen,
sondern auch einen überaus realen und sichtbaren Raum mit kolonialen
Artefakten geschaffen. Dieses Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeit- und
Wirklichkeitsebenen scheint mir für die koloniale/postkoloniale
Konstellation in Deutschland charakteristisch zu sein.
Da die Pläne für die Errichtung einer dauerhaften Kolonialkulisse
städtebaulich nicht realisiert werden konnten, wurde die Idee einer inneren
Kolonie mit anderen Mitteln verwirklicht. Neben Museen und
Ausstellungen boten vor allem die neuen Medien der Kulturindustrie den
Raum an, um einen Kolonialismus ohne Kolonien in Szene zu setzen. Für
die monumentale Verfilmung des Romans Die Herrin der Welt von Karl
Figdor wurde 1919 ein großzügiges Areal zwischen Woltersdorf, Kalkberge
und Rüdersdorf mit einer abwechslungsreichen Naturlandschaft künstlich
geschaffen. Mehrere hundert Schwarze StatistInnen, die hinter Stacheldraht
in Baracken gehalten wurden, verzierten im Film den afrikanischen Kral,
das imaginierte ›Negerdorf‹, den Baaltempeln, den Krokodilsteich, den
Tempelberg, das Sklavenrad und viele andere Monumentalbauten, die
Afrika in der deutschen Populärkultur symbolisierten. Daneben wurden
auch 73 ChinesInnen aus dem europäischen Ausland ›importiert‹, um die
koloniale Szenerie zu beleben. Nach dem die Kolonien verloren waren,
wurde mit diesem Projekt ein immenser Aufwand getrieben, um die
Kolonialwelt auf deutschem Boden wiedererstehen zu lassen.[20] Durch
filmische Mittel wurde diese Realität sowohl inszeniert als auch auf
Zelluloid verewigt. Dabei kam es zu einer Grenzüberschreitung zwischen
dem Fiktiven und dem Realen, da nicht nur die Imaginationen selbst,
sondern auch die Produktionsbedingungen dieser Imaginationen koloniale
Vorstellungs- und Lebenswelten rekonstruierten. In diesem Kontext stellen
filmische wie szenische Repräsentationen kolonialer Settings
Reinszenierungen dar, die den nicht überwundenen Verlust imperialer
Größe emotional und ideologisch kompensieren.
Das Bedürfnis nach Kolonialbesitz war nicht nur in der Populärkultur
sichtbar, sondern drückte sich auch in der politischen Kultur der Weimarer
Republik aus. Nur die Kommunistische Partei distanzierte sich von diesem
nationalen Konsens. In einem Akt, in dem der Wunschtraum die Realität
trotzig ersetzte, wurde das Reichskolonialamt 1919 zunächst in ein
Reichskolonialministerium umgewandelt und ein Jahr später dem
Reichsministerium für Wiederaufbau zugeordnet.[21]
Deutschland hielt sich in der Folgezeit bereit, durch die
Weiterentwicklung der Tropenmedizin und der Kolonialtechnik weiterhin
weltweit agieren zu können. In kolonialpolitischen Richtlinien und in
wirtschaftlichen Mobilmachungsplänen wurde die entwicklungspolitische
Durchdringung der ehemaligen Kolonien mit Ärzten, Pionieren und
Ingenieuren angeregt. Deutschland strebte immer noch nach einem ›Platz
an der Sonne‹. So entstanden Phantasien, die Sahara zu begrünen und
agrarwirtschaftlich zu nutzen. Übertroffen wurde diese koloniale Utopie nur
noch durch das beispiellose Atlantropa-Projekt. Aus dem Wunsch nach
afrikanischen Besitzungen wurde die Idee geboren, das Mittelmeer
trockenzulegen und zu einem großdeutschen Kontinent namens ›Eurafrika‹
zu vereinen.[22]

KOLONIALE DISKURSE IN DER BRD


Zu den größten Bewunderern dieser manischen Großprojekte zählten die
Anhänger der Kolonialbewegung. Da ihr Wirkungskreis weit über die
eigenen Mitglieder hinausreichte, blieb die Kolonialbewegung ein wichtiger
politischer Faktor in der Weimarer Republik. Ein Großteil dieser
Kolonialgesellschaften schloss sich 1922 zur ›Kolonialen
Reichsarbeitsgemeinschaft‹ zusammen. Einer ihrer Vizepräsidenten war
Konrad Adenauer.[23] In der Nachkriegszeit gehörte Adenauer zu den
Mitbegründern der CDU, war von 1949 bis 1963 erster Bundeskanzler der
BRD und stand von 1951 bis 1955 auch dem Außenministerium vor. Am
12. Dezember 1974 verabschiedete der Bundestag dann ein ›Gesetz über die
Auflösung, Abwicklung und Löschung von Kolonialgesellschaften‹. Zu
diesem Zeitpunkt bestanden in der BRD noch rund 20
Kolonialgesellschaften, die sich die »Entwicklung der deutschen
Schutzgebiete« zum Ziel gesetzt hatten. Wie es in der gesetzlichen Initiative
zur Begründung hieß, wurde diese Gesetzesvorlage aufgrund der
zunehmenden revisionistischen Bestrebungen notwendig. »In den letzten
Jahren [bestehen] erkennbare Tendenzen, ruhende Kolonialgesellschaften
wieder zu aktivieren.«[24]
Auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära sind koloniale
Argumentations- und Denkmuster in der BRD trotz aller gesellschaftlichen
Umbrüche virulent geblieben. So soll Bundespräsident Heinrich Lübke
Anfang der sechziger Jahre bei einem Staatsbesuch in Afrika seine Gäste
mit »sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger« begrüßt haben. Dieser
koloniale Habitus, den viele Deutsche als lustige Anekdote abtun, mag der
Sozialisation seiner Generation in der Kolonialzeit geschuldet sein.
Unabhängig davon, ob er dies wirklich so gesagt hat oder nicht, scheint
vielmehr evident zu sein, dass man ihm und der politischen Elite solche
Bemerkungen und das damit zusammenhängende Denken zutraute. Die
Hierarchie bzw. ›Rassenpyramide‹, die ein solches Denken manifestiert,
stehen symptomatisch für das problematische deutsche Verhältnis zu seinen
früheren Siedlungskolonien. Die in der BRD publizistisch und politisch
geäußerten Sorgen über die jüngsten Landreformpläne in Namibia
zuungunsten der deutschstämmigen Großgrundbesitzer erwecken den
Eindruck einer ›Schutzmacht‹, die sich für ihre deutsche Kolonie einsetzt.
Wir erinnern uns, dass es zu Südafrika in der Apartheidszeit nicht nur eine
Franz-Josef-Strauß-Connection gab, sondern auch Bestrebungen, sich für
die Interessen der 120.000 deutschstämmigen SiedlerInnen einzusetzen.
Koloniales Erbe und völkisches Denken sind auch innenpolitisch aktuell.
Die Resistenz sich der eigenen Kolonialisierung zu stellen, findet nicht
zuletzt in fortgesetzten Kolonialdiskursen ihren rassistischen Ausdruck – so
etwa, wenn der rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Geis,
noch im Jahre 2002 im Fernsehen die Warnung des ehemaligen
Kanzlerkandidaten der christlichen Volkspartei und derzeitigen bayerischen
Ministerpräsident Edmund Stoiber vor einer »durchrassten Gesellschaft«
(1988) unbekümmert bekräftigt.[25]
Darüber hinaus verweist der paternalistische Ton, der exemplarisch dem
Lübke zugeschriebenen Ausspruch innewohnt, auf weiterreichende
Kontroversen, die heutzutage mit Schlagwörtern wie
›Modernisierungstheorie‹, ›Entwicklungspolitik‹ und ›Neue Weltordnung‹
verknüpft sind und früher unter der Rubrik ›koloniale Schuldlüge‹
ausgefochten wurden. In diesem Kampf geht es um die Definitionsmacht
über Geschichtsbilder. Je nach dem, wer welche Geschichtserzählungen
perspektivisch durchsetzen kann, werden gegensätzliche Konsequenzen
daraus abgeleitet. Die Beurteilung der Auswirkungen der deutschen
Kolonialgeschichte und der Legitimität kolonialer Praktiken ist in der BRD
ein umstrittenes Feld. Rudolf von Albertini, der zu den renommierten
deutschen Fachhistorikern zu diesem Themengebiet zählte, schrieb noch
1982:
Trotz des Risikos, als Apologet des Imperialismus zu erscheinen, halte ich daran fest, daß die
Kolonialzeit für die Kolonialisierten eine Phase der Modernisierung bedeutet hat. Die Befriedung,
d.h. die Verhinderung intertribaler Kriege […], die Bildung größerer territorialer Einheiten,
moderne Verwaltung, Kommunikationssystem und wirtschaftliche Mise en valeur gehören ebenso
dazu wie Schulwesen und Sanitätsdienste.[26]

Eine andere Strategie, sich der ›Bürde des weißen Mannes‹ zu entledigen,
besteht darin, ihre Bedeutungslosigkeit zu suggerieren und den
Kolonialterror zur Tugend umzudichten. So bezeichnet der Potsdamer
Geschichtsprofessor Manfred Görtemaker »den Umfang und die Bedeutung
des deutschen Kolonialbesitzes als bescheiden.« Sein Fazit lautet:
Bei Licht gesehen, war alles hübsch bescheiden. Nirgendwo ein Indien, ein Indochina oder ein
Kongo. Und keine Reichtümer, keine Schätze. Nur ein bißchen Kupfer und ein paar Diamanten in
Südwestafrika. Nichts, was der deutschen Wirtschaft zu Hause neue Impulse hätte geben können,
wenn sie es gebraucht hätte. Was blieb, waren große Worte.[27]

Noch unseriöser wird die Darstellung, wenn Görtemaker in seinem


wohlwollenden Kurzportrait Carl Peters durchgängig als »Afrikaforscher«
aufwertet und Paul von Lettow-Vorbeck als kolonialen Weltkriegsheld
inszeniert. Die Kolonisierten sind hingegen weder als handelnde Subjekte
noch als Opfer der Erwähnung wert. Selbst der Genozid an den Herero und
Nama wird verschwiegen. Nichtsdestotrotz wurde dieses Buch von der
›Bundeszentrale für politische Bildung‹ durch Sonderauflagen großzügig
gefördert und erreichte 1995 die fünfte Auflage. Solche Geschichtsbilder
rufen anscheinend keinen Widerspruch hervor, sondern wurden bzw.
werden von der offiziellen Kultur umarmt. Letztlich geht es darum zu
suggerieren, dass deutsche Kolonialpraktiken einer abgeschlossenen
Periode angehören, auch schon damals kaum gesellschaftliche Relevanz
entwickelten und ›richtig‹ angewendet durchaus sinnvoll sind. Als geistige
Produkte des bundesrepublikanischen Kultur- und Wissenschaftslebens
sagen solche Perspektiven viel über die ideologischen Hinterlassenschaften
und den Zustand dieser Gesellschaft aus. Sie sagen uns, dass die Frage nach
der Kontinuität kolonialer Blicke aktuell ist.
Welche Form die unbewältigte deutsche Kolonialkultur annimmt,
möchte ich bei Heinz-Dietrich Ortlieb exemplarisch verdeutlichen. Ortlieb
war bis zu seiner Emeritierung als Professor der Volkswirtschaft an der
Universität Hamburg und bis 1978 auch als Direktor des renommierten
Hamburger Instituts für Wirtschaftsforschung tätig. Im gesicherten
Ruhestand konnte er seine Einstellungen in einer einschlägigen Publikation
nunmehr ohne Rücksicht auf offizielle Ämter offenbaren. Bereits der Titel
der Festschrift Hundert Jahre Afrika und die Deutschen[28] suggeriert, dass
Afrika erst mit der heroischen Tat der Kolonialisierung in die
Weltgeschichte eintreten sei und erschien 1984 anlässlich der 100-Jahrfeier
der ›Deutschen Afrika Stiftung‹. Ortlieb schreibt darin:
Ausbeutung, Unterdrückung und sonstige Untaten, bei denen heutige Kritiker gern besonders
nachhaltig und genüsslich verweilen, sind selbst in den extremsten Fällen nicht schlimmer
gewesen als das, was schwarze Stämme sich selbst immer wieder angetan haben. Das eigentliche
Problem der europäischen Kolonialherrschaft liegt viel eher gerade in ihren positiven, aber
unvollkommen Leistungen […] Das eigentliche Versagen der Kolonisatoren [besteht darin],
Völker fremder Kulturen aus dem ökologischen Gleichgewicht ihrer eigenen Lebensformen
herauszureißen, um sie sich dann selbst zu überlassen.[29]

In seinen Beitrag, der unbeirrt die zivilisatorischen Errungenschaften der


Kolonisation verteidigt, sind die sozialdarwinistischen
Argumentationsmuster und Bilder aus dem 19. Jahrhundert lebendig
geblieben. Wir finden eine bizarre Mischung aus völkischen Biologismus
und blanken Kolonialrassismus, der mit Images ›minderwertiger‹,
›primitiver‹ wie ›grausamer Naturvölker‹ in Afrika operiert, die nicht über
den Entwicklungsstand unselbständige Kinder hinaus gekommen seien.
Angesichts des Genozids an den Herero und Nama sowie der brutalen
Niederschlagung des Maji-Maji Aufstands in ›Deutsch-Ostafrika‹, die von
1905 bis 1907 bis zu 300.000 AfrikanerInnen das Leben kosteten, wirkt die
Beschwörung der unvollkommen Leistungen westlicher Kolonialherrschaft
schlicht menschenverachtend. Ortliebs Konzept für die Gestaltung der
internationalen Beziehungen lautet: »Um eine realistische Welt- und
Entwicklungspolitik treiben zu können, wozu auch immer Machtpolitik
gehören muß«, sollten sich der Westen von der »egalitären Weltideologie«
verabschieden und in Afrika einen »Mentalitätwandel« herbeiführen,[30]
um Arbeitsdisziplin zu ermöglichen.
Wenn nicht alles täuscht, sind mit den ›Verteidigungspolitischen
Richtlinien‹ von 1992 und 2003, die eine weltweite Sicherung nationaler
Interessen vorsehen, die militärischen und machtpolitischen Komponenten
in der deutschen Außenpolitik revitalisiert worden.[31] Inzwischen ist die
Armee als Global Player nach Aussage ihres sozialdemokratischen
Ministers Struck vom 5. Dezember 2002 auch bereit, »die Sicherheit
Deutschlands am Hindukusch [zu] verteidigen«. Nach der neuesten Planung
wird zukünftig vor allem Afrika als Zielgebiet deutscher Kriegseinsätze
angesehen, die offiziell als »friedenserzwingende Missionen an jedem Ort
der Welt«[32] euphemisiert werden. Mit der Durchsetzung westlicher
Militärgewalt steigt die Gefahr, dass durch geopolitische Interventionen
eine Weltordnung (re-)etabliert wird, die einen Kreislauf von Herrschaft
und Viktimisierung revitalisiert, in der die aufeinander weisenden
Kategorien von Raum – Traum – Trauma erneut als Glieder einer
kolonialen Produktionskette miteinander verbunden werden.

BIBLIOGAFIE
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ANMERKUNGEN
1 Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der im Panel »Berliner Konferenz und Geopolitik« der
»Plattform III: Eine andere Moderne – Menschenrechte und Terror« im Rahmen der
Veranstaltungsreihe »Black Atlantic« im Berliner Haus der Kulturen der Welt am 13.11.2004
gehalten wurde. Nicola Lauré al-Samarai und Fatima El-Tayeb, die auf unterschiedliche Weise
diese Arbeit ermöglicht haben, danke ich sehr herzlich für ihre Unterstützung.
2 Vgl. Smith: »Colonialism and Colonial Empire«, S. 431-432.
3 Vgl. etwa Ayim, Oguntoye & Schultz: Farbe bekennen; Noyes: Colonial Space; Zantop:
Colonial Fantasies; Friedrichsmeyer, Lennox & Zantop (Hrsg.): The Imperialist Imagination;
Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft; El-Tayeb: Schwarze Deutsche
und Conrad & Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus.
4 Vgl. etwa Kundrus (Hg.): Phantasiereiche.
5 Für eine exemplarische Analyse kolonialer Strukturen und Affinitäten, die vom
Wilhelminischen Kolonialreich bis in aktuelle Debatten reichen, vgl. etwa Ha: »Die kolonialen
Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«.
6 Vgl. die Beiträge in Heyden & Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin. Trotz der intendierten
kritischen Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte vertreten die dort versammelten Beiträge
mit einer einzigen Ausnahme weiße Perspektiven. Diese Marginalisierung spiegelt sich auch in
der Tatsache, dass grundlegende Vorarbeiten aus der Schwarzen deutschen Community ignoriert
werden. So taucht »Farbe bekennen« von Ayim, Oguntoye & Schultz in dem Sammelband von
Heyden & Zeller nicht einmal in den Fußnoten auf. Gerade für die Erforschung der
Kolonialmetropole Berlin leisteten Paulette Reed-Andersons „Rewriting The Footnotes – Berlin
und die Afrikanische Diaspora“ (2000) und Hito Steyerls Dokumentarfilm „Die leere Mitte“
(1998) wichtige Beiträge.
7 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß.
8 Vgl. Jäger u.a. (Hrsg.): Der Spuk ist nicht vorbei; Ha: Ethnizität und Migration RELOADED, S.
23-35.
9 Vgl. hierzu etwa Schwarz: ›Je weniger Afrika, desto besser‹. Leider empfiehlt sich diese Arbeit
aufgrund ihrer unkritischen Analyse nur als Quellensammlung.
10 Vgl. Chickering: We Men who Feel most German.
11 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, und: Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche
Gesellschaft.
12 Vgl. den reich bebilderten Aufsatz von Ciarlo: »Rasse konsumieren«, der einen umfangreichen
Eindruck vom Ausmaß kolonialer Tropen in der deutschen Alltagskultur vermittelt.
13 Ein Überblick bieten die Beiträge zum Thema ›kolonialdeutsche Wissenschaften‹ in: Heyden &
Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin, S. 97-134.
14 Poeschel, Hans: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles. Dokumente zu ihrer Behandlung.
Berlin 1920, S. 15-17, zit. nach Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet
worden?«, S. 74.
15 Rogowski: »›Heraus mit den Kolonien!‹«, S. 244-245.
16 Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet worden?«, S. 71, 74.
17 Vgl. ebenda und: Timm: »Für 35 Jahre einen ›Platz an der Sonne‹«, S. 67-68.
18 Vgl. auch Heyden: »Afrikaner in der Reichs(kolonial)hauptstadt«.
19 Vgl. Honold: »Afrikanisches Viertel«, S. 314.
20 Vgl. Struck: »Die Geburt des Abenteuers aus dem Geist des Kolonialismus«, S. 270.
21 Vgl. auch Rüger: »Das Streben nach kolonialer Restitution in den ersten Nachkriegsjahren«.
22 Vgl. auch Gall: Das Atlantropa-Projekt; Voigt: Atlantropa.
23 Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet worden?«, S. 75; Rogowski: »Heraus
mit den Kolonien!«, S. 244-245.
24 Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus, Rückcover.
25 Feddersen: »Der höfliche Fundamentalist aus Bayern«
26 Albertini: Europäische Kolonialherrschaft, S. 601, zit. nach Börries: »›Hochmut‹, ›Reue‹ oder
›Weltbürgersinn‹?«, S. 158.
27 Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 355.
28 Vgl. Höpker (Hrsg.): Hundert Jahre Afrika und die Deutschen.
29 Zit. nach: Nestvogel & Tetzlaff: »Einleitung«, S. 9.
30 Zit. nach: ebenda, S. 10-11.
31 In der Pressemitteilung der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigten
KriegsdienstgegnerInnen (DFG – VK) vom 21.5.2003 urteilt ihr Bundessprecher Jürgen
Grässlin: »Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Minister Struck heute vorgestellt hat,
stellen das aggressivste deutsche Militärprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg dar«.
32 Diese Vorstöße stellte Struck anlässlich der Feierlichkeiten zum 50jährigen Gründungsjubiläum
der Bundeswehr auf. Vgl. Anonymus: »Struck: Bundeswehr künftig auch im Kriegseinsatz«.
NICOLA LAURÉ AL-SAMARAI
INSPIRITED TOPOGRAPHY:
ÜBER/LEBENSRÄUME, HEIM-SUCHUNGEN UND DIE
VERORTUNG DER ERFAHRUNG IN SCHWARZEN
DEUTSCHEN KULTUR- UND
WISSENSTRADITIONEN[1]

»sie sind die betroffenen und ich bin extrem, was auch immer
sich ihrer betroffenheit entzog, war meine chance, am leben zu
bleiben«
Guy St. Louis, 14. nov. 1994

»People of color, Frauen of color, Queers of color haben eine


Geschichte mit, um und in Deutschland./Wir waren, wir sind
und werden sein… at home.«
Olumide Popoola, Beldan Sezen: Talking Home

Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, mich mit einer afrodeutschen
Architektin über die Dimensionen von Spiritualität bei der Kreierung
eigenständiger und selbstbestimmter Schwarzer deutscher kultureller
Räume austauschen zu dürfen. Wir unterhielten uns über die inzwischen
beinahe selbstverständlich scheinenden Errungenschaften einer schwer
erkämpften gemeinschaftlichen Beständigkeit, überlegten, ob und wenn ja
von welchem Geist (spirit) die diversen kulturellen Ausdrucksformen
Schwarzer deutscher Männer und Frauen getragen sind, und wie dieser ein
aus vielen verschiedenartigen und zum Teil widersprüchlichen
Einzelstimmen und -erfahrungen bestehendes Wissen zusammenführt,
beeinflusst und verändert. Es war in der Tat ein inspirited Dialog, den wir
führten, denn der Geist, über den wir gemeinsam nachdachten, lenkte
bereits die Richtung unserer gedanklichen Reise und eröffnete uns eine
re/visionäre Sphäre, in der wir Spiritualität nicht als verflachtes esoterisches
Verdauungsprodukt kultureller Einverleibungen belächelten, sondern sie als
wesentliches Element Schwarzer diasporischer, vor allem aber Schwarzer
deutscher Widerstandskonzepte zu redefinieren und zu replazieren
versuchten.
Die Tatsache, dass wir uns auf eine solche eigenständige Sphäre
überhaupt beziehen konnten, brachte mich zurück zu den diversen
Ausgangspunkten unserer Schwarzen deutschen Kulturproduktion, zu den
im Werden und Wandel befindlichen, mannigfaltigen Strategien
kultur/historischer Verhandlungen, wie sie sich in bislang zugänglichen
Werken theoretischen und autobiographischen Schreibens sowie lyrischer
und visueller Kunst finden, und zu spezifischen Traditionslinien, die
dadurch begründet wurden. Diese Traditionslinien sind Ausdruck eines
Widerstandsprozesses gegen rassistische Gewalt, Ausgrenzung und die
fortdauernde angestrengte Entinnerung und Unsichtbarmachung einer
Schwarzen deutschen Anwesenheit und Geschichtlichkeit. Und sie sind das
Ergebnis zuweilen sehr direkt, zuweilen eher lose miteinander verbundener,
transformativer kreativer Impulse, vermittels derer sich Schwarze deutsche
Männer und Frauen die Möglichkeit schaffen, ihre Geschichten und
Gegenwarten mit einem eigenständigen Plot zu versehen. Diese, sich auf
eine subversive expressive Gegenintelligenz gründende, bewusste Setzung
einer historischen Handlung (historical emplotment), die charakterisiert ist
von der selbstermächtigenden Einschreibung einer re/visionären
Gegengeschichte und Gegenerinnerung, beschreibt Houston Baker als spirit
work.[2]
Spirit work konvertiert das widerständige Begehren eines historischen
und gegenwärtigen Sich-Verwurzeln-Wollens in einen vielstimmigen
couragierten Sound und in unablässige Bewegung. Sound und Bewegung,
Erinnerung und Rückforderung, Rekonfiguration und Rekontextualisierung
sind demnach Schlüsselbegriffe im Kampf um eine selbstbestimmte
Schwarze Subjektivität, in dem KulturproduzentInnen eine besondere Rolle
zukommt. Mit ihrer theoretischen und künstlerischen Vorstellungskraft
begründen sie distinkte Artikulationspraxen und nehmen sowohl in weißen
deutschen wie auch in Schwarzen diasporischen Kontexten grundlegende
Neubestimmungen sozialer, politischer und kultur/geschichtlicher
Repräsentationsfelder vor. Diese Praxen sind Teil einer im Entstehen
befindlichen kulturellen Topographie, die ich im Folgenden einkreisen
möchte. Mich interessieren die darin zu lokalisierenden Rahmensetzungen
und Themen, Orte und Stimmen, Kontinuitäten und Brüche, kurz: die
vielfältigen Versuche, die unternommen wurden und werden, um die
gewaltvolle Allgegenwärtigkeit weißer Dominanz aufzubrechen und zu
verhandeln und um eine Schwarze deutsche Präsenz in ihrer eigenständigen
Raum/Zeit[3] zu beheimaten.

»AM ANFANG WAR DAS WORT […]«:[4] DIE RÜCKFORDERUNG SCHWARZER


DEUTSCHER GESCHICHTE

Es ist ungewöhnlich für unterworfene Gemeinschaften, dass sich der


Ausbruch aus der historischen Enteignung und der Aufbruch in eine
selbstbestimmte Geschichtlichkeit mit einer recht genauen Zeitangabe
versehen lässt. Ebenso ungewöhnlich ist es, dass im Unterschied zur
kollektiven Unterdrückungserfahrung Schwarzer Menschen in den
Amerikas und an anderen Orten dieser Welt, die viele, in dieser Erfahrung
wurzelnde exponierte Einzelstimmen hervorbrachte und hervorbringt, im
Schwarzen deutschen Kontext erst der Zusammenklang vereinzelter
Stimmen eine kollektive Dimension hör- und sichtbar werden lässt. Vor
diesem Hintergrund ist das 1986 erschienene Buch Farbe bekennen. Afro-
deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte[5] der vielleicht
bedeutsamste Meilenstein auf dem Weg in die eigene Geschichte; dies vor
allem deshalb, weil die von den Autorinnen vorgenommenen strukturellen
Paradigmenwechsel auch heute, zwei Jahrzehnte später, bahnbrechend
geblieben sind.
Konzipiert als Collage, entspricht die Form der Monographie dem
zutiefst fragmentierten Charakter einer verschwunden-gemachten
Schwarzen deutschen Geschichte, die sie zusammenzufügen und mit einer
inneren Chronologie zu versehen versucht. Der vitale Dialog zwischen der
verdienstvollen historischen Forschung May Ayims, den Selbstzeugnissen
afrodeutscher Frauen unterschiedlicher Generationen, der Vielzahl von
Fotos und Gedichten sowie zwei aufgezeichneten Gesprächen, an denen
mehrere Personen teilnehmen, setzt verschiedenartige Erfahrungs-,
Wissens- und Artikulationskontexte in eine gleichberechtigte Beziehung.
Auf nachdrückliche Weise werden wir als LeserInnen mit diversen
kommunikativen Strategien einer Gegenerzählung und Gegenerinnerung
konfrontiert, die sowohl eine diskursive wie auch eine emotionale
Herausforderung darstellen. Insbesondere die konsequente
Wiedereinbettung der deutschen Kolonialherrschaft sowie die Diskussion
ihrer geistes- und kulturgeschichtlichen Echos und Spektren und ihrer
alltagsweltlichen und zwischenmenschlichen Konsequenzen verweist auf
eine Aktualität, die die hartnäckige Verdrängung dieser Epoche mit sich
brachte und bringt. Wie sich in Farbe bekennen zeigt, ist es die koloniale
Erfahrung, die komplexe kulturelle Landkarten mit ineinander
widerhallenden dominanten und unterworfenen Geschichtlichkeiten
hervorbrachte und noch immer hervorbringt, die sich in die Körper
Schwarzer und weißer Männer und Frauen einschrieb und noch immer
einschreibt, derer man sich zu entledigen oder zu erinnern versucht und die
– weder be- noch überwältigt – Schwarze und weiße deutsche
Vergangenheiten und Gegenwarten untrennbar miteinander verknüpft. Es ist
die koloniale Erfahrung, die den Ausgangspunkt einer gewaltvollen
hierarchischen Begegnungs- und Beziehungsgeschichte markiert, über die
im Zuge der Sichtbarmachung und verknüpfenden Gegenüberstellung
weißer hegemonialer und Schwarzer unterworfener Perspektiven Zeugnis
und Zeuginnenschaft abgelegt wird.
Farbe bekennen ist Ausdruck eines quälenden historischen Momentes
und eröffnete mit dem Versuch seiner Überwindung einen Aufbruch in viele
Aufbrüche. Das Bemühen, sich aus der aufgezwungenen und schmerzvollen
Diskontinuität einer verschütteten Geschichte zu befreien, »um nicht mehr
passiv unter ihr leiden zu müssen«,[6] macht dieses Buch zu einem
vielschichtigen kultur/geschichtlichen Text, der auf komplexe Weise nicht
nur die Anfänge einer spezifischen diasporischen Präsenz dokumentiert,
sondern als politisches Projekt einer Gegengeschichtsschreibung zu lesen
ist. Erstmals wurden aus Schwarzer feministischer Perspektive die
gravierenden Wirkmechanismen historisch gewordener, bis in die
Gegenwart wirkender rassischer[7] Strukturen und Dynamiken einer
Gesellschaft analysiert, in der Schwarze Menschen / People of Color die
bezeichneten ›Anderen‹ und weiße Menschen die nicht bezeichneten
›Einen‹ waren und sind. Die von den Autorinnen gemeinsam
unternommene und von großer Zugewandtheit getragene, Generationen
verbindende Erinnerungsarbeit kreierte darüber hinaus den Rahmen eines
Repräsentations- und eines Imaginationsraumes, innerhalb dessen die
respektvolle Neuverortung der bis dahin entwerteten gelebten Erfahrung
Schwarzer Menschen einen zentralen ethischen und erkenntnistheoretischen
Grundsatz darstellt.[8] So konnte Marginalität nicht mehr nur als Ort des
Verlustes und der Beraubung erlitten, sondern als Ort des Widerstandes
definiert und angeeignet werden, aus dem heraus sich zurück-sprechen ließ.
Dieser von bell hooks identifizierte Akt des talking back[9] – einer
befreienden Bewegung vom Schweigen zur Sprache – ist der zutiefst
historische Prozess einer Schwarzen Subjektwerdung, die sich in einem
ersten Schritt ihren eigenen Namen gab. Die Selbstbezeichnungen
Afrodeutsche/r oder Schwarze/r Deutsche/r sind folglich kein verfeinertes
Sprachspiel, sondern durchbrechen die dominante Semantik von Be- und
Entnennung. Dass dafür die Erfindung eines Neologismus nötig war, der die
Gleichzeitigkeit von Schwarz-Sein und Deutsch-Sein überhaupt
aussprechbar machte – ihr also ganz buchstäblich ihren eigenen historischen
Sound verlieh – belegt die Wirkmacht einer exklusiven weißen
Vorstellungswelt, deren beredte Wortlosigkeit eine Schwarze deutsche
Existenz bis in die Tiefenebenen der Sprache zu negieren vermag.
Die Eroberung der Sprache innerhalb eines Kontextes fixierter Differenz,
in dem Schwarze Menschen als Nicht- oder Untermenschen benannt und
auf einer symbolischen und alltagsweltlichen Ebene immer neu ›an ihren
Platz‹ verwiesen werden, bedeutet eine erste und bewusste konzeptionelle
Inbesitznahme und Positionierung des Schwarzen Eigenen in Abgrenzung
zum weißen Anderen.[10] Eine solche Tradition der strategischen
Demarkation, die den Ort der Marginalität als einen Über/Lebens- und
Rückzugsraum schützt, ihn jedoch gleichzeitig mit anderen sowohl
dominanten wie auch marginalen Räumen und Stimmen in Beziehung zu
setzen versucht, erfordert flexible Selbstverortungen. Angesiedelt in einer
diasporischen Kommunikation, sprengen diese nicht nur die simplen
Binarismen nationaler und kultureller Zugehörigkeitsphantasmen, sondern
markieren einen vielstimmigen internen wie globalen call-and-response
zwischen unterdrückten Individuen und Gemeinschaften. Eine solche,
Verknüpfungen wieder-herstellende Vielfachverwurzelung stellt einen
fundamentalen Inspirations- und Kraftquell dar und artikuliert sich in Farbe
bekennen geradezu exemplarisch mit der schwesterlichen Stimme der
afrikanisch amerikanischen Dichterin Audre Lorde. In einem
transantlantischen Dialog ermutigte sie afrodeutsche Männer und Frauen,
sich selbst zu definieren, ihre Geschichte mit der anderer Schwarzer
Menschen zu teilen und die Vision einer Gemeinschaftlichkeit, in der die
achtsame Wahrung und strategische Nutzung von Unterschieden eine
wesentliche Existenzbedingung darstellt, zu denken und zu verwirklichen.

»SINNEND ICH SEIN«:[11] ENTWÜRFE AUTOBIOGRAPHISCHEN SCHREIBENS UND


LYRISCHER WORTKUNST

Vor dem Hintergrund weißer rassistischer Wort-, Bilder- und


Vorstellungswelten und angesichts eines spezifisch Schwarzen deutschen
Spannungsfeldes zwischen individueller Vereinzelung und der
weitestgehenden Enteignung materieller oder kultureller Einschreibungen
und des Fehlens eines kollektiven Gedächtnisses eröffnet insbesondere das
Vertrauen in und der Bezug auf die gelebte persönliche Erfahrung eine
Sphäre, sich den existentiellen und spirituellen Dimensionen des eigenen
Mensch-Seins zu vergewissern. Sich zum/zur AutorIn der eigenen
Geschichte zu machen, das heißt, sie selbst zu erzählen, anstatt erzählt zu
werden, bedeutet, sie geistig in Besitz zu nehmen und in einem – ob
bewusst oder unbewusst immer politischen – Akt der Selbstrepräsentation
mit Autorität zu versehen.[12] Eine solche autorisierende AutorInschaft
artikuliert sich im autobiographischen Impuls, der alle Ausdrucksformen
Schwarzer deutscher Männer und Frauen direkt oder indirekt formt und
durchzieht und dessen Einschreibung – auch wenn sie als solcher gern
engführend gelesen wird – weit mehr ist als nur ein dekonstruktivistischer
Kommentar herrschender Verhältnisse. Er ist erstens eine kulturelle
Über/Lebensstrategie der Marginalität, die aus der Vereinzelung sprechende
Fiktionen von Selbstheit[13] Schwarzer deutscher Menschen zu
versammeln vermag, Verbindungen zwischen ihnen herstellt und das häufig
nicht-fassbare Persönliche privilegiert und in Bewegung versetzt.[14] Und
er stellt zweitens das Fundament für eine Gegenerinnerung dar, die mit
erfahrungsbezogenen intellektuellen und künstlerischen Anstrengungen
Schwarzen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen in einer gegen-
diskursiven Welt ihren Ort zurückgibt. Die damit einhergehende
vielschichtige Überlagerung divergierender Lebenswelten »hinter dem
eigentlichen/zwischen den zeilen/unter der oberfläche«[15] bringt folglich
keine kohärente Gegenerzählung hervor, in der Vielstimmigkeit in einen
harmonischen Gleichklang mündet, sondern eine, der ein fragmenthaftes,
plurales und notwendigerweise widersprüchliches kulturelles Reservoir
diasporischer Expressivität entspringt.
Deren dissonanter Sound ist nirgends deutlicher zu vernehmen als in den
inzwischen immer zahlreicher erscheinenden Autobiographien Schwarzer
deutscher Männer und Frauen. Da keine/r der AutorInnen auf den Luxus
einer Sicherheit stiftenden historischen Kontinuität zurückgreifen kann,
sondern seine oder ihre Geschichte in die Unsicherheit der Unsichtbarkeit
und des gesellschaftlichen Schweigens einschreibt, sind alle diese Texte
gleichermaßen »accounts of self-learning«[16] wie auch bewusste Akte
einer sehr persönlichen Erinnerungsarbeit und mithin performative
Ereignisse, den weißen Meisterdiskurs auf irgendeine Weise zu verhandeln.
Das in allen Autobiographien erscheinende und sie prägende Leitmotiv
dieser Verhandlung ist dabei das Überleben »unsichtbar-blutiger
Kindheiten«.[17] Sie berichten ausnahmslos von rassistischer Gewalt,
gegen die man sich, um bei Verstand zu bleiben, körperlich zur Wehr setzen
oder eine »Hornhaut auf dem Trommelfell«[18] aneignen muss, von
individuellen Bewusstwerdungen in einer destruktiven weißen Welt, in der
es »nur eine Wirklichkeit, nur eine Wahrheit«[19] zu geben scheint, von der
Notwendigkeit, mit seinem Selbst einen kulturellen Zwischenraum zu
füllen, für den es »kein vorgefertigtes Format [gibt], dessen man sich als
›Monokultureller‹ oft leichtfertig und auf Kosten anderer bedient«,[20] und
davon, sich trotz möglicher Erfolge mit seiner Vergangenheit zu versöhnen,
um sich wirklich frei zu fühlen.[21] Sie erzählen eine Welt, in der von allen,
die nicht weiß sind, erwartet wird, »daß sie den Mund halten. Daß sie still
sind, brav und artig. Daß sie weder stören noch sonstwie auffallen und bitte
auch keine Forderungen stellen«[22] – eine Welt, in der eine Schwarze
Identität »fast vollständig von der Außenwelt bestimmt und genormt wird,
d.h., in der dem Ich seine Wertbestimmung nur über Abgrenzungen
zugeschrieben wird – ›nicht‹-weiß/›nicht‹-deutsch.«[23]
Diese ab- und ausgrenzende außenweltliche Normensetzung begegnet
uns in Form signifikanter weißer männlicher und weiblicher Vor-Schriften
(pre-texts), die innerhalb der Schwarzen autobiographischen Texte
fortwirken, diese nachhaltig prägen[24] und vor allem deshalb bedeutsam
sind, weil ihre bisweilen durchdringende Lautstärke die normative
Gegenwärtigkeit eines rassischen Diskurses kolonialer Provenienz hörbar
macht. Die argumentativen Gemeinplätze dieses Diskurses sind – im
Gegensatz zu Michelle Wrights Annahme – sehr wohl als anti-afrodeutsch
zu bezeichnen, denn sie positionieren Schwarze deutsche Menschen
kontinuierlich als »Others-from-Without«,[25] indem sie individuelle und
kollektive Ausgliederungen vornehmen und so ein Schwarzes deutsches
Sein existentiell tilgen.[26] Vor dem Hintergrund einer solcherart
genichteten Geschichte[27] erscheint Weißsein in den Autobiographien
nicht als abstrakte Kategorie, über die sich angenehm fabulieren lässt,
sondern als vieldimensionale Schwarze Gewalterfahrung. Dieser alle
Lebensbereiche erfassende und in Bewegung befindliche Seins-Zustand
materialisiert sich als Zusammenballung machtvoller, bis in die Familie
hinein wirkender sozialer Un-Orte und Un-Zeiten, innerhalb derer die
AutorInnen ihre Erzählungen mit Bedeutung und Sinnhaftigkeit zu
versehen versuchen.[28]
Weil die Dimensionen dieser Erfahrung in jedem Text individuell anders
verschlüsselt sind, ist es – jenseits weißer exotistisch-voyeristischer
Funktionalisierungspraktiken oder pseudo-humanistischer
Betroffenheitsdiskurse – für eine Entwicklung kritisch-zugewandter
Lesarten aus Schwarzer Perspektive bedeutsam, nicht danach zu fragen, ob
autobiographische Texte ›gut‹ oder ›schlecht‹ geschrieben sind oder ob sie
›positive‹ oder ›negative‹ Images re/produzieren. Die Herausforderung liegt
eher, im Sinne Gina Dents, »not in policing the areas over which our gaze
may tresspass, but, rather, in making it clear that what we reveal there are
the effects of that gaze.«[29] Auf diese Weise lassen sich die
widersprüchlichen und widerstreitenden ›Effekte‹ Schwarzer deutscher
Blicke als komplexe Heim-Suchungen einer traumatisierten Geschichte
respektieren, die Zugang zu einer intellektuellen Tradition der
autobiographischen Verhandlung eröffnen. Werden die Autobiographien
darüber hinaus aus ihrer diskursiven Vereinzelung befreit und in einem
interpretativen Akt als zueinander sprechende Texte zusammen gelesen,
dann konstituiert ihre Gesamtheit ein ständig wachsendes,
generationsübergreifendes symphonisches Stimmenarchiv, dessen Aussagen
nicht nur bedeutsam sind für die vorsichtige Einkreisung divergierender
Schwarzer deutscher Männer- und Frauenerfahrungen, sondern das im Zuge
der Etablierung einer Gegengeschichtsschreibung die grundlegende
Vorraussetzung dafür bildet, dass Erinnerung als verlässliche und
kraftspendende gemeinschaftliche Ressource überhaupt nutzbar gemacht
werden kann.
Während Schwarze deutsche Autobiographien persönliche
Langzeitgeschichten erzählen, die aufgrund der zumeist einsamen
Auseinandersetzung mit repressiven sozialen Gegebenheiten die Erfahrung
der Vereinzelung als spezifische diasporische Ausgangsbedingung ins
Zentrum der Betrachtung rücken, markiert lyrische Wortkunst als
expressives Genre mit Momentcharakter einen anderen Über/Lebensraum.
Audre Lorde verwies nachdrücklich darauf, dass für Schwarze Menschen /
People of Color Dichtung kein Luxus ist, sondern eine
Lebensnotwendigkeit, aus der dann ein wirksames Handeln entspringt,
wenn »wir die Intimität des prüfenden Betrachtens aushalten und darin
gedeihen lernen«.[30] Im Schwarzen deutschen Kontext erfordert dies eine
radikale und visionäre künstlerische Selbst(er)findung, wie sie Popoola &
Sezen in ihrer Anthologie Talking Home beschreiben: »Wie so viele andere,
mußten auch wir die Worte, die wir so dringend zum Lesen gebraucht
hätten, selber schreiben. Worte, die uns halfen, unsere Erfahrungen in
Deutschland zu verarbeiten und die uns sichtbar machten, uns sein
ließen.«[31] Das Finden solcher Worte erlaubt es KünstlerInnen, aus der
Grauzone eines ständigen rassistischen Ausnahmezustands herauszutreten,
um »das Namenlose zu benennen, damit es denkbar wird«[32] und mit
einer Sprache, »die sich umdreht wie ein Echo/die den Morgen
belaubt«[33], eine eigene Welt zu erschaffen, in der Schmerz und Glück
geteilt, Schönheit gefeiert, politische Gegebenheiten angegriffen, Visionen
erarbeitet und Entwürfe für ein gemeinschaftliches Miteinander erprobt
werden.
Schwarze deutsche Wortkunst ist folglich eine bedeutsame Form
imaginativer Erinnerungs- und Bewusstseinsarbeit, denn sie webt Netze mit
»gemeinsame[n] Wege[n], neue[n] Wegkreuzungen«, mit Momenten »der
Be/geh/ung, der Be/geg/nung, des Mit/ein/ander Aus/tauschens, des
Auf/bruchs«.[34] Dafür stellt die persönliche Erfahrung zwar eine erste und
wichtige Inspiration bereit, allerdings sind die Konsequenzen ihrer Ver-
Dichtung sehr viel weiterreichend. Projekte wie die Zeitschriften afro look
und Afrekete (beide 1988 gegründet), die unveröffentlichte erste
Gedichtsammlung Macht der Nacht (1991/92), die Anthologien Talking
Home (1999)[35] und May Ayim Award (2004),[36] die Zusammenarbeit
von MCs in Bands wie Advanced Chemistry (gegründet 1987) und Brothers
Keepers (gegründet 2001) oder das Rap-Tanz-Theaterstück Coloured
Children (1997) entspringen einer selbstbewussten Tradition des
kollaborativen Schreibens/Sprechens, die individuelle Sehweisen zu einer
Zusammenschau verschmilzt.[37] Eine solche transformierende Bewegung
bindet nicht nur die individuelle Stimme in eine gemeinschaftliche
Kommunikation ein und verwandelt das isolierte entinnerte ›Ich‹ in ein
anrufbares beziehungsreiches ›Wir‹, sondern setzt einen, wie Kobena
Mercer ihn nennt, communifying process[38] in Gang. Dieser eröffnet ein
poetisches Territorium, in dem es möglich wird, sowohl die versprengten
Teile des eigenen Selbst zusammenzufügen, als auch die Vielheit Schwarzer
Anwesenheiten zu jenem »grenzenlosen« und »unverschämten« Ort zu
verbinden, »wo meine schwestern sind/wo meine brüder
stehen/wo/unsere/FREIHEIT/beginnt«.[39]
Das spirit einer solchen Überlebenskreativität[40] leitet mit seinen
Überschreitungen und Entgrenzungen einen bis ins Innere der Worte hinein
wirkenden Heilungsprozess ein, denn wenn, wie Édouard Glissant
konstatiert, »es wahr ist, daß man krank werden kann von einer Geschichte,
die man nicht selbst gemacht hat, so kann man auch an einer Sprache
kranken«,[41] in der diese Geschichte sich ausdrückt und die deshalb in
Besitz genommen und transformiert werden muss. Die Eroberung der
Sprache ist allerdings kein einfaches Unterfangen, denn »Weisse
sprache/schwarzes denken«[42] schließen sich zuweilen aus, weshalb das
Erlernen »verbaler Potenz« - Regel Nummer 6 der scharfsinnigen
pantomimischen Anleitung zum Schwarzen Profil von Elke Jank[43] - die
existentielle Voraussetzung für das Streben nach einem kollektiven
Ausdruck bildet. Dieses Streben bezeichnet Glissant als gezwungene Poetik
– gezwungen deshalb, weil es »aus dem Bewußtsein geboren [wird], daß
zwischen der Sprache, derer man sich bedient, und der Ausdrucksweise, die
man braucht, [um bestimmte Inhalte aussprechbar zu machen – N.L.] ein
Widerspruch besteht«.[44]
Das Schwarze deutsche Wort muss sich also, wie jedes andere
unterdrückte, seinen Weg in eine eigene Ausdrucksweise auf
nomadischen[45] Umwegen bahnen, wozu es phantasievolle wordscratcher
braucht, die sich der Aufgabe einer Ent-Fremdung des Mehrheitsdeutschs
annehmen, indem sie dieses mit Eigen-Sinn versehen. Die Demontage des
dominanten Sprachgebrauchs, seine Deterritorialisierung durch
Kontextverschiebungen, Neubesetzungen und Umformungen,[46] aber auch
das Empfinden dafür, wie man »eine Sprache wie die deutsche mit ihren
Konsonantenverbindungen, Deklinationen und ihrer komplizierten
Satzstruktur in Reimen bändig[t] […], ohne dafür Fluss und Rhythmus zu
opfern«,[47] deuten das strategische und energetische Potential an, das die
Grundlage für die Entwicklung künstlerischer Schreib- und Rapskills
liefert. Solcherart Fertigkeiten werden ebenfalls genutzt, die hegemoniale
monologische Einsprachigkeit mit dem Klang der Vielsprachigkeit zu
unterbrechen und zu dialogisieren, die einigen KünstlerInnen ein
widerstandsloseres Ausdrücken ihrer Empfindungen erlaubt[48] oder, wie
z.B. in dem in sechs Sprachen gerappten Stück Polyglott Poets, die
Vielfachwurzeln Schwarzer deutscher Realität konsequent zusammenführt.
[49]
Diese vielfältigen Kreolisierungsversuche sind als distinktes Schwarzes
deutsches Signifying zu lesen und bleiben keineswegs auf die sprachliche
Ebene beschränkt. Sie finden sich ebenso in der Entlehnung und
Vermischung ästhetischer Stile und Erzähltraditionen oder in gänzlich
neuen künstlerischen Verarbeitungen, wie etwa in den Lyrikbänden blues in
schwarz weiss und nachtgesang von May Ayim, in denen der Text der
deutschen Gedichte mit ghanaischen Adinkra-Symbolen korrespondiert.
Diese der oralen Kultur der Ashanti entstammende Bild-Sprache, die in der
Regel als Warnung, Ermutigung oder Rat dienende Sprichwörter und
Redensarten in abstrakter Form ausdrückt,[50] ergibt einen visuellen
Paralleltext, der sich mit dem geschriebenen Wort Ayims aufs engste
verknüpft. Beide Texte verdichten sich zu einer Kommunikation, die
»verbundene entfernungen/entfernte verbindungen/zwischen kontinenten«
zwar sichtbar macht, das dabei entstehende »daheim unterwegs«[51] jedoch
zugleich dem Blick entzieht und es als Heimat in Bewegung
undurchdringlich verschlüsselt.

»… EINE EXISTENZ MANIFESTIEREN, DIE MAN SEHEN KANN«:


POSITIONSBESTIMMUNGEN SCHWARZER DEUTSCHER VISUELLER
KÜNSTLERINNEN
In einer Gesellschaft, in der »[d]ie Erfahrung der Sichtbarkeit, die Welt der
Blicke und des von anderen Angesehenwerdens eines der zentralen Felder
[ist], auf denen Rassismus im Alltag gelebt und erlebt wird«,[52] in der das
Recht zu schauen zumeist ein weißes, vornehmlich männliches Privileg
darstellt und in der diese historisch gewachsenen, ungleichberechtigten
›Blick-Verhältnisse‹ von Machtstrukturen durchzogene Bilderwelten
schaffen, ist die Bedeutsamkeit einer Schwarzen deutschen visuellen Kunst
unschwer zu erahnen. Doch obwohl seit Mitte der achtziger Jahre bildende
KünstlerInnen wie Yvonne Buntrock, Christina Grotke, Manou Holzner, Ika
Hügel-Marshall, Stephen Lawson, Guy St. Louis, Raja Lubinetzki, Sabinah
Odumoso oder Ricky Reiser und FilmemacherInnen bzw.
DrehbuchautorInnen wie Fatima El-Tayeb, John A. Kantara, Branwen
Okpako oder Pierre Sanoussi-Bliss mit Bildern, Zeichnungen, Collagen,
Skulpturen, multimedialen Installationen und Filmen einen eigenen
ästhetischen Artikulationsraum begründeten, sind ihre Arbeiten und ihre
künstlerischen Positionsbestimmungen aus öffentlichen Diskussionen
weitestgehend ausgeschlossen. Diese Ignoranz ist keine zufällige, denn die
Inbesitznahme Schwarzer ›Sehkraft‹ findet, ebenso wie die des Wortes, in
einem umkämpften kulturellen Territorium statt und stellt die weiße
mastervision mit ihren gewaltvollen Markierungen und Repräsentationen
von rassifizierter Differenz grundsätzlich zur Disposition. Wenn Schwarze
visuelle KünstlerInnen zurück-schauen, konfrontieren sie mit ihren Werken
sowohl die kolonialen Wurzeln dominanter Blicke, als auch deren
dazugehörigen Richtungssinn, der sich vor allen Dingen darin ausdrückt,
dass die ›Einen‹ schauen und dabei unsichtbar bleiben, während die
geschauten ›Anderen‹ als Objekt des Blickes fixiert werden.[53] Und sie
verhandeln die Ergebnisse dieser Fixation, die ein von rassistischen Images
überfließendes visuelles Imaginäres re/produzieren, in das der eroberte
›Rest der Welt‹ samt seiner Menschen und deren Körper als mythische
Phantasie eines imperialen, omnipotenten Auges immer neu einverleibt
wird.
Innerhalb dieser, wie Michele Wallace sie nennt, hegemonialen und
Kontrolle ausübenden scopic regimes of modernity[54] versuchen visuelle
KünstlerInnen, sich einen eigenen Zugang zu ihrem verweigerten Erbe zu
erschließen. »Dass [sie] ihre Arbeiten auch oder gerade aus der Analyse der
historischen und kulturellen Voraussetzungen verstanden wissen wollen«,
[55] ihr Schaffen eingebettet sehen »in einen geschichtlichen und einen
gegenwärtigen Rahmen« und es als wichtige Form der Aufarbeitung
begreifen, »um an unsere Leute zu erinnern, egal, woher sie kommen«,[56]
ist im Schwarzen deutschen Kontext von besonderer Bedeutung. Angesichts
der vieldimensionalen Entnennung Schwarzer Geschichtlichkeit und ihrer
dazugehörigen Geschichten begründet vor allem das bewusste In-
Beziehung-Treten mit dem Unsagbar- und Unsichtbar-Gemachten, mit dem
(Noch)-Nicht-Erzählten und Nicht-(Mehr)-Erzählbaren und »mit den vielen
Sachen von uns, die überall auf der Welt verteilt worden sind und auf die
wir uns beziehen können, die wir aber selber suchen, erkennen und
zusammenfügen müssen«,[57] eine Tradition visueller Gedächtnisarbeit.
Angesiedelt innerhalb der zutiefst fragmentierten Schwarzen deutschen
Raum/Zeit, ist sie durch ein kreatives Engagement charakterisiert, das zwei
Ebenen miteinander verbindet: die Herauslösung Schwarzer Erfahrungen
aus dem System stereotyper rassistischer Figurationen und ihre Re-
Artikulation innerhalb eines ästhetischen Neuentwurfs, der ihrer Diversität
gerecht wird.[58]
Eine solche, mit der symbolischen Wiederaneignung Schwarzer
Vergangenheit(en) und Gegenwart(en) einhergehende figurale
Selbsterneuerung eröffnet eine Sphäre der Sichtbarkeit, in der komplexe
Geschichten »über ganz normale Leute so wie uns«[59] erzählt werden
können – Schwarze Geschichten aus Schwarzer Perspektive, in denen sich
»etwas Gravierendes im Un-Gleichgewicht, im Un-Verhältnis«[60]
befindet. Die Wirkweisen dieser Un-Gleichgewichte und Un-Verhältnisse,
die entlang normativer Unterdrückungsachsen wie Rassimus und
Hetero/Sexismus sowie multipler historischer und gegenwärtiger
Verdrängungen eine komplexe Matrix der Wirklichkeit konstituieren,
fordern KünstlerInnen dazu heraus, sich auf die Reise zwischen Geschichte
und Fiktion, zwischen Kunst und Ritual, zwischen westlichen und nicht-
westlichen Einflüssen zu begeben und sich der Elemente einer etablierten
oder aufgezwungenen Kultur zu bedienen, um sie zu verfremden, zu
verschlüsseln und mit eigenen Bedeutungen zu versehen.[61] Werke wie die
das Thema der Völkerschauen bearbeitende Collage Bitte nicht füttern! von
Yvonne Buntrock oder die Holzskulptur Schwarze deutsche Eiche von
Stephen Lawson lassen vor diesem Hintergrund eine bewegliche
Kartographie aufscheinen, in der das Ineinandersetzen und Verschmelzen
scheinbar nicht zusammengehöriger Kontexte es erlaubt, den versteckten
Rissen der Geschichte nachzuspüren und diese vermittels eigenständiger
geopolitischer Lesarten in den Blick zu rücken.
Eine eindrucksvolle Bearbeitung solcher ›Risse‹ unternehmen auch
Spielfilme wie Alles wird gut, Zurück auf los und Tal der Ahnungslosen,
[62] die gerade in Ermangelung einer Schwarzen deutschen Romantradition
als narrative Projekte mit epischem Charakter von besonderer Bedeutung
sind. Sie erzählen von der Liebesgeschichte zwischen zwei auf
abenteuerlichen Umwegen zueinander findenden westdeutschen Frauen,
vom Lebenskünstlertum eines schwulen HIV-positiven Ossis, der von einer
Sängerkarriere mit Aufnahmen alter DDR-Schlager träumt, und von der
Suche einer ostdeutschen Polizistin nach ihrem verlorenen Lebenslauf. Ihre
humorvollen und nachdenklichen Innen-Sichten aus afrodeutschen Alltagen
und den dazugehörigen zwischenmenschlichen Verwicklungen verweisen
auf die zuweilen geradezu groteske Absurdität herrschender
gesellschaftlicher Normen und erschließen zugleich einen öffentlichen
Raum, in dem eine in ständigem Wandel befindliche, multiperspektivische
Schwarze Gegenwärtigkeit repräsentierbar wird. Insbesondere queere
FilmemacherInnen nehmen dabei mit ihren Blickwinkeln, der Wahl ihrer
Sujets und handelnden Charaktere innerhalb weißer und Schwarzer
heteronormativer Zusammenhänge entscheidende strategische
Positionsbestimmungen vor, denn indem sie diverse und divergierende
Aspekte und Schnittstellen Schwarzer männlicher und weiblicher
Erfahrungen von Mehrfachmarginalisierung einkreisen, unterbrechen und
dialogisieren sie gängige hegemoniale Wahrnehmungskontexte und, wie
Kobena Mercer konstatiert: »Insofar as they speak from the specificity of
such lived experiences, they overturn the assumption that minority artists
speak for the entire community.«[63]
Eine derart bewusste und vielschichtige konzeptionelle De-
Essentialisierung Schwarzer Identitäten bildet darüber hinaus einen
wesentlichen Ausgangspunkt für das Nachdenken darüber, wie männliche
und weibliche Schwarze Körper aus den Überdeterminierungen weißer
rassistischer und sexistischer Diskurse zu befreien sind. Die Frage des
afrobritischen Künstlers Keith Piper, welche Bildsprache angesichts des
Spannungsfeldes zwischen kolonialer Eroberung, Versklavung,
Vergewaltigung und Mord und der gewaltvollen fetischisierenden
Deformierung und Zur-Schau-Stellung Schwarzer Körperlichkeit entwickelt
werden kann, die sich »beyond the suffering image«[64] befindet, ist auch
für Schwarze deutsche KünstlerInnen von Bedeutung. Für Stephen Lawson
beispielsweise ist es wichtig, Schwarzen Körpern ihre Schönheit und
Diskretion zurückzugeben und sie so begehrlichen Zu- und Übergriffen zu
entziehen. Seine Skulptur Mask Dancer / Mask of the Intermingling Minds
– eine in Bewegung befindliche Frau, die sich vermittels ihrer Maske
immer wieder ein neues Gesicht zu geben vermag – verkörpert diesen
Anspruch in besonderer Weise, denn weder die Maske selbst, noch das
Gesicht dahinter sind zu irgendeinem Zeitpunkt greifbar und erschaffen so
eine schützende Undurchdringlichkeit, die ihren eigenen Ort bestimmt.
Nicht umsonst bezeichnet er seine Arbeiten als »Trojanische Pferde«,[65]
die in ihrem Innern un-heimliche Geschichten bergen und die, einmal
irgendwo platziert, einen scheinbar vertrauten Raum nicht mehr
wiedererkennbar machen.
Mit der konsequenten Zurückweisung weißer Kontroll- und
Autoritätsphantasien, »dem Aufstöbern, Erinnern und Sichtbarmachen
abwesender Texte«[66] und einer geschichts- und gegenwartsbezogenen
image work kreieren Schwarze KünstlerInnen ein Territorium visueller
Gegenwärtigkeit, in dem es ihnen möglich wird, zugleich aus der globalen
Bandbreite diasporischer Expressivität zu schöpfen wie auch die Vielzahl
enteigneter Schwarzer deutscher Orte, Zeiten und Erfahrungen mit anderen
Schwarzen Raum/Zeiten zu verknüpfen. Eine solche Form der kulturellen
Übersetzungsarbeit muss enorme Distanzen und Brüche überwinden, wofür
sich einige KünstlerInnen der verbindenden Kraft mündlich erzählter
Geschichten bedienen und sich – wie z.B. Buntrock und Lawson – auch
selbst in der Tradition von GeschichtenerzählerInnen verortet wissen
möchten. Die Rückforderung dieser kulturellen Tradition, die für Schwarze
Menschen / People of Color überall auf der Welt eine elementare Grundlage
für die Schaffung eigenständiger Rückzugs- und Über/Lebensräume
darstellt, versetzt sie nicht nur in die Lage, ihre Erinnerungs-Findungen
visuell zu verdichten, sondern den Ahnen als spirituelle Kraft und den
elders als HüterInnen der eigenen Geschichte ihre alte/neue Aufgabe
zurückzugeben. Dieser Akt eines re-imaginativen re-memory, sich eine, wie
Toni Morrison es nennt, ancestral legacy[67] wieder-anzueignen, ist
innerhalb eines Schwarzen deutschen Kontextes von tatsächlich
re/visionärer Bedeutung: Er verbindet das schwer zugängliche Vermächtnis
einer existierenden generationsübergreifenden Geschichtlichkeit mit der
Vision eines historischen und kulturellen Sich-Verwurzelns, welche darauf
aufbaut.
Die vielfältigen Heim-Suchungen Schwarzer deutscher KünstlerInnen
und ihre kreativen Artikulationen sind Ausdruck einer nomadischen
Ästhetik, die Ideen von Abgeschlossenheit und Begrenztheit bewusst
verwirft, die sie umgebende kulturelle Elemente aufgreift und synthetisiert
und nach einer Form gemeinschaftlicher Erinnerung strebt, »[which] evokes
mosaic images and sounds, and invades everyday existence«.[68] Eine
solche Erinnerung in Bewegung nimmt mit ihren spezifischen Praxen des
Zurück-Sprechens und Zurück-Schauens nicht nur die Herausforderung
eines zugewandten und dialogischen In-Beziehung-Tretens und
Aufeinander-Bezug-Nehmens konsequent an, sondern begründet mit ihrer
verwoben-fassbaren Intertextu(r)alität eine Schwarze deutsche kulturelle
Topographie, die in Besitz genommen und in einen heimatlichen Ort
verwandelt wurde: in einen Über/Lebensraum, der vom Vielklang
Schwarzer Erfahrungen erfüllt ist und in dem spirit work als verbindende
und verbindliche Kraft wirken darf.

Mask Dancer, Intermingling Minds, Mask of the Intermingling Minds


Skulptur (Granit)

In dieser Skulptur fließen unterschiedlichste kulturelle und geschichtliche


Referenzen und Ausdrucksformen zusammen. Tanz, Musik,
Maskenschnitzerei und natürlich das Erzählen von Geschichten, eine
Überlebenskunst, die in den Zeiten der Sklaverei, der Kolonialisierung, der
Unsichtbarmachung vor allen Dingen von Frauen am Leben erhalten wurde.
Deshalb war es mir so wichtig, die eigentlich männerdominierte Kunst des
Maskenschnitzens in die Hand einer Schwester zu geben. Es ist eine Frau –
eine Chronistin – in anmutiger, schöner Bewegung, die den Tanz und die
selbsterschaffene Maske in diesem Moment des Festgehaltenseins als
Kommunikationsmittel nutzt. Im Grunde beschreibt diese Figur, wie Kultur
funktioniert oder genauer Kommunikation als kulturelle Entäußerung, denn
keine meiner Arbeiten wäre entstanden ohne die Vorarbeiten anderer
Geschichtenerzähler, ohne den Rahmen, den sie mir eröffnen. Sei es ein Ton
von John Coltrane, sei es ein Detail in der Schnitzarbeit eines Maori-
Künstlers, sei es eine Zeile in einem Roman, ein Bild … Es geht darum,
diese unterschiedlichen Momente der Tiefe nicht intellektuell auseinander
zu pflücken oder in hohlen Kategorien einzuengen, sondern sie ernst zu
nehmen und anzunehmen als das, was sie sind – ein spirituelles Geschenk.

Stephen Lawson (Bildhauer)


Bitte nicht füttern!

Collage (Mischtechnik)Diese Collage basiert auf dem Motiv einer


mocambiquanischen Briefmarke. Ich habe es in meinen Kontext geholt und
transformiert, denn es thematisiert die Völkerschauen. Worum es eigentlich
geht, ist die Diskrepanz zwischen den an sich stolzen Figuren und der
Tatsache, dass sie nicht als Menschen gesehen wurden, sondern als
koloniale Unter- oder Un-Menschen, die man sich erst einmal schaffen
muss, um sie als Kuriosität auszustellen oder um sie zu entrechten und zu
ermorden. Dieses Bild ist als Provokation gedacht und hat
interessanterweise eine Menge Leute schockiert, obwohl es einen Teil ihrer
eigenen, wenn auch gut verdrängten Geschichte zeigt. Ich denke, das sagt
eine Menge aus über die Ignoranz, die dem Schockiert-Sein zugrunde liegt.
Yvonne Buntrock (Malerin)

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ANMERKUNGEN
1 Mein Dank geht an Tazalika te Reh, die die Rahmensetzungen dieses Beitrags grundlegend
inspir(it)iert hat, an Paul Beatty, Junot Diaz und Patricia Saad für ihre entfernt-verbundene
Präsenz und Diskussionsbereitschaft, an Yvonne Buntrock und Stephen Lawson für gemeinsame
Gespräche und die Erlaubnis, einige ihrer Gedanken und Werke veröffentlichen zu dürfen, sowie
an Regina Stein und Markus Schmitz für Anregungen und Materialien.
2 Vgl. Baker: Afro-American Poetics, S. 5.
3 Raum/Zeit meint im Folgenden eine Sphäre, in der eine fragmentierte und desintegrierte
Schwarze deutsche Räumlichkeit und Zeitlichkeit im Zuge der Re-Konstruktion einer
eigenständigen Gegengeschichte wieder-angeeignet und mit Kontinuität versehen wird. Das
Streben nach Kontinuität darf in diesem Zusammenhang keinesfalls als lineare Fixierung einer
minoritären Geschichtlichkeit missdeutet werden, sondern kennzeichnet eine Entwicklung, die
Schwarze Deutsche zunehmend in die Lage versetzt, die gekappten Verbindungen zwischen
historischen und gegenwärtigen Orten, Zeiten und darin befindlichen Schwarzen Präsenzen
wieder-herzustellen.
4 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 15.
5 Vgl.: Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen.
6 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 75.
7 Ich verwende die Begriffe Rasse/rassisch ohne Anführungszeichen auf deutsch in
Kursivsetzung. Letztere soll den wissenschaftlichen und politischen Konstruktcharakter sichtbar
machen. Die Ersetzung der deutschen durch die englischen Termini race/racial halte ich für
wenig hilfreich, weil auf diese Weise das deutsche Problem - transportiert in einen anderen
Sprachzusammenhang - entnannt wird. Die Kontaminationen unseres sprachlichen Reservoirs
sind der gegenwärtige Ausdruck einer historischen Verfasstheit, die zu respektieren auch das
bewusste Unbehagen über die Bedeutungskontexte bestimmter Begrifflichkeiten einschließt.
Diese zum Schweigen zu bringen, indem man sie nicht benutzt, kommt meiner Ansicht einer
semantischen Erinnerungsabwehr gleich. Zudem folge ich El-Tayeb: »Die Erkenntnis, dass
[›Rasse‹ als biologische Realität] nicht existiert, kann […] nicht allein durch die Vermeidung
jeder Referenz auf Rassenkonzepte zum Allgemeingut werden. Denn so werden einerseits die
enormen politischen und ökonomischen Ungleichheiten, die die soziale Wirksamkeit der
Rassenhierarchien mit sich brachte und noch bringt, ignoriert, d.h. struktureller Rassismus kann
nicht adäquat analysiert werden. Andererseits wird das Widerstandspotential sozialer
Gruppenidentitäten, die sich als Reaktion auf rassische Zuschreibungen bildeten, negiert.« El-
Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 138, Anm.1.
8 Vgl. Collins: Black Feminist Thought, S. 209.
9 Vgl. hooks: »marginality as a site of resistance«, S. 341.
10 Vgl. Kilomba (Ferreira): »Die Kolonisierung des Selbst«, S. 146.
11 Sandjon: »sinnend ICH sein«, S. 87.
12 Vgl. McClintock: »The Very House of Difference«, S. 198. AutorInschaft stammt aus der selben
etymologischen Wurzel wie Autorität und trägt Konnotationen von Meisterschaft und Eigentum
in sich.
13 Vgl. ebenda, S. 222. Der Begriff Fiktion bezieht sich an dieser Stelle auf den kreativen Prozess,
ein Schwarzes Selbst autobiographisch und/oder poetisch zu re-konstruieren und/oder zu re-
imaginieren.
14 Vgl. Baker: Workings of the Spirit, S. 39.
15 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 51.
16 Said: Beginnings, S. 358.
17 Lorde: »Gefährtinnen, ich grüße euch«, S. 14.
18 Hartwig: Ich möcht’ noch so viel tun, S. 36.
19 Hügel-Marshall: Daheim unterwegs, S. 17.
20 Huber: Ein Niederbayer im Senegal, S. 9.
21 Vgl. Soost: Heimkind-Neger-Pionier, S. 220.
22 Hartwig: Ich möcht’ noch so viel tun, S. 38.
23 Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 198.
24 Baker: Workings of the Spirit, S. 12.
25 Wright: Becoming Black, S. 191.
26 Lauré al-Samarai: »Neither Foreigners nor Aliens«, S. 172.
27 Vgl. Glissant: Zersplitterte Welten, S. 87.
28 Vgl. dazu genauer Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«, S. 200-206.
29 Dent: »Black Pleasure, Black Joy«, S. 7.
30 Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 88.
31 Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home, S. 1 (meine Hervorhebung).
32 Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 88.
33 Lubinetzki: Tagebuch des Logik Verfalls, S. 30.
34 Wiedenroth: »Vorwort«, S. 5-6.
35 Vgl. Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home.
36 Vgl. Piesche (Hrsg.): May Ayim Award.
37 Vgl. Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 89.
38 Vgl. Mercer: Welcome to the Jungle, S. 11.
39 Ayim: blues in schwarz weiß, S. 61.
40 Vgl. Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home, S. 1.
41 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 238.
42 (Do): »Weisse sprache«, S. 13.
43 Vgl. Jank: »Schwarz-weise Spitzen«, S. 23.
44 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 164-165.
45 Der Terminus ›nomadisch‹, wie er hier verwendet wird, gründet im Konzept einer von
Schwarzen KünstlerInnen und TheoretikerInnen entwickelten ›nomadischen Ästhetik‹,
vermittels derer nicht nur die konzeptionellen Gemeinsamkeiten indigener und diasporischer
Schwarzer Lebenswelten bewusst und differenziert aufgegriffen werden, sondern die eine
wesentliche Inspiration darstellt, aus dem ansonsten häufig verweigerten globalen kulturellen
Erbe zu schöpfen und dessen Elemente kreativ aufzunehmen und zu transformieren. Vgl. dazu
Gabriel: »Thoughts on Nomadic Aesthetics«.
46 Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 201.
47 Yakpo: »Denn ich bin kein Einzelfall«, S. 335.
48 Vgl. Wiedenroth: »Ain’t no gap«, S. 9.
49 Vgl. Yakpo: »Denn ich bin kein Einzelfall«, S. 334.
50 Vgl. Glover: »Adinkra Motive«, S. 129.
51 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 29.
52 Nagl: »Fantasien in Schwarzweiß«, S. 298.
53 Vgl. ebenda.
54 Vgl. Wallace: Dark Designs, S. 341.
55 Della: »Schwarze KünstlerInnen«, S. 331.
56 Yvonne Buntrock (Malerin); Auszug Interviewtranskript.
57 Stephen Lawson (Bildhauer); Auszug Interviewtranskript.
58 Vgl. Khayati, »Representation«, S.1.
59 El-Tayeb & Maccarone: Alles wird gut, Vorspann (o.S.).
60 Yvonne Buntrock (Malerin); Auszug Interviewtranskript.
61 Vgl. Fusco: English is Broken there, S. 33.
62 Vgl. Alles wird gut, Regie: Angelina Maccarone; Skript: Fatima El-Tayeb, 1997; Zurück auf los,
Regie und Skript: Pierre Sanoussi-Bliss, 2000; Tal der Ahnungslosen, Regie und Skript:
Branwen Okpako, 2003.
63 Mercer: Welcome to the Jungle, S. 214.
64 Diskussion Schwarzer Künstler/innen im Rahmen des Black Atlantic in Berlin 11/2004,
Mitschrift.
65 Stephen Lawson (Bildhauer); Auszug Interviewtranskript.
66 Piper: »Sind nicht alle Räume transkulturell?«, S. 287.
67 Vgl. Morrison: »Rootedness«, S. 343.
68 Gabriel: »Thoughts on Nomadic Aesthetics«, S. 402.
HITO STEYERL
WHITE CUBE UND BLACK BOX. DIE
FARBMETAPHYSIK DES KUNSTBEGRIFFS

»Warum weiß?« Mit dieser Frage beginnt der Autor Mark Wigley ein Buch,
das sich mit der simplen Frage beschäftigt, warum die meisten Wände weiß
sind.[1] Eine Tatsache, die so selbstverständlich ist, dass sie kaum jemand
auffällt. Weiße Wände sind ebenso allgegenwärtig wie unsichtbar,[2] sie
werden als neutrale, leere Flächen wahrgenommen. Was aber hat es damit
auf sich, dass der größte Teil des sozialen und privaten Raums, der uns
umgibt, weiß gestrichen ist? Wie wirkt sich diese allgegenwärtige Weißheit
auf Konzepte von Raum, Visualität, ja überhaupt auf soziale Verhältnisse
aus? Was für Konsequenzen hat dies auf Definitionen von Kunst und
Ästhetik? Und warum ist ausgerechnet die Farbe weiß so allgegenwärtig?
Diese Frage stellt sich zwar für den gesamten sozialen Raum – sie
verdichtet sich jedoch besonders an einem Ort an dem sich ästhetische,
architektonische und andere Diskurse überkreuzen: dem so genannten
White Cube. Der White Cube bezeichnet den modernen Galerie-, Museums-
oder Ausstellungsraum. Im Gegensatz zu früheren Modellen der
Ausstellung ist der White Cube möglichst leer, möglichst weiß. Nichts soll
von der Wirkung der Kunst ablenken, alles Überflüssige wird von
blendend-weißer Leere überstrahlt, so die unterschwellige, von
modernistischen Diskursen gespeiste Annahme.[3] Im White Cube werden
weiße Wände gleichzeitig als Nicht-Orte und als perfekte Orte gedacht – als
selbstauslöschendes Vakuum, als neutraler Hintergrund, tabula rasa und als
ästhetische Abgrenzung zum farblich ambivalenten Durcheinander der
profanen Außenwelt. Der White Cube stellt somit einen fast schon sakralen
Raum dar, in dem alle Aufmerksamkeit auf die Kunst selbst gerichtet
werden soll.
Aber ist dieses Raumkonzept wirklich nur ein bescheidenes Hilfsmittel
um Kunstwerke zur Geltung zu bringen? Oder funktioniert dieser
evakuierte Raum nicht eher als eine Produktionsstätte von Kunst? Nicht
etwa dadurch, dass dort Kunstwerke entstünden – nein, sie verwandeln sich
– so der Autor Brian O’Doherty - in einer Art alchemistischen Prozess in
dem Moment zur Kunst, in dem sie die Schwelle des White Cube
überschreiten und seiner gleißenden Weißheit ausgesetzt werden. Obgleich
der White Cube sich als neutral und leer inszeniert, stellt er auf den zweiten
Blick eine Technik der Installation dar, die Anleihen bei den autoritativen
Raumkonzepten von Kirchen, Gerichtssälen und Laboratorien nimmt.[4] In
diesem Raum werden Tätigkeiten durchgeführt, die über das Alltägliche
erhaben sind. Der White Cube legt jedoch nicht nur ästhetische Richtlinien
fest – er funktioniert selber als eine ästhetische Richtlinie. Durch die
Inklusion in einen bestimmten Kanon wird dort letztendlich auch definiert
was Kunst ist. Die Aufnahme in den White Cube verleiht dem Werk nicht
nur die Aura der Kanonisiertheit – sie entscheidet letztendlich auch über
dessen Wert im Kunstsystem. Anstatt eines neutralen, im Dienste der Werke
stehenden leeren Containers, funktioniert der White Cube also als Maßstab
der Kunst, als Technik ihrer Sakralisierung und als Produktionsort ihres
Kanons.

WARUM WEIß?
Mit diesen Feststellungen ist die Eingangsfrage jedoch noch nicht
beantwortet. Warum muss diese Kammer unbedingt weiß sein? Warum hat
ausgerechnet die Farbe Weiß jene seltsame Eigenschaft, einerseits
ungesehen zu bleiben und andererseits zum universellen Maßstab moderner
Ästhetik zu werden? Und wie wirkt sich diese Weißheit auf die Frage aus,
ob etwas Kunst ist oder nicht?
Kehren wir zu Wigleys Studie über weiße Wände zurück. Der Autor
argumentiert, dass deren Weißheit der unbewusste Nenner ist, der dem
größten Teil der Architektur der Moderne ihre Identität verleiht. Aber die
Verständigung auf die Farbe Weiß als Träger der Eigenschaften der
modernen Architektur kam erst nach einer über einer vierzigjährigen
Debatte zustande.[5] Erst um 1930 hatte sich die Farbe weiß als Insignium
moderner Architektur endgültig durchgesetzt. Einer der Meilensteine dieser
hochideologischen Debatten um Weißheit war die Schrift Le Corbusiers
L’art decoratif d’aujourd’hui von 1925. Dort argumentiert Le Corbusier
nicht nur, dass Architektur nur dann modern ist, wenn sie weiß ist. Weißheit
wird in diesem Text nicht nur als eine Frage der Ästhetik betrachtet,
sondern erhält auch eine ethische, funktionale und technische Dimension.
[6] Die weiße Farbe wird als moralisch bezeichnet, als Insignium der
Reinheit und hochstehender Sittlichkeit. Ja, es wird ihr sogar zugetraut,
polizeiliche Aufgaben zu übernehmen: »Whitewash is extremely moral.
Suppose there were a decree requiring all rooms in Paris to be given a coat
of whitewash. I maintain, that this would be a police task of real stature and
a manifestation of high morality […]«[7]
Der Hintergrund solch weitreichender Aussagen war ein drastischer
Richtungswechsel architektonischer Ästhetik seit Anfang des 20.
Jahrhunderts. Ein wesentlicher Beitrag dazu war die Veröffentlichung von
Adolf Loos’ Essay »Ornament und Verbrechen« (1908). Der Text richtet
sich gegen alles Ornamentale in Architektur und Alltagskultur. Jegliche
Dekoration, alles nicht Funktionale sei nicht nur überflüssig, so Loos,
sondern stelle einen Verrat an den Werten der Moderne dar. Das Ornament,
so Loos, sei primitiv, weiße Wände hingegen ein Zeichen der Zivilisation.
Loos entwirft ein binäres Paradigma, in dem das Ornament für die
Vergangenheit steht, für das Sinnliche, Konkrete, während die Entfernung
der Ornamente Zukunft, Fortschritt und Abstraktion verheißt. Das
Ornament markiert ein Zeitalter, das überwunden werden muss – »umso
tiefer die Kultur steht, umso offensichtlicher das Ornament«. Aber Loos
bemüht nicht nur evolutionstheoretische Metaphern, sondern bedient sich
auch ethnologischer und sozialdarwinistischer Diskurse: »Der Papuaner und
der Kriminelle verzieren ihre Haut […] Aber das Fahrrad und die
Dampfmaschine sind frei vom Ornament. Das Vordringen der Zivilisation
befreit systematisch Gegenstand um Gegenstand von ihrer
Ornamentierung.«[8] Rassistische und sozialdarwinistische Diskurse
werden überblendet, um einen Paradigmenwechsel in der Architektur zu
begründen. Das Ornamentale wird somit eindeutig dem kulturell Anderen
und Devianten zugeordnet, wobei beide auf einer niedrigeren
Entwicklungsstufe verortet werden. Das strahlende Beispiel der Zivilisation
hingegen sind – weiße Wände.[9] Die Weißheit der Wände bezeugt ihre
Säuberung von allem Ornamentalen und somit Primitiven, Kriminellen,
Zurückgebliebenen.
Le Corbusier nimmt diese Argumentation in L’art decoratif
d’aujourd’hui wieder auf. Auch in diesem Text wird Zivilisation als
Eliminierung des Dekorativen und Überflüssigen verstanden und als
Konzentration auf das ›Wesentliche‹. Le Corbusier beschreibt Zivilisation
ebenfalls als Prozess des Fortschritts vom Sinnlichen zum Intellektuellen,
vom Taktilen zum Visuellen. Und dieser Fortschritt ist dann vollzogen,
wenn alle Dekoration aus dem Raum verschwindet und von einer Schicht
weißer Farbe ersetzt wird.[10] Die Weißheit der Wände wird somit zu
einem Merkmal von Zivilisation an sich – und diese Zivilisation wird als
Überwindung des kulturell oder sozial Anderen definiert. Besonders
drastisch wird diese Vorstellung von Weissheit dann artikuliert, wenn die
Schicht weißer Farbe mit der Haut des Gebäudes verglichen wird. Im
Gegensatz zum vormodernen Gebäude, das von Ornamenten verhüllt wird,
ist das moderne Bauwerk nackt, es stellt seine Funktion direkt aus, verhüllt
nur von einer Schicht als Haut vorgestellter weißer Farbe. Diese
unterschwellige Verbindung zwischen Weißheit und Nacktheit prägt, so
Wigley, die gesamte moderne Architektur.[11] Die tätowierte Haut des
Papuaners und des Kriminellen werden somit der weißen nackten Haut des
modernen Gebäudes gegenübergestellt. Während die erstere Verworfenheit,
Barbarei und Rückständigkeit bezeugen, strahlt die weiße Haut der
modernen Architektur im Lichte von Fortschritt und Zivilisation.

DAS »AUGE DER WAHRHEIT«


Weiße Wände werden somit mit den Werten des westlichen Fortschritts
aufgeladen. Ihre Leere erweist sich als eine Fülle – als eine Fülle
moralischer, ästhetischer, zivilisatorischer und sogar polizeilicher
Rechtschaffenheit. Damit nicht genug: weiße Wände funktionieren darüber
hinaus auch noch als Technologie der Wahrheit. Vor dem Hintergrund
weißer Wände erscheint – so Le Corbusier – alles endlich »wie es ist«.[12]
Die Schicht weißer Farbe nimmt hier sozusagen die Funktion einer Brille
an, durch die die nackte Wahrheit der Dinge gesehen werden kann. Weiße
Wände reinigen und fokussieren den Blick, wie ein Röntgenapparat legen
sie das »Wesentliche«[13] bloß, sie funktionieren als Produktionsapparate
von Essenz und Sauberkeit. In der Beschreibung der weißen Schicht
verbinden sich hygienische Diskurse mit einer Rhetorik realistischer
Repräsentation. Insofern verwandeln sich die weißen Interieurs in visuelle
Apparate, in denen nicht nur der Sieg des Auges über die anderen Sinne
gefeiert wird, sondern die auch eigenständige Formen des Blicks
entwickeln. Die weiße Wand wird zu einem Überwachungsapparat, der den
Raum auf Anzeichen unerlaubter dekorativer Exzesse hin untersucht.[14]
Während die Ordnung des Ornaments den puren Schein darstellt, erscheint
im weißen Ambiente nur das Eigentliche. Die Schicht weißer Farbe
verwandelt sich somit von einem bloßen neutralen Hintergrund in ein Auge,
in einen Apparat des Blicks, der die Lüge aufdeckt, den Schein demaskiert,
und so Le Corbusier – wie ein »permanent tagendes Schöffengericht« – als
»Auge der Wahrheit«[15] agiert. Die weiße Kammer wird zum
Blickapparat, zur Produktionsstätte von Wahrheit und Essenz und zu einer
Art Überwachungskamera, die eine auf Vermeidung von Exzessen
basierende Zivilisation kontrolliert. Sie leitet das Auge nicht nur, sie wird
selbst zu einem Auge.

DUNKELHEIT UND DEKADENZ


Aber für Le Corbusier bedeutet die weiße Farbe nicht nur Fortschritt,
sondern gleichzeitig in einer paradoxen Wendung auch extreme
Ursprünglichkeit. Wo diese Ursprünglichkeit durch Dekadenz bedroht wird,
verschwindet gleichzeitig auch die Weißheit der Wände. Historisch, so Le
Corbusier, habe er die Vorherrschaft weißer Farbe nur an Orten angetroffen,
in denen das 20. Jahrhundert noch nicht angekommen war. Der Einfluss
westlicher Zivilisation wird in diesem Abschnitt von L’art decoratif
d’aujourd’hui als Dekadenzerscheinung bewertet, die sich in der
Überschwemmung durch dekorativen Krempel – und erstaunlicherweise
auch im Auftauchen von Kino und Schallplatte (Pathé-Ciné und Pathé
Phono) manifestiert.[16] Durch den Einbruch moderner Lebensstile werde
die authentische und ausgeglichene ursprüngliche Kultur der weißen
Kalkfarbe zersetzt – so Le Corbusier weiter. Es seien fremde Einflüsse wie
die globale Zirkulationssphäre, die die Idylle harmonischer Kulturen
zerstörten.[17] Die destruktive und nachgerade pathologische Rolle der
Medien kann für ihn nicht genug hervorgehoben werden: »Pathé-Ciné or
Phono, which are the mark of the times, are not hateful – far from it – but
Pathé incarnates, in these countries living on the morality of centuries of
tradition, the dissolving virus which in a matter of years will break
everything down.«[18] Das Kino ist also ein Medium, das der Moralität und
Zivilisiertheit des Regimes der weißen Farbe diametral entgegengesetzt
scheint. Auch in seiner gesamten Konstruktion ist der Kinoraum das
Gegenteil des White Cube. Idealerweise verfügt er über möglichst dunkle,
vorzugsweise schwarze Wände. Seine weiße Leinwand wird als
Silverscreen bezeichnet. Ihre Hauptfunktion ist nicht, ihre Weißheit
auszustellen, sondern sie – meist bunten – Projektionen auszusetzen. Nicht
umsonst wird der Kinoraum auch als Black Box bezeichnet – eine
Bezeichnung, die den absoluten Gegenpol zum Konzept des White Cube
darstellt.

BLACK BOX
Aber nicht nur auf der Ebene ihrer Farbigkeit ist die Black Box – oder der
Kinoraum – ein visueller Apparat, der genau gegenteilige Assoziationen
zum White Cube hervorruft. Verkürzt gesagt wird der White Cube mit dem
apollinischen Prinzip assoziiert, die Black Box mit dem dionysischen. In der
Black Box wird das Publikum Leidenschaften und Trieben ausgesetzt, derer
es sich kaum erwehren kann. Während der White Cube als kontemplativer
Tempel einer Visualität beschrieben werden kann, die über das bloß
Sinnliche triumphiert hat und in dem das Gesetz der Sublimierung herrscht,
wird vor allem in der Filmtheorie die Black Box häufig als
Wunschmaschine gedacht, die von unbewussten Begehren, Trieben und
libidinösen Identifikationen durchdrungen ist. Im White Cube ist das
Publikum bewusstes, aktives Subjekt, autonomes Individuum, es verfügt
über einen distanzierten Blick, der dem Objekt gegenüber souverän ist. In
der Black Box hingegen wird es – etwa laut den Thesen der so genannten
Apparatustheorien der 1970er Jahre[19] – zum mehr oder weniger hilflosen
und passiven, gleichsam gefesselten[20] Objekt einer ideologischen
Wunschmaschine, die seine Affekte manipuliert und in unbewusste und
unkontrollierbare Dynamiken verwickelt. Obgleich diese psychoanalytisch
geprägten Theorien vor allem in den siebziger Jahren formuliert wurden
und mittlerweile durch Konzepte größerer Handlungsfreiheit der Zuschauer
ersetzt wurden, herrscht nach wie vor die Auffassung, dass die Black Box
vor allem ein affektiver Raum ist – eine Vorstellung, die sich auch in einer
traditionellen Farbmetaphysik niederschlägt, die die Farbe Schwarz mit
Sinnlichkeit, Affektivität, Magie und Irrationalität verknüpft. Die Black Box
wird etwa in der psychoanalytischen Filmtheorie der Siebziger als Ort
voyeuristischer Lust beschrieben, als Schattentheater der Sexualität.[21]
Aber sie wird auch gegenwärtig als Ort eines affektbetonten Spektakels
verstanden:
Die Black Box fasziniert durch eine Magie ganz anderer Ordnung. Sie bezieht ihre Kraft aus der
Wiederbelebung einer Reizästhetik, die tendenziell auf die Immersionseffekte des Spektakels
zurückgreift und mit der theatralischen Verführungskraft des Unbekannten, des Unermesslichen
lockt, dessen Schwelle die Betrachter überschreiten können, ohne ihre physische Sicherheit beim
Eintauchen in die Illusionswelten der Videoräume zu gefährden.

Black Box ist Ort der Illusion, des Reizes, des Unechten, Ort einer
Überwältigung. Sie ermöglicht »mit der Ästhetik der neuen Technologien
die Wiederkehr des Unterdrückten«.[22] Verführung, Fesselung, Magie,
Spektakel, unterdrücktes Unbewusstes – das Vokabular, mit dem die Black
Box beschrieben wird, ist der technizistischen, gesäuberten, idealistischen,
sublimierenden und aufgeklärten Vorstellungswelt des White Cube
diametral entgegengesetzt.
Auch das Verhältnis zur Wirklichkeit ist in beiden Raummodellen ein
anderes. Wie Joachim Paech ausführt, ermöglicht die Black Box, »dass die
Projektion von bewegten Bildern […] wie ein Blick hinaus in eine
vorgestellte Wirklichkeit erfahren werden kann.«[23] Während der White
Cube sich durch seinen pseudosakralen Charakter von der Profanität der
Wirklichkeit abzuheben sucht, dafür aber deren Essenz zum Vorschein
bringt, ist die Black Box Erscheinungsraum einer zugleich profanen und
illusorischen Wirklichkeit. Der White Cube versucht die Wirklichkeit zu
transzendieren – die Black Box hingegen versucht, sie vorzugaukeln. Der
White Cube schließt die profane Wirklichkeit aus, um deren Essenz zu
gewinnen, während die Black Box der Projektion eben jener profanen
Wirklichkeit dient – die allerdings nur eine inauthentische, spektakelhafte
Illusion darstellt. Das Eindringen von Wirklichkeit in den Ausstellungsraum
wird als Einbruch der Mächte des Falschen erlebt. Bewegte Bilder – so
etwa Boris Groys – konfrontierten den Zuschauer immer wieder mit dem
Gefühl, sich im »wirklichen Leben« und somit am falschen Ort zur falschen
Zeit zu befinden.[24] Rohe Wirklichkeit gegen hehre Essenz – was auch
immer sich in der Black Box befindet, kann demnach nie und nimmer jenen
Status von Kunst erreichen, den die Aufnahme in den White Cube
garantiert.
In dieser – schon von Le Corbusier artikulierten – binären Logik gehört
die Black Box somit der Ordnung dekorativen Scheins an, ebenso wie dem
profan Wirklichen und gleichzeitig dem Unechten und Nicht-
Authentischen. Obwohl sie laut Groys den Zuschauer auf beunruhigende
Weise entortet, wird sie gleichzeitig auch als Ort seiner Stillstellung
beschreiben, ja, sogar als diktatorischer Ort seiner Unterwerfung. Die Black
Box ist Abkömmling der so genannten Camera Obscura, deren
zentralperspektivische Konstruktion das Publikum wie mit einer
Schraubzwinge in einer ideologischen Konstruktion fixieren soll.[25]
Während die White Box als Wandelhalle begriffen wird, in der das
Publikum sich frei bewegen kann, herrscht laut dieser Theorien in der Black
Box die Unterordnung in eine vorgegebene Ordnung des Sehens und oft
auch – durch die dortige Vorführung zeitbasierter Arbeiten – in eine von
vornherein festgelegte Zeitökonomie. Während im White Cube das
Publikum meist selbst entscheiden kann, wie viel Zeit sie einer bestimmten
Arbeit widmet, führt dasselbe Verhalten gegenüber einem Video meist dazu,
dass nicht das ganze Werk gesehen – und somit beurteilt werden kann.[26]
Die Black Box wird daher – vor allem in der gegenwärtigen Kunstkritik –
oft als Souveränitätsverlust erlebt, als unbewältigbare Aufgabe, als
Höhlensystem das einen Gesamtüberblick über eine Ausstellung verweigere
und den Zugriff auf ihre Totalität verwehre.[27] Sie wird zum Bestandteil
von unübersichtlichen Ausstellungslabyrinthen, sie überfordert, ja, sie
verwandelt sogar die hellen Räume in Fremdkörper:
Wenn es gelegentlich doch eng wird […] liegt es weniger an der Übermasse des Publikums als an
den labyrinthischen Gehäusen […]. Die große Zahl der Videoinstallationen verlangt räumlich
ihren Preis. Es ist eng und dunkel in diesen Schaukästen, nur ganz selten und dann als
Fremdkörper wirkend, dürfen Bilder oder Skulpturen in einem hellen, weiten Raum auf sich
aufmerksam machen.[28]

Die Black Box innerhalb des Museums ruft angeblich eine spezifische
Angst im Betrachter hervor, da er sich dort nicht entscheiden kann, ob er
bleiben oder weitergehen soll.[29] »Video and film installations have now
introduced deepest night or dusk in the museum«,[30] schreibt etwa Boris
Groys. Groys sieht geradezu das Ende des White Cube Modells
heraufdämmern, denn es sei nicht mehr länger das Museum, das die
Kontrolle über die Beleuchtung seiner Räume habe, sondern der Künstler.
Damit nicht genug, sind auch noch Klassenaspekte mit dem
Ressentiment gegen die Black Box im Ausstellungsraum verknüpft. Wie
Mark Nash argumentiert, verbindet sich immer noch der Ruch des
Populären mit dem Kinoraum, während der White Cube mit der eher
elitären Welt des klassischen Ausstellungsbetriebs verbunden wird.[31]
Zusammenfassend wird die Black Box immer wieder als bedrohliche
Konkurrenz zum White Cube Modell wahrgenommen. Und in den immer
wieder laut werdenden Ressentiments gegen die Black Box spiegelt sich ein
Bedrohungsszenario, das an Le Corbusiers Visionen heraufdämmernder
Dekadenz und überbordender Weltlichkeit durch die pathologische Kraft
des Kinos erinnert. Sie macht gleichzeitig passiv und ortlos, sie überwältigt
und unterfordert, sie bringt trotz ihrer diktatorischen Anordnung
letztendlich alles durcheinander. Es ergibt sich also ein fast schon
manichäisches binäres Modell, in dem der schwarze und der weiße
Ausstellungsraum einander gegenübergestellt werden – meist zu Ungunsten
des ersteren.
Vor allem im Bereich der Gegenwartskunst koexistieren beide Modelle
der Ausstellung jedoch immer häufiger. Und dort geraten ihre
verschiedenen Ökonomien von Zeit und Raum in einen Konflikt, der zu
einem großen Teil von den bislang dargelegten Grundannahmen über White
Cube und Black Box geprägt wird.

JENSEITS DER BINARISMEN


Neben diesen teils kulturkonservativen Untergangsszenarien, die den
Gegensatz von Licht und Dunkel, Souveränität und Verunsicherung, Essenz
und Schein betonen – und somit immer wieder in die binäre
Farbmetaphysik eines unüberwindlichen Gegensatzes von Schwarz und
Weiß verfallen – gibt es jedoch noch andere Ansätze. Der Schwerpunkt
dieser Perspektiven liegt darin, die binären Modelle in Frage zu stellen und
sich darauf zu konzentrieren, was die Inklusion von Black Box Modellen in
die Ausstellungspraxis für Auswirkungen sowohl auf die Arbeiten als auch
auf die Zuschauer hat. So betont Lynne Cooke etwa, dass das Modell des
klassischen Kinoraums für etliche Black Boxes gar nicht mehr zutrifft.
Zuschauer hätten dort wesentlich mehr Spielraum um ihr eigenes Verhältnis
zur Leinwand, bzw. einer Vielzahl von Bildquellen zu finden, als im
klassisch zentralperspektivischen Kinoraum.[32] Mark Nash interpretiert
die Black Box – die er auch als dark room[33] bezeichnet – ebenfalls eher
als Raum der Freiheit. Diese Freiheit wird allerdings weniger durch die
Freisetzung des Publikums erreicht, sondern durch die Auswahl der
Materialien, die dort präsentiert werden. Er argumentiert, dass im
Kunstraum vor allem solche Arbeiten gezeigt würden, die die klassischen
Identifikationsmechanismen und mechanischen Dramaturgien des
Mainstream-Kinos ohnehin unterlaufen und somit ihren zwanghaften
Apparaturcharakter in Frage stellen. Aber auch die Integration kollektiver
und politischer Arbeiten in den Kinoraum destabilisiere das autoritäre
Verhältnis, das dieser traditionell mit dem Publikum eingehe.[34]
Wenn man das Problem von Seiten der künstlerischen Praxen her
betrachtet, reagieren diese ohnehin schon auf eine Durchdringung von
White Cube und Black Box. Installative Arbeiten bringen neue Varianten
von Expanded Cinema hervor und dekonstruieren den
zentralperspektivischen Kinoraum in vielen Fällen. Aber auch von
kuratorischer Seite aus nehmen Versuche zu, die Dichotomie von White
Cube und Black Box durch komplexere Anordnungen aufzulösen, die
Ausstellungsräume nicht mehr primär als entweder hehre helle Schreine
oder dunkle Wunschmaschinen begreifen, sondern sie als fluide
Handlungsräume inszenieren. Dort werden Zuschauer weder als primär als
hilflose und stillzustellende Triebbündel noch als devote Anbeter eines
weiß gleißenden »Auges der Wahrheit« adressiert, sondern als Akteure in
einem sozialen Raum, der nicht mehr nur von unterschwelligen Annahmen
über die Eigenschaften bestimmter Farben strukturiert ist. Ein Beispiel ist
etwa die Ausstellung »Paradiesische Handlungsräume« in der Wiener
Secession, in der – so die KuratorInnen – durch die Anordnung der
Arbeiten im Raum ein dreidimensionaler Film inszeniert werden soll.
Während der Ausstellungszeit wird der Ausstellungsraum dabei sukzessive
von einem White Cube in eine Black Box verwandelt – und wieder zurück.
[35] Sinn der Übung ist nicht der Farbwechsel an sich, sondern die
Herstellung der Rahmenbedingungen für die Wahrnehmung und die
Interaktion verschiedener Arbeiten, ihre Beziehung untereinander und die
zum Zuschauer. Erst durch die Überwindung des Binarismus zwischen zwei
als inkommensurabel gedachten Raumformaten eröffnet sich ein
Möglichkeitsraum, der weniger durch die farbliche Uniformität seines
Hintergrunds gedacht werden kann, als durch die Heterogenität seiner
Erscheinungen und die reale Buntheit der Arbeiten die er versammelt. Diese
Vielfältigkeit erweist sich allerdings nicht vor dem Hintergrund eines als
universell geltenden Farbmaßstabs, sondern im Rahmen eines dynamischen
und changierenden Paradigmas, das die manichäischen Raumlogiken von
Black Box und White Cube hinter sich lässt.

BIBLIOGRAFIE
Baudry, Jean-Louis: »Effets ideologiques produits par l’appareil de base.« In Ders.: L’effet cinema.
Paris: Albatros, 1978
Buergel, Roger M. & Ruth Noack: DIE REGIERUNG. Paradiesische Handlungsräume. Wien:
Secession, 2005
Frohne, Ursula: »›That’s the only now I get.‹ Immersion und Partizipation in Video-Installationen
von Dan Graham, Steve McQueen, Douglas Gordon, Doug Aitken, Eija-Liisa Ahtila, Sam
Taylor-Wood.« In: Ralf Beil (Hrsg.): Black Box. Der Schwarzraum in der Kunst. Ostfildern:
Hatje Cantz, 2001. Hier zit. nach:
http://www.medienkunstnetz.de/themen/kunstundkinematografie/immersionpartizipation
Groys, Boris: »On the Aesthetics of Video Installations.« In o.N.: Stan Douglas: Le Detroit. Basel:
Kunsthalle Basel, 2001
Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema.« In: Jill Nelmes (Hrsg.): An Introduction to
Filmstudies. London & New York: Routledge, 1999
Nash, Mark: »Art and Cinema - Some Critical Reflections.« In: Okwui Enwezor et. al (Hrsg.):
Documenta 11, Platform 5: Exhibition Catalogue. Ostfildern: Documenta and Museum
Fridericianum, Hatje Cantz, 2002
O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle, Inside the White Cube. Berlin: Merve, 1996
Hablützel, Niklaus: »Diskurse der guten Absichten.« In: tageszeitung, 9.9.2002
Paech, Joachim: »Rette sich wer kann ( ) Zur (Un)Möglichkeit des Dokumentarfilms im Zeitalter der
Simulation.« In: Christa Blümlinger (Hrsg.): Der Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen
zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien: Sonderzahl, 1990
Wigley, Mark: White Walls Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Boston: MIT
Press, 1995

ANMERKUNGEN
1 Vgl. Wigley: White Walls Designer Dresses, S. XIV.
2 Ebenda.
3 Erster und wichtigster Theoretiker dieses Raums ist O’Doherty: In der weißen Zelle.
4 Ebenda, S. 9.
5 Vgl. Wigley: White Walls Designer Dresses, S. XIV.
6 Vgl. ebenda, S. XVI.
7 Ebenda.
8 Zit. in: ebenda, S. 9, 10.
9 Vgl. ebenda.
10 Ebenda, S. 2-3.
11 Ebenda, S. XVIII.
12 Zit. in: ebenda, S. 3: (»Everything is shown as it is.«).
13 Ebenda, S. 8.
14 Vgl. ebenda, S. XXIII.
15 Ebenda, S. 8.
16 Vgl. ebenda, S. 30.
17 Vgl. ebenda, S. 8.
18 Zit. in: ebenda, S. 30.
19 Paradigmatisch dafür etwa Baudry: »Effets ideologiques produits par l’appareil de base«.
20 Vgl. Paech: »Rette sich wer kann«, S. 34.
21 Etwa in: Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«.
22 Frohne: »›That’s the only now I get‹«.
23 Paech »Rette sich wer kann«, S. 33.
24 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
25 Vgl. Paech »Rette sich wer kann«, S. 36-37.
26 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
27 Vgl. z.B. Hablützel: »Diskurse der guten Absichten«.
28 Ebenda.
29 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
30 Ebenda.
31 Vgl. Nash: »Art and Cinema«, S. 129.
32 Vgl. in: ebenda, S. 130.
33 Ebenda, S. 129.
34 Vgl. ebenda, S. 132-133.
35 Vgl. Buergel: DIE REGIERUNG. o. S.
MAKOTO TAKEDA
ZAUBERSPRÜCHE

inwendig zu leernende
zaubersprüche gegen s(pr)achschäde(l)n
(nota bene kein tippbefehler: keine saubersprüche)
für alle menschen, die diese sprache reden
mit der helzrichen ermuntigung
um ihre weiterfüürung
und mit der freundlichen empfehlung
um ihre intergration in die kursbücher für DAV
natürlich abkürzung für
deutsch als vatersprache
mit der weiteren freundlichen empfehlung
um ihre einnahme in dulden und brickhaus
damit beim tippen keine dieser verdammt irritierenden
autokorrekturlinien unterschwellig uns auferziehen
mit der glücklichen fforderung
um ihre ständige aufnahme in alle doitsche anthologien deutscher
dichtungen
als autorennahmenloses rekordgelück mit der längsten und aufdringlichsten
unterschrift
selbstverständlich biounlogisch
warß und schweiz
schweiß und warz
scheiß und scharz
arz und eiß
geiz und garß
barz und beiß
heiß und harz
schwelb und garz
garb und schwelz
schelz und gwarb
arz und elb
kerz und kalb
darl und derz
herz und harl
welb und geiß
geib und welß
gelß und weib
elb und eiß
teiß und telb
peib und pelß
helß und heib

und.oder.oder.und
eur.odd.ordnun.de
o.droun.der.duden
undo.deud.r.orden
AMY EVANS
ACHIDI J’S FINAL HOURS: THIS THING THAT
HAPPENED IN ASCHAFFENBURG …

INTRODUCTION
In July 2001, a call to demonstrate was circulated so extensively that in a
matter of days only a few in the Black Community in Germany could claim
not to have heard about the two police officers in Aschaffenburg who had
allegedly used expanding full metal jacket ammunition[1] to subdue a
young African woman.[2] Initial reports issued by the police authorities of
Aschaffenburg[3] described Mareame N’Deye Sarr as ›physically superior‹
to her husband and ›outraged‹ beyond an ability to react reasonably to
police instructions. The same reports neglected to include the fact that
Alexander Wegener, Sarr’s estranged husband, had earlier that week
managed to gain sole custody of the couple’s two-year-old son without
Sarr’s knowledge or permission. In Sarr’s case, her effort to defend herself
against three men, two of them armed and in uniform, transformed her from
a young mother panicked over the loss of her child into a woman so
threatening that a type of bullet once banned by the Hague[4] for its
destructive potential was the only option the police could see to use.[5]
During the demonstrations that took place in Aschaffenburg, key
organizers introduced the idea of using performance as a way to pay tribute
to those whose lives had been lost as well as to comment upon racially-
motivated brutality in Germany. The result was a three-year development
process culminating in the world premiere of Achidi J’s Final Hours in
London, England.[6] What follows are four excerpts from that play.
ACHIDI J’S FINAL HOURS

CHARACTERS
ISA, a Black woman in her mid-twenties, Senegalese
AWA THIAM, Isa’s friend, a Black woman in her thirties, political refugee,
Senegalese
ACHIDI J, young Black man, nineteen, seeking asylum from Cameroon
GUY, friend and colleague of AWA, early thirties, political refugee from
Cameroon
ALEX, Isa’s husband, late twenties, White German
ANDY, ALEX’s friend and co-worker, early to mid twenties, White German
JÜRGEN F (Officer 1), a White German man in his early forties
STEPHAN S (Officer 2), young White German man, twenty
CIVIL SERVANT, a White German man in his early to mid forties

SETTING
A city near Frankfurt/Main, 1999-2001. Dates indicated here are used to
clarify time sequence for the benefit of the company, and may or may not
be made explicit to an audience.

Scene 17
A rally outside the police station.
AWA: want safe there is no safe back to the place we risked our lives to
leave risked lives to save lives shelter asylum shelter no asylum ›home‹ not
home like a prison not protection skins do the job that home office can’t do
ministry of interior can’t do call it accident call it youth out of control but I
call it murder all the same
keep the home office clean police station clean politicians clean come and
take take take all the industry machine laser oil motor raw materials we
industrialized Europe we industrialized this continent the cars run on Africa
it’s Africa on the operating table Africa in the morning coffee Africa at the
bottom of the river Africa in the hospital dead what great ›economic
burden‹, what ›socio-economic crisis‹ show me the gold in ›golden exile‹
police you murder politicians you murder home office you murder the same
accident again and again the same mistake over and over see it happen over
and over it’s murder to kill a man it’s murder for the love of god murder!
murder! murder!

Scene 18
Immigration office. ALEX sits at the table. CIVIL SERVANT sits across
from him.
SERVANT: You understand the situation in this country.
ALEX: Yes.
SERVANT: The implications. (Awkward pause – ALEX clearly doesn’t
understand.) You’re unemployed.
ALEX: I know. But –
SERVANT: You’re obviously not incapable.
ALEX: Incapable?
SERVANT: I don’t believe, from what you’ve told me, that you are a lazy
person. I know Lazy People. Unemployed because they are incapable.
Incapable because they are selfish. Selfish because they simply don’t want
to work. I’ve had them in my office, sitting where you are now. They call
themselves all sorts of things, but in the end they really are the same.
ALEX: I have a son.
SERVANT (opening his dossier): How old is he?
ALEX: Thirteen months …
SERVANT (reading): Here it is. April, millennium baby … no luck on the
German market?
ALEX: The contractor went bankrupt …
SERVANT: Your wife’s from Senegal
ALEX: yes.
SERVANT: Senegal is a very long way from Germany
ALEX: yes …
SERVANT: How could such an ambitious, capable young man land so far
outside of this country’s society?
ALEX: Is this … part of the interview?
SERVANT (brightening): Would you like a cup of coffee?
ALEX: No. Thanks.
SERVANT: Do you mind if I drink mine while we talk?
ALEX: Of course not.
SERVANT: Don’t you get tired?
ALEX: Of what?
SERVANT: All this. Bureaucracy.
ALEX: I suppose it’s necessary
SERVANT: but it must exhaust you. Reinventing yourself again and again

ALEX: reinventing what?
SERVANT: What if she’s told me that her husband can’t resist a good cup
of coffee? You don’t trust her. So you sit there. Dying for a cup –
ALEX: I said I’m fine
SERVANT: you’re sure? It’s only in the next room.
ALEX: No. Thank you.
SERVANT: So your wife works.
ALEX: I’ve heard her talk about starting a business
SERVANT: a what?
ALEX (sensing that he’s slipped up): It’s talk. That’s all.
SERVANT: Does your wife speak German?
ALEX: Yes
SERVANT: and do you speak Senegalese?
ALEX: There is no ›Senegalese‹
SERVANT: a few words? Something she taught you?
ALEX: I know a little French
SERVANT: demonstrate.
ALEX: Bourde … ta … mère
SERVANT: and what does she think she could sell?
ALEX: I don’t know.
Pause.
SERVANT puts a cigarette in his mouth and offers one to ALEX. ALEX
accepts. SERVANT lights his cigarette and then lights ALEX’s.
SERVANT: Alex. Can I call you Alex?
ALEX: Yes …
SERVANT: Nobody has a problem with you. I want to make that clear. I
know that this atmosphere, the circumstances, can lead one to believe that
we’ve got a problem with you. I want to make it as explicit as possible that
this is not the case. Yeah?
ALEX: Yes.
SERVANT: Wouldn’t you like to go into business?
ALEX: It’s not my thing.
SERVANT: Right, what is your ‘thing’?
ALEX: I’m looking –
SERVANT: You’re not looking, you’re smoking! In Senegal. And waiting
for returns on an investment that once it turns eighteen will leave you right
back where it all started. Sitting on your ass and smoking
ALEX: Look, can’t I smoke a cigarette?
SERVANT: Go right ahead
ALEX: You offered it to me. I took it because you offered.
SERVANT: What else would you take if I offered it to you?
ALEX: This is bullshit!
SERVANT (as if ALEX has finally seen the light): YES.
ALEX (thrown off by such hearty agreement): I don’t know how to say this,
but –
SERVANT: yes?
ALEX: my
SERVANT: yes?
ALEX: my son is all I have.
Slowly SERVANT begins to applaud. ALEX starts to get up.
SERVANT: Have a seat, please.
ALEX: Look, I don’t have to –
SERVANT: SIT DOWN. (ALEX sinks back into his seat.) What kind of
mother is your wife?
ALEX: Huh?
SERVANT: Is she a good mother? Caring, attentive? Is she shit?
ALEX: She’s good.
SERVANT: Could she be better? Look.
SERVANT rolls up the leg of his pants and shows ALEX a scar.
My dog did this. She used to attack me if I came too close to her puppies. I
got this the day I finally sold them. But you realize that the predicament
you’re in is very different. Everyone loves puppies, even cross-bred pit
bulls. Cross-bred people don’t enjoy the same kind of attention/
ALEX: My son is not a puppy.
SERVANT: Of course he’s not –
ALEX: He’s human. My wife / is human too.
SERVANT: Right, I’m only trying to point out that /
ALEX: What are you trying to point out?
SERVANT: No matter how you see / them
ALEX: Yeah?
SERVANT: … well … frankly, Alex …
ALEX: What?
SERVANT: Fatherhood is the only job you’ll have forever. The pay is quite
bad, but it’s better than nothing.
Scene 19
Early July 2001.
ALEX’s apartment, late evening.
GUY, AWA and ISA are seated on the sofa. ISA is holding her son.
GUY: The way she climbed the steps – like an Olympic runner going to
light the torch except slow motion, and imagine the torch is a microphone.
And people clapping like rain crashing down, stamping feet and singing
songs, the men first, then the women shouting back, and then all one on top
of the other and the crowd looks like it’s churning ocean water and they’re
chanting and it seems as if nothing can stop them! But when she – she
there, yes – when she takes the microphone in her hand – there’s a crack –
feedback squealing, ooh, it hurt – and the rest of us down on the ground
thought noooo, it’s always like this, always such moments technology is
destined to fail
AWA: nobody checks these things.
GUY: Awa!
AWA: 27, 582 students Isa
GUY: Awa listen
AWA: and who among them can repair a broken microphone?
GUY: That was not the problem
AWA: what was the problem then?
GUY: We concluded it was Awa’s magnificent voice
AWA: ah!
GUY: that had short-circuited the cables in the sound system. It seemed that
all was lost. But then something incredible happened, I will never forget it
as long as I live. Silence. Like the top of a mountain, silent. Thousands and
thousands of people, ever heard a place where there are people and they’re
all still? It’s like the ground is breathing is what it sounds like. The sound
before an earthquake is how it feels
AWA: you were never in an earthquake, Guy
GUY: like a storm speaking, if thunder had a tongue. Everybody listened.
And then when she was done – you hear this one big breath – 27,000 lungs
filling up with air – and then an explosion of chanting, a cloud of dust and
for a moment it seemed there was no oxygen left in the air – and I still
remember how the dust stung my eyes, and how the crowd became a blur of
faces --
AWA: It wasn’t the dust that made you cry.
GUY: You should never interrupt someone who is singing your praises.
AWA (to ISA): Give him to me.
AWA takes the baby from ISA and exits off.
GUY: That was before the massacre – her children were still alive, she and
Alain were always together – they’d never spent a day apart. So on
occasions like these, when I want to cheer her, I remind her of who she used
to be. You know she’s due in court in a few week’s time?
ISA: What happened?
GUY: She said some words she shouldn’t have said. I tried to warn her –
it’s like trying to warn a bird not to fly.
ISA: It’s going to get her killed.
GUY: I don’t think so.
ISA: If something were to happen to her …
Pause.
GUY: You know your eyes. They’re very big. They take up the whole of
your face. You look like a baby antelope. And the shade of your lipstick is
not one I would choose. In fact you’d look better without it. You should
emphasize your natural beauty more. And you don’t talk very much,
although I can see in your big eyes that you have plenty to say and your
voice is not bad, why don’t you say a bit more? Look at Awa, how she goes
on and on and
ISA: is that the way you talk to a woman in her own home?
GUY: I’m trying to flirt with you. Am I succeeding?
AWA returns, ready to go.
AWA: Is he telling you more about the mountains he’s climbed?
GUY: I’ve climbed many mountains
AWA: ignore him, Isa
GUY: you see she always interrupts at the point where I am about to sing
her praises
AWA (ushering him out): It’s after midnight already. Goodnight, Isa
GUY: Isa … Isa … I did climb a mountain once. Horrible – alone, I was
dizzy, my stomach was weak, my knees – but at some point there’s no more
choice of direction – if you’re afraid, well, you take your fear with you –
and the view, such a view – but better than the view is the silence – thick,
round, and gentle – I thought this must be the sound of death –
GUY opens the door and finds himself face to face with ALEX.
After a beat, GUY realizes, lets ALEX in.
ALEX (to ISA): Are you leaving?
This dialogue runs simultaneously over the lines that follow it:
_____________________________________________________________
__
GUY: who … ?
AWA: Her man
GUY: should we
AWA: no
GUY: leave them alone
AWA: no
GUY: but
AWA: not alone with him.
_____________________________________________________________
___

ISA: Alex listen to me


ALEX: FORGET IT / doesn’t matter
ISA: listen to me / would you listen?
ALEX: yeah … yeah …
ISA: I’m not going / I’m not
AWA: She’s coming with us –
ISA: Awa –
ALEX: with you? /
AWA (to ISA) :Time.
ALEX: (who) the hell are you?
AWA: don’t act like you don’t know who I am
ALEX: what’s she saying?
ISA: you know her Alex / you’ve met her before –
ALEX: yeah … yeah / we met …
ISA: Alex listen / to me
AWA: not going without you, Isa.
ISA: no Awa
ALEX: no it’s fine, it’s
ISA: Alex please
ALEX: can’t you, can’t you at least / tell me
ISA: they’re friends /
ALEX: friends of yours?
AWA: can she have friends?
ALEX: sorry I don’t know WHO THE FUCK YOU ARE
AWA: you’re lying
ALEX: (I’m lying)
GUY (to ISA): Are you all right on your own?
AWA: no
ALEX: she’s not / ‘on her own’
AWA: I’ll stay with her
GUY: you’re / sure?
AWA: yes
ISA: you don’t / have to
ALEX: not here / you’re not staying
AWA: then come with me.
ALEX (to ISA): what’s she saying? / Isa?
GUY: you heard her
ALEX: Isa?
ISA rushes off.
AWA: do you hear me / talking to you
GUY: (careful Awa)
AWA: break her / think that makes you a man
ALEX: (get out of here)
AWA: she’s not yours anymore
ALEX: I’m married to her
AWA (stepping up to ALEX): So am I, so is he / what’s special about you
GUY: don’t
ALEX: GET OUT
AWA (to ALEX): COME ON
GUY (reaching for AWA): Awa
AWA: let me go!
ALEX advances toward AWA. GUY steps between them just as ISA
returns.
GUY: go on touch her
ISA: don’t touch him! (To GUY.) Take her and go.
AWA: you can’t, don’t leave her with him!
ISA: Now!
AWA is hurt; reluctantly GUY ushers her out.
GUY (to ALEX, warning): I’ll come in the morning / Isa
ISA: just go.
They leave. ALEX sinks down on the sofa.
What’s the matter with you?
Pause.
Answer me
ALEX: are you going?
ISA (tired): Alex, no
ALEX: ARE YOU LEAVING ME?
ISA: Stop shouting!
ALEX: You like that
ISA: … what?
ALEX: his skin, that’s what you want
ISA: (you’re crazy)
ALEX: you’re right, too red
ISA turns toward the baby’s room.
ALEX grabs her, manipulates her to the sofa and forces her on it.
He begins to rape her.
She screams, tries to fight him off.
Knocking, then pounding at the door.
GUY enters. ALEX stops.
Without hesitation, GUY lays into ALEX.
ISA gets up and moves away.
GUY steps away from ALEX and stands looking at him. Then he goes off
and returns, holding the baby.
He ushers ISA out the door.
ALEX gets to his feet.
He goes to the window and looks out.
Blackout.

Scene 20
July 2001, a week later. Scene split to reveal on one side the unemployment
office waiting room and on the other AWA’s apartment. ALEX and ANDY
sit in the waiting room; AWA’s apartment is completely empty.
VOICEOVER: 589.
ANDY: Christ Alex.
AWA enters.
AWA: I don’t like it
ANDY: you could press charges. Assault. Kidnapping
ISA enters, following AWA, her baby in her arms.
ISA: can’t you wait until I’m through the door?
ANDY: I mean, what can she do? Alone? With a kid? You hear me, Alex?
Alex!
ALEX: yeah
ISA: you have to negotiate these things, Awa. But I suppose negotiating
isn’t something you do
AWA: we’re not in Dakar
ISA: not yet
ANDY: go to the child protection agency, the police, get a lawyer
ISA: I did her hair once. She’s fine, just young
AWA: young and stupid
ISA: Would you rent a shop to a single woman wheeling a baby around?
AWA: I would, in fact
ISA: you are a sorry excuse for a businesswoman, all of you ‘activists’ are
ANDY: Are you listening to me?
ALEX: yes!
ANDY: so what do you think?
VO: 590.
AWA: I would feel better if we had something. Documents. Signatures
ISA: No one can take a nursing baby away from his mother.
AWA: He won’t be nursing forever
ISA: I know men who nurse for decades –
ANDY: I’m not trying to tell you what to do.
AWA: Security. Custody, Isa
ISA: I’m his mother
AWA: I’ve heard stories you wouldn’t believe
ISA: about men who breastfeed? Does the German man have tits?
AWA: He has citizenship.
ISA (the baby has bitten her again): Ah, hey!
ANDY: But get someone
ALEX: yeah
ANDY: knowledgeable on your side
ALEX: ‘someone knowledgeable on my side’
ANDY: yeah!
ISA: you’re jealous
ALEX: yeah how?
AWA: shut up, girl
ANDY: Chris … Chris must know people, she knows people like that …
ISA: Nothing I could do to tempt you away from your precious meetings.
But still you mix your business with mine, always telling me to be serious
and criticizing what I do, why? But I figured it out. It’s his face you keep
coming back for. To look at him makes you feel that the world is on your
side – even though it’s not on your side at all. Go on to your hearing. Stop
trying to live everyone’s life but your own
ANDY: Forget how! Fuck how! I’d fucking do it if I could, toss her off the
next bridge, if it were me
ALEX: it’s not ‘you’, is it?
ISA: Guy told me about your children.
AWA: Guy is full of talk!
ANDY: I know that, I’m only saying –
ALEX: good.
ISA: Tears don’t frighten me –
AWA: there’s a box on the landing
ANDY: For fuck’s sake, Alex
VO: 591.
ANDY gets up.
ANDY: If there’s anything we can do, just –
AWA: are you coming? I can’t carry it alone.
AWA exits.
ALEX extinguishes his cigarette and slowly stands.
He crosses to AWA’s apartment.
He collects the baby gently and hushes it as he carries it off.
ISA: I can see him. There he is in front of me, his red face, his cigarettes, I
can see him, he’s saying I’m his father, we’ll be back in an hour, and she’s
looking at her watch and she’s letting him go … you were right, Awa, you
should’ve left it at ›embrace‹ because that’s murder that’s what murder
means, yes Awa, come here, let’s work on your German, you come from a
place where a kiss is a kiss and a slap is a slap but here, ha, you need an
extra stamp in your passport if you want to speak your mind, yes, Awa, let
everyone hear, say murder loud, say it, Murder!

PLAYWRIGHT’S NOTE
Achidi J’s Final Hours was first performed on 6 May 2004 at the
Finborough Theatre in London. The cast and creative team were as follows:

Achidi J Winston Atour


Alex Martin Brody
Andy Dan Rabin
Isa Amanda Wright
Awa Thiam Linda Gathu
Civil Servant Carsten Hayes
Stephan S (OFFICER James Alper
2)
Jürgen F (OFFICER Kevin O’Donohoe
1)
Guy Eddie Daniels
Director Ché Walker
Assistant Director Melissa Smith
Producers Timothy Hughes and Rebecca Manson-Jones for
Frontline
Designer Dick Bird
Design Direction Fiammetta Horvat
Lighting Director Alex Wardle
Sound Designer Jack C. Arnold
Stage Manager Vanessa Mobiglia
Assistant Stage Catherine Tronzo
Manager
Production Assistant Jaci Clyde-Smith
Photographer Clive Moore
Fight Choreographer Steve Medlin
Print Design David Hardcastle

BIBLIOGRAPHY
Appiah, Kwame & James Tutu: »Police kill Senegalese woman in Aschaffenburg.« In: The African
Courier 4(2001): 21
Diederichs, Otto: »Neue Geschoss für die Polizei.« In: die tageszeitung, 26. 5. 2001
Orick, Michael: »Federal’s EFMJ: Expanding Full Metal Jacket.» In: Calibers,
http://www.greent.com/40Page/general/EFMJ.html (17.3.2002)
Polizieidirektion Aschaffenburg, Pressebericht: »Polizeilicher Schusswaffengebrauch in Nothilfe
endete tödlich«, 14. Juli 2001
Smith, Claudia E.: »Bullets.« In: Stop Gatekeeper: The California Rural Legal Assistance
Foundation’s Border Project, http://www.stopgatekeeper.org/English/bullets.htm (17.3.2002)

NOTES
1 Diederichs: »Neue Geschoss für die Polizei«.
2 Appiah & Tutu: »Police kill Senegalese woman in Aschaffenburg«.
3 Polizieidirektion Aschaffenburg Pressebericht: »Polizeilicher Schusswaffengebrauch«.
4 Smith: »Bullets«.
5 According to Otto Diederichs’ article (see above footnote), expanding metal jacket ammunition
was introduced to police forces in Bavaria in October 2000, about ten months prior to the
shooting incident in Aschaffenburg. Regarding the advantages of using this ammunition,
Michael Orick writes: »Expanding bullets are less likely to ricochet after striking hard objects,
and less likely to go too deep and exiting [sic] soft objects, hitting unintended objects who then
call lawyers (this may also not be a real problem depending on your point of view, hit ratio, and
budget).« Orick: »Federal’s EFMJ: Expanding Full Metal Jacket«.
6 Special thanks to the African Refugees Association of Hamburg, Black Students Organisation,
Aischa Ahmed, ADEFRA Berlin, Nicola al-Lauré Samarai, Marcy Arlin at the Immigrant
Theater Project of New York, Rose Ekoule-Djengue, Grada Kilomba, Timothy Hughes,
Initiative Schwarze Deutsche, Caroline Jackson-Smith, Rotraut Junker, Al Laufeld, Jelka
Lehmann, Rebecca Manson-Jones, Sipua Ngnoubamdjum, David Roderick, Otana Thiede, Ché
Walker, and an exceptional company of actors and artists for allowing this story to be told.
Finally, very special thanks to the memory of Dr. Slayton A. Evans, Jr. for making it all possible.
Dedicated to the memory of Mareame N’Deye Sarr and countless others who have suffered at
the hands of racist violence and police brutality.
JINTHANA HARITAWORN
»DER MENSCHHEIT TREU«: RASSENVERRAT UND
MULTI-THEMENPOLITIK IM DERZEITIGEN
MULTIKULTURALISMUS[1]

Gerade wurde ich zum dritten Mal innerhalb von wenigen Monaten gefragt,
wem meine Tasche gehöre. Man wisse nie, sagt die Bibliothekarin, es könne
ja eine Bombe darin sein. Ihre forschenden Augen brennen Wut in mein
multi-ethnisiertes[2] Gesicht. Ich streite mit ihr, ohne ihre Konstruktion
meines Phänotyps als ›muslimisch‹ und somit ›terroristisch‹ anzufechten.
Die Terrorisierung der Bevölkerung im Namen der öffentlichen Sicherheit
macht mich unsicher – und wütend – und ängstlich um die, die sich im
Zweifelsfalle nicht auf eine Verwechslung berufen können.
Ich schreibe in einer Londoner Universitätsbibliothek im März 2005, zur
Zeit der islamophoben Konsolidierung und der Taschen-Hysterie. »Guilty
until proven innocent«, warnt der linke Bürgermeister ›Red Ken‹
Livingston die U-Bahn-Passagiere der multi-ethnischen Hauptstadt auf dem
Weg zur Arbeit voreinander. Über diverse Herkünfte hinweg ebnet der
englische Sinn für Humor unser Verständnis, dass wir im ›Krieg gegen den
Terror‹ keine Rechtsstaatlichkeit erwarten können. So gehen nicht wenige
der Aufforderung auf dem steckbriefartigen Plakat mit den verschieden
farbigen Taschen nach, diese als »Guilty until proven innocent« zu
behandeln, sie weder zu »ignorieren« noch zu »berühren«, und sofort das
Personal oder die Polizei zu benachrichtigen, wenn sie ihnen »verdächtig«
vorkommen.
Mein transnationaler Kontext ist auch der des rassistischen Schlages
nach dem Mord an Hatun Sürücü.[3] Der liberale Diskurs des
›Ehrenmordes‹ ethnisiert häusliche Gewalt als ein kulturelles, angeblich
›muslimisches‹[4] Phänomen. Dies erfolgt in einem Kontext, wo anti-
rassistische, feministische, sexuelle Befreiungs- und andere progressive
Diskurse unter Mottos wie »Multikulturalismus ist schlecht für Frauen«[5]
gegeneinander ausgespielt werden. Die Vielzahl der Parteien, die an
Sürücüs Tod ein Interesse behaupten, von assimilierten Migrantinnen bis
hin zu mehrheitsdeutschen Schwulen, zeigt den Bedarf nach einer Multi-
Themen-Politik,[6] die die Überlappungen der großen sozialen
Bewegungen anerkennt und sich für die parteiisch zeigt, die ihrer
Konkurrenz üblicherweise zum Opfer fallen.
Ich illustriere dies der feministischen und sexuellen
Befreiungsbewegungen, die sich trotz ihrer ›Bündnis‹-Rhetorik gegenüber
anti-rassistischen Interventionen resistent gezeigt haben. Im Gegensatz
hierzu fordert kritische Weißseinsforschung nicht nur eine Bündnisarbeit
zwischen scheinbar trennbaren Gruppen wie ›Frauen‹ (weiß),[7]
›Migranten‹ (männlich) und ›Schwulen und Lesben‹ (weiß), sondern eine
ehrlich positionierte Verbündetenarbeit, welche einen sozialen Kontext wie
die Frauenbewegung bereits als Koalition zwischen unterschiedlich
positionierten Frauen erkennt und durch konkrete Umverteilungsakte zu
verändern sucht. Besonders vielversprechend erscheint mir das Konzept der
›verräterischen Identität‹, die ihre Treue zur Menschheit durch den Verrat an
der eigenen dominanten Gruppe beweist. Doch muss auch dies positioniert
werden. Ist Dominanz aus einer dominanten Perspektive erkennbar,
geschweige denn verratbar? Sind die Prozesse, durch die dominante und
minorisierte Leute zu VerräterInnen werden, dieselben? Wie ich jetzt zeige,
sind die ersten, denen Verrat vorgeworfen wird, oft nicht Verbündete,
sondern Überlebende[8] von Gewalt.
»IS MULTICULTURALISM BAD FOR WOMEN?«
SEXISTISCHE GEWALT UND RASSISTISCHER BACKLASH[9]
Tod im Sand: Der Sandstrand in der Morecambe Bucht, welcher gestern auf schockierende Weise
neunzehn weitere Leben nahm, ist für seine trügerische Natur berüchtigt, aber zumindest ist seine
Tödlichkeit weit bekannt. Dasselbe kann man nicht über die schlangenartigen, verborgenen Pfade
sagen, die unterbezahlte ausländische Arbeiter in solch tödliche Beschäftigungen ziehen. Diese
erfordern dringend Nachforschung und scharfe Regulierung.[10]
›Dieses Denken [dass verwestlichte Frauen wie Hatun Sürücü den Tod verdienen, Anm. d. Verf.]
ist tief in den Köpfen [der Schüler],‹ sagte der Direktor einer weiteren hauptsächlich türkischen
Ausländer [Englisch: immigrant]-Schule im Stadtteil, welcher bat, nicht namentlich erwähnt zu
werden. Ihre Bemerkungen, sagte er, erinnerten ihn an die spontanen ›Siegestänze‹, welche
ausländische Schüler nach den Anschlägen des 11. Septembers auf New York und Washington
aufgeführt hatten.[11]

Es ist länger als ein Jahr her, seit in der nordenglischen Morecambe-Bucht
am 5. Februar 2004 einundzwanzig chinesische MigrantInnen bei ihrer
unterdokumentierten Muschelsammelarbeit im Meer ertranken, und wenige
Wochen seit dem Mord an Hatun Sürücü am 7. Februar 2005, für den ihre
Brüder verdächtigt werden. Mit dem als ›Morecambe Tragödie‹
naturalisierten Ereignis reiße ich die weitere Orientalisierung von Gewalt
an. Für den ›Menschenhandel‹ sollen chinesische ›Schlangenköpfe‹ und
›Gangmeister‹ verantwortlich sein, für den ›Ehrenmord‹ ein als ›türkisch‹
und somit ›islamisch‹ ethnisiertes Geschlechtersystem, das synonym gesetzt
wird mit häuslicher Gewalt.
Bemerkenswert ist hierbei die Leichtigkeit, mit der diese
Repräsentationen – im Gegenteil zu den so Dargestellten – im vereinten
Nordwest-Europa reisen. Patersons oben zitierter Artikel »How many more
women have to die before this society wakes up?« schließt
MehrheitsbritInnen mit Mehrheitsdeutschen in die eine anständige, mutige
Gemeinschaft zusammen: »this society«, die es politisch korrekten
MultikulturalistInnen zum Trotz wagt, in das Leiden von ›Frauen‹
einzugreifen. Dieser problemlose Identifikation mit dem einstigen
Kriegsgegner steht die Unfähigkeit gegenüber, jegliche Ähnlichkeiten mit
als ›muslimisch‹ konstituierten BritInnen zu erkennen. Diese werden
weißen BritInnen unähnlicher als Mehrheitsdeutschen, deren ›Probleme mit
ihren MuslimInnen‹ man gut versteht. Schließlich inszenierte man seine
eigene ›honour-crimes‹-Diskussion und sein eigenes islamophobes Drama.
Hier explodierte der Diskurs mangelnder Integration noch vor dem
gemeinhin als Auslöser bezeichneten 11. September 2001.
Bezeichnenderweise wurden die nordenglischen Unruhen des Sommers
2001 jedoch nicht als ›türkisch‹ rassifiziert, sondern als ›asiatisch‹.
Tatsächlich galten MigrantInnen aus der Türkei in Britannien bis zu ihrer
relativ jungen Entdeckung für die Asyldebatte als ›weiß‹ und relativ
unproblematisch. Die derzeitige Identifikation weißer BritInnen mit weißen
Deutschen ist das letzte Kapitel einer orientalistischen Geschichte, in der
sich der ›zivilisierte Westen‹ über historische, nationale und ethnische
Unterschiede hinweg gegen den ›barbarischen Orient‹ vereint.
Dieser Weißseinsdiskurs homogenisiert nicht nur seine Anderen, sondern
auch die eigenen Widersprüche von Klasse und Geschlecht. Sein Subjekt
vergisst im Akte der Ethnisierung, wie die eigene Kultur Gewalt
normalisiert und als akzeptable Praktik an mehrheitsdeutsche und
ethnisierte Kinder weitergibt. Klassen- und häusliche Gewalt gibt es nur in
südlichen Kulturen, die die Migrierten unverändert eingeführt haben sollen.
Es ist nicht gewalttätig, sondern normal, wenn Weiße ihre PartnerInnen
erniedrigen und Kinder missbrauchen. Und nicht Klassenunterdrückung,
sondern ›Arbeitsplatz-Beschaffung‹, wenn in Armut lebende Menschen
durch die Hartz-IV Arbeitsmarkt- und Sozialhilfereform in 1-Euro-Jobs
gezwungen werden; nicht Ausbeutung, sondern ›Ausländerfreundlichkeit‹,
wenn einzig der eigene wirtschaftliche Nutzen als Argument zugunsten von
MigrantInnen verbleibt.
Normalisiert wird auch die Art von Gewalt, der Ethnisierte beständig
ausgesetzt sind. Wir erfahren nichts über die Migrationsregime, die heutige
ArbeitsmigrantInnen strukturell unterdokumentieren und so ausbeutbare
Hierarchien in Beziehungen, am Arbeitsplatz oder auf dem Migrationswege
erst erzeugen. Oder über die einleitend illustrierten ›Anti-Terror‹-
Maßnahmen, die die als ›muslimisch‹ Ethnisierten zu Zielscheiben
staatlicher und ziviler Gewalt machen.
Im deutschen Diskurs geht die Machtnegierung,[12] mit der Gewalt
externalisiert wird, noch weiter. Die Aufforderung, in häusliche Gewaltakte
zwischen Ethnisierten ›einzugreifen‹, hat Übertöne mit der öffentlichen
Kampagne für ›Zivilcourage‹, durch die ›anständige Deutsche‹ das
Eingreifen in ›ausländerfeindliche‹ Gewaltakte erlernen sollen.[13] Dies
verschiebt die Frage von TäterInnenschaft von Mehrheitsdeutschen auf ihre
Opfer, gegen deren patriarchale Kultur ›Gutmenschen‹ aus Angst vor
Rassismusvorwürfen zu tolerant geworden seien.[14] Nicht nur sind anti-
rassistische Interventionen nicht mehr vonnöten; sie sind sogar gefährlich.
Im Nicht-Einwanderungsland wird die Forderung laut, Multikulturalismus
noch vor seiner Einführung abzuschaffen. Wie andere Darstellungen des
ethnisierten Sexismus[15] entlastet der ›Ehrenmord‹-Diskurs den liberalen
Mainstream von seiner eigenen Abscheu gegenüber einer multi-ethnischen
Gesellschaftsvision.
Anti-Rassismus wird im Namen von Frauenrechten diskreditiert.
Dominante Feministinnen nehmen hierin eine aktive Rolle an. Die
Entdeckung der ›häuslichen Gewalt‹, dem traditionellen einen Thema des
dominanten Feminismus, durch die Mainstream-Politik ermöglicht es
weißen Frauen wie Susan Okin und Alice Schwarzer, als ebenbürtige
Partnerinnen in diese einzutreten.[16] Dies ist keine neue Entwicklung,
legitimierten doch schon im 19. Jahrhundert weiße Feministinnen den
Kolonialismus als angebliches Werkzeug gegen ethnisierten Sexismus.[17]
Mit der formellen Gleichstellung weißer Frauen mit weißen Männern fragt
sich jedoch, wie ›die Muslime‹ bzw. ›der Multikulturalismus‹ zum
eigentlichen Täter geworden sind. Verkörperten früher militaristische
Regierungen ›das Patriarchat‹, ist die dominante feministische Kritik an
ihnen nunmehr, dass sie ›das eigentliche Patriarchat‹ nicht genügend
bekämpfen. Am deutlichsten wurde dies im Angriff Afghanistans, der durch
die ›Befreiung‹ afghanischer Frauen gerechtfertigt wurde. Anti-Sexismus
wird so zum schlagendsten Argument für kollektive Gewaltakte, die
Männer und Frauen gleichermaßen viktimisieren. Wie Sherene Razack
zeigt, zwingt der Rechtsruck weißer Feministinnen im Dienste des
islamophoben Backlashes gerade als ›muslimisch‹ ethnisierte
Feministinnen, die »Bürde der Repräsentation«[18] häuslicher Gewalt
allein zu tragen:
Wie ist es möglich, patriarchale Gewalt innerhalb muslimischer Communities anzuerkennen und
zu konfrontieren, ohne in Argumente über kulturelle Defizite zu verfallen (sie sind allzu
patriarchal und grundauf unzivilisiert), und ohne extreme Maßnahmen der Stigmatisierung,
Überwachung und Kontrolle auszulösen, die nach den Ereignissen des 11. September 2001 so
zugenommen haben? In diesem Artikel suche ich einen Standort, an dem ich weder Bomben noch
die Faust eines Mannes im Gesicht einer Frau akzeptiere.[19]

Die Arbeit ethnisierter Feministinnen wird punktuell angeeignet, verzerrt


und ansonsten übergangen. Tatsächlich sind anti-rassistische Feministinnen
die einzigen Kritikerinnen eines Systems, welches ethnisierte Frauen, die
häusliche Gewalt überleben, nicht nur grob vernachlässigt, sondern aktiv
misshandelt:
Wenn der Mann Schwarz ist, verhaftet ihn die Polizei eher, doch schwarze Frauen sind sich sicher,
dass dies durch Rassismus motiviert ist und nicht durch irgendeine Sorge um die Sicherheit der
Frau. Wenn entweder die Frau oder der Mann Schwarz ist, geht der ganze Fall möglicherweise
nicht mehr darum, die Frau zu schützen, sondern darum, Aufenthaltstitel zu überprüfen.[20]

Den Rassismus im Frauenhaus erleben die türkischen Bewohnerinnen als


Fortsetzung ihrer Misshandlungsgeschichte:
So, wie du dich in der Wohnung deines Mannes gefühlt hast – sehr einsam, heimatlos –, fühlst du
dich auch im Frauenhaus: fremd, heimatlos.
Noch immer gibt es haarsträubende Berichte aus bundesdeutschen Frauenhäusern, daß
ausländischen Frauen die Aufnahme verweigert wird, weil sie ohnehin zum Mann zurückkehren
würden oder weil sie mit ihren vielen Kindern die Ordnung im Haus stören und die
Bewohnerinnen, sprich deutsche Frauen, bei ihrer Befreiung von ihren Mißhandlungen
beeinträchtigen würden.[21]
Das [neue britische] Gesetz zu häuslicher Gewalt muss anerkennen, dass Frauen, deren
Aufenthaltstitel ungesichert oder abhängig von ihrem/r/n Mann/PartnerIn/Angehörigen ist, in
gewalttätigen Beziehungen gefangen sind, sowohl durch die Beschränkung ihres Zugriffs auf
öffentliche Mittel und ihre Angst vor Mittellosigkeit und finanzieller Ausbeutung, als auch durch
ihre Angst, in ihre Herkunftsländer zurückkehren zu müssen. [Dies nimmt] vielen Frauen echte
Entscheidungsfreiheit, gewalttätige Beziehungen zu verlassen.[22]

Jedoch führt die Aufdeckung solcher Missstände selten zur Hinterfragung


der Ideologien, die bestimmte Opfer schützenswerter machen als andere.
Stattdessen übersetzt der Mainstream solche Interventionen in
›Multikulturalismus ist schlecht für Frauen‹. Schuld an Gewalt sind nicht
die TäterInnen und die Kultur der Vernachlässigung und Misshandlung
minorisierter Überlebender, welche von existierenden Massnahmen gegen
häusliche Gewalt ausgeschlossen und oft zusätzlich viktimisiert werden.
Nicht mehr, sondern weniger Verbündung soll ihnen helfen. Rassistische,
klassistische, sexistische und anti-Survivor-Diskurse fließen hier in ein
besonders pathologisiertes und handlungsunfähiges Konstrukt zusammen.
Während alle, die Gewalt überlebt haben, als ›schwache Opfer‹ gelten, die
nicht zu eigenen Entscheidungen fähig sind,[23] ist ›die geschlagene
Migrantin‹ das Opfer schlechthin. Nicht nur akzeptiert sie ihre
Misshandlung angeblich als natürlich, sie gibt sie auch noch an ihre Kinder
weiter. Als Quelle hierfür werden intellektuelle Migrantinnen wie Seyran
Ateş und Necla Kelek zitiert, welche Diskurse von ›Zivilisation‹ und
›Integration‹ lediglich wiederholen. Diese Disidentifikation muss gegen
einen Kontext gelesen werden, welcher zunehmend zwischen ›guten
Ethnisierten‹ unterscheidet, die im doppelten Sinne die selbe Sprache
sprechen wie ›wir‹, und ›schlechten Ethnisierten‹, die in
›Parallelgesellschaften‹ leben.
Der neue Konsens gegen Multikulturalismus erschwert ethnisierten
Feministinnen und/oder Überlebenden die Arbeit gegen Gewalt. Gewalt zu
thematisieren heißt, mehr Gewalt zu riskieren – gegen minorisierte
Communities oder gegen sich selbst. Diese Gewalt kann symbolisch sein,
etwa wenn ein weißer Polizist eine ›schwache, hilflose Asiatin‹ vor ihrer
›patriarchalen Kultur rettet‹, oder materiell, wenn dies zu verstärkter
Überwachung, Polizeigewalt und verschärften Einwanderungsregelungen
für männliche Heiratsmigranten führt.[24] Für Überlebende, die sich
bewusst sind, dass ihre ›HelferInnen‹ eigene Gewaltmotive haben, erfolgt
hieraus ein politischer Druck, TäterInnenschutz zu betreiben und ›dreckige
Wäsche‹ allein zu waschen. Statt die Bürde der Gewalt wie behauptet zu
verringern, potenziert der anti-multikulturalistische Diskurs so auf allen
Ebenen ihr Gewicht. Im nächsten Abschnitt untersuche ich, wie sich die
dominante sexuelle Befreiungsbewegung hierzu positioniert hat.

»MIGRANTEN MÜSSEN IHR VERHÄLTNIS ZU HOMOPHOBIE KLÄREN.«


›SEXUELLE BEFREIUNG‹ IM REAL-MULTIKULTURALISMUS
Schwullesbisches Weißsein beruht auf derselben Dichotomie vom
›modernen Westen/Norden‹ und ›traditionellen Osten/Süden‹. Auch hier gilt
›Multikulturalismus‹ als Täterschützer, welcher ›Migranten‹ dazu ermutigt,
ihre ›homophobe‹ Kultur zu verbreiten. Gleichzeitig werden ›Migranten‹
als direkte Konkurrenten um den Minderheitenstatus behandelt.[25]
Ethnisierte Schwule, Lesben und andere Frauen existieren in diesem
Schema nicht – von Bisexuellen und Transleuten ganz zu Schweigen.
Organisationen wie der ›Lesben- und Schwulenverband Deutschlands‹
(LSVD) begreifen es dennoch nicht als Widerspruch, gleichzeitig für
migrantische Schwule und Lesben Patronage und öffentliche Gelder zu
beanspruchen. Hieran hat auch der Widerstand seiner vermeintlichen
KlientInnen nichts geändert.[26]
In seiner Konkurrenz zu migrantischen Organisationen wie dem
›Türkischen Bund Berlin-Brandenburg‹ scheut sich der Verband nicht,
rassistische Bilder zu verbreiten. Im Sommer 2003 nahm der Verband
homophobe Übergriffe gegen Mitglieder der Gruppe ›Gays and Lesbians‹
aus der Türkei zum Anlass, um »Migranten« als Gewalttäter darzustellen,
deren Homophobie kulturell verursacht sei und ihrer »unzureichenden
Integration«, »Religion«, »ländlichen Herkunft« und »patriarchalen
Familienstrukturen« entspringe. Der Aufruf mobilisierte explizit gegen
»Migrantenverbände«, die ihr »Verhältnis zu Homophobie klären« müssten.
[27] Nach dem Mord an Hatun Sürücü nahm sich der Verband erneut die
Definitionsmacht über mehrfachunterdrückte MigrantInnen. Der LSVD-
Aufruf zur »Mahnwache für Hatin (sic) Sürücü« speiste sich aus ähnlichen
vergeschlechtlichten Bildern migrantischer Rückständigkeit. Verantwortlich
für Sürücüs Tod sei das »archaische Verständnis von Familienehre, das ein
selbstbestimmtes Leben von Frauen, oder auch von Lesben und Schwulen
ausschließt«.[28] Die selbstverständliche Teilnahme des LSVDs an dieser
Debatte ist umso bemerkenswerter, als weder Frauen noch Migrantinnen
oder Opfer häuslicher Gewalt den Verband bislang interessierten.[29]
Die ›Entdeckung‹ ethnisierter Schwuler und Lesben ist das große neue
Thema des sexuellen Befreiungsprojektes in Europa. Der plötzlichen
Nachfrage an den Lebenserfahrungen, politischen Projekten und kulturellen
Ausdrucksformen einiger – als ›muslimisch‹ – ethnisierter Schwuler und
Lesben steht die bisherige völlige Ignoranz über ihre Existenz entgegen.
[30] Der Fokus auf Mehrfachunterdrückung hat finanzielle Gründe, da
diese in der Ära der EU-Anti-Diskriminierungs-Politik ein lukratives
Geschäft ist. Auch eröffnen sich hier neue Möglichkeiten, das
voyeuristische Verlangen zu befriedigen, mit dem der homo- wie
heterosexuelle weiße Blick orientalisierte Sexualitäten und
Geschlechtsidentitäten seit der Kolonialzeit betrachtet.[31]
Ferner wird ›muslimische Homophobie‹ in einem Kontext salient, der
seine ›Modernität‹ seit langem, wie oben untersucht, durch seine
Frauenfreundlichkeit markiert, und seit kurzem durch seine Schwulen- und
Lesben-Freundlichkeit. Weiße Schwule behaupten ihren Platz neben weißen
heterosexuellen Männern und weißen Feministinnen in der Befreiung
›muslimischer‹ Frauen, Schwuler und Lesben und der Zivilisierung ihrer
UnterdrückerInnen. Jen Petzen argumentiert: »Im europäischen politischen
Diskurs der 90er Jahre hat sich der Fokus vom Status der Frauen als
Kriterium der Modernität zum Status von Schwulen und Lesben
verschoben.«[32]
Die Weigerung weißer Feministinnen, Schwuler und Lesben, die eigenen
Bewegungen bereits als Koalitionen zu begreifen, innerhalb derer
Solidaritätsbedarf herrscht, ist vor allem eine Weigerung, minorisierte
Handlungsunfähigkeit anzuerkennen. Dies gilt auch für die Queer-
Bewegung, welche sich im Kern als Nachfolgerin der anti-rassistischen
Kritik, sowie als besonders freundlich gegenüber Frauen, Ethnisierten und
Transleuten versteht.[33] Dennoch stellen sich auch dominante Queers in
die Tradition, Mehrfachunterdrückte vor ihren besonders repressiver
Communities zu ›retten‹. So behauptet der führende Queer-Theoretiker
Steven Seidman: »There was no Stonewall in black America.« Die
Erinnerung an das Ereignis, welches gemeinhin als Geburtstag queerer
Befreiung gefeiert wird, übergeht die mittlerweile etablierte historische
Tatsache, dass nicht weiße, nicht-trans Schwule, sondern schwarze und
Transgenders of Colour im Stonewall gegen die Polizei rebellierten. Eine
von ihnen, Sylvia Rivera, beschrieb den Black Panthers Leiter Huey
Newton als weit weniger transphob als weiße schwule Organisatoren:
»Huey beschloss, dass wir Teil der Revolution waren – dass wir
revolutionäre Leute waren.«[34]
Die mangelnde Solidarität mit Mehrfachunterdrückten, die Seidman
beklagt, geht nicht nur von nicht-trans heterosexuellen Ethnisierten aus,
sondern auch und vor allem von seiner eigenen, unhinterfragten Bewegung.
Ethnisierte Queers, die nicht trans sind, führen diese Entsolidarisierung fort,
indem wir unsere Diagnose ›weiße/westliche Krankheit‹ unverändert an
ethnisierte Transleute weitergeben. Das Urteil des Transaktivisten Dean
Spade, ein Großteil der Queer-Bewegung sei »LGB-fake-T« –
»schwullesbi-und-nur-angeblich-trans«, gilt auch für ethnisierte Queers.
[35]
Für Ethnisierte, deren Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten infolge
von Imperialismus, Sklaverei und Verfolgung aufs Schlimmste ausgebeutet
und pathologisiert worden sind, ist Selbstbestimmung ein besonders
wichtiges Projekt. Eine Befreiungsbewegung nach der anderen hat sich dem
nicht nur unsolidarisch, sondern regelrecht feindlich gezeigt. Überlebende
Migrantinnen, schwarze Lesben und ethnisierte Transleute sind nur einige
unter vielen Subjektpositionen, die auf der Kreuzung diverser
Dominanzverhältnisse überfahren werden. Im Klima des Backlashes lassen
sich so genannte BündnispartnerInnen am ehesten finden, wenn
ErzählerInnen ihre Geschichten hegemonischen Diskursen von
›patriarchalen Schlägern‹, ›homophoben Nationalisten‹ und
›essentialistischen IdentitätspolitikerInnen‹ unterordnen. Der Rest des
Artikels untersucht zwei Entwürfe von Verbündetenpolitik, Noel Ignatievs
und Minnie Bruce Pratts, die den eigenen Anteil an Gewalt nicht negieren,
sondern ehrlich benennen und angreifen.

»TREASON TO WHITENESS IS LOYALTY TO HUMANITY«. EINE


POSITIONIERUNG VERRÄTERISCHER IDENTITÄT[36]
Wie ich gezeigt habe, ist Verrat der rote Faden der Multi-Themen-Politik.
Mehrfachunterdrückte werden von ihren Bewegungen zu Fremdkörpern
und ›NestbeschmutzerInnen‹ erklärt. Neben dieser Konnotation des
Ausschlusses gibt es jedoch auch Versuche, Verrat positiv zu besetzen.
Beispielsweise ruft die weiße Feministin Sandra Harding dominante Leute
dazu auf, verräterische Identitäten anzunehmen. Hierfür schlägt sie eine
Methodik der Positionalität und Intersektionalität vor.[37]
Während diese Werkzeuge besser sind als keine, kann ich an meinen
eigenen Schwierigkeiten, meine Rolle im täglichen Terror gegen Transleute,
Behinderte und Arbeiterklasseleute positiv zu verändern, bestätigen, dass
die Verlernung von Dominanz leider nicht nur eine Frage des richtigen
Rezeptes ist. Auch mangeln Versuche von Verbündetenarbeit oft an der
Fantasie, eine unschuldige, ›positive‹ Identität zu erlangen, auf die man
doch noch stolz sein kann. Besonders verheerend kommt dies in Rufen nach
einem ›positiven deutschen Nationalgefühl‹ zum Ausdruck, welches sich
nicht länger für den Genozid an jüdischen Leuten, Roma, Sinti und
Behinderten schämen muss.
Solcher dominanten Identitätspolitik wollen die Race Traitors
widerstehen, deren Programm der militante Angriff weißer Strukturen ist.
Leider sieht Race Traitor Noel Ignatiev in seinem anti-asiatischen
Rassismus keinen Widerspruch zu seinem »Rassenverrat«. Chinesisch-
amerikanische Leute heirateten häufig Weiße, seien Kapitalisten und daher
keine »unterdrückte Rasse«. Tatsächlich hält sich dieses Bild ›strebsamer
und angepasster ChinesInnen‹ selbst angesichts des wachsenden anti-
chinesischen Rassismus (s.o.). Dem liegt eine ›Rassenlehre‹ zugrunde, die
Kolonialismus und Sklaverei durch die Aufteilung von Menschen in
hierarchische Gruppen wie ›rebellische Schwarze‹ und ›unterwürfige
AsiatInnen‹ rechtfertigte, denen essenziell unterschiedliche körperliche und
mentale Eigenschaften zugeschrieben wurden.[38]
Schwarzen Leuten gibt Ignatiev das zweifelhafte Privileg, sich von ihm
fetischisieren zu lassen. Als anti-weiße Strategie ruft er zum Crossover in
die Schwarze Kultur auf sowie zur Aneignung einer hellhäutigen mixed-
race Position, die phänotypische Zuschreibungen mit Fragen wie ›Woher
willst du wissen, dass ich weiß bin?‹ anfechten soll. Ignatiev übertrifft in
seiner Machtnegierung andere weiße HybridistInnen, indem er sich nicht
nur Schwarze Kultur, sondern auch Körperlichkeit aneignet. Angesichts des
mixed-race-phoben Ursprungs des Hybriditätskonzeptes in der
›Rassenlehre‹ überrascht die Leichtigkeit dieses Schrittes kaum.
Ignatiev ist nicht der einzige weiße Weißseinsforscher, der eine Gruppe
fetischisiert und alle anderen ignoriert. Polemisch ausgedrückt
spezialisieren sich deutsche ›Migrationsforscher‹ auf ›Türken‹,
›Weißseinsforscher‹ auf ›Schwarze‹ und ›Deutsche‹ auf ›Juden‹. Dieses
Teile-und-Herrsche verstärkt die Zentrierung der mehrheitsdeutschen
ExpertInnen, um deren Aufmerksamkeit wir konkurrieren. Auch die
Veranstalterinnen des Weißseinsworkshops in Berlin, welcher diesem Band
zugrunde lag, erzeugten mit ihrer singulären Rassismusdefinition kein
solidarisches Klima. Was an jenem Wochenende an Solidarität entstand,
war das Resultat harter geduldiger Arbeit unter Leuten of Colour. Keine
weißen ›Verbündeten‹ fanden einen asiatischen Beitrag wie diesen Artikel
wichtig. Es ist fraglich, ob nicht-Schwarze Ethnisierte überhaupt in diesem
Buch vertreten wären, wenn die Schwarzen Herausgeberinnen diese
Ressource nicht mit uns geteilt hätten.
Dennoch kann ich nicht umhin, mich zum Motto der ›Rassenverräter‹
hingezogen zu fühlen. ›Verrat an Weißsein ist Treue an der Menschheit‹ –
dieser Grundsatz definiert Verbündetenarbeit als etwas, das über eitle
halbherzige Gesten hinausgeht. Verbündetenarbeit heißt, den eigenen
Zugang zum Status und Privileg vollwertiger Menschlichkeit als
unmenschlich abzulehnen. Ignatiev zufolge geschieht dies, indem
Verbündete den VollstreckerInnen des Systems beweisen, dass Phänotyp
kein zuverlässiges Treuemerkmal ist.
[W]enn die Bullen und die Gerichte etc. sich nicht sicher sein könnten, dass jede Person, die weiß
aussieht, dem System treu ist, welchen Sinn hätte es, Weißen Rasseprivilegien zu verleihen? […]
Unsere Strategie versucht, eine entschlossene Minderheit zusammenzubringen, die weiße Regeln
so schamlos übertritt, dass es unmöglich wird so zu tun, als ob alle, die weiß aussehen, dem
System rassischer Unterdrückung treu sind.[39]

Ignatievs Verrat ist erfreulich radikal, aber auch auffällig unpositioniert. Ich
lese ihn als einen ›Menschen‹ in mehr als einem Sinne – nicht nur weiß,
sondern auch nicht-queer, nicht-trans, nicht-behindert, männlich und
Mittelklasse –, der sich den Konflikt mit staatlichen Institutionen wie dem
Gefängnis oder der Psychiatrie aussuchen kann. Auch interpretiere ich sein
Politikverständnis wie viele dominante Anti-Rassismen als maskulinistisch.
Ignatievs authentisches anti-rassistisches Subjekt ist jung, männlich und
gewaltbereit.
Dagegen positionierte Minnie Bruce Pratt ihre Bewusstwerdung
innerhalb des amerikanischen weiß- und nicht-jüdisch-dominierten
lesbischen Feminismus der 70er und 80er Jahre. Institutionen wie die
Gerichte traten in ihrer Erzählung zunächst als sexistisch und homophob
hervor. Nach ihrem Coming Out verlor Pratt nicht nur ihr Kind, sondern
zunächst auch ihre Familie, die lieber keine als eine ›unanständige‹ Tochter
wollte. Sie suchte Zuflucht in der Frauenbewegung, welche sich rasch als
eigener Ort der Gewalt erwies. Pratt wurde mehrfach zur ›Verräterin‹ – als
Rebellin gegen das Patriarchat, aber auch als Verbündete gegen Rassismus
und Anti-Semitismus, die ihre Sisterhood verraten musste, um ihr wirklich
treu zu werden:
Was passiert, wenn ich sage, ich will, dass das anders wird? Werde ich als nächstes hier
unwillkommen sein? Dann kommt die Furcht, nirgends mehr hin zu können – keinem alten
Zuhause bei der Familie – keinem neuen bei Frauen wie uns – und keiner Zugehörigkeit, die man
von Leuten erwarten kann, die systematisch aus unserem [Zuhause, Anm. d. Verf.] ausgeschlossen
worden sind.[40]
Wie ethnisierte Feministinnen vor mir fühle ich mich durch diese Worte
berührt. Pratt würdigt ihre politische Schuld bei widerständigen Jüdinnen
und Frauen of Colour und solidarisiert sich mit Leuten diverser Herkünfte.
Ihre Ehrlichkeit, ihr Mut und Wille, aus paradoxen Machtverhältnissen Sinn
zu machen, erhält besondere Relevanz in der derzeitigen Realpolitik von
Gender-Mainstreamung und Anti-Diskriminierung, in der die
privilegiertesten aller ›Frauen‹, ›Schwulen‹ und ›Migranten‹ auf dem
Rücken ihrer diskriminiertesten Mitglieder um öffentliche Anerkennung
und Ressourcen ringen.
Pratts aufrichtig positionierte Multi-Themen-Politik liefert eine
Alternative sowohl zur wehleidigen Selbstgerechtigkeit der Unterdrückten
als auch zum machtnegierenden Relativismus vieler PostmodernistInnen.
Ihr Frausein ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer Politik, welche
emanzipatorische Räume für möglichst viele öffnen will. In einem Kontext,
in dem sich transsexuelle Frauen den Zugang zu ›Frauen‹-Räumen wie dem
Michigan Women’s Music Festival und dem Lesbenfrühlingstreffen
wörtlich erkämpfen müssen, ist dies wichtiger denn je.
Pratts Verbündetenarbeit stärkt meine Anfechtung von Ein-Thema-
Politiken wie den weißen feministischen, schwullesbischen und queeren
Bewegungen. Ihre Bereitschaft, mit ihren Schwestern zu ringen, inspiriert
auch meine Versuche, Verbündetenarbeit zu leisten. Wenn lesbische
Migrantinnen und Schwarze Frauen mir sagen, der Einschluss
transsexueller Frauen gefährde ›unsere Sache‹, erinnere ich mich daran,
dass Transphobie eine Sache ist, die dringend verraten werden muss. Doch
›beschmutze‹ ich ›Nester‹, die bereits vielfach umkämpft sind. Ich bringe
mit mir Geschichten von Multiethnisierten, denen der Verrat ins Gesicht
geschrieben stand, auf der Zunge lag und im Blut; von Bisexuellen, die ihre
Geliebten verleugneten. Dies stellt besondere Herausforderungen an meine
Versuche, der Menschheit treu zu werden. Dominante und minorisierte
Positionen von Verrat und Treue werden nicht in luftleeren Räumen
verhandelt, sondern vor dem Hintergrund traumatischer Geschichten wie
dieser.

AUSBLICK: DEKONSTRUKTION VON WEIßSEIN ODER KONSTRUKTION EINER


GERECHTEN WELT?

Ich habe anhand des ›Ehrenmord‹-Diskurses gezeigt, wie Anti-Rassismus,


Feminismus, sexuelle Befreiung und andere progressive Diskurse im
derzeitigen Multikulturalismus gegeneinander ausgespielt werden. Die
VerliererInnen dieser Null-Summe sind keineswegs unsere selbst-ernannten
VerteterInnen, sondern die mehrfach Minorisierten, die sie auf der Strecke
lassen. Das plötzliche Interesse von Ein-Thema-Aktivisten wie dem LSVD
an Migrantinnen entspringt keiner anti-sexistischen und anti-rassistischen
Verbündung, sondern einem skrupellosen Opportunismus, der nur seine
privilegiertesten Mitglieder vertritt. Dem steht die verräterische Politik
einer Minnie Bruce Pratt gegenüber, die minorisierte Interventionen in ihrer
feministischen Bewegung durch eine eigene Verbündetenarbeit zu
unterstützen suchte. Ich habe Möglichkeiten vorgeschlagen, Verrat und
Loyalität ihrer Mobilisierungsgeschichte gegen mehrfach Minorisierte zu
entwenden und als progressive politische Werkzeuge zu rehabilitieren.
Zugleich habe ich auf der Kontextualisierung dieser Werkzeuge bestanden,
welche keineswegs macht-neutral sind, sondern untrennbar von
Geschichten der Gewalt und des Widerstandes.
Abschließend frage ich dennoch, warum ich ausgerechnet Pratt als
Expertin über Weißsein gelesen habe. Wie Ruth Frankenberg beschrieb,
empfinden sich Weiße charakteristischerweise als normal und unschuldig.
[41] Diese Selbst-Identität ist kein idealer Ausgangspunkt, um kritische
Gewaltstudien zu unternehmen. Dagegen werden Ethnisierte zunehmend
von Weißseinsstudien ausgeschlossen. Während Pratt und andere ihrer
Generation ethnisierten Widerstand ins Zentrum ihrer Verbündetenarbeit
schrieben, beziehen sich die heutigen Weißseinsforschenden zunehmend auf
einen Kanon, der genauso weiß ist wie der Rest der Akademie. Diese Neu-
Zentrierung von Weißsein im anti-rassistischen Gewande geschieht auf
Kosten inter-ethnisierter Solidarität. Es ist kein Zufall, dass Barbara Smith
und Elly Bulkin, Pratts Mit-Autorinnen in Allies in Struggle, die sich aus
einer Schwarzen Perspektive zu Anti-Semitismus und aus einer jüdischen
zu Rassismus positionierten, weit weniger rezipiert wurden als Pratt.
Die zentrale Rolle Schwarzer Leute an der Herausgabe dieses Buches ist
ein wichtiger Schritt, um den wir TeilnehmerInnen of Colour des Berliner
Workshops, welcher die Einführung von Weißseinsstudien in Deutschland
untersuchen sollte und diesem Band zugrunde lag, hart kämpften. Unsere
kollektive Intervention in die weiße rassistische Universität ermöglichte es
uns, Weißseinsforschung als Wissenspolitik zu problematisieren. Wir
fragten uns, warum es Ressourcen für eine neue Disziplin wie die Critical
Whiteness Studies gibt, die prompt von Mehrheitsdeutschen monopolisiert
wird, nicht aber für Ethnic Studies. In Nordamerika gingen Ethnisierte auf
die Straße, um African American, Asian American, Native American und
Chicano/a/Latino/a Studies studieren und lehren zu können. Sie erkämpften
sich ein Anrecht auf materielle und symbolische Ressourcen, auf selbst-
bestimmte Arbeits- und Studienplätze und emanzipatorische Geschichten
und Werkzeuge des Widerstands.[42] Gerade in Deutschland, wo
Mehrheitsdeutsche als Subjekte gerne unter sich bleiben, fragt sich, was wir
nötiger brauchen: Einen weiteren weißen Kanon oder eine Politik der
Umverteilung, die nicht in der Dekonstruktion stecken bleibt, sondern einen
Anspruch nährt auf eine gerechte Welt.

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ANMERKUNGEN
1 Dieser Artikel wurde vor den Anschlägen auf das Londoner Transportsystem des 7. Juli 2005
geschrieben, auf die eine weitere Potenzierung des hier diskutierten Backlashes gefolgt ist. Am
22. Juli wurde Jean Charles de Menezes, ein nicht-muslimischer brasilianischer Migrant, zum
ersten Opfer der ›Shoot to kill‹-Politik. Obwohl sich Menezes’ Lesung als »Terrorist« schnell als
»Verwechselung« herausstellte, und obwohl in Großbritannien ein vergleichsweise großes
Bewusstsein über Polizei-Rassismus herrscht, genießt diese Politik breite Akzeptanz. Der Tod
Menezes’ bezeugt einerseits das Weiterbestehen eines biologischen, auf phänotypisierenden
Zuschreibungen beruhenden Rassismus. Andererseits unterstreicht er die Notwendigkeit einer
Koalitions- und Solidaritätspolitik, welche über die größeren diasporischen Bewegungen
hinausgeht.
2 Ethnisierung beschreibt einen Grenzziehungs- und Hierarchisierungsprozess, der neben
›kulturellen‹ und ›nationalen‹ Konstrukten wie Name und Staatsangehörigkeit auch
›phänotypische‹ wie Hautfarbe, Gesichtszüge und Körpergröße mobilisiert (vgl. Miles: Racism
after Race Relations). Mein südostasiatisches Mixed Race Beispiel zeigt, dass ›Phänotyp‹ kein
objektiv ablesbares biologisches Faktum ist, sondern sozial konstruiert und umfochten, zugleich
aber reale Auswirkungen hat, die in Deutschland in der Regel abgestritten werden. Ethnisierung
kann Menschen majorisieren oder minorisieren. Das Adjektiv ›ethnisiert‹ benutze ich als
koalitionären Überbegriff für Schwarze, asiatische, migrantische, jüdische und andere
minorisierte Leute.
3 Der Mord an Sürücü am 7. Februar 2005, für den ihre Brüder verdächtigt werden, wird in der
Presse als tragischer ›Ehrenmord‹ an einer, im Gegensatz zu anderen Migrantinnen türkischer
Herkunft, verwestlichten und daher ›emanzipierten‹ Frau beschrieben.
4 ›Muslimisch‹ ist in diesem Zusammenhang ein ethnisierender Diskurs, welcher wenig über die
Selbst-Identifikation der so Konstituierten aussagt. Vgl. Razack: »Imperilled Muslim Women«.
5 Okin: Is Multiculturalism Bad for Women?
6 Ich definiere Multi-Themen-Politik im Gegensatz zu ›Single-Issue‹-Politiken wie viele
dominanten feministischen, die die Interessen der privilegiertesten Frauen auf Kosten
ethnisierter, Arbeiterklasse-, behinderter und transsexueller Frauen vertreten (z.B. Moraga &
Anzaldúa: This Bridge Called My Back, Hügel et al.: Entfernte Verbindungen, Morris: Pride
Against Prejudice, Wilchins: Read My Lips).
7 Diese Schreibweise von ›weiß‹ stammt nicht von mir, sondern folgt dem Konzept dieses
Buches.
8 ›Überlebende‹ oder Survivors beschreibt Leute, die Beziehungs-, familiäre, sexuelle oder andere
Gewalt überlebt haben. Ich weite den Begriff auf andere, überlappende Arten von Gewalt aus,
z.B. gegen Ethnisierte und Transleute. Die Bezeichnung macht nicht nur die primäre Gewalt,
sondern auch die sekundäre Gewalt erkennbar, welche Überlebenden ihr Widerstandspotential
abstreitet. So wird Überlebenden unterstellt, die Gewalt ausgelöst zu haben oder hilflos und
verrückt zu sein.
9 Meine Gedanken zum Mord an Hatun Sürücü sind in Zusammenarbeit mit Jennifer Petzen und
Esra Erdem entstanden. Vgl. Erdem, Haritaworn & Petzen: The Politics of Migrant Women’s
Rights.
10 »Death on the Sands.« In: Guardian 7.2.2004, S. 1 Die auf Englisch angeführten Texte sind von
mir übersetzt. Meine Übersetzungen verwenden anti-sexistische Formen wie das ›große I‹ nur
bei offensichtlich anti-sexistischen VerfasserInnen.
11 Paterson: »How Many More Women Have to Die.« In: Telegraph 27.2.2005, o.S, meine
Übersetzung.
12 Mein Konzept der ›Machtnegierung‹ ist an Ruth Frankenbergs Konzept der power evasiveness
angelehnt und beschreibt Diskurse und Praktiken, durch die sich relativ dominante Personen der
Verantwortung für ihre Dominanz entziehen (Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 14).
13 Vgl. Meyer et al.: Zivilcourage lernen.
14 Vgl. Zucker: »Die Macht der Mütter«.
15 Z.B. ›Beschneidung‹ und zuletzt ›Zwangsheirat‹ (Esra Erdem, persönliche Mitteilung).
16 Vgl. Schwarzer: »Augen fest verschlossen«.
17 Vgl. Bush: Edwardian Ladies and Imperial Power.
18 Mercer: »Black Art and the Burden of Representation«.
19 Razack: »Imperilled Muslim Women« S. 129, 131.
20 MacGuire zitiert in: Mama: The Hidden Struggle, S. 165.
21 Aktaþ: »Türkische Frauen sind wie Schatten«, S. 57, Anm. 1, S. 57-58.
22 Southall Black Sisters (SBS): »Domestic Violence«, o.S.
23 Vgl. Dobash & Dobash: Women, violence and social change.
24 Vgl. Razack: »Imperilled Muslim Women«.
25 Vgl.: Feddersen : »Was guckst du? Bist du schwul?«.
26 Vgl. die Auszüge aus den offenen Briefe der Gruppe Gays and Lesbians aus der Türkei, dem
englischen Safra Project für muslimische LBTQ-Frauen, İpek İpekçioğlu und der Queer und
Ethnisiert Konferenz im Sommer und Herbst 2003, in: Haritaworn: »Nicht in unserm Namen!«.
27 LSVD: »Migranten müssen Verhältnis zu Homosexualität klären«.
28 LSVD: »Mahnwache für Hatin (sic) Sürücü«, o.S.
29 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«.
30 Z.B. LSVD: Muslime unter dem Regenbogen, welches angesichts der Missrepräsentationspolitik
des Verbandes von anti-rassistischen ethnisierten AutorInnen boykottiert wurde. Sowohl auf
Channel 4 als auch auf Arte werden diesen Sommer Programme über als ›muslimisch‹
ethnisierte Schwule und Lesben erscheinen. Die muslimisch-kanadische Lesbe Irshat Manjit,
welche ähnliche Thesen wie Seyran Ateº verbreitet, findet weiten Anklang. Nicht-muslimische
Ethnisierte bleiben dagegen völlig uninteressant.
31 Vgl. Said: Orientalism.
32 Petzen: »Wer liegt oben?, o.S.
33 Wie ich anderswo ausführe, scheitert der queere Anspruch auf Multiplizität im Kern an seiner
Zelebrierung von Dekonstruktion und Transgression und seiner Pathologisierung von
Gerechtigkeit und Positionalität. Vgl. Haritaworn: »Queerer als wir?«
34 Seidman: Beyond the Closet, S. 57. Rivera: »›I’m Glad I was in the Stonewall Riot‹«, o.S.
35 Spade: »Remarks at Transecting the Academy Conference«.
36 Die vorsichtigen und leichtsinnigen Hoffnungen in diesem Teil verdanke ich jenen, die mir auf
unwahrscheinliche, wundersame und großzügige Weise Vertrauen geschenkt haben, sowie
denen, die mutig meine Seele berühren.
37 Vgl. Harding: Whose Science?
38 Vgl. Miles: Racism After Race Relations; Ignatiev: »Treason to Whiteness«, S. 611.
39 Ebenda.
40 Pratt: »Identity«, S. 50.
41 Vgl. Frankenberg: White Women, Race Matters.
42 Vgl. Woo: »Three Decades of Class Struggle on Campus«.
RONAMBER DELONEY
MUSE:ICH

BASS IMAGE: THE SOUND OF 5 SHADES OF BROWN


This is a conversation between sounds
An image of places remembered
A groove about movements and revolutions through poetry.
I wonder when the Negro spoke of rivers
If he meant those spaces that are meant to define a man’s sole purpose in
life
I wonder if talks about the Euphrates
Conversations about Egypt
Or discussion about dirt roads that lead to the backdoor of segregated cities
Are reminiscent fragments to some old uttered speech about some now
forgotten space
I wander
Just like the poet did in his trails
Jack across country roads
The dancer until she found her rhythm
Or Nina to the listener’s ear
In and out of places
In and out of rooms
Between the walls of time and story
Struggling to be effected by the experience of spaces
Trying to connect to what happened.
Portrait
Unmarked ghetto girl sitting in front of a television
Labeled: Conscious Dred
but
she daydreams about snipping her locks off ‘cause she don’t like soy milk
She pass the dootchie
And rolls slow to tunes screwed
Slow to a crawl like the melody of Paul Wall
Her money money gets jealous
She gets high
Then gets serenaded by the sirens in her television
In her tape player
Spinning off the lips of those free styling in her garage
Sounding from atop patrol cars
Reaching and screaming from between the bars about
Bling bling
The ones that lay acoustic for pipedreams behind a choir of fatherless dope
fiends
I knew this boy named Ennis whose momma smoked crack
She put him outside when the moon came out; when the sun came she
called him back
He was about eight he roamed around trying to find a space to fit in
Cried to himself, ‘cause he was all he had left, we moved and ain’t seen him
since then
Sirens in her television
Beautiful sirens
Singing to her
Asking
How can she pass by her soul music and not give thanks
As if it were some color purple or an ancient tune like that played on the
back of a caricature tap dancing in black face
These pirates oh yes they rob I
Like too conscious dred rob Ras Tafari
Or third eye rob a slave on West Africa’s shore
Or the beast rob Hitler
And the mind of the poor, unemployed, middle class soldier
Then there was this old man, trash bag in his hand, talked fast and wore
locks on his boots
He walked real slow and stepped soft everywhere like he thought somebody
was gone shoot
But supposedly his story is that he was a soldier and went off to fight in the
war
Came back home with his mind all gone, shell-shocked while he walks to
the store
Then this girl named Tasha
Birthday in June
Sang in the choir
Smiled like the moon
She laughed like this cat I heard sing the blues
Like Cab in his zone on a track scat the muse
She got caught up in a u-haul truck between right now and nowhere at all
Disappeared one day on the bus they say
All she left was her name on the wall
Then this Nigerian dude that I met in Vienna
Say he know Africans going insane
Rotting in a jail, cause border patrol couldn’t tell if they passport matched
their name
She marches Jah Rastafari Hova to the infinite
Moves like a Jamaican with no hurry on the dance floor
She takes her programs more seriously than before though
Her intermission seems a needful thing to themes played across her living
room
In phases she understands the moon lighting her paper in the dark while
she’s writing to tunes screwed
Tunes renewed on the back of tunes hued
She dark like jazz in transition from blues to mass choir
She asks higher than self
Acquires her wealth from what’s left over from what couldn’t fit on her
grandmother’s shoulder
She stands low and watches herself get older to what the sirens taught her
about song
About living to just get along
About being so involved in the madness that she misses the moment of
what’s going on
With Sirens in her television
In her tape player
Spinning off the lips of those free styling in her garage
Sounding from atop patrol cars
Reaching and screaming from between the bars about
Bling bling.

SAX REVOLUTION: THE DREAM


I had a dream last night
Malcolm was alive
but he had welfare benefits and 9 to five
living just enough for the jive
and he and martin would hook up and write raps about they way folks
thrive off of the bags under they eyes
there’s a pot of lies luring all the neighbors kids
negro rigged to the pledge
hot from the center of their heads
to that fine line between code blue and code red
and in the chorus the martin said
yall we ain’t ready for war
cause if they go off to the draft
it’s back to the ghetto for a whole ‘nother war
where if you ain’t got it
the only other is poor
and if you got that
then you betta know what you’re fighting for
‘cause Huey and them boys ain’t coming no more
and all those talking going on the rise like Nat
ain’t bout bringing no Africa back
and then it all faded to a blues sugar shack
with that boy Bo Jangles in the rear
goin’ clack clack
and in the corner
leaning up against the wall
was Harriet
getting ›we hold these truths to be self evident, freedom is still yet to be
seen as relevant‹
tattooed across her back
and the question in the room was about being black
if it was something acquired or just a matter of fact
and a fellow stood and took off his hat
and said
being black is a responsibility you know
it’s not just cute and fine and raps that rhyme together
with brown like church parking lots on Easter Sunday
the currency of black is blood and will cost you your life if you’re not
careful with how you spend your mind
and then I woke in the back of a Cadillac
to the sax playing
and the bass in my ear
faded to the back with crunk in the rear
and all I could do was bob my head
and strain to remember what the dreamers had said
and again it all faded to the sun and the day
and the cello grooved into the muse
this way…

CELLO GROOVE: THE REMINISCENT


Mention me in the ghetto
They talk about a show in the breezeway
Mellow
I traveled on a bus
Mood blue
To the sound of a nappy headed fellow
Sax bass cello
Kick a rhyme for a dime
Trying to find me in time
Don’t want to wander ‘round before I lose my shine
Take a toke to what I wrote for the back of your mind
You can choose how you groove
If you soul
Recline
In a strange place memories of home be trickling up your spine
Like that
I climb my way back to a summer free snack
Back flips out of a broken swing
Sandcastles with dreams trapped outside
The sidewalk burns the sole of my feet
Cause my ride left me with no flip-flops
and ‘round here the grass grows only between the cracks of Hopscotch
I break my momma’s back in a verbal attack about washing the dishes
Then I hone to hip-hop non-stop on the clock from eight to five
Stay looking for a new tune to hum this jive to
I will survive too
My momma said
To words beneath the mortgage company letterhead
And I ask, how you so peace being alone?
Ain’t you fed up with not being wed yet?
Nah, I ain’t seen shit true of what he said yet.
I was arriving in the future
love in my back pocket and the sun in my dred locks
Passport cocked between my two fingers
Tears behind my eyeballs because the struggle in my living room still
lingers with me
I stepped into the city
After my self
The world is singing to me because I am all that’s left over from my
grandmother’s shoulder to my momma
Scenes played across my living room
I am that mellow drama
And the heir to all of the karma that found me with generations of excuses
wrapped around me
I stepped soundly into the growth trying to drown me in the fact
that I have the act to do things profoundly if I can humble my soul to
mumble my ancestors around me and hold tight to the God that loves loudly
in bright yellow my rainbow
I was arriving in the future
Ich bin
Eine Darstellung die eingestellte Welt
Though my poetry is local
My vibe gets felt
Where ever I am
Darf ich mich vorstellen?
I emerged from an argument with folks yelling
Silence
I am trying to find a song to write to
Vibe through
Maybe a Lauryn Badu duo
Dear Nina Simone,
Come on
Will you sing little girl blue for me?
Naja, ich bin fuer Sie da.
That was my reply after I got a haiku
It said, last line won’t miss you if you stay true to the rhythm
I closed my eyes and faded into a Harlem jazz club
Where black girls move through time shining
If I were déjà vu
I’d be reminding you of a lovesick pyramid
The fact is what I’m doing is what I did
But I did isn’t what was shown
Your TV says
Black girls be home grown sewn into ghetto sidewalks with sad walks
Carry people on back
Steady, fast
Though she talks about nothing
Or is it that nothing talks about her anymore
Though her ghost still roams a shore on the edge of Africa
World don’t turn to the back of her book for a second look at her meaning
But it don’t matter
‘cause black girls keep dreaming
we move through time humming and singing
seeing and thinking
plotting and winking
timing and shining and rewinding while laughing and passing task on
loving then getting done wrong
sprouting then leaving home grown out of
that was the last line of the first movement ‘cause
without notice I’ll listen to background music and think passed the
foreground of a surreal daydream
coffee seems to have scented the scene of my unconscious mind
so in a moment I’ll drift off to cafes with foreign accents ordering
Haben Sie noch einen Wunsch?
Nein, danke.
Grey skies and street trains lay memories on a foreseen canvas.
I am painted.
Walking time bomb with lost detonation.
I won’t go off on time but in step I’ll line literary art shows.
Mentally I picture cacao beans growing in snow storms knowing things like
that don’t happen
Moving on to the next piece.
Pick me pick me screamed a line left beneath my pillow
Love wouldn’t let me wait for the violet yellow to turn blue
So Moody you just had to be my mood indigo
Oh shoot
Waiter switches the track
Coltrane blows back through the background
Tell me, how are you liking the art?
Show me that seducer of black cats.
The one in the attic?
Yeah, they called her Medusa
Accused her into thinking she was crazy then used her eyes to research but
didn’t rub her stomach for the unborn baby
She’s stage three of the generation Muse
We feel free to introduce you
Maybe if you’re shine ain’t shady like
The serpent bite
‘cause y’all know the sun and moon gone smite anyway
while time continues to play with my only emotion
poetically
this was a rhyme devoted to you
quoted unto
spaces that are blue
like black girls, who move through time
shining.
IYIOLA SOLANKE
WHERE ARE THE BLACK LAWYERS IN GERMANY?

INTRODUCTION
The legal profession is a broad field. It encompasses diverse activities and
engages numerous personnel both within court institutions and outside of
them, including not only judges, advocates and clerks, but also academics,
researchers, and reporters. Thus although the title refers specifically to
lawyers, the question applies to the whole sphere of activities conducted
within the legal profession. This paper is concerned with the overwhelming
whiteness of the German legal profession.
The presence of Black people in a legal profession has been promoted
for a variety of reasons. Paramount amongst these is the need to maintain
the trust of the public in the legal system. In a multicultural society, the
absence of diversity in the legal profession leads to a perception of bias
which can undermine the trust held by parts of the public – especially
historically disadvantaged groups - in the justice system. In order to
maintain the confidence of the public, the legal system therefore needs to
reflect diversity in society. The maintenance of the public perception of
fairness is crucial to an effective legal system.[1]
Statistics on the legal profession in the United Kingdom (UK) indicate
that persons of African, Asian or Caribbean origin comprise: 5% of
solicitors with practising certificates, 9% of barristers, and 2% of Queens
Counsel (QC’s). In relation to the judiciary, there are no Lord Justices, no
High Court judges and just five out of 561 circuit judges.[2] As government
Minister David Lammy has recently said: »It is truly astonishing that in the
twenty-first century, in a country as proudly diverse as Britain, there are no
black High Court judges.«[3]
The absence of people of colour in the legal profession in Germany is
even more pronounced. In contrast to the UK, little attention has been paid
to this since Rueschmeyer highlighted the ethnic homogeneity of the
German legal profession in the 1970s.a The details of this absence are vague
because similar data does not exist: it is unlawful to collect data stratified
by race in Germany, a prohibition which originates not only from the so-
called Census judgement (›Volkszählungsurteil‹)[4] but is also contained
within federal data protection law (Bundesdatenschutzgesetz 2003, BDSG)
[5]. Consequently whilst it is known how many foreigners live and work in
Germany, it is unknown how and where Germans of colour live and work.
This absence of data points to the need for more attention to be paid to this
question.
The origins of my question lie in observations made whilst working as a
legal researcher in Berlin. I was often struck by the fact that I was the only
Black woman in law seminars or at law conferences. Where I did meet
another legal scholar of colour, she or he was also only temporarily in
Germany. My lack of interaction with any other Black legal professionals
may have simply been due to missed opportunities or bad timing, but I
often wondered why there was an absence of colour in law faculties and at
legal conferences both in Berlin and elsewhere.
This paper articulates my ruminations as to why this may be. In some
respects it is a study of absence – the invisibility of Black people in the
German legal profession. My intention in discussing this phenomenon is not
to give a definitive answer: my interest is more to highlight potential
structural origins of this phenomenon and in so doing open avenues for
more empirical research. I do this by drawing upon concepts in sociology
and psychology.
THE STUDY OF ABSENCE
An easy way to dismiss my concern is to base an answer on ethnic
demography: there are too few people of colour in Germany for any
significant presence in the legal profession. An alternative way of phrasing
the question would be to instead ask, why are the majority of legal
professionals in Germany white?
There are advantages to this formulation, the main one being the way in
which it foregrounds whiteness and makes it necessary to thematise
whiteness as an ethnic identity. White is often seen yet unarticulated, or as
Flagg puts it, it is externalised:
White people externalise race. For most whites, most of the time, to think or speak about race is to
think or speak about people of colour […] Whites consciousness of Whiteness is predominantly
unconsciousness of whiteness. We perceive and interact with other whites as individuals who have
no significant racial characteristics […] Whiteness attains opacity […][6]

Whiteness has been described as something transparent:


White is transparent. That is the point of being the dominant race. Sure the whiteness is there, but
you never think of it. If you’re white you never have to think of it […] If white folks remind each
other about being white, too often the reminder is about threats by outsiders – nonwhites – who
steal white entitlements like good jobs, a fine education, nice neighbours and the good life […] I
realise its tough having to be responsible about your whiteness. But Blacks and Indians and
Asians have to handle their own racial and ethnic selves with some level of awareness whites are
not used to, even when they are celebrating who they are […][7]

White women may ignore their racial identity as it is primarily their sexual
identity which is seen as getting in the way.[8] However, it has been argued
that both Whiteness and hetero-sexuality are as privileged in the workplace
as they are in society.[9]
Critical Race Theory, or CRT, performs this interrogation of whiteness.
CRT has been described as a >>collection of critical stances against the
existing legal order from a race-based point of view. Specifically, it focuses
on the various ways in which the received tradition in law adversely affects
people of colour not as individuals but as a group. Thus CRT attempts to
analyse law and legal traditions through the history, contemporary
experiences and racial sensibilities of racial minorities…The question
always lurking in the background of CRT is this: what would the legal
landscape look like today if people of colour were the decision makers?
<<[10]
Critical race theorists have argued that it is impossible to understand the
social and economic circumstances of people of colour without explaining
whiteness which, they argue, operates as a harmful fiction.
CRT challenges accounts which place the experience of whites as the
normative standard, choosing instead to base its concepts and analytical
framework in the particular experiences of people of colour, hoping from
this purview to expose and topple the normative supremacy of whiteness in
American law and society.[11] CRT therefore insists upon a critical-legal
and race-conscious perspective.[12] CRT insists that the social and
experiential context of racial oppression is crucial for understanding racial
dynamics, »particularly the way that current inequalities are connected to
earlier, more overt, practices of racial exclusion.«[13] Communities of
colour are thereby centred as subjects of the law and theory is built around
their experience.
Why then, are the majority of legal professionals in Germany white? Or
rather what can explain the invisibility of Black people in the German legal
system? In this paper I will focus on two factors. The first is drawn from the
sociology of the professions, and focuses on the absence of opportunity for
Black people to pursue legal training. One issue could be that persons of
colour do not have access to appropriate educational opportunities. Patterns
of recruitment may make gaining entry to training for a career in law
difficult. There may be a number of structural impediments specific to the
black experience which are difficult to overcome.
The second factor looks beyond social structural issues to psychology. I
suggest that ›micro-aggression‹ operates to keep Black people out of the
German legal field. The experience of ›micro-aggression‹, a specific form
of everyday racism that is hostile, unspoken and unseen, turns persons of
colour away from seeking intellectual interaction and vocational fulfillment
in the legal profession.

FORMAL EDUCATION AND LEGAL TRAINING


There has been an effort in the UK to ›de-whiten‹ the legal profession
through changes to legal education. The concern with the ethnic and class
composition of entrants to legal education and a focus on questions of
inclusion at university level has lead to a conscious change of recruitment
patterns in order to secure opportunities for Black people to enter the legal
profession. This has yielded some results, as the data above shows. There
are not only many more female, but also many more students of colour
taking up legal studies.[14] What opportunities exist for Black Germans to
take up legal training?
Rueschmeyer noted in his research that the German legal profession is
less heterogenous in its social origins than the American legal profession. Ethnic differences are
negligible, and there are fewer attorneys from lower class backgrounds […] all German lawyers
have shared the same type of education: studies in a law division of a state university and an
extended period of preparatory service […] recruitment and education are homogenous […][15]

One source of this homogeneity, he argues can be found in recruitment


patterns. Writing in the 1970s, he asserted that the recruitment of German
university students to law or any other discipline is exclusive – neither can
claim to be »open to anyone with intelligence and industry«.[16] In his
research he found that in particular, German lawyers come predominantly
from families of academics and civil servants, which provides for a similar
set of attitudes and values. The German legal profession had, he argued, a
sharply distinct and homogenous subculture.[17] Little seems to have
changed: these recruitment patterns may be one reason for the continued
whiteness of the German legal system. It can be argued that it is structurally
embedded.
The stratification of German students begins early on in the educational
system. The typical route to a legal career is via the more scholarly
›Gymnasium‹ high school, where during eight or nine years the values of
the ›Bildungsbürger‹ – strong discipline, self-confidence, self-initiative and
motivation, affluence and elite ambition - are inculcated, culminating in the
Abitur which secures access to university. The largest proportion of
graduates opting for a legal career come from these more conservative
›classical‹ high schools.[18] For those attending a more technical
Volksschule, the way to a higher level education in law is virtually barred.
The main difference between the vocational and ›elite education‹ is that the
latter does not so much prepare for any particular profession as for a general
role of leadership. This general preparation for leadership is in turn suited to
the roles for which a legal profession prepares: that of judge, civil servant
or law professor.
Unlike university training in the UK, German legal education is geared
primarily towards serving the state by performing the judicial function. This
focus has lead to a high degree of government supervision over the German
bar. Final examinations and formal preparatory periods of legal service are
supervised by the State judiciary. The successful completion of these phases
is a prerequisite for not only future judges but also public prosecutors,
attorneys, and most higher posts in the civil service. A purpose of these
exams is to foster a syndrome of »loyalty to the state« and the same could
be said to be a prerequisite for passing them successfully.[19]
Those who complete training, but decide against a career as a legal
practitioner can enjoy perhaps more prominence in the academy.
Rueschemeyer also highlights the prestige of German law professors. They
enjoy a prominence outside of the academy not shared by British legal
scholars. The German law professor exerts a large amount of authority in
relation to the administration of justice: their publications and scholarly
writings may be of more influence in the outcome of litigation than the
pleadings of legal attorneys.
Legal training can therefore be seen as preparation for important public
functions such as judge, civil servant or professor. Access to this training
depends upon two structural factors: early entry onto an elite educational
track, and later securing access to the German bar. Of course, the formal
educational structure may be penetrable. With the necessary language and
social skills Black Germans could infiltrate it within one or two
generations. Whether German society should allow it to take so long is
another question. Yet inclusion for Germans of colour may not depend upon
structure alone. At least two further cognitive factors may be important: the
representativeness heuristic, and belonging. These may require more time
and positive action to overcome.
The »representativeness heuristic«[20] has been identified by social
psychologists. It refers to a cognitive phenomenon whereby a person
attempting to assess suitability of a candidate for a particular role does so
through matching attributes – attributes associated with the candidate with
attributes associated with the job. If these attributes do not tally, then the
assessor is likely to find the candidate unsuitable for the job. This cognitive
bias is expressed when, for example, a German of Indian origin is told by a
career advisor that despite his skills and ability his ›appearance‹ would
make it impossible for him to build a career in sales in Germany[21] or a
Black student is fired from her agency job because of her non-typically
European hairstyle.[22] It is dependent upon the perpetuation of racial
stereotypes. These engrained racist patterns of thinking need more than time
in order to disappear. In the absence of positive action, they are likely to
remain and perpetuate a homogenous white legal profession.
Demonstrating loyalty to the state may also be more complicated for
Germans of colour. Before being able to prove loyalty to the state one must
be accepted as belonging to the state, and be treated with full regard as
citizens. Formal possession of citizenship does not secure this acceptance:
the principle of ius sanguinis continues to underpin the German nation.
Being born and socialised in Germany is not enough to secure acceptance.
This was as true in 1952, when the CDU suggested that the three thousand
Black German children born after World War II be sent abroad, to a country
where the climate was more suitable,[23] as it is today when the children
born in Germany to settled migrant workers are like their parents foreigners
or ›Ausländer‹. Within the ideology of the ›volkish‹ nation based on blood
ties, Black and migrant people are seen as invaders, their ›difference‹ a
threat to ethnic purity and national unity.[24] Germany, an ethnic nation
state, is »ideologically programmed for assimilation«[25] despite being a
multi-cultural society.[26] Yet neither the foreign workers nor the Black
Germans are regarded as belonging to German society.
This philosophy has informed integration policy, and has nurtured the
mainstream belief that all Germans are white, and all Black people are
foreigners. This was so even before the reunification in 1989, but became
exacerbated thereafter, as May Ayim writes.[27] Legal practitioners are not
immune to wider social ideas and perpetuate this discourse of exclusion.
For example, the state prosecutor in Sulzbach described the motive in a case
where a young skinhead stabbed a youth of Turkish origin to death as
›Ausländerhass‹, even though both victim and perpetrator were born and
socialised in Germany.[28] Legal practitioners may unconsciously play a
role in perpetuating exclusion.
MICROAGGRESSION
The actions of legal practitioners may be a further reason for the whiteness
of the German legal profession: though formally neutral, it is experienced
as hostile to people of colour. This hostility may be a further reason why
there are so few Black people in the German legal profession.
Unsatisfactory encounters in the administration of justice at all levels can
result in an overall impression of the legal system as a site of ›micro-
aggression‹.
Microaggression is a psychological term used to describe the »subtle,
stunning, often automatic, and non-verbal exchanges«[29] which are used
to humiliate or put-down black people. Such aggression, unspoken and
unseen, is carried out in »automatic, preconscious or unconscious fashion«.
It is said to stem from a »mental attitude of presumed superiority« and be
fed by a continued perpetuation of stereotypes of people of colour. Davis
writes:
the traditional stereotype of blacks includes inferior mentality, primitive morality, emotional
instability, laziness, boistrousness, closeness to anthropoid ancestors, occupational instability,
superstition, care-free attitude and ignorance. Common culture reinforces the belief in black
incompetence in that the black is ‘less often depicted as a thinking being.[30]

Television for example reinforces such stereotypes: in the majority of roles


whites, but not Black persons are seen as figures exerting authority, or
displaying knowledge, whites dispense goods and favours, whilst people of
colour are overwhelmingly dependent and subservient.[31] Both history and
contemporary culture inform assessments made of people of colour,
creating the context within which white people make their minds up about
people of colour and the backdrop for microaggression.
Davis argues that the legal system can be experienced as a site of such
micro-aggression by Black Germans, regardless of the side of the law upon
which they fall. Jurors are as much victim to micro-aggression as those who
stand in the dock or those hired to defend them. The legal system is
therefore not a safe place for people of colour but a site where hurt can be
experienced. Regular and repeated exposure to micro-aggression can result
is an erosion of the self-confidence of people of colour. The slights, far
more pernicious than everyday racism, b affect the perception by Germans
of colour of the legal justice system. As Davis writes, »the law is perceived
as just to the extent that it hears and respects the claims of each affected
class.«
Given a social and political context where Black Germans experience
racist and xenophobic hostility, law is more likely to be seen as a site of
microaggression rather than a lever of liberty, and the legal profession as
one which is therefore unwelcoming. People of colour in Germany may too
often experience a harder side of the law. In relation to a number of issues
pertinent to their interests, courts have been seen to fail to deliver justice.
An example of this is where the legal system refuses to problematise words
which wound the dignity of Black people but on the contrary condones their
public use. In a case before a court in Berlin, the judge found, for example,
that the word ›Neger‹ neither »objektiv ehrverletzende oder
volksverhetzende Inhalte hat.«[32] The delay in creating accessible and
individually enforceable legal protection against racial discrimination is a
further example of the legal system failing to take the welfare of Black
Germans seriously.
Law therefore delivers a mixed message to people of colour in Germany
– on the one hand it is the »legitimate assertion of collective authority«, but
on the other hand the non-consideration of the concerns of Black people
deliver subtle statements of inferiority and subordination. The result is that
the justice system as a whole – from policing to litigation and punishment -
comes to represent injustice to people of colour as a whole, not only those
dealing directly with it. What could the chance of professional success be in
a hostile system?

CONCLUSION
Both Germany and the UK are multi-cultural societies which, for the
reasons stated in the introduction above, demand diverse legal professions.
[33] In this short paper I have suggested two factors which may with further
research be able to explain the whiteness of the German legal system from a
race critical perspective. The first assertion was that the absence of Black
people is caused by an absence of opportunity embedded within structural
flaws in patterns of recruitment to higher education. The second assertion
was that the experience of micro-aggression makes the legal profession into
a hostile location for people of colour where subtle statements of inferiority
are conveyed and exclusion is perpetuated.
These assertions need further examination. Is racial inequality really
embedded in the German educational system? Do Black Germans really
experience micro-aggression? Their validity can be ascertained by
conducting surveys on the educational aspirations of young Black Germans
and the fate of these ambitions during formal education. Further research
can also be conducted on the patterns of inter-action between Black
Germans and the legal justice system – is the German legal system seen to
deliver justice by and to Germans of colour?
These are questions which must be asked and addressed at all levels of
the legal system – from the law faculties of universities to the constitutional
court – if it is to be seen as just and fair by all and not just white German
society. It may require a sensitisation of the current legal corps to issues
such as micro-aggression for a real change to take place. But more
importantly it requires the practical involvement of and engagement with
Black Germans. Just as white women began to make inroads in German law
when more white women were active in the legal field, it is necessary for
people of colour to be actively engaged with the German legal profession
before German law recognizes their interests.

New Generations, ISD Bundestreffen, 2002


Deborah G. Moses-Sanks

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ANMERKUNGEN
1 Cf. Chin: »Fairness or Bias?«, p. 181.
2 Cf. Migdal: »Go forth and diversify«, p. 1.
3 Holloway: »Lammy challenges legal profession over racism«, p. 1.
4 Cf. Bundesverfassungsgericht, 15.12.1983, BverfGE 65, 1.
5 Cf. Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) of 14 January 2003.
6 Flagg: »Transparently White Subjective Decision Making«, p. 85.
7 Grover: »Growing up in White America?«, p. 34.
8 Cf. Edmonson Bell & Nkomo: Our Separate Ways, p. 216.
9 Cf. Wildman: »Privilege in the Workplace«, p. 534.
10 Valdes, McCristal Culp & Harris (Eds.): Crossroads, p. 1.
11 Cf. ibid., p. 4.
12 Cf. Brown: »Confronting Racelessness«, p. 644.
13 Taylor: »A Primer on Critical Race Theory«, p. 122.
14 However, recent research has shown that the study of law does not guarantee a career practising
the law. Research by Carr and Tunnah demonstrate that many Black Caribbean may study the
law at university but are under-represented as practising certificate holders. Carr & Tunnah:
Examining the Effectiveness of the Undergraduate Law Curriculum.
15 Rueschemeyer: Lawyers and their Society, p. 58.
16 Ibid., p. 96.
17 Cf. ibid., p. 100.
18 Cf. ibid., p. 102.
19 Cf. ibid., p. 103-104.
20 Krieger: »The Content of our Categories«.
21 Cf. Teo & Mecheril (Eds.): Psychologie und Rassismus.
22 Cf. Bollwahn, Barbara: »Eine haarige Angelegenheit«. The case before the Labour Court in
Berlin concerned a student who had been fired from her job as a waitress at one of the top Hotels
in Berlin due to her ›non-average‹ European appearance. It was eventually settled out of court.
23 Cf. Deutscher Bundestag, 198th Sitzung, Bonn, Mittwoch 12.3.52, p. 8504-8509.
24 Cf. Linke: German Bodies, p. 115-144.
25 Layton-Henry & Wilpert: Discrimination, Racism and Citizenship, p. 4.
26 There are more than 350,000 foreigners in retirement age who have no intention of leaving the
land where their children and grand-children are. Meier-Braun: »40 Jahre ›Gastarbeiter‹ und
Ausländerpolitik in Deutschland«, p. 41.
27 Cf. Ayim: Grenzenlos und unverschämt.
28 Cf. taz, 19.8.2002.
29 Davis: »Law as Microaggression«, p. 1559.
30 Ibid., p. 1560.
31 Cf. ibid., p. 1561.
32 Landgericht Berlin, 13. Zivilkammer, Beschluss vom 16. Dezember 2003 (Aktenzeichen: 13 O
605/ 03). Richter am Landgericht: Dedner.
33 Cf. Migdal: »Go forth and diversify«, p. 2.

ENDNOTES
a Anita Böcker & Leny de Groot-van Leeuwen, Ethnic Minority Representation in the Judiciary:
Diversity Among Judges in Old and New Countries of Immigration, JUD. Q. (2007), available at
http://www.rechtspraak.nl/NR/rdonlyres/D4F40740-87CE-4B4D-85F6-
70B3A5541599/0/RVR_RECHTSTREEKS_ENGELS_BW3.pdf (last visited June 19, 2008).
b Essed, Philomena (1991)
REGINA M. BANDA STEIN
SCHWARZE DEUTSCHE FRAUEN IM KONTEXT
KOLONIALER PFLEGETRADITIONEN ODER VON DER
ALLTÄGLICHKEIT DER VERGANGENHEIT

Weiße und Schwarze deutsche Pflegegeschichte(n) aus der Perspektive


Schwarzer feministischer Theorie und Geschichtsschreibung zu analysieren,
eröffnet die Chance, die weitgehende Nichtwahrnehmung Schwarzer
deutscher Krankenschwestern aufzubrechen und ihre entsprechende(n)
Geschichtlichkeit(en) innerhalb größerer gesellschaftlicher
Zusammenhänge in positionierter Weise darzustellen. Die
Erinnerungsräume Schwarzer deutscher Krankenschwestern im Kontext
einer dominanten weißen und einer subalternen Schwarzen deutschen
Geschichte zu verorten, bedeutet einerseits, persönliche
Lebenserinnerungen ernst zu nehmen und zu dokumentieren, und
andererseits, die spezifischen Dimensionen berufsbezogener Schwarzer
Pflegeerfahrungen zu erschließen. Ein Exkurs in die Geschichte der
deutschen Krankenpflege eröffnet dabei interessante Leerstellen, denn auch
die Geschichte der Krankenpflege scheint in Brüchen und Auslassungen
einer Kontinuität des Schweigens unterworfen zu sein. Konzepte von Pflege
und Fürsorge kolonial- und rassenpolitischer Prägung waren nämlich nicht
nur bestimmend für die deutsche koloniale Epoche außerhalb Deutschlands,
sondern werfen auch die Frage nach metropolitanen Entsprechungen auf –
etwa hinsichtlich der im Zuge der Kolonialzeit einsetzenden, bislang kaum
wahrgenommene Migration von Schwarzen Menschen nach Deutschland
und deren konkreter Lebenssituation. In welcher Weise das koloniale,
rassenpolitische und bereits zu diesem Zeitpunkt eugenisch durchdrungene
Pflege- und Fürsorgekonzept in der Weimarer Republik zum Tragen kam
wird am Beispiel der Schwarzen deutschen Kinder, die im Zuge der
Rheinlandbesetzung durch französische Kolonialtruppen nach dem I.
Weltkrieg geboren wurden, deutlich. Es stellt sich die Frage, in welchem
Maße weiße deutsche Krankenschwestern sich im Zuge dieser
gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Rolle bewusst waren und wie sie
ihre politischen Präferenzen mit ihrem christlich/ethischen Berufsbild in
Einklang bringen konnten? Ist Pflege an den Humanitätsgedanken
gebunden und wenn, wen schließt dieser Gedanke ein und wen grenzt er
aus? Dem Gedanken Sartres folgend: »Ob aus Irrtum oder schlechtem
Gewissen: nichts ist bei uns konsequenter als ein rassistischer Humanismus,
weil der Europäer sich nur dadurch hat zum Menschen machen können«,[1]
ließe sich fragen, wie wurde Humanität überhaupt gedacht? Die sich daraus
ergebende Relevanz der historischen Aufarbeitung einer weißen deutschen
Krankenpflegegeschichte ermöglichte es erstens, die Konzepte von Pflege
und Fürsorge als politische Kategorien im Kontext vergangener und
gegenwärtiger gesellschaftlicher Systeme und Prozesse zu lokalisieren und
verständlich zu machen. Dies war und ist vor allem deshalb von Bedeutung,
weil gerade die Implementierung der Krankenpflege innerhalb kolonialer
Herrschaftsstrukturen die Voraussetzungen und Bedingungen dafür schuf,
eine vormals allumfassend sozial gedachte Pflege in eine selektive,
politisch determinierte Pflege zu verwandeln, in der die Kategorie ›Rasse‹
zum Leitkriterium ethischen Handelns von weißen deutschen Ärzten und
Krankenschwestern avancierte. Aber was bedeuteten Pflege und Fürsorge
innerhalb des Zusammenhanges kolonialer Institutionen und Netzwerke,
wie wurde sie verstanden oder sogar neu definiert? Welche Konsequenzen
ergaben sich daraus?
Eine Kultur der Pflege artikuliert sich räumlich und zeitlich spezifisch
auf verschiedene Weise. Vor mehr als 120 Jahren wurde der Begriff der
Pflegekultur zwar noch nicht als solcher definiert und doch weisen Quellen
und ZeitzeugInnen auf diesen Aspekt in der Pflege hin.[2]
Im Kontext kolonialer deutscher Geschichtsschreibung lässt sich
Pflegekultur tatsächlich als koloniale Pflegekultur mit einem kolonialen
Pflegekonzept denken. Eingebettet in dieses Konzept kann der Begriff der
›Heimatpflege‹ als politische Kategorie beschrieben werden. Der Begriff
der ›Heimatpflege‹ ergibt sich aus der Überlegung, dass sich weiße
deutsche Krankenschwestern und Missionsschwestern als
vaterlandsliebende Frauen der Pflege der Kultur ihres Heimatlandes und
Glaubens verpflichtet fühlten – und Heimat dadurch eine neue und andere
politische Dimension erhielt. ›Heimatpflege‹ kann einerseits als eine Pflege
verstanden werden, innerhalb derer die Blut-und-Boden-Theorie einen
integralen Bestandteil darstellte und die folglich nur jene Menschen in den
Blick nahm, deren Zugehörigkeit sich über Weiß-Sein und Deutsch-Sein
definierte. Mit anderen Worten: personal indizierte ›Heimatpflege‹ wurde
unter dem Deckmantel vaterländischer Fürsorge zu einem Akt politisch-
determinierter Pflege außerhalb der Grenzen des deutschen Kaiserreiches
stilisiert. Andererseits erfährt Pflege in ihrer Sinngebung eine neue
Dimension im Zuge der Dissimilationspolitik[3] der deutschen
Kolonialmacht. Im Kontext eines weißen missionarischen Pflegekonzeptes
erfährt das Heilen seine doppelte Bedeutung. Heilen als Prozess umfasste
nicht nur jene pflegerische Tätigkeit, die den weißen Menschen gesund
machen sollte, sondern – und die zweite Bedeutung scheint mir in diesem
Prozess kolonialen Heil(en)s die wesentlichere zu sein – der Schwarze
Mensch musste, bevor er ›gesunden‹ konnte, christianisiert und damit im
übertragenen Sinne kulturell ›gebrochen‹, ›zahm‹ und ›gefügig‹ gemacht
werden.[4]
Auch das Konzept der Fürsorge ist alt. Seine Wurzeln liegen in der
christlichen Nächstenliebe und im Vollbringen guter Werke, verbunden mit
der Vorstellung durch diese später in den Himmel zu gelangen.[5] Wie alles
ist auch die Fürsorge dem Kontext gesellschaftlicher Veränderungen
unterworfen. Florence Nightingales Konzept der Professionalisierung der
Pflege schuf auch Veränderungen im Umgang mit Fürsorge.
Am Ende des 19. Jahrhunderts, als Damen aus gutem Haus sich mehr
und mehr für die Krankenpflege begeistern, »richtet sich die Sorge primär
auf den Menschen, der auch krank ist, und nicht primär auf die Krankheit
selbst«.[6] Im kolonialpolitischen Machtgeflecht erfährt Fürsorge eine
andere Sinngebung: sie fungiert nunmehr als systemstabilisierender
Faktor[7] und damit als politisch relevante Kategorie.
Fürsorge in den deutschen Kolonien beschränkte sich weitgehend auf die
Erhaltung der Arbeitskraft Schwarzer Frauen, Männer und Kinder für die
deutsche Kolonialmacht. Bestandteil des Konzeptes war es auch, den
Geburtenrückgang unter der Schwarzen Bevölkerung in den Griff zu
bekommen. Offensichtlich gab es unterschiedliche Maßnahmen, die genau
deshalb nötig wurden, weil Schwarze Frauen selbstbestimmte
Gehorsamsverweigerung betrieben und sich einem gewaltvollen System
widersetzten, welches sie angesichts handfester ökonomischer Interessen in
geistlose Reproduzentinnen von Arbeitskräften zu verwandeln versuchte.
In der Kolonie Togo machte sich der deutsche Arzt Dr. Rodenwaldt
deshalb daran,
in den Schutzgebieten auf die Ausbildung eingeborener Hebammen hinzuarbeiten. […] Es ist
anzunehmen, dass wohl wenige unserer Regierungsärzte, denen es mit dem Wohl ihres farbigen
Klientel ernst war, der Gedanke ferngeblieben ist, die fast allenthalben barbarische
Entbindungsweise der Farbigen durch europäische Belehrung zu besern.[8]

Unter dem Deckmantel der ›Geburtenhilfe für Eingeborene in den


Schutzgebieten‹ sollte auf die Geburtenkontrolle eingewirkt werden.
Interessanterweise lehnten die Heilerinnen und heilkundige Frauen jedoch
eine Zusammenarbeit prinzipiell ab und signalisierten damit ihren
Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Mit anderen Worten:
einer durch die Kolonialregierung gewollten Instrumentalisierung
Schwarzer Frauen durch rigide geburtenregelnde Übergriffe und
Maßnahmen setzten Heilerinnen ihr machtvolles Sein entgegen, indem sie
ihr indigenes Frauenwissen gegenüber den KolonisatorInnen verschlossen.
[9] Die Geschichte dieser Frauen ist kein Teil weißer kolonialer
Herrschaftsgeschichtsschreibung - sie wurde unsichtbar gemacht. Dennoch
scheint es, als hätten ihre Traditionen sich eingeschrieben, als wären sie
wieder aufgenommen, weitergeführt und verändert worden an all jenen
Orten, an denen Schwarze Frauen leb(t)en und überleb(t)en. Für mich
stellen sich vor diesem Hintergrund die Fragen: Was bedeutet dieses ›stille‹,
weiter existierende Wissen? Welche Perspektiven ergeben sich daraus?
Existieren Geschichtsschreibungen Schwarzer Krankenpflege und wenn,
wo sind diese zu finden? Was kann unter dem Begriff Schwarze Heilerin
oder einer in diesem Zusammenhang möglicherweise existierenden
Schwarzen Ethik verstanden werden?
Heilkundige Schwarze Frauen – so verstehe ich ihre Kunst – förderten
und fördern Prozesse des Bewusstmachens und Bewusstwerdens, um
Gesundheit dauerhaft zu erhalten. Anders als im westlichen Sinne
beschränkt(e) sich das Konzept von Gesundheit dabei nicht nur auf das
physische Wohlbefinden, sondern gründet in einem ganzheitlichen Ansatz,
der Körper und Seele zusammen denkt. Solcherart ethische Perspektiven
waren integraler Bestandteil vorkolonialer indigener Wissensformationen
des Heilens überall auf der Welt und wurden von Generation zu Generation
zumeist mündlich weitergegeben. Die koloniale Invasion und Eroberung,
die indigene Gesellschaftsstrukturen zerstörte und damit häufig auch den
Zugang zum eigenen Erbe verschloss, machte es nötig, traditionelles
Wissen niederzuschreiben, es zu bewahren und erneut zugänglich zu
machen.
In den deutschen Kolonien wurden Arbeitskräfte gebraucht, denn bei
beständiger Dezimierung der kolonisierten Bevölkerung durch
unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen wurde die Notwendigkeit
immer offensichtlicher, dass Schwarze Menschen zur Arbeit fehlen würden
und bereits fehlten. Die Gesundheits- und Lebensperspektive der
kolonisierten Bevölkerung war direkt abhängig vom Wohlwollen der
kolonialen Machthaber. Fürsorge wurde denen garantiert, die es im Sinne
der deutschen Volksfürsorge wert waren, sie zu empfangen. Das aus einem
solchen kolonialen Verständnis gewonnene Konzept der Fürsorge hat sich
über die Jahrzehnte hinweg variationsreich den gesellschaftlichen und
gesundheitspolitischen Gegebenheiten angepasst.
Dass dieses Denken und Handeln von Kontinuität geprägt war,
verdeutlichen einerseits die politischen Aktivitäten weißer deutscher
Krankenschwestern während der Weimarer Republik – beispielsweise
getragen vom Frauen-Verein vom Deutschen Roten Kreuz für Deutsche
über See – und deren Beitrag hinsichtlich der grauenvollen und
menschenverachtenden praktischen Umsetzung rassenhygienischer
Konzepte während des Nationalsozialismus. Die Frage, in welcher Weise
die Ethik des Heilens pervertiert wurde und warum sich weiße deutsche
Krankenschwestern offensichtlich über die ›rassenhygienische‹ Vision eines
›reinen arischen Volkskörpers‹ definierten, war und ist eine
Herausforderung für die historische Aufarbeitung der Pflegegeschichte.
Entsprechend diesem Konzept wurde auch für die Krankenpflegeausbildung
der Nachweis über die Abstammung gefordert:
Diese Forderung entspricht der besonderen Bedeutung des Berufes der Krankenschwester, die ja
nicht nur vielfach in nahe körperliche Berührung mit ihren Pfleglingen kommt, sondern mit diesen
auch enge seelische Fühlungsnahme gewinnen muss, was nur unter artgleichen Menschen möglich
ist […] Juden dürfen schon seit einiger Zeit nur in jüdischen Krankenpflegeschulen aufgenommen
werden. Diesen Schulen ist die Aufnahme deutschblütiger Schülerinnen verboten.[10]
›Rassen‹ideologisch begründete gesamtgesellschaftliche
Ausschlussmechanismen fanden auch ihre Anwendung in der
Krankenpflege. Ähnlich der jüdisch-deutschen Bevölkerung und anderen
marginalisierten Gruppen wie deutschen Sinti oder Schwarzen Deutschen
wurde nicht nur eine Ausbildung im pflegerischen Bereich untersagt,
sondern waren sie als potentiell ›Rassefremde‹ zugleich weitreichenden
eugenischen Maßnahmen unterworfen. Vor dem Hintergrund von
Zwangssterilisationen, medizinischen Versuchen, Vernichtung durch Arbeit
in Konzentrationslagern sowie millionenfachem Mord stellt sich die Frage,
in welcher Weise die Ethik des Heilens pervertiert wurde, denn
offensichtlich scheint es für die zahlreichen UnterstützerInnen der
›rassenhygienischen‹ Vision eines ›reinen arischen Volkskörpers‹ eine
solche Ethik gegeben zu haben – eine Verpflichtung gewissermaßen,
bestimmte Personen und/oder Gruppen aufgrund ihrer ›rassischen‹
Disposition aus dem Leben zu entfernen.
Schließlich erfolgte, wenn auch vor dem Hintergrund anderer politischer
Vorzeichen, eine Weitertradierung rassisch motivierter, widerstreitender
Pflege- und Fürsorgekonzepte im westlichen Nachkriegsdeutschland, die
einerseits die Ausgliederung Schwarzer deutscher Menschen – und mithin
von Frauen, die den Beruf der Krankenschwester anstrebten – aus der
bundesrepublikanischen Gesellschaft vorsahen und andererseits deren
Assimilierung in die Gesellschaft anstrebten. Ob und in welcher Weise
Schwarze Deutsche in der DDR konzeptionell und praktisch in
Ausbildungs- und Pflege- oder Fürsorgeprogramme integriert waren, kann
erst durch die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und ihrer spezifischen
ein- und ausschließenden Strukturen geklärt werden, denen aufgrund des
sozialistischen Systems andere soziale Mechanismen zugrunde liegen.
GESELLSCHAFTLICHE DEBATTEN UM DEN BERUFSEINSTIEG SCHWARZER
DEUTSCHER FRAUEN IN DIE KRANKENPFLEGE

In ihrem Essay »Schwarzer Stress und Weiße Nerven« konstatiert May


Ayim ihr Erstaunen darüber, wie viele Schwarze deutsche Frauen in
Fürsorgeeinrichtungen und dabei vornehmlich in der Alten- und
Krankenpflege tätig seien. Sie verweist auf ein begrenztes Berufsspektrum,
welches ihrer Meinung nach nicht zufällig sei, sondern auf die
gesamtgesellschaftlichen Benachteiligungen Schwarzer Frauen hindeute,
denen Karriere, einflussreiche Positionen und Ämter vielfach gänzlich
verwehrt bleiben.[11] Ihre Berufswahl konnte folglich oft nur scheinbar aus
freier Entscheidung erfolgen.
An den Debatten, die nach dem Zweiten Weltkrieg über Schwarze
deutsche Frauen und die Möglichkeiten ihrer Berufseingliederung geführt
wurden, beteiligten sich möglicherweise auch weiße deutsche
Krankenschwestern. Sicher ist jedenfalls, dass sie Schwarzen deutschen
Frauen als Kolleginnen begegneten, dass sie mit ihnen zusammenarbeiten
mussten und auf einer alltäglichen und zwischenmenschlichen Ebene mit
ihnen auszukommen hatten. In welcher Weise dabei für sie die
problematische Geschichte ihres Berufsstandes, das Bewusstsein über
koloniale und nationalsozialistische Täterinnenschaft und die
Notwendigkeit einer Auseinandersetzung darüber von Interesse war oder
vielleicht auch gar nicht in den Blick rückte, sind Fragen, die in der
Forschung noch zu klären sind.
Bereits zu Beginn der 1950er Jahre wurden in der Bundesrepublik
ausführliche Debatten darüber geführt, ob und wie Schwarze deutsche
Kinder in die Gesellschaft zu integrieren seien. Da sie als »menschliches
und rassisches Problem besonderer Art«[12] wahrgenommen wurden,
machte man sich in westdeutschen Behörden und Institutionen bis hinein in
den Bundestag umfassende Gedanken. Anfang der 1960er Jahre bekamen
entsprechende Diskussionen eine neue Richtung, nun standen sie unter dem
Vorzeichen der Berufswahl bzw. des Berufseinstiegs.[13]
Trotz eines großen Angebotes von Lehrstellen […] sahen Schulbehörden und Pädagogen dem
Berufseinstieg der afrodeutschen Jugendlichen besorgt entgegen. Der Schutz durch die Schule,
deren Aufgabe es allgemein sei, Schüler vor Anfeindungen zu schützen, sei nun weggefallen. In
der Lehre und am Arbeitsplatz müßten die Jugendlichen sich nunmehr weitgehend selbständig
ihre Position unter den Kollegen schaffen. Die Öffentlichkeit, die nun konkret als Arbeitgeber, als
Kollegen am Arbeitsplatz, aber auch als Kunden mit den Afrodeutschen in Kontakt treten, wird
entscheiden, ob eine Eingliederung gelinge oder ›ob Ressentiments und Vorurteile das Dasein am
Arbeitsplatz vergiften‹ werden.[14]

Als besonders problematisch wurde die berufliche und persönliche Zukunft


der Mädchen bewertet, denn das Lehrstellenangebot fiel gegenüber
demjenigen für Jungen wesentlich geringer aus. Außerdem wurde davon
ausgegangen, dass junge Schwarze deutsche Frauen aufgrund ihrer
›rassischen Andersartigkeit‹ schlechte Chancen bei der Partnerwahl hätten.
[15] Typische Frauenberufe im Dienstleistungssektor wurden von weißen
PädagogInnen zumeist als nicht akzeptabel angesehen, weil ihrer Ansicht
nach auf die Kundschaft Rücksicht genommen werden müsse. Andere
Berufe, wie zum Beispiel der der Kinderkrankenschwester, Kindergärtnerin
und Lehrerin kamen zunächst ebenso wenig in die nähere Auswahl, weil
Ausbilder sich scheuten, »ihre weiße Klientel von ›Schwarzen‹ versorgen
bzw. erziehen zu lassen«.[16] Genau diese Erfahrung musste Frau Schulze
machen. Als sie in Begleitung ihrer weißen deutschen Mutter 1950 (!) zu
einem Bewerbungsgespräch im Westend-Krankenhaus in West-Berlin
vorstellig wurde, an dem noch zwei Lehrstellen zu vergeben waren, wurde
ihr nach einem auffällig kurzen Gespräch mit der Oberin mitgeteilt, dass
keine Lehrstellen mehr frei seien und außerdem wüsste man nicht, »wie die
Patienten auf sie reagieren würden«.[17] Frau Schulze gehört nicht zur
Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen afrodeutschen
Kinder. Die Tatsache, dass sie bereits mehr als ein Jahrzehnt vor den
offiziellen Diskussionen um den Berufseinstieg von Schwarzen deutschen
Jungen und Mädchen mit denselben Argumenten konfrontiert wurde, ist für
die normativen ideologischen Wahrnehmungsmuster der weißen deutschen
Mehrheitsgesellschaft deshalb sehr aufschlussreich.
Dass afrodeutsche Mädchen bzw. junge Frauen dennoch in
fürsorgerische und Pflegeberufe aufgenommen wurden, weist auf eine
Veränderung des Fokus der offiziellen Diskussion. Hatte man vorher die
Kategorie ›Rasse‹ als Haupterklärungsmuster herangezogen, um
Ausschlussmechanismen zu legitimieren, legte man nun den Akzent auf die
Kategorie ›Geschlecht‹, um integrativ zu argumentieren. Da zu den vormals
nicht in Frage kommenden frauenspezifischen Berufen vor allem die der
Krankenschwester oder der Kindergärtnerin gehörten, musste eine neue
offizielle Deutung gefunden werden: in diesen Berufen, so die patriarchale
Argumentation, könnten afrodeutsche Mädchen oder junge Frauen ihren
›natürlichen Neigungen‹ nachgehen und somit einen Grad von
Selbständigkeit erlangen, der ansonsten für sie nur schwer zu erreichen
wäre.[18] Insbesondere diese beiden Berufsrichtungen boten sich aber auch
deshalb an, weil sie überall auf der Welt ausgeübt werden konnten. Damit
sind sie ein Hinweis auf langfristige ›Lösungskonzepte‹, die sich bereits
1952 herauskristallisierten. Diese sahen, wie Lemke konstatiert, unter
anderem zunächst die Ausgliederung der Schwarzen deutschen Kinder
durch Auslandsverschickung und später ihre Ermutigung zur ›freiwilligen
Ausreise‹ nach Amerika oder Afrika vor. Begründet wurde dieses Konzept
wie folgt:
Um die menschlichen und gesellschaftlichen Besonderheiten in diesen Fällen beruflich besonders
zu berücksichtigen, dürfte sich m. E. die qualifizierte Facharbeiterausbildung besonders anbieten.
[…] Darüber hinaus dürften sich die Mischlinge durch psychische Eigenschaften, die sie als
väterliches Erbteil bekommen haben, für Tätigkeiten in tropischen oder subtropischen Gebieten
besonders eigenen. […] Ich denke dabei u.a. an eine Vermittlung derartiger Mädchen und Frauen
nach Abschluss der Berufsausbildung durch die freien Wohlfahrtsverbände und die deutschen
Auslandsorganisationen, z.B. als Säuglingsschwestern, Erzieherinnen, Pflegerinnen […] in
Missionskrankenhäusern, deutschen Alters- und Pflegeheimen […].[19]
Nach Auffassung des Autors sollten für Schwarze deutsche Frauen Berufs-
und Lebensperspektiven in Deutschland also gar nicht erst angedacht
werden, da sie aufgrund ihrer ›rassischen‹ Eigenschaften – oder, wie er es
nennt, aufgrund ihres ›väterlichen Erbteils‹ – in anderen Gegenden dieser
Welt sehr viel besser aufgehoben wären. Die allgemeine Debatte über eine
›freiwillige Auswanderung‹ Schwarzer deutscher Jugendlicher, die wie ein
roter Faden alle Diskussionen gegen Ende der 1950er Jahre durchzieht,[20]
ist auch aus einem anderen Grund bedenkenswert. Vor allem über die
angedachten Vermittlungsorte wie Missionskrankenhäuser in tropischen
und subtropischen Gebieten und über eine in diesem Zusammenhang zu
pflegende, vornehmlich nicht-weiße Klientel stellen sich die Verbindungen
zur Kolonialzeit im Nachkriegskontext wieder her.
Diese Verbindung möchte ich kurz ausführen: Die geradezu
unbekümmerte Bezugnahme auf rassifizierte Ausbildungskonzepte und -
praxen, in denen das Zusammenwirken rassistischer und sexistischer
Diskurse die Stellung Schwarzer deutscher Frauen maßgeblich bestimmte,
sind im Zuge der deutschen Kolonialherrschaft entwickelt worden. Das
dabei gedachte Konzept von Heilung beschränkt sich vor diesem
Hintergrund nicht nur auf den Prozess des Heilens selbst. Es schließt
außerdem die Person des/der Heilenden ein. Deren ›rassische‹
Zugehörigkeit war demnach entscheidend dafür, ob er/sie überhaupt für den
Pflegeberuf in Frage kam und wen er/sie pflegen und heilen durfte und wen
nicht. In den deutschen Kolonien beispielsweise wurden AfrikanerInnen
lediglich als HeilgehilfInnen ausgebildet,[21] die die eigene kolonisierte
Bevölkerung zu versorgen hatten. Abgesehen davon, dass ihre spezifischen
indigenen Heilerfahrungen, über die sie sicherlich verfügten, in der
Ausbildung nicht von Interesse waren, blieb die Betreuung weißer Männer
und Frauen für sie tabu. Innerhalb Deutschlands wurde Schwarzen
Deutschen wie anderen marginalisierten Gruppen im Nationalsozialismus
eine Ausbildung in der Krankenpflege auf der Grundlage der ›Nürnberger
Gesetze‹ verwehrt. Auch hier wiederholt sich das Muster eines
rassifizierten Verständnisses von Heilung und heilenden Personen, die aus
dem ›arischen Volkskörper‹ ausgegliedert wurden und deren Dienste im
Berufsfeld selbst, aber auch hinsichtlich der zu versorgenden Klientel für
unwürdig erachtet wurden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass aufgrund der kolonialen
und nationalsozialistischen Ausgrenzungsgeschichte vier Punkte
ausschlaggebend dafür sind, weshalb nach 1945 Schwarze deutsche Frauen
– wenn auch zuerst widerwillig – dennoch in Pflegeberufe integriert
wurden:

1. die Dimension der historischen Schuld, die sich zwar nicht mit der
deutschen Kolonialherrschaft, aber mit den Folgen des
Nationalsozialismus in Verbindung bringen lässt und vor deren
Hintergrund das Ansehen Deutschlands wiederhergestellt werden
sollte;
2. der permanente Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern, der nach
dem Zweiten Weltkrieg zu neuen Arbeitskraftbeschaffungskonzepten
in der Pflege führte und einen Transfer von Pflegepersonal auch aus
dem Ausland einleitete,[22] so dass Schwarze deutsche Frauen nicht
nur gebraucht, sondern möglicherweise als ›weniger fremd‹
wahrgenommen wurden;
3. die Tatsache, dass Krankenpflege gekennzeichnet war – und noch
immer ist – durch soziale Nichtanerkennung und ökonomische
Unterbewertung, also einen im Grunde unterprivilegierten Beruf
darstellt, der für Schwarze deutsche Frauen und Migrantinnen als
›angemessenes‹ professionelles Feld erscheint; sowie
4. die patriarchale Konstruktion einer ›natürlichen‹ Eignung von Frauen
für die Krankenpflege.
SCHWARZE DEUTSCHE FRAUEN IN DER PFLEGE
Die real existierende, bis in die Gegenwart andauernde Präsenz kolonialer
Wahrnehmungs- und Handlungsmuster kennzeichnet eine spezifische
postkoloniale Situation, in der sich alle Schwarzen Menschen in
Deutschland – also auch Schwarze deutsche Krankenschwestern befinden.
Um diese Situation für ein spezielles Berufsfeld einzukreisen und um
gemeinsam darüber nachzudenken und nach widerständigen
Überlebensstrategien zu suchen, brauchen Schwarze deutsche
Krankenschwestern ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen, ihre
unterschiedlichen Lebensgeschichten und ihre verschiedenartigen
Reflexionen. Sie brauchen eine dialogische Kommunikation, in der das
vereinzelte ExpertInnentum vieler zu einer Zusammenschau verschmelzen
kann. Erst in einer solchen Zusammenschau, die gelebte Erfahrungen
zusammenführt und einen kollektiven Rahmen eröffnet, kann Erinnerung
als kraftspendende Ressource für eine diasporische Schwarze deutsche
community nutzbar gemacht werden.
Welche Bedeutung aber haben Schwarze deutsche Krankenschwestern
im Kontext Schwarzer Geschichte in Deutschland? Wie und wo lassen sie
sich verorten? War das Aufwachsen in der DDR und der BRD von
unterschiedlichen Erfahrungen geprägt? Finden sich Parallelen zwischen
Kindheit/Jugend und der Wahl des Berufes? Wie erleben Schwarze
deutsche Frauen ihren beruflichen Werdegang? Wurden rassistische
Handlungen immer auch als solche empfunden und wie wurden diese
verhandelt?
Diese Fragen deuten darauf hin, dass gravierende Leerstellen vorhanden
sind, die sich nicht nur auf den Krankenpflegebereich beziehen, sondern
generations- und systemübergreifend ihre historische Relevanz haben. Die
respektvolle Anerkennung und konsequente Einbeziehung der gelebten
Erfahrung Schwarzer Menschen stellt folglich einen integralen Bestandteil
des entstehenden Schwarzen deutschen Geschichtsverständnisses dar.
Damit befindet es sich ethisch, erkenntnistheoretisch und methodisch in der
Tradition anderer Schwarzer Geschichtsschreibungen.
Die Annäherung an die Interpretationen erfahrener Lebensrealitäten
Schwarzer deutscher Frauen kann meines Erachtens nur erfolgen, indem die
Theoriebildung Schwarzer feministischer Geschichtsschreibung als
Grundlage verwendet wird. Wesentliche Impulse einer methodischen
Vorgehensweise im Sinne Schwarzer feministischer Geschichtsschreibung
vermittelt Gwendolyn Etter-Lewis Text »Black Women’s Life Stories:
Reclaiming Self in Narrative Texts«.[23] Charakteristisch für Schwarze
feministische Geschichtsschreibung ist die Analyse nach Gesichtspunkten
von ›Rasse‹, Gender und Klasse.[24] Duale Denksysteme einer weißen
feministischen Forschung sind hier nicht hilfreich, weil sie Menschen,
Dinge und Sachverhalte systematisch ein- oder ausschließen. Oral history
zum Beispiel reflektiert eine Vielzahl von Erfahrungen und Weltsichten,
wobei insbesondere gelebte Erfahrungen als Wissenskriterium Schwarzer
Frauen als fundamental betrachtet werden.[25] Wissen, Weisheit und
Klugheit sind nach Patricia Hill Collins lebensnotwendig für Schwarze
Frauen, denn ein Wissen ohne Weisheit können sich Subordinierte nicht
leisten. Erfahrung als dritte Größe neben Weisheit und Wissen birgt nach
Collins ein Widerstandspotential in sich und kann durch eine formale
Ausbildung nicht ersetzt werden.[26] Nach Collins kann Wissen nicht von
Einzelpersonen hervorgebracht werden, sondern es steht in der
Verbundenheit – connectedness - von Schwarzen Frauen und dem
Austausch untereinander: es steht in der Tradition des Dialogs.[27]
Das Eintreten in einen Dialog setzt voraus, dass ein Wissen über die
Bedeutung der eigenen Geschichte besteht und dass dieses Wissen zumeist
nur dann präsentiert werden kann, wenn in Kommunikation getreten wird.
Die an anderer Stelle von mir geführten, aufgezeichneten und
transkribierten Gespräche stehen in der Tradition der oral history, eine der
wesentlichen Formen Schwarzer Geschichtsschreibung, tradierte
Erinnerung(en) zu bewahren und festzuschreiben.
Die Entscheidung, Gespräche, Analyse und Interpretation in der
Tradition der Schwarzen feministischen Geschichtsschreibung zu führen,
begründeten sich darin, dass es Schwarze deutsche Frauen sind, die sich
erinnern, dass Schwarze deutsche Frauen eine andere Welt erfahren, als
diejenigen, die nicht Schwarz, deutsch und weiblich sind. Meines Erachtens
ist es nur so möglich, den biographischen Erinnerungen gerecht zu werden.
Das erfordert auch, die Geschichten der Frauen nicht objektivierend
auseinander zu reißen, sondern sie weitestgehend im Fluss zu halten und,
wie es Hill Collins treffend formuliert, ihnen aus tiefster Überzeugung zu
glauben, statt sie als Wissenschaft zu bewundern.[28]
Die biographischen Erinnerungen Schwarzer deutscher
Krankenschwestern dokumentieren eine besondere Begegnung mit und
innerhalb weißer deutscher Geschichtsschreibung, denn sie erhellen eine
alternative Erinnerungs- und Wissenskultur, die aufs engste mit einer
spezifischen, minoritären Geschichtlichkeit verknüpft ist. So konnten an
anderer Stelle die Erinnerungsräume von fünf Schwarzen deutschen
Krankenschwestern dokumentiert werden.[29] Drei von den fünf befragten
Schwarzen deutschen Frauen begannen ihre Ausbildung zu
unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten, an konfessionellen
Häusern in der Bundesrepublik. Während der Ausbildungszeit hatten sie
keine Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszutauschen, denn sie waren die
einzigen Schwarzen deutschen Schwesternschülerinnen in einem weißen
christlichen Umfeld. Die neuen Abhängigkeiten, die sich für sie daraus
ergaben, können nicht nur im Kontext der Ausbildung gesehen werden. Alle
drei hatten eine christliche Sozialisierung erfahren, waren an diese Werte
und Normen gebunden und als Schwarze deutsche Frauen in Positionen, die
es ihnen nicht erlaubte, diese machtvollen christlichen, weißen Strukturen
zu hinterfragen beziehungsweise sich dagegen aufzulehnen.
Überlebensnotwendig war, sich in diese Strukturen assimilativ einzufügen,
ohne sich ganz zu verlieren. In den Gesprächen mit den zwei Schwarzen
deutschen Krankenschwestern, die in der DDR ihre Ausbildung
absolvierten, werden andere Strukturen sichtbar. Immer als ›die Andere‹
wahrgenommen zu werden und sich über die erfahrenen Kränkungen nicht
äußern zu dürfen, offenbart noch mal ein anderes Abhängigkeitsverhältnis
innerhalb der Ausbildungs- und Lebensstrukturen in der DDR.
Hineingeboren zu werden in eine Gesellschaft, in der ein »sozialistisches
Nationalbewusstsein wächst, in dem sich sozialistischer Patriotismus und
proletarischer Internationalismus organisch verbanden«,[30] gewährte
keinen Raum, verbale und physische rassistische Übergriffe festzustellen
oder zu ahnden. Eine Kritik diesbezüglich hätte eine Kritik am real
existierenden Sozialismus und dessen Ideologie bedeutet. Gemäß den
Vorstellungen über die ›sozialistische Lebensweise‹, wurde die
›sozialistische Moral‹ als höchster Ausdruck gewertet; gleichzeitig
markierte der vermeintliche Neubeginn eine Weitertradierung rassistischer
Strukturen in der Geschichte der Krankenpflegeausbildung und
Krankenpflege im Osten Deutschlands, die nicht zur Kenntnis genommen
wurde. Auch wenn eine Trennung zwischen christlicher und staatlicher
Berufsausbildung in der Krankenpflege in der DDR durchgesetzt und das
Fach Berufsethik[31] den kirchlichen Einrichtungen überlassen wurde,
muss konstatiert werden, dass christliche Moralvorstellungen latent weiter
tradiert wurden, überformt von einer ›sozialistischen Ethik‹.
Wenn Schwarze deutsche Frauen sich ihrer Geschichte erinnern, brechen
sie ein dominantes gesellschaftliches Schweigen, das jeden Lebensbereich –
folglich auch den beruflichen – umfasst und begeben sich in situative
Erinnerungsmomente, deren Erfahrungswerte deshalb so schmerzvoll und
widersprüchlich sind, weil sie in einer schmerzvollen und
widersprüchlichen Anwesenheit verwurzelt sind. Alle Schwarzen deutschen
Krankenschwestern teilen gemeinsame Erfahrungen mit einem häufig
offenen Rassismus im größeren gesellschaftlichen und im privaten Kontext.
Die Ausschlussmechanismen, denen Schwarze deutsche Frauen in ihrem
sozialen Umfeld begegnen und ausgesetzt sind, erfahren sie in besonderer
Weise in ihren beruflichen Zusammenhängen. Diese Tatsache macht es
deshalb schwierig, von einer allgemein zu definierenden Berufssozialisation
zu sprechen, denn dies würde nichts anderes bedeuten, als eine herrschende
Berufskultur mit ihren hegemonialen Werten, Normen und Mythen auf
marginalisierte Personen innerhalb dieser Kultur zu übertragen und so ihre
spezifischen Geschichten einzuebnen und erneut unsichtbar zu machen. Die
Gratwanderung, die Schwarze Krankenschwestern jeden Tag aufs neue
zwischen einem weiß gedachten Pflegealltag und ihrer konkreten
Schwarzen Pflegeerfahrung zu unternehmen gezwungen sind, erfordern
Überlebens-Strategien nicht nur in der Begegnung mit weißen deutschen
KollegInnen, sondern auch mit weißen deutschen PatientInnen. Auffallend
ist, dass Schwarze deutsche Krankenschwestern im Umgang mit Letzteren
sehr genau darauf achten, diesen trotz möglicher grenzverletzender
Situationen dennoch Schutz zu gewähren, indem solche Überschreitungen
häufig relativiert oder sogar kommentarlos hingenommen werden.
PatientInnen sollen und dürfen keine Aufregung erfahren, weil sie
krankheitsbedingt eine Ausnahmesituation erleben. Das heißt, ein
eventueller Kontrollverlust könnte zur Eskalation der Situation führen und
aus Erfahrung wissen Schwarze Deutsche, dass Diskussionen über
Rassismus zumeist negative Sanktionen zur Folge haben.
Ein solcher situativer Selbstschutz ist ebenso in der Begegnung mit
weißen KollegInnen zu verifizieren. Die Strategien sind hierbei jedoch
weiter gefächert: sie umfassen Anpassung und Verdrängung, aber auch
offene Auseinandersetzung und gezieltes Verhandeln der Situation.
Insbesondere Schwarzen deutschen Krankenschwestern, die bewusst für
sich die Chance ergriffen, sich mit ihrer Gemeinschaftsgeschichte
auseinander zu setzen und ein kommunales Selbstverständnis zu
entwickeln, gelingt es eher, rassistisches Verhalten zu kommentieren, zu
analysieren und auf der Grundlage ihres Wissens konkrete und
situationsbezogene Grenzen zu setzen. Trotz positiver Erfahrungen und der
schon stattfindenden Sensibilisierung weißer deutscher KollegInnen scheint
es dennoch, dass widerständiges Verhalten oftmals als individualisiert (also
sehr persönlich) angesehen wird und vor diesem Hintergrund als
unprofessionell geahndet werden kann. Offene Auseinandersetzungen in
Pflegeteams im Zusammenhang mit rassistischen Übergriffen durch
PatientInnen oder KollegInnen bilden folglich die Ausnahme. Es scheint in
dominanten Kontexten eher die Regel zu sein, rassistische Strukturen zu
tabuisieren, um eigenen individuellen und politischen Verantwortlichkeiten
nicht begegnen zu müssen.
Eine professionelle Zukunft der Pflege würde sich, angesichts der real
existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse daher auch dadurch
auszeichnen, dass Pflegeteams Strukturen schaffen, Schwarzen deutschen
und anderen marginalisierten, etwa migrantischen, Pflegeerfahrungen Raum
zu geben. Eine solche Entwicklung würde voraussetzen:

1. dass rassistische Strukturen im gesellschaftlichen Kontext und in der


Krankenpflege explizit benannt und kritisch hinterfragt werden;
2. die Geschichte der weißen deutschen Krankenpflege umfassend, das
heißt, hinsichtlich ihrer rassifizierenden Dimensionen und
Implikationen, die aufs engste mit der deutschen Kolonialzeit und mit
dem Nationalsozialismus verknüpft sind, in der Ausbildung vermittelt
wird;
3. dass Einrichtungen in Eigenverantwortung Strukturen und
Instrumentarien schaffen, um sich einer kultursensitiven Pflege durch
die Implementierung entsprechender Programme und Supervisionen
anzunähern, die in anderen westlichen Ländern bereits zum
alltäglichen Standard gehören;
4. dass kultursensitive Pflege nur im Kontext einer kritischen
Hinterfragung der dominanten Grundlagen einer weißen deutschen
Pflegekultur entwickelt und sinnbringend verstanden werden kann;
5. dass der individuelle Schutz vor rassistischen Übergriffen durch
PatientInnen und KollegInnen garantiert wird; und
6. dass ein Bewusstsein in Pflegeteams geschaffen wird, um die reale
Existenz von Rassismus und dessen strukturelle wie
zwischenmenschliche Gewaltdimensionen und Wirkweisen
anzuerkennen und alternative Räume zu schaffen, um sich damit
angemessen auseinander zu setzen.

Schwarze deutsche Krankenschwestern sollten selbstbestimmt die Chance


ergreifen, eigene berufsbezogene Netzwerke zu etablieren, die es ihnen
ermöglichen, ihre vielfältigen Erfahrungen in einem geschützten Raum
auszutauschen. Das im Zuge einer solchen Bewusstseinsarbeit möglich
werdende Entwickeln gemeinsamer Strategien würde nicht nur die Qualität
von Rassismuserfahrungen und den entsprechenden erfahrungsbezogenen
Umgang damit verändern, sondern den Raum eröffnen, um sich über
spezifische Fragen einer existierenden Schwarzen deutschen Pflegeethik zu
verständigen.
Wie Frau Schulze an einer anderen Stelle sehr treffend formulierte,
haben Schwarze deutsche Krankenschwestern viel durchgemacht, sie
wissen, was Schmerz und Leid bedeutet und können sich aufgrund dieses
Wissens gut in andere hineinversetzen. Eine solche Ethik der Anteilnahme,
die bei den von mir befragten Schwarzen deutschen Krankenschwestern ein
durchgängiges Leitmotiv darstellt, kreist ein besonderes Verständnis, ich
würde sogar sagen, eine erfahrungsbezogene Tradition von
Verantwortlichkeit ein. Diese gründet in generationsübergreifenden
gewaltvollen Rassifizierungserfahrungen, reflektiert sie jedoch zugleich und
stellt ihre Ursachen grundlegend zur Disposition. Daher lautet mein derzeit
abschließendes und dennoch auf die Zukunft gerichtetes Resümee, sich
verstärkt den alternativen Erkenntnis- und Wissensräumen zuzuwenden, die
durch Schwarze deutsche weibliche Pflegeerfahrungen im Berufsalltag
sowie im pflegewissenschaftlichen Kontext markiert sind: einerseits, um die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, eine spezifisch Schwarze deutsche
Pflegegeschichte erkenntnistheoretisch und historisch zu verorten,
andererseits, um die Geschichte weiblicher Pflege, in der weiße und
Schwarze Frauen gleichermaßen wirkten und wirken, respektvoll und unter
gleichberechtigter Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven einer
umfassenden Revision zu unterziehen. Wie die Blickwinkel meiner
Gesprächspartnerinnen, die unterschiedlichen Generationen angehören und
verschiedene Sozialisationen durchlaufen haben, zeigen: Es ist an der Zeit.

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Komplizinnen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990
Panke-Kochinke, Birgit: Die Geschichte der Krankenpflege (1679-2000). Ein Quellenbuch.
Frankfurt/M.: Mabuse, 2001
Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin: Dietz, 1976
Rodenwaldt, Ernst: »Geburtenhilfe für Eingeborene in den Schutzgebieten.« In: Paul Rohrbach &
Ernst Jaeckh (Hrsg.): Das größere Deutschland 1914. Wochenschrift für Deutsche Welt- und
Kolonialpolitik. Berlin, 1914, S. 746
Stein, Regina M. Banda: Schwarze deutsche Frauen in der Pflege. Zwischen weißer deutscher
Pflegegeschichte und Schwarzen Pflegeerfahrungen. Unveröffentlichte Diplomarbeit, 2005
Steppe, Hilde (Hrsg.): Krankenpflege im Nationalsozialismus. 9. Aufl., Frankfurt/M.: Mabuse, 2001
Visser, Maraijke & Anneke de Jong: Kultursensitiv pflegen. Wege zu einer interkulturellen
Pflegepraxis. München & Jena: Urban & Fischer, 2002
Wolf, Horst Peter (Hrsg.): Studien zur deutschsprachigen Geschichte der Pflege. Frankfurt/M.:
Mabuse, 2002
Zache: In: Paul Rohrbach & Ernst Jaeckh (Hrsg.): Das größere Deutschland 1914. Wochenschrift für
Deutsche Welt- und Kolonialpolitik. Berlin, 1914

ANMERKUNGEN
1 Sartre in seinem Vorwort zu: Fanon: Die Verdammten dieser Erde, S. 21.
2 Siehe das Quellenmaterial bei: Panke-Kochinke: Die Geschichte der Krankenpflege.
3 »Die Politik der Dissimilation folgte also der Vorstellung einer nach anthropologischen
Kriterien gegliederten Ständegesellschaft mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen, ganz im Sinne
eines ›aufgeklärten‹, autokratischen Systems, das einer ›weißen‹ Oligarchie gesellschaftlichen
und politischen Vorrang einräumten«. Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche
Geschichte in Deutschland, S. 28.
4 »Heilen wird in zwei Bedeutungskategorien unterteilt. 1. heil machen, heil werden und 2.
kastrieren, zahm und brauchbar machen, die Wildheit nehmen«. Kluge: Etymologisches
Wörterbuch, S. 401-402.
5 Visser & de Jong: Kultursensitiv pflegen, S. 7.
6 Ebenda, S. 8.
7 Mamozai verwendet den Arbeitsbegriff systemstabilisierende Fürsorge im Kontext der
nationalsozialistischen Fürsorge. Vgl. Mamozai: Komplizinnen, S. 125. Auch im kolonialen
Kontext kann und muss von systemstabilisierender Fürsorge gesprochen werden.
8 Rodenwaldt: »Geburtenhilfe für Eingeborene in den Schutzgebieten«, S. 746.
9 Mamozai: Schwarze Frau, Weiße Herrin, S. 75.
10 Bruno Engel: »Abstammungsnachweis für die Krankenpflege«, S. 259, zit in: Steppe:
Krankenpflege im Nationalsozialismus. S. 89.
11 Ayim: »Weißer Streß und Schwarze Nerven«, S. 121-122.
12 Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, S. 45.
13 Debatten über den Berufseinstieg führten Fürsorgeeinrichtungen, Pädagogen, die AWO und
nicht zuletzt wurde in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen über die
Fähigkeiten Schwarzer deutscher Jungen und Mädchen debattiert. Diese Diskussionen wurden
zu Beginn der 60er Jahre wieder aufgenommen, als die erste unmittelbare Nachkriegsgeneration
ins Berufsleben eintreten sollte. Vgl. ebenda, S. 178-179.
14 Ebenda, S. 179-180.
15 Ebenda, S. 182.
16 Ebenda, S. 182.
17 Auszug Interviewmanuskript in: Stein: Schwarze deutsche Frauen in der Pflege.
18 Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, S. 186-187.
19 Ebenda. Kursawe: Ȇberlegungen zur dauerhaften Aussiedlung afrodeutscher Menschen
(Rheinland-Kinder) oder ihre Ermutigung zur freiwilligen Auswanderung (Nachkriegskinder)
durchziehen von der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre die immer wieder
aufflammenden praktischen Überlegungen und ›Lösungsvorschläge‹, die ihrerseits beweisen,
dass Schwarze Deutsche als nicht nach Deutschland gehörig betrachtet werden.« In: ebenda, S.
187-188.
20 Ebenda, S. 188.
21 »Ein Kurs dauerte nicht länger als 6 Monate und neben dem obligatorischen Verbandskurs
wurden die zukünftigen HeilgehilfInnen im einfachen Gebrauch von Medikamenten und in
pflegerischen Handreichungen eingewiesen. Angestellt wurden die sie danach in Einrichtungen,
die nur der afrikanischen Bevölkerung zugänglich waren.« Bauer: Geschichte der
Krankenpflege, S. 259-260.
22 Aufgrund des Pflegenotstandes wurden schon Ende der 1950er Jahre Frauen aus Korea und
dann Mitte der 1960er verstärkt Krankenschwestern aus Indien, Korea und den Philippinen in
die Bundesrepublik geholt. Vgl. Beneker & Wichmann: Grenzüberschreitende Dienstpläne, S.
35-36.
23 Etter-Lewis: »Black Women’s Life Stories«, S. 43.
24 Ebenda, S. 43.
25 Ebenda, S. 56.
26 Collins: Black Feminist Thought, S. 257.
27 Ebenda, S. 261.
28 Collins: »Die gesellschaftliche Konstruktion Schwarzen feministischen Denkens«, S. 29.
29 Stein: Schwarze deutsche Frauen in der Pflege.
30 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 78.
31 Das Fach Berufsethik wurde 1985 in den kirchlichen Einrichtungen der DDR implementiert.
Wolf (Hrsg.): Studien zur deutschsprachigen Geschichte der Pflege, S. 259.
EDDIE BRUCE-JONES
SURVIVED (FOR AUDRE LORDE)

i’ve seen rainbows


chase sunny days
to passionate
indigo orgasm
over eyelids and bowed heads
bridges and burning streets
but the sun relinquishes her passions
and the rainbow her colors
the asphalt cools
before they can kiss
and like suicide
the purple night cries
raindrops on windows
and whispers your name

i’ve seen battles


hiding in violent eyes
sunken pride
roaming the subways
for peace stealing
glance from the truth tripping on lies
that stride like jealousy across my stance
the glitter of your gaze spills
like lightning
the thunder is slow
by the taint of time
and cries long after
her blaze
has gone

i’ve seen love so thick


it turned the seas
to wine
it bled pomegranate
moonshine
all down my back
staining it guilty black
no brown no
black brown red
a deep dark almost
nighttime
bloodline
i can’t seem to find
like the humanity in our normalcy

whose convention reinvents nature


whose cracked walls are only
arbitrary archetypes of divine
love
who only admits rainbows
‘cause the ceiling was cracked
by the insurrecting tears of Jah
and Jesus proclaimed
›let there be love‹
and reason rained
upon heterotheism
for 40 days
and 40 nights
after which rainbows
chased sunsets
to passionate indigo
holding the sky hostage

i’ve felt seizures


grip old love
like the birth of a hundred new
and a thousand yet to come see how arbitrary numbers
paint worlds of metaphor
where ‘AIDS babies’
dance on treetops
and dying grandmothers
sing the works of Billy
Holiday
where terminal death
begets
interminable life
and bursts into light
like lightning
that sticks to the earth
and spreads into one
big-ass
beautiful
rainbow
to catch the sun
and vaporize
what this world denies
and vaporize what this world denies /and paint a new one
to harmonize
the unsung cries of pride and self-worth
in tear-torn faces
and stoic-step paces
to bend down
and kiss love’s roots
so that she might beget more like you

‘cause i’ve seen unicorns


brush brambles
and babbling brooks
into pentameter
that can’t be stopped
even when her feet get cropped
and her horn is chopped
and copped by racism
sexism heterocetera
cancer and death
she transcends like life
that can’t stop smiling
her words
flow ever on*
and i’ve seen unicorns
turn into black crows
and swing conscious melodies
though closed minds
and like the truth always journeys
through Sojourner
love survives through the beat
of the warriors drum
and loves survives through the tears
of the panther’s scorn
her survival would predate man
and postdate nature
she would fly backwards
onto the moon
cry monsoon upon the earth
birth hundreds of
flying black unicorns
and die
floodlit by the sun
to finally become one with her survival
she is love
love is hers
the moon would whisper
her name

*from Nikki Giovanni’s »›Ego Trippin‹«


NISMA CHERRAT
MÄTRESSE – WAHNSINNIGE – HURE: SCHWARZE
SCHAUSPIELERINNEN AM DEUTSCHSPRACHIGEN
THEATER

Wenn das Telefon klingelt und sich ein Regisseur meldet auf der Suche
nach einer Schwarzen[1] Schauspielerin, fängt mein Herz nervös an zu
klopfen. Ich lasse alles stehen und liegen und das kleine Tier in mir,
Leidenschaft genannt, fängt an, sich zu regen. Im Laufe des Gespräches
stellt sich sehr schnell heraus, dass wieder ein Theater sich in den Kopf
gesetzt hat, im Sinne der ›Völkerverständigung‹ und der schon seit
fünfhundert Jahren überfälligen multikulturellen Toleranz, eine Schwarze
Darstellerin einzusetzen. Anfangs war ich noch guter Hoffnung, dass es sich
dieses Mal um ein Konzept handelt, bei dem sich die Verantwortlichen
jeder im Stück vorgegebenen Schwarz-Weiß-Tradierung entgegenstellen
und dies in ihrem Rollenangebot zum Ausdruck bringen. Leider ist dieses
Bewusstsein eine Ausnahmeerscheinung. Zwar hat auch das
deutschsprachige Theater begriffen, in Anlehnung an die Kollegen in
England, Frankreich und den USA, dass mit einer gewissen
Aufgeschlossenheit die Notwendigkeit einhergeht, sich einen ›Alibi-Neger‹
(es kann auch ein ›Asiate‹ sein) ins Haus zu holen. Aber reicht das wirklich
aus, um einen umfassenderen Spiegel unserer Gesellschaft wieder zu
geben?
Für Schwarze KünstlerInnen ist es besonders schwer, sich außerhalb der
gängigen Klischees zu bewegen, da wir meistens dann zum Einsatz
kommen, wenn es darum geht, politische oder soziale Missstände
aufzuzeigen. Dadurch konnte sich ein Konzept der Stereotype etablieren,
das eng mit bestimmten Vorstellungen von Schwarzen Bildern und deren
Ausdruck verknüpft ist. Da selbstverständlich davon ausgegangen wird,
sich bei Rollenbesetzungen an der weißen Norm zu orientieren, kommen
Schwarze DarstellerInnen von vornherein nur selten vor, es sei denn, die
Charaktere sind durch äußere Merkmale markiert.[2] Im folgenden Essay
setze ich mich damit auseinander, was diese Herangehensweise in der
Konsequenz für mich als Schwarze Spielerin bedeutet. Meiner Meinung
nach reicht es nicht aus, eine/n Schwarze/n SchauspielerIn mit einer Rolle
zu besetzen, um sich damit die Genugtuung zu geben, man sei international
eingestellt und habe keine Vorurteile. Ausnahmeerscheinungen, wie das
Schauspiel Köln, das ›gleich‹ zwei Schwarze Darstellerinnen in seinem
Ensemble hat, werden in den Medien derzeit besonders hervorgehoben. Das
hat den Auslöser, mich dankbar fühlen zu müssen für etwas, was nur
deshalb einer Betonung bedarf, weil es eben nicht der Regel entspricht.
Auf der Suche nach einer Agentur habe ich oft zu hören bekommen, dass
man ja schon eine ›farbige‹ Schauspielerin unter Vertrag habe und sich
daher keine weitere leisten könne. Es sei schon schwer genug, diese eine
unterzubringen, auch wenn die betreffende Kollegin und ich uns in unseren
Ausdrucksmöglichkeiten vehement unterscheiden. Diese Aussage
verdeutlicht sowohl auf sehr einfache Weise, wie unreflektiert
fremdbestimmte Begriffe übernommen werden, als auch die Tatsache,
automatisch von weißen Besetzungen auszugehen.
Sehr beliebt bei weißen Autoren ist ebenfalls die literarische Darstellung
von Schwarzen, in denen diese einerseits das Wohlwollende und das Böse,
andererseits das Spirituelle und das lüstern Sinnliche symbolisieren. Mit
dieser Konzentration auf ›das Fremde‹, ›das Andere‹ umgeht der Autor die
Auseinandersetzung mit historisch verinnerlichten Rassismen und überträgt
selbstverständlich den Gebrauch von Schwarzen Bildern auf Schwarze
Menschen. Die kritische Hinterfragung der dabei entstehenden
Assoziationen werden häufig mit persönlichen Schutzhaltungen und
Rechtfertigungsstrategien kompensiert. Auf ähnliche Weise sind
rassistische Begrifflichkeiten wie z.B. ›Neger‹ und ›Mischling‹ vorbehaltlos
in den Sprachgebrauch eingebunden und werden nicht auf ihren Sinngehalt
im literarischen Kontext überprüft.
In dem 1998 uraufgeführten Stück Hechinger von Christian Schröder[3]
etwa bezeichnet der Sohn eines Deutschen und einer Afrikanerin seine
Mutter als ›Negerin‹ völlig herausgelöst aus dem faktischen Kontext. Die
Szene beschreibt folgende Situation: der in Afrika (das Land wird
interessanterweise nicht genannt) sozialisierte Jugendliche, der mit seinen
Eltern in eine süddeutsche Kleinstadt gezogen ist, verbietet seiner Mutter,
der ›Negerin‹, die Tür zu öffnen, vor der seine weißen Mitschülerinnen auf
ihn warten. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Anrede an die Mutter
bewusst verletzend gemeint ist, beinhaltet die Spielsituation folglich auch,
dass sie ihrerseits dementsprechend darauf reagiert, nämlich mit einer
Ohrfeige.[4] Ein Kind, das in einem afrikanischen Land aufgewachsen ist,
würde seine Mutter niemals als ›Negerin‹ bezeichnen, weil derartige
kolonial-rassistische Begriffe in dortigen Sprachkontexten für
Familienangehörige keine Verwendung finden.
Die Regie wollte sich in dem Zusammenhang weder mit literarischen
Inhalten, noch mit meinem Spielangebot auseinandersetzen und hat mir die
Ohrfeige einfach verboten. Diese Reaktion wird weder dem Autor, noch der
Authentizität der zu spielenden Figur gerecht, sondern transportiert
lediglich, wie leichtfertig eine Spielsituation ad absurdum geführt werden
kann. Sprechtheater und deren Regie gibt sich also nur dann mit Sprache
ab, wenn sie deren Wertung als wichtig genug erachtet. Daraus folgt, dass
das Publikum den Umgang mit diskriminierender Sprache ebenfalls als
gegeben hinnimmt.
Mir ist es an deutschen Theatern selten begegnet, dass die Besetzungen
der Stücke dem eigentlichen Sinne der Schauspielerei Rechnung tragen,
dass demnach Schwarze SchauspielerInnen, unabhängig von Bewertung ein
Anrecht auf alle Rollen - auch auf die nicht eindeutig markierten – haben
und dafür eingesetzt werden. Und zwar aufgrund ihres Talentes und ihres
Könnens, weil sie interessante und vielseitige SchauspielerInnen sind, und
nicht aufgrund ihrer äußeren Merkmale und mit dem Hintergedanken
versehen, dass sich über die Hautfarbe etwas ganz bestimmtes erzählen
lässt.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Vorsprechen, das ich
an einer namhaften Bühne Hamburgs hatte. Dort liefen mir in der
hauseigenen Kantine mehrere Schwarze Schauspielerinnen afrikanisch-
deutscher bzw. arabisch-deutscher Herkunft über den Weg, die alle für die
Besetzung der Hauptrolle in ein und dem selben Stück erschienen waren:
Die schöne Fremde von Klaus Pohl. Es wirkte schon recht befremdlich auf
mich, wie wir da alle auf unseren Auftritt warteten, vielleicht, weil mir das
erste Mal so richtig bewusst wurde, dass wir vornehmlich für Schwarze
Rollen eingesetzt werden. Durch diese Tatsache eingeschränkt, bietet sich
zwar augenscheinlich einerseits die Möglichkeit, das Klischee der
›Schwarzen Frau‹ zu durchbrechen, andererseits sind wir jedoch
gezwungen, theatrale Übersetzungen für eine Überlebensstrategie zu finden,
die uns unsere Realität aufgrund rassistischer Erfahrungen tatsächlich
abverlangt. Das heißt im Klartext, dass wir die ganze Arbeit machen
müssen! Außerdem stehen Schwarze Schauspielerinnen durch solche
spezifischen Besetzungen unter ungeheurem Konkurrenzdruck, weil es
unter dem funktionalisierten, auf Wirkung abzielenden Aspekt viel zu
wenige Rollen gibt.

DÄMONISIERUNG UND ROMANTISIERUNG


Wie so oft findet in der Anlage von Schwarzen Charakteren eine
Romantisierung und/oder Dämonisierung statt, die den traditionell
nützlichen Konstrukten des Schwarzseins dient und die Vorstellung von
exzessiver, grenzenloser Hingabe, Anarchie oder Routine-Furcht stimuliert.
[5] Meine Beobachtungen am Theater haben mich gelehrt, dass es den
Schwarzen SchauspielerInnen bevorzugt Klischeerollen zugesteht, weil sie
Eigenschaften bedienen, die man Schwarzen Menschen zuordnet, damit sie
die gewünschte Funktion im Stück erfüllen. Ich möchte das anhand eigener
Berufserfahrungen erläutern, so zum Beispiel mit der Figur der Juliette aus
Mephisto von Klaus Mann[6] in der Theaterversion von Ariane
Mnouchkine und mit der Figur der Tituba aus Hexenjagd von Arthur Miller.
[7]
Mephisto, 1936 vom homosexuellen Schriftsteller Klaus Mann im
Amsterdamer Exil geschrieben und in den siebziger Jahren von Ariane
Mnouchkine für das Théâtre du Soleil zum Theaterstück formuliert, war
einer der ersten deutschen Romane, der sich in mehrfacher Hinsicht kritisch
mit den Zuständen im ›Dritten Reich‹ auseinander setzte. Dessen
Hauptfigur, den zynisch rücksichtslosen und zugleich brillianten
Schauspieler Hendrik Höfgen, verbindet eine leidenschaftliche Affäre zu
der afro-deutschen Tänzerin Juliette Martens, die er seiner Umwelt
gegenüber geheim hält. Aufgrund seiner ›Mitläufernatur‹ bringt er es unter
den Nationalsozialisten zum Staatsrat und Generalintendanten. Im Verlauf
der sich zuspitzenden politischen Situation in Deutschland, die die
Verfolgung und Ermordung von Juden, Schwarzen Menschen,
Homosexuellen und politischen Oppositionellen beinhaltet, verleumdet und
verjagt er seine Freundin schließlich, um die eigene Theaterkarriere nicht
aufs Spiel zu setzen. Der Fassung von Ariane Mnouchkine liegt ein erboster
Brief Manns an einen Westberliner Verleger als Ausgangspunkt für die
dramatische Bearbeitung des Stoffes zugrunde, die 1979 in der Cartoucherie
de Vincennes uraufgeführt wurde. Des Weiteren erhielt die
Literaturverfilmung des ungarischen Regisseurs István Szabó internationale
Popularität und Anerkennung. Karin Boyd, afroamerikanisch-deutsche
Schauspielerin aus Ostberlin, spielte an der Seite von Klaus Maria
Brandauer die Rolle der Filmgeliebten.

JULIETTE, DIE ›VULKANISCHE‹, SINNBILD ANIMALISCHER LUST


Nicht nur in den Medien des 21. Jahrhunderts, sondern auch im oben
genannten Roman wird mit dem erotischen Klischee der ›heißen
Schwarzen‹ gearbeitet. Heutige Beispiele könnten sein: Grace Jones als
Schwarze Pantherin, lasziv an die Kühlerhaube eines Autos geschmiegt
oder Li’l Kim mit dem Image einer ›Gangstabitch‹, was bedeutet hart,
unerbittlich und sexy zu sein.
Der Autor Klaus Mann führt Juliette als eine bizarr anmutende Exotin
ein. Er kreiert ein Objekt aus einer bohémehaften Halbwelt, deren Stereotyp
sich mit frühen Berichten von Afrikareisenden deckt.
In ihrem Gesicht, das von den beweglichen grausamen und gescheiten Augen und von den
blitzenden Zähnen beherrscht war, bemerkte man zunächst gar nicht die Nase; […] sie wirkte
nicht wie eine Erhöhung inmitten der wüsten und auf eine schlimme Art attraktiven Maske; eher
wie eine Vertiefung. Für Juliettes höchst barbarisches Haupt hätte man sich als Hintergrund eine
Urwaldlandschaft gewünscht […] Es war keineswegs die krause, schwarze Mähne, die man zu
dieser Stirne, diesen Lippen passend gefunden hätte […]
Durfte man ihren Angaben Glauben schenken, so war ihre Mutter […] von rein fürstlichem Blute
gewesen: Tochter eines veritablen […] und leider in relativ zartem Alter von seinen Feinden
verspeisten Negerkönigs.[8]

Juliettes Hauptbeschäftigung besteht allerdings darin, die sexuellen und


unterwürfigen Phantasien Hendrik Höfgens zu befriedigen. Während des
allwöchentlich stattfindenden Tanzunterrichtes, den sie ihm gibt, spielt sie
zunächst für ihn die Domina: »[…] über den starken, brutal geformten
Backenknochen lag das künstliche Hellrot wie ein hektischer Schimmer
[…]«
Das eleganteste Stück ihrer Ausstattung war die Reitpeitsche - ein
Geschenk Hendriks »[…] ›Wie oft soll ich dich noch warnen, mein Süßer?‹
fragte sie tückisch-leise, um dann in unvermitteltem Zorne loszubrechen:
›Es ist genug!! Ich habe es satt! Gib mir deine Pfoten!‹«[9]
Sowohl ihrer unbeherrschten Art, als auch ihrer Vorliebe für alkoholische
Getränke ist es zu verdanken, dass sie die Anstellung in einem Tanzlokal
auf St. Pauli verliert und gezwungen ist auf den Strich zu gehen. »Welche
Beschäftigung kam in Frage, wenn nicht die des abendlichen Spaziergangs
auf der Reeperbahn […]? Ihr schöner, dunkler Körper […] war wahrhaftig
nicht das schlechteste Stück von diesem ungeheuren Ausverkauf der Leiber
[…].«[10]
Beim Lesen des Romans fällt auf, wie ›leichtfertig‹ Klaus Mann der
Afro-Deutschen das Image der Hure zuordnet, so als gäbe es keine anderen
Alternativen. In den nun folgenden Beschreibungen gibt Juliette das
verruchte, sexuell zu allen Spielarten fähige Schwarze Kätzchen, das falls
gewünscht, ohne mit der Wimper zu zucken, zu einem reißenden Panther
werden soll und – darf. »Dabei fletschte sie die beiden Reihen ihrer gar zu
weißen Zähne und bewegte grimmig die Augen […].«[11]
Auffällig finde ich, dass die offensichtliche Reduzierung Juliettes auf
›das sexuelle Spielzeug‹, ebenso wie die Selbstverständlichkeit aller
Schwarz-Weiß-Tradierung hingenommen wird, mit dem Argument, dass es
sich dabei um die Imagination des Autors handelt, wodurch diese scheinbar
ihre Legitimation erhält. Ergo schwankt der Leser zwischen Faszination und
Abscheu, dank Klaus Manns Passagen, in denen die Tänzerin mit
akribischer Genauigkeit in ihrer ›dunklen und geheimnisvollen
Andersartigkeit‹ beschrieben wird.
»Ihr Gesicht stand vor ihm wie die schreckliche Maske eines fremden
Gottes: Dieser thront mitten im Urwald, […] und was er fordert […], das
sind Menschenopfer.«[12] Gegen diese Faszination gibt es vordergründig
betrachtet erst einmal nichts zu sagen, denn wo Licht ist, ist auch Schatten,
doch die hier beschriebenen Lichtverhältnisse sind nicht ausbalanciert, und
eine derartige Stilisierung hat zur Folge, dass die SpielerInnen ›Schwarze
Bilder‹ ausgleichen müssen, für die sie nicht verantwortlich sind, um ihrer
eigenen Vorstellung Gestalt zu geben.
Fast alles, was wir über Juliette erfahren, erzählt sich über die
Hauptfigur Hendrik Höfgen, indem Klaus Mann dessen Verhältnis zu ihr
beschreibt. Das heißt, wir erhalten Informationen aus einer rein weißen
Perspektive, die sich privilegiert genug fühlt, unachtsam mit persönlichen
Vorstellungswelten herum zu jonglieren. Dadurch verdirbt sich die Sicht auf
die freie Entfaltung eines Schwarzen Charakters und macht den Zugang zu
einer Schwarzen Perspektive unmöglich, indem die Vorstellungskraft sich
selbst im Weg steht.
Einerseits entwirft der Schriftsteller ein für die damalige Zeit
unbequemes Frauenbild einer authentischen, selbstbewussten
Gegenspielerin Höfgens, die augenscheinlich Macht über ihn hat, weil er
ihr hörig ist. Andererseits ist jedoch real, dass sie diese Macht gar nicht
haben kann in einer Gesellschaft, die ein Konstrukt verinnerlicht hat, das
Schwarzen genau den Platz zuweist, den sie für sie vorgesehen hat. Das
Konstrukt legt bestimmte Symboliken und Fremddefinitionen fest. Das
Argument, man sei an den Umgang mit Schwarzen Menschen eben nicht
gewöhnt gewesen und in weiten Teilen auf seine Phantasie angewiesen,
habe ich während meiner Arbeit oft gehört. Aber ist diese Haltung jedoch
nicht eher auf die unzulängliche Aufarbeitung und/oder Unkenntnis
deutscher Geschichte zurück zu führen und rechtfertigt sie deshalb das
kreatürliche Bild der Schwarzen Geliebten in Klaus Manns Roman?
Die Tänzerin hinterfragt und benennt mehrfach ihre Position. Sie wagt
es, Prestige gegenüber unbestechlich, seine Lebenslüge in
zwischenmenschlicher und politischer Hinsicht in Frage zu stellen. »Du
hast niemals irgend etwas ernst genommen, […]. Nichts, nichts, gar nichts
auf dieser Welt, außer deiner dreckigen Karriere!«[13]
Zu einem schonungslosen Lebenswandel gezwungen, um in den
Dreißiger Jahren überhaupt existieren zu können, hat Juliette außer ihrem
Leben nichts zu verlieren. Sie fordert von dem Schauspieler, dass er in der
Öffentlichkeit zu ihr steht und sein Versprechen, sie nach Berlin zu holen,
einlöst. Obwohl Höfgen ihr gegenüber immer wieder beteuert wie sehr er
sie liebt, »Ich werde dich immer lieben, »[…]. Du bist stark. Du bist rein«,
[14] verbietet er Juliette, dass sie sich in seiner Nähe zeigt, geschweige
denn unverhofft im Theater auftaucht. Seine ›schwarze Venus‹ soll jederzeit
greifbar und verfügbar sein; Phantasien bedienen, die er mit Afrika
verbindet, dabei jedoch niemals Forderungen stellen. »Er erwartet von ihr,
dass sie immer grausam und guter Dinge sei. […]. Für ihn ist Prinzessin
Tebab die verführerische Barbarin, die schöne Wilde, an deren
ungebrochener Kraft er sich erfrischt, indem er sich vor ihr erniedrigt.«[15]
In diesem missbräuchlichen Verhältnis entzündet sich der Schauspieler
an ihrer Energie wie ein Vampir und betrachtet sie als sinnliches
Lustzentrum, Mutter und Ernährerin in Einem. Die Schwarze Frau ist in der
Position aus einer unergründlichen Kraftreserve heraus zu schöpfen, und
nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das des weißen Geliebten zu
verantworten. Der Druck aller Ebenen ist nicht mehr zu bewältigen: die
Verfolgung der Nationalsozialisten, in ständiger Lebensgefahr zu sein und
als Afrikanisch-Deutsche ohne Familienanbindung zu einer kleinen
Minderheit zu gehören, was sie innerhalb der weißen Gesellschaft komplett
isoliert. – Warum lässt sie sich so benutzen? –
Im Gegensatz zu Höfgen, der bereit ist, Menschen, politische
Überzeugungen und moralische Wertvorstellungen für seine Karriere zu
verraten, und darin auch erfolgreich ist, besteht für Juliette keine
Alternative, sich über einen künstlerischen Ausdruck zu definieren. Sie
wird weder eine Chance als angesehene Tänzerin, noch als akzeptiertes
Mitlied der Gesellschaft erhalten. Ihr Erfolgsgeheimnis besteht im
Überleben. Fehlende Identifikations- und Rückzugsmöglichkeiten in eine
familiäre Gemeinschaft und der Verlust einer kulturellen Identität haben zur
Folge, dass Juliette Martens sich aufgibt. Die Möglichkeit, sich unsichtbar
zu machen, entfällt ebenfalls. Es entsteht ein Paradoxon von Verleumdung
ihrer Schwarzen Realität und einem unaufhaltsamen Kampfgeist
destruktiver Energie. Der Vorstoß nach vorne beginnt, gesehen werden um
jeden Preis. Die Übernahme weißer Fremdbestimmung ist die einzige
Chance, zu sich selbst zu kommen. Indem sie sich dem anpasst, was man
ihr zuschreibt, entsteht das Vakuum eines Freiraumes, der nur ihr gehört:
ihre eigene Phantasie.
Dieser schmale Grad der Schizophrenie, gepaart mit Schmerz und
Enttäuschung, äußert sich in realitätsfremden Tagträumen, Selbstaufgabe
und Todessehnsucht. »Sie würde nach Afrika zurückkehren, […] die
Königin und kriegerische Fürstin aller Schwarzen werden – um ihr Volk
zum großen Aufstand, zum großen Krieg nach Europa zu führen.«[16]
Das letzte heimliche Treffen zwischen Juliette Martens und Hendrik
Höfgen findet im Roman in einem Café statt, während Mnouchkine die
letzte Auseinandersetzung der beiden in ein Berliner Theater verlegt: mit
dem unvorhergesehenen Auftauchen der Schwarzen Geliebten im Theater
wird ein Tabu berührt und die Not beider spannender erzählt. Auch Höfgens
Ängste sind in diesem Zusammenhang nachvollziehbar, halten ihn jedoch
nicht davon ab, ›über Leichen zu gehen‹. Nachdem er sie verhöhnt hat,
schiebt er seine ›Gespielin‹ ab nach Paris.
Dieser dramaturgische Höhepunkt wird im Theaterstück von
Mnouchkine klar formuliert und bringt einen sehr entscheidenden Aspekt
ins Spiel, der vielen Afro-Deutschen auch in der heutigen Zeit noch oft
abgesprochen wird. Nämlich die Tatsache, dass wir Deutsche sind, dass
nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg afro-europäische Geschichte
geschrieben wird, und nicht zuletzt, dass Deutschland unser Heimatland ist.
»Ich scheiß’ aber auf Paris! Ich kann kein Wort dieser Hurensprache! Mein
Vater war immerhin Deutscher. Ich fühle mich als Deutsche!«[17] Als ich
die Rolle spielte, wandelte ich den letzten Satz in »Ich bin Deutsche« um.
Vom Sinngehalt ist der Text in der Roman- und Theaterfassung
identisch. Doch im Gegensatz zum prosaischen Gesamtbild beschränkt sich
das Verhältnis der beiden Akteure in der Bühnenversion auf zwei kompakte
Szenen, in denen Juliette wenig Spielraum bleibt, ihre verschiedenen
Facetten zu zeigen. Sie bedient zum Beispiel in der Tanzszene
schwerpunktmäßig die Funktion der verruchten Schwarzen Domina, die
›feuchte Träume wahr werden lässt‹. Ihre zarten Momente, ihre
Widersprüche, die existentiellen Hintergründe und der Verrat des weißen
Schauspielers sind mit den minimalistischen Satzinhalten eigentlich nicht
spielbar. Die Komplexität der Liebesbeziehung wird im Theaterstück
lediglich angedeutet und hat für den Verlauf der Geschichte eine
nebensächliche Bedeutung. Auch in oben genannter Szene ›Im Berliner
Theater‹ wird nur sehr ungenügend klar, welche Konsequenzen sich
zwischenmenschlich und politisch für die afro-deutsche Frau tatsächlich
daraus ergeben. – Schwarze Menschen wurden im Dritten Reich
zwangssterilisiert, für medizinische Versuchszwecke missbraucht oder
umgebracht. – Hier schickt man sie einfach weg und sie geht, weil sie weiß,
dass sie sowieso keine andere Wahl hat. Zwei Fliegen mit einer Klappe
geschlagen: die Frau ist raus aus Höfgens Leben und raus aus dem Stück.
Sie kann also niemandem mehr gefährlich werden. Meiner Ansicht nach
wird der Figur eine durchgängige und tiefgründigere Darstellung
verweigert.
Durch die fehlenden Zwischenpassagen, die zumindest die
Vorstellungskraft in Bezug auf Juliettes Empfindungen anregen, war ich
gezwungen, die Figur der Schwarzen Tänzerin über situative
Momentaufnahmen zu gestalten, - das heißt die Schauspielerin spielt
ausschließlich die Situation und nicht die Entwicklung einer Figur, was sie
hier auf ›Sex und Verbannung‹ reduziert. Selbstverständlich gibt es kleinere
Rollen und Auftritte, die nur die jeweilige Situation erzählen, doch es war
nie mein Ziel, mit einem Bühnencharakter eine Funktion im Stück zu
erfüllen. Mein Bewusstsein und meine Erfahrungen als Schwarze Frau
schlossen und schließen die Möglichkeit aus, diese Figur so unbedarft und
unreflektiert dar zu stellen, wie es ironischerweise in manchen Fällen am
Theater gewünscht wird.
Die Rolle der Tänzerin hat mir vor Augen geführt, in welchen
Klischeevorstellungen uns weiße Menschen gerne sehen und wie viel Kraft
es kostet, uns von dem Bild der unkontrolliert emotionalen, ungezügelten,
sich sexy gebärdenden Schwarzen Frau zu lösen. Juliette konfrontierte mich
mit Emotionen, bei denen ich im realen Leben die Wahl hatte, wem ich sie
zeigen wollte. Auf der Bühne war sie einfach zu nah an mir dran. In jener
Zeit saß ich noch dem naiven Glauben auf, eines Tages allen Zweiflern zum
Trotz als marokkanisch-deutsche Schauspielerin in die Geschichte
einzugehen und jedem, der es bis dahin noch nicht wusste, zu zeigen, wie
viel wir als Schwarze Menschen zu sagen hatten. Hätte ich erst einmal die
anfängliche Durststrecke überwunden, und dazu gehörten auch so genannte
Schwarze Rollen, würde ich sie alle spielen: das Gretchen, die Julia, die
Hedda.
Als ich für die Juliette vorgesprochen hatte, fragte mich der Regisseur,
ob ich auch bereit wäre, mich dunkler schminken zu lassen. Ich verneinte
entschieden und sagte ihm, er solle sich doch überlegen, ob er tatsächlich
mit mir arbeiten wolle. Ich sei nun einmal die, die ich bin und würde mich
nicht über meine Hautfarbe, sondern über mein Sein definieren. – Damit ist
gemeint, dass ich aufgrund meiner Schwarzen Lebensrealität, meiner
Haltung und Erfahrungen genau zu dem Menschen geworden bin, den er
offensichtlich sucht. Entweder er akzeptiere diese Tatsache und oder er
müsse sich jemanden anderen (zurecht) schminken.
Schlussendlich entschied sich der Regisseur für mich und wir konnten
während der Proben konstruktiv miteinander arbeiten. Wenn ich mich heute
an den Vorfall erinnere und mich frage, welch versalzenes Süppchen, das ja
bereits von May Ayim so treffend provoziert wurde, er wohl gerade löffelte,
wird mir auch bewusst, welche Überzeugungsarbeit wir im Vorfeld schon
zu leisten haben, bevor die eigentliche Arbeit beginnt.

TITUBA, DIE ›SPIRITUELLE‹, SINNBILD DES BÖSEN


In wesentlich stärkerem Maße findet die Beschneidung einer Rolle in
Hexenjagd von Arthur Miller statt. Mit The Crucible dramatisiert der Autor
die Salemer Hexenprozesse von 1692, in denen insgesamt neunzehn
Menschen unschuldig gehängt wurden. Das Drama handelt zwar
vordergründig von jener historischen Begebenheit, polemisiert jedoch
indirekt gegen die damals aktuellen Ermittlungen des Komitees gegen
›unamerikanische Umtriebe‹ (House Committe on Un-American Activities)
unter der Leitung von Senator McCarthy, vor dem sich auch Miller
verantworten musste. 1956 weigerte er sich, seine Verbindungen und
Sympathien für die Kommunistische Partei zuzugeben. In Hexenjagd wird
eine Gesellschaft vorgeführt, die sich nicht um Aufklärung bemüht, sondern
in der die Meinung der Mehrheit zur Wahrheit stilisiert wird und nicht wahr
ist, was nicht wahr sein darf.
Tituba lebt in Salem, einer kleinen Stadt in der Nähe von Boston, bei
dem fanatischen Puritaner Samuel Parris. Neben allen anfallenden
Hausarbeiten ist sie auch für die Betreuung zweier Kinder, der Tochter
Betty Parris und der Nichte des Pfarrers Abigail Williams zuständig. Neben
der bigotten Strenge und der körperlichen Brutalität, (der Priester schlägt
›jeden‹, der ihm unter die Finger kommt), sind Titubas phantasievoll
erzählte Geschichten, die von den Mädchen begeistert aufgenommen
werden, eine willkommene Abwechslung.
Eines Tages nehmen die Dinge eine verhängnisvolle Wendung. Betty,
ihre Cousine Abigail und andere pubertierende Teenager denunzieren
Tituba und weitere Bewohner als Hexen und Ketzer. Da Tituba schon allein
aufgrund ihrer Hautfarbe mit dem Bösen in Verbindung gebracht wird, und
damit für den Einzug Satans in Seele und Körper der Kinder verantwortlich
gemacht wird, entfesselt sich alsbald eine Massenhysterie, die mit den
berüchtigten Hexenprozessen von Salem in die Geschichte eingeht.[18] Ihr
und vielen anderen unschuldigen Menschen wird der Prozess gemacht.
In Maryse Condés Roman Ich, Tituba, die Schwarze Hexe von Salem[19]
finden wir ein spannendes Nachschlagewerk über den Werdegang von
Tituba, in dem die Autorin die Entwicklung der Hexenprozesse aus der
Sicht der Titelheldin beschreibt.
Tituba wird als Tochter einer Aschanti[20] und eines weißen Pflanzers
geboren. »Abena, meine Mutter, wurde an einem Tag des Jahres 16** auf
der Brücke der Christ the King vergewaltigt, als das Schiff zur Insel
Barbados segelte. Dieser feindseligen Handlung verdanke ich mein
Leben.«[21] Nach dem Tod ihrer Mutter (sie wurde gehängt, weil sie einen
Weißen geschlagen hatte; das sechsjährige Mädchen musste bei der
Hinrichtung dabei sein) wurde sie von einer alten Frau namens Man Yaya
aufgenommen und in die okkulte Heilkunst eingeführt. »Man Yaya lehrte
mich die Pflanzen kennen. […] Sie lehrte mich, dass alles lebt, alles eine
Seele hat, einen Atem. Dass man alles achten muss.« Tituba lernt zu heilen,
aber auch Verderben heraufzubeschwören; außerdem kann sie mit den
Seelen der Toten verkehren. »Die Toten sterben erst, wenn sie in unserem
Herzen sterben. […] Man Yaya lehrte mich die Gebete, die Litaneien, die
versöhnenden Gesten.«[22]
Nachdem das Anwesen des Plantagenpächters, zu dessen ›Besitz‹ sie
gehört hatte, verkauft wurde und dieser nach England zurückkehrte, war
Tituba in der glücklichen Lage, sich eine eigene Hütte am Fluss Ormonde
zu errichten. Dort lebte sie nach Man Yayas Tod allein und zurückgezogen
und widmete sich ganz der Vervollkommnung ihrer Heilkunst. Schon früh
haftet ihr der Ruf an, etwas Besonderes zu sein, wird sie mit dem Begriff
›Hexe‹ in Verbindung gebracht.
»Mir wurde bewusst, dass das Wort […] durch Schande befleckt wurde. […] Die Gabe mit den
Unsichtbaren in Verbindung zu treten, eine ständige Verbindung zu den Verstorbenen
aufrechtzuerhalten, zu pflegen, zu heilen, ist das nicht ein wertvolles Geschenk der Natur, das
Respekt, Bewunderung und Dankbarkeit einflößen müsste?«[23]

Im Alter von ca. vierzehn Jahren heiratet sie John Indien, den Sohn eines
Arawaks[24] und einer Nago[25] und wird mit ihm gemeinsam nach Salem,
an den fanatischen Puritaner Samuel Parris verkauft. ›Sünde‹, ›Böses‹,
›Satan‹ und ›Dämon‹ sind immer wiederkehrende Begrifflichkeiten, mit
denen alle im Hause Parris’ Lebende konfrontiert werden. Sinnliche
Vergnügungen jeglicher Art, wie zum Beispiel Spaziergänge am Meer,
tanzen oder das Lösen der starren Kopfhauben, war den Kindern strengstens
untersagt.
Man stellte sich vor, dass die Unterdrückung des Geschlechtlichen, die Gleichsetzung des
Sinnlichen mit dem Teufel, wie sie sich seit dem Puritanismus immer mehr ausbreiteten, in den
allgemein als ›Teufelsdienerinnen‹ verdächtigten Frauen eine Fülle von erotisch-sexuellen
Wunschträumen erzeugten.[26]

Das Buch von Maryse Condé ist in zwei Teile gegliedert und enthält eine
Fülle von komplexen Themenbereichen, die alle zu dem Gesamtbild Tituba
beitragen. Teil I setzt sich mit ihrer Kindheit und Jugend auf Barbados
auseinander und beschreibt detailliert ihren kulturellen Hintergrund. Teil II
erzählt unter anderem von den Ereignissen in Salem, ihrer Heimkehr und
ihrem Leben unter Rebellen zur Zeit des Sklavenaufstands, das die Geburt
eines Sohnes nach sich zog. Titubas ausgeprägte Spiritualität, die ihr oft das
Leben rettete, verbunden mit Würde und Stolz, haben mich am meisten
fasziniert. Ohne die ›lebendige‹ Verbindung zu den Seelen ihrer Ahnen und
der Ausübung ihrer Heilkünste wäre es ihr nicht möglich gewesen,
Sklaverei, Entwurzelung und den Verlust sämtlicher Bezugspersonen zu
verkraften. Ihre unabweichliche Authentizität und ihre klare Haltung all
dem gegenüber, an das sie glaubte, trugen ebenso dazu bei. Tituba war
keine Frau, die ihren ›Herren‹ nach dem Mund geredet oder ihre Seele
verkauft hat (im Gegensatz zu ihrem Mann). ›Schwarze Leibeigene‹ waren
nicht nur, wie oft fälschlicherweise angenommen, von der Willkür des
›Sklavenhalters‹ abhängig, sondern verdankten ihr Überleben in
verstärktem Maße ihrem eigenen Lebenswillen und ihrer Selbstliebe.
Eigenschaften, die bei Tituba ihre Entsprechung fanden. Die praktische
Anwendung von Ritualen zum eigenen Schutz und die Zwiesprache zu
Seelenverwandten – tot oder lebendig – spielten dabei eine
überlebenswichtige Rolle. Schwarze Menschen haben von jeher
Möglichkeiten gefunden, sich für oder gegen das Leben zu entscheiden.
Wenn es sein musste durch regressive Methoden wie den Freitod oder
überlieferte Rezepte von Mixturen, die unfruchtbar machten. Dadurch
sicherten sich die ›Sklaven‹ ihre eigene Autonomie und lösten ihre
Ohnmacht auf, indem sie den Machthabern etwas entgegensetzten.
Im Roman tötet Tituba ihr Kind. »Für eine Sklavin bedeutet die
Mutterschaft kein Glück. […] Während meiner ganzen Kindheit hatte ich
gesehen, wie die Sklaven ihre Neugeborenen töteten, indem sie ihnen einen
langen Stachel in die noch weiche Hirnschale bohrten […].«[27] Kleine
Kinder gingen nach ihrer Geburt automatisch in den Besitz des jeweiligen
Plantagenbesitzers über, spätestens jedoch sobald sie arbeitsfähig waren,
und wurden der Pflege der Mutter brutal entrissen. Ergo sahen jene
Schwarze Frauen den ›Kindsmord‹ als einzige Möglichkeit an, ihre
Nachkommen vor Knechtschaft und Vergewaltigung zu bewahren.
Geprägt durch das gespaltene Verhältnis, das ihre Mutter Abena zu deren
Lebzeiten mit Tituba verband – wie eingangs erwähnt war Tituba das
›Produkt‹ einer Vergewaltigung –, ist auch die vermeintlich tragische
Entscheidung seine Säuglinge zu töten, eine Form von weiblicher
Selbstbestimmung.
Des Weiteren verkörpert Tituba ein Lustprinzip, das in enger Verbindung
zu ihrer Spiritualität steht und wichtiger Bestandteil ihres Daseins ist.
»Flügel waren mir an den Füßen gewachsen. Meine Hüften und meine
Taille waren geschmeidig. Eine seltsame Schlange beherrschte meinen
Körper.«[28] Allen Warnungen Man Yayas und ihrer Mutter zum Trotz
verliebt sie sich in John Indien und fühlt sich das erste Mal von einem
Mann sexuell so angezogen, dass sie sich ihm und ihrer Lust nicht
entziehen kann. Tituba ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt, nach
dortigem Maßstab eine erwachsene Frau. Sie konzentriert sich mit ganzer
Kraft darauf, ihn zu erobern und wartet nicht darauf, erobert zu werden. Die
Schwarze Hexe teilt im Verlauf ihres aufreibenden Lebens mit einigen
Männern ihr Bett, wenngleich John Indien ihre ›große Liebe‹ bleibt. Sie
liebt Sex, übt ihn oft und gerne und bis ins hohe Alter aus. »Was gibt es
Schöneres als den Körper einer Frau! Vor allem wenn die Begierde eines
Mannes ihn adelt …«[29]
Indem Tituba ihre sexuelle Energie ausdrückt, erhöht sich für sie die
Möglichkeit, sich besser zu spüren und dadurch den Kontakt zu sich nicht
zu verlieren. Gelebte Lust als Bestandteil ihrer Überlebensstrategie. Durch
die genaue Kenntnis ihres Körpers und die Sensibilität darüber, was er
braucht, erhält sie sich eine Form von Unabhängigkeit und innerer Stärke,
die ihr dabei helfen, ihr eigenes Leben zu schützen. Der Zugang zur Natur
und die mit ›ihrer‹ Religion zusammenhängenden Riten und Gebräuche (in
Form von Gesängen, Gebeten, Gerichten) stehen dazu in Verbindung. Das
können die Reinigung eines Hauses mit bestimmten Kräutern sein, bevor
man es neu bezieht, oder das Schlachten eines Opfertieres, um einen
befriedigenden, erfolgreichen Kontakt zu den Seelen der Toten her zu
stellen. Die Bestimmung der Pflanzen, ihre Anwendung und Vorbeugung
bei Krankheit etc. ermöglichen ihr, sich ihre kulturelle Identität als
Schwarze Frau zu bewahren, das heißt: die zerstörerische Realität
auszuhalten und mit ihren Mitteln um zu gestalten. Sie entwickelt
anrührende Methoden, ihren Schmerz konstruktiv umzusetzen und schafft
sich so innere Bilder, um den Zugang zu ›ihrer Welt‹ nicht zu verlieren.
Gegen ihr verzehrendes Heimweh stellt sie sich zum Beispiel eine Schale
mit Wasser ans Fenster und schließt darin ihr Barbados ein.
»Wenn ich die Menschen auch schlecht erkennen konnte, so sah ich doch
die Hügel, die Hütten, die Zuckermühlen und die Ochsenkarren deutlich vor
mir.«[30] Den Umstand, dass Tituba im Haus bzw. für den Haushalt und die
Kinderbetreuung verantwortlich war, könnte sie unter anderem auch der
Tatsache zu verdanken haben, dass sie eine hellere Haut hatte als andere
Sklavinnen und damit der harten Feldarbeit im Freien entging.[31] So
genannten hellhäutigen Schwarzen Frauen wurden oftmals ›bessere‹
Lebensumstände ermöglicht als ›dunkleren‹ Schwarzen Frauen. Der
›Colorismusdiskurs‹, worunter die Bevorzugung oder die Benachteiligung
von Angehörigen der eigenen ›Rasse‹ nur aufgrund der Hautfarbe gemeint
ist, ist in den USA auch heute noch tief verhaftet.
Wie Juliette ist Tituba eine gebende Person mit einer ungemein hohen
emotionalen Kraft und einer ausgeprägten Leidensfähigkeit mit dem
Unterschied, dass es den Menschen um Tituba nicht gelungen ist, sie zu
brechen. – Und sie hätte ›weiß Gott‹ gute Gründe gehabt, dem Wahnsinn zu
verfallen. – Trotz all der Verluste, Enttäuschungen und Lebenskrisen, die
sie fortwährend erfährt – sie wird durch die Aussagen ihres Mannes schwer
belastet und verraten –, ist sie in der Lage Mitleid zu empfinden. Zu
pflegen, zu lieben. Endlos.
Auch wenn, wie Maryse Condé schreibt, der bewusste oder unbewusste
Rassismus der Historiker derart ausgeprägt war, dass ihr Werdegang nach
1693 nicht mehr genau nachvollzogen werden kann,[32] hat Tituba den
Wahnsinn nicht gelebt, sondern überlebt. In Condés Erzählung hat Tituba
im Gefängnis eine für sie einschneidende Begegnung mit Hester, einer
weißen Feministin, die wegen Ehebruchs verurteilt werden soll. In ihren
Unterhaltungen setzen sie sich mit Frauenthemen und ihren
unterschiedlichen Weltauffassungen auseinander. Daraus entwickelt sich
trotz ihrer Unterschiede eine enge Beziehung. Sie beratschlagen
gemeinsam, wie sich Tituba während ihres Prozesses verhalten und was sie
zu ihrer angeblichen ›Teufelsbeziehung‹ aussagen soll. Indem Tituba die
verqueren Teufelsphantasien der Ankläger bedient und den Eindruck
entstehen lässt, sie sei wahnsinnig geworden, rettet sie geschickt ihr Leben.
Arthur Miller erwähnt die Schwarze Hexe in zwei Szenen, dem
›Verhörprotokoll‹ und der ›Gefängnisszene‹.[33] In Anlehnung an das
englische Original spricht Tituba in der verwandten Übersetzung in
gebrochenem Deutsch, was ihr den Anschein einer ›leicht verblödeten‹
Schwarzen gibt. Ich hatte diesbezüglich während der Proben am Theater
große Mühe, den Regisseur davon zu überzeugen, diese Szenen auf
Hochdeutsch sprechen zu dürfen, um kein Stereotyp zu bedienen. Die
theatrale Niederschrift der Gefängnisszene enthält zwar eine gewisse
Komik, entspricht aber nicht im Entferntesten den inhaltlichen
Möglichkeiten. Der Autor reduziert eben genannte Szene auf einen
Minidialog zwischen Sarah Good, einer trinkfreudigen älteren Frau, und
einer cleveren, jedoch insgesamt wenig aussagekräftigen Tituba. Miller hat
in seinem Drama die Schwerpunkte auf die schwelende Entwicklung von
fanatischen Glaubensauswüchsen und deren Folgen gesetzt und das Ganze
mit ein bisschen Rassismusproblematik gewürzt.
Die Schwarze Hexe Tituba steht hier zwar für ein Paradebeispiel von
historisch verinnerlichtem Rassismus, wird jedoch meiner Meinung nach in
der Interpretation Millers bedauerlicherweise nach Belieben umgedeutet
und missbraucht.

VORAUSSETZUNGEN FÜR DAS ERSCHLIEßEN EINER ROLLE UND


VERUNSICHERUNG IN DER ARBEIT
Während der Entwicklung von Schwarzen Rollen des hier beschriebenen
Formats haben mir Regisseure oft nahe gelegt, mich von meinem
Hintergrundwissen und den Recherchen, die mir für die Darstellung der
Rolle wichtig waren, zu distanzieren. – Schließlich hieße das Theaterstück
ja nicht: Das Leben der ›Tituba Indien‹ – oder Die schwarze Frau stünde
für ein Symbol.
Die Oberflächlichkeit und Arroganz mit der Theaterverantwortliche in
diesem Moment meinen Einsatz als Schauspielerin bewerten und der daraus
resultierende Umgang mit dem Bühnencharakter, der anscheinend aufgrund
seines Umfangs nicht wichtig genug ist, verärgert und verunsichert mich
gleichermaßen. Sehe ich es doch als meine Verantwortung an, (m)eine
Rolle zu verteidigen und alle erdenklichen Möglichkeiten zu deren
Gestaltung aus zu schöpfen. Dazu gehört auch der Anspruch,
voreingenommene Haltungen in Frage zu stellen. Da ich davon ausgehe,
dass die Grundvoraussetzungen für die Erarbeitung von Rollen jenseits aller
Rassismen angesiedelt sind, werde ich natürlich immer bestrebt sein, jeden
Bühnencharakter historisch zu begründen und authentisch zu spielen. Bei
der Erarbeitung eines Schwarzen Charakters entsteht ein Konflikt, den ich
niemals losgelöst von meiner afro-deutschen Realität betrachten kann. An
diese Realität sind vielfältige Erfahrungen gebunden, die ich bereit bin,
ungehindert in meine Arbeit einzubringen und vor niemandem rechtfertigen
und auf ihre Echtheit hin überprüfen muss. Außerdem dienen sie der
Erarbeitung einer Rolle dahingehend, dass sie allen am Projekt Beteiligten
(Regie, Ensemble und den Zuschauern) eine neue Sicht auf diese
ermöglichen. Da diese Erfahrungen jedoch immer wieder negiert werden,
bin ich gezwungen mich innerhalb eines mir zugewiesenen ›Exotenstatus‹
zu definieren und abzugrenzen. In den meisten Fällen entsteht die
Einschätzung, ich sei empfindlich oder überreaktiv. Ganz zu schweigen
davon, dass die entstandene Grund- und Arbeitsatmosphäre sich negativ auf
die Konzentration der eigentlichen Aufgabe auswirkt: das Finden und
Gestalten der Figur.
Um sich einem Bühnencharakter voll und ganz zur Verfügung stellen zu
können, braucht ein/e SchauspielerIn Distanz, die vor allem deshalb so
wichtig ist, um bei der Erarbeitung von Rollenbiographien dem Spielen von
Plattitüden entgegenwirken zu können. Auch die Inanspruchnahme diverser
Dramaturgen, deren Aufgabe es meines Wissens ist, historische, kulturelle
und soziologische Zusammenhänge innerhalb eines Theaterstückes zu
erläutern, herzustellen und Schauspielern bei Fragen zur Seite zu stehen,
wurde in den meisten Fällen enttäuscht oder meine Anfragen wurden
verharmlost. Dieses Verhalten impliziert in meinen Augen nicht nur die
größtmögliche Ignoranz gegenüber meiner Arbeit und Rolle, sondern hat
zur Folge, dass ich doppelte Arbeit zu leisten habe und der Eindruck
entsteht, dass sich die Anzeichen ›rassischer Überlegenheit‹ und kultureller
Hegemonie nicht nur in der Literatur weiter fortsetzen. Die Ambivalenz, die
in dem Augenblick greift, in dem ich mehr mit mir als mit der Erarbeitung
einer Rolle beschäftigt bin, hat mich nicht nur erschöpft, sondern auch an
der Unvoreingenommenheit der Theater und deren Inhalten zweifeln lassen.
In den letzten zehn Jahren habe ich mich oft gefragt, welche
konzeptionelle bzw. persönliche Motivation bei den Theatermachern
dahinter steckt, sobald sie eine Schwarze Darstellerin einsetzen. Ist es
lediglich der Vorsatz bzw. die Verpflichtung einer Stückvorlage genüge zu
tun, stehen politische Ansätze dahinter oder können auch sie an der ›Multi-
Kulti-Gesellschaft‹ einfach nicht mehr vorbei sehen? Und vor allem:
welche Kriterien sind entscheidend, wenn wir tatsächlich für angeblich
nicht rassialisierte Rollen ausgewählt werden und welche Rollen sind das?
In einem vor kurzem aufgenommenen Interview des Westdeutschen
Rundfunks wurden drei meiner Schwarzen Kolleginnen zu ihren
Erfahrungen und Rollenbesetzungen befragt bezugnehmend auf eine
Schwarze Schauspielerin, die am Schauspiel Köln gerade mit der Barblin
aus Andorra von Max Frisch Premiere hatte. Alle drei Kolleginnen hatten
schon große Rollen gespielt, Ophelia, Lady Milford, Titania. Auf den ersten
Blick sind das drei wunderbare Frauengestalten der Weltliteratur, weder
klischeehaft markiert noch durch Hautfarbe eingeschränkt. Auffällig ist nur,
dass es sich bei jeder einzelnen Rolle entweder um ein Wesen der
›Unterwelt‹, der Anführerin der Geister und Elfen, um eine lustvolle
Intrigantin, die durch ihren Körpereinsatz ihren politischen Einfluss geltend
macht, oder um eine pubertierende junge Frau, die aufgrund unerwiderter
Liebe wahnsinnig wird, handelt.
Ist es Zufall oder Absicht, dass Schwarze Schauspielerinnen nicht mit
den so genannten Heldinnen des bürgerlichen Trauerspiels besetzt werden?
Mit einer Emilia Galotti, einer Stella, einer Maria Magdalena. Ohne Frage
weisen die erstgenannten Frauenrollen mehr Brüche, mehr Irrwitz, größere
Spannungsfelder auf, nicht desto trotz drängt sich die Vermutung auf, dass
Autoren und ›Regierende‹ ihre vorgefertigten Vorstellungswelten hehrer
Frauencharaktere auf die Darstellerinnen übertragen, weil sie davon
ausgehen, dass eine Schwarze Schauspielerin nicht diesem Bild entspricht
bzw. nicht in der Lage ist, diese Rollen ausfüllen zu können. »[…] also zum
Beispiel eine Luise in Kabale und Liebe könnte ich ja nicht spielen […]
weil das ist so ein deutsches Stück, das ist deutsche Kultur. Das erzählt ja
dann was ganz anderes.«[34]
Meine Vision ist, dass Regisseure daran interessiert sind, mich in meiner
Ganzheit zu betrachten, neugierig darauf sind, in der gemeinsamen Arbeit
etwas über meine schauspielerischen Qualitäten zu erfahren und der
Verantwortung, die Theater in meinen Augen immer noch hat – nämlich
neben einer individuell interpretierten Ästhetik, auch Inhalte zu vermitteln
–, gerecht wird. Wie aber soll das geschehen, so lange die Hautfarbe per se
als Statement angesehen wird, das sich mit vehementer Zielsicherheit an
Maßstäben orientiert, innerhalb deren Grenzen sich Hingabe und Phantasie
im eigentlichen Sinne niemals frei entfalten können. Leider werde ich das
Gefühl nicht los, dass durch die willkürliche Dynamik, die an vielen
deutschen Theatern herrscht, ein wichtiger Teil unserer beruflichen
Biographien verloren gegangen ist oder im Keim erstickt wurde. Trotz
allem wollte ich auf die Bühne und da bleibe ich vorerst auch. – Hör ich da
leise Zweifel? – Ja, bis zum nächsten Telefonklingeln, wenn das Tierchen
und mein Herz wieder zu mir sprechen.

BIBLIOGRAFIE
Bauer, Wolfgang et al: Lexikon der Symbole. München: Heyne, 1997
Condé, Maryse: Moi, Tituba, sorcière…Noire de Salem. Paris: Mercure de France, 1986
Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem. München: Droemer Knaur, 1988
Kemper, Hella: Kein Klischee wird ausgelassen. Schwarze Schauspielerinnen haben es nicht leicht
auf deutschen Bühnen, WDR 3, Mosaik am 8.9.2004.
Lange, Chris: Evatöchter wider Willen. Feministinnen und Religion, in: Ika Hügel et al: Entfernte
Verbindungen. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993, S. 95-109
Lausund, Ingrid: Hysterikon. Berlin: Henschel Verlag, 2001
Mann, Klaus: Mephisto. München: Heinrich Ellermann, 1980
Miller, Arthur: The Crucible. A Play in Four Acts. New York: Viking Press, 1953
Hexenjagd. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1987 (Erstveröffentlichung auf Deutsch 1958)
Mnouchkine, Ariane: Le roman d‘une carrière d‘après Klaus Mann. Edition Solin et Théâtre du
Soleil, 1979
Mephisto-Roman einer Karriere nach Klaus Mann. München: Heinrich Ellermann, 1980
Morrison, Toni: Im Dunkeln spielen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002
Schröder, Christian: Hechinger. Köln: Jussenhofer & Fischer, 1998

ANMERKUNGEN
1 Schwarz (wie folgt groß geschrieben) beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Hautfarbe,
sondern ist als Ausdruck der multikulturellen Herkunft zu sehen und schließt alle von Rassismus
betroffenen Minderheiten ein.
2 Vgl. Lausund: Hysterikon.
3 Vgl. Schröder: Hechinger.
4 Diese Option war ein Spielangebot und ist nicht als die einzig gültige anzusehen.
5 Vgl. Morrison: Im Dunkeln spielen, S. 13.
6 Vgl. Mann: Mephisto.
7 Vgl. Miller, Arthur: Hexenjagd; Ders.: The Crucible.
8 Mann: Mephisto, S. 64, 66.
9 Ebenda, 64, 67.
10 Ebenda, S. 66.
11 Ebenda, S. 69.
12 Ebenda.
13 Ebenda, S. 250.
14 Ebenda, S. 71.
15 Ebenda, S. 193.
16 Ebenda, S. 279.
17 Mnouchkine: Mephisto-Roman einer Karriere nach Klaus Mann, S. 94; vgl. auch: Dies.: Le
roman d‘une carrière d‘après Klaus Mann.
18 Vgl.: »›Das westliche Christentum versah bestimmte Farben mit einer Reihe von zusätzlichen
Bedeutungen, so dass es schließlich zu einem Farbsymbolismus gelangte, welcher den der
antiken Welt widerspiegelte.‹ […]. Die Zuordnung des Teufels zur Farbe Schwarz, ›wobei sie
[die frühen Christen, C.L.] an die dunklen Bewohner Äthiopiens als irdisches Ebenbild dachten‹
, und der Engel zur Farbe Weiß, das für die ›zukünftige Welt, die Reinheit der Auserwählten
steht‹ , erscheint heute noch selbstverständlich.« Lange: Evatöchter wider Willen, S. 98.
19 Vgl. Condé: Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem; Dies.: Moi, Tituba, sorcière… Noire de
Salem.
20 Ashanti, auch Asante, Gesellschaft, deren Sprecher der Akan-Sprachfamilie zuzuordnen sind.
Die heute mehr als zwei Millionen Ashanti leben vorwiegend in der Region Ashanti in Ghana.
Vgl. Incarta.
21 Condé: Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem, S. 9.
22 Ebenda, S. 21-22.
23 Ebenda, S. 34.
24 Arawak oder Aruak, eine der ursprünglich größten Sprachfamilien Südamerikas. »Sie
besiedelten Küstengebiete des heutigen Florida, die Antillen und die südamerikanische Küste bis
in den Süden Brasiliens. Die Arawak waren das erste indigene […] Volk, mit dem Christoph
Kolumbus in Amerika in Kontakt kam.« Encarta 2005.
25 Vgl. http://www.lexikon.mynetcologne.de/kapitel/n/nago.htm.
26 Bauer: Lexikon der Symbole, S. 248-249.
27 Conde, S. 88.
28 Ebenda, S. 33.
29 Ebenda, S. 76
30 Ebenda, S. 108.
31 Diese Annahme ist jedoch spekulativ und durch nichts bewiesen (Anm. N. Ch.).
32 Der Schwarzen Romanautorin Anne Petry zufolge wurde sie an einen Weber verkauft und starb
in Boston. »Eine vage Überlieferung besagt, dass sie an einen Sklavenhändler verkauft wurde,
der sie wieder nach Barbados brachte.« Condé, S. 284.
33 Die Originaldokumente dieses Prozesses werden in den Archiven der Grafschaft Essex
aufbewahrt. Eine Kopie davon befindet sich im Essex County Court House in Salem,
Massachusetts. Vgl. ebenda, S. 178.
34 Vgl. Radiosendung, WDR 3, Mosaik: Hella Kemper: Kein Klischee wird ausgelassen. Schwarze
Schauspielerinnen haben es nicht leicht auf deutschen Bühnen, am 8.9.2004.
SÉNOUVO AGBOTA ZINSOU
EIN FREMDER, WER’S GLAUBT!
KLISCHEES DA, WO MAN SIE AM WENIGSTEN
ERWARTEN WÜRDE

DIE SPIELREGELN
Wenn jemand darüber klagt, Opfer von Rassismus zu sein, erscheint es als
eine im ersten Hinblick einfache und dennoch nach gründlicherer Analyse
komplexe Angelegenheit. Was erfassen wir letztendlich pauschal unter dem
Oberbegriff ›Rassismus‹, ohne viel darüber nachzudenken? Wenn im
Ausland, insbesondere in Deutschland, jemand über mich, ein Mitglied
meiner Familie oder generell über einen Schwarzen etwas Abwertendes
beziehungsweise Diskriminierendes sagt, um ihn zu beleidigen, stelle ich
mir immer die Frage, ob es nicht auch bei uns vorkommt, dass wir
gegeneinander dieselbe beleidigende Sprache verwenden, obwohl wir im
selben Dorf leben und Bürger desselben Staates sind. Solche Ausdrücke
sind selbstverständlich klischeehaft. Sie sind teils humorvolle
Redewendungen, teils Spiegelbild der Beziehungen zwischen
freundschaftlich rivalisierenden Familien, Clans, benachbarten und nicht
benachbarten Stadtvierteln und Dörfern. Jeder möchte den anderen
überlegen sein, aber oft glaubt man selber an die eigene Vormachtstellung
nicht, so dass man diese demonstrieren muss, nicht wahr? »Wer über einen
Blinden in einem Lied schlecht spricht, tut seinem eigenen Dorf etwas an.«
Wenn man ein Dorf beschimpfen will, braucht man infolgedessen nur einen
Invaliden in diesem Volk aufzufinden, um sich darüber zu freuen, dass kein
solcher ›Krüppel‹ zum eigenen Volk zählt. Auf dieser Weise kann man die
Selbstsicherheit haben, die man gegenüber jenen Menschen empfindet,
deren körperliche Erscheinung nicht dem klassischen Bild entspricht, die
als erbärmliche, in Elend verkommene und genau deswegen als verfluchte
Wesen erscheinen, weil sie einen schwerwiegenden Fehler begangen haben:
sie haben einen Invaliden beherbergt. Es ist zwar eine Vereinfachung, aber
funktionieren Klischees nicht ebenfalls so?
Wenn eine Gesellschaft die Anwesendheit von Blinden toleriert, beweist
sie, dass sie zwei, drei, sogar Tausende Blinde aufnehmen kann,
beziehungsweise, dass die gesamte Gesellschaft aus Blinden besteht.
Anderenfalls würden die MitbürgerInnen den Blinden aufspüren und ihn
beseitigen. Sei es, dass man erkennt, dass es einen Buckligen gibt, wo es
kein Blinder ist und dass es einen Hinkenden gibt, wo kein Buckliger ist,
und dass es einen Tauben gibt, wo kein Hinkender zu finden ist … Aber
unsere Annahme, die Annahme einer jeden Gesellschaft ist es, zu glauben
und glauben zu machen, dass, es gäbe ›daheim‹ weder Blinde noch
Bucklige und auch keine Hinkenden und Tauben … Zumindest in
bestimmten Gesellschaften versucht man, auf Blinde, Bucklige usw. bei den
anderen hinzuweisen, wobei die Spielregel, nach der die anderen
gleichermaßen Anspruch darauf haben, den in der eigenen Gesellschaft
versteckten Invaliden aufzuspüren, anerkannt wird. Daraus ergibt sich ein
Wortgefecht und Gesangsduell mit Einhaltung bestimmter Spielregeln, wie
bereits erwähnt: Das beginnt im Dorf selber, auf dem Markplatz, wo jede
Gruppe mit Trommelband, Sängern, Tänzern mit eigener sorgfältig
ausgewählter Tracht auftritt und sich der anderen stellt. Es geht nicht nur
darum, dem Gegner Schaden zuzufügen, indem man auf seine
Schwachstellen genau hinweist, beziehungsweise ihn zu verspotten, ihm
seine Arroganz und seinen Hochmut zu berauben, sondern gleichzeitig auch
ihn zurechtzuweisen, wenn der Eindruck entsteht, dass er sich anmaßt
jemand zu sein, der er in Wirklichkeit nicht ist. Es geht darum, als Sieger
anerkannt zu werden. Das bedeutet, dass man dem Gegner überlegen ist,
dass man mehr Traute und mehr in der Hose hat:

als erste Ansiedler in diesem Dorf beziehungsweise in dieser Region


sind wir die Geeignetesten, um die anderen als ›Fremde‹ zu
qualifizieren; wir gehören zum nobelsten Clan, zum
Prinzengeschlecht, zum Clan, der dem Prinzen am Nächsten steht, und
als solche sind wir befugt, die anderen als Nichtadlige oder Sklaven zu
qualifizieren; wir sind die Reichsten, also dürfen wir die anderen als
elendes Volk qualifizieren …
wir haben die besten Sänger (oder wir besitzen genug Geld, um sie zu
bezahlen), die schönste Tracht, die beste Choreographie …, also sind
wir im künstlerischen und kulturellem Bereich überlegen, und das
verkünden wir den anderen auch, und wir können den anderen
gegenüber voller Stolz auftreten.

Diese Art des Wettbewerbs findet noch heute in verschiedenen Formen


statt. Die Akteure sind Dorfbewohner, die Bewohner eines Stadtkreises,
einer Region und jeder Bewohner und jede Bewohnerin des betroffenen
Dorfes, Stadtkreises oder Region, ist verpflichtet, entsprechend seiner
Kapazität, z.B. als Beamte oder Geschäftsmann, einen angemessenen
Betrag zu leisten. Als Bürger einer bestimmten Stadtgemeinde schicken sie
denjenigen Geld, die ihre Fahne verteidigen, damit sie die Tracht,
Trommeln und Erfrischungen kaufen können, die sie den Beteiligten nach
ihrem Auftritt anbieten werden. Das habe ich als Beamter im
Kultusministerium feststellen können, wenn wir Kulturfestivals
organisieren, bei denen Wettbewerbe stattfinden und mit Preisen ausgelobt
werden.
Aber ich möchte das Konzept der Spielregel wieder aufgreifen. In dieser
›Auseinandersetzung‹ mittels Wort und Gesang, prächtiger Tracht und
Tänze weiß jede Partei, was auf dem Spiel steht und bereitet sich
entsprechend vor. Um zu wissen, wer den Sieg davon trägt und wer in
diesem Duell der Unterlegene ist, ist das Publikum der Schiedsrichter. Es
entscheidet durch sein Gelächter und seinen Applaus. Wenn das Gefecht
beendet ist, werden die vorigen Gegner wieder die Mitglieder ein und der
selben Gesellschaft, ein und des selben Volkes. Sie müssen solidarisch
miteinander handeln und ihre Gemeinschaft verteidigen, wenn sie einem
anderen Dorf gegenüber treten: gleichermaßen müssen die Dörfer aus ein
und dem selben Distrikt solidarisch handeln, wenn deren Sieger gegen
einen anderen Distrikt antritt.
Ohne übertriebene Idealisierung kann das Gefecht innerhalb ein und der
selben Gesellschaft viele Konflikte vorbeugen. Es ist wie beim Boxkampf:
der schönste Augenblick nach meinem Empfinden ist gekommen, wenn
beide Gegner einander voller Respekt grüßen und dann einander umarmen,
nachdem sie äußerst rücksichtslos aufeinander eingeschlagen haben. Dabei
sind auch Spielregeln zu beachten: Schläge unter die Gürtellinie sind
ebenso verboten wie auf den am Boden liegenden Gegner hartnäckig
einzuschlagen und ihn respektlos zu behandeln. Prinzipiell dürfen die
Gegner keinen Hass gegeneinander empfinden. Nur prinzipiell, denn der
bereits vor dem Spiel vorhandene Hass wird, wenn er existiert, nur die
Verlängerung eines Kampfes sein; so mündete etwa auch das Fußballspiel
zwischen den Nationalmannschaften Serbien-Montenegros und Bosniens,
das am Samstag, den 9. August 2004 in Sarajevo stattfand, in eine blutige
Auseinandersetzung zwischen Hooliganbanden aus beiden Lagern. Dass
Hooligans, in welchem Land auch immer, überhaupt existieren, ist ein
Beweis dafür, dass die Einhaltung der Regel nicht die Sorge aller Menschen
ist.
Was afrikanische Gesellschaften anbelangt, möchte ich wiederum
betonen, dass man sie nicht idealisieren sollte; wäre es so einfach, hätten
wir keine solche blutigen Konflikte, um nur einige zu nennen, wie in
Ruanda, Burundi und im Demokratischen Kongo, in Côte d‘Ivoire oder in
Darfur, die im Brennpunkt der Gegenwart stehen.
Was ethnisch und rassistisch motivierte Verhaltensmuster Unritterliches
an sich haben, daher auch an Entwürdigendes, für Opfer und Täter zugleich,
ist die Regellosigkeit, um die Überlegenheit dem anderen gegenüber
auszudrücken. Dieser Versuchung kann jeder Mensch unterliegen, wer er
auch sein und aus welchem Land er kommen, welche
›Rassenzugehörigkeit‹ er auch immer haben mag. In jedem von uns verbirgt
sich eine Art von Erdbeben, wenn wir nicht wissen, wie wir uns einem
anderen gegenüber verhalten sollten. Die Fähigkeit, das Epizentrum dieses
Erdbeben mit klarem Verstand zu analysieren, ist das, was uns am meisten
fehlt. Man hört oft, dass Ausländer ›unser Brot essen‹. Aber sie essen nicht
nur unser Brot, sondern sie wären sogar dazu fähig, uns aufzuessen,
anzuknabbern, zu schwächen, ganz zu verzehren. Es ist also normal, das
heißt menschlich, dass wir versuchen, wie im afrikanischen Gesanggefecht
oder im Boxkampf, ihn zurechtzuweisen, zu verspotten, bevor er uns unsere
Selbstsicherheit beraubt, ihm so viele Schläge wie möglich zu versetzen,
damit er die Selbstbeherrschung verliert, um ihn, wenn möglich, K.o. zu
schlagen, bevor er uns das gleiche antut.
Der einzige Unterschied besteht in der Gesetzlosigkeit, das heißt in dem
Ausmaß, wie der andere als Gegner, sogar als Feind betrachtet wird und
bereits unterlegen ist, weil er nicht mit gleicher Waffe wie wir kämpft. Das
andere Merkmal dieses ungleichen Kampfes ist, dass derjenige, der sich
überlegen fühlt, seine Waffen nicht herzustellen braucht: er findet sie in
dem, was man als Klischees und negative Vorurteile bezeichnet. Zumindest,
um auf das Bild des Invaliden zurückzugreifen, braucht er weder den
Blinden in der Gesellschaft der anderen aufzuspüren, noch zu beweisen,
dass er ein richtiger Blinder ist: das Publikum steht, glaubt er zumindest,
auf seiner Seite, um seine Behauptungen zu bestätigen.

DIE KRAFT LIEGT IN DEN MEDIEN


1995 habe ich in einem Theaterstück in Bayreuth gespielt. Das Stück war
eine Neuinszenierung Wagners Rings der Nibelungen mit dem Titel Ring
der Niederungen. Sein Autor heißt Uwe Hoppe. Ich habe Hunding, eine
grobe und brutale Figur, dargestellt. In einem im Nordbayerischer Kurier
erschienenen Artikel, der aus der Feder von Alexander Dick stammte und
den Titel Dialektik der Barbarei[1] trug, wurde über die Erstaufführung
berichtet. Positiver Punkt: der Autor des Artikels schrieb mir Talente fürs
Schauspielen zu. Punkt zum Nachdenken: Alexander Dick fragte sich, ob
die herausragende Art und Weise, wie ich die Rolle gespielt habe, die
Vorurteile über den »brutalen und bösartigen« Schwarzen bestätigen? Ja,
das ist der Ausgangspunkt jener Überlegungen: bringt der Journalist seine
eigene Besessenheit zum Vorschein oder spiegelt er die öffentliche
Meinung wider? Geht es um seine eigene Besessenheit, kann man davon
ausgehen, dass er im Widerspruch zu sich selbst steht, weil der Titel seines
Artikels darauf hinweist, dass sich das gesamte Theaterstück über ein
Pflaster wälzte, das mit Barbarei, Morden, Blut, offenen Wunden,
menschlichen Schädeln, Monstern …, Säbelhieben, Speerstößen,
Gewehrschüssen, Gewalt, Kacke, Pipi, Sperma, Speichel übersät ist, auf
denen der Autor die dramatische Spannung des Stückes aufbaut und für fast
alle Figuren Gang und Praxis ist. Hunding, als Figur von einem Schwarzen
dargestellt, bildet keine Ausnahme. Als Beispiel für die Stimmung, die das
Stück beherrscht: bei den Figuren, die ich verkörpert habe (insgesamt fünf),
sterbe ich fünf Mal innerhalb von 20 Minuten tatsächlicher Anwesendheit
auf der Bühne und während der dreieinhalb Stunden langen Aufführung.
Was ist bei dem Schwarzen besonders im Vergleich zu den anderen
Figuren? Ich habe kein Mandat, um die tatsächlichen künstlichen
Eigenschaften eines solchen Theaterstücks zu beurteilen. Aber ich bin nicht
nur als Schauspieler, sondern auch als Schwarzer davon betroffen und sollte
mir daher die Frage stellen, ob ich in diesem Stück Hunding war oder ein
Schwarzer.
Wenn der Journalist die Meinung des Publikums wiedergab, müsste es
stimmen (und erwiesen sein), dass das Publikum, auf das er sich bezieht,
tatsächlich so ›denkt‹ und von Klischees beeinflusst wird, und ich würde
mich gegen eine solche Behauptung wehren.
Wenn der Journalist seine eigene Meinung vertritt, kann man davon
ausgehen, dass er die Kompetenz des Publikums, Sachverhalte zu
durchleuchten, unterschätzt: Es ist eine übermäßige Vereinfachung, einen
Schauspieler auf die Figur zu reduzieren, die er interpretiert, sie beide
miteinander zu identifizieren; wir sind nicht weit entfernt von den
mittelalterlichen Mysterienspielen, bei denen der lokaler Bischof bei der
Inszenierung des Leidens Christi die Rolle Jesu einnahm und aus seinen
Priestern die 12 Aposteln machte, während er der ganzen Gesellschaft das
Böse, beziehungsweise dem Gesellschaftsmitglied, der als solches galt, die
Rolle des Teufels aufzwang, damit er nach der Aufführung verdroschen
werden konnte.
Wenn sich der Verdacht von Alexander Dick bestätigt hätte, hätte meine
Darstellung von Hundig die Menschen dazu gebracht, mich auf den Straßen
und in den Geschäften Hamburgs zu verfolgen und mir ›barbarischer und
grober Schwarzer‹ zuzurufen. Das Problem ist, dass alle, die die Medien
manipulieren und die über die notwendigen Mittel verfügen, um die
öffentliche Meinung zu beeinflussen, sich dessen nicht bewusst sind, was
sie vermitteln. Wie ist es möglich zu erreichen, dass sie mit den von ihnen
behandelten Sachverhalten bewusster umgehen? Und wie kann man ihr
Verstehen erwirken?
Als Reaktion zu dem Artikel von Dick habe ich einen anderen
geschrieben und zur selben Zeitung geschickt. Ich habe versucht, den
ganzen Sachverhalt zu berichtigen. Ich schrieb:

dass weder das Stück noch Hunding Schwarze inszenierten (der


Beweis dafür war, dass ich der einzige Schwarze in der Theatergruppe
war);
dass Hunding nicht für einen Schwarzen und noch weniger für mich
geschrieben wurde;
dass ein Schauspieler theoretisch fähig ist, alle – sympathischen und
unsympathischen – Rollen spielen kann, dies hänge nicht von seiner
Persönlichkeit oder seiner Veranlagung ab;
dass ein Schauspieler, wenn er eine Rolle annimmt, dieser Aufgabe
von der technischen Seite her gewachsen sein muss (einer Fähigkeit,
die mir Alexander Dick anscheinend zuschrieb).

Also wo hat er diese Geschichte des brutalen und bösartigen Schwarzen


her? Das ist die eigentliche Frage, die sich stellt. Er scheint, ein
Intellektueller zu sind, ein denkender Mann, den ich nicht sofort als Rassist
abzustempeln habe. Eine solche Überlegung (wenn es überhaupt eine war)
hat mein Unterbewusstsein sozusagen nicht reflexartig produziert. Aber
kehren wir zum Epizentrum zurück, wo wir einander gegenüber standen,
wo ich mitten in der Theatergruppe allen anderen gegenüber stand: ich war
›anders‹, inmitten der Theatergruppe, und ich war gerade dabei, das zu
ignorieren; ich dachte dass der Regisseur und die anderen Mitglieder der
Theatergruppen genauso wenig darum wussten, dass ich ›anders‹ bin, aber
eben nur, bis der Artikel erschien und dessen Autor mich auf den Boden der
Tatsachen zurück brachte: Was sollte ich denn tun? Was kann man tun,
wenn man mit dem Vermerk ›anders‹ auf dem Index steht? Aber das war
noch nicht so schlimm. Mein Artikel wurde im Nordbayerischer Kurier nie
veröffentlicht. Die zweite Frage lautet: Was tun, wenn die Spielregeln nicht
eingehalten werden? Keiner kann behaupten, dass es keine Spielregeln im
Informationsbereich gibt, denn der Anspruch auf Gegendarstellung wird
von aller Zeitungen der Welt außer in den intolerantesten Diktaturen
anerkannt. Ich werde später erfahren, dass der Journalist und der Regisseur
sich darauf verständigt haben, dass mein Artikel nicht erscheint, weil sie
sich vor einem Skandal gefürchtet haben: der größte Skandal könnte also
von meinem Versuch hervorgerufen sein, die Situation klarzustellen und
nicht von der ›Fragestellung, die der Journalist aufwarf‹ (und die meines
Erachtens für ein intelligent denkendes Publikum sehr beleidigend war).
Wenn man diese ›Überlegung‹ konsequent fortsetzt, könnte man sich die
Frage stellen, ob man in einem in Afrika und von einer mehrheitlich
Schwarzen Theatergruppe aufgeführten Theaterstück, einen Weißen mit
aufnehmen würde, um eine gutherzige, milde und sympathische Figur
darzustellen, weil ja alle Schwarzen prinzipiell brutal und bösartig sind. Ich
würde sogar so weit gehen zu sagen, dass in einem Theaterstück, in dem
Nazis porträtiert werden, immer Schwarze herangezogen werden sollten,
um die Rolle der Folterer und Henker zu spielen. Es wäre ebenfalls kein
Skandal, einen Schwarzen Hitler zu sehen und dass alle, die ihm gefolgt
und an seiner heldenhaften Odyssee teil gehabt haben, von Schwarzen
gespielt würden. Schließlich gibt es ja nur unter den Schwarzen Folterer
und Henker. Dafür muss man die Weißen wohl anders nennen: raffiniert,
zum Beispiel. Zu erfinden brauche ich dabei wohl nichts: eines Tages
sprach ich mit jemanden über den europäischen Kolonialismus in Afrika,
über die Unaufrichtigkeit der Kolonialherren, die den Afrikanern und
Afrikanerinnen ihre Länder geraubt haben, erbarmungslos diejenigen
massakriert haben, die sich ihnen zu widerstehen versuchten … und hinzu
kommt noch die Sklaverei usw. Der Mann, der es nicht mehr aushalten
konnte, weil er davon überzeugt ist, dass die Weißen in den Kolonien nur
Gutes getan haben, unterbrach mich und sagte: »Das waren raffinierte
Leute.« Also gibt es zwei Arten von Bösartigkeit und Brutalität: die der
raffinierten Menschen und die der von Natur aus brutaler Menschen.
Charakteristisch für jede Ideologie ist, dass ein Rechtfertigungsdiskurs
für das eigene Handeln entwickelt wird, an dem geglaubt oder auch nur
vorgibt zu glauben, und der als eine Art Windschutz dient, hinter dem sich
alles andere verstecken lässt. Alle Kolonialideologien verfolgten
bekanntlich mehr oder weniger das gleiche Ziel: die Erfüllung ihrer
heilbringenden und zivilisatorischen Aufgabe, die Befriedung wilder und
barbarischen Völkerstämme, die sich ohne das Eingreifen des christlichen
Westens einander massakrierten oder von ihren groben und blutrünstigen
Duodezfürsten massakriert würden. US-Präsident Bush führt heute keinen
anderen Diskurs, um die Besetzung Iraks zu rechtfertigen. Lassen wir
zunächst die Bombenangriffe und die Hunderte von Opfern unter der
zivilen Bevölkerung Iraks unberücksichtigt: es ist letztendlich Krieg. Aber
die Misshandlung irakischer Gefangenen im Abu-Ghraib-Gefängnis sind
den Misshandlungen von Gefangenen während der Saddam Hussain-Ära
gleichzustellen. Sie könnten auch als Teil der Mission, den Irak zu befreien
und zu demokratisieren, betrachtet werden, welche im Namen des Kampfes
von Gut gegen Böse geführt wird. Diese Rechtfertigung lässt sich
weiterführen, wobei wir es diesmal mit einem religiös motivierten
Ausdruck- und Handlungsmustern zu tun haben: zunächst kommt die
Apokalypse, dann Jerusalem (als Friedensstadt). Daher die Rechfertigung
für die Auswahl des mächtigsten und reichsten Volkes als ausführende
Hand. Nur ein Schritt weiter und diejenigen, die nicht zu diesem
auserwählten Volk gehören, sich sogar gegen die Verwirklichung seiner
göttlichen Mission widersetzen, gelten als zu beseitigende Elemente, weil
der Weg für den glorreichen Beginn der messianischen Zeit gebahnt werden
muss. Es ist eine dürftige, vereinfachte Darstellung, aber es funktioniert
umso mehr, als diejenigen, die solche Ideologien entwickeln, über
ausreichende Mittel zu ihrer Verbreitung verfügen: wie lange hat man
gebraucht, um zu verstehen, dass die raffinierten Manieren derjenigen, die
sich zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche Massaker und Folter bedienen,
nur Scheinargumente sind? Heute noch erheben sich Stimmen, die die
Ansicht vertreten, dass der menschliche Fortschritt diese Massaker und
Folterungen notwendig machte, genauso wie die Massaker an unschuldigen
Zivilisten durch die Marines in Vietnam, um den kommunistischen Teufel
auszutreiben, und genauso wie Folterungen in den algerischen
Gefängnissen eine Notwendigkeit waren, um die Republik
aufrechtzuerhalten, eins und unteilbar … und vielleicht auch, um die von
den Islamisten heute verübten Gräueltaten zu vermeiden …, genauso wie
das Gefängnis von Guantanamo und die tagtägliche Gewalt in Irak
notwendig sind, die enorme Opfer von den Zivilisten abverlangen. Der
große Unterschied, der große Fortschritt besteht darin, dass sich
Gegenstimmen erheben, und andere Medien den Erfindern solcher
Ideologien, mit denen die Gräueltaten gerechtfertigt werden, die an
verschiedenen Orten und häufiger denn je verübt werden, widersprechen
können. Aber diese Art des Fortschritts ist nicht überall in die
Gewohnheiten der Menschen eingedrungen und kommt nicht allen gleich
ohne Diskriminierung zugute. Als Beispiel hatte ich diesen Artikel von A.
Dick erwähnt, auf den ich geantwortet habe, ohne dass mein Antwort
veröffentlicht worden wäre. Ich werde nicht von intellektueller
Unaufrichtigkeit sprechen, sondern lediglich von Machtmissbrauch, denn
auch auf dieser Ebene unterliegt jeder Mensch der Versuchung, Macht
auszuüben, wenn sich dazu eine Gelegenheit bietet: was kann ich denn tun,
wenn die Zeitung sich weigert, meinen Artikel zu veröffentlichen? Ein
Gerichtsverfahren gegen den Herausgeben einleiten? Ich hätte das tun
können, auf eigenes Risiko, da dieses Gerichtsverfahren ohne sichere
Erfolgsaussichten viel Geld gekostet hätte.
Dennoch freut es mich, diesen Artikel geschrieben zu haben. Irgendwie
hat es Wirkung gezeigt. Ein Jahr nach Erscheinen des Artikels mit dem
Titel Dialektik der Barbarei stellte ich mein eigenes Stück Le
Dépouillement des fesses (Die Zählung der Hintern) vor. A. Dick führte vor
der Erstaufführung ein Interview mit mir und hat darüber einen Artikel mit
einem meiner Sätze als Titel »Kunst ist einfach eine Weltsprache«:
Ausländer in Bayreuth: Uraufführung von Sénouvo Agbota Zinsous
»Zählung der Hintern«[2] veröffentlicht. Vor dem Interview hatte A. Dick
zugegeben, dass er meinen Artikel über das Klischee des Schwarzen
erhalten hatte, ihn aber nicht, aus Gründen, die meinem Gedächtnis
entfallen sind, publiziert hatte. Worin liegt nun die Bedeutung seines neuen
Artikels über mich?
Zunächst greift der Titel auf eine meiner Aussagen am Ende des
Interviews zurück, als A. Dick mich fragte, was ich vom Publikum
erwartete. Meine Antwort lautete: Ich wünsche, dass man nicht ins Theater
geht, um mein Stück wie eine exotischen Kuriosität zu beäugen, sondern
das Theater einfach als eine Weltsprache betrachtet. Der Untertitel,
besonders dessen Anfang, ist aus einem Kommentar des Journalisten
entstanden: »Ausländer in Bayreuth …« Warum hat dieser Untertitel meine
Aufmerksamkeit erregt? Ich glaube nicht, dass er völlig neutral war. Wir
befanden uns mitten in einer interkulturellen Woche. Der Journalist wollte
offensichtlich seine vorige Ungeschicklichkeit bei der Dialektik der
Barbarei korrigieren. Und das freute mich. Dennoch habe ich mich gefragt,
ob bei dem neuen Artikel Titel und der Untertitel nicht widersprüchlich
wären, sei es, es handle sich um eine subtile Nuance, die nur aus einer
bestimmten Perspektive betrachtet werden kann. Wollte man A. Dick
paraphrasieren, würde man von der Dialektik des Fremden sprechen: Die
Kunst ist eine Weltsprache, aber der Sprach- und Kunststil des fremden
Künstlers bleibt unterschiedlich, ›fremd‹, sogar ›exotisch‹, auf den Fremden
selber bezogen, was soviel bedeutet wie: er ist wie wir, aber er bleibt
trotzdem anders. Aber man kann auch der Sache wie folgt nachgehen:
Bayreuth heißt Fremde willkommen, der Beweis dafür ist, dass sie
Theaterleute sind und dieses Theater als Weltsprache akzeptiert wird; oder
es ist als Rat für alle Einwohner Bayreuths gedacht: nehmt Ausländer auf,
denn sie bieten einen Teil ihrer Kultur an. In jedem Fall wird der Fremde
zum Gegenstand einer Zwangsvorstellung. Auch wenn er akzeptiert und
integriert ist, fällt er auf. Es kann positive oder negative Gründe haben.
Ich möchte einen Artikel mit einem bedeutungsvollen Titel zitieren: Eine
Politikerin spielt Theater: Rot und Schwarz.[3] Das war mein erstes Stück
in meinem deutschen Exil mit dem Originaltitel: Le Temps du Déluge (Die
Zeit der Sintflut). Es ist eine Anspielung auf jene Zeit, in der menschliche
Werte sinnflutartig in den Abgrund gerissen werden, wobei diese Art der
Vernichtung nicht nur eine Partei oder eine ›Hautfarbe‹ betrifft, sondern
ähnlich wie die Sintflut alle Lebewesen auf der Erde – einschließlich aller
Tiere in den Tod führte. (Als Anmerkung muss ich hinzufügen, dass ich Le
temps du Déluge 1990 in unruhigen Zeiten in Togo schrieb, als wir für
Demokratie kämpften und das Stück auch in jener Zeit aufgeführt wurde.)
Der Regisseur, Jürgen Bergmann, hat den Titel geändert, so dass das Stück
ab dann Die Zeit wird kommen (Le temps viendra) hieß. Petra Ernstberger,
die Hauptdarstellerin, die die Frau Noahs spielte, kandidierte für die SPD
für den Bundestag im Wahlkreis Hof. Ich selber stand nie auf der Bühne,
außer als Trommelspieler. Aber man wird sehr schnell in eine Schublade
gesteckt: der wesentliche Teil der Botschaft, die das Stück zu vermitteln
versucht, ist nicht das, was am meisten auffällt, auch wenn es durchhaus
wahrgenommen wird. Worauf die Aufmerksamkeit gerichtet wird, ist die
Vereinigung der Farben, und zwar der politischen Farbe der
Hauptdarstellerin mit der ›Hautfarbe‹ des Autors: rot und schwarz!
Geschrieben schwarz auf weiß!: »Ein Leben, in dem Menschlichkeit die
Zukunft weist: So lautet die Botschaft zu dem vom Theatermann Jürgen
Bergmann initiierten (und inszenierten) Theaterprojekt. Als Spezialist für
Interkulturelle hat er die ›Rote‹ mit einem Schwarzen zusammengebracht:
dem Togolesen Sénouvo Agbota Zinsou nämlich, der renommierter Autor
im eigenem Land und jetzt Asylant in Deutschland ist […]«
Ich behandle diesen Sachverhalt mit Humor in einem meiner
Theaterstücke, Dina et Sichem, das als Manuskript vorliegt, und seit 1997
mehrmals in Bayreuth und außerhalb von Bayreuth inszeniert wurde. Um
mich kurz zu fassen, in diesem Stück ist Dina die Fremde. Als Tochter
Jakobs ist sie nach der biblischen Erzählung, die dieses Stück inspirierte, in
das Land Sichem (das denselben Namen trägt wie sein Prinz) mit ihrem
Vater und ihren Brüdern ausgewandert, hat dort eine Beziehung und wird
schwanger, was ihre Brüder nicht ohne Weiteres hinnehmen können. Beide
Hauptdarsteller erzählen spielerisch ihre Geschichte in einem
zeitgenössischen Rahmen.
Dina: Bücher, Medien, Gurus …
Sichem: Geschichten
Dina: So wird übrigens in den Medien über unsere Geschichte berichtet …
Dina: (spielt die Journalistin im Fernsehen) Dina, die Sängerin
ausländischer Herkunft …
Sichem: (dasselbe Spiel) … außerirdischen Ursprungs …
Dina: … Außer …
Sichem: Re Mi Fa …
Dina: Ursprung …
Sichem: Springquelle, Sprudel …
Ich beanstande nicht die Verwendung des Wortes ›fremd‹, aber die
Betonung des Fremdseins durch die Medien, oft in einem Zusammenhang,
in dem es nicht notwendig ist, finde ich gefährlich und übertrieben zugleich,
wobei diese Übertreibung wohl eine Nebenbedeutung hat. Der kleine Neo-
Nazi oder der ›ausländerfeindliche‹ Betrunkene, der bei der Ansicht eines
Ausländers ›Ausländer raus!‹ oder, noch schlimmer, ›Scheißneger!‹ brüllt,
stellt meines Erachtens eine geringere Gefahr dar – wenn er sich auf verbale
Angriffe beschränkt – als der Intellektuelle, der Künstler oder der
Journalist, die bewusst oder unbewusst Klischees vermitteln, weil sie sich
nicht nur an Tausende, sogar an Millionen Menschen wenden, sondern
auch, weil man ihnen Glauben schenkt. Es ist umso mehr der Fall, als
dieselben Journalisten in denselben Medien und dieselben Künstler und
Intellektuellen auf der Bühne und während der Demonstrationen auf der
Straße sicherlich im Vordergrund stehen werden, wenn es darum gehen
wird, ausländerfeindliche Taten oder Aussagen zu verurteilen. Man kann
ihnen nicht Heuchelei, sondern lediglich ›Stilmissbrauch‹ vorwerfen. In der
französischen Wochenzeitung Le Nouvel Observateur habe ich einen
Bericht über die französischen Journalisten gefunden, die im Irak von der
Islamischen Armee als Geisel gefangen gehalten wurden. Der Titel lautete
»Islam und Republik – eine Augusthochzeit«:
Vor dem Sommer galt Frankreich bei den Fundamentalisten als ein rassistisches Land und die
Laizität[4] als islamfeindlich. Innerhalb von drei Tagen haben die ›Bärtigen der UOIF‹, (der
Islamistischen Union Frankreichs, Union des Organisations Islamiques de France) offenkundig
gemacht, dass sie sich zur republikanischen Ordnung bekennen. Taktisch begründete Waffenruhe
oder Frieden der Tapferen?[5]

Ich lasse die Tatsache bei Seite, dass in diesem Artikel die Frage der
Ehrlichkeit der moslemischen Verantwortlichen an der Seite ihrer
christlichen und anderen MitbürgerInnen in diesen Krisenzeiten keine
eindeutige Antwort findet; die Journalisten haben die Aufgabe, Fragen zu
stellen und uns dazu zu bringen, über diese Frage nachzudenken. Aber der
Ausdruck »die Bärtigen der UOIF« ist an sich merkwürdig: die
Gleichstellung Bärtige = Fundamentalisten = Unterstützer / oder sogar
Befürworter von Osama bin Laden = Terroristen kann leicht aus dem
erzielten Stileffekt abgeleitet werden. Und führte etwa der Patriot Act, der
in den USA nach dem 11. September 2001 in Kraft getreten ist, zu der
willkürlichen Festnahme von amerikanischen Bürgern, die Bart und Turban
trugen? Andere Stileffekte sind einiger Überlegungen wert:
Die Religion, die am Hexagon krankt (unter der kranken Religion ist der Islam zu verstehen und
Frankreich wird auch das Hexagon, d.h. der Sechseck genannt) hat sich im nationalen Konsens
eingenistet. ›Ihr Kleidungsstil stört mich, aber ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind‹, sagte
eine brave ›diskrete katholische Dame‹ zu drei Müttern in Hidjab[6] , am Montag Nachmittag auf
dem Trocadero Platz in Paris, während der Demonstration.[7]

Die am Hexagon krankende Religion wird an den Spranger gestellt und


man kann behauptet, dass sie vorwiegend als Religion der Einwanderer
betrachtet wird (es wird auch von Ausländern islamischer Herkunft
gesprochen), obwohl »alteingesessene Franzosen« (»Français de souche«)
sich zum Islam bekehrt haben. Wie werden diese Einwanderer reagieren,
wenn sie diese Zeilen zu einem Zeitpunkt lesen, in dem sie versuchen zu
beweisen, dass sie Franzosen sind wie alle anderen. Außerdem glaube ich
gern, dass die Aussagen, die der Journalist aufgezeichnet hat, tatsächlich
von einer »braven diskreten katholischen Dame« stammen, aber die
Auswirkung, die durch die Wiedergabe in der Zeitung erlangt wird, trägt
nicht dazu bei, die Franzosen zu vereinigen und ihnen das Gefühl zu geben,
dass sie alle dort zu Hause sind, oder müsste man bei den Frauen in Hijab
fragen, ob es sie stört, neben Frauen in Jeans, mit Dekolleté zu stehen …
Und die ›gute katholische Dame‹ dankt den ›Müttern‹ in Hijab dafür, dass
sie für die Feilassung von Christian Chesnot und Georges Malbrunot, den
zwei entführten Journalisten, die als Geisel festgehalten wurden und
sicherlich gute Katholiken sind, gebetet haben. Oder wie ist diese
Danksagung zu verstehen? ›Es ist nicht wirklich Ihre Sache, aber danke,
dass Sie gekommen sind?‹ ›Wir schätzen Ihre Bemühung sehr, die unseren,
die echten alteingesessenen Franzosen, zu verteidigen?‹ In jedem Fall ist es
ein sehr nettes Dankeschön, das allerdings einen Nachgeschmack von
Diskriminierung im Mund hinterlässt auf einer völlig neutralen, wenn auch
bedeutungsvollen Art. Die letzte Stilfigur ist der Begriff ›Dame‹, verwendet
von Claude Askolovitch im Gegensatz zu ›Müttern‹. Dies hat mich an einen
bestimmten Wortgebrauch in meinem Land erinnert, mit dem auf dem
Markt im Süden die Frauen aus dem Norden, die durch ihre Kleider als
solche identifiziert Mamy genannt wurden, im Gegensatz zu den Frauen aus
dem Süden, die auf ›Französisch‹ oder in Ewe Daavi genannt wurden. Die
Diskriminierung war so offensichtlich, dass die Menschen aus dem Norden
zu einem bestimmten Zeitpunkt protestierten, insbesondere, weil das Wort
Mamy ein Synonym für Sandfloh geworden war: die Verwendung liegt
einem Vorurteil gegen die Menschen aus dem Norden zugrunde, die
angeblich die Fußzehen voller Sandflöhe haben sollen.

POSITIVE KLISCHEES?
Der Verfasser und Regisseur vom Ring der Niederungen legt in einem
Artikel, der angeblich als Loblied auf mich gedacht war, Zeugnis für mein
Talent ab. Der Titel lautete: »Everding von Lomé. Der afrikanische
Theaterstar Sénouvo Zinsou«[8]: »[…] Er bewegt sich mit der
Geschmeidigkeit eines Afrikaners auf der Bühne.« Wenn das kein Lob ist!
Das einzige ist, dass das Konzept der Geschmeidigkeit eines Afrikaners
noch zu definieren wäre. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob es
überhaupt möglich ist, etwas anderes über einen afrikanischen Schauspieler
zu berichten angesichts der Tatsache, dass alle AfrikanerInnen vom Senegal
bis nach Südafrika (vielleicht mit Ausnahme der weißen AfrikanerInnen)
dasselbe Maß an Geschmeidigkeit aufweisen. Infolgedessen ist es weder
notwendig, einen afrikanischen Darsteller auf der Bühne zu erleben, noch
ihn überhaupt kennen zu lernen, um ihn zu loben (denn sie sind alle gleich):
diese Beschreibung ist genau zutreffend, sobald bekannt ist, dass es sich um
einen Afrikaner handelt. Meine Ehegattin ist eine Togolesin und hat eine
Ausbildung gemacht, bei der sich die SchülerInnen zu strengen
Gymnastikübungen zwingen mussten: Der Sportlehrer war davon
überzeugt, dass meine Frau sich anders bewegte als die anderen
SchülerInnen. Sie wurde nicht müde zu wiederholen, sie sehe keinen
Unterschied, was die anderen SchülerInnen ebenfalls bekräftigten;
vergeblich; der Lehrer hat immer recht, zwangsläufig. Das wesentliche
Problem ist, dass sich niemand umstimmen lässt, wenn er Recht hat.
Diejenigen, die in Klischees ›denken‹, haben immer Recht. Man muss es
ihnen zugestehen, um seine Ruhe zu haben.

IM NAME DES ›WISSENSCHAFTLICHEN‹ FORTSCHRITTS


Wer als ›anders‹ eingestuft wurde, muss nicht unbedingt diese Bezeichnung
annehmen: es muss gerechtfertigt werden, warum und wie sich dieses
›Anderssein‹ ausdrückt. Obwohl ich sehr bemüht bin, Allgemeinplätze zu
vermeiden, muss ich auf das Konzept des ›seltenen Vogels‹ eingehen.
Ein Gymnasiallehrer hatte mit mir Kontakt aufgenommen, bevor er seine
SchülerInnen zu einer Klassenfahrt begleitete. Die Reise bestand in einem
einwöchigen Aufenthalt in einer Stadt sechzig Kilometer entfernt von
Bayreuth. Afrika war das Thema. Der Lehrer hat mich in einem Café
eingeladen und hat mir zwischen Tee und Kuchen erklärt, was von mir
erwartet wurde: ich sollte zusammen mit den Schülern und Schülerinnen
am Aufenthaltsort wohnen. Selbstverständlich kommt kein Honorar in
Frage, aber »wir übernehmen eine Woche lang ihre Reisekosten und
Verpflegung«. Ich habe geantwortet, dass ich aus zeitlichen Gründen nicht
eine Woche lang außerhalb Bayreuths sein könne. Ich habe vorgeschlagen,
einen Thementag zu organisieren, um über mein Land und dessen Kultur
usw. zu sprechen. Eine solche Veranstaltung hatte ich bereits mit großem
Vergnügen, das ich mit dem Publikum teilte, in anderen Städten in
Frankreich, in der Schweiz, in den USA und in Deutschland organisiert.
Aber dieses Schulprojekt hatte völlig andere Züge: es sollte den Schülern
und Schülerinnen ermöglichen, das Objekt ›Afrikaner‹ selbst zu studieren,
zu beobachten, wie er sich hinsetzt, wie er steht, wie er sich hinlegt, wie er
isst … Ich muss gestehen, dass ich beinahe gelacht habe, ich musste mich
wirklich sehr beherrschen. Aber ich bot wiederum an, einen anderthalb
Stunden langen Vortrag mit anschließendem Austausch mit den Schülern zu
organisieren. Da ich Schauspieler für ein Theaterstück suchte, wäre es für
mich eine gute Gelegenheit, unter den Zuhörern nach passenden Darstellern
zu suchen, habe ich hingefügt. »Sie beschäftigen sich mit Theater?«, fragte
er, wobei schon sein Blick seine Unglaublichkeit verriet. »Ja«, antwortete
ich. »Welches Stück inszenieren Sie?« Ich habe geantwortet, dass ich eines
meiner eigenen Werke vorhatte zu inszenieren. Da ich das Manuskript in
der Aktentasche hatte, habe ich es ihm gezeigt: »Und das haben Sie ganz
allein geschrieben?«, lautete seine letzte Frage, auf die ich mich nicht
verpflichtet gefühlt habe zu antworten. Er hat mich sehr freundlich zu
meinem Arbeitsplatz zurückgefahren, und beim Abschied hat er
versprochen, mich anzurufen, um mir Bescheid zu geben, ob er mein
Angebot für einen Thementag mit seinen Schülern annimmt. Er hat mich
nie wieder angerufen. Was war passiert? Ein einfaches Missverständnis?
Das Projekt dieses Lehrers war lobenswert, aber ich hätte nie gedacht, dass
ich für auszubildende Ethnologen zum Studienobjekt werden könnte; ich
war mir dessen nicht bewusst, dass ich sämtliche Afrikaner auf dem Dorf
und in der Stadt vertreten könnte, sowie sämtliche einzigartige Kulturen,
sämtliche Art und Weisen, sich hinzusetzen, sich hinzulegen und alles
andere. Ich habe mich auch gefragt, wie ein deutscher Mitbürger in Togo
reagieren würde, wenn ein togolesischer Lehrer ihn darum bitten würden –
im Namen des ›wissenschaftlichen Fortschritts‹ – unter seinen Schülern zu
leben, damit sie eine Woche lang den ›europäischen Typ‹ studieren könnten,
und dabei seine beruflichen Aktivitäten in der Zwischenzeit ruhen zu
lassen.
Das Erdbeben hat vielleicht diesen Gymnasiallehrer erschüttert, als er
entgegen aller Erwartungen hören musste, dass ich mich mit Theater
beschäftige und nach Schauspielern suche. Ich erinnere mich an ein
Gespräch mit einem meiner Freunde am Anfang meines Aufenthalts in
Bayreuth. Er wiederholte in einem fort in Anwesendheit anderer Personen:
»Wenn du eine afrikanische Theatergruppe hast, wirst du das und jenes tun
können.« Eine der anwesenden Personen fragte ihn auf Deutsch: »Wozu
eine afrikanische Theatergruppe?« Er antwortete: »Die Deutschen werden
ihn nie als Regisseur akzeptieren.« Ein anderes Mal sagte jemand mitten in
einer Diskussion über Molière: »Wenn es sich nicht um Afrika handelt, was
kannst du uns zeigen?« Es ist durchaus eine logische, fast objektive
Betrachtungsweise. Ein Ingenieur aus Benin berichtet, dass dasselbe
Erdbeben seine Gesprächspartner jedes Mal erschüttert, wenn er sich
vorstellt: »Ein Afrikaner Ingenieur? Sportler, ja, Musiker ja, Tänzer, ja.
Aber Ingenieur?« Wenn er eine Baustelle mit einem deutschen Mitarbeiter,
der ihm unterstellt war, betrat, wandten sich ihre Gesprächspartner an den
Deutschen. Es ist ja klar: derjenige, der die geeignete Hautfarbe für einen
Ingenieur hat, ist der Deutsche. Ich könnte noch weitere Beispiele anführen.
In einem Altenheim, in dem meine Frau gearbeitet hat, erfährt eine
Kollegin, dass sie einen Abschluss als Sozialarbeiterin hat, und wird
ebenfalls vom diesem Erdbeben erschüttert, allein aufgrund des Gedankens,
dass meine Frau mit ihrem Diplom prahlen könnte. Sie sagte ihr nach
einigen Fehlversuchen, um sie zu provozieren: »Auch mit Schule – ein
Neger bleibt ein Neger.« Wir haben beschlossen, eine Klage wegen
rassistisch motivierter Aussagen einzureichen und haben die Dienste eines
Anwalts in Anspruch genommen. Er akzeptierte zunächst, die Klage an die
Nürnberger Gerichte weiterzuleiten. Der Anwalt teilte uns die Antwort des
Richters mit, der befugte, es handle sich um eine interne Angelegenheit im
Altersheim, die die Betriebsordnung betrifft. Der Richter erklärte also die
Klage als unzulässig. Der Rechtsanwalt fügte hinzu, offensichtlich mit der
Absicht, die Sache zu bagatellisieren: »Die Tatsache, dass man von Ihnen,
als den ›Negern‹ spricht, dass sie nichts wissen …, könnte auch ein
bedeutungsloser Spaß sein.« Ich muss dazu sagen, dass ich ihn nicht weiter
sprechen ließ und rief: »Schluss! Wir haben schon bezahlt!« Erst auf dem
Weg nach Hause konnte ich das ganze wieder mit Humor tragen, als mir
eine Szene über das Apartheidsystem aus einem meiner Theaterstücke
einfiel. Das Spiel heißt On joue la comédie (Das ist nur Theater) und in
dieser Szene spricht ein weißer Gefängnisaufseher zu seinem Schwarzen
Gefangenen, der Chaka heißt:
Vor allem vergiss nicht, dass du Weißen deinen Respekt erwiesen musst … Ich habe nicht studiert,
aber ich habe meine eigene Philosophie. Und sie ist wie folgt: Gott hat die Weißen auf der einen
Seite und die Schwarzen auf der anderen Seite geschaffen. Die Weißen können keine Schwarzen
sein, und noch wichtiger, die Schwarzen können keine Weißen sein. Also beide müssen die
Stellung annehmen, in die sie gehören. Aber die Welt ist so geschaffen, dass die einen die Bosse
und die anderen die Diener sein müssen. Da die Weißen sich dafür entschieden haben, die Bosse
zu sein, müssen sich die Schwarzen damit zufrieden geben, die Diener zu bleiben. Und das ist der
einzige Weg, in dieser Welt Frieden zu schaffen.[9]

Im Gegensatz zu dem Gefängnisaufseher von Johannesburg und der


Kollegin meiner Ehegattin in Nürnberg, die erkannten, keinen
Hochschulabschluss zu haben, sind der Gymnasiallehrer, mein Kollege der
Schauspieler, der über Molière und Brecht diskutieren kann, der
Rechtsanwalt und der Richter Menschen, die studiert haben, die sogar lange
studiert haben. Aber das einzige, was sie alle stört und in allen dieses
Erdbeben auslöst, ist der Anspruch eines Schwarzen, genauso viel wie sie
zu wissen, sogar mehr als sie. Sogar in Bereichen, die den Weißen
vorenthalten sind, bewirken sie, dass Schwarze sich in ihrem eigenen
Fachgebiet unsicher fühlen. Ein Märchen von einem iranischen Autor,
Samad Behrangi, das den Titel Le petit poisson noir (Der kleine
Schwarzfisch) trug, und das ich unter dem Titel La petite fille poisson (Das
kleine Fischmädchen) inszeniert habe, hat mir die Möglichkeit gegeben,
diese Art von Situation in einem Lied zu behandeln. Eine Schnecke hat sich
am Ufer eines Baches niederlassen, was die selbsternannten authentischen
Einwohner dieses Ortes stört. Die Schnecke wurde ausgewiesen, damit alle
ihre Ruhe haben. Die Fischpolizisten können singen:
Refrain
Ausländerfresse
Illegaler
Kann nicht einmal schwimmen
Illegaler
O o o! Es ist seltsam, du Schnecke!
Solo
Er hat keine Flosse, hat keine Schuppen
Chor
Der Schurke
Alle
O o o, es ist selten, du Schnecke
Eine illegale Ausländerfresse
Der wird uns noch arm fressen
Illegaler
Man muss ihn ausweisen, ohne weiteren Kommentar
Chor
Der Abschaum
Solo
Aber schau doch hin, was seltsam ist, ist seine Größe
Chor
Der Schurke
Alle
O o o, es ist seltsam, du Schnecke
Ausländerfresse
Illegaler
Der vor uns herumstolziert …[10]

Der Schurke begeht nicht nur das Verbrechen, sich nicht auf die für ihn
vorgesehene Rolle zu beschränken, er will sogar noch wie die echten Fische
sein, obwohl er weder Schuppen noch Flossen hat, nicht schwimmen kann,
als illegaler Einwanderer hier lebt, und daher keine Befugnis hat,
irgendetwas zu tun. Und auch, wenn er über das alles verfügen sollte …,
›auch mit der Schule …‹, bleibt er ein ›seltsamer Vogel‹, ein Schubiack.
›Schubiack‹ (›racaille‹) reimt sich auf Französisch auf den von Aimé
Césaire verwendeten Begriff ›négraille‹ (etwa ›Negersack‹) in Et les chiens
se taisaient.
Würde der Schubiack an der ihm zugewiesenen Stelle bleiben, würde er
eigentlich niemanden stören. Das Verbrechen der Schnecke ist zu
behaupten, er könne dem kleinen Fischmädchen einiges über das
Universum, das sie kennt und viel breiter ist als sich die Bacheinwohner
vorstellen können, lehren. Der Bach fließt in den Fluss, mündet ins Meer
und schillert im Ozean, so dass sich der Horizont von Ninive mit jeder
Etappe der Initiationsreise unter der Führung der Schnecke zwangsläufig
erweitert. Die Mutter von Ninive erteilt ihr dann die eine Lektion: »Die
Welt ist das, wo wir uns befinden. Weitere Welten gibt es nicht.«[11]
Eines meiner Figuren aus Médicament (Medikament) namens La
Citoyenne (Die Staatsbürgerin) wiederholt es stolz: »Nur Deutsch!«

PARSIFAL MIT KLISCHEES MÖBLIERT – IN EBENHOLZ


Ich möchte diese Ausführungen mit einem hier im Volltext abgedrucktem
Artikel, den ich im Juli 2004 dem Nordbayerischer Kurier geschickt habe
und der nie veröffentlicht wurde, abschließen. Hier heißt es wie folgt:
Auf der Bühne des Festspielhauses, während ich gemeinsam mit einem anderen Schwarzen
Statisten, auf Brusthöhe und mit todernster Miene, einen Sessel trug, auf dem eine Katze lag oder
ein Gepard (oder vielmehr der ausgestopfte Kadaver irgendeines Katzentieres), schoss mir das
Bild von Ugandas Ex-Diktator Idi Amin Dada durch den Kopf. Ich hatte mit Lachlust zu kämpfen.
Doch das Ganze war keineswegs als Karikatur gemeint: Es sollte ernst genommen werden, denn
der Regisseur, Christoph Schlingensief, hatte uns genau in diesem Sinne angewiesen: »Ganz
kräftig!« Es sollte kraftvoll und gravitätisch aussehen. Doch warum Idi Amin, warum meine
Lachlust? Es war unser zweiter Einsatz in dieser Inszenierung: Bereits beim ersten war es ums
Tragen gegangen – einen König in einer Art Hängematte. Dafür brauchte es vier Schwarze
Statisten. Bei diesem zweiten Auftritt hatte ich dann eines verstanden: In dieser Inszenierung
mitzuwirken hieße entweder ein Klischee zu karikieren (was angesichts der Anweisungen des
Regisseurs, soweit ich sehe, nicht beabsichtigt war) oder aber mich diesem Klischee anzupassen,
also gemeinsam mit den anderen Schwarzen Statisten, die man alle speziell dafür ausgewählt
hatte, zum Komplizen des karikaturistischen Bildes zu werden, das gewisse Weiße sich von
Schwarzen machen. Das entspräche übrigens einer bestimmten medialen Darstellung der so
genannten ›Primitiven‹, einer Darstellung, gegen die ich bereits in einem meiner ganz frühen
Theaterstücke, On joue la Comédie (1972), auf parodistische Art und Weise ins Feld gezogen bin,
ein Stück, das die ganze Irrationalität und Lächerlichkeit der Ideen entlarvt, auf denen die
Apartheid gründete.
Aber ich sollte vielleicht erzählen, wie ich in diese Geschichte hineingeraten bin. Jemand kam auf
der Straße, in der Nähe der Stadtkirche auf mich zu (war sein Vorname Stefan?) und erklärte, er
sei auf der Suche nach Schwarzen Statisten für die Oper Parsifal in der Inszenierung von
Schlingensief. Er duzte mich sofort, was ich als Signal unserer gemeinsamen Zugehörigkeit zur
Welt des Theaters interpretierte. Er erwähnte auch, er habe mich schon auf der Bühne gesehen. Ich
sagte, ich könnte als Statist mitwirken, wenn sowohl die Rolle als auch der Probeplan es mir
erlaubten. Er machte sofort ein Foto von mir. Einige Tage später rief derselbe Mann (Stefan?)
mich an, um mir mitzuteilen, ich sei ausgewählt worden und solle mich in der Kostümschneiderei
des Festspielhauses vorstellen, damit meine Maße genommen würden. Ich entgegnete, dass ich
noch nicht zugesagt hätte. Er bestand jedoch darauf, ich solle kommen, man würde mir dann
erklären, worum es ginge. Er gab mir die Telefonnummer einer Dame, mit der ich die
Verabredung treffen sollte, was ich auch tat. Als ich jedoch zu diesem Termin in die
Kostümschneiderei kam, war die besagte Dame nicht anwesend. Ihre Mitarbeiter wollten meine
Maße nehmen. Ich verlangte jedoch, zunächst über die Art der Kostüme aufgeklärt zu werden.
Zeichnungen wurden mir präsentiert: Zum einen würde ich das Gewand eines Priesters tragen,
zum anderen ein Röckchen aus Blättern, dazu nackter Oberkörper und Totems, nach Art der
›Ureinwohner‹ Ozeaniens … Die Klischees erschienen mir so offensichtlich, so ausschließlich
dazu bestimmt, das Bedürfnis eines bestimmten Publikums nach Exotismen zu befriedigen, dass
ich sofort erklärte, ich würde dieses Kostüm nicht tragen. Daraufhin wurde mir gesagt, ich hätte
nur die Wahl, entweder sämtliche Rollen zu akzeptieren oder die gesamte Mitwirkung abzulehnen.
Das tat ich also und ging. Kurz darauf erhielt ich einen Telefonanruf der verantwortlichen Dame.
Sie sagte, man habe mir die Sache nicht richtig erklärt und mir auch nicht die endgültigen
Zeichnungen vorgelegt, und forderte mich auf, erneut ins Festspielhaus zu kommen. Ich kehrte
zurück: Sie zeigte mir andere Zeichnungen, gab andere Erläuterungen: Im ersten Akt sollte ich
Leibwächter sein in einem modernen Anzug, zusammen mit anderen Schwarzen, dann würde ich
das Gewand eines Bischofs einer synkretistischen afrikanischen Religionsgemeinschaft tragen,
später würde ich als haitianischer Voodoo-Priester ausstaffiert, und am Schluss sollte ich den
traditionellen afrikanischen Bubu tragen. Im zweiten Akt sollte es dann das Blätterröckchen sein.
Im dritten Akt würde ich einen verwundeten Soldaten darstellen, in zerrissener Uniform. Gut.
Wenn es sich darum handelt, als Schauspieler alle möglichen Rollen, positive und negative,
sympathische und unsympathische zu gestalten, warum nicht? Außerdem hatte ich den Eindruck,
mit dieser Inszenierung sollte jede Form von Extremismus, namentlich religiöser und
nationalistischer Art, bloßgestellt werden, was vollkommen meiner eigenen Überzeugung
entspricht. Hinzu kam mein Bild von Schlingensief als eines Bilderstürmers und
Nonkonformisten. Jedoch behielt ich mir die endgültige Entscheidung noch vor. Ich bekam auch
den Zeitplan, wonach die Proben für mich am 13. Juli beginnen sollten. Vorher würde man mich,
nach Aussage der für die Kostüme zuständigen Dame, zur Unterzeichnung eines Vertrages bitten.
Dann erhielt ich jedoch am 17. Juni aus dem Festspielhaus einen Anruf, ich möchte mich zu einer
bereits für den folgenden Tag anberaumten Probe einfinden. Ich akzeptierte. Ich fand mich ein. Da
stellte ich dann fest, dass wir fünf Schwarze waren (vier, die im Spiel gebraucht wurden, einer als
Ersatzmann), speziell engagiert als Hängematten- und Sesselträger für menschliche und tierische
Lasten.
Es ist nicht diese Rolle selbst, die ich in Frage stelle: Ich könnte ohne Weiteres Träger von
Hängematten sein oder selbst in einer solchen getragen werden in irgendeinem Stück, Sklave oder
Herr …, da liegt nicht das Problem. Es geht um das Klischee, das mit der Rolle transportiert wird.
Welche Bedeutung hat es für das Stück, wenn ausschließlich Schwarze Träger gewählt werden?
Ich gehe von dem Grundprinzip aus, dass nichts, was auf der Bühne geschieht, beliebig ist,
insbesondere nicht bei einem Regisseur vom Renommee Schlingensiefs: Man trifft eine Wahl,
selbst wenn es sich um ein Klischee handelt: Also hat dieses Klischee eine Funktion. Sie kann in
einer Karikatur bestehen, um das Klischee zu entlarven (was die Anweisungen des Regisseurs
jedoch nicht erkennen ließen), oder im Verweis auf eine vermeintliche Wahrheit. Ich glaube
jedenfalls nicht, dass in diesem Fall eine künstlerische Funktion vorhanden ist. So kam mir dann
das Bild von Idi Amin wieder in den Sinn, dem als späte Rache an den Weißen, die sich während
der Kolonialzeit von einheimischen Trägern in Hängematten, auf Sesseln oder sogar auf dem
Buckel tragen ließen, nichts Besseres einfiel, als sich selbst in einer Hängematte von Weißen, die
er gefangen genommen hatte, herumtragen zu lassen. Idi Amin ist unglücklicherweise kein
Einzelfall. Die sehr aktuellen Bilder von Geiseln westlicher oder pro-westlicher Nationen, die von
ihren Entführern vor der Hinrichtung erniedrigt und gequält werden, oder schlicht die Leichen der
GIs, die von denen geschändet werden, die sich von den USA unterdrückt fühlen, sind eine Lehre
für uns als Intellektuelle und Künstler mit unserem Anspruch, eine andere Welt zu entwerfen. Es
geht nicht um Schwarz oder Weiß: Iraker unter alliierter Besatzung, Al Ouaida-Mitglieder oder
auch Islamisten in Nigeria würden amerikanische Geiseln, ob weiß oder Schwarz, in gleicher
Weise behandeln, nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie repräsentieren: Die
Unterdrückung durch den Westen insgesamt und besonders durch Amerika.
Klischees halten sich jedenfalls mit großer Zähigkeit am Leben und man kann nie wissen, in
welchem Gewand sie plötzlich an den verschiedensten Orten wieder auftauchen. Wie, wenn Idi
Amin nur die Karikatur einer Karikatur wäre? Die komische, unbewusste Antwort auf ein ebenso
irrationelles und lächerliches Verhalten: das einer Spezies von Menschen, die ihre Stärke und
Überlegenheit über eine andere dadurch demonstriert, dass sie die etztere als Reittier benutzt?
Schlingensiefs Inszenierung gefiele mir sehr und ich würde mit Vergnügen dabei sein, selbst als
Träger, wenn sie diese Botschaft vermittelte.

Aus dem Französischen von Marianne Ballé Moudoumbou[12]

ANMERKUNGEN
1 Nordbayerischer Kurier vom 17.7.1995, S.10.
2 Nordbayerischer Kurier vom 29.9.1995, S. 14.
3 Ralf Ziegoleit in Frankenpost, vom 4.7.1994.
4 Laizität: in Frankreich, grundsätzliche Neutralität des Staates allen Religionsgemeinschaften
gegenüber N.d.Ü.
5 Askolovitch, Claude: Islam et République: les noces d’Août, in: Le nouvel Observateur, 2-8
September 2004, S. 28.
6 Hijab: »moslemische Kleidung«, die nach dem Koran, die Blicke auf weibliche Reize abhält.
N.d.Ü
7 Ebenda.
8 Nordbayerischer Kurier, vom 28.-29.5.1997
9 Sénouvo A. Zinsou: On joue la comédie, éd. RFI, Paris 1975, éd. Haho, Lomé 1984, S. 47.
10 Sénouvo A. Zinsou, nach Samad Bérangi, in Swahili von Ebrahim Hussein und ins Französische
von Alain Ricard übersetzt, Ninive la Petite fille poisson in: Französichlehrer Fortbildung,
Bayreuther Frankophonie Studien, Beiheft 2, János Riesz/ Véronique Porra ( Hg.) Palabres éd.
Bremen, 1999, S. 142-143.
11 Ebenda, S. 141.
12 S. 235-236 wurden von Beeke Dummer übersetzt.
MUTLU ERGÜN
HAYAL

DAS LABYRINTH DES TRÄUMERS


Bei den folgenden Erzählungen handelt es sich um Auszüge aus einem
längeren Prosatext. Das Gesamtwerk ist unvollendet und hat noch keinen
Titel. Es ist in vier Bücher aufgeteilt: »Im Untergrund«, »Das Schwert«,
»Das Phantombuch« und »Die Psychokalypse«. Alle Auszüge stammen
ausnahmslos aus dem ersten Teil des Buches Im Untergrund. Die
Geschichte wird größtenteils aus der Perspektive von Hayal erzählt. Hayal
ist ein junger Mann, türkischer Herkunft, der in Deutschland lebt und
aufgewachsen ist. Verloren im Labyrinth zwischen Traum und Realität
begegnet er den verschiedensten Personen. Er trifft auf die Schwarze
Prophetin, sie war anfangs eine Schneiderin gewesen, begann dann aber zu
den Menschen zu reden. Später findet Hayal heraus, dass sie eine der
Auserwählten ist, die gekommen sind, um die Welt zu befreien. Die
›Organisation der Wahrheit‹, kurz: Das Organ versucht dies zu verhindern.
So kommt es zu einer Begegnung mit der Han, die im Organischen
Widerstand kämpft. Niemand kennt ihren wahren Namen, Han ist der Titel,
mit dem sie angesprochen wird. Am Ende, in der »Psychokalypse« kommt
es zu einer großen Veränderung der Welt.

CHARAKTERE
HAYAL, ist Mitte 20, er ist ein alevitischer Anatolier, der in Europa
geboren und aufgewachsen ist.
SCHWARZE PROPHETIN, ist eine Schwarze Frau, Mitte 30, es ist nicht
bekannt, woher sie kommt und wo sie aufgewachsen ist.
HAN, sie ist Anfang 50, sie ist eine Gelehrte aus der Mongolei, kam mit
Ende 20 nach Europa und entwickelte sich zur Kämpferin.

DER WEG DURCH DIE WÜSTE


Der Tod ist etwas Sonderbares. Manchmal erscheint er mir wie eine
Verlängerung meiner Seele. Aber immer, wenn ich versuche, nach ihm zu
greifen, ist es, als fasse ich in ein gigantisches Nichts, das sich nicht
berühren lässt. Augen berühren meinen Körper, doch sie sehen nicht den
Schmerz in meiner Seele, den sie erzeugen. Langsam schieben sie sich an
mir vorbei. Nichtssagend, nichtsfragend, nichtswollend, nichtendend,
nichtexistent. Tausende von Lichtern spiegeln sich in ihnen. Doch trotzdem
bleibt alles grau. Ist alles verregnet.

Er sah sich um. Seine Füße berührten den Boden, doch sein Geist schien in
weiter Ferne zu verweilen. Er ging geradeaus, wich den Leuten nicht aus.
Sie sahen ihn nicht. Zumindest taten sie so. Doch keiner berührte ihn, alle
wichen sie ihm aus. Immer einen kurzen Augenblick, bevor es zu einer
Berührung kam. Er ragte nur ein kleines bisschen über die meisten hinweg.
Die Köpfe waren wie eine Woge, unregelmäßig, chaotisch, doch eine
kosmische Ordnung widerspiegelnd, nach der er sein ganzes Leben gesucht
hatte.
Autos fuhren an ihm vorbei. Sie fuhren langsam, ihre Fahrer hatten die
Straße kaum im Auge. Sie suchten, sie suchten nach Antworten, sie suchten
nach Fragen, sie suchten nach Sinn. Der Boden vibrierte, bebte sanft, wie
ein menschlicher Körper nach einer sanften Berührung.
Es war, als wäre die Zeit in ein weiches Kissen eingebettet. Gleitend, wie
in Zeitlupe, widerstandslos, und doch aufreibend.
Die Autos verschwanden hinter einer Kurve. Mit ihnen die Fahrer mit
den merkwürdigen Sonnenbrillen. Merkwürdig, weil die Sonne nicht
schien.
Ein Duft riss ihn in eine andere Welt. Er sah Bilder und hörte Stimmen
aus dieser Welt. Fühlte, wie sie ihn riefen, sich nach ihm sehnten. Auch er
sehnte sich nach ihnen, doch er wusste, dass er taub war für ihre Sehnsucht,
und auch für seine eigene.
Eine Hand holte ihn zurück. Die Hand gehörte zu einer Stimme, die sich
mit Millionen anderer Stimmen vermischte und seinen Kopf in ein
Schlachtfeld verwandelte. Alles schrie, die Wände, die Straße, die Häuser,
die Fenster, die Dächer, die Menschen, die Kinder, seine Haare und seine
Augen.
Etwas auf seiner Zunge verwandelte sich in eine Illusion. Oh Gott, sie
schmeckte so süß, so süß.
Aber es war einfach zu kalt. Das wusste er. Und er wusste auch, warum.

Ich lebe mitten unter Menschen, die in den Tod verliebt sind. Ich bin unter
ihnen aufgewachsen, war einer von ihnen und war es doch nicht. Haben die
Oasen, in die ich zurückkehren konnte, mich gerettet?
Er sah aus dem Fenster. Die Menschen konnten ihn nicht fühlen, nicht zu
diesem Augenblick, doch der Tag würde kommen …
Seine Hand machte eine Pause, und er dachte, mache ich Literatur – oder
macht die Literatur mich?

Auf seinem Weg durch die Wüste erreicht Hayal einen Berg. Viele
Menschen haben sich dort versammelt. Er mischt sich unter das Publikum
und lauscht den Worten einer Frau, die mit klarer und kräftiger Stimme den
Menschen zuwendet.
Die Schwarze Prophetin spricht:

UYAN!
Erwacht! Denn wenn ich mit Euch fertig bin, werdet Ihr nicht mehr
dieselben sein. Ihr werdet Euch verändern und es wird kein Zurück mehr
geben. Seht Ihr nur einmal den Ort, an den meine Worte Euch tragen,
werdet Ihr nicht mehr von dort entfliehen können. Alles wird sich
verändern. Nichts mehr wird so sein, wie es einmal war. Ihr werdet Dinge
sehen, die Ihr bereits seht, aber nicht wahr haben wolltet. Sie werden wahr
werden, weil sie sind, weil sie existieren.
Ich werde Euch den Pfad zeigen, den Pfad der Dornen und des
Schmerzes. Und Ihr werdet mir folgen, weil Ihr ahnt, wer ich bin und was
ich weiß. Meine Stimme ist die Geburt und der Tod. Sie macht Euer Dasein
zu Licht, sie macht Euer Licht zu Feuer, das Euch verbrennt. Nur Eure
Asche kehrt zurück in die Dunkelheit des Wassers. Meine Stimme ist das
Boot, das Euch hilft den Fluss zu überqueren. Jenen Fluss, welcher Euer
Bewusstsein von der Welt trennt. Ihr werdet sehen, Freunde sind Feinde,
Gelehrte sind unwissend, Bindungen werden zu Ungleichgewicht. Jeder
steht für sich – allein. Kein Halt, jede Stange, an der Ihr Euch festhalten
konntet, schmilzt bei dem Klang meiner Stimme. Die Illusion der
Sicherheit, ich nehme sie Euch, die Illusion der Wahrheit, ich nehme sie
Euch, die Illusion der Endlichkeit, ich nehme sie Euch. Ich sehe Eure
Hände, die Ihr mir entgegenstreckt, in der Hoffnung, dass ich Euch etwas
gebe, etwas neues, an das Ihr Euch klammern könnt. Und nur die wenigsten
werden begriffen haben, was ich ihnen gab und was nicht, während die
anderen suchen, aber an falschen Orten.
Ich bin nicht Eure Mutter, ich bin nicht Euer Lehrer oder Euer Vater. Ich
lasse Euch allein mit der Verantwortung über Euch selbst. Ich lasse Euch
allein mit dem Wissen der Unvernunft. Ihr glaubt in mir die Ursache für
Eure Resignation und Eure Euphorie zu sehen, doch der Ursprung seid Ihr
selbst und Euer Herz. Ja, Ihr habt mich gerufen, Ihr habt Euch nach mir
gesehnt. Doch ich bin nicht das, für was Ihr mich haltet. Ich bin nur ein
Spiegelbild dessen, was Ihr in mir sehen wollt. Doch bin ich das
Spiegelbild, das in Eure Augen blickt und den Spiegel in Euch zerstört.
Wie ein durchsichtiger Dämon durchdringe ich jede Faser Eures Ichs,
bestimmend, dass Bitterkeit und Süße sich ablösen. Euch führend an den
Ort des Schulterzuckens, der Moment der endlosen Gleichgültigkeit, spürt
Ihr, dass selbst das, was ich euch gab, nichts ist. Und das, was ich Euch
nahm, noch viel weniger. Denn auch ein Dämon ist ein Engel.
Ich lasse Euch allein, stehend am Rand der Dinge, des Lebens und Eures
Selbst. Ich führe Euch nicht um den Abgrund herum. Ich lasse Euch davor
stehen. Und nun entscheidet Ihr selbst, was Ihr und dieser Abgrund seid.
Dort habe ich schon alles erlebt, starke Stimmen, die mit mir sprachen
und sich sehnten nach Frieden und Tod. Doch ist es nicht meine Aufgabe
über Euch zu richten, Ihr sollt nicht einmal richten über Euch selbst. Ich
sehe Euch dort stehen, lange in den Abgrund blickend, fern von Euch selbst
und dem, was Ihr einst gewesen. Ich sehe Euch blicken in die Nebel der
Tiefe, sehe Eure Angst und Eure Furcht. Sehe Euch nackt, sehe das Kind
und den Greis. Und ich sehe, dass Ihr sie seht. Die Augen, tief verborgen in
dem Abgrund, die Euch anstarren, und die Ihr anstarrt, weil Ihr wisst und
nicht wisst, was sie sind. Gebannt von ihrem Blick und den Dingen, die sie
sagen, könnt Ihr nicht mehr wegsehen, habt Ihr sie erst einmal erblickt.
Unausweichlich ist der Tag, an dem diese Augen aus Euch herausblicken.

Nach den bewegenden Worten der Schwarzen Prophetin begibt sich Hayal
auf die Suche. Dabei begegnet er Menschen, die sich im Widerstand
befinden. Sie bekämpfen einen Machtapparat, der sich als Das Organ
bezeichnet. Sie selber nennen sich der Organische Widerstand. Sie erhoffen
sich von Hayal, dass er für sie auf die Suche nach Visionen geht, um
Antworten über die Zukunft zu erhalten. Doch Hayal begegnet nur dem
Ende der Welt. Als er von seiner Vision zurückkehrt, trifft er auf die Han,
eine der Führerinnen der Widerstandsgruppe. Er hat Fragen an sie, über Das
Organ und auch über den Organischen Widerstand

Han erzählt …

VOM HOMO OBEDIENSIS


Die Natur hat den Menschen mit verschiedenen Anlagen ausgestattet, damit
das Überleben der Spezies gesichert wird. Diese Anlagen sind ganz
natürlich, wir werden mit ihnen geboren, sie sind weder gut noch schlecht.
Und tatsächlich sind sie überlebenswichtig für uns, wir brauchen diese
Anlagen, wir sind auf sie angewiesen.
Es handelt sich dabei um ganz existentielle Sachen, so grundlegend, dass
sie schon fast wieder übersehen werden könnten. Dinge, die mit der
Prägung unserer Umwelt zu tun haben, mit der Anpassung an gewisse
Lebensumstände, welche unser Überleben sichern sollen.
Leider hat die Natur nicht an alles denken können. Sie gab uns dieses
Geschenk, aber sie gab uns keinen Schutz für diese Anlagen. Die Natur, sie
dachte zwar an unser Überleben, aber sie dachte nicht daran, dass diese
Anlagen missbraucht werden können. Missbraucht werden können, um
noch einem anderen Ziel zu dienen, außer dem Überleben der Spezies.
Versteht du, Hayal, Das Organ gibt es nicht erst seit wenigen Jahren. Das
Organ gibt es seit mindestens 2000 Jahren, vielleicht sogar viel länger.
Entstanden aus dem Geist der Antike, oder eines Geistes, der vielleicht
noch viel älter ist.
Wir wissen es nicht. Aber wir kennen die Funktion des Organs. Damit
meine ich nicht, das was Du erlebt hast, auch wenn dies ein Bestandteil
davon ist. Es geht um ein jahrtausende altes Zuchtprogramm: Die
Erschaffung des homo obediensis, des gehorsamen Menschen.
Der Organische Widerstand ist bestimmt ebenso alt wie die Organisation
der Wahrheit, nur findet sich darüber kaum etwas in den
Geschichtsbüchern, weil uns der endgültige Sieg nicht gelungen ist und die
Geschichte von den Siegern geschrieben wird. In den meisten Fällen.
Seit vielen tausend Jahren kämpfen wir nicht nur gegen Das Organ und
seine Agenten. Wir studieren es auch. Und so haben wir herausgefunden,
dass die Essenz, der Kern der westlichen ›Zivilisation‹ immer die
Erschaffung des gehorsamen Menschen ist.
Sicherlich gibt es auch außerhalb des Okzidents Kulturen, wo sich
Parallelen finden lassen, doch hier ist dieses Verfahren absolut
perfektioniert worden. Die alltägliche Gehirnwäsche durch Erziehung,
Kindergärten, Schulen, Universitäten, Fachschulen, die Medien, Kunst und
Kultur, du begegnest ihr überall, es findet sich immer am Ende aller
Gedanken: das Gehorchen, die Autoritätshörigkeit, das uneingeschränkte
Handeln nach der Macht, dem Absoluten, dem Totalen.
Bei dieser Gestaltung des homo obediensis geht es wenig um Inhalte,
auch wenn diese eine subtile und wichtige Rolle spielen, es geht aber viel
mehr um Strukturen. Sie verschleiern den Anspruch der Macht, sie müssen
unsichtbar gehalten werden, so wie die Macht selbst. Ein Sichtbarmachen
würde nämlich eine Dekonstruktion dieser Strukturen und somit eine
Dekonstruktion des Systems ermöglichen. Aber das System selbst wird
immer die eigene Reproduktion, das eigene Überleben sichern wollen.
Daher bleiben diese Strukturen verborgen.
Vielmehr werden diese Strukturen mit leerem Gerede über Freiheit,
Gleichheit und Demokratie verschleiert. Dies sind bloße Worthülsen,
welche den Geist der Menschen vernebeln, eben damit sie die Wahrheit
nicht erkennen: dass sie Sklaven sind.
Die Herren, die Mächtigen, das sind in den seltensten Fällen wirklich
einzelne Personen, vielmehr sind dies Posten, mit bestimmten Aufgaben
und Funktionen. Dieses Funktionieren reproduziert die Struktur und somit
das System der Macht.
Es gibt zwar ein Zentrum, früher waren dies Könige oder Tyrannen,
später waren es Diktatoren, doch funktioniert es auch, wenn dieses Zentrum
nicht von einer Person, sondern von einem Gedanken, einer Idee ersetzt
wird. Die Verkörperung dieser Idee ist zweitrangig, ganz besonders in den
›modernen Demokratien‹.
Es ist wichtig dies in einem Gesamtzusammenhang zu betrachten, dann
wird dir bewusst, dass selbst hohe Staatsdiener doch nur kleine Rädchen
eines gigantischen Mechanismus sind. Dennoch tragen sie eine große
Verantwortung, die Verantwortung dafür, dass einem Großteil der
Menschheit die Individualität verweigert wird.
In diesem System ist es fast unmöglich ein Subjekt zu sein, auch wenn
wir unser ganzes Leben danach streben. Aber viele erkennen ihr
zwanghaftes Verhalten nicht und leben in der Illusion Herr über ihre
Entscheidungen zu sein.
Es bedeutet nicht, dass der homo obediensis kein Mensch ist oder keine
Menschlichkeit besitzt, wobei es häufig einhergeht, dass diese oft
gewaltsame physische und psychische Konditionierung der Macht zum
Verlust von Empathie und Mitgefühl führt. Aber es kann durchaus sein,
dass der gehorsame Mensch den Schmerz mitempfindet, den er einem
anderen Menschen antut oder sogar in einen inneren Konflikt gerät. Aber
die Programmierung ist so stark, dass die Pflicht, dem Gehorchen der
Macht und seinen Symbolen und Verkörperungen wichtiger ist als die
Menschlichkeit. Sie ist zwar da, aber sie ist zweitrangig.
Das kommt nicht von irgendwo her. Das ist geplant, vielleicht nicht
bewusst oder intentional, aber das wird Kindern bereits im frühesten Alter
anerzogen und abverlangt. Wie ich sagte, das Zuchtprogramm des Organs
ist viele tausend Jahre alt.
Überleg dir, Hayal, wir sind die Kinder derer, die überlebten, die sich
anpassten an die Mechanismen der Macht, die sich unterwarfen. Der homo
obediensis ist in jedem von uns. Er hat sich bis in die tiefsten Furchen
unseres Körpers eingeschrieben, vielleicht ist er sogar genetisch in unseren
Zellen fest verankert. Wir wissen es nicht. Aber wir kämpfen weiter.

Sie machte eine Pause. Sie wurde nachdenklich, ihre Augen blickten
glasig in die Dunkelheit.

Manche sagen, dass wir, der Organische Widerstand, ein fester


Bestandteil des Organs sind. Sie denken, dass die Organisation der
Wahrheit uns braucht, weil wir es indirekt mit unserem Kampf bestätigen.
Sie sagen, die Agenten der Wahrheit wissen über jeden unserer Schritte
Bescheid. Das ist eine furchtbare Vorstellung, alles wäre so sinnlos. Aber es
könnte wahr sein.
Dennoch geben wir unseren Kampf nicht auf. Wir alle hier teilen eine
Vision. Wir möchten eine neue Welt erschaffen, wir möchten, dass Freiheit
und Liebe im Zentrum unseres Denkens und Handelns stehen. Vielleicht
erwecken wir einen neuen Geist, der uns auf unserem Weg hilft. Die Zeit
wird zeigen, ob wir diesem neuen Geist näher gekommen sind.

Nach dem Gespräch mit ihr bringt die Han Hayal mit einer Heilerin
zusammen. Sie versetzt ihn in Hypnose, dabei träumt er, dass er aus einem
Traum erwacht. Er kommt in einen Klassenraum, aber alle Menschen
schlafen. An der Tafel entdeckt er eine Formel.
PHANTOM

licht und schatten


hoffnung ist angst
mehr sehen als ist
auch wenn es nur ist
nicht genug

dumpfe klänge
gesichter die sich verändern
nicht kennen
nicht wissen

verlorenes licht
rückkehr zu verlorenen gedanken
leben
leben wie schatten
schatten der lebt
lebt durch licht
stirbt durch licht
wissen oder keines
das sich verändert
nicht lieben
nicht hassen

dünya bizim insanlar kum


güneþ savaþ ve yýldýzlar – hayalin sonu

Hayal berührt einen der schlafenden Schüler. Dabei teilen sie eine Vision.
DIE HEILUNG
Ich sah mich selbst in der U-Bahn sitzen. Ich begleitete meine Freundin zu
einem wichtigen Vorstellungsgespräch. In den Fenstern des Waggons
spiegelte sich mein Gesicht. Es war nicht wirklich mein Gesicht, es war das
Gesicht eines anderen, aber irgendwie war es meins.
Da kam ein etwas älterer Mann auf uns zu. Auf seinen Schultern hatte er
einen Vogel, der neugierig um sich blickte und fröhlich zwitscherte. Der
Mann sah mich an, ich lächelte freundlich und er lächelte zurück.
Schließlich sprach er mich auf türkisch an.

Nasýlsýn?

Ich antwortete, Saðol, iyiyim. Siz nasýlsýnýz? Er nickte sanft mit dem
Kopf. Ich war neugierig. Sie haben da einen wunderschönen Vogel. Fliegt
der Ihnen nicht weg?

Er schüttelte den Kopf. Dieser Vogel, sprach er ruhig, ist kein normaler
Vogel. Er ist etwas ganz Besonderes. Ich blickte in das Gesicht meiner
Freundin. Ihre Augen strahlten mich an. Dieses kleine Lebewesen hier, er
zuckte mit der Schulter und der Vogel verstummte augenblicklich, hat in
den brennenden Dornbusch gesehen, durch den Gott zu Moses sprach. Er
ließ seine Worte wirken. Seine Seele entbrannte in der Liebe des ewigen
Mysteriums. Dadurch wurde er unsterblich. Und nun verkündet seine
Stimme von diesem Feuer.
Er streichelte sanft das kleine Köpfchen des Tieres und sah uns beide an.
Dann setzte er den Vogel auf seine Hand und reichte ihn mir rüber. Hier,
sagte er, ich schenke ihn Dir.
Ich war überrascht und zögerte. Natürlich glaubte ich nicht so ganz an
seine phantasievolle Geschichte, trotzdem wirkte das Geschenk so kostbar,
dass ich es nicht annehmen wollte. Dem Vogel war es jedoch egal. Er
flatterte munter auf meinen Kopf und krabbelte schließlich auf meine
Schulter.
Seine Hand berührte mein Bein, er sprach mit sanfter Stimme. Du wirst
es nicht einfach haben, mein Sohn. Ich sehe einen Krieg in Deinem Leben.
Doch er, damit deutete er auf den Vogel, wird Dir den Weg weisen.
Die U-Bahn hielt. Er nickte mir zu und verschwand. Meine Freundin und
ich sahen uns verdutzt an. Ich nahm den Vogel mit zu mir nach Hause.
Einen Käfig hielt ich für unnötig. Er flog nicht davon.
Es war ein sehr lebendiges Tier. Lange Zeit suchte ich nach einem
Namen, doch irgendwann gab ich es auf. Ich sprach oft mit dem Vogel und
fragte ihn herausfordernd, wo denn mein Krieg geblieben sei. Dann tanzte
er wild umher und zwitscherte völlig aufgeregt. Ich fand das lustig, ich
lachte über ihn, so wie über die Worte des alten Mannes.
Doch er behielt Recht. Kurz nach dieser seltsamen Begegnung führte ich
einen Krieg. Gegen den Weißen Tod. Die Jahre vergingen, doch ich hielt am
Leben fest. Ich wollte mich nicht besiegen lassen.
Traf ich Freunde, erschraken sie, wenn sie mich sahen. Ich war blass
geworden, hatte abgenommen, meine Augen wirkten müde und meine
Zunge wurde langsam.
In meiner Wohnung erdrückte mich die Fremde. Nur der Gesang des
Vogels und sein weiches, seidiges Federkleid drangen zu mir durch.
Trotzdem verzweifelte ich schier an meinem Hass, ich drohte daran zu
ersticken. Wohin hatten mich all meine Gedanken und Gefühle geführt?
Fragend sah ich den Vogel an. Er sang ein seltsames Lied, das mich zu dem
Kern aller Dinge führen sollte.
Die Stimme des Vogels brachte mich in das geheimnisvolle Land. Ich
sah das Weinen der Wolken, lauschte den Gesprächen des Waldes, sang
Lieder mit der Erde und küsste das Meer. In einem grünen Tal trank ich aus
der Quelle des Seins. Ein großer Felsen ragte aus der Mitte empor.
In seinem Inneren begegnete ich den Katzen. Ich fragte sie nach dem
Leben und sie antworteten: Erkenne die Seelen.
Ich ging weiter und traf auf Drachenechsen. Ich fragte sie nach dem
Leben und sie sagten: Erkenne den Kampf.
Ich drang immer tiefer in die Welt, und mein Weg kreuzte sich mit einem
Schwarm fliegender Fische und ich fragte sie nach dem Leben und sie
sprachen: Erkenne das Licht.
Als ich in die Ferne blickte, wusste ich, was mich dort erwarten würde.
Und ich kannte die Antwort, noch bevor sich die Frage stellte.
In der Ferne erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes: Und nun
verkündet seine Stimme von diesem Feuer. Das Feuer der Wahrheit. Was ist
die Wahrheit?
Die alten Weisen sagen, der Mensch sei gar nicht in der Lage, die
Realität zu erkennen. Sie ist viel zu groß und nicht fassbar für seinen
Verstand. Sie sagen, der Mensch ist wie ein Blinder, der mit seinen Sinnen
die Welt erfassen kann, doch seine Augen sehen nur das Nichts. Dieses
Nichts ist das Ich. Wenn das Ich stirbt, stirbt mit ihr das Nichts und in den
Augen spiegelt sich das Licht der Wahrheit.
Wahrheit. Was weiß ich schon darüber. Ich bin nur ein einfacher Mensch
aus der Wüste. Die Sterne sind meine Führer, die Sonne ist meine Liebe und
das Wasser ist mein Gold. Der Wind erzählt mir Geschichten und der
Wüstensand … jedes Sandkörnchen ist ein Planet voller Leben und die
Wesen dieser Welt fragen sich: Was ist Zeit? Wo endet die Unendlichkeit?
Und wann hat sie angefangen?
In den Augen meiner Geliebten bin ich jenseits von Zeit und Raum. Hier
verliert alles seine Bedeutung. Ich fühle die Einheit mit allen Dingen. Nein,
mein Ich löst sich auf und wird eins mit dem Universum.
Und da wurde es mir bewusst. Ich sah in das klare Gesicht meiner
Freundin.

Sie lächelte mich an und fragte, Was ist?

Ohne ein Wort gab ich ihr den Vogel zum Geschenk. Und ohne zu zögern,
ließ sie den Vogel aus dem Fenster fliegen. Sie schenkte ihm die Freiheit.
Ich hatte den Krieg gewonnen. Der Weiße Tod war besiegt.
Erwarte das Unerwartete. Wenn ich das Unerwartete erwarte, ist es dann
noch unerwartet? Vielleicht bin ich am Ende meines Lebens überrascht,
weil nie etwas Unerwartetes eintraf? Zieht sich das Schicksal durch mein
Leben wie eine Linie? Eine Linie wie der Scheitel einer Düne? Oder ist das
Leben so unvorhersehbar wie die Reise eines Vogels?

Manchmal träume ich von der Wüste. Viele Menschen sind dort in den Tod
gegangen. Dann sehe ich einen Vogel aus schwarzem Feuer. Und dann weiß
ich, ich werde leben. Die Wüste ist mein Freund.
ARETHA SCHWARZBACH-APITHY
INTERKULTURALITÄT UND ANTI-RASSISTISCHE
WEIS(S)HEITEN AN BERLINER UNIVERSITÄTEN

In den fünf Jahren meiner Studienzeit an der Humboldt-Universität und an


der Technischen Universität (kurzweilig auch an der Freien Universität) in
Berlin besuchte ich unterschiedliche Seminare, Institute und Disziplinen.
Einer meiner Schwerpunkte in Erziehungswissenschaften und in Gender
Studies war Weißsein. Entgegen allen freundlich (oder aber auch ängstlich)
motivierten Ausrufen, dass in Deutschland Differenzen keine Rolle spielen
und wir sowieso alle Menschen sind und Menschen schließlich alle gleich
sind, gleich zu Beginn die Benennung der gleichen Differenzen: als oft
einzige Schwarze Studentin blicke ich nach mehreren Jahren mit
DozentInnen und KommilitonInnen,[1] die in ihrer absoluten Mehrheit
weiße Deutsche waren, auf häufig stattgefundene harte
Auseinandersetzungen zum Thema Weißsein, die nicht selten zu Geschrei,
Tränen und Wut, zu psychologischen Beratungen, an der FU gar zum Rufen
des Wachschutzes oder im besten Fall zu gegenseitigem Ignorieren führten.
So kam ich zu der Überzeugung (die ich mir wesentlich früher gewünscht
hätte), dass es in der Tat nicht darum gehen sollte, diesbezügliche Texte zu
analysieren, zu reflektieren und als handlungsweisend zu nehmen, sie also
gleichzeitig auf ihre Übertragbarkeit in die uns alle umgebende Praxis zu
überprüfen. Es schien der unausgesprochene Gemeinsinn vorzuliegen, sich
dieser Texte als eine Art Modeerscheinung aus den USA annehmen zu
müssen; alles ein wenig mit den Begriffen Postkolonialismus und
Antirassismus zusammen zu würfeln, dazu noch Fremdwörter wie
Gleichberechtigung und Interkulturalität beimengen, mit Rollenspielchen
lustvoller gestalten und die zukünftigen Führungskräfte, z.B. Lehrende in
Pädagogik oder ›Integrationsbeauftragte‹, haben ihren Beruf sicher. Ich
arbeitete zwei Jahre in einem sich ›antirassistisch-links‹ verstehendem
Studierendengremium (AStA), leitete mit zwei weiteren Kommilitoninnen
eigene Universitätsseminare, und ich nahm an verschiedenen
Veranstaltungen, Tagungen, Konferenzen etc. zu Themen wie Rassismus,
Interkulturalität, Weißsein oder Postkolonialismus teil. Dabei kann davon
ausgegangen werden, dass jene Treffen von den ›ExpertInnen‹ für Weißsein
organisiert wurden. Abschließend kann ich zu all diesen Lernmöglichkeiten
und Arbeitsmöglichkeiten mit weißen DozentInnen und Studentinnen
ausdrücklich sagen, dass sich in aller Regel mit festgelegtem Vokabular wie
z.B. Toleranz [in den Seminaren wie ja auch in der Politik immer noch
selbstverständlich verwendet; von deren gönnerhaften Habitus (der
Deutsche erduldet den Anderen) möchte niemand etwas wissen], Respekt,
Gleichberechtigung, Gleichheit, Kultur, keine Vorurteile haben u.ä.m. oder
auch mit diffizilen und damit Ehrfurcht einflößenden Theorien zu Weißsein
eingedeckt wird, damit nicht zugegeben werden muss, dass kaum eine Idee
realer Umsetzungsmöglichkeiten jener großen Begriffe und Erkenntnisse
vorhanden ist. Wie kann interkulturelle oder antirassistische
Schlüsselqualifikation (siehe auch Empfehlungen der
Kultusministerkonferenz von 1996) vermittelt bzw. erworben werden, wenn
Dozierende selber kaum eine Vorstellung in Theorie und Praxis davon
besitzen bzw. wenn nur gewisse persönliche und kollektive Auffassungen
davon existieren? Weißsein wird als ›Forschungsgegenstand‹ verhandelt
und hat daher genau soviel Einfluss auf das Denken und Handeln weißer
Menschen wie der Forschungsgegenstand Giftschlange das menschliche
Verhalten im Alltag beeinflussen dürfte. Aus diesen Gründen werde ich in
meinen Ausführungen weniger Theorien zu Weißsein wiederholen, als
genau das wiederzugeben, was sich aufgrund des Versteckens hinter
Weißsein-Theorien oder hinter/in multikulturellen oder auch
afrikawissenschaftlichen Seminaren erfahren lässt.

DAS PRIVILEG DER UNKENNTNIS – SCHWARZE ANALYSEN


Unkenntnis speist sich aus verschiedenen Quellen, die hier nicht alle
beschrieben werden können. Eine dieser Quellen ist allerdings die soziale
Position, nicht wissen zu müssen, neben der Einfältigkeit, nicht wissen zu
wollen! Es scheint davon ausgegangen zu werden, die Welt theoretisch oder
praktisch vorstellen und vermitteln zu können, wenn dafür zum allergrößten
Teil auf Imaginationen und Interpretationen von weißen Deutschen
zurückgegriffen wird. Die Curricula sind bereits dahingehend ausgerichtet,
dass weiße Menschen und ihre Strukturen, Ansichten und gesellschaftliche
Interpretationen im (europäischen) Welt-Zentrum stehen, wobei die
Ausgangspunkte stets auch wieder die ›End‹-punkte ergeben. In der Tat
dürfte es schwierig sein, in der BRD Lehrpläne für Schulen oder
Universitäten zu finden, die nicht weiße Realitäten als Mittelpunkt
menschlichen Geschehens setzen, und es sollte realistischerweise davon
ausgegangen werden, dass dieses Wissen einer kleinen Gruppe
bruchstückhaft ist und in der Regel aus UnterdrückerInnenperspektive
hergeleitet wird. Es krankt folglich unabwendbar an gesellschaftlichen
Auslassungen und Verdrängungen. Gemessen an gegenwärtigen sozialen
Gegebenheiten ist es veraltet und entstellt historische oder gegenwärtige
Situationen bzw. reproduziert das, gegen was es angeblich konzipiert sein
soll. In den hier beschriebenen Kontexten stellt Unkenntnis immer auch ein
unentbehrliches Ingrediens weißer Superiorität dar, die einzig und allein auf
Kosten unterdrückter Realitäten anzuschwellen und zu existieren vermag.
UNKENNTNIS UND WEIßES SELBSTBILD
Welches Bild müssen Lehrende nicht nur von ihrer Umwelt, sondern
gleichfalls von sich selber besitzen, wenn es für sie und für uns
StudentInnen nicht wichtig sein soll, dass wir Erkenntnisse, Erfahrungen,
politische, ökonomische, erzieherische u.a. Vorstellungen von z.B.
afrikanischen, afrikanisch-deutschen, türkisch-deutschen, haitianischen usw.
Kapazitäten gelehrt bekommen? Präziser formuliert: welches Selbstbild
haben weiße Lehrende, wenn sie sich trotz deutscher Kolonialzeit,
Rassismus, NS-Zeit, gegenwärtiger Asyldeportationen und
›Ausländergesetze‹ zweifelsohne für qualifiziert erachten, Schwarzen
Menschen etwas lehren zu können, was diese nicht von Schwarzen
DozentInnen/Texten ohne rassistische Attitüde vermitteln bekommen
würden. Die Antwort dieser Frage liegt möglicherweise nicht bei dem
kleinen Zusatz ›trotz‹, sondern ›infolge‹ der genannten geschichtlichen
›Etappen‹. Der automatisierte Drang nun, das ›Anti-‹ vor dem System
Rassismus zu verkörpern, wirkt vor den Augen und Ohren Schwarzer
StudentInnen lächerlich, zumal nicht gewusst wird, wie eine Rassismus-zu-
Anti-Rassismus-Metamorphose vonstatten gehen sollte, da insbesondere
weiße Privilegien von der Verwandlung unangetastet bleiben sollten. Die
Verinnerlichung von Gleichheit (unter weißer Führung), vom kolonialen
Blick, vom Belehren, Tolerieren und anderer politischer Duldungen des
›Anderem‹ ziehen ihre Beharrlichkeit und Bestätigung aus allen
gesellschaftlichen Bereichen.

UNKENNTNIS UND ZUSAMMENHALT


»Was in uns herangezüchtet wird, ist das Bedürfnis nach Konformität, ein
Bestreben, stets das zu sagen, was in der Gruppe anerkannt ist.«[2]
Bezeichnenderweise finden wir dieses Zitat von Grün unter dem Abschnitt
›Kameradschaft‹! Innerhalb der kameradschaftlichen Strukturen, von denen
ich hier ausgehe, wird verschwiegen, dass eine beunruhigende Mehrheit an
weißen Frauen und Männern (für Schwarze Menschen sind
erfahrungsgemäß weiße das Gefahrenpotenzial) nicht in der Lage ist,
ernsthafte Theorien zu entwickeln, in denen sich ebenso Schwarze
Menschen wiederfinden oder um eine multidimensionale Reflektion der
eigenen Geschichte und Gegenwart anzubieten oder auch, um die Stelle
einer ›Ausländer‹- oder Integrationsbeauftragten zu übernehmen – obwohl
sie genau diese Tätigkeiten innehaben. Vorausgesetzt, weiße Menschen
bemerken ihre Ignoranz, wollen aber dennoch ihre Stellungen nicht
verlieren, so müssen sie die jeweils ›Anderen‹ aus ihrer Gemeinschaft
ausschließen, damit ihre Unkenntnis nicht aufgedeckt wird. Das könnte
vorerst erklären, wieso VertreterInnen der historisch als weiß konstruierten
Gruppe in Positionen, von denen angenommen werden kann, dass sie einen
gewissen politischen und sozialen Einfluss besitzen, nur zuverlässige
KameradInnen zulassen. Selbst die Annahme einer ›Unterrepräsentation‹
Schwarzer Menschen und People of Color (PoC) wäre auf die weißen
Strukturen allein in Berlin und allein in Bildungseinrichtungen nicht
angemessen. In diesbezüglichen Auseinandersetzungen wird eine
Komplizenschaft geleugnet und jeglicher historischer, gegenwärtiger,
formeller und informeller Zusammenhang – also eine generelle Existenz
eines weißen Netzes weit von sich gewiesen. Als Nachweis wird stolz auf
die eine oder andere Schwarze Person aufmerksam gemacht, die sich aller
Hürden und Aufnahmeverfahren würdig erwiesen hat und nun in einer
deutschen Institution o.ä. arbeiten darf – (erneut) unwissend darüber, dass
gerade diese ›eine oder andere Schwarze Person‹ als Zeugnis
antirassistischer Formierungen von tragender Bedeutung für die
Reproduktionsdynamik weißer Geschichten und Realitäten ist. Nicht zu
letzt war es selbst in einem Staat wie Südafrika unter burischer Herrschaft
offensichtlich relevant, dass der Regierung Schwarze Mitglieder
angehörten.

UNKENNTNIS UND IHRE AKADEMISCHEN AUSWIRKUNGEN


Werden Dozierende mit dem direkten oder indirekten Vorwurf ihrer nicht
zufälligen Unkenntnis konfrontiert bzw. auf ihre nicht zufälligen
Vernachlässigungen hingewiesen, so wird dies nicht als beachtliche Größe
für Auseinandersetzungen verstanden, die ins Zentrum gestellt und
reflektiert wird. Vielmehr wird der Vorwurf auf verschiedene Ebenen
verschoben. Dabei favorisieren Dozierende eine, vermischen mehrere oder
pendeln zwischen den Ebenen, um re-agieren zu können. Folgende Ebenen
rechne ich u.a. dazu: die Inhaltsebene, die Herrschaftsebene und die
Disziplinarebene.

1. Zur Inhaltsebene
Als ich in einem Seminar zu Interkulturalität auf die Kolonialgeschichte
Deutschland aufmerksam machte, erhielt ich von der Professorin die
Antwort: »Na – das bisschen Ostafrika.« Diese Antwort steht entsprechend
der Autorität der Dozierenden hoch; sie muss Aussagekraft besitzen bzw.
einen Wahrheitsgehalt in sich tragen. Viele von uns Schwarzen
Studierenden fühlen sich verpflichtet, auf solche Art gravierende ›Fehler‹
hinzuweisen, und zum Hauptbestandteil ihres Denkens werden Fragen wie:
Was hinterlässt dieser Satz bei den anderen Studierenden des Seminars?
Dieser Bereitschaftsdienst formt sich zu einer Art Dozierenden-Status um,
der jedoch nicht real vorhanden ist. Die Unkenntnis weißer Lehrender
verursacht eine Kette an Reaktionen, mit denen sich Schwarze Studierende
allein wieder finden. Da kolonialer Geringschätzung Unkunde immanent
ist, beginnt ein Wissenskampf, der ein Positionierungskampf und ein
Kampf um Definitions- und Wissensmacht ist.
Im Afrikawissenschaftlichen Institut (im Übrigen ein recht guter Ort, um
weiße exotische Sehnsüchte erfüllen zu können mit gleichzeitiger Kontrolle
über das zu keiner Zeit um Erlaubnis gefragte Angeeignete wie Literatur,
Historie, Kleidung u.v.m.) wurden die Forderung von Schwarzen und
People of Color-Studierenden nach Eigenbenennung und Positionierung des
Professors von diesem als faschistoid bezeichnet. Auf den Einwand einer
Schwarzen Studentin, dass sich mit der Weigerung der Benennung von
Schwarz oder weiß keine 500 Jahre unterdrückende Geschichte wie auch
Gegenwart wegwischen lassen, erhielt sie von dem gestandenen Historiker
die Antwort: »Na, bei 500 Jahren haben sie sich ja gut gehalten« – begleitet
mit einem männlich-süßem Lächeln. Die Gruppe an Schwarzen und PoC-
StudentInnen war anwesend, um eine Schwarze Studentin, die eigentlich
das Seminar allein belegte und sich dort die Begrifflichkeiten ›Stamm‹ und
›Neger‹ anhören musste, zu unterstützen. Ihr Intervenieren wurde als
›übertrieben‹ abgetan und – wie die meisten Schwarzen Menschen kennen
werden – wurde ihr erklärt, was es für eine Bewandtnis mit den beiden
›Definitionen‹ hat. Im Prinzip hätte sich die weiße Solidaritätsgemeinschaft
auch auf den Beschluss vom Dezember 2003 des Landgerichtes Berlin
beziehen können, wo dem Wort ›Neger‹ Objektivität und Wertneutralität
bescheinigt wurde. Bezogen wurde sich dabei auf den aktuellen Duden wie
auf das Sprachverständnis des Gerichtes und auf das seines Volkes.
Interessanterweise erkennt das Gericht – und überschätzt die Elite der
Nation – AkademikerInnen als Ausnahme an und vermutet, dass »Neger
[…] lediglich (von) dem Sprachgebrauch intellektueller Bevölkerungskreise
und Mitglieder der erzieherischen und spracherziehenden Berufe« als
»Unwort« angesehen wird. Das ist ein Auszug aus der Perspektive weißer
Richter aus Berlin;[3] aus der Perspektive der Schwarzen Psychologin
Kilomba liest sich dies folgendermaßen:
Das Wort ›Neger/in‹ ist also in der Geschichte der Versklavung und Kolonisierung situiert, d. h. es
ist ein Begriff, welcher mit Unterdrückung, Brutalität, Verwundung und Schmerz einhergeht […]
Menschen der Afrikanischen Diaspora sind damit tagtäglich konfrontiert. […] In diesem Sinne
verstehe ich Alltagsrassismen als Reinszenierung kolonialer Szenen…da der Begriff die
Beziehung zwischen weißen und Schwarzen beschreibt, welcher seine Wurzeln in einer […]
(Meister-Sklave) Dichotomie hat.[4]

Die Schwarze Studentin, als einzige widersprechend, fing mit der Zeit vor
Einflusslosigkeit an zu zittern, da sie (für sie) Offensichtliches nicht
verständlich machen konnte, aber ebenso aufgrund von Wut und
Verletzung, sich in dieser ausweglosen rassistischen, auf Wissen pochenden
Gruppierung weißer Studierender mit ihrem Dozenten zu befinden.
Während der nachfolgenden längeren Alleinauseinadersetzung zwischen
dem Dozenten und dieser Gruppe fühlten sich die weißen Studierenden
unwohl, und ins Feldlager ihres sympathischen Dozenten tendierend
verfolgten sie angespannt den Schauplatz. Die Dynamiken solcher und
ähnlicher Erlebnisse sind in ihren Auslösern, in ihrer zustimmenden oder
schweigenden Begleitung durch weiße Studierende bzw. DozentInnen, in
ihrer Haltung gegenüber Schwarzen Menschen, die sich weigern,
rassistische Begrifflichkeiten oder einseitige Darstellungen zu verwenden,
geradezu identisch. Das gelernte (Kolonial-)Wissen auf universitärem
Niveau bildet das Potenzial, mit welchem nicht wenige dieser Studierenden
glauben, bereits während oder nach ihrer Studiumszeit ›Entwicklungs- und
Konfliktlösungen‹ (Zivilisationsmodelle?) für Afrika, das heißt gleichfalls
für uns Schwarze Menschen, konzipieren zu können. Mit diesen Zielen
stellen sie keine neue ›Albert-Schweizer-Elitetruppe‹ dar, sondern nur
ZeitgenossInnen und Nachkommen weißer Vorbilder. Die betreffende
Studentin ist nur eine von mehreren Schwarzen Studierenden, für die
kolonial-rassistische Studienerfahrungen am Afrikainstitut der HU die
Auslöser waren, ihr Studium dort abzubrechen, um es im Ausland erneut zu
beginnen. Mit Nachdruck: derartige (nicht wortgleiche) Ereignisse sind
keine Ausnahmen, sondern waren selbstverständlicher Bestand in den
meisten von mir belegten Seminaren an unterschiedlichen Instituten.
Lehrende werden sich nicht nur der Hinterfragung ihrer sozialen und
politischen Position als weißer Mensch gegenüber sehen. Es muss
gleichfalls nach ihrer Beziehung zu ihrem Wissen und Handeln gefragt
werden.
Man kann sich sogar fragen, ob die Europäer je ihre Zweifel am Menschsein der Schwarzen
überwunden haben, nachdem sie diese über dreieinhalb Jahrhunderte lang ununterbrochen wie
Tiere behandelt hatten […] Sie weichen aus und maßen sich das Recht an, anstelle der Opfer ihre
eigenen Verbrechen selbst zu definieren und zu entscheiden, welche historische Bedeutung ihnen
beizumessen ist oder auch nicht.[5]

So können wir gleichfalls erleben, dass Revidierungen von Theorien zu


Interkulturalität oder Rassismus nur dann akzeptabel erscheinen, wenn
weiße Menschen es zulassen und für angebracht halten. Zugelassen wird es,
wenn entweder nach Jahrzehnten Texte Schwarzer AkademikerInnen und
AktivistInnen (vornehmlich aus den USA) gelesen werden (müssen) oder
wenn sich weiße fortschrittliche Menschen miteinander darüber
verständigen konnten. Diese Haltung gehört zur kolonialen Tradition,
aufgrund derer weiße Menschen annahmen, sie hätten etwas ›entdeckt‹,
weil sie darauf gestoßen sind und benannten es auch sogleich nach sich
selber. Die selbstauferlegte, niemals zu erfüllende Glanzleistung,
Schwarzen Menschen in gewissen Thematiken ›neue‹ und sinnvolle
Zusammenhänge anbieten und die damit verbundene antirassistische Un-
Sicherheit, vor Schwarzen Menschen sprechen und diese instruieren zu
müssen, sind Konsequenzen weißer struktureller Dominanz. Die
langwierigen, immer wieder aufs Neue zu führenden Universitätsdebatten
um das Thema, wer darf oder sollte was wie zu wem lehren, spielen sich in
keinem politischen Vakuum ab – genauso wenig wie die weißen
Teilnehmenden ›objektiv‹ sind. Doch wer erstellt Lehrpläne oder
›Interkulturelle Kommunikations-Workshops‹? Wer setzt sie um? Wer
vermittelt sie? Welche Methoden sollen ihnen zugrunde liegen? Könnte die
Methode der Vermittlung mit der Person die lehrt – mit ihrem sozialen
Status, Herkunft, ihrem Erfahrungsgehalt, ihrer Positionierung usw. in
Zusammenhang stehen? An dieser Stelle lassen sich einige im
Bildungsbereich befindlichen und scheinbar nicht fassbaren Privilegien
greifen: Lehr-Privilegien, die sich in keiner Weise daraus ergeben, weil ein
tatsächlicher ›gerechter‹ Qualifikations-Wettbewerb in Institutionen
existiert. Konstellationen, in denen uns weiße, stets gutmeinende
WisserInnen über uns und unser Leben aufklären oder raten wie
Afrikanisch-Deutsche als VermittlerInnen zwischen Schwarzen und weißen
Menschen zweckmäßig sein könnten u.v.m., sind schlicht unerträglich. Ihre
Unwissenheit scheinen so manche als eine Form personifizierte Neutralität
oder gar ›Reinheit‹ von belastender Geschichte/Gegenwart zu deuten. Doch
nicht zuletzt geht es dabei auch um das Monopol, das Wissen und Leben
der bereits Vernichteten bzw. noch Diskriminierten in verschriftlichter oder
Vortragsform zum Besten geben zu können. Muss es erwähnt werden, dass
dies bezahlt und gewürdigt wird? Wer erhält hier auf Kosten anderer den
Arbeits-/Lehrplatz, die Tantieme usw.? Die Komplizenschaft mit
diskriminierenden und neokolonialen Verhältnissen ist für weiße Menschen
immer noch lukrativ, selbst wenn scheinbar dagegen ›angeschrieben‹ wird.
Die wesentliche Beziehung zwischen Erfahrung und Erkenntnis wird von
weißen Menschen stets dann geleugnet, wenn sie erkennen, dass diese
Beziehung erhebliche Aussagen über ihre tatsächliche Kompetenz machen
kann.
Mit der inhaltlichen Ebene sollte der Skandal ausgedrückt werden, dass
wir Schwarzen Studierenden – abgesehen von der Pisa-Studie und
abgesehen, dass dies auch für weiße Studierende Geltung besitzt – im
(Aus-)Bildungsbereich nicht hinreichend professionalisiert werden können,
solange weiße Dozierende ihren Anspruch auf Lehrhegemonie nicht
aufgeben wollen. Für viele von uns Schwarzen Studierenden bedeutet diese
Katastrophe eine ausdrückliche Unterforderung. Ernstgemeinte
Veränderungen müssen demzufolge an den weißen nationalistischen
Strukturen ansetzen. So wird sich mit dem Fragekomplex: Wer lehrt Wie zu
Wem Was auseinandergesetzt werden müssen. Eine Anerkennung fachlicher
Qualifikationen, die historische, gegenwärtige, politisch-ökonomische und
soziale Kenntnisse umschließt, um darüber hinaus mit Menschen Bilder
entwerfen und vermitteln zu können, die Alternativen zu
Unselbstständigkeit und Unterwerfungstraditionen bieten, wäre eine
Entscheidung für eine ›Erziehung gegen Privilegien‹, die sich auf Nation,
Hautfarbe und Assimilierung gründen. Ausgehend von unserer heutigen
Situation im Bildungsbereich bedeutet antirassistische Erziehung,
konsequent weiter gedacht, einzugestehen, dass die allermeisten weißen
deutschen PädagogInnen eben keine mehrperspektivische Kenntnis von
sich, ihrer Umwelt, ihrer Historie, ihres Berufsstandes etc. besitzen. Dem
Zwang Interkulturalität, Antirassismus oder gar Gleichheit und Freiheit für
Bildungs-, Arbeits- und Lebensbereiche in der BRD mit eindimensionalen
Konzepten anzuleiten, wohnt die Großzügigkeit mit den eigenen
tagtäglichen Verstrickungen mit Nichtanerkennung, Ausgrenzung und
Isolierung (nicht nur) Schwarzer Menschen inne. Dem entgegen muss eine
tatsächlich interkulturelle Lehre und Ausbildung gefordert werden, die nur
mittels mehrperspektivischen Ansätzen und entsprechendem
Dozierendenschlüssel umgesetzt werden kann.

2. Zur Herrschaftsebene
Das Aufwachsen in herrschaftlichen/weißen Strukturen formt Menschen
und lässt weiße Deutsche unbestreitbare Verhaltensmuster zulegen, da sie
sich in ihren Kindergärten, in Schulen, Universitäten, Ausbildungsstätten, in
den Medien, auf den Strassen, in den Verkehrsmitteln, in den staatlichen
Institutionen, kurz: in allen Bereichen und Lebenssphären – auch mit
Konfrontationen oder Ablehnungen – spiegeln und wiederfinden können.
Mitzubedenken ist gleichfalls der enorme Einfluss, den sie über die
unsäglichen Bilder des Kontinentes Afrika und/oder von Schwarzen
Menschen von Angehörigen ihrer Gruppe erhalten, der ihr zwar hinfälliges,
aber dennoch aufgeblähtes Selbstbild beständig nährt. Es sind Welt-
Geschichten (siehe auch: ›Weltgeschehen‹), die sich weiße Menschen
gegenseitig erzählen und aufnötigen. Das Dramatischste daran ist nicht
einfach die Täuschung anderer, sondern die Eigenblendung; sie scheint es
nahezu unmöglich zu machen, sich adäquat in Beziehung zu anderen
Menschen zu setzen; auch aus dem Grund, da weiße Menschen – stets nur
angehalten, sich mit ihren Gruppengedanken zu beschäftigen – annehmen,
das Schwarze Menschen sie und die Gesellschaft in der sie leben, so sehen
und wahrnehmen, wie sie sich selber wahrnehmen! Unter anderem ist es
dieser Trugschluss, der zu den verheerenden Auseinandersetzungen in
Universitäten zwischen Schwarzen und weißen Menschen führt. Die
eingleisige und fragmentarische weiße Persönlichkeitsentwicklung entpuppt
sich als derart abgeschlossen, dass sich anderem, gar Entgegengesetzem
nicht, nur auf Umwegen oder mit großen emotionalen Schmerzen und
enormen kognitiven Anstrengungen genähert werden kann. Herrschaftliches
Hörverständnis, herrschaftliche Argumente, herrschaftliches Verhalten
Schwarzen Menschen gegenüber ist internalisiert und schließt das
Schreiben über Weißseins-Theorien, das Initiieren ›Kritischer Weißseins-
Tagungen‹ oder ein scheinbar freundschaftliches Verhältnis zu Schwarzen
Menschen keineswegs aus. Herrschaftliches Hörverständnis umfasst
gleichwohl den plakativen Ausdruck ansonsten intellektueller Menschen:
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen« oder lässt weiße erkennen, dass
Schwarze ›zu‹ viel oder ›zu‹ laut sprechen. Herrschaftliches
(Nicht-)Verstehen heißt zu ›wissen‹, dass alles, was nicht der eigenen
weißen Perspektive entspricht, als nicht ›verbürgt‹ gilt, da es in weißen
Texten nicht nachweisbar ist. Der Kolonial-Kreislauf wird deutlich, da ein
Vorweisen schwierig sein dürfte, wenn selbstbestimmte Schwarze
Perspektiven in der BRD kaum oder gar nicht anerkannt werden; generell
nicht anerkannt als kolonisierte AfrikanerInnen unter deutscher
Okkupation, noch als Schwarze Deutsche während und nach der NS-Zeit
und auch nicht als Schwarze Deutsche in der BRD. Und 99 % (wenn nicht
100%) aller Verlage dürften wohl in der Kontrolle, in der Obhut und im
Besitz weißer Dominanz liegen.

3. Zur Disziplinarebene
Im Zentrum stehen hier das Auftreten, die Sprechweise, die Arroganz, die
Unverschämtheit, die Aggressivität, die schlechte Erklärweise, das
Polarisieren oder der Ton Schwarzer Studierender. Auf Thesen, Beweise
oder Diskurse, die von Schwarzen Studierenden zweifellos auf
akademischer Ebene formuliert werden, aber keinem klassischem weißen
Hintergrund entstammen oder der Auffassungsgabe weißer ZuhörerInnen
nicht angepasst werden können, wird auf einer bevormundenden und
drohenden ErzieherInnenebene reagiert. Dazu gehören Reaktionen wie:
»Aber nun begeben Sie sich außerhalb des Dialogs« bzw. »Sie wollen ja gar
keinen Dialog« (Angehörige der Dominanzkultur bestimmen, wo und wann
Dialog beginnt und wo und wann er endet, und sie wissen aus innerer
Eingebung heraus ebenfalls, wie ein Dialog durchgeführt wird). »Sie sind
so arrogant, so aggressiv, so eingebildet; was denken Sie, wer Sie sind?«,
»Von Ihnen ist bekannt, dass Sie jedes Seminar sprengen«. Oder milder
formuliert: »Das gehört jetzt nicht hierher«. Diese Zurechtweisungen
werden nicht erteilt, weil tatsächlich von Studierenden der Seminarverlauf
mit unflätigem Verhalten aufgehalten wird. Es sind disziplinierende
Verweise. Andererseits: wer definiert ›Aggressivität‹? Wer hat den Maßstab
dafür? Was würde denn geschehen, wenn ›arrogant‹ gesprochen würde? Ist
dies tatsächlich das Argument weißer Intellektueller, aufgrund dessen sie
ausgegrenzte historische/aktuelle Perspektiven nicht in die Interpretationen
über unsere Umwelt mit aufnehmen? Und wäre es nicht – gemäß unser aller
Geschichte und Gegenwart ein zu erwartendes Verhalten, ausgrenzende
(Seminar-)Situationen zu ›sprengen‹? Wird dies nicht von unseren
PolitikerInnen beherzt als ›Zivilcourage‹ bezeichnet? Konstruktiven
Argumenten zu Rassismus oder der Hinweis auf verfälschte Illustration
(neo-)kolonialer Strukturen sollen jede (wissenschaftliche) Grundlage und
Berechtigung entzogen werden, und der häufige Verfall in Maßreglungen
gegenüber Schwarzen Studierenden reduziert deren Argumente zu einem
Häufchen Belästigung. Unabhängig von unterschiedlichen Möglichkeiten
an Disziplinierung transportieren sie alle immer auch eine Warnung: die
›störenden‹ Diskurse sollen nicht wiederholt werden. Es handelt sich dabei
nicht nur um eine Herabsetzung nicht zur dominanten Gruppe zählender
Menschen und deren Verstand, sondern demonstriert einen
außerordentlichen Grad Entwertung und Zurechtweisung, der mit der
Zelebrierung eigener Ignoranz zusammen läuft.

SCHUTZRÄUME
Schutzräume sind ein heikles Thema, da deren Notwendigkeit von den
meisten weißen VeranstalterInnen oder DozentInnen nicht nur nicht
verstanden wird, sondern zum Teil – ungeachtet kolonialer Dynamiken im
Raum – abgelehnt wird. Neben bzw. aufgrund des bereits erwähnten
ominösen Dozierenden-Status geraten Schwarze Studierende in das
Schussfeld der Diskussionen. In der Realität bedeutet dass, sie müssen
augenblicklich gegenüber dreißig oder mehr weißen Studierenden Rede und
Antwort stehen. In aller Regel können diese mehr oder weniger flink eine
Front bilden und werden von den Lehrenden unterstützt. In diesen Fällen
würden Schwarze Studierende mit einer Verschwörungstheorie weitaus
besser umgehen können (und für die beteiligten weißen Personen wäre dies
noch der ›bessere Vorwurf‹), doch es muss wohl davon ausgegangen
werden, dass sich vor diesen Zusammenhalten eben nicht abgesprochen
wurde. Das könnte die Empörung weißer Menschen verständlich machen,
wenn sie mit einer politischen Konstellation wie der eines weißen
Kollektives vertraut gemacht werden sollen. Auf diesem Hintergrund sollte
der weitere Verlauf solcher Debatten und auch die fast schon
bewusstseinsgespaltenen Muster begreiflicher werden:
1. Obwohl sie von keiner Zugehörigkeit zu einem weißen
Kollektiv/Verständnis hören wollen, da alle Menschen, so die immergleiche
(also nicht-individuelle) Antwort individuell sind – wird von (fast) allen nur
die Schwarze Person nicht verstanden. 2. Verteidigt werden Privilegien, die
vermeintlich aber nicht bekannt sind. 3. Geleugnet werden
Verhaltensweisen weißer Menschen, derer sich gleichzeitig bedient wird. 4.
Erhalten wird damit eine weiße dominante Situation, die angeblich nicht
verstanden wird.
Auf dieser Etappe sind Schwarze Menschen noch nicht mal mehr
unbezahlte Dozierende, von denen gelernt werden kann. Vielmehr werden
sie als Unterwanderer weißer Behaglichkeit oder als Radikale betrachtet.
(Wobei der Begriff der Radikalität in der BRD meist nur als Negativum
bekannt ist.) Wenn die (oft) einzige Schwarze Person alle von ihr
vertretenen Theorien, Hinterfragungen und Richtigstellungen in Situationen
beweisen muss, in der es zur (von weißen bestrittenen) Polarisierung
zwischen Kolonisierte und Kolonisierende, zwischen Schwarz und weiß,
zwischen Ausgegrenzte und Ausgrenzende und auch zwischen Minderheit
und Mehrheit im nationalen Kontext kommt, ging es von Beginn an nicht
einen Moment um die Stichhaltigkeit ihrer Beweise. Ein Gerichtssaal dürfte
diesen Prozessen wohl eher dienlich sein. Um den ungleichen Status zu
komplettieren, wird weißen Studierenden zugestanden, in universitärer
Lehre ihre eigene ›freie‹ Meinung zu äußern, die es dann – z.B. in Reaktion
auf Diskriminierung an Schulen – »so nicht sehen kann« oder »nicht
glauben kann«; folglich hängt die ›Wahrheit‹ und Nachweisbarkeit einer
systematischen Benachteiligung von Minderheiten an deutschen Schulen
davon ab, inwiefern weiße Menschen es glauben (wollen). Im Gegensatz
dazu haben es sich viele Schwarze Menschen innerhalb oder außerhalb des
universitären Raums zu Eigen gemacht, ohne Vorbereitung stets Daten,
Theorien, Ereignisse, Verknüpfungen etc. verteilen zu können. Ein solch
eigenständiger Wissensstand (also kein ›Meinungs- oder
Befindlichkeitsstand‹), der eher anerkannten DozentInnen zugedacht wird,
muss für viele Schwarze Studierende bereits innerhalb ihres Studiums
erreicht werden, um nur einigermaßen den weißen Anwesenden standhalten
zu können – die Dialektik weißer Diskutierender besitzt mit steigender
Einfalt ihren ganz eigenen Schwierigkeitsgrad.
Ein Schutzraum ist vorhanden, wenn die jeweiligen DozentInnen ihre
auch pädagogische Aufgabe kennen und die Position übernehmen, sich den
Runs weißer Dominanzkultur zu stellen. Dies ist nur schwierig für sie,
solange sie ähnliche bis gleiche unreflektierte Ansichten wie ihre
Studierenden vertreten oder wenn sie sehr wohl ›etwas ungutes‹ verspüren,
aber weder inhaltliches Instrumentarium noch menschliche Stärke besitzen,
um sich letztlich gegen eine Übermacht im Seminar zu stellen – (weiße
DozentInnen und StudentInnen scheinen gegenseitig Angst (?) voreinander
zu haben). Die Behauptung, all dies sei geplant gegen Schwarze Menschen,
ist eher sekundär. Primär ist hier das Resultat, was sich aus Zufall oder
Absicht kontinuierlich ergibt. Universität ist somit kein universeller =
allseitiger Ort des Lernens, sondern verwandelt sich zur Absicherung
weißer Privilegien, wozu neben anderem die Erhaltung der
Definitionsmacht weißer Menschen zählt und folglich die Unterdrückung
und Ausgrenzung bestimmter Menschen und deren Perspektiven
kontinuierlich festgeschrieben wird. Vor einer solchen rassistischen
Lernsituation müssen (nicht nur) Schwarze Studierende geschützt werden.
Das Privileg der Unsichtbarkeit
I think whites are carefully taught not to recognize white privilege […] I have come to see white
privilege as an invisible package of unearned assets […] White privilege is like an invisible
weightless knapsack of special provisions, maps, passports, codebooks, visas, clothes, tools, and
blank checks.[6]

Zur Unsichtbarkeit weißer Privilegien wie auch zu den Formulierungen


›versteckter‹ oder ›subtiler‹ Rassismus sollte angemerkt werden: was für
weiße Menschen unsichtbar oder ›versteckt‹ ist, bedeutet noch lange nicht,
dass auch Schwarze Menschen erst nach langem Abwägen und
Recherchieren sich wagen anzunehmen, dass man/frau im Alltag oder in
deutschen Institutionen mit Weißsein oder Rassismus konfrontiert ist. Die
Unsichtbarkeit weißer Privilegien sollte dahingehend verstanden werden,
dass es aus weißer Perspektive ein Nicht-Sehen, aber auch ein
Verheimlichen darstellt. Allerdings sind Menschen kaum fähig aus etwas,
was oder aus jemandem, den sie nicht sehen oder kennen, Wissen
abzuleiten. Die an diesem Punkt aufeinandertreffenden Faktoren von
Unsichtbarkeit und Unkenntnis werden mit den nachfolgenden Erfahrungen
aus Schwarzer Perspektive herausgestellt. Ihre Verbundenheit wie ihre
Reziprozität stellen innerhalb weißer Lehre kein Hindernis dar.

FR. DOZENTIN – WOHER KOMMEN IHRE THEORIEN?


Werden weiße Dozierende gefragt, woher sie ihr Wissen bzw. woher die
AutorInnen verteilter Texte ihre Erkenntnisse herleiten, wird die Frage erst
mal nicht verstanden! Es folgt eine beklemmende Aufmerksamkeit, die die
Frage fast wie etwas Bizarres im Raum nachhallen lässt. Auf diesen ersten
Schauer folgt in der Regel die Gegenfrage: »Wie meinen Sie das?«, was
erfahrenen Schwarzen Studierenden verdeutlicht, dass kein Wissen
hinsichtlich des Kontextes Weißsein vorhanden ist. Trotz alledem folgen
nun heftige (sich stets ähnelnde) Argumentationen, die immer wieder
erstaunen lassen, dass auf Unkenntnis von Weißsein (Wie meinen Sie das?)
eine Diskussion über Weißsein erfolgen kann. Mit der kolonial-rassistischen
Dezimierung unzähliger Völker wurden gleichfalls die meisten ihrer
Formen und Vorstellungen von Lernen ausgelöscht. Das zwanghafte
beständig anzutreffende Muster, sofort re-agieren und/oder sofort ›anderes‹
anzweifeln zu müssen, ist kein universeller, ›natürlicher‹ Habitus; es ist
anerzogen bzw. konditioniert. Weiße Sozialisation schließt ein, sich als
›neutral, als objektiv‹[7] , als universell bzw. als international
wahrzunehmen und zu bezeichnen. Der mitanerzogene Hauch permanenter
Kenntnis, zu jedem und zu allem Sinnreiches beitragen zu können – der
mitnichten nur AkademikerInnen umhüllt –, wird mit der Frage nach dem
›Woher‹ dieser Schein-Kenntnisse noch nicht einmal angegriffen, sondern
soll vorerst nur benannt werden. Statt gemeinsamer Überlegungen oder
Zugriffe auf dementsprechende Texte wird sich in der Rechtfertigung
überschlagen, die in Schulen aufgesogenen selten europäischen, meist
deutschen Auslegungen der Welt und ihrer BewohnerInnen als unantastbare
Tatsachen ausgeben zu können. Und selbst die ›nigerianischste
Nigerianerin‹ oder ›hybridischste Africana Frau‹, afrikanische
Akademikerin oder Nicht-Akademikerin, könnte und dürfte noch nicht
einmal an weißen Überlieferungen über sie selbst rütteln – es wird bereits
als akademisches Fachwissen gehandelt. Und die Vorlage von mehr als nur
einem weißen Text lässt die Dozierenden vollkommen sicher davon
ausgehen, den Studierenden zusätzlich ein Paradebeispiel an Heterogenität
anzubieten. Das Szenario eines gemeinschaftlichen Comebacks zwischen
weißen Dozierenden und weißen Studierenden kann ebenso in
Streitgesprächen nach der sozialen Positionierung verfolg werden; sie treten
füreinander ein (die Schweigenden miteingeschlossen). Die einzige, aber
beachtliche Zuwendung die sie für Unmündigkeit und Zusammenhalt
erhalten, ist die Gewissheit, nicht allein sein zu müssen. Ihr lebenslanger
Lohn wird das früh internalisierte Wissen sein, sich auf die weiße
Referenzgruppe verlassen bzw. sich in der Solidargemeinschaft der weißen
zu Hause fühlen zu können.[8] Die verschwindende Minderheit weißer
Menschen, die zur richtigen Zeit aufsteht und Schwarze Studierende dem
Ansturm weißer Verteidiger abendländischer Werte und Denkweisen
beiseite steht, erinnert an die bescheidene deutsche Minderheit, die gegen
institutionalisierte Ausgrenzung und Mord in der Historie und Gegenwart
handelt. Außerdem gibt es weiße KommilitonInnen, die nach solchen
Ausbrüchen fast heimlich zu Schwarzen Studierenden kommen, um zaghaft
einzugestehen, ›dass es eigentlich nicht richtig war, wie die Mehrheit im
Seminar reagierte – und das sie nicht so sind, wie die anderen‹. Angesichts
ihrer ›Inkognito-Haltung‹ setzt ein Nachdenken ein; vor wem oder was
haben die in und zur Freiheit Sozialisierten nur solche Angst?!

WEITERE AUSGEWÄHLTE REAKTIONEN AUF DEN VERSUCH EINER


SICHTBARMACHUNG
Weiße Menschen verwandeln sich selber zu Gejagten, Ausgegrenzten,
Isolierten, Deportierten, Zusammengeschlagenen, Kämpfenden – offenbar
besitzen weiße Deutsche eine ziemlich romantische Vorstellung von
rassistischer Diskriminierung oder Kolonisierung. Alle kennen und wissen
plötzlich über eigene Ausgrenzungen zu berichten und ›man solle doch
nicht so übertreiben – jeder habe doch irgendwelche Erfahrungen in dieser
Richtung‹.
Eine andere Variante ist der vehemente Verweis (fast schon in deutsch-
denunzierendem Brauch) auf ›andere‹ Weiße; nur diese sind dann die
Verantwortlichen für all das Ungerechte. Wird allerdings von Schwarzer
Seite über weiße Menschen gesprochen, die entweder nicht anwesend oder
bereits seit Jahrhunderten beerdigt sind, überschlagen sich anwesende weiße
in Entschuldigungen und Erklärungen für (kolonial-rassistisches) Verhalten
von Personen, die sie überhaupt nicht kennen. Im Grunde dürften sie nichts
mit ihnen gemeinsam haben, da die Emotionen einer ›Volksgemeinschaft‹
doch angeblich nie vorhanden waren oder zumindest jetzt nicht mehr am
Leben sind.
Dann gibt es da noch die absolute Leugnung der Begriffe weiß und
Schwarz. In diesen Szenen posieren weiße als abendländische
RepräsentantInnen des Gleichheitsgedanken und sind entrüstet über die
schleichende rassistische Politik, die nun von Schwarzen selber eingeführt
wird. Sie sehen keinerlei ›Sinn‹ in diesen Benennungen und fühlen sich von
Schwarzen in die Zeit des Kolonialismus oder Nationalsozialismus
zurückversetzt. Weiße Studierende und Lehrende empfinden sich als Opfer
Schwarzen Rassenwahns.
Da fast jede weiße Person fest davon überzeugt ist, autonom, frei und
individuell zu sein, wird nicht im Geringsten auf den Gedanken gekommen,
dass sich Schwarze Menschen vielleicht beständig das Gleiche anhören
müssen. Letztlich sind es nie Schwarze Studierenden, die mit neuen und
komplexeren Gedanken aus diesen Kämpfen gehen – es sind stets weiße,
die sich Schwarzer Innovation, ohne jede Gegenleistung – bemächtigen und
diese sogar einfordern: ›Erklär mir jetzt!‹ ›Beweise!‹ ›Sprich mit mir!‹ und
ähnliche unverschämte Anweisungen mehr.
Die Nicht-Benennung von Weißsein hat 1. in keiner Weise etwas mit
einer neutralen Ausgangsbasis zu tun; Menschen und Lehrinhalte in
Bildungseinrichtungen verlieren somit nicht ihre eurozentristische
Ausgangsbasis und ihre parallel dazu ausgerichtete Orientierung. 2. Die
Lebensrealitäten derer, die nicht zur Referenzgruppe gehören, werden
unbenannt gelassen, da die Curricula allen voran »he particular historical
history of Europeans as the sum total of the human experiance«[9]
präsentieren. 3. Mit der Auslassung nicht-hegemonialer Realitäten wird die
nicht als solche ausgewiesene eurozentristische Lehre, quasi ein zweites
Mal beschnitten dargeboten, da sie sich nur in abwertender Abgrenzung
oder auch Vernichtung von anderen herausbildete. Folglich hat sich kein
Eurozentrismus entwickelt, der für sich selbst stünde und nicht von
Verzerrung und Diskriminierung der anderen abhängig wäre. Daher können
sich weiße Menschen selber folglich bloß ›stückchenweise‹ wahrnehmen
und auch nur so vorstellen. 4. Wesentliche gesellschaftspolitische
Anordnungen, historisch und gegenwärtig, international und national – de
facto die globale strukturelle Vormachtstellung von EuroAmerikanerInnen
wird als nicht-existent vermittelt, wodurch letztlich genau diese Tatsache
gestützt wird.

WEIßE TEXTE ÜBER ALLES


Das Insistieren auf noch andere akademische Erkenntnisse und
Gesellschaftsanalysen kann andererseits von den Lehrenden auch als positiv
aufgenommen werden. In diesen eher seltenen Fällen erleben sie sich als
liberal und demokratisch und wollen die SeminarteilnehmerInnen
tatsächlich abstimmen lassen, was sie von der Frage Schwarzer
Studierender halten. Die absolute Mehrheit im Raum ist weiß und deutsch;
wenn sie auch nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegelt, wird
sie einen Schwarzen Text, der ihr sowieso unbekannt und folglich ihrer
Logik nach unwichtig ist, mehrstimmig ablehnen. Der Demokratie ist
genüge getan. Die Dozentin ist über jeden Vorwurf der Parteilichkeit und
Verantwortung erhaben, und die Lehre kann fortgesetzt werden.
Die Forderung nach mehr als nur weißen (in der Regel hegemonialen)
Texten, muss nicht unbedingt bedeuten, dass sie keinerlei Aussagekraft
hätten, aber sie können eben nicht aus der Perspektive Schwarzer
WissenschaftlerInnen z.B. über Gender und Rassismus, über
Interkulturalität oder über Erfahrungen zu (neo-)kolonialen Strukturen
denken, sprechen oder handeln. Diese recht einfache Tatsache wird
versucht, mit den von Hegemonialen gern organisierten ›Rollentauschen‹ zu
unterwandern. Weiße Personen gehen dabei als Wesen hervor, die zweifellos
über Deportation, Black Holocaust,[10] Rassismus u.v.a. schreiben, handeln
und nachdenken können wie alle diejenigen, die davon individuell oder
kollektiv betrachtet betroffen sind. Für Schwarze Menschen sind diese
Karnevals abstoßend, legen sie doch erneut offen, wie spaßig diese
Angelegenheiten immer wieder für Weiße sind. Vor allen bleibt die Frage,
wer denn dann die Miss und den Master spielt, wenn die Versklavten Weiße
sind bzw. wen spielen Schwarze Jugendliche in der BRD, wenn die
Diskriminierten von weißen Deutschen gespielt werden?
Eine weitere wohlwollende Reaktion ist das Angebot an die
StudentInnen, sich doch selber um die gewünschte Lektüre zu bemühen und
wie aufschlussreich doch ein Vortrag dazu wäre. (Ich vertrete die Ansicht,
dass die Auf-Forderung an Schwarze Menschen, sich doch selbst um
Schwarze Studiumslektüre zu kümmern, dem Denken von: »Wir sind hier
in Deutschland, was wollt ihr noch – passt euch an« emotional und kognitiv
in nichts nachsteht.). Die lernende Ausgangsposition zwischen weißen und
Schwarzen Studierenden wird insofern verschoben, indem der einen Gruppe
ihre Traditionen als selbstverständlich zum lesen und lernen angeboten
werden, während die andere Gruppe – will sie sich nicht ständig zum
Entfremden und Stagnieren bereit erklären – ihre Texte selbst erarbeiten
muss. In diesen Umstand ist ein enormer Aufwand an Zeit, Energie und
Nerven zu investieren, dessen Umfang weiße Studierende augenblicklich
für die schon vorhandene Lektüre verwenden können. Die Forderung nach
tatsächlich internationaler Bildung bzw. nach weniger ausgrenzenden
Literaturlisten und Referatsangeboten wird als eine Privatangelegenheit
Schwarzer Studierender hingestellt. Es geht dann nicht mehr um Zuwachs
an Wissen für die Allgemeinheit, sondern, wenn sich schon mit
(exotisierten) AutorInnen beschäftigt werden will, dann ist das ›unser
Problem‹. Die Nichtachtung gegenüber Erkenntnissen und Perspektiven aus
Wissensbereichen, die nicht weißen deutschen Traditionen zugeordnet
werden können, wird in diesen Momenten auch an die weißen Studierenden
gesendet. Und am Anfang wohlgemerkt stand die Frage nach
wissenschaftlichen Texten, die von Schwarzen AutorInnen verfasst wurden.
Neben lohnenden ökonomischen Abfederungen und persönlichen
Gewinnen, die weiße Privilegien bieten, ist es auch die Zurückweisung
anderer Verständigkeiten und Ausblicke auf das eigene weiße deutsche
Selbstbild, aufgrund dessen der rassistische Vorsprung immer wieder
erneuert und zementiert wird. Das ist ein Part der Kulisse, vor der die
entschiedene Weigerung der Benennung und Positionierung von weiß
verstanden werden muss. Die Abweisung ergibt sich wegen dessen, was sie
transportiert, umfasst und aufrechterhält.[11]

BIBLIOGRAFIE
Asante, Molefi: »The Afrocentric Idea in Education.« In: Hord Fred Lee (Mzee Lasana Okpara) &
Scott Lee Jonathan (Hrsg.): I Am Because We Are – Readings in Black Philosophy. Amherst:
University of Massachusetts Press, 1995, S. 338-349 (Erstveröffentlichung 1991)
Kilomba, Grada: »Don‘t You Call Me Neger! – Das N-Wort, Trauma und Rassismus.« In: ADB &
cyberNomads (Hrsg.): TheBlackBook. Deutschlands Häutungen. Frankfurt/M.: IKO Verlag,
2004, S. 91-115
Gruen, Arno: Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta, 2000
McIntosh, Peggy: »White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack.« In: Wellesley College
Center for Research on Women (Hrsg.): White Privilege and Male Privilege.: A Personal
Account of Coming to See Correspondences Through Work in Women’s Studies. Working Paper
No. 189, 1988
Plumelle-Uribe, Rosa Amelia: Weisse Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis.
Zürich: Rotpunktverlag, 2004 (Erstveröffentlichung 2001 auf Französisch)
Wachendorfer, Ursula: »Weiß-Sein – (k)eine Variable in der Therapie.« In: Psychologie und
Gesellschaftskritik, Nr. 93, 2000/1: 55-68

ANMERKUNGEN
1 Wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, sind im Folgenden weiße DozentInnen bzw.
StudentInnen gemeint.
2 Gruen: Der Fremde in uns, S. 191.
3 Das Landgericht Berlin reagierte mit diesem Beschluss auf die Klage der Initiative Schwarze
Deutsche (ISD e.V.), die aufgrund der rassistischen Begrifflichkeit eine einstweilige Verfügung
gegen die Aufführung Kampf des Negers und der Hunde (2004) an der Volkbühne in Berlin
erreichen wollte.
4 Kilomba: »Don‘t You Call Me Neger!«, S. 173-174.
5 Plumelle-Uribe: Weisse Barbarei, S. 76.
6 McIntosh: »White Privilege«, S. 148.
7 Vgl. Wachendorfer: »Weiß-sein – (k)eine Variable in der Therapie«.
8 Vgl. ebenda.
9 Asante: »The Afrocentric Idea«, S. 340.
10 Black Holocaust bezieht sich auf die millionenfache Verschleppung, Versklavung und
Ermordung afrikanischer Menschen in arabische Gebiete und insbesondere nach Amerika,
Europa und in die Karibik (Middle Passage); auf die in Afrika stattgefundenen Genozide wie der
an den Namas und Hereros (1904) unter deutscher Kolonialdiktatur oder an zehn Millionen
Kongolesen unter dem Kolonialregime von Belgien mit Unterstützung der USA, Deutschland,
Frankreich u.a. weißer Nationen; auf den Völkermord an den Schwarzen Menschen in
Tasmanien; auf die Ausrottung der Kori in Australien; auf den ostafrikanischen Sklavenhandel;
auf alle Schwarzen Todesopfer weißer Polizeigewalt; auf die Schwarzen Lynchopfer weißer
Bevölkerungsteile in allen weißen Nationen und auf die sog. Black on Black Crimes.
11 Ich danke allen Schwestern und Brüdern, Freunden und Bekannten, mit deren Unterstützung ich
lernen konnte, meine/unsere Erfahrungen zu reflektieren, zu nutzen und niederzuschreiben.
Insbesondere danke ich den Studierenden der Schwarzen Studiumsgruppe.
GBIANGO JUNIOR
DAS AUGE IST DER ZEUGE

Die Veteranen der geistigen Folter (Neokolonisation) haben sich offiziell zu


Beobachtern des menschlichen Geistes auf diesem Planeten erhoben –
überall mit ihrer Intelligenz hinfliegend.
Hauptziel dieser Interpretation ist es, den Henker unter den Menschen
auf diesem Planeten zu identifizieren. Auf diese Weise stellen wir fest, dass
die Veteranen entschlossen sind, weitere von den Menschen dieses Planeten
versteckt gehaltene Realitäten zu entdecken.
Der folgende Artikel gibt eine allgemeine Beschreibung der Veteranen
aus ihrer eigenen Perspektive wieder, um ihre Schwester und Brüder von
ihrer giftig-zerstörerischen / lebensbedrohlichen Haltung ihren
Mitmenschen gegenüber zu überzeugen. Die Stellung unserer Schwestern
und Brüder von Natur als Menschenfeind wird offiziell von allen anerkannt.
Oft wird behauptet, die Ursachenerforschung wäre nicht mehr nötig, denn
wir haben etwas Gemeinsames: das Grab; aber das reicht nicht, weil die
menschlichen Gefühle, die wir haben, uns dazu bewegen, unserem Bruder
von Natur nahe zu stehen, ihn auf die von ihm verursachten Schäden
hinzuweisen, um ihn davon zu überzeugen, er müsse alles Wissen um die
Verwendung seiner Zerstörungskraft zur Vernichtung anderer Wesen
aufgeben.
Danach werden einige Worte über die Behandlung der Asylsuchenden in
Deutschland und einige Formulierungen für unsere Schwestern und Brüder
in Lingala wiedergegeben werden.

DIE ERDE DER MENSCHEN


Dieser physische Rahmen lehrt uns vieles über uns selber. Der Bauer, der in
seinem Acker seinen Pflug führt, lüftet mit großer Mühe einige der
Geheimnisse der Natur, und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse haben
eine universelle Dimension. Wir plädieren tatsächlich für eine Sache,
welche die gesamte potentiale Welt betrifft; eine Welt, die unschuldig ist
und dennoch leidet; Menschen werden bedrückt und unterdrückt, obwohl
der Schöpfer des Himmels und der Erde uns das Recht gegeben hat, frei zu
sein, zu leben, um unser Glück zu verwirklichen. Und wie sieht es nun
heute aus? Überall Krieg, Krankheiten, Hass, Kriminalität, soziale
Konflikte in verschärfter Form; das Wohlergehen fällt der Entwicklung der
anderen zum Opfer; Wahrheiten und Erkenntnisse werden aus der
Gesellschaft verbannt; Lügen stehen an deren Stelle und die Bevölkerung
ist überwältigt. Was sind die Ursachen dieses geheimnisvollen Phänomens?
Den einen zufolge, war es immer so, während die anderen die Natur
dafür verantwortlich machen; die Veteranen ihrerseits sagen: »Nein, es gibt
etwas, was dahinter versteckt, es ist die Wahrheit, die wir suchen und finden
müssen, bevor es zu spät wird.«
Achtung: Die Eifersucht von Kain, die in der Bibel geschrieben steht,
darf in dieser Geschichte nicht fehlen, gemäß der Beobachtung der
Veteranen.
Die in diesem physischen Rahmen lebenden Menschen sind muskulös
und gewalttätig. Man kann sie an ihrem Verhalten erkennen: vorsichtig,
schlau, begabt, heuchlerisch. Aber ihre giftig-zerstörerischen Fähigkeiten
ermöglichen ihnen uns unserer Kenntnisse zu berauben, einen gewieften
und ausgereiften Plan zur Umgestaltung unserer Existenz auszuarbeiten, um
ihre Vorherrschaft durchzusetzen. Immerhin: unser ganzes Leben hängt von
ihnen ab, im negativen Sinne. Dies bedeutet, dass sie sich unsere Nicht-
Existenz wünschen. Aber was geschieht? Wir stellen fest, dass dieses
Verhalten, diese Haltung uns inzwischen zu eigen geworden ist, dass wir sie
sozusagen verdaut haben, weil unser Bruder solch einen langen Weg
hinterlegt hat, um sich zu seinem eigenen zweiten Glück zu verhelfen!
Sie haben sogar vorgegeben, dass sie nicht mehr wüssten, wo sie
angelangt sind / woher sie kommen, und versuchen sowieso, die Geschichte
zu verleugnen; sie wollen nicht wissen beziehungsweise erkennen, dass es
andere Gesellschaften gibt neben ihrer; sie haben eine Polarisierung der
Normen und Werte ihrer barbarischen Gesellschaft verursacht, um die
einzigen Herrscher zu werden, um als Vorbild zu erscheinen, an dem sich
jedwedes soziales Verhalten, sei es primitiv oder modern, messen lassen
soll; als das Maß aller Dinge schlichtweg.
Diese geistige Brutalität wirkt bei ihnen wie eine unheilbare Krankheit.
Jede von ihnen begangene Tat hinterlässt schmerzhafte Spuren in der
potentialen Welt; was wir im Fernsehen sehen ist nichts anderes als ihr
Alltag; die von ihnen verbreitete Barbarei kreiert Feindschaften unter den
Menschen, als hätten sie jedes menschliche Gefühl verloren. Ihr Leben
hängt von dem Artefakt ab, den sie produziert haben. Sie sind sehr
eifersüchtig aufeinander. Die Beziehung, die sie miteinander pflegen ist ein
Katz-und-Maus-Verhältnis. Sie töten einander wegen Güter, die sie selber
fabrizieren. Dazu gehören das große Haus, das Luxusauto, Geld, Ehre und
nicht zuletzt die Gesellschaftsordnung (zivilisierte und unzivilisierte Welt,
entwickelte und unentwickelte Welt, Weltmacht im technischen Bereich
usw.). Sie glauben, dass sie alles wissen, weil sie sicher sind, etwas
verborgen zu haben, das niemand entdecken kann: die Wahrheit. Sind sie
intelligent? Weise, schlau oder unwissend? Wer weiß, wie sie sich selber
einschätzen! Sie haben das Gefühl, alles zu kontrollieren, alles in der Hand
zu haben in dieser potentiellen Welt. Obwohl sie die potentielle Welt
dominieren, erlauben sie sich manchmal – wenn sie fühlen, das sie die
Kontrolle über die potentielle Welt verloren haben – diese zu provozieren,
um nach deren Meinung zu schauen. Typischer Fall, ich zitiere folgende
Information aus einem New Yorker Magazin: »Schwarze lesen nicht und
bleiben immer unsere Sklaven.« Meine Schwestern und Brüder, was
bedeutet das! Die potentielle Welt hat diesen Artikel mit großem Interesse
gelesen und ist zu dem Schluss gekommen: »Bisher wissen unsere
Schwestern und Brüder von Natur nicht, wer sie sind!« Aus diesem Grunde
wurde dieser Artikel als ›primitiv‹ im wörtlichen Sinne des Wortes
gekennzeichnet.
Sie sagen, sie sind aus einer modernen Zeit, aber ihre Handlungen und
Gedanken beweisen, dass sie immer noch im Mittelalter leben; dieser
Gladiatorenfilm, der die Leben der Menschen zerstört hat, ist ein
zusätzlicher Beweis dafür.
Was kann man noch lesen in einem Buch unserer Schwestern und Brüder
von Natur; sie erwarten immer etwa Neues von ihren Schwestern und
Brüdern der potentiellen Welt, um mit diesem Neuen die Helden zu spielen.
Warum sollte man sein Leben dem Lesen widmen? Irrweg, der zur falschen
Interpretation führt! Wir wären besser bedient, wenn wir unsere Zeit der
Entdeckung und den Studien der Natur widmen würden, um diesen
wunderbaren Raum zu genießen und davon zu profitieren; dieses wäre
sicherlich eine natürliche Quelle des Glücks.
Wer sein Leben nicht den Büchern dieser Helden widmet, ist vernünftig;
er kann das Leiden anderer mitempfinden; die Schmerzen anderer im
eigenem Leibe spüren; er kann seine Mitmenschen lieben: er fürchtet sich
anderen weh zu tun; er versteht, warum er lebt; er liebt das Leben. Egal,
was passiert; er braucht immer seinen Nächsten, um zu überleben, jedoch
keinen Maschinenmenschen. Sie versuchen, ihr Verhältnis zu ihrem
Nächsten zu vertiefen, zum Wohle der gesamten Gesellschaft. Ihr Verhalten
ist natürlich. Sie sind diejenigen, die andere inspirieren, zu schreiben, für
sich selber zu schreiben, weil es dazu gehört in ihrem modernen Leben. Die
Natur jedoch bleibt geheimnisvoll. Sie bleibt wie sie ist. Ihr Geheimnis
bleibt verborgen. Nur durch ihr Verhalten kommt es zum Vorschein. Dies
bedeutet, dass ohne diese Menschen die Schwestern und Brüder von Natur
nicht schreiben könnten, weil ihr Geschriebenes den Menschen der
potentiellen Welt bereits bekannt ist, bevor es in Buchstaben ausgedrückt
wird.
Schwestern und Brüder von Natur, arbeiten wir zusammen, damit die
Luft rein und unverschmutzt wird. Das Leben gehört uns allen, teilen wir
gerecht die Früchte des Glücks und des Lebens, seien wir nicht
selbstsüchtig. Diese potentielle Welt, die ihr Leben nicht dem Lesen
widmet, sollte das hiesige Leben richtig verstehen, besser als diejenigen, die
sie zu verstehen glauben; sie sollten ihren Brüdern helfen, die den Sinn des
Lebens noch nicht verstanden haben und weiterhin in einer Scheinwelt
leben, in der die Sterberate aus ihren eigenen trügerischen Träumen
erwachsen ist. Die Gesellschaft krankt, die Menschen haben angefangen,
einander zu verzehren. Menschen, die keinen Unfall erlitten haben,
entscheiden sich für eine Amputation, die Habgier dominiert ihr Leben, sie
sind lebensblind geworden, sie erkennen nicht die Bedeutung eines
Menschen, sie haben die Kontrolle über das natürliche Leben aufgrund des
von ihnen selber konstruierten Ambiente verloren. Sie werden geschmäht,
insbesondere wenn Sie behindert sind. Arbeitsfähige Menschen werden für
ihren Dienst gebraucht, sie werden Ihre Kraft und Intelligenz bis zum
letzten Atemzug ausbeuten. Wenn festgestellt wird, dass Sie ihren
Aufgaben nicht mehr nachgehen können, werden Sie automatisch aus ihrem
Klan ausgestoßen. Ihr Name wird zu einem Drama, bis die unschuldige
Gesellschaft, welche die Zunge der Schlange dieses Klans nicht versteht,
Hassgefühle gegen sie entwickelt, die sie bis zum Grab verfolgen werden.
Um das Ziel der Harmonie in der potentiellen Gesellschaft zu kreieren,
bereiten sich die Veteranen vor, ihre Schwestern und Brüder von Natur zu
informieren, dass die potentielle Welt bereit ist, Fortschritte zu machen,
aber auf der Grundlage ihrer eigenen Kultur: Achtung vor dem sozialen
Leben, Liebe und Sorge vor dem Nächsten, jagen, fischen, die Erde
vorbereiten, um die Welt zu ernähren, und schließlich singen, um die
Herzen anderer zu erfreuen. Das kann der Mensch bewirken, um sein
eigenes Leben mit verzauberten Augen zu betrachten; Neid entstand aus
dieser von ihnen verursachten geistigen Brutalität um die potentiale Welt zu
zerstören. Wenn du dein eigenes Leben hasst, was soviel heißt wie nicht
mehr unter den Menschen zu sein, deren natürliche Ausstrahlung und
Empfindsamkeit intakt geblieben ist, wirst du anderen Schaden zufügen.
Die potentielle Welt ist traurig und möchte sich gerne um ihre Schwestern
und Brüder von Natur kümmern. Seht, die fruchtbare Erde, die uns Gott
gegeben hat; seht, den fruchtbaren Boden, den uns Gott gegeben hat; seht,
den Tag und die Nacht, die uns erlauben die Zeit für Vergnügen und Feiern
zu trennen. Nachts funkeln Sterne am Himmelsbogen, der Mond leuchtet;
tagsüber gibt uns die Sonne ein neues Leben und wir sind das beste Wesen
nach der von unseren Brüdern von Natur verfassten Bibel. Wonach suchen
wir noch? Überlegt es euch genau!
Alles hat hier angefangen. Eines Tages in der Morgendämmerung haben
Bauern ihre Werkzeuge aufgehoben und haben sich wie gewöhnlich auf den
Weg zu ihren Acker gemacht. Sie haben gemerkt, dass ihr Umfeld besetzt
war. »Wer hat diese Geschichte organisiert?«, fragten sie sich. Es handelte
sich um eine knallharte Okkupation. Bösartig! Die heutige Qualifizierung
dieser Okkupation wäre nach den Veteranen: brutal und gerissen. Heute
werden dadurch Gesellschaften in der potentialen Welt zerstört. Diese
Besatzung hatte damals einen Zweck: es handelte sich darum, eine neues
System zu verankern um zweierlei zu erreichen:

die rassistische Aufteilung der Erde (ich bin der Herr über diese Erde
und über alles, was zu ihr gehört);
die Konstruktion universeller und rassistischer Gesetze, z.B. die
Erklärung der Menschenrechte – in denen ein Artikel bedeutet: alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Zu unserer großen Überraschung könnt Ihr dieses Denken in einem


bekannten Buch dieser Welt lesen – in der Bibel. Sie haben auch das
Asylrecht erschaffen.
Der Mensch macht mit seinem Plan weitere Fortschritte, um das Ziel zu
erreichen, das er sich gesetzt hat. Die Erfindung des Wortes ›Politik‹
entspricht ihrem Denken. Meine Schwestern und Brüder, es ist hier, wo wir
einen Punkt setzen, denn dieses Wort beinhaltet das gesamte Übel auf dieser
Erde. Meine Schwestern und Brüdern, wir sollten nie vergessen, dass die
Wirklichkeit nicht immer synonym ist mit der Wahrheit. Unser Scheinleben
heute ist real.

DEUTSCHLAND – DIE ASYLZELLE

ZELLE ERSTEN GRADES


Vor meinen Augen erscheinen immer Bilder aus meiner ersten Nacht in der
Zelle für Asylsuchende, die von den leidenden Schreien politischer
Asylsuchender ertönte.
Sie haben uns an einem Ort gebracht, sie haben uns in einer Art
militärischer Zelle schlafen lassen. Wir waren alle aus dieser potentiellen
Welt, die unter dieser erbarmungslosen und brutalen Besatzung gelitten
haben. Sie haben uns vor eine Anhörung gestellt, sie wollten wissen, wer
wir sind, warum wir in dieses Land gekommen sind und nicht in ein
anderes; welche Verkehrsmittel wir benutzt hatten; ob wir zu Fuß waren?
Sie haben unsere Fingerabdrücke genommen, wir waren Verbrechern
gleichgestellt. Aber woher kommt diese Kriminalität? Wurde sie nicht vom
brutalen Besatzer hergebracht; sie vergessen ihre Charakteristik! Auf diese
Weise wurden viele als Kriminelle eingestuft. Zu diesem Zeitpunkt haben
wir einander betrachtet, und vielen stand Ekel im Gesicht geschrieben. Das
Bild, das aus der Feder unserer Brüder von Natur entstand, wurde immer
negativer: Sie sagten uns, in ihrem Land leben wir im Luxus; sie diktierten
uns, zu welcher Uhrzeit wir aus dem Lager herausgehen durften und wann
wir gefälligst zurück sein mussten, wann wir unsere Mahlzeiten bekommen.
Sie sagten uns: wir sollten in unseren Zellen bleiben, bis sie beschließen,
uns in ein Lager zweiten Grades zu versetzen. Sie haben uns gezwungen zu
lügen, obwohl es in der von ihnen verfassten Bibel steht: »Du sollst nicht
lügen.«
Die Wahrheit, die wir verkünden, wird zur Wut, die in uns aufsteigt und
sich gegen uns richtet. Man sollte das eigentlich nicht sagen, sonst werden
Sie in Ihre Heimat zurückgeschickt. Sie haben uns das Recht verweigert zu
studieren, zu arbeiten; wir haben das Recht zu schlafen, Nahrungsmittel zu
uns zu nehmen, die sie für uns nach ihrem Geschmack zubereitet haben,
wenn sie es für angebracht finden; der Ort, an dem wir übernachten, ist
eingezäumt und wird von Hunden und speziell ausgebildeten Wachpersonal
für Einsätze in dieser Klasse von Gefängnissen bewacht.
Achtung: In der Zelle zweiten Grades erwartet uns auch das Gesetz.

ZELLE ZWEITEN GRADES


In dieser Zelle haben sie versucht, einiges zu ändern, um die Wachsamkeit
der Gefangenen zu schwächen und Glück vorzutäuschen, aber es ist nur ein
Traum, ein unendlicher Traum. Für deine Ernährung bist du selber
verantwortlich, genauso wie für deine Kleider. Das bedeutet, das sie dir eine
bestimmte monatliche Summe geben, die du selber verwalten muss.

REISEN
Reisen ist den Gefangenen untersagt. Jeder Ortswechsel ist zu melden, um
den Reisezweck zu überprüfen!

Bevor man eine Stadt verlässt, um sich zu einer anderen Stadt zu


begehen, muss man um Erlaubnis fragen.
Man muss sich gut rechtfertigen können, zum Beispiel durch
Dokumente und Unterlagen, die von Ihrem Rechtsanwalt oder Ihrer
politischen Partei überreicht werden. Sie werden Ihnen das Recht, das
Lager zu verlassen, auf ein Stück Papier liefern, damit im Falle einer
Polizeikontrolle die Ordnungshüter wissen, dass Sie Gefangene aus
diesem oder jenem Asyllager sind. Diese Erlaubnis wird für 48
Stunden erteilt und nicht länger. Die Entfernung zum Zielort spielt
dabei keine Rolle.
Die Aufenthaltsrechte, die Ihnen zugesprochen werden, hängen von
Ihrem Sachbearbeiter bzw. Betreuerin ab!

SCHWIERIGER MOMENT:
Wenn man Ihnen einen Brief schickt, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Antrag
laut Asylgesetz abgelehnt wurde; dass Sie in diesem Land kein
Aufenthaltsrecht mehr haben. Jetzt beginnt eine mörderische Zeit im Leben
eines Asylsuchenden.
Sie können entscheiden, je nach Ermessen und Gemütszustand, dass Ihre
Präsenz einen Monat, zwei Monat oder zwei Woche auf dem Territorium
geduldet wird. Es könnte aber auch sein, dass Sie von der Polizei entführt
werden, genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sie zu den Ausländerbehören
gehen, um Ihren Aufenthalt zu verlängern. Niemand in ihrem Familien-
oder Bekanntenkreis wird erfahren, wo Sie sich aufhalten! Wenn jemand
unter Ihnen schnell handelt, wird man Wege suchen, um Ihren Anwalt zu
verständigen. Der Anwalt wird Kontakt mit dem Grenzschutz und den
Ausländerbehörden aufnehmen, um zu erfahren, wo Sie sich befinden. Das
ist für das Leben des Einzelnen ein historisches Datum: viele Menschen
werden abgeschoben und sind nach der Rückkehr in ihre Heimat ums Leben
gekommen; andere wurden in diesem Rechtsstaat physisch und geistig
krank.

Sie haben uns Namen gegeben, wodurch wir als die


Bevölkerungsschicht identifiziert werden, die am meisten leidet. Wir
sind die richtigen Bedürftigen, nach der Auffassung der zweiten Welt.
Sie haben zu Hause nichts zum Essen, also muss man ihnen (den
Asylsuchenden) helfen. Falls Sie einem Einheimischen, einem Sohn
dieses Landes begegnen, und Sie sagen ihm, dass Sie Asylsuchender
sind, wird er lamentieren; er wird sein Mitgefühl für Ihr Leid zum
Ausdruck bringen, aber, in der Realität, weiß er nichts von Ihnen, er ist
nur ferngesteuert; er kann Sie gelegentlich zum Essen einladen, Ihnen
Second-Hand-Kleider verschenken, da er weiß, dass Sie aufgrund
Ihres Statuts in diesem Land arme Seelen sind und ebenfalls in Ihrem
Heimatland arme Seelen sind. Aber eigentlich wissen sie nichts, was
passiert.
Der Ort, an dem wir die Nacht verbringen, ist nicht eingezäumt, aber weit
entfernt von den Kreisen, in denen sie verkehren. Entweder werden wir von
Hunden bewacht oder von uniformierten Männern, wie es in der Zelle
ersten Grades der Fall ist. Unter dem Vorwand, uns zu schützen. Wenn sie
uns tatsächlich schützen wollen, wer sind wir eigentlich? Wenn sie uns als
Opfer schützen, warum werden wir so misshandelt? In der Tat sind wir uns
nicht dessen bewusst, dass wir Gefangene sind, die zum psychischen Tod
verurteilt wurden. Oh Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde! Wo sind
wir, wo können wir aus dieser Zelle des Lebens ausbrechen? Wir haben
versucht, unsere Schwestern und Brüder kennen zu lernen und zu verstehen.
Wir haben an die Geschichte gedacht, die sie selber in der Bibel erzählen:
die Geschichte von Kain und Abel. Wir haben an diese wertvollen Wörter
Sklaverei, Kolonialisierung und schließlich Neokolonialisierung gedacht,
die unsere Schwestern und Brüder von Natur erfunden haben, um die
potentielle Welt zu kennzeichnen, um sie zu vernichten und sie während der
Zeit ihrer brutalen und schleichenden Besatzung, unter der viele unserer
Generationen bis heute leiden, zu demütigen und zu unterjochen.
Welch ein Geschlecht unempfindsamer Menschen! Sie haben ein
eisenhartes Herz und einen katzenhaften Blick. Sie können das Leid anderer
nicht teilen.

Warum müssen wir so misshandelt werden?


Warum wollen uns diejenigen vernichten, mit denen wir dieses
wunderbare Leben teilen, das uns Gott verschenkt hat?
Warum missbrauchen sie unser wunderschönes Leben, um ihre
stressige Welt aufzubauen?
Warum wollen sie uns liquidieren, obwohl wir ihnen die natürlichen
Ressourcen geben, über die sie verfügen wollen.
Warum wollen sie uns die Gründe dafür nicht nennen?
Warum werfen sie sich nicht ihre eigenen Handlungen vor, die
schmerzvolle Spuren hinterlasen?
Warum schweigen sie wie eine Schlange und reden wie ein Papagei?

Deswegen sagen wir: der heutige Tag ist nicht der morgige Tag; die starke
Hand ist diejenige, die das Eisen bricht.

Ba mindele ntango ba yaki epayi na biso,ba nyokolaki biso mingi ko


beta fimbo tongo, midi,mpe mpokwa! Ko kata bato maboko, soki o boyi ko
kata bilanga mpo na ko leyisa bango, to mpe ko komisa bango bato ya
mosolo mingi mpenza. Na ntango ba moni èté ngonga na bango ekoki mpo
na ko zonga epayi na bango,na ntina èté ba koka ko tabwisa biso lokola
ezalaki na ebongiseli na bango, Ba bengi yango nde: „LIPANDA“.Tango ba
zongi épayi na bango, na sima ya ko bongisa mitambo na bango épayi na
biso, ba tiki mpe ba kengeli ya mitambo wana, ba tiki mpe mibeko, Bo
yoka! ntango ba keyi, ba komi ko tabwisa mboka na mosika, soki likambo
to matungisi epkweyi na mboka na ndenge ba silaki ko bongisa, na ntango
oyo ba ko loba bomoni ,bino moko bokoki ko bongisa mboka na bino nte!
bo lobaki to zonga wana etali biso te! bo luka ko bongisa bino moko. Soki
bo lingi to salisa bino lisusu, to koki ko zonga kasi na polélé nyoso mpenza!
.Ba komi nde lokola buku ya ko kanisa, (consultation) soki obosani mibeko
esengeli o benga bango mpo ba yebisa yo ndenge nini o koki ko tambola.
Soki o tuni bango te! olingi osala ndenge okoki mpo na bolamu ya mboka
na yo ba bengi yo „Dictateur“ wana ko lukela yo nzela ya liwa nyoso yango
wana. Likambo mosusu ezali boye, ba buku ya kelasi, ya misala to mpe ya
mibeko ndenge na ndenge oyo ekoki ko tambwisa mokili esalami na bango
; ba saleli ya solo solo ya mibeko oyo ezali bato oyo ba mponami na bango
mpo na ko tambwisa mboka. Mpo na makambo etali lokola ko bwaka nzoto
na mboka na bango ezali ebongiseli na bango mpo na ba koka mpe ko
tambwisa biso na bolamu nyoso ezali lokola na minoko na bango ba lobaka
„ Partager Afin de bien reigner“ na kati ya buku ya ko bwaka nzoto ba komi
makambo nini okoki ko loba mpo ba koka ko linga yo o fanda na mboka na
bango! Na ntango ba yaki epayi na biso to salelaki bango mibeko te! To
koma epayi na bango ba bengi biso bato ya mpasi, ba bengi biso ba paya
!ba zali ko tinda biso na makasi to nkosa na nkombo ya ba mikonzi na biso
mpo ba zwa nzela ya ko longola mokonzi oyo azali ko tosa bango te! Mpo
ba tiya oyo a lapi ndayi na bango été a ko ntosa bango tii kino liwa na ye! il
faut ko loba boye kasi boye te! Elingi ko loba boye: na ntango o zali ko
yebisa bango likambo epkweleli yo ba ko ndima yango te, kaka soki o kosi
na ndenge oyo ba silaki ko bongisa yango na kati ya buku na bango nde ba
ko linga yo! Bango ba sali mibeko ya lokuta ,ba komi yango na kati ya
buku.mpo na nini ba zali ko ndima maloba na yo te? zambi ba yebi na
bolamu nyoso èté, bango ba zali ko bongisa maye manso ma zali ko leka na
mboka to mpe mokili mobimba na yango soki o lobi likambo oyo ezali na
nzela (ya solo) ba ko boya yo! Moto nyoso oyo a yeba ko kosa te, akomi ko
yekola ko kosa mpo ba ndima yo na mboka na bango! Bana mboka bo yeba
èté ngonga èkoki mpo to fungola miso, mbula oyo enokela biso, enokela
biso lisusu te, luka ko linga ndeko na yo ya mposo moindu na nsima ndeko
na yo mosusu wana, mpamba te ba zali mayele mabe tika mitema mabe na
ndeko na yo ya mposo, mopaya a ya ko kosa yo o boma ndeko na yo te!(( O
mitala, o kanisa mpasi ba koko na yo ba mona mpo na lelo to zala ndenge to
zali ! Bo kanisa ngonga ya boumbu ya mposo na biso mpene ya mposo
mpembe ! bokanisa na ndenge bokoko na biso ekota mpe boumu epayi na
mposo mpembe ! Tika ètè mabe na biso to koka ko bongisa yango o kati
kati na biso moko.esengeli ko yeba na bolamu nyoso èté bino bo zali
mwinda ya mokili pamba te mposo mpembe liboso a koma ndenge a komi
lelo a yaki liboso epayi na biso na mayele mabe nyoso, lokuta na monoko
mpe a kamati nyoso a tikaki ata ndambo te ! a memeli biso bato, mayele,
bokoko,makasi ba tikeli biso kaka mabele oyo nzambe akabela biso na
complexe na bango oyo ba yaki na yango! Tala ntina to tikala esika oyo to
zali lelo. Bongo mpo to bengana botutu nyoso wana na nzoto na biso,
esengeli ko yoka lisapo ya mposo na yo !o yeba ntina na mposo na yo! Mpe
o mituna motuna ntina nini ozali lelo boye ! na ngoga oyo oko zwa bwanya
mpe bokasi na mayele oyo ba botolaki yangowana ekotinda yo o ndima
ndeko na yo, o sala likita na ndeko na yo, okoka mpe ko bomba mabe ya
ndeko ya mposo na yo o boso bwa mposo mpembe ! mpe kaka na esika
wana nde oko loba ( NON! ) na mposo mpembe)) boboto o engumba ya
afrika. “A ya kodoro hin zi le hi mbunzu gango fanimende ti mungo
kodoro, wa nse hi du na yengbingo ko na mbala me ko a la na fingo hon la!
Nduru keke amene ngo ! koli, wali, yingambe hi liyando hi ba se dungo te
yando na peni , hi si kodoro! Le hi na zingo yangondo kode mende na singo
na yali hi ! a yatambi mbi ye hi mingi wa ti koyi ta ndo ko ge na tere lita
kwe ma ! Butundu , a du so ndu! »

Aus dem Französischen von Marianne Ballé Moudoumbou und Aretha


Schwarzbach-Apithy
AISCHA AHMED
(And when I stopped being nobody,
I would become white – white as my
skin, hair, bones allowed.
My body would fill in the blanks,
tell me who I should become,
and I would let it speak for me.)
Danzy Senna: Caucasia

»NA JA, IRGENDWIE HAT MAN DAS JA GESEHEN«.


PASSING IN DEUTSCHLAND – ÜBERLEGUNGEN ZU
REPRÄSENTATION UND DIFFERENZ

Nach einem der beiden Interviews, die ich für diesen Artikel führte, zeigte
mir meine Gesprächspartnerin ein Bild ihrer afrodeutschen Mutter aus dem
Jahr 1933. Zu sehen waren zwei kleine Mädchen um die drei Jahre alt im
Vordergrund und ein älteres Mädchen im Hintergrund. Die beiden vorderen
umarmen sich und blicken in die Kamera. Aus einer dominanzorientierten
Perspektive heraus sieht die eine wie ein weißes Mädchen, die andere wie
ein Schwarzes Mädchen aus. Eine hat blonde Locken und helle Haut, die
andere braune Locken und dunkle Haut. Beide sind Schwarze Deutsche.
Die Mutter meiner Freundin gemäß dieser weiß als normativ setzenden
Perspektive visuell erkennbar, die andere nicht. Was bedeutete es damals,
was bedeutet es heute, in dieser Gesellschaft Schwarz zu sein und doch als
solches nicht erkannt zu werden? Wie hat dieses blonde Mädchen, das die
Mutter meiner Freundin umarmt, die Zeit bis 1945 erlebt? Hat sie überlebt?
Die Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung von Differenz ist mit
bestimmten Erwartungshaltungen verbunden, die sich auf der visuellen
Ebene besonders ausgeprägt zeigen. Wie umfassend und durchdringend
Differenzmarkierungen in Form von ›Othering‹ (Ver-Andern)[1]
funktionieren soll im Folgenden anhand eines Phänomens diskutiert
werden, das im US-amerikanischen Sprachgebrauch als passing bekannt ist.
Passing bedeutet, als jemand anders zu passieren,[2] als jemand anderes
wahrgenommen zu werden oder auch irgendwo durchzukommen, an
Grenzen, bei Auswahlverfahren etc. Passing im ersten Sinne könnte auch
als Wechsel des Repräsentationsregimes[3] oder Ausbruch aus demselben
verstanden werden. In den letzten Jahren ist das Thema für die
unterschiedlichsten Bereiche, in denen dieser Wechsel möglich ist,
diskutiert worden: zum Beispiel in Bezug auf Gender, auf sexuelle
Orientierung, auf Religion und in Bezug auf Rasse.[4] Passing in diesem
letzteren Sinn hängt eng zusammen mit der Schaffung rassifizierter Körper,
die für die Diskurse der Differenz und des ›Othering‹ grundlegend sind.
Stuart Hall betont in diesem Zusammenhang »die Verbindung zwischen
visuellem Diskurs und der Produktion von (rassisiertem) Wissen«.[5]
Soziokulturelle Unterschiede wurden im Zuge der Ausweitung solcher
Disziplinen wie der Anthropologie und Ethnologie in Körper
eingeschrieben:
Der Körper selbst und seine Unterschiede waren für alle sichtbar, und lieferten auf diese Weise
den ›unwiderlegbaren Beweis‹ für eine Naturalisierung rassischer Differenz. Die Repräsentation
von ›Differenz‹ durch den Körper wurde zum diskursiven Ort, über den ein Großteil dieses
›rassisierten Wissens‹ produziert und in Umlauf gebracht wurde.[6]

Die afroamerikanische Künstlerin Adrian Piper bezieht die Verbindung von


Visualität und rassifiziertem Diskurs direkt auf das Thema passing und ihre
eigene körperliche Disposition, nach der sie aus einer dominanzorientierten
Perspektive heraus als weiß wahrgenommen wird. Es seien nicht die
physischen Charakteristika, die sie mit anderen Schwarzen verbänden,
sondern die Erfahrung visuell oder kognitiv durch eine weiße rassistische
Gesellschaft als Schwarz identifiziert zu werden und die schmerzhaften und
zerstörerischen Effekte dieser Identifizierung zu teilen.[7]
Es sind Fragen der Sichtbarkeit und Zugehörigkeit, die das Konzept
passing umgeben. Da es für den deutschen Kontext meines Wissens keine
konkreten Studien zu diesem komplexen Thema gibt, habe ich als
Vorgehensweise feministische Ansätze aus der Oral History gewählt[8] und
verstehe die Erfahrungsberichte, die im zweiten Teil folgen, als Beiträge
von situated knowers,[9] als den Einsatz eigener konkreter Erfahrungen von
Frauen, die diese dementsprechend weitergeben und einen alternativen Weg
der Wissensvalidierung beschreiten. Die persönlichen Erfahrungen dienen
auch dazu, eine eigene Sprache zu finden, um hegemoniale
Repräsentationspraktiken kenntlich zu machen und zu hinterfragen.[10] Die
Interviews stützen sich auf bereits vorhandenes Wissen, das es gilt,
zueinander in Beziehung zu setzen und zusammenzutragen. Diese Form der
Weitergabe knüpft an Traditionen Schwarzen feministischen Denkens an.
[11] An diesem Artikel sind noch zwei weitere Frauen beteiligt, die mir
einen Teil ihrer Erfahrungen mitgeteilt haben. Alle drei bringen wir
unterschiedliche Biographien mit ein. Alle drei treffen wir uns aber in
einem Punkt: jede von uns könnte in dieser Gesellschaft als weiß passieren.
Um die persönliche Verortung und Positionierung zu diskutieren, um
gemeinsame und geteilte Erfahrungen auszutauschen sowie den
Bedeutungen derselben nachzugehen, orientieren sich die Ausführungen an
den folgenden Fragen:
Welche Platzzuweisungen erhalten Schwarze Frauen, die passieren
könnten, nach einem dominanten weißen Diskurs? Welcher Ort wird ihnen
in einem von Authentizitätsvorstellungen geprägten Schwarzen Diskurs
zugewiesen? Wie verhandeln sie beide Sphären? Wie funktioniert
Rassifizierung/›Othering‹ bei Frauen, die als weiß passieren könnten? Was
sagt passing über Schwarzsein und Weißsein in Deutschland aus?
Auseinandersetzungen über passing haben eine lange Vorgeschichte in
der US-amerikanischen Diskussion und artikulieren sich in verschiedenen
Bereichen, von der Literatur über die Kunst bis in die Politik.[12] Wie Juda
Bennett ausführt, lässt sich passing etymologisch vermutlich auf pass (dt.
Pass) zurückführen: »The ›pass‹ is a slip of paper that allows for free
movement, but white skin is itself a ›pass‹ that allowed for some light-
skinned slaves to escape their masters. ›Passing,‹ it needs to be stressed,
refers more easily or logically to an ›act‹ than a person.«[13]
Es bedarf demnach einer Entscheidung, als weiß zu passieren.[14] Diese
Mechanismen funktionieren aufgrund einer auf dem Prinzip Rasse
basierenden Gesellschaft, in der als Schwarze Person gilt, wer ›einen
Tropfen Schwarzen Blutes‹ in sich trägt.[15] Wie Naomi Zack treffend
festhält bedeutet die one-drop rule auch, dass Weißsein nur über die
Abwesenheit Schwarzer Vorfahren definiert wird: »[W]hiteness is a
negation which rests on indefinite blackness.«[16] Rasse als
gesellschaftsordnendes Prinzip ist für den Akt des Passierens grundlegend
und bewirkt die konzeptualisierte Aufteilung in unterschiedliche Räume
und Sphären. Wer wo hineinpasst wird aus machtvoller Perspektive
vermeintlich eindeutig festgelegt. Passing ist nach dieser Sichtweise auch
als opportunistisches Ausnutzen von Privilegien beschrieben worden.[17]
Dabei bedeutet es viel, sich zu einem derartigen Schritt zu entschließen und
bringt oft gewaltvolle Folgen mit sich, wie die Trennung von der Familie,
der Community und die Abkehr vom eigenen, früheren Selbst.[18] Passing
ist, wie erwähnt, ein Akt, eine Entscheidung, die auch die Form des
Widerstands annehmen kann. Als Schnittstelle einer binären Aufteilung in
weiß und Schwarz ermöglicht das Thema passing zum einen, die
Ungewissheit beider Kategorien hervorzuheben, wie auch normative
Vorgaben von Authentizität und essentialisierten Identitätskonstrukten zu
hinterfragen.
In Europa unterlag der Umgang mit dem Prinzip Rasse als
gesellschaftskonstituierendes Merkmal divergenten historischen
Verlaufsformen, die gleichwohl Parallelen zu bestimmten Entwicklungen in
den USA aufweisen. Seit der Aufklärung gibt es verschiedene Versuche, die
europäische Geschichte als eine exklusiv weiße Geschichte zu etablieren.
[19] Schwarze Menschen waren aber nicht nur – wie von Martin Bernal
beschrieben – am kulturellen Austausch in der Antike beteiligt, sie haben
über Zeiten hinweg Einflüsse auf die europäische Geschichte gehabt.[20]
Im Gegensatz zu den USA geht die Schwarze Bevölkerung in Europa
jedoch nicht auf »eine gewaltsame Massenumsiedlung zurück, sondern auf
die bis in das 20. Jahrhundert reichende Geschichte der Kolonisierung
Afrikas«[21] und anderer Teile der Welt. Wie Fatima El-Tayeb feststellt,
hängt die Nichtwahrnehmung Schwarzer europäischer Geschichte mit einer
Reihe von Faktoren zusammen, darunter die mangelnde Aufarbeitung der
europäischen Kolonialgeschichte und der wissenschaftlich verbreitete
Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Europa wurde zu einem ethnisiert
weißen Kontinent stilisiert.
Für Deutschland im Speziellen gibt es zwei miteinander verbundene
Geisteshaltungen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen. Das ist zum
einen die von El-Tayeb erwähnte Unterlassung, sich mit den eigenen
Rassifizierungsstrukturen auseinander zu setzen. Damit geht einher, dass es
in den beiden deutschen Staaten nach 1945 aus unterschiedlichen Gründen
tabu war, die eigene Geschichte in Bezug auf Rassismus zu
kontextualisieren.[22] Zum anderen ist es eine schon mehrfach
beschriebene Ausschließung, die mit dem Nationsbegriff in Deutschland
zusammenhängt. Dementsprechend ist nach dem dominantem Verständnis
der Mehrheitsgesellschaft Schwarzsein und Deutschsein unvereinbar.
Since the existence of a population that was not white and still German was as unthinkable after
1945 as it was before, history was both ignored and repeated. The persecution of black Germans
under fascism, the hysteria around the ›Rheinlandbastards‹ and the anti-miscegenation laws
miraculously vanished from public consciousness. At the same time, the old positions continued
to guide discussions about non-white Germans, this time under the heading ›occupation children‹
(Besatzungskinder).[23]

Diese Ausschließung verbindet sich mit einer Reihe von


Repräsentationspraktiken und -figuren, die durch bestimmte
Machtverhältnisse konfiguriert werden und Differenzen festschreiben.
Deutschland erweist sich als rassifizierte Gesellschaft, als »Konstrukt einer
ethnischen Abstammungsgesellschaft, der ›Volksnation‹«, der entsprechend
bis in die jüngste Zeit die Zugehörigkeit in Form der
Staatsbürgerschaftsrecht definiert wurde.[24] Die Identitätskonstrukte, die
in dieser Nation Platz haben, unterliegen subtilen und offenbaren
Körperpolitiken, denen entsprechend Differenzmarkierungen vorgenommen
werden, die über Zugehörigkeit und Ausschluss entscheiden.
Jedoch sind die Grenzziehungen, die sich im Zusammenhang mit
anderen Faktoren, wie geschlechtsspezifischen, sozialen, politischen,
religiösen, kulturellen, sexuellen, generationsbedingten und generell
biographischen Aspekten ergeben, nicht statisch, sondern werden
permanent hinterfragt und verhandelt.[25] Vor diesem Hintergrund lassen
sich auch Zuschreibungen thematisieren, die bei einem Phänomen wie
passing am Werk sind, und die auf vermeintlichen Eindeutigkeiten beruhen.
Diese entstehen durch den Willen zur Authentizität in den Diskursen zu
Schwarzsein und Weißsein in der bundesdeutschen Gesellschaft.
Es gibt unterschiedliche Voraussetzungen im Umgang mit beiden
Kategorien. Schwarzsein ist, wie oben angedeutet, in einem umfassenden
Maß aus mehrheitsgesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen worden,
während es gleichzeitig permanent markiert wird. Schwarzsein aus
deutscher marginalisierter Sicht ist ein Begriff, der sich immer wieder
Veränderungen unterzieht und eine permanente Verhandlung der
Grenzziehungen bedeutet. Weißsein wird mehrheitsgesellschaftlich als
normativ gesetzt und steht für Macht, Privilegien, Zugangsmöglichkeiten.
Weiß wird nicht thematisiert. Weiß ist selbst unsichtbar, unbenannt,
unmarkiert:
Die ideologische Zurichtung verschleiert, dass es sich bei Weißsein um einen politischen Begriff
handelt, der nichts mit Hautfarbe oder bestimmten phänotypischen Merkmalen zu tun hat;
vielmehr muss Weißsein im Feld von Rassialisierungsprozessen, von fortwährenden
(Re-)Produktionen des Konstrukts ›Rasse‹, angesiedelt werden, deren Ziel es ist, die Privilegien
einer gesellschaftlichen Gruppe gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen zu legitimieren.
Wer zur privilegierten Gruppe der Weißen gehört, ist Verhandlungssache und von den je
spezifischen sozioökonomischen Bedingungen einer historischen Situation abhängig. Weißsein ist
somit kein festgelegter Bestandteil von Körper und Identität, den die Person nie verlieren kann,
vielmehr kann es – sogar im Verlauf einer individuellen Biographie – aufgezwungen, verloren
oder erkämpft werden.[26]

Schwarze Personen, die entsprechend einer dominanzgesellschaftlich


ausgerichteten Perspektive als weiß wahrgenommen werden, können auf ein
Erfahrungsspektrum zurückgreifen, das genau an die Grenzlinien von
Schwarzsein und Weißsein stößt. Den Umgang mit der Problematik in
Großbritannien hat Shirley Tate in einem Artikel thematisiert, in dem sie
untersucht, wie sich ›hellere‹ Schwarze Frauen in einem widerständigen
Akt gegenüber dem Diskurs »Schwarze Haut gleich Schwarze
Authentizität« positionieren.[27] Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass
›hellere‹ Schwarze eine Nähe zu Weißsein haben, eine Nähe zu »Whiteness
als Kultur, Identität, Politik«.[28] Tate hebt hervor, dass das Zögern bei der
Markierung ›ambivalenter Körper‹ ein Zeichen für eine Perspektive ist, die
sich selbst als unmarkiert und daher weiß imaginiert. Die Identifikation der
von ihr interviewten Frauen vollzieht sich in der Interaktion. Die
Ambivalenz ihres Hauttons ist ein Moment der Hybridität, »in der sich
Performativität auf zwei Ebenen ereignet: auf der Ebene des Zitierens der
Grenzen des Diskurses um Blackness und auf der Ebene eines politischen
Umgangs mit der phänotypischen Markierung, die auf eine Politisierung der
Position von Shade als einem dritten Ort jenseits der Dichotomie
Schwarz/Weiß abzielt.«[29]
Wie sieht diese Problematik in Deutschland aus? Wie sind die
Erfahrungen von Schwarzen Frauen, die als weiß passieren könnten? Wer
als weiß angesehen wird, kann sich – wie erwähnt – verändern. Aber es ist
eine Frage von Repräsentation und Macht, die die historischen
Konfigurationen von Schwarzsein und Weißsein festlegt. Encarnación
Gutiérrez Rodríguez hat die Schwierigkeit, die Zusammenhänge von Macht
und Repräsentation zu dekonstruieren, kritisch zusammengefasst:
Macht selbst stellt die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit von Repräsentationen, d.h. welche
Formen der Repräsentation sich als kognitive Autorität oder als Bewahrung der vorherrschenden
Kräfteverhältnisse durchsetzen und welche Artikulationsformen aus dem öffentlichen Reden
ausgeschlossen werden. Zugleich erfolgt die Verstummung der subalternen Stimme nicht nur
durch die Aussondierung, Ausklammerung, sondern gegebenenfalls auch über die Vereinnahmung
der Stimmen selbst.[30]

Gegen diese ›Verstummung‹ der Stimmen gibt es in Deutschland das


Bemühen, eine intergenerationale Weitergabe von Schwarzer Geschichte
und den darin enthaltenen individuellen Erfahrungen zusammenzubringen.
Das Buch Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer
Geschichte ist ein Meilenstein in diesem Bemühen.[31] Vereine wie
ADEFRA (Schwarze deutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland
e.V.) und die ISD (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V.)
widmen sich seit ca. 20 Jahren kontinuierlich der Schwarzen
Gemeinschaftsbildung. Es geschah im Zusammenhang dieser Schwarzen
Community in Deutschland, dass meine Gesprächspartnerinnen und ich uns
kennen lernten. Die erwähnten Gemeinsamkeiten als Schwarze Frauen, die
als weiß passieren könnten, führten dazu, uns über die eigenen
Positionierungen auseinander zu setzen.

VERHANDLUNGEN SCHWARZER POSITIONIERUNG[32]


Die Interviews begannen damit, Sichtweisen auf die eigene Person zu
diskutieren und zu hinterfragen, inwiefern sich Schwarze und weiße
Wahrnehmungen unterscheiden. Meine Gesprächspartnerinnen gehen von
vornherein unterschiedlich mit ihren Selbstpräsentationen um. Während M.
sich als afrodeutsch bezeichnet, positioniert sich K. als Schwarze Frau. M.
wird häufig aufgrund ihres Namens angesprochen und erwidert auf die
Frage, wie sie von weißen Leuten gesehen wird:
Das finde ich persönlich sehr unterschiedlich. Solange Du nichts sagst, stutzen sie bei dem Namen
und da kommen ganz häufig Nachfragen. Und dann kommt es darauf an. Es gibt Leute, die sagen,
›Hach, der Name‹ und dann kommt schon mal die Frage, wie lange ich denn da sei oder ob ich
hier geboren sei oder wie es dazu kommt, dass ich so einen Namen habe. Es kommt auch darauf
an, ob ich dann von mir aus sage, ›Ja, mein Großvater kommt aus Afrika‹, oder ob ich überhaupt
was sage oder nicht. Das habe ich, glaub’ ich, früher weniger genau genommen. Aber inzwischen
sage ich oftmals gar nicht soviel dazu. Weil die typische Reaktion, die dann ganz häufig kam, war:
›Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen.‹ Und da denke ich nur, ›ja mmh‹. Das ist einfach eine
ganz ätzende und blöde Reaktion. Ich weiß nicht, was die Leute dann gesehen haben wollen …
der volle Mund oder - weiß ich nicht. Ist ganz eigenartig.

Und K., die sich schon in ihrer Kindheit Schwarz[33] positioniert hat,
antwortet auf die Frage, wie weiße Menschen auf sie reagieren:
Na ja, dadurch, dass ich da nie ’nen Hehl daraus gemacht habe [Schwarz zu sein] und das immer
fröhlich rum erzählt habe: mit Unwohlsein meistens. Fast immer mit Unwohlsein. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass irgendjemand im Kindergarten oder in der Schule – ’ne weiße Person –
das einfach so hingenommen hat und gesagt hat ›Ja schön‹ oder wie auch immer. Sondern es war
immer verbunden mit irgendwelchen komischen Blicken oder ›Na ja, musst ja nicht so sagen, bist
ja gar nicht so schwarz‹ und ›Du bist doch so schön blond.‹ Damit war das halt immer verbunden
und auch mit vielen Repressionen, was ich aber später erst überhaupt kapiert habe. Dass das
dadurch kam, dass die dieses Wissen über mich hatten.

Dieses Wissen ist ein ganz Spezielles. Denn es platziert K. in besonderer


Weise. Wie sie im Weiteren ausführt, wurde sie deswegen als Kind häufig
nicht zum Spielen oder zu Geburtstagen eingeladen. Auch wenn sie die
Gründe erst später verstand. In K.s Worten:
Ich wurde jahrelang nicht zu Geburtstagen eingeladen – Kindergeburtstagen. Ja, da hätte doch
kein Mensch gesagt, weil die Schwarz ist, ne. Sondern, ich benähme mich unmöglich. Was auch
immer stimmte, ich hatte ein großes Mundwerk, weißt du, das stimmte auch alles. Aber ich wusste
immer schon - auch schon als Kind – das … das ist auch noch was anderes, warum die mich nicht
einladen. Das ist nicht nur mein Mundwerk. Aber das wurde nie benannt. Das wurde nie, nie
benannt.

Auch mit Schwarzen Menschen gibt es eine Reihe unterschiedlicher


Erfahrungen. M. fasst eine kennzeichnende erste Reaktion zusammen:
Ich meine, ich werde ja von vielen erstmal als weiß wahrgenommen. Wenn ich also in einen
Schwarzen Kreis komme, bin ich erstmal irgendwie ’ne weiße deutsche Frau für die - das ist halt
so.

Auch K. kennt diese erste Reaktion auf ihre Person, wenn auch mit einigen
Differenzierungen:
Und ansonsten, glaube ich, dass ich fast immer als Weiße gesehen wurde, also auch von
Schwarzen. Die Einzigen, die da ein anderes Bewusstsein meiner Meinung nach haben, waren
immer Afroamerikaner/innen gewesen, das waren die Einzigen, die mich immer angeguckt haben.

Im weiteren Verlauf des Interviews ergänzt K., dass sie dieses Bewusstsein
auch bei Schwarzen Menschen aus der Karibik und Großbritannien
wahrgenommen hat. Mit der Zeit änderte sich ihr eigener Umgang mit
Reaktionen auf ihre Person.
Ich habe mich einfach mitgemeint. Wenn mein Bruder gegrüßt wurde, und das hat ja was bedeutet
für mich, dass es da Schwarze Menschen gibt, die dich grüßen. Dass es Schwarze Menschen gibt,
die zu anderen Schwarzen Menschen eine Verbindung herstellen wollen. Dass es Schwarze
Menschen gibt, die nicht zu Weißen eine Verbindung herstellen wollen, sondern zu Schwarzen.
Das war ja schon mind-blowing. Alle, die ich kannte, wollten ja nur zu Weißen eine Verbindung
herstellen.

Beide Frauen haben schon sehr früh Erfahrungen mit den spezifischen
Wahrnehmungen und den damit verbundenen Einordnungen ihrer Person
gemacht und auf unterschiedliche Art und Weise Schwarzsein verhandelt.
Was beide betonen, ist, dass es schon von Kindheit an ein Bewusstsein für
die eigene Herkunft gab. M. erzählt:
Ich glaube, bewusst ist es mir vorher [i.e. vor der Schulzeit] geworden. Nämlich, wenn ich mit
meiner Mutter auf der Straße lief und irgendwelche Leute mich ansprachen und mir sagten, ich
dürfte doch nicht mit der fremden Frau mitgehen. Wobei - was heißt gewusst. Ich habe das nicht
verstanden als Kind, dafür war ich zu klein. Ich habe nur immer gedacht, was wollen die
eigentlich von mir mit ›der fremden Frau‹, also woher wollten die wissen, dass das für mich ’ne
fremde Frau war. Ich konnte es aber vorher … also, das konnte ich als Kind nicht sehen. Ich habe
da im Alter von drei oder vier nicht gesehen, dass sich das auf die Hautfarbe von meiner Mutter
oder so bezog, dass die der Meinung sind, ich gehe da mit irgendjemanden mit. Das ist ja nicht nur
einmal vorgekommen, das ist ja schon ab und zu gewesen. Und da hat meine Mutter auch eher
drauf reagiert. Das ist bei mir aber eher so schemenhaft hängen geblieben.

K. beschreibt auch, wie sie den Blick auf ihre Person strategisch einsetzte:
Ich hatte ein sehr hohes Bewusstsein. Mein Bruder zum Beispiel war dunkler und ich wusste, der
hat dadurch mehr Probleme. Ich habe das auch selber manchmal genutzt, dass ich hell bin, dass
ich als Weiße durchgehen kann und solche Sachen. Habe das auch genutzt. War auch manchmal
fies gewesen, weil ich genau wusste, o.k., da kann ich ihn treffen. Also, ich habe sehr wohl ein
Bewusstsein darüber gehabt, was es bedeutet, wie du wahrgenommen wirst und was das für
Konsequenzen hat, wie du wahrgenommen wirst. Und ich denke, egal, wie politisch korrekt man
wird, das ist immer da, dieses Bewusstsein. … Also, wenn ich mit Schwarzen unterwegs bin, bin
ich diejenige, die angesprochen wird - von Weißen. Und von Schwarzen, da ist es genau
umgekehrt. Das ist wirklich so ’ne Frage – das macht emotional auch was ganz anderes.

Die emotionale Auseinandersetzung mit identifizierenden Blicken hat sehr


unterschiedliche Konsequenzen und Auswirkungen. Während M. zwar die
Unsicherheit beschreibt, sich in Schwarze Zusammenhänge zu begeben, als
sie erstmals an einem Treffen des Vereins ADEFRA teilnimmt, differenziert
sie den Umgang mit ihrer Person bei Schwarzen und weißen Menschen:
Wenn Schwarze Leute mich als weiß sehen und du irgendwie auf dieses Thema oder ins Gespräch
kommst, dann ist das … - das hat einfach ’ne andere Ebene. Soll ich sagen reflektierter, sie sind
reflektierter? Das ist einfach ein ganz anderes Gespräch. Bei Weißen – na ja, die sagen allerhand
Dinge und nehmen das selbst überhaupt nicht so wahr. Das ist halt dieses Typische, dass
bestimmte Bemerkungen, die sie machen, für sie ja auch nicht rassistisch sind. Oder sie denken
halt nicht nach. Du kannst es ihnen auch sagen, aber sie werden es bei nächster Gelegenheit
immer wieder machen. Das ist wie so eine Endlosspule.

K. hat eine Vielzahl konkreter Erfahrungen mit der Thematisierung ihres


eigenen Schwarzseins. Sie ist seit Jahren in der Schwarzen Community
politisch aktiv und kann von einer Reihe von Auseinandersetzungen
berichten, die eine Identifizierung ihrer Person und damit eine
Festschreibung ihres Selbst bedeuteten. Sie sagt:
Mich hat’s immer mehr erschüttert, wenn Schwarze mich nicht gesehen haben. Das hat mich sehr
viel mehr erschüttert und das ist bis heute so. Das ist so ’n Gefühl, ist einfach so ein Gefühl.
Gehörst du nun dazu, das ist immer so wie ein Rush. Wenn du in irgend ’nen Raum kommst. Wie
wirst du angesehen? Und daraus ergibt sich immer so ’ne innere Unruhe - vielleicht kann man sie
so bezeichnen – ’ne innere Unruhe. Also, bis wieder die Ruhe kommt, dass du wieder durchatmen
kannst, weil du in keiner der beiden Welten praktisch von außen angenommen wirst, also erstmal
nur diese Außensicht … Und das ist halt schwer, selbst wenn du ’ne innere Haltung hast wie ich.
Ich habe nie gesagt, ›na, ich bin Schwarz und ich bin weiß‹, das war für mich immer
Schwachsinn. So was habe ich nie gesagt. Äh, das kapiere ich bis heute nicht, wie jemand sagen
kann, ich bin beides und ich lebe in beiden Welten und bla, bla, bla … Das habe ich nie gehabt.
Ich wusste immer, ich bin Schwarz.

Es gibt also unterschiedliche Erfahrungen in Schwarzen und weißen


Räumen. Platzzuweisungen und Identifikationen finden in beiden Bereichen
statt, aber die Auseinandersetzung darüber gestaltet sich verschieden. Beide
Frauen sind schon von früher Kindheit an mit Expressionen des ›Othering‹
konfrontiert. Diese funktionieren häufig in einer subtilen und indirekten
Form. Reaktionen auf eine Schwarze Positionierung finden ein
unterschiedliches Echo und lassen sich – ähnlich wie von Tate dargestellt –
als Widerstand gegen essentialistische Identifikationen beschreiben.
Was passiert, wenn es direkt um den eigenen Körper geht? Welche
konkreten und indirekten Bezugssysteme werden verwendet? Welche
Repräsentationsregime werden für Schwarze Frauen erstellt, die passieren
könnten?

KÖRPERPOLITIKEN
In den bisher genannten Beispielen sind Irritationen meist im
gemeinschaftlichen Zusammenhang oder durch ein Vorwissen, das andere
Personen über die beiden Frauen hatten, beschrieben worden. Es ist zwar
auch die Rede von dem Blick, der etwas zu erkennen scheint. Die Frage ist,
was »die Leute dann gesehen haben wollen«, welche rassifizierten
Zuschreibungen es für Frauen gibt, die als weiß durchgehen könnten. K.
bemerkt:
Also, meine Erfahrung – kennst du bestimmt auch selber – ist die Erfahrung, sehr hell zu sein und
eigentlich fast keinen Rahmen zu haben, um über Rassismus zu sprechen. Weil, der ist so wenig
existent mit konkreten Erfahrungen verbunden, also mit konkreten Sprüchen verbunden.
Erfahrungen ja, aber die sind auf einer ganz subtilen, emotionalen Ebene. Also, so erleb’ ich das.

Manchmal – meist in willkürlicher und unvorhergesehener Art und Weise –


bricht Subtilität jedoch auf und ordnet sich in Denktraditionen ein, die einer
rassistischen Haltung zuzuordnen sind. M. und ich sprachen in dem
Interview über Erfahrungen mit Rassismus und den Umgang mit
rassistischen Äußerungen im privaten und beruflichen Bereich. M.
berichtete von einem Erlebnis, dass sie während der Fernsehübertragung
eines Schönheitswettbewerbs in Deutschland hatte, die sie mit zwei
Verwandten und einem Bekannten anschaute. Der Bekannte regte sich
merklich darüber auf, dass dieser Wettbewerb von einer Schwarzen Frau
gewonnen wurde. Auf meine Frage, wie sie mit Erfahrungen von Rassismus
umgeht, rekurriert M. auf diese Begebenheit:
Ich glaube, privat gehe ich inzwischen härter damit um. [Dies betrifft] einen Teil der Familie, um
nicht genau zu sagen, meinen Neffen und seine Frau. Da gab es eine Situation mit einem
Bekannten von ihnen. Wo es zu ziemlich üblen Äußerungen kam, … dass ich einen Vermerk in
meinem Personalausweis haben müsste und so was. Weil man schließlich ja nicht sehen würde,
dass ich irgendwie nicht deutsch bin. Was er als schlimmer empfindet als wenn ich Schwarz wäre
oder sonst was, weil dann würde man es sehen und dann wäre es klar.

M. interpretiert die Wahrnehmung ihrer Person in dieser


Auseinandersetzung: »Und darauf hin kam diese ganze Diskussion
zustande. Ich glaube, ein Stück weit hat er mich dann auch ausgeblendet.
Also irgendwie nicht wahrgenommen, mich nicht wirklich so
wahrgenommen. Ich glaube nicht, dass das sonst so passiert wäre.« Dieses
›ausgeblendet werden‹, nicht als Schwarze Frau wahrgenommen werden,
bringt eine Reihe von Implikationen mit sich, die im Folgenden noch zu
diskutieren sind. Die Markierungen des un-sicht-baren Schwarzen Körpers
tauchen in vielfachen Formen auf. M. berichtet von einer weiteren
Begebenheit aus ihrer Schulzeit:
Ich habe einen Spitznamen weggekriegt von einem aus der Parallelklasse, der so in Richtung
weiße Schokolade ging. Es gab ja damals diese weiße Schokolade. Ich meine, das ist ein
Spitzname – damit kann ich dann schon was anfangen und dann weiß ich auch, in welche
Richtung das geht. Aber das haben andere dann anders gesehen. Also, von wegen, das ist ja nicht
bösartig. Das ist ja nicht so wie dieser türkische Junge, der dann ›Kanake‹ genannt wurde und
›Knoblauchfresser‹ und solche Sachen. Aber ich glaube, das geht in die gleiche Richtung. Der hat
einfach … wahrscheinlich keine anderen Sachen dazu ran ziehen können, von denen er gedacht
hat, die passen. Hätte er die gehabt, dann hätte ich diese anderen Spitznamen gekriegt.

›Othering‹ beziehungsweise Rassifizierung findet zum Teil auf einer Ebene


statt, für die es – zumindest hier in Deutschland – noch keinen
Referenzrahmen gibt.[34] Die Paradigmen der Rassifizierung von
Menschen of Color unterliegen häufig ähnlichen Strukturen. Das Beispiel
der weißen Schokolade ordnet sich in eine Reihe von Images ein, die
Schwarze Menschen als etwas Essbares objektivieren und diffamieren. Die
Nähe zu Stereotypen, wie dem ›Sarottimohr‹ oder dem ›Schokoladenkind‹
ist virulent – um nur zwei der zahlreichen Beispiele zu nennen. Schwarze
Frauen, die als weiß passieren könnten, haben nicht nur mit der Außensicht
umzugehen, die ihren Körpern an einer Farbskala orientiert einen
bestimmten Erfahrungsrahmen zuteilt. Es ist auch die Unsicherheit, die
eigenen Erfahrungen zu dekodieren. Und Rassismus gegenüber der eigenen
Person zu benennen gestaltet sich häufig als ambivalente Verhandlung
zwischen Außensicht und Innensicht, wie K. verdeutlicht:
Ich wurde einmal als ›Neger‹ beschimpft, von Skinheads. Die sind richtig, nicht nur verbal,
sondern auch körperlich auf mich zu, da hatte ich das erste Mal und das einzige Mal in meinem
Leben panische Angst. Da hatte ich das Gefühl, die können mich umbringen. Und warum die das
gesagt haben – ich weiß das bis heute nicht. Es war dunkel, ich bin da lang gegangen und die
beschimpfen mich als ›Neger‹. Also, ich weiß nicht, ob die was erkannt haben. Weil, die sagen das
ja oft, ›Du Scheiß Jude‹, oder wie auch immer. Weißt du, einfach so, um eben ihren Hass in irgend
’ner Form zu zeigen. Also kann ich das jetzt gar nicht richtig positionieren. War das jetzt was
Rassistisches oder war das einfach deren rassistische Naziwelt, der sie in irgendeiner Form mal
wieder Ausdruck verleihen mussten … Ich kann das nicht sagen.

AMBIVALENZ DER IDENTIFIKATION


Die ambivalente Identifikation Schwarzer Frauen, die als weiß passieren
könnten, entspricht machtvollen diskursiven Formationen, denen
essentialisierte Identitätsvorstellungen innewohnen. Grenzerfahrungen, wie
sie K. und M. machen, beinhalten verschiedene Probleme, wie das Thema
der Anerkennung, das Vermögen, mehr zu sehen als gesehen wird und sich
selbst situationsabhängig zu überlegen, auf welche Weise eine
Positionierung sinnvoll ist. K. bringt dies auf den Punkt:
Die Leute gucken mich komisch an, die Leute gucken mich anders an und denken, ›ähä‹, aber so
gucken dich fast immer alle an. Also, ich bin das fast gewohnt, immer so ein bisschen so
angeguckt zu werden, an der ist irgendwie was anders. Ohne dass ich das benennen kann. Weil,
wie gesagt, weiß positioniert sich nicht und um das benennen zu können, jemand, der so hell ist
wie wir, um es benennen zu können, musst du meiner Meinung nach weiß positionieren. Und das
machen die ja nicht. Deswegen können die so was wie uns auch nicht benennen, sondern
höchstens mit, die Figur ist vielleicht ein bisschen anders, der Hautton ist vielleicht … aber, die
können das nicht sagen. Also, ich wurde einmal in meinem ganzen Leben von einem Weißen
angesprochen, der zu mir gesagt hat, ›Sag mal, hast du irgendwas Negroides (lacht) in dir?‹ O.k.,
über den Begriff brauchen wir gar nicht diskutieren. Aber, das war das einzige Mal, dass jemand
mich gefragt hat, ob ich Schwarz bin – ein weißer Deutscher – das einzige Mal. Ohne eben mit
diesem, ›Du siehst so…‹ oder ›Sag mal…‹ … Ich kann das gar nicht begreifen, … das ist eine
Einstellung, die ich mitkriege. Wo ich sofort weiß, die sind verunsichert von mir, aber die wissen
selbst nicht warum. Und nun kann ich das klären oder nicht.

Zuvor wurde die Subtilität der Differenzmarkierung und Rassifizierung


hervorgehoben. Es ist nicht einfach ein feiner oder spitzfindiger
Mechanismus, der ›Othering‹ hervorruft. Die Erfahrungen von Schwarzen
Frauen, die als weiß passieren könnten, zeigen deutlich, dass es
durchdringende Formen der Differenzierung gibt. ›Othering‹ findet nicht
allein oder hauptsächlich auf einer visuellen Ebene statt. Es ist die
Verbindung von kognitiven und visuellen Elementen auf Rassifizierung
basierender Repräsentationsregime, die eine Disposition zum passing in
Deutschland möglich machen. Die Erfahrungsberichte haben gezeigt, dass
eine selbstbestimmte Positionierung, die auf einer binären Einteilung in
Schwarz und weiß basierenden Projektionen und Raumzuweisungen
unterwandern kann. Sie haben ebenfalls herausgestellt, dass die Images,
denen Schwarze Frauen ausgesetzt sind, die als weiß passieren könnten,
ähnliche Repräsentationsfiguren aufweisen, die in Rassismen gegenüber
Schwarzen Menschen insgesamt vorhanden sind. Rassistische
Zuschreibungen funktionieren gerade durch die Ambivalenz von
Sichtbarkeit und Unsichtbarsein – oder ›unsichtbar gemacht werden‹ - sie
funktionieren über eine Naturalisierung von paradigmatischen
Bedeutungsträgern, die in Form von Images oder Stereotypen Bestandteile
der erwähnten Repräsentationsregime sind. Die dichotomische
Konstruktion von Schwarz und weiß entspringt machtvollen
dominanzgesellschaftlichen Diskursen und wird in ihrer vermeintlichen
Eindeutigkeit durch die hier genannten Erfahrungen in Frage gestellt.

BIBLIOGRAFIE UND QUELLEN


Interviews, am 3.3.05 mit M. und am 5.3.05 mit K.
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ANMERKUNGEN
1 Es gibt keine hundertprozentige Übersetzung von ›Othering‹. Ver-Andern soll darauf hinweisen,
dass es sich um einen macht- und häufig auch gewaltvollen Prozess der Differenzmarkierung
handelt. Auf der Konstruktion von Rasse basierende Differenzmarkierungen sind zum Beispiel
Hautfarbe, Haare und andere phänotypische Merkmale, denen als Teil eines rassistischen
Diskurses eine soziokulturelle Bedeutung eingeschrieben wird.
2 Im Folgenden wird passing/to pass konsequent mit passieren übersetzt, um die
Konzepthaftigkeit zu betonen und herauszustellen, dass es kein einfaches Durchgehen ist, wenn
eine Schwarze Person sich als weiß identifiziert, sondern dass durch diese Entscheidung etwas
passiert.
3 Vgl. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 115.
4 Neuere Publikationen zum Thema Passing sind u.a.: Bennett: The Passing Figure; Sánchez &
Schlossberg: Passing; Wald: Crossing the Line.
5 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 128.
6 Ebenda.
7 Vgl. Piper: »Passing for White«, S. 305.
8 Vgl. Brodzki & Schenck (Hrsg.): Life/Lines; Berger & Gluck (Hrsg.): Women’s Words; Etter-
Lewis & Foster (Hrsg.): Unrelated Kin.
9 Vgl. Hill Collins: Black Feminist Thought, S. 19.
10 Vgl. Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation«, S. 32.
11 Vgl. Hill Collins: Black Feminist Thought.
12 Einen kritischen Überblick zu literarischen Werken, in denen passing thematisiert wird, vom
ausgehenden 19. Jahrhundert über die so genannte Harlem Renaissance bis in die Gegenwart,
findet sich bei Bennett: The Passing Figure.
13 Ebenda, S. 36.
14 Vgl. die Diskussion bei Wald: Crossing the Line, die auch Beispiele des passing for black
aufführt. Zum ›Unfreiwilligen passing‹, d.h. der Vereinnahmung Schwarzer Personen durch
einen normativen weißen Diskurs, der sie als weiß einordnet, siehe Piper: »Passing for White«.
15 Vgl. zur so genannten one-drop-rule: Bennett: The Passing Figure, S. 5.
16 Zack: »Race and Philosophic Meaning«, S. 33.
17 Vgl. Piper: »Passing for White«, S. 278-279.
18 Vgl. ebenda, S. 284.
19 Vgl. Bernal: Schwarze Athene.
20 Vgl. Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen.
21 El-Tayeb: »Black Atlantic in Berlin?«, S. 401.
22 Vgl. Piesche: »Black and German?«.
23 El-Tayeb: »›Blood is A Very Special Juicey‹«, S. 166. Vgl. auch Lauré al-Samarai: »Neither
Foreigners Nor Aliens«.
24 Vgl. Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 195.
25 Vgl. Ha: Ethnizität und Migration, S. 35.
26 Wollrad: »Der Weißheit letzter Schluss«, S. 6. Vgl. Frankenberg: »Introduction«, S. 1-33.
27 Vgl. Tate: »Widerstand und Shade«.
28 Ebenda, S. 168.
29 Ebenda, S. 183.
30 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation«, S. 30.
31 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe bekennen.
32 Die im Folgenden verwendeten Interviewpassagen entstammen Gesprächen, die am 03.03.05
(M.) und am 5.3.05 (K.) stattfanden.
33 Auf meine Nachfrage, ob sich K. in ihrer Kindheit wirklich auch als Schwarz bezeichnet hat,
antwortete sie: »Ja, immer. Also früher hatten wir andere Bezeichnungen, ›farbig‹ und diese
Sachen, aber letztendlich Schwarz, ja, letztendlich Schwarz, immer schon, ja.«
34 Für einen derartigen Referenzrahmen bedürfte es einer Zusammenführung und Dekonstruktion
aller körperpolitischen Images, die in Deutschland verwendet werden. Ein solcher Rahmen
würde es ermöglichen, die Hierarchie der Images zu entflechten, innerhalb derer Schwarze
Menschen aus einer hegemonialen Perspektive heraus, phänotypischen Merkmalen zugeordnet
werden.
JOSHUA KWESI AIKINS
WER MIT FEUER SPIELT…
ANEIGNUNG UND WIDERSTAND – SCHWARZE
MUSIK/KULTUREN IN DEUTSCHLANDS WEIßEM
MAINSTREAM

VEREINNAHMUNG: EINE SZENE IN EINEM BERLINER U-BAHNHOF,


SAMSTAG MORGEN, 2 UHR
Drei Schwarze Männer betreten den Bahnsteig des U-Bahnhofes Berliner
Straße, gefolgt von weiteren Passanten, darunter ein weißer Jugendlicher,
dessen brünette Dreadlocks unter einer prall gefüllten, schwarzen, rot-gelb-
grün bestickten Häkelschirmmütze hervorbaumeln. Ein Jugendlicher of
Color in weiter Baggy Wear geht mit federndem Gang gestikulierend auf
die Dreiergruppe zu und fragt: »Hey, mein Nigger, wie geht’s?« Entgeistert
antwortet der Angesprochene: »Was soll das ›Nigger‹? Pass auf, was Du
sagst!« Der Zurechtgewiesene runzelt die Stirn, geht noch einen weiteren
Schritt auf sein Gegenüber zu und erwidert: »Was denn, was denn? Biste
kein Nigger oder was? Willste keiner sein?« – »Ah! Leave dis one alone
now! Come, let’s go …«, rät einer der Schwarzen Begleiter seinem sichtlich
wütenden Freund in Pidgin English. Der Jugendliche und sein Gegenüber
sehen sich direkt in die Augen, schweigend, angespannt, abwartend.
Schließlich nimmt einer der afrikanischen Begleiter seinen Freund bei der
Schulter, dreht ihn um, die drei entfernen sich vom weiterhin ausladend
gestikulierenden Basecapträger. Der stehen Gelassene brüllt ihnen
hinterher: »Hey was is los, Mann? Ich hab ’nen Kumpel, der is mein
Nigger, und er is real. Er kämpft für seine Roots! Er … er is mein Nigger
und er is cool damit, anders als ihr!« Einer der Angeschrienen dreht sich im
Gehen noch einmal um, was noch wütendere Gesten und noch lauteres
Schreien provoziert: »Ja, Ihr! Ihr seid alle falsch! Ihr wollt weiß sein! Ihr
seid nich real!« Die Angeschrienen gehen weiter den Bahnsteig herunter,
ohne sich noch einmal umzudrehen. Als Reaktion wird noch lauter
geschrieen, der Baggyträger fällt fast vornüber, sein Gesicht ist rot vor Wut
und Anstrengung: »Ihr wollt doch alle weiß sein! Is doch so! Ja, Mann! Ihr
wollt selber weiß sein!«. In diesem Moment gibt ein lässig an die Wand
gelehnter Beobachter seinen Kommentar zum Geschehen ab: »Ein Blut! Es
gibt nur ein Blut!« Der dreadgelockte Mützenträger wiederholt diesen Satz
mehrmals, erst langsam lallend, dann – offenbar mehr und mehr von
moralischer Autorität erfüllt – immer eindringlicher, bis seine Stimme in
den Bremsgeräuschen der einfahrenden U-Bahn untergeht. Diese
Begebenheit machte mir deutlich, wie sehr mediale Repräsentationen
Schwarzer Menschen und Kulturen die Wahrnehmung sowohl von Weißen
als auch von People of Color in Deutschland prägen. Es zeigt sich, wie sehr
Symbole und Sprache aus Schwarzen Widerstandskontexten im dominanten
Medienmainstream verzerrt, angeeignet und sinnentleert wurden:
Inzwischen stützen sie scheinbar die Machtverhältnisse, die sie eigentlich
kritisieren sollten, lassen sich gegen Schwarze Menschen wenden, für die
sie kreiert worden sind. Sowohl der Baggywearträger als auch der weiße
Reggaefan erleben die Symbole dabei allerdings nach wie vor als
widerständige Statements, die ihnen die nötige Autorität verleihen, auch die
aus ihrer Sicht dazugehörige Sprache zu verwenden. Besonders das
eingedeutschte one blood-Zitat aus der Rastafari-Bewegung zeigt, wie hier
die moralische Autorität einer Schwarzen Unrechtserfahrung verwendet
wird, um sich nicht nur real, also authentisch, sondern auch righteous, also
moralisch rechtschaffen zu geben. Die privilegierte weiße Position des
Sprechenden wird so verschleiert. Gerade dies macht Conscious Reggae
und Rastafari für den weißen Jugendlichen so attraktiv: Er kann durch das
visuelle und verbale Zitat einen scheinbaren Seitenwechsel vornehmen, sein
Privileg, Widerstandskultur aus einer Machtposition heraus zu
konsumieren, hinter Symbolen eben dieses Widerstandes verstecken. »Es
gibt nur ein Blut« verkündet der lässige Beobachter wieder und wieder, wie
ein Mantra, das durch Wiederholung an Wahrheit gewinnt. Was aus einer
Schwarzen Position als Anklage von Rassismus gemeint war und die
liberale Doppelmoral von proklamierter Gleichheit und gleichzeitiger
Diskriminierung angreift, wird so zu einem Statement, dass die
Auswirkungen dieser Aggression ignoriert, Weißsein einmal mehr
unsichtbar werden lässt und so zur unbestimmten Position macht, von der
aus alle anderen bestimmt und bewertet werden.
Die wütenden Äußerungen des Jugendlichen of Color erwecken dagegen
den Eindruck, dass die Verbundenheit mit HipHop sich nicht zuletzt aus
eigenen Unrechtserfahrungen in Deutschland speist. Mit dem aggressiven
Einklagen von realness ist der Wunsch nach starken Gegenentwürfen und
einem Selbstbild of Color verbunden, dass sich nicht an der weißen Norm
misst. Dass im gleichen Atemzug weiße Dominanz kritisiert und Schwarze
Menschen rassistisch beleidigt werden, zeigt die Ambivalenz von People of
Color, die sich aus der Positionierung in der rassistischen Hierarchie ergibt.
Weil jedoch die rassistische Aggression des Jugendlichen of Color sich
auch gegen ihn selbst richtet, da er die weiße Norm, von der sie ausgeht,
selbst nie erfüllen kann, ist gerade diese Ambivalenz der Grund, warum
realness für ihn so attraktiv ist – ein eigener, selbstbestimmter Style, ein
klarer Standpunkt jenseits weißer Zuschreibungen, wie er im HipHop
ausgedrückt wird, könnte seine Ambivalenz beenden. Diese Zwiespältigkeit
ist jedoch nur ein Aspekt des Widerspruches, von dem die Dynamik auf
dem U-Bahnhof bestimmt wurde: Die Gruppe der Afrikaner war sowohl für
den Reggae- als auch für den HipHop-Fan der Bezugspunkt, dennoch ergab
sich daraus keine respektvolle Behandlung. Im Gegenteil, die Schwarzen
Passanten fanden sich in der »dialectic of the look« wieder. Stuart Hall
beschreibt diese als Ausübung der Definitionsmacht durch den Blick auf
das ›Andere‹, durch den sich weiße Personen gleichzeitig selbst definieren:
»It is the exercise of power through the dialectic of the ›look‹ – race in the
field of vision – which fixes the black person from the outside by the
fantasmatic binary of absolute difference.«[1] Sie dienen dabei als bloße
Projektionsfläche, anhand derer durch Belehrungen oder Beschimpfungen
die eigene realness und righteousness erlebt werden kann. Obwohl sie
(symbolisch) als Quelle der jeweils angeeigneten Kultur gesehen werden,
werden sie als Personen nicht wahrgenommen und respektiert. Die
Dynamik weißer Aneignung bringt sie vielmehr in eine Situation, in der die
Rhetorik afrodiasporischer Kulturen gegen sie verwendet wird. Beim
anschließenden Gespräch mit den als ›nicht real‹ Klassifizierten in der U-
Bahn wurde deutlich, wie sehr ihre Erfahrungen mit rassistischer
Überheblichkeit meinen Erlebnissen als Afrodeutscher ähneln – wie sehr
die inzwischen fast global verwendeten und somit panafrikanischen
Symbole Baggypants und Dreadlocks auch für ebenfalls weltweit medial
präsentierte weiße Aneignung stehen. Die beschriebene dominante
Aneignung und verzerrte Repräsentation ist nötig, um eine klare, kritische
Schwarze Perspektive für ein weißes Mehrheitspublikum überhaupt
konsumierbar zu machen. Der dominante Mainstream konstruiert das Bild
vom exotischen ›Anderen‹, immer darauf bedacht, den Unterhaltungswert
nicht durch politische Botschaften oder auch nur Details zum historischen
oder kulturellen Ursprungskontext zu schmälern. Durch Reduzierung wird
das Konsumieren des ›Anderen‹ ermöglicht, ohne dass der Ursprung oder
die Vermarktung der dadurch bedienten Fantasien von ›Andersartigkeit‹
(und damit auch das Selbstbild der Konsumierenden) hinterfragt werden
müssen. Dieses Ausblenden von Schwarzen Perspektiven und Anliegen,
Positionen und Visionen fördert eine sinnentleerte, kontextfreie Deutung
von kultureller Kreativität, die eigentlich eine spezifische historische
Erfahrung tradiert, deren gegenwärtige Auswirkungen darstellt, zum
Handeln aufruft und Zukunftsperspektiven anbietet. So wird eine
Aneignung der Inhalte möglich, ein Kopieren des kreativen Potentials, das
dabei allerdings zu hohler Hipness gerinnt. Schwarzsein wird von einer
politischen Position, einer historischen Erfahrung und einem Reservoir
kultureller Ausdrucksformen zu einer exotischen, bunten Würze dominanter
Selbstdarstellung. Diese lebt von historischer Amnesie, dem Ausblenden
gegenwärtiger Machtunterschiede und der Projektion des Status quo in die
Zukunft. Nur so kann sichergestellt werden, dass weiterhin weiße
Protagonisten im Zentrum stehen, Plagiate als Originale gelten, weiße
›objektive‹ Deutungshoheit ausgeübt werden kann, ohne sie hinterfragen zu
müssen, dass die mächtigste Position die unbenannte und somit selbst der
Konsum kritischer Stimmen from the margins ein ungestörter bleibt.
Im Folgenden möchte ich die Mechanismen dieser Aneignungsstrategie
im deutschen Kontext anhand der in der Eingangsszene verwendeten
Schwarzen Kulturen analysieren, um ihnen eine widerständige Lesart
gegenüber stellen zu können, die verschüttete Botschaften, Symbole und
Bezüge wieder-ent-deckt. Gerade kritische Inhalte, gerade Schwarze
Kulturräume müssen immer wieder vereinnahmt werden, damit fragile
weiße Identitäten – die sich nach wie vor im Kontrast zu ›nicht-weißen
Anderen‹ definieren – nicht brüchig werden. Kunst, die diese Brüchigkeit
entlarvt, muss durch Klischeezuschreibungen unkritisch, unschädlich und
somit unkompliziert konsumierbar gemacht werden. Daher gilt es,
Schwarze Musik und Kunst immer wieder neu zu lesen, immer wieder
einen oppositionellen Blick auf Vereinnahmung und Banalisierung ihrer
Inhalte zu richten, um so die darin ausgedrückten Schwarzen Perspektiven
und Erfahrungen dennoch wahrnehmen zu können. bell hooks betont die
Wichtigkeit einer solchen Betrachtung:
[My writing represents a] political struggle to push against the boundaries of the image, to find
words that express what I see, especially when I’m looking in ways that move against the grain
[…].Fierce critical interrogation is sometimes the only practice that can pierce the wall of denial
[…].Consumers construct so as not to face the fact that the real world of image-making is political
– that politics of domination inform the way the vast majority of images we consume are
constructed and marketed.[2]

Eine solche kritische Befragung von Repräsentationsstrukturen, Images[3]


und sich gegenseitig verstärkenden rassistisch strukturierten Angeboten und
Nachfrage nimmt beides in den Blick: Sie zeigt, wie Weißsein sich in
populärer Kultur durch die Darstellung und Konsumption des ›Anderen‹
beständig selbst konstituiert. Sie kann über das Aufdecken dieser
Dynamiken der Aneignung hinaus aber auch zum wieder ent-decken der
Botschaften und Bezüge, die durch rassistische Projektionen überdeckt
werden, anregen. Dies soll im Folgenden für den deutschen Kontext
unternommen werden. Dabei geht es mir nicht um eine umfassende
Abhandlung, vielmehr möchte ich Schlaglichter auf die Aspekte und
Symbole, die Klischees und Messages werfen, die in der Öffentlichkeit am
häufigsten verwendet werden, um eine neue Wahrnehmung anzuregen, die
Dynamiken Schwarzen Ausdrucks und weißer Aneignung in den Blick
nimmt. Daher geht es im Folgenden um Baggy Pants, Rap und Realness;
um Dreadlocks, Reggae und Righteousness. Die Schwarzen Musikstile Rap
und Reggae und die damit verbundenen Images waren in den letzten Jahren
neben Sport die Hauptbühnen für Schwarze Präsenz in deutschen
Mehrheitsmedien. Im Zuge der Vermarktung im weißen Mainstream
wurden und werden beide jedoch dekontextualisiert, Hintergründe, die nicht
vermarktbar sind, werden ausgeblendet. Das Zusammenspiel von
Marktmacht und Repräsentation verzerrt Schwarze Images, die zur
Konstruktion und Vermarktung universeller weißer sowie essentialisierter
›anderer‹ Identitäten verwendet werden. Wie diese Aneignungen
funktionieren, wird durch die Zuschreibungen, nicht zuletzt aber auch in
den Auslassungen deutlich, durch die Kunst aus ihrem Kontext gerissen und
so auf leicht verdauliche Konsumhäppchen reduziert wird. Um diese
Reduzierung aufzuzeigen und der dominanten eine kritische Lesart dieser
Musikstile und der damit verbundenen Images entgegenzustellen, werde ich
sie als Teil der afrodiasporischen Kulturen und Bewegungen betrachten, aus
denen sie entstanden sind (wie Rap als Teil von HipHop) beziehungsweise
die sie maßgeblich geprägt haben (wie die Rastafari Bewegung den
Conscious Reggae).[4]

MARKTMACHT UND REPRÄSENTATION


Der Zusammenhang zwischen Marktmacht und Repräsentation wird gerade
vor dem Hintergrund eines zunehmend kulturell argumentierenden
Rassismus immer wichtiger und formt Klang- und Bilderwelten: Die
Musikvideokultur ist der visuelle Aspekt eines Marktes, auf dem mit
rassistischen Images gehandelt wird. Der deutsche Musikmarkt ist mit
einem Umsatz von 1,754 Milliarden Euro in 2004[5] einer der
umsatzstärksten westlichen Musikmärkte nach den USA. Er steht mit dem
tonangebenden US-Markt trotz steigender Marktanteile für
deutschsprachige Musik in einer besonderen Verbindung, da die USA nach
wie vor als ›authentische‹ und stilbildende Quelle gerade für Schwarze
Musik gesehen werden. Nur was sich auf dem dortigen Markt bewährt, wird
in Deutschland entsprechend vermarktet. Charts wirken so als
Klischeeverstärker: Weiße Nachfrage schafft eine Medienwelt, die
nachgefragte Klischees abbildet.[6] Marktinteressen und
Repräsentationsmacht überschneiden sich gerade angesichts der
Mehrheitsverhältnisse in Deutschland und schaffen einen Medienkreislauf,
in dem sich rassistisches Angebot und eine ebensolche Nachfrage
gegenseitig verstärken. So entsteht durch den transatlantischen
Transmissionsriemen eine Angleichung von Images, die bewirkt, dass
Schwarze Erfahrungen von Marginalisierung und Exotisierung in
westlichen Gesellschaften sich auch in diesem Punkt gleichen. Schwarze
AkteurInnen und KünstlerInnen sind dabei beiderseits des Atlantik nicht
nur passive Projektionsflächen, sondern wirken nicht selten aktiv an der
einseitigen Darstellung mit, die im deutschen Kontext Erfolg durch
Kopieren von US-Szenecodes, -Mode und -Themen verheißt. Rassistische
Darstellungen werden so gerade in den Mainstream-Rap eingeschrieben
und Teil des Kanons, des kulturellen Codes, der mit ›authentischem‹
HipHop assoziiert wird. Für Fans nicht nur von Rap-Musik entsteht so eine
Bindung an reduzierte Schwarze Images, die als ›authentischer‹ Teil der
eigenen Vorlieben gesehen werden. Diese liebgewonnenen
Projektionsflächen erklären auch deren stetig hohe Popularität und
Sichtbarkeit seit mehr als zehn Jahren, ein Zeitraum, in dem viele andere
Trends ebenso schnell verschwanden, wie sie populär geworden waren und
in dem Musik immer weniger als zentraler Identifikationsstifter von
Jugendkulturen und Lebensstilen fungiert hat. Einer der Gründe für den
Bedeutungsverlust von Musik ist die kurzfristige Vermarktungsstrategie der
Musikindustrie, die erfolgreiche Musikstile ausschlachtet, indem der Markt
so lange mit Plagiaten überschwemmt wird, bis das Publikum durch die
ständige Wiederholung von Images übersättigt ist. Die Tatsache, dass im
Fremdbild Schwarzer KünstlerInnen auch ein weißes Selbstbild
eingeschrieben ist, kann vor diesem Hintergrund den langanhaltenden
Erfolg bestimmter Schwarzer Stereotypen in der Musik teilweise erklären.
Sie stützen ein Selbstbild weißer Konsumierender, das durch Schwarze
Klischees immer wieder bestätigt wird. Konsum des ›exotischen Anderen‹
und gleichzeitige Selbstvergewisserung haben dazu geführt, dass geronnene
Klischees und damit auch die Musiksparten, an die sie gekoppelt sind, sich
langlebiger Beliebtheit erfreuen. Veränderungen im Konsumverhalten
haben zur Folge, dass stereotype ›Black Music‹ Images auch in anderen
Medienbereichen immer präsenter werden: Zwar ist Musik nicht mehr das
alleinige Hauptmedium in den betreffenden Szenen, aber gerade
stagnierende Gewinne im reinen Musikgeschäft haben zu einer
Vermarktung von KünstlerInnen und musikbezogenen Images in anderen
Bereichen geführt: Eigene Modelabels, TV-Serien, Spielfilme, Reality
Shows, Computerspiele, Spielfiguren und Getränkemarken machen
Musikstars zu vielseitig konsumierbaren ›Produkten‹, die überall im Alltag
anzutreffen sind. Gerade vor dem Hintergrund dieser umfassenden
Alltagspräsenz wird Kritik an den konsumierten Images erschwert. Denial,
die Weigerung, rassistische Elemente in der omnipräsenten Repräsentation
wahrzunehmen, ist ein Schutzmechanismus, der den privilegierten Alltag
davor bewahrt, als solcher markiert zu werden. Einer Kritik, die Schwarze
Klischees und weiße Aneignung benennt, wird häufig vehement
widersprochen, es wird auf die universelle Sprache der Musik verwiesen –
und so ungestörter Konsum eingefordert. Angesichts der Omnipräsenz
dieser Images scheint denial auch für People of Color vordergründig Teil
einer notwendigen Medienkompetenz zu sein, da nur so die aggressive
Bilderflut zumindest eingedämmt werden kann – die Konsequenz ist jedoch
die passive Akzeptanz oder gar Internalisierung rassistischer Stereotypen.
Diese werden mit sexistischen Vorstellungen verbunden, die
unterschiedliche Rollen zuschreiben: Während Schwarze Männer als Aktive
und Handelnde dargestellt werden, sind Schwarze Frauen allzu oft das
schmückende Beiwerk. Das Zusammenwirken von rassistischen und
sexistischen Ausschlüssen macht bewusste Schwarze Künstlerinnen, die
Klischeedarstellungen verweigern, häufig unsichtbar. MCs und
Sängerinnen, die selbstbestimmt Kunst und Kritik verbinden wie Meli,
Mystic und Jean Grae im HipHop oder Queen Omega und Dezarie im
Reggae werden kaum in die Playlisten der VJs und DJs aufgenommen und
bleiben so ungehört, was das Bild dieser Musikrichtungen als männlich
dominiert weiter verfestigt. Die vermarkteten Images sind so präsent, dass
sie als normal gelten, Kritik aus Schwarzer Perspektive wird so zur
Abweichung von dieser ›dominanten Normalität‹, die als persönliches
Betroffenheitsproblem abgetan werden kann. Das Ablehnen oder sogar
Pathologisieren der Kritik an gegenwärtiger Repräsentation und der
Nachfrage, die sie befriedigt und verstärkt, offenbart jedoch gleichzeitig die
Position der Ablehnenden: Wie diese Bilder gelesen werden, wie
Konsumierende sich zur Verschränkung von dominanter Marktmacht und
der Repräsentation, die sie hervorbringt, stellen, hängt nicht zuletzt davon
ab, welche individuellen und kollektiven Erfahrungen, welche politische
Position den Hintergrund für die Einschätzung bildet. Meli, MC der
afrodeutschen Sisters Keepers beschreibt diese Tatsache im Lied Sister so:
»Ganz Deutschland ist bamboozled[7], kid/ Es ist eine parallele Welt, in der
ich leb/ Nenn mich paranoid/ Kinder aus der Minderheit wissen, wovon ich
red!«.[8]

HIPHOP, RAP UND REALNESS


Anders als in deutschen Medien immer noch gern behauptet, ist HipHop
nicht nur eine Musikrichtung, sondern eine Kultur, deren Musik Rap, deren
visuelle Kunst Graffiti und deren Tanzkunst Breakdance ist. KRS-One,
einer der prägenden Künstler des Genres und philosophischer Vordenker
der Bewegung, umschreibt die Begriffe so: »Rap is what you do and
HipHop is how you live.«[9] Der Entstehungskontext – die South Bronx,
ein mehrheitlich von African Americans und Hispanics bewohntes
Stadtviertel New Yorks zu Anfang der siebziger Jahre – ist in die Ästhetik
des HipHop und in die Musik des Rap eingeschrieben: Der auf geloopten
Breaks, dem tanzbarsten Moment eines Funkstückes basierende Beat greift
auf ältere Schwarze Musiktraditionen zurück, die Verwendung von Samples
aller Musikrichtungen ermöglicht die Wiederaneignung Schwarzer
Musikkonzepte, die sich in der gesamten amerikanischen Musiktradition
identifizieren lassen. Sampling ermöglicht darüber hinaus das Schichten
von Zitaten und somit Dialoge zwischen Generationen von MusikerInnen,
die eine komplexe Intertextualität ermöglichen. Die Oralität des Rap, bei
der Inhalt über den Flow Teil der Musik wird, greift Schwarze
Sprachtraditionen auf, die sich auf die Zentralität von Sprache in den
zumeist westafrikanischen Herkunftskulturen der African Americans
zurückführen lassen. Die Institution der Griots, der Gedächnisse und
kritischen Stimmen ihrer Gemeinschaft lebt darin ebenso fort wie die
frivolen Freestyles des »Playin’ the Dozens«[10] oder die kritischen Verse
Gil Scott-Herons und Wanda Robinsons. Rap ist eine Performance des
Empowerment, der Selbstermächtigung, bei der das »coming to voice«[11],
die Verweigerung des Schweigens zelebriert wird. So sind Stilelemente des
Rap immer ein Rückbezug auf den Entstehungskontext – zelebrieren den
Kampf gegen Marginalisierung, rassistische Unterdrückung und damit
gegen weiße Vorherrschaft und weisen durch das Einbeziehen afrikanischer
Kulturelemente sowie den Eklektizismus der Samples zugleich über diese
Konfrontation hinaus. So wird eine Realität beschrieben, die von einer
bestimmten historischen und gegenwärtigen Erfahrung geprägt ist – wie
anschlussfähig diese ist, zeigt die Verbreitung von aktiven, den jeweiligen
Kontext reflektierenden HipHop-Kulturen in der afrikanischen Diaspora, in
Afrika selbst sowie in migrantischen und marginalisierten Communities
weltweit. Im Zuge der verstärkten Kommerzialisierung von Rapmusik
wurde diese Bezugnahme auf die eigene Realität zu einem Statement für
Unabhängigkeit und Eigenständigkeit: »Keepin’it real« ist seither das
vielzitierte Mission Statement. Das Konzept von Realness bezeichnet die
Verbundenheit einer Künstlerin oder eines Künstlers mit der HipHop-
Kultur, für die nicht zuletzt die eigene, spezifische Position und Perspektive
ausschlaggebend ist. Die mit der Chance, marginalisierte Realitäten
auszudrücken, einhergehende Inspiration und Ermächtigung macht das
›rebellische Moment‹ im HipHop aus – und ist gerade daher für weiße
Aneignung so interessant. Denn das Erfüllen aller Dress- und Szenecodes
suggeriert die Teilhabe an authentischer HipHop-Kultur und somit
Realness. Inwieweit das Einbeziehen des Herkunftskontextes Schwarzer
Symbole deren Aneignung deutlich macht und gleichzeitig die
Repräsentation Schwarzer Erfahrungen in den Blick nehmen kann, zeigt
eine Betrachtung des wichtigsten Utensils im hiesigen ›HipHop-Dresscode‹
– den Baggypants. Diese überweiten Hosen werden zu Recht mit HipHop
assoziiert – im Ursprungskontext kommt ihnen jedoch eine weitere
symbolische Bedeutung zu: Sie sind zum einen eine Bezugnahme auf den
Bekleidungsstil der Harlem Renaissance, jener Schwarzen Kulturbewegung
der 1920er Jahre, die ein neues Schwarzes Selbstbewusstsein und
entsprechenden künstlerischen Ausdruck propagierte. Weitgeschnittene
Anzugspluderhosen waren als Teil des damaligen Dresscodes ein moderner
Rückbezug auf African American Vorstellungen von weiter, ›afrikanischer‹
Kleidung. Sie sind jedoch vor Allem ein Symbol der Solidarität mit den
mehrheitlich Schwarzen Inhaftierten in den Todestrakten der USA. Dort
gibt es aufgrund von Racial Profiling sowie strukturellem Rassismus des
Justizsystems wesentlich mehr Schwarze als weiße Häftlinge.
Bekleidungsregelungen verbieten das Tragen von Gürteln und
Schnürsenkeln, da Inhaftierte diese als Waffe gegen Wärter oder gegen sich
selbst richten könnten. Aufgrund der Einheitsgrößen der Häftlingsuniform
hängen die gürtellosen Hosen zumeist tief. Das visuelle Zitieren dieser
Kleidung in der Öffentlichkeit ist somit eine Sodidaritätsbekundung, aber
auch eine sichtbare Kritik am systematischen Rassismus des »Prison
Industrial Complex«[12] – eine sarkastische Erinnerung daran, dass die
Baggypantstragenden sich unversehens und unverschuldet selbst dort
wiederfinden könnten, wo diese Bekleidung Zwang ist. Betrachtet man den
Trend zur Baggywear in Deutschland vor diesem Hintergrund, so wird
einerseits deutlich, dass die sinnentleerende Vermarktung diese
Ursprungsidee mit Images von Ghettochic und Gangsterismus überschreibt.
Andererseits ändert die Tatsache, dass vielen Baggytragenden hier wie in
den USA aufgrund der kontextfreien Vermarktung diese Hintergründe ihrer
Szenekleidung unbekannt sind, nichts an deren Symbolgehalt und Relevanz
auch im deutschen Kontext, wo es keine Todesstrafe, aber ebenso
Kriminalisierung von People of Color, Sonderkontrollen für Menschen
afrikanischer Herkunft und rassistisch motivierte Polizeigewalt gibt.

HIPHOP: VON MIGRANTISCHER GEGENKULTUR ZUM DEUTSCHRAP


Flame! Wieviel HipHop kann das Land denn noch vertragen
Es ist so weit gekommen, dass sogar Weiße Nigga sagen
bitte schau mich an und hab Respekt vor meinen Brüdern
kanns nicht ignoriern und ich steh da auch nicht drüber
Afrob & D-Flame: Öffne die Augen

Der Beginn der HipHop Bewegung in Deutschland Anfang der achziger


Jahre ähnelt der Entwicklung in den USA, wo die Bewegung in den
siebziger Jahren in der Bronx als Ausdrucksform marginalisierter
Jugendlicher of Color begann. Auch in Deutschland waren es zunächst
migrantische Jugendliche, die sich in Raplyrics wiederfanden und HipHop
Kultur mit ihren musikalischen, visuellen und artistischen Formen als
Möglichkeit des Ausdrucks entdeckten. Die HipHop-Formation Brothers
Keepers ist kein neues Phänomen, sondern steht in einer langen Tradition
afrodeutscher MCs wie Torch, der schon Anfang der Neunziger mit
Advanced Chemistry politischen Rap aus Schwarzer Deutscher Perspektive
machte. Den ersten Majordeal mit einer großen Plattenfirma erhielten
jedoch nicht Advanced Chemistry, sondern die weiße Spaßcombo Die
Fantastischen Vier. Deren »neuer deutscher Sprechgesang« mit
Comedytexten grenzte sich bewusst vom politischen HipHop ab, was die
Gruppe auch unter Bezugnahme auf Advanced Chemistry und
›aggressiven‹ US-Rap betonte. So behauptete der Fanta Vier MC Smudo in
einem Interviewduell mit Advanced Cemistry 1993: »Auf unseren
Konzerten gab es noch nie Stress. Zu uns kommen die Leute nicht, um sich
zu prügeln. Schwarze Rapper wie Public Enemy oder ICE T provozieren
und stacheln auf. Wir machen Spaß und Party mit Aussage.«[13] Während
Advanced Chemistry in ihrer Single »Fremd im eigenen Land« Rassismus
in Deutschland thematisierten und die rechtsradikale Anschlagswelle zu
Beginn der Neunziger Jahre zur Sprache brachten, boten die Fantastischen
Vier mit »Die da?« leicht verdauliche Kommentare zur Partnerinnenwahl.
[14] So wurde ein ›harmloses‹ Angebot für eine weiße Nachfrage
geschaffen, die zwar die innovativen neuen Sounds, nicht aber die damit
verbundenen kritischen oder einfach von Schwarzen Künstlern
vorgetragenen Texte hören wollte – die Marktmacht der größten
KäuferInnengruppe bestimmte auch hier die Redefinition und
Repräsentation von HipHop in den Mehrheitsmedien.[15] In der Folge
etablierte sich Deutschrap als ein Genre, das die Ästhetik des HipHop ohne
die Perspektive und Inhalte derer, die HipHop in den USA und in
Deutschland initiiert haben, konsumierbar machte. Der Übergang »vom
Jugendhaus zum Reihenhaus, vom Rap in Deutschland zum
DeutschRap«[16] war vollzogen. Gab es damals mit den Fanta Vier eine
demonstrative Abgrenzung vom Politrap, ist heute eine rassistische Minstrel
Show die Vermarktungsstrategie, mit der die Nachfrage nach rassistischen
Images befriedigt und Fantasien über sex-, drogen- und gewaltsüchtige
Schwarze Menschen bedient werden: Ein afrodeutscher Rapkünstler mit
dem Pseudonym B-Tight porträtiert sich auf dem Plattencover Schwarz
angemalt, mit Sklavenkette um den Hals, Pistole auf die eigene Schläfe
gerichtet und einer Gürtelschnalle, auf der AIDS steht. Das Album heißt
»Der Neger in mir«, im gleichnamigen Song erklärt B-Tight: »Wer hat das
Gras weggeraucht/der Neger/wer rammt Dir den Penis in den Bauch/der
Neger«. Der Promotext auf der Labelwebsite informiert:
Der Neger in ihm ist unter anderem der Auslöser seiner unglaublich aggressiven, blutigen Texte.
B-Tight ist im ständigen Kampf mit sich. Weiss gegen Schwarz. Und diesen Kampf lebt er in
seiner Musik aus. […] Im Oktober 2002 kam B-Tights Mini-Album an den Start. »Der Neger (in
mir)« spiegelt B-Tights Leben und Erfahrungen wider. Krasse Beats und harte Texte garantiert!
[17]

Auch hier zeigt sich in der Positionierung des Künstlers gegen den
afrodeutschen HipHop Zusammenschluss Brothers Keepers – »Keine
Brothers Keepers, er ist DER NEGER! Ein neuer Weg für Rap in
Deutschland. Jetzt kaufen« –, welche Zielgruppe angesprochen werden soll.
Während die Brothers Keepers Rassismus gesellschaftlich verorten und
eine positive afrodeutsche Selbstidentifizierung präsentieren, wird B-Tight
als klassisches Klischee des Tragic Mulatto vermarktet. Hier wird Schwarze
Identität als individuelles Problem dargestellt und bewusst gegen andere
Schwarze Deutsche Künstler positioniert – ein eindeutiges Angebot an all
jene, die Rap ohne HipHop Kontext, ohne politische Schwarze Deutsche
Perspektiven, dafür jedoch mit demonstrativer Bestätigung aller
verfügbaren Klischees über Schwarze Menschen konsumieren wollen. Ein
weiterer Grund für den Erfolg von B-Tight und weiterer Aggroberlin-
Rapper ist die Vermarktung ihrer vermeintlichen Ghettoherkunft – das
Märkische Viertel, ein Sozialbauviertel im Norden Berlins, dient dabei als
Kulisse für Videos und als Beweis für Authentizität. Hier wird in
Anlehnung an Images und Assoziationen aus US-Rapvideos ein ›Ghetto‹
konstruiert, das als sozialer Brennpunkt Aggressivität, Sexismus und
Rassismus der Texten in den Augen von JournalistInnen zu »schockierender
Sozialkritik« der »Unterschicht« werden lässt. Diese fabrizierte Street
Credibility ist so überzeugend, dass sie Kritik an Aggroberlin-Künstlern wie
B-Tight erschweren: Nachdem ich mich in einem Stadtsoziologie und -
politikseminar an der Humboldt-Universität zu Berlin kritisch zu B-Tight
geäußert hatte, wurde ich dafür von einem weißen Kommilitonen kritisiert.
Er wies mich darauf hin, dass ich »zwar auch Schwarz« sei, aber dennoch
nicht das Recht hätte, so über B-Tights Texte und Videos zu urteilen. Zwar
sei darin manches unerfreulich und politisch unkorrekt, allerdings sei dies
»nun mal die Realität in so einem Ghetto«. Ich als privilegierter Student mit
behüteter Kindheit dürfe mich nicht zu einer Bewertung aufschwingen, da
dies einer »Klassendiskriminierung« gleichkäme. Ich konnte zwar dieses
Gespräch abkürzen, indem ich meinen Kommilitonen darauf hinwies, wo
ich aufgewachsen bin – im Märkischen Viertel. Dennoch zeigt diese
Argumentation, wie erfolgreich die beschriebene Repräsentation
rassistische und klassische Klischees verbindet, um Authentizität zu
konstruieren. Diese nimmt auch ein weiterer Aggroberlin-Künstler für sich
in Anspruch: Der weiße MC Fler profiliert sich mit nationalistischen
Metaphern und Symbolen als »der erste Deutsche, der richtig Welle
schiebt«. Das Album »Neue Deutsche Welle« wurde mit dem
abgewandelten Hitler-Zitat »Ab 1. Mai wird zurückgeschossen« beworben.
Dass Fler in rechtsgerichteten Internetforen lobend erwähnt wird, belegt,
dass die Entkoppelung von Rapmusik und HipHop-Kontext so vollständig
ist, dass auch dieser Schwarze Musikstil nun zum Medium für
nationalistische Inhalte werden kann, ohne dass darin ein Widerspruch
gesehen wird. Flers Beteuerungen in Interviews und im Lied »NDW 2005«,
[18] er sei ein Verfechter von ›Multi-Kulti‹, können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier eine Vermarktung durch Provokationen
stattfindet, die sich gegenseitig ausgleichen sollen. Flers ehemaliger
Labelkollege B-Tight liefert durch gemeinsame Songs und die
Veröffentlichung auf demselben Label den ›Beweis‹ für Flers
Harmlosigkeit. B-Tight wird als Schwarzer Künstler im doppelten Sinne
instrumentalisiert. So sollen sich zwei Extreme die Waage halten – letztlich
basieren jedoch beide auf rassistischen Images, die das Label Aggroberlin
explizit als Ware anbietet. Da der kommerzielle Erfolg als Künstler im
Rapbereich häufig auch Produzententätigkeit nach sich zieht, kann davon
ausgegangen werden, dass die Aggroberlin-Künstler ihr Erfolgsrezept
fortsetzen und bei entsprechender Marktsättigung auch verschärfen werden.

REGGAE, RASTAFARI UND RIGHTEOUSNESS


Populäre Images verbinden Reggae mit stereotypen Vorstellungen vom
hedonistischen Leben auf karibischen Inselparadiesen. Dabei weisen die
häufig gesungene Maxime »I will never give up a continent for an
island«[19] ebenso wie Sprache, Metaphorik und musikalische Struktur des
Reggae konsequent auf die kulturellen Ursprünge dieser Musik sowie der
Mehrheit der Menschen in der Karibik hin. Das Erzeugen rhythmischer und
harmonischer Spannung durch den Offbeat im Reggae macht diesen zu
einer einzigartigen musikalischen Ausdrucksform, die viele
afrodiasporische Elemente zusammenführt. Beeinflusst von Schwarzer
Musik aus den USA sowie Ska und Rocksteady, getragen von den
afrikanischen Musiktraditionen, die die Basis aller genannten Stile bilden,
entwickelte sich in Jamaika zu Beginn der sechziger Jahre Reggae als neuer
Musikstil. Diese Zeit der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten, und
1962 auch Jamaikas, verhalf auch einer jamaikanischen
Befreiungsbewegung zu wachsender Popularität, die sich der neuen Musik
zur Verbreitung ihrer Botschaften bediente, der afrozentrischen sozialen,
politischen und religiösen Rastafari-Bewegung,[20] die sich seit den
dreißiger Jahren auf Jamaika formiert hatte. Die unterschiedlichen
Denominationen innerhalb von Rastafari haben verschiedene religiöse
Überzeugungen. Zwar verwenden alle eine widerständige Lesart der Bibel,
durch die weiße Definitionsmacht gebrochen und ein Instrument spiritueller
Unterdrückung in eines der Befreiung umgekehrt werden soll. Über den
Wahrheitsgehalt und die Unverfälschtheit der Bibel sowie über die
Bedeutung des äthiopischen Kaisers Haile Selassie gibt es jedoch
verschiedene Meinungen. Was die Bewegung eint, sind die politischen
Ziele: Die Befreiung Menschen afrikanischer Herkunft aus Unterdrückung
und Fremdbestimmung, Reparationen und Repatriierung. Diese Ziele
werden jedoch in einer biblischen Metaphorik eingefordert, die den
Rastafari–Forderungen in einem Kontext, in dem westliches Christentum
der Legitimation von Versklavung afrikanischer Menschen gedient hat,
besonderen emanzipatorischen Nachdruck verleihen. Durch die
Identifikation mit dem biblischen Volk Israel, das versklavt und ins
babylonische Exil entführt wurde, werden weiße Zuschreibungen, die
Rassismus religiös verbrämen, umgekehrt: So sind nun die Kolonisatoren
die Heiden, der Westen wird zum korrupten Babylon, das im letzten Buch
der Bibel metaphorisch für ein ungerechtes Weltsystem steht, das am
Jüngsten Tag gerichtet und vernichtet wird.
Righteousness ist vor diesem Hintergrund ein Konzept, das einen
moralischen Standpunkt der Rechtschaffenheit vertritt, der westliche
Maßstäbe an westliches Verhalten anlegt und so dessen Doppelmoral
aufdeckt. Moralische Schärfe gewinnt Righteousness dadurch, dass eine
historische Schwarze Erfahrung von Versklavung und Verschleppung
ebenso einbezogen wird wie gegenwärtige Unrechtserfahrungen. Gerade
dies macht Righteousness so interessant für weiße Vereinnahmung: Es
erscheint als eine Position, von der aus das eigene weiße Privileg unsichtbar
gemacht werden kann, indem man sich auf die ›andere‹ Seite stellt, um so
durch historische Amnesie und demonstrative Parteinahme für ›das Gute‹
die Erkenntnis zu verhindern, dass die entrechtete Position, deren
Rebellentum bewundert wird, gerade die Kehrseite der eigenen Privilegien
ist. Ähnlich wie die Baggypants im HipHop gibt es auch in der deutschen
Reggaeszene einen Dresscode, der Zugehörigkeit ausdrücken soll. Dessen
eindeutigstes Erkennungszeichen sind Dreadlocks. Als ›authentisches‹
Symbol, kombiniert mit weiteren visuellen Zitaten wie den Farben Rot,
Gelb und Grün,[21] ermöglichen sie demonstrative, vermeintliche Teilhabe
an der durch sie zitierten Lebenswelt. Dreadlocks im Rastafari Movement
gehen auf dieselbe Bibelstelle zurück wie jüdische Schläfenlocken.[22]
Haar und Frisuren kommt in der afrodiasporischen Erfahrung eine große
Bedeutung zu, da es neben der ›Hautfarbe‹ einer der wichtigsten visuellen
Marker für Differenz zur weißen Norm war und ist, weswegen afrikanisches
Haar mit abwertenden Zuschreibungen wie ›wild‹, ›dreckig‹ usw. belegt
wurde und wird. Dieser Zuschreibung eine andere Ästhetik
entgegenzusetzen, die westliche Schönheitsideale ablehnt und an
afrikanische Haarkunst anknüpft, ist daher ein Ziel der Dreadlocks. Die
Bezeichnung Dreadlocks weist auf die doppelte Bedeutung der Haartracht
hin: Dread bedeutet Furcht, aber auch Ehrfurcht. Furcht vor den Dreadlocks
sollen all diejenigen empfinden, deren Machtposition durch die Rastafari
Bewegung abgelehnt wird. Gleichzeitig drücken Dreadlocks auch Ehrfurcht
vor den Zielen der Bewegung aus. Innerhalb von Rastafari werden
Dreadlocks somit nicht zuletzt auch zur Bejahung einer eigenen, Schwarzen
Identität und Ästhetik getragen, von Menschen, die sich selbst und ihren
Körper wieder annehmen wollen, die nach Überwindung der Entfremdung
im babylonischen Exil wieder sie selbst werden möchten. Innerhalb der
weißen Reggaeszene verbindet sich dagegen mit dem Tragen von Dreads
der gegenteilige Wunsch, der oder die ›Andere‹ zu werden.
REGGAE: VON DER NISCHE IN DEN MAINSTREAM
Reggae findet in Deutschland seit Ende der neunziger Jahre vermehrt
wieder junge HörerInnen, was als Subkultur in Großstädten begann, ist
inzwischen ein bundesweiter Trend. Dabei ist interessant, dass trotz kaum
vorhandener Patwakentnisse[23] Dancehallmusik und Loversrock mit eher
profanen Texten mehr und mehr Roots Reggae und Conscious Ragga mit
deutlichen politischen Statements verdrängen – vermutlich vorauseilender
Gehorsam der zumeist weißen Reggeaselectors für ein zumeist weißes
Publikum, eine Musikauswahl, die es beiden erspart, allzu häufig als
metaphorische ›Babylonians‹ angesprochen zu werden. Der erfolgreichste
deutsche Reggaekünstler Gentleman setzt nach einem dancehalllastigen
ersten Album auch bei seinem nunmehr dritten und bisher erfolgreichsten
Album Confidence auf Roots Reggae, der, wie der weiße Kölner in einem
Interview betont, kraftvoller und langlebiger ist: »Schließlich machst du
eine Platte für die Ewigkeit, sie wird immer da sein. Man sollte sich schon
genau überlegen, was man sagt.« Die stets mit Co-Writern geschriebenen
Lyrics Tillmann Ottos, so Gentlemans bürgerlicher Name, sind immer in
Patwa[24] verfasst, das – wie die jamaikanische Tageszeitung The Jamaica
Gleaner anmerkt – »fast akzentfrei« vorgetragen wird.[25] Eine solche
Nuancierung ist in deutscher Presse nicht zu finden. Die Berichterstattung
über Gentleman in Deutschland arbeitet vielmehr mit Essentialisierung. Der
Kontrast zwischen Kingston und Köln wird häufig bemüht, wodurch die
außergewöhnliche künstlerische Leistung Ottos betont werden soll: Obwohl
er aus Köln, Deutschland, kommt, hat er sich jamaikanische Sprache und
Musik angeeignet. Eine solche Darstellung essentialisiert und naturalisiert
die künstlerischen Fähigkeiten von JamaikanerInnen, bei denen dieselbe
Kunstfertigkeit offenbar nicht so bewundernswert ist. Die weißen
Privilegien Ottos zeigen sich jedoch nicht nur in einer Berichterstattung, in
der künstlerische Leistungen nach der Herkunft des Künstlers bewertet
werden. Auch in der Selbstinszenierung des Pfarrerssohnes treten sie
deutlich zu Tage: So wurde das Video zum Song »Jah Jah is real« in Indien
gedreht, wo die Kamera indische Kinder einfängt, die in Scharen dem
Ochsenkarren hinterher ziehen, von dem Gentleman auf sie herunterblickt
und -singt. Der ›exotische‹ Reggaeriddim wird hier mit ebenso ›exotischen‹
Bildern aus Indien illustriert. Allerdings hat der Drehort laut Tillmann Otto
eine besondere Bedeutung: Der Pfarrerssohn betont häufig, dass er Gott
nicht in der Kirche begegnet sei, sondern sich sein Bild von Jah aus
Aspekten der Rastafari-Bewegung ebenso zusammensetzt habe wie bei
Indienaufenthalten: »Ich bin über die Jahre öfter in Indien gewesen. Und
mit der Zeit habe ich mir mein eigenes Bild von Jah zusammengepuzzelt,
aus dem Buddhismus, Rastafari, aus dem Christentum am wenigsten.
Obwohl Jesus ja auch ein nicer Typ war.«[26] Tillmann Otto kann sich aus
einer privilegierten weißen Position diesen Eklektizismus leisten. Er besitzt
die nötige Mobilität, er teilt die konfliktträchtige Geschichte der
Beziehungen zwischen afrikanischen und indischen JamaikanerInnen nicht,
die durch rassistische Hierarchisierung im Empire geprägt ist und bis heute
fortwirkt. Dass die Aneignung zwar selektiv, aber keinesfalls unbewusst
stattfindet, zeigt ein Blick auf die Auslassungen in Gentlemans Lyrik und
Bildkunst: Während in Gentlemans Videos People of Color (»Jah Jah is
real«) und Menschen afrikanischer Herkunft (Superior) zur
Authentifizierung beim ›Abnicken‹ von Musik und Message gezeigt
werden, wird in den Texten eine Festlegung vermieden. Gentleman singt
häufig über ›Jah‹, nie jedoch über ›Jah Rastafari‹, eine Gottesbezeichnung,
in der religiöse und politische Ziele, Schwarze Perspektive und
afrikanischer Rückbezug der Rastafari Bewegung zusammengedacht
werden. Die selektive Aneignung allgemeiner Gesten bei gleichzeitiger
Vermeidung klar konnotierter Symbole zeigt sich auch in der visuellen
Albumgestaltung: Sizzla, den er als eines seiner Vorbilder nennt,[27] ist
nicht nur der Künstler, von dem offensichtlich Gentlemans Gesangsstil
übernommen ist. Bis hin zur Covergestaltung reichen die Ähnlichkeiten.
Das Cover von Gentlemans Journey to Jah Album zeigt den Künstler
sinnierend unter einem Baum sitzend. Es ähnelt bis hin zur stilisierten
Farbverfremdung frappierend dem zwei Jahre älteren Inlaymotiv von Sizzla
Kalonjis Bobo Ashanti Album – mit einem Unterschied: Während Sizzla
eine Djembe in den symbolträchtigen Farben Rot-Gelb-Grün mit einem auf
den gelben Grund gestickten »R« zwischen den Beinen hält, fehlt diese bei
Gentleman. Die Trommel als Symbol für Rastafari als Schwarze Bewegung
– diese klare Positionierung fehlt in Tillman Ottos Selbstdarstellung. Vor
diesem Hintergrund erscheint Gentlemans Werbung für das Spendenprojekt
»Gemeinsam für Afrika« besonders entlarvend. Dort heißt es in seinem
Statement: »Ich trommle für Afrika, damit dieser Kontinent nicht in
Vergessenheit gerät. Armut, AIDS und Kriege gehen uns alle an. Bitte
trommelt auch ihr!«. Dieser Slogan, begleitet von einer Porträtaufnahme
Tillmann Ottos mit der Bildunterschrift »Gentleman, Musiker« geht bereits
von einer weitreichenden Entkoppelung des Reggae vom Herkunftskontext
aus und verstärkt diese weiter. Der Text kann überhaupt nur funktionieren,
wenn der afrikanische Ursprung des Reggae bereits in Vergessenheit
geraten ist. Die Absurdität des Aufrufes – der Musiker Gentleman hat nur
durch die Aneignung afrodiasporischer Kultur die für die Kampagne
notwendige Popularität erlangt – scheint weder dem Künstler noch den
Verantwortlichen bewusst zu sein, ebenso wenig wie das Problem der
paternalistischen Reduktion Afrikas auf einen Kontinent der Katastrophen.
Durch den Hilfs- und Spendenaufruf (anstelle eines Appells zur
Bewusstmachung von Verantwortung) wird nicht zuletzt der
Zusammenhang zwischen »Armut, AIDS und Kriegen« in »Afrika« und
Reichtum, Pharmapatenten und Waffenexporten in Deutschland – immerhin
Teil des von Gentleman oft lyrisch attackierten Babylon – verdeckt. Da
Gentleman sich demonstrativ der Rasta-Rhetorik bedient, ist es möglich,
den Rod of Correction des Reggae und das »fyah pon di ignorant«[28] in
seinen Texten auf ihn selbst anzuwenden. Hier zeigt sich, dass es keine
totale Vereinnahmung der beschriebenen Schwarzen Ausdrucksformen
geben kann – so bewahrheiten sich Tillman Ottos Lyrics in ungeahnter
Weise: Aus einer oppositionellen Perspektive lassen sich sogar Gentlemans
Texte als Verurteilung eben dieser Vereinnahmung lesen – und damit gegen
den Künstler wenden: So singt er auf der 2004 erschienenen Runaway EP
im gleichnamigen Lied: »How long yuh a go runaway? Runaway from
yourself yuh no see seh dat di truth a go reveal. And everyday yuh gotta
pray well that yuh a go do and mek your life on a di real!«.

BLUE NOTE – WIDERSTAND TROTZ ANEIGNUNG


Wha dem ah gwaan with we no gwaan with ca we different
But at the same time there is no difference between we and dem
You haven’t been through what I’ve been through so be silent
And try to feel this blue overtones
- Patrice »Blue Overtones«

Selbst angesichts scheinbar totaler Dekontextualisierung und


Vereinnahmung bewahrt Schwarze Musik ein widerständiges Moment, das
in der Musik selbst enthalten ist – die Blue Note. Dieses einmalige
melodische Stilmittel ist ein erkämpfter Raum für Schwarzen Ausdruck in
einem weißen Repräsentationssystem: Für versklavte AfrikanerInnen in den
Amerikas war Musik ein wesentliches Medium des selbstbestimmten
Ausdrucks, des Benennens der eigenen Realität. Konfrontiert mit einem
europäischen Musiksystem und europäischen Instrumenten, in deren
diatonischen Tonleitern Töne aus den meist pentatonischen afrikanischen
Musiktraditionen nicht vorkamen, schufen sie ein melodisches Stilmittel,
das es ihnen ermöglichte, die vorgefundenen Beschränkungen hinter sich zu
lassen und in den festgefügten europäischen Tonleitern und Harmonien
Freiraum für die eigene musikalische Kreativität zu schaffen. Das Bending
von Tönen z.B. zwischen der kleinen und der großen Terz kreiert die im
westlichen Tonsystem eigentlich nicht existente Blue Note und ermöglicht
so eine innovative Form des Ausdrucks durch harmonische Spannung.
Dieses einmalige Stilmittel kann in westlicher Notation nicht notiert
werden. Die Blue Note, inzwischen fester Bestandteil moderner
Populärmusik auch jenseits von Blues, Jazz und Reggae, steht somit für das
Kreieren eines Schwarzen Ausdrucks, einer Schwarzen Stimme in einem
weißen System: »[…] the blue note that African-American people have
injected into harmony […] is a moment of disturbance, of dissonance, of
defiance when everyone else is preoccupied with sunshine.«[29] Die
Existenz der Blue Note ist eine melodische Metapher für afrodiasporische
Musik: Sie existiert aufgrund von Widerstand und enthält Botschaften, die
mit einer bestimmten Erfahrung, aus einer bestimmten Perspektive gestaltet
wurden. Sie ist darüber hinaus eine harmonische Metapher für die
Möglichkeit, durch stilisierte Dissonanz Schwarzen Dissens inmitten und
mit den Mitteln eines weißen Repräsentationssystems auszudrücken. Sie
fordert HörerInnen heraus, eine oppositionelle Perspektive auf die
Vereinnahmung Schwarzer Musik einzunehmen, die es ermöglicht, durch
denial verdrängte Inhalte bewusst wahrzunehmen.
Ein weißes Publikum sollte das, was im Medienmainstream als HipHop
und Reggae präsentiert wird, angesichts der beschriebenen Verschränkung
von Marktmacht und Repräsentation als Projektion erkennen, die
Blickrichtung umkehren und sich fragen: Was sagen die präsentierten
Klischees über Weißsein aus? Welche Eigenschaften werden hier implizit
weißen Menschen zugeschrieben?
Für People of Color und Menschen afrikanischer Herkunft kann dies nur
der notwendige erste Schritt eines subversive reading, einer
emanzipatorischen Medienrezeption sein. Wir sollten über das Entlarven
dieser Projektionen hinaus fragen, inwieweit Rap und Reggae eigene
Erfahrungen spiegeln. Wo finden wir uns in Lyrics und/ oder Musik wieder?
Wir sollten uns von der Vielschichtigkeit dieser Kunstformen immer wieder
neu inspirieren lassen, deren Vorhandensein an sich schon das Behaupten
radikaler Möglichkeiten ungeachtet der realen Unmöglichkeit Schwarzer
Ausdrucksformen ist – ebenso wie die Blue Note. Zwar findet in Medien
und Alltagskultur eine Aneignung und Sinnentleerung widerständiger
Symbole statt. Dennoch schwingt in Schwarzer Musik die Blue Note mit,
ist der Ausdruck Schwarzer Perspektiven trotz weißer Aneignung hörbar.
Gerade in Rap und Reggae finden diese einen selbstbewussten,
ermächtigenden und politisch fordernden Ausdruck. In Anlehnung an
Rasta-Rhetorik wird häufig Feuer als doppeldeutige Metapher dieser
Perspektive verwendet. Afrob rappt dementsprechend: »Jeder der mich
kennt weiß, ich bin der Rapper, der wie Feuer brennt.« Reggaedeejay
Capleton beschreibt deshalb seine Musik als »spiritual fire, wordical fire
and musical fire« und betont: »Fire is all about being yourself and knowing
who you are, stand up for what you believe in … don’t stoop to the
limitation in Babylon.«[30] Wer die Inhalte, Metaphern und Symbole in
Schwarzer Musik bewusst wahrnimmt, die Blue Notes heraushört, kann
darin nach wie vor kreative Kritik entdecken, in der sich KünstlerInnen
positionieren – und in der sich in der Musik ausgedrückte Perspektiven
gegen weiße Vereinnahmung und somit nicht selten gegen die
KünstlerInnen selbst wenden. Der Reggaedeejay Sizzla singt: »Dis is how
we make music for dem, its a judgement and we gonna take it to dem!«
Eine Perspektive, die Entstehungskontext von Rap und Reggae einbezieht
und gegenwärtige Schwarze Erfahrungen darin wiederfindet, kann die ›blue
overtones‹, kann das Feuer, den unbedingten Willen zum Ausdruck
wahrnehmen, wertschätzen und weitertragen. Solange dies geschieht, gilt
trotz und gerade wegen aller Aneignung: Wer mit diesem Feuer spielt,
verbrennt sich daran.

BIBLIOGRAFIE
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Nation vom 13.1.2003
Davis, Angela Y.: »Masked Racism: Reflections on the Prison Industrial Complex.« In: ColorLines
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Masks?« In: Allan Read (Hrsg.): The Fact of Blackness. Frantz Fanon and Visual
Representation. Deattle: Bay Press, 1996, S. 12-37
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Güngör, Murat & Hannes Loh: Fear of a Kanak Planet. HipHop zwischen Weltkultur und Nazirap.
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29.02.2000, URL: http://hbswk.hbs.edu/pubitem.jhtml?id=1346&t=special_reports (08.7.2005)
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deutschen Battlerap.« In: Intro 17.1.2002 URL: http://www.intro.de/musik/magazin/1011288580
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Müller, Eggo: »Populäre Visionen. Ein Sampler zur Debatte um Musikclips und Musikfernsehen in
den Cultural Studies.« In: Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): VIVA MTV! Popmusik im Fernsehen.
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, S. 74-89
Reid, Nadine: »Capleton: Fire is the Ultimate.« In: The Germaican Observer – Webzine for Jamaican
Music No. 23 2002, URL:
http://www.germaica.net/observer/archiv/23/eng/interview_capleton.html (8.7.2005)
Savishinsky, Neil J.: »African Dimensions of the Jamaican Rastafarian Movement.« In: Nathaniel
Samuel Murrel, William DavidSpencer & Adrian Anthony McFarlane (Hrsg.): Chanting Down
Babylon – The Rastafari Reader Philadelphia: Temple Universtiy Press, 1998

DISKOGRAFIE
Afrob & D-Flame: »Öffne die Augen«, auf dem Album Made in Germany, Afrob, Four Music 2002
B-Tight: »Der Neger in mir«, auf dem Album Der Neger (in Mir), B-Tight, Aggro Berlin2002
Dezarie: Gracious Mama Africa, Dezarie, I Grade Records 2003
Gentleman: »Runaway«, auf der Runaway EP, Gentleman, Four Music 2004
KRS-One: Videostatement auf dem Album I got Next, Jive, Zomba 1997
Morgan Heritage: »Love Reggae Music« Irie & Mellow Riddim, Kickin Production 2001
N’Dour, Mbegane: African Consciences, MbeganeN’Dour, Columbia Records 2002
Patrice: »Blue Overtones«, Bonustrack auf dem Album How Do You Call It? Yomama Sony BMG
2003
Queen Omega: Destiny Queen Omega, Nocturne Rough Trade 2005
Sisters Keepers:»Sister«, Lied 9 auf dem Album Brothers Keepers – Lightkultur Downbeat Warner
2001
Sizzla Kalonji:»Beautiful«, auf dem Album African Consciences, Mbegane N’Dour, Columbia
Records 2002
Sizzla Kalonji: »No Bad Mind, no red eye«, auf dem Album Burning Fire, Sizzla Kalonji,
Penitentiary 2005

ANMERKUNGEN
1 Hall: »The After-Life of Frantz Fanon«, S. 16.
2 hooks: Black Looks, S. 5.
3 Ich verwende den englischen Begriff Image, weil darin nicht nur das Bild an sich, sondern auch
die individuelle und kollektive Vorstellung, das Bild des und der ›Anderen‹, dass sich immer
auch mit einer Wertzuschreibung verbindet , enthalten ist (siehe dazu Hall: »The Spectacle of
the ›Other‹«, S. 234-236).
4 Wer die Schwarze Urheberschaft von HipHop und Reggae betont, wird schnell als
›essentialistisch‹ kritisiert (siehe Müller: »Populäre Visionen«, S. 73). Im Folgenden geht es
jedoch nicht um eine essentialistische Beweisführung, sondern das Identifizieren einer
Schwarzen Ästhetik und Perspektive, die von einer historischen und gegenwärtigen
Unterdrückungserfahrung sowie von dem Versuch geprägt ist, sich gerade gegen den
Essentialismus weißer Vorherrschaft zur Wehr zu setzen.
5 Vgl. Balzer: »Kaum noch Krise in der Musikindustrie«, S. 36.
6 Dies gilt in Deutschland für viele internationale Schwarze KünstlerInnen durch die
›Vorauswahl‹ durch die US-Nachfrage und die erneute Selektion auf dem deutschen Markt in
doppelter Hinsicht. Sind die nachgefragten Images so erst einmal dominant geworden, schaffen
sie gerade im Bereich Musik Identifikationsfiguren, die auch eine Schwarze Nachfrage nach sich
ziehen.
7 Diese Anspielung auf einen gleichnamigenm Spike Lee Film und eine Rede von Malcolm X
stellt die beschriebene Erfahrung in Deutschland in den größeren Kontext der afrikanischen
Diaspora und verweist auf eine Tradition Schwarzer (Medien)Kritik: ›Bamboozled‹ bedeutet
›verwirrt, hereingelegt‹.
8 Sisters Keepers: »Sister«.
9 KRS-One: Videostatement auf dem Album I got Next.
10 Bei diesem African American Reimspiel geht es darum, in einem lyrischen
Improvisationskampf die scherzhaften bis derben Beleidigungsreime der Gegenspieler in einem
Duell zu übertreffen – Improvisation und Spontaneität sind dabei ebenso wichtig wie die
Einhaltung des Dozen Reimschemas. Siehe dazu Gates: The Signifying Monkey, S. 71-73.
11 Im US-Kontext ist die häufige Verwendung von Ebonics, dem Schwarzen Englisch der USA, in
Rap-Songs bereits unabhängig vom Inhalt des Textes eine Aussage, die das Vorhandensein
Schwarzer Ausdrucksformen auch nach Jahrhunderten der versuchten Zwangsassimilierung
zelebriert.
12 Dieser Begriff wurde von Angela Davis geprägt, um die Verflechtung wirtschaftlicher Interessen
und rassistischer Justiz in den USA zu beschreiben. Die strukturelle Gewalt, die von diesem
System ausgeht, hat u.a. zur Folge, dass in den USA viermal so viele Schwarze Männer im
Gefängnis zu finden sind wie an den Colleges und Universitäten (siehe Davis: »Masked
Racism«). Aufgrund von geringen Löhnen sind Gefängnisse in den USA inzwischen
Produktionsstandorte für Firmen wie Microsoft oder auch Nordstroem Stores, in denen ›Prison
Blues‹ Jeans mit dem Slogan »made on the inside to be worn on the outside« verkauft werden.
Auch in Deutschland wird das Klischee von People of Color als Kriminellen, die im Gefängnis
laut Online-Werbetext »authentische Jailwear« fertigen, verwendet: Die Firma Haeftling warb
2004 mit einer entsprechenden Plakatkampagne für ihre in Berliner Gefängnissen hergestellte
Kollektion.
13 Loh: »1000 Jahre Deutscher Hiphop«.
14 Vgl. Güngör & Loh: Fear of a Kanak Planet, S. 111-114.
15 Diese Entwicklung wurde für den US-Kontext als »captur[ing] the authenticity without the
militancy« beschrieben, vgl.: Chang: »Stakes is high«.
16 Loh: »1000 Jahre Deutscher Hiphop«.
17 Aggroberlin: »Aggrostarz: B-Tight«.
18 Dort heisst es: »Das ist Schwarz- Rot- Gold, hart mit stolz/ Man siehts mir nicht an, doch glaub
mir, meine Mum ist deutsch(…)/ Das ist normal, das hier ist Multi-Kulti, meine Homies
kommen von überall/ Ihr holt die Bullen, wir sind die Aussenseiter, wir sind Aggro Berlin/
Schwarz; weiß- egal, jeder ist hier Aggro in Berlin/ Mit dem Basie in der Hand, so crazy ist der
Mann/ Ihr habt es nicht geschafft, doch ich hab jetzt das Game in meiner Hand«.
19 Sizzla Kalonji: »Beautiful«, Lied 9 auf dem von Mbegane N’Dour produzierten Album African
Consciences. Dieses Musikprojekt, bei dem HipHop- und ReggaekünstlerInnen aus Afrika (Côte
d’Ivoire, Senegal, Mali) und der Diaspora (Brasilien, Jamaika, USA, Deutschland) zu
Variationen eines Riddims ihre Songs geschrieben haben, verdeutlicht musikalisch und textlich
sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Zusammengehörigkeit über den Black Atlantic. Mit
Bantu ist dabei auch eine Gruppe aus der afrodeutschen Diaspora vertreten.
20 Das Rastafari-Movement griff Elemente des Garveyismus und Ethiopianismus auf und verband
sie zu einer neuen Bewegung, bei der die Befreiung Schwarzer Menschen von mentaler
Sklaverei im Mittelpunkt steht (siehe Ennis B. Edmonds: »Dread »I« in-a-Babylon«, S. 23-25).
21 Für eine ausführliche Analyse der »multiple levels of significance« der Rastafari-Symbolik
siehe: Edmonds: »Dread ›I‹ in-a-Babylon«, sowie: Savishinsky: »African Dimensions of the
Jamaican Rastafarian Movement«.
22 Der Nazarite Vow, der Bund der Nazoräer in 4. Mose 6.
23 Eine Unterhaltung auf einem Dance in Berlin führte mir recht früh vor Augen, wie wenig selbst
begeisterte ReggaehörerInnen die grundlegenden Botschaften ihrer Lieblingsmusik verstehen:
Eine enthusiastische weiße Partygängerin vertraute mir an, dass ihr Lieblingsdeejay Buju Banton
sei. Sie besäße alle seine Alben und hätte jedes Konzert in Deutschland miterlebt. Nur Haile
Selassie wäre wohl ein noch besserer Sänger gewesen. Auf meine erstaunte Frage, wie sie
darauf käme, antwortete sie geduldig und etwas überrascht von meiner Unkenntnis: »Na, die
singen doch alle immer von ihm! Also muss er ja der größte Reggaesänger von allen gewesen
sein. Aber er ist ja leider schon tot!«
24 Wie Ebonics im US-Kontext ist die Verwendung von Patwa ein widerständiges Statement: Die
in Vokabeln und Grammatik der Sprache erhaltenen Elemente verschiedener westafrikanischer
Sprachen (besonders des Twi der für den antikolonialen Widerstand auf Jamaika wichtigen
Akan-Kultur) sind auch hier unabhängig vom Inhalt ein Verweis auf erfolgreiche Verweigerung
kultureller Assimilation.
25 Dazu hieß es in der Ausgabe vom 7. November 2003: »When you listen closely, however, a
trace of a less discernable accent creeps in on some words. ›I jus’ don’ like ‘ow German soun’ in
music,‹ Gentleman says. ›Mi love patois and mi love ow mi cyan express miself. It’s a language
straight from the heart,‹ he continued.«
26 Köhlings & Lilly: »Die Reise zu Gentleman«, S. 64.
27 Gentleman betont diesen Einfluss immer wieder in Interviews, so auch im Gespräch mit laut.de:
»Ich habe einen tierischen Respekt vor Sizzla, und er hat mich über die Jahre unglaublich
inspiriert. Ich muss ehrlich gestehen, dass über 80 Prozent des Reggae, der bei mir lief, Sizzla-
Tunes waren. Weil ich zum Beispiel ›Da real ting‹ rauf und runter hören konnte. Das hatte ich
schon lange nicht mehr bei einem Album. Der Typ ist unglaublich, was seine Power, seine
Stimme und seine Lyrics angeht.«
28 Gentleman & Christini: »Struggle and Faith«, Issa Char Riddim.
29 Cornell West, zitiert in: Lagace: »Keeping the Blue Note«.
30 Reid: »Capleton: Fire is he Ultimate«.
ÜBERGÄNGE
TIMO WANDERT & RANDOLPH OCHSMANN
»EVEN THE RAT WAS WHITE.«[1]
WHITENESS, RASSISMUS UND ›RACE‹ IN DER
PSYCHOLOGIE

Die Psychologie als akademische Disziplin hat einen wichtigen Beitrag zur
Konstruktion eines sich selbst als wissenschaftlich verstehenden Rassismus
geleistet. Insbesondere auf dem Gebiet der Intelligenzforschung wurden
Instrumente, Methoden und Argumente entwickelt und erprobt, die bis
heute eine gewichtige Rolle bei der Rassifizierung von
Gruppenunterschieden spielen. Den Autoren ist es aufgrund ihres
Hintergrunds – beide sind im akademischen Bereich tätige Psychologen –
und der Geschichte der Psychologie wichtig, zu Beginn festzuhalten, dass
eine Kategorisierung von Menschen in ›Rassen‹ keinerlei biologische
Grundlage besitzt und mit der sozialen Konstruktion von ›Rassen‹ immer
auch Diskriminierung verbunden ist. Bei der Konstruktion von ›Rassen‹
werden in einem weißen hegemonialen Prozess anhand zumeist
körperlicher Merkmale Individuen zu Gruppen zusammengefasst, denen
essentialistische Eigenschaften unterstellt werden und deren Existenz als
transhistorisch angenommen wird. Obwohl Ergebnis eines
Konstruktionsprozesses kann ›Rasse‹ jedoch nicht als bedeutungslos und
ohne Wirkungsmacht gesehen und entsprechend ignoriert werden, da mit
dieser Klassifizierung gesellschaftliche und politische Realitäten geschaffen
werden, in denen weiß die hegemoniale Position und deren Akteure
bezeichnet und Schwarz diejenigen, die rassistische Diskriminierung
erfahren müssen. Durch die Festlegung einer Differenz und die damit
verbundenen sich unterscheidenden Erfahrungen und Wahrnehmungen
wurden und werden unter weißer Hegemonie Schwarze und weiße
Identitäten geschaffen. Um diesen gesellschaftlichen Realitäten Rechnung
zu tragen und um sie benennen zu können, ist es notwendig, mit der
Kategorie ›Rasse‹ zu arbeiten. Da im deutschsprachigen Kontext der
Begriff ›Rasse‹ allerdings immer auf seine Verwendung im
Nationalsozialismus referiert, wird der Begriff ›Race‹ verwendet – in
Anführungszeichen gesetzt, um die Konstruiertheit von ›Race‹ kenntlich zu
machen.
Es erscheint notwendig, diese Bestimmung von ›Race‹ dem Text zweier
Psychologen über ›Race‹ und Rassismus voranzustellen, da die Psychologie
nicht nur von den rassistischen Diskursen ihrer Gründungszeit geprägt
wurde und diese perpetuierte, sondern darüber hinaus bis heute ihren Anteil
an der Konstruktion von ›Race‹ als sozialer Kategorie hat. Der
Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Zeit von der Etablierung der
Psychologie als akademischer Disziplin in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts bis zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Psychologie
war in ihren Anfangstagen eine weiße westliche Wissenschaft mit Zentren
in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten,
die in einem engen Austausch standen. Zu jener Zeit war das allgemein
geteilte Verständnis von ›Rasse‹ in deutschsprachigen Ländern und ›Race‹
in englisch- bzw. französischsprachigen innerhalb der Psychologie sehr
ähnlich und durchgängig ein biologistisches. Ab etwa den 30er Jahren
wurde dieses Verständnis von ›Race‹ verstärkt in Frage gestellt, so dass es
seitdem keine einheitliche Definition des Begriffs ›Race‹ innerhalb der
Psychologie mehr gibt. In den USA und in Großbritannien spielen
Klassifizierungen nach ›Race‹ eine wichtige Rolle, während sie in
Deutschland selten vorgenommen werden und in der deutschsprachigen
Psychologie der deutsche Begriff ›Rasse‹ aufgrund seiner Verwendung im
und Diskreditierung durch den Nationalsozialismus so gut wie nicht mehr
verwendet wird. Die mit ›Race‹ verbundenen Vorstellungen gehen zwischen
einzelnen PsychologInnen sehr weit auseinander. Einige weisen explizit auf
die soziale Konstruktion von ›Race‹ hin und erklären ausdrücklich ihre
Verwendung des Begriffs und die damit verbundene Kategorisierung.[2]
Andere hingegen verstehen und verwenden ›Race‹ in einem eindeutig
biologistischen Sinn.[3] Unabhängig von dem zugrunde liegenden
Verständnis zeigt die Psychologie durch ihre Methodik allerdings die
Tendenz, ›Race‹ als Kategorie zu reifizieren, wenn die untersuchten
Personen nach ›Race‹ klassifiziert und dann Gruppenunterschiede bei
bestimmten Eigenschaften festgestellt werden. Dem Ergebnis solcher
Untersuchungen lässt sich nicht entnehmen, mit welchem Verständnis von
›Race‹ die Gruppen gebildet werden. Es gibt die beobachteten
Gruppenunterschiede mit vermeintlicher Objektivität wieder und rassifiziert
diese durch das Anheften von Labels wie ›schwarz‹ oder ›weiß‹. Eine
Studie, die beispielsweise Einkommensunterschiede zwischen weißen und
Schwarzen Menschen feststellt, läuft immer Gefahr so interpretiert zu
werden, dass eine beobachtete Differenz auf ›Race‹ als Ursache
zurückgeführt wird, während politische und soziale Ursachen der
beobachteten Unterschiede – beispielsweise ein strukturell rassistischer
Arbeitsmarkt – außer Acht gelassen werden.
Die Verbindung von Psychologie und ›Race‹ wird im Folgenden unter
zwei verschiedenen Gesichtspunkten untersucht.[4] Zuerst wird näher auf
den Beitrag der weißen hegemonialen Psychologie zur Konstruktion von
›Race‹ eingegangen.[5] Besonderes Augenmerk wird dabei auf Francis
Galton gelegt, der durch seine Forschung eine Richtung in der Psychologie
vorgab, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Race
Psychology ihren Höhepunkt finden sollte und deren Vorgehen vor allem
darin bestand, mit psychologischen Tests Gruppenuntersuchungen
durchzuführen und beobachtete Gruppenunterschiede zu rassifizieren. Im
zweiten Teil soll mithilfe des Ansatzes der Black Psychology der Blick auf
den impliziten Rassismus der weißen akademischen Psychologie gerichtet
werden. Diese ist sich ihrer eigenen Whiteness nur selten bewusst, die sich
zum Beispiel darin äußert, dass klinische Diagnosesysteme das Verhalten
und Empfinden weißer Menschen als Norm nehmen und universalisieren.
Verhaltensmuster, Wahrnehmungen oder Empfindungen Schwarzer
Menschen drohen in den vorherrschenden weißen Diagnosesystemen der
Psychologie pathologisiert zu werden.

WEIßE PSYCHOLOGIE
Ohne an dieser Stelle die Entwicklung des Begriffs ›Race‹ bis ins 19.
Jahrhundert ausführlich darzustellen, sollen kurz zentrale Merkmale des
prä-darwinistischen, vorwissenschaftlichen Rassismus jener Zeit aufgeführt
werden.[6] Im Kontext der imperialistischen und kolonialistischen
Expansion wurde die Menschheit im Blick eines weißen Europas verstärkt
als verschieden wahrgenommen. ›Race‹ war das zentrale Konzept zur
Beschreibung und Erklärung dieser ›Verschiedenheit‹ und, gekoppelt an die
Eroberung und Ausbeutung nicht-europäischer Regionen, wichtigstes
Argument für deren Rechtfertigung. Mit der Vorstellung von ›Race‹ waren
zwei wichtige Aspekte verbunden: biologische Differenz und
unterschiedliche Wertigkeit. Die Vorstellung einer grundlegenden
biologischen Differenz stand in enger Verbindung mit Ängsten vor der
Vermischung verschiedener ›Races‹. Diese Ängste äußerten sich in
Befürchtungen vor vermeintlichen medizinischen Beeinträchtigungen so
genannter ›Mischlinge‹, insbesondere aber waren sie mit der Vorstellung
einer ›Degeneration‹ der ›höherwertigen‹ ›Race‹ verbunden. Im Bezug auf
eine unterschiedliche Wertigkeit gab es aus europäischer Sicht so gut wie
keine Kontroversen um eine hierarchische Anordnung der ›Races‹ – mit
einem sich ausschließlich als weiß verstehendem und definierendem Europa
an der Spitze. Wenig Einstimmigkeit herrschte allerdings darüber, welche
›Nation‹, welches ›Volk‹ Europas die ›Krone der Schöpfung‹ tragen sollte
und in welcher Reihenfolge die folgenden Plätze zu vergeben seien. Die
Herkunft eines Autors sagte meist viel über die Platzierungen aus – nicht
nur, welcher Teil Europas ganz oben stand, sondern auch, welchen ›Races‹
besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Im kolonialen England
konzentrierten sich die Diskurse auf nicht-europäische ›Races‹, in
Deutschland wurden stattdessen die ›Rassen‹ Osteuropas sortiert.
Uneinigkeit gab es ob der Erklärung dieser Hierarchie. Eine zentrale
Auseinandersetzung war die Frage, ob es einen gemeinsamen Ursprung
aller ›Races‹ gäbe, ob, im biblischen Sinn, alle Menschheiten auf einen
Adam zurückgingen oder ob verschiedene und getrennte Schöpfungsakte
stattgefunden hätten. Sind einzelne ›Races‹ erst nach der Schöpfung
verdammt worden oder wurden sie ursprünglich als verschieden und
ungleich geschaffen?[7] Darwins Evolutionstheorie von 1859 lieferte die
theoretischen Mittel, um diese Kontroverse um den ›monogenetischen‹ oder
›polygenetischen‹ Ursprung des Menschen und damit die Diskurse um
›Race‹ auf eine neue Stufe zu heben. Es war nun eine gemeinsame
Abstammung des Menschen vorstellbar und dennoch möglich,
Unterschiede zwischen verschiedenen ›Races‹ zu behaupten, ohne auf einen
intervenierenden Gott referieren zu müssen.
Mit Darwin im Gepäck konnte das System des Scientific Racism
entwickelt werden, ein Rassismus, der sich vermeintlich wissenschaftlich
legitimieren konnte. Seine Evolutionstheorie, die Aussagen zu der
Entwicklung von Arten über Zeiträume von Zehntausenden von Jahren
macht, wurde auf menschliche ›Races‹ übertragen. Ein Übertrag, der nur
aufgrund der Konstruktion von ›Race‹ als biologischer Kategorie
funktionieren konnte und jeglicher Grundlage entbehrt. Während die
Evolutionstheorie die Entwicklung von Arten als fortwährende Anpassung
an die Umwelt beschreibt und entsprechend die gelungenste Anpassung das
Auswahlkriterium der Evolution ist, nahm der Scientific Racism als
Messlatte seiner Hierarchisierung der ›Races‹ die weiße europäische Kultur,
und die wahrgenommene Distanz bestimmte die Positionierung gemäß des
Scientific Racism. In dessen Sprache wurde behauptet, dass sich zu
verschiedenen Zeiten in der Evolution des Menschen einzelne ›Races‹ von
einem Hauptstamm der Entwicklung abgespalten hätten und nun auf ihrem
Entwicklungsstand verharren würden. Dieses Bild war keineswegs neu,[8]
doch wurde es durch die Übertragung der Evolutionstheorie möglich, die
einzelnen Teile miteinander in Verbindung zu setzen. Der Prozess der
Rassifizierung und die Hierarchisierung menschlicher ›Races‹ musste nicht
mehr mit der Bibel gerechtfertigt werden, sondern ließ sich jetzt mit der
anderen aufstrebenden Religion jener Zeit, den Naturwissenschaften,
legitimieren. Nicht mehr Gott setzte fortan im Scientific Racism die
verschiedenen ›Races‹ auf ihre Plätze, sondern diese befanden sich in einem
fortwährenden evolutionären Wettkampf um das survival of the fittest. Der
weltweite Siegeszug des Imperialismus, das Bewusstsein, fast die gesamte
Welt zu beherrschen, war Europas Beweis, diesen imaginierten Wettlauf
gewonnen zu haben. Im Denken jener Zeit war es in Europa kaum möglich,
nicht von der Unterlegenheit anderer ›Races‹ überzeugt zu sein, zu
offensichtlich schien die globale Überlegenheit der imperialen Mächte, zu
beherrschend waren die Diskurse um ›Race‹.
Vor diesem Hintergrund etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin.
Wichtige anfängliche Tätigkeitsfelder waren psychometrische Messungen
und die Entwicklung einer adäquaten technischen und statistischen
Methodik. Auf Ausstellungen konnten sich BesucherInnen in Laboratorien
psychophysikalisch vermessen lassen: bestimmt wurden zumeist
sensorische Reizschwellen aller Sinnesmodalitäten und Reaktionszeiten.
Aus den gesammelten Daten wurden zum einen Gesetze über den
Zusammenhang von physischen Reizen und ihrer Wahrnehmung aufgestellt,
zum anderen ließen sich aus ihnen Normen und Gesetze der sensorischen
Funktionen bestimmen. In der Geschichtsschreibung der Psychologie wird
bis heute der Engländer Francis Galton (1822-1911) als einer der
bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit geführt, der grundlegende
Methoden und statistische Techniken entwickelt und in die Disziplin
eingeführt hat. Sein Beispiel zeigt die Verknüpfung der jungen Psychologie
mit dem zu jener Zeit virulenten Scientific Racism. Galton ist erst recht spät
in seinem Leben zur Psychologie gekommen, nachdem er sich vorher als
Reiseschriftsteller und durch ethnographische Beobachtungen hervorgetan
hatte. Seine Ansichten über ›Races‹, die Evolutionstheorie seines Cousins
Charles Darwin und ein Interesse an Statistik und ihrer Anwendung waren
wichtige Quellen seiner psychologischen Forschung über die Erblichkeit
geistiger Eigenschaften. Im Vorwort seines Buches Hereditary Genius
schrieb Galton: »The idea of investigating the subject of hereditary genius
occurred to me during the course of a purely ethnological inquiry, into the
mental peculiarities of different races.«[9] In diesem, wie in weiteren später
verfassten Werken, erarbeitete er eine Methodologie, mit der er den Anteil
des genetischen Erbes an der Intelligenz bestimmen wollte. Zum einen
entwickelte Galton ›anthropometrische Tests‹, die Kopfgröße,
Reaktionszeiten und Genauigkeit der Wahrnehmung maßen, in der
Annahme, damit ererbte angeborene mentale Fähigkeiten erfassen zu
können. Um den Anteil der Vererbung zu bestimmen, schlug Galton zum
anderen vor, die Fertigkeiten mono- und dizygoter Zwillinge miteinander zu
vergleichen. Er entwickelte mit der Korrelation, die später von seinem
Schüler Pearson weiter ausgearbeitet wurde, ein statistisches Werkzeug, um
den Grad der Übereinstimmung zweier Merkmale zu quantifizieren. Damit
schuf Galton ein bis heute gültiges Paradigma: Um den jeweiligen Anteil
von Vererbung und Umwelt an einer Eigenschaft zu bestimmen, werden die
Testergebnisse von Verwandten miteinander verglichen, die ein
unterschiedliches Ausmaß gemeinsamen Erbguts besitzen – wie
beispielsweise ein- und zweieiige Zwillinge. Zu beobachtende Unterschiede
bei dizygoten Zwillingen wären dieser Logik folgend bei gleicher Umwelt
genetisch zu erklären.
Galton skizzierte die Übertragung seiner Verfahren auf den Vergleich
von Gruppen, wobei er, wie oben stehendes Zitat deutlich macht,
vornehmlich ›Races‹ im Blick hatte. Die Anwendung seiner Verfahren
überließ er anderen, deren Ergebnis nahm Galton jedoch schon theoretisch
vorweg. Galton führt in Hereditary Genius die Vorstellung normalverteilter
Eigenschaften in die Psychologie ein, d.h. die Fähigkeiten einzelner
Mitglieder einer Gruppe häufen sich um einen statistischen Mittelwert,
über- wie unterdurchschnittliche Ausprägungen werden mit zunehmender
Entfernung vom Mittelwert immer seltener. Die graphische Darstellung der
Normalverteilung ergibt eine Glockenkurve. Die Verteilungen
verschiedener Gruppen besitzen unterschiedliche Mittelwerte und
überlappen sich je nach deren Differenz. Gruppen können durch diese
Neuerung Galtons hinsichtlich eines Merkmales miteinander verglichen
werden, indem die Differenz der Mittelwerte in den Gruppen betrachtet
wird. Galtons Ansatz sah vor, die miteinander zu vergleichenden Gruppen
zuerst als ›Races‹ zu klassifizieren und beobachtete Differenzen dann als
Folge der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ›Race‹ anzusehen.
Beobachtete Differenzen wurden innerhalb dieses Paradigmas rassifiziert
und implizierten eine Reifizierung der Kategorie ›Race‹, da diese als
untersuchte Einheit und Ursache der Unterschiede von vornherein von
Galton festgelegt worden war. Eine Betrachtung der in diesem Paradigma
verwendeten und getesteten Merkmale zeigt deutlich die rassistische
Grundstruktur der Methodik. Insbesondere jene Tests wurden verwendet,
mit denen sich eine ›Überlegenheit‹ der weißen ›Race‹ konstruieren ließ, da
bei vielen der von Galton vorgeschlagenen Verfahren – Reaktionszeiten,
Gedächtnisleistung und Reizschwellen – keine Gruppenunterschiede zu
beobachten waren. Auf diese Umsetzung der Ideen Galtons im Bereich der
Intelligenztestungen wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Für ihn
stellten sich Fragen der praktischen Umsetzung weniger, da es ihm reichte,
ohne den Umweg über experimentelle Arbeiten gehen zu müssen, die
Ergebnisse möglicher Untersuchungen einfach am Schreibtisch
festzusetzen. Ähnlich zum Scientific Racism bestand das Vorgehen Galtons
darin, die eigenen rassistischen Annahmen durch angeblich
›wissenschaftliche‹ Methodik und Befunde als objektiv und neutral
auszugeben. In Hereditary Genius stellte Galton in dem Kapitel The
Comparative Worth of Different Races seine eigene Rangreihe auf. Galton
war so überzeugt von der ›Wissenschaftlichkeit‹ seines Vorgehens, dass er
als Beleg und Stütze seiner Argumentation seine eigenen Schätzungen
verwendete. Als Kriterium seiner Hierarchisierung nahm er die »Anzahl
eminenter Personen« innerhalb der von ihm als ›Races‹ kategorisierten
Gruppen. Als eminent sah er beispielsweise herausragende
WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen oder PolitikerInnen an. Nachdem
er die Anzahl ›eminenter‹ Personen für jede ›Races‹ selbst geschätzt hatte,
konnte er sie anschließend anhand dieser Schätzung hierarchisieren.
Galtons Berechnungen und die Verwendung der Normalverteilung für seine
Schätzungen sollten sein Garant für ein ›wissenschaftliches‹ Vorgehen sein,
ihre eigentliche Funktion war es aber, darüber hinwegzutäuschen, dass
Galtons Hierarchisierung nur seine eigenen rassistischen Annahmen
wiedergab.
Zu den evolutionstheoretischen Anleihen des Scientific Racism gehörte
die Vorstellung eines Wettkampfs der ›Races‹. Ein zentraler Bestandteil des
damit verbundenen Diskurses war die Annahme, dass den meisten der
nicht-europäischen ›Races‹ die geistigen Voraussetzungen für das Erreichen
von ›Zivilisation‹ fehlten und sie daher de facto den Wettkampf schon
verloren hätten und dem Untergang, dem Aussterben geweiht seien (so
genannte doomed races). Dieses Denken war eine nachgeschobene
ideologische Rechtfertigung für das während der Kolonialisierung
begangene Massenmorden und eine Verkehrung der tatsächlichen
Verhältnisse. Die Ermordung von unzähligen Menschen in den Kolonien
erschien in diesem Denken nicht mehr als Verbrechen, sondern die
kolonialen und imperialen Mörder konnten sich als Erfüllungsgehilfen der
Natur betrachten, da sie mit Vernichtung der doomed races der Evolution
nur vorzugreifen schienen. Zur Vorstellung des Wettkampfs der ›Races‹
gehörten neben der Vernichtung anderer auch die Verbesserung der eigenen
weißen ›Race‹ und Diskurse und Praktiken um so genannte
›Rassenvermischung‹. Galton spielte in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle, indem er ein Programm skizzierte, um dass menschliche
Erbmaterial durch selektive Zucht zu verbessern. Mehrere Jahre lang suchte
er nach einem treffenden Namen für dieses Unternehmen, um es 1883
schließlich als Eugenics zu bezeichnen. Seine Ideen zielten in erster Linie
auf in seiner Sichtweise ›degenerierte‹ und auf ›überlegene‹ weiße
Gruppen. In dem biologistischen Denken Galtons – welches das Verhalten
eines Menschen vor allem in ›natürlichen‹ Faktoren begründet sah – musste
die Reproduktion der ersteren möglichst eingeschränkt, die der Letzteren
gefördert werden. Galton äußerte aber auch seine Vorstellung bezogen auf
Schwarze Menschen. In einem Brief an die Times aus dem Juni des Jahres
1873 schrieb er:
[the] average negroes possess too little intellect, self–reliance and self–control […] to sustain the
burden of any respectable form of civilisation. […] I wish to see a new competitor introduced
[into Africa] – namely the Chinaman. The gain would be immense to the whole civilised world if
he were to outbreed and finally displace the negro.[10]
Kaum versteckt ist in diesem Brief der Wunsch nach der Vernichtung
Schwarzer Menschen enthalten. Galton identifiziert ›Races‹ als die
grundlegenden Träger von civilisation, die für Galton mit weißer westlicher
Kultur übereinstimmt, und rassifiziert von ihm wahrgenommene kulturelle
Unterschiede. Da er dem ›negro‹ per definitionem abspricht, eine
›civilisation‹ – aufrechterhalten zu können, spricht er ihm das Recht seiner
Existenz ab. Seine Begründung dieser genozidalen Gedanken ist »the gain
[…] to the whole civilised world«, d.h. das Wohl der weißen westlichen
Kultur – ein deutlicher Ausdruck der rassistischen Vorstellung vom
Wettkampf der ›Races‹. Der ›Chinaman‹, den Galton näher an der
›civilisation‹ sieht und der von ihm daher ein Recht zu existieren
zugesprochen bekommt, soll das Werkzeug der Vernichtung werden. Im
Sinne seiner Begeisterung für ›Eugenics‹ schlägt Galton vor, nicht auf die
Waffenkraft kolonialer Armeen zu setzen, sondern auf
Reproduktionskontrolle. Seine Skizzierung eines eugenischen Programms
bot in den folgenden Dekaden eine Reihe von Anknüpfungspunkten für
Diskurse um die Vernichtung Schwarzer und anderer als ›degeneriert‹
definierter Menschen und fand seine Umsetzung schließlich in der
›Rassenpolitik‹ des nationalsozialistischen Deutschlands.[11]
Der eugenische Diskurs war eng verbunden mit Diskursen um
›Mischlinge‹, die auch in der Psychologie aufgegriffen wurden. Das
typische Vorgehen psychologischer Untersuchungen zu diesem Thema
bestand darin, dass die a priori angenommenen negativen Konsequenzen
von ›Rassenmischungen‹ mithilfe von Tabellen, Statistiken und Graphiken
belegt werden sollten. Auch hier waren die Ergebnisse schon vor den
Untersuchungen in den Köpfen der ForscherInnen vorhanden und diese
bemühten sich, nun jene Tests oder Experimente zu finden, welche diese
auch reproduzierten. Manchmal musste nicht einmal dieser Anschein von
›Wissenschaftlichkeit‹ aufrecht erhalten werden: Charles Davenport, ein in
Harvard ausgebildeter Zoologe und führender Befürworter der Eugenik,
veröffentlichte 1917 den Artikel »The Effects of Race Intermingling«, in
dem er versuchte, die negativen medizinischen und psychologischen
Ergebnisse von ›Rassenmischungen‹ nachzuweisen, ein Vorhaben, dass er
auch in seinem bekannterem Buch Race Crossing in Jamaica verfolgte. Um
seine Argumentation zu stützen, reichte es Davenport, oftmals nur auf
Hörensagen basierende Berichte anzuführen. Ähnliche Untersuchungen
wurden auch von dem deutschen Mediziner Eugen Fischer, dem späteren
Leiter der eugenischen Programme des nationalsozialistischen
Deutschlands, und dem Amerikaner Raymond B. Catell, der hier aufgrund
seiner Bekanntheit in der Psychologie namentlich genannt sei, konzipiert
und durchgeführt.
Um die Jahrhundertwende begannen PsychologInnen, das von Galton
und anderen skizzierte Programm umzusetzen. Nennenswerte erste
Unternehmungen waren die Cambridge Torres Straits Expedition von 1898
und die St. Louis Ausstellung von 1904, auf der das 100jährige Jubiläum
des Erwerbs Louisianas begangen wurde. Die groß angelegte
Feldexpedition hatte die Untersuchung der Bevölkerung der Inseln der
Torres Straits zum Ziel. Auf der St. Louis Ausstellung wurden anwesende
Menschen aus Asien, Afrika und Amerika getestet, laut UntersucherInnen
Angehörige mehrerer nicht-weißer ›Races‹, und die Ergebnisse mit denen
nordamerikanischer weißer Menschen verglichen. Untersucht wurden in
beiden Fällen einfache psychophysikalische Funktionen, beispielsweise
Reizschwellen, Genauigkeit der Wahrnehmung und Reaktionszeiten. Die
Ergebnisse widersprachen den erwarteten rassistischen Annahmen der
Untersuchenden, da im Wesentlichen keine Gruppenunterschiede zu
beobachten waren. Die im Scientific Racism vorausgesetzte Differenz und
Hierarchie von ›Races‹ wurde davon jedoch nicht berührt oder in Zweifel
gezogen. Diese Annahmen waren vorwissenschaftlich und waren weder
darauf angewiesen, bewiesen zu werden, noch konnten sie durch
gegenteilige Befunde widerlegt werden. Nicht den Annahmen des Scientific
Racism entsprechende Ergebnisse wurden größtenteils ignoriert, zu
beherrschend waren die rassistischen Diskurse, als dass sie von
widersprechenden Beobachtungen in Frage gestellt werden konnten.
Stattdessen wurde nach anderen Methoden gesucht, mit denen sich die dem
Scientific Racism entsprechenden Gruppenunterschiede konstruieren ließen.
Wie diese beiden Beispiele zeigen, war die vermeintliche
›Wissenschaftlichkeit‹ des Scientific Racism ein Legitimationsmythos. Die
zentrale Aussage des Scientific Racism war, die Existenz und Hierarchie
von ›Races‹ ›wissenschaftlich‹, was in dem Verständnis jener Zeit objektiv
und neutral hieß, beweisen zu können. Zu jenem Zweck, zum Beweis und
als Bürge der ›Wissenschaftlichkeit‹ wurden statistische Berechnungen
sowie Seiten voller Tabellen und Abbildungen angeführt. Den eigenen
Ansprüchen an ›Wissenschaftlichkeit‹ folgend hätten die Grundannahmen
des Scientific Racism aufgrund der Ergebnisse von St. Louis und Torres
Straits in der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften in Frage
gestellt werden müssen. Da die vermeintliche ›Wissenschaftlichkeit‹ jedoch
vorrangig der Legitimation der rassistischen Annahmen des Scientific
Racism diente, konnten diese auch nicht durch gegenteilige Befunde
widerlegt werden. Das Interesse an derartigen Untersuchungen nahm
allerdings unseres Erachtens wahrscheinlich aufgrund dieser nicht den
Erwartungen entsprechenden Ergebnisse für einige Zeit wieder ab.
Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einem fast
explosionsartigen Anwachsen der Forschung im Bereich der damals so
genannten Race Psychology, die, konzeptuell im Scientific Racism
verankert, in erster Linie auf die USA begrenzt war. Während der Scientific
Racism des 19. Jahrhunderts als Rechtfertigung kolonialer Eroberung, von
Ausbeutung und Massenmorden entstanden war, muss die Race Psychology
eher im Kontext der Rechtfertigung der Segregation und Diskriminierung
Schwarzer Menschen in den USA gesehen werden. Typische
Untersuchungen der Race Psychology waren beispielsweise so angelegt,
dass sie Ergebnisse produzierten, die eine getrennte Beschulung weißer und
Schwarzer Kinder zu befürworten schienen. Ausgelöst wurde dieser Boom
durch die Entwicklung des Simon-Binet Intelligenztests (1905) in
Frankreich und dessen Adaptierung und Weiterentwicklung in den USA als
Stanford-Binet Intelligence Scale (erste Version von 1916; neuere Versionen
sind bis heute in Verwendung). Im Gegensatz zu den früheren
psychometrischen Instrumenten basierte die Skala von Binet zu einem
großen Teil auf sprachlichen Verfahren und testete Fähigkeiten wie
›Schlussfolgerung‹ und ›Problemlösen‹. Diese Tests waren weitaus stärker
von Schulbildung und Erziehung abhängig und auf Angehörige einer
europäisch-amerikanischen Kultur zugeschnitten als die ihnen
vorausgehenden psychometrischen Verfahren. Ihre Ergebnisse produzierten
Unterschiede in der Intelligenz verschiedener ›Races‹, da ihre Konzipierung
Angehörige einer weißen Kultur deutlich bevorteilte. Die Theorien und
Konzepte von Intelligenz, auf denen diese Tests basieren, sind innerhalb
einer weißen Kultur entwickelt worden, spiegeln diese wieder und
beinhalten – sofern sie auf Angehörige einer anderen Kultur bezogen
werden – die Annahme der Universalität weißer Auffassungen von
Intelligenz. Es ist beispielsweise leicht nachzuvollziehen, dass Personen,
die jahrelang in der Schule unter Zeitdruck schriftliche Tests bearbeitet
haben, allein schon aus diesem Grund bei auf Stift und Papier basierenden
Intelligenztests im Vorteil sind. Des Weiteren werden Tests oftmals so
konstruiert, dass sie schulischen oder akademischen Erfolg möglichst genau
vorhersagen können, d.h. sie messen Fähigkeiten, die Inhalt schulischer
Erziehung sind und dort trainiert werden.[12] Schließlich werden in
Intelligenztests nicht die unterschiedlichen Lebensbedingungen und
differierenden sozioökonomischen Situationen weißer und Schwarzer
Menschen berücksichtigt.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Race Psychology entstand in
der Psychologie zugleich auch eine kritische Gegenbewegung, welche die
zentralen Annahmen von Race Psychology und Scientific Racism in Frage
stellte. Wie die Race Psychologie war auch ihre Opposition vornehmlich in
den USA zu finden. Sie war heterogen zusammengesetzt und die Kritik
unterschiedlich motiviert, formuliert und begründet.[13] Zur Vereinfachung
lässt sie sich zu vier, zum Teil auch widersprüchlichen Argumenten
zusammenfassen: Erstens können Unterschiede jedweder Art auf einen
Einfluss der Umwelt zurückgeführt werden. Zweitens ist die Gleichheit
aller Menschen ein moralischer Imperativ, der über empirischen Befunden
steht. Drittens gab es methodologische Einwände gegen vergleichende
Untersuchungen von ›Races‹ und viertens wurde ›Race‹ schließlich als ein
soziales und kulturelles Konstrukt betrachtet, als Mythos um Ungleichheit
und Diskriminierung zu rechtfertigen. Insbesondere dieses Argument führte
dazu, dass gegen Ende der 30er Jahre die Race Psychology in den USA so
gut wie verschwunden war. Gestützt wurde diese Sicht sowohl durch neuere
Erkenntnisse der Genetik als auch durch das abschreckende Beispiel der
›Rassenpolitik‹ des nationalsozialistischen Deutschlands. Darüber hinaus
hatte die in den später 20ern und 30ern erstarkte Schwarze
Bürgerrechtsbewegung einen großen Anteil an der veränderten
Thematisierung von ›Race‹. Mit dem Verschwinden der Race Psychology
vollzog sich ein Paradigmenwechsel in der Psychologie. Diese wandte sich
ab den späten 20er Jahren vermehrt der aus der Sozialpsychologie und
Soziologie kommenden Einstellungs- und Vorurteilsforschung zu. Nun
wurden Vorurteile als Ausgangspunkt ›rassischer‹ Konflikte und
Spannungen angesehen. Im Mittelpunkt psychologischer Untersuchungen
standen nun die Natur von Vorurteilen, ihre Veränderbarkeit und die
Auswirkungen auf ihre Opfer. Dieser Umschwung fand zuerst und am
deutlichsten in den USA statt, wurde später aber auch in Europa vollzogen.
Das Beispiel Galtons zeigt, dass Teile der Psychologie unter dem
Einfluss des Scientific Racism entstanden waren und die Psychologie
gleichfalls einen Beitrag zur Ausgestaltung des Scientific Racism leistete.
Galtons zentrales Thema war die Erblichkeit von Eigenschaften und vor
allem der Intelligenz. Mehrere seiner methodischen Neuerungen – so die
Entwicklung der Korrelation und die Einführung der Normalverteilung –
sind vor diesem Hintergrund entwickelt worden, oft mit konkreten
Vorschlägen, wie sie einzusetzen seien. Er skizzierte ein Programm, das
darauf hinauslief, Gruppenunterschiede zu erfassen und zu rassifizieren.
Zentrale Annahmen des Scientific Racism – Existenz und Hierarchie
biologisch fundierter ›Races‹ vor einem evolutionstheoretischen
Hintergrund – wurden in die Psychologie übernommen und in von ihr zu
untersuchende Fragestellungen umgesetzt. Die Psychologie besaß zur Zeit
ihrer Etablierung noch kein abgestecktes Forschungsgebiet, sie war noch
dabei, ihre Aufgaben und Inhalte zu finden und zu bestimmen. Es war
keineswegs festgelegt, dass ›Race‹ und die Beschäftigung mit
Gruppenunterschieden im Allgemeinen dazu gehören und Teil der
Psychologie sein würde. Der oftmals als Begründer der Psychologie
bezeichnete Wilhelm Wundt, Zeitgenosse Galtons, vertrat eine andere
Position und betrachtete die Untersuchung von Gruppenunterschieden als
nicht zur Psychologie gehörig. Wundt unterteilte die Psychologie in zwei
Bereiche: die allgemeine oder Individualpsychologie und die
Völkerpsychologie, die trotz ihres Namens keine völkervergleichende war,
sondern ›Erzeugnisse‹ – wie Religion oder Sprache – zum Inhalt hatte, »die
aus der Gemeinschaft des menschlichen Lebens hervorgehen, und die nicht
aus den Eigenschaften des einzelnen Bewußtseins allein zu erklären sind,
weil sie die Wechselwirkung vieler voraussetzen.«[14] Die Rassifizierung
von Gruppenunterschieden in der Gründerzeit der Psychologie und durch
die Race Psychology wirkt bis heute nach und findet ihre Nachfolger. Die
Frage nach dem Anteil des Einflusses von Erbe und Umwelt auf Intelligenz
und andere Eigenschaften ist eine zentrale Fragestellung innerhalb der
Psychologie, und es finden sich immer wieder PsychologInnen, die dieser
Frage mit Blick auf ›Races‹ nachgehen. Ein Beispiel ist Arthur R. Jensen,
der 1969 im Harvard Educational Review einen Artikel veröffentlichte, in
dem er behauptete, dass der IQ unter genetischer Kontrolle stehe und
deshalb zu beobachtende IQ-Unterschiede zwischen ›Races‹ auf genetische
Faktoren zurückgingen. Ein weiteres, aktuelleres Beispiel ist das Buch The
Bell Curve von Herrnstein und Murray, in dem in der Tradition der Race
Psychology Intelligenz, ›Race‹ und Genetik zusammenführt werden. Der
Scientific Racism hat seine Spuren in der Psychologie hinterlassen, die sich
bis heute in den Fragestellungen und der Methodik der Psychologie wieder
finden lassen.[15]

BLACK PSYCHOLOGY
Das Beispiel der bei Intelligenztests oftmals zu beobachtenden Differenzen
zwischen ›Races‹ zeigte, dass in der Psychologie existierende Konzepte und
Normen zu einem hohen Maße kulturabhängig sind, allzu schnell aber als
allgemeingültig angesehen werden. Die Universalität psychologischer
Erkenntnisse ist nicht nur im Bereich der Intelligenzforschung mehr als
fragwürdig. Weiße Normen und Konzepte für Kognitionen, Affekte und
Verhaltensmuster können keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Wie
andere Sozialwissenschaften ist die Psychologie zu einem hohen Maße weiß
und eurozentrisch ausgerichtet und interessiert sich kaum für den Einfluss,
den ›Race‹, eine soziale Realität weiß dominierter Gesellschaften, auf
bewusstes und unbewusstes Denken weißer und Schwarzer Menschen
ausübt. Die Erfahrungen und Empfindungen Schwarzer Menschen finden
keinen Niederschlag im Mainstream der Psychologie. Auf Grundlage dieser
Kritik wurde Ende der 60er Jahre der Ansatz der Black Psychology von
Schwarzen US-amerikanischen PsychologInnen ins Leben gerufen, um die
Erfahrungen der Schwarzen Bevölkerung der USA in den Mittelpunkt zu
rücken und eine diesen gerecht werdende Psychologie zu entwickeln. Zu
den Faktoren, welche sowohl Schwarze und weiße Erfahrung voneinander
unterscheiden als auch prägend für Schwarze Lebensrealitäten sind, zählen
Geschichte und Erfahrung der Sklaverei, der fortdauernde Rassismus und
der Einfluss Schwarzer Kultur.[16] Die drei Aspekte existieren nicht
unabhängig voneinander, sondern sind im Gegenteil eng miteinander
verknüpft – Schwarze Kultur in den USA ist kaum ohne Berücksichtigung
der Erfahrung der Sklaverei und fortgesetzter Diskriminierung denkbar. Aus
europäischer Perspektive sollte einschränkend ergänzt werden, dass die
Black Psychology eine US-amerikanische Disziplin ist und aufgrund der
unterschiedlichen Geschichte und unterschiedlicher Lebensrealitäten
Schwarzer AmerikanerInnen und Schwarzer EuropäerInnen ihre
Erkenntnisse nicht ohne Weiteres nach Europa übertragen werden können.
Der Psychologie – insbesondere der klinischen – ist bewusst, dass ein
Störungskonzept immer nur durch Abgrenzung zu einer definierten
Normalität möglich ist, die sich meistens aus allgemeinen gesellschaftlichen
Werten und Normen ergibt. Entsprechend besitzen Gesellschaften mit
unterschiedlichen Normen ein unterschiedliches Verständnis davon, was
abweichend oder gestört ist. Die akademische Psychologie kann als fast
ausschließlich weißes westliches Produkt betrachtet werden, das aus einer
europäischen Tradition heraus entstanden ist, sich bis heute vor allem in
Europa und Nordamerika weiterentwickelt hat und dessen
Untersuchungsobjekt weiße Menschen in europäisch-nordamerikanischen
Gesellschaften sind. Dies gilt insbesondere für die empirisch-quantitativ
ausgerichtete Psychologie, wie sie an den Universitäten Europas und
Nordamerikas gelehrt wird und kann für davon differierende Psychologien
anders aussehen. Die aus der akademischen Psychologie weitgehend
verdrängte Psychoanalyse ist beispielsweise in Südamerika fest verankert
und in diesem Kontext weiterentwickelt worden. Die Konzeptualisierung
Schwarzer Kultur und die damit verbundene Bestimmung Schwarzer
Normen und Werte werden in der Black Psychology auf unterschiedliche
Art und Weise in Angriff genommen. Zwei wesentliche Ansätze sind zum
einen der psychologische Afrozentrismus und zum anderen die Betonung
von erlebtem Rassismus und erfahrener Diskriminierung für die
Psychologie Schwarzer AmerikanerInnen. John S. Mbiti nennt in African
Religions and Philosophy Religion, Geister, Vorfahren und mystischen
Glauben als wichtige Bezugspunkte afrozentrischen Denkens. Joseph A.
Baldwin, Autor der African Consciousness Scale, spricht von verschiedenen
›Kosmologien‹, innerhalb derer die Psychologien weißer und Schwarzer
AmerikanerInnen funktionieren. Diese kosmologischen Systeme »therefore,
represent fundamentally different ontological systems and cultural
definitions, which reflect their distinct approaches to conceptualizing,
organizing and experiencing reality«.[17] Er führt beispielsweise an, dass
die weiße europäisch-amerikanische Kultur geprägt sei von einem Streben
nach Herrschaft und Kontrolle, einer Ethik des ›Überleben des Stärkeren‹,
Zukunftsorientierung, Individualismus, Materialismus, Künstlichkeit,
Aggression, weißer Vorherrschaft und Rassismus. Die afrozentrische
Kosmologie ist dem entgegen ausgerichtet auf Harmonie und Einheit mit
der Natur, Kollektivismus, Gleichheit, Spiritualität und Rituale. Die beiden
»Kosmologien« besitzen unterschiedliche Normen und entsprechend
differierende Definitionen davon, was abweichend oder ›gestört‹ ist.
Verhalten, Affekte und Einstellungen Schwarzer Menschen wurden
oftmals maßgeblich durch Auseinandersetzungen mit und Widerstand gegen
eine dominante weiße Gesellschaft geprägt. Die beiden Schwarzen
Psychiater William H. Grier und Price M. Cobbs geben in ihrem 1968
erschienenen Buch Black Rage eine narrative Beschreibung der
psychologischen ›Schwarzen Norm‹. Zusammengefasst sprechen sie von
einer Tendenz Schwarzer Menschen, ablehnend und rebellisch gegenüber
einem sozialen System zu sein, dass sie in weiten Teilen und auf
verschiedene Arten benachteiligt und diskriminiert. Sie entwickeln ein
tiefsitzendes Misstrauen weißen Menschen gegenüber und versuchen, sich
durch ständige Aufmerksamkeit und Wachsamkeit vor Demütigungen und
Misshandlungen zu schützen. Diese Einstellungen stehen in Verbindung mit
der Erfahrung Schwarzer Menschen, auf unbedeutende und ›Minderheiten‹-
spezifische Rollen in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde oder der
Gesellschaft als ganzer beschränkt zu sein. Die Psychotherapeutin Betty
Davis sieht die Wut Schwarzer Menschen als Reaktion auf Rassismus und
Unterdrückung:
As a consequence of racial roles in society, it is normal for Blacks to express anger as a healthy
response to oppression and racism, better known as sublimation. Psychotherapists must begin to
recognize and accept this anger as a healthy cultural response and assist Black clients to find
constructive outlets for these feelings, instead of labelling them pathological. The clients’
responses to stressors and/or behaviours through self-actualization may be a valuable means of
support in working through the reactions to feelings of anger or aggression.[18]

Diese Beschreibung von Wut als einer gesundheitsförderlichen Reaktion


Schwarzer Menschen steht im Kontrast zum Mainstream der weißen
klinischen Psychologie, die Wut als pathologisch einschätzen würde und
beispielsweise als Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung diagnostizieren
würde. Der Universalitätsanspruch weißer Diagnosesysteme hat aber nicht
nur die Pathologisierung ›normaler‹ Schwarzer Verhaltensweisen – wie die
Ablehnung sozialer Strukturen, die von weißer Dominanz geprägt sind –
zur Folge, sondern ist auch ignorant gegenüber den psychischen Folgen von
Rassismus und Diskriminierung und gegenüber innerhalb der Black
Psychology als gestört zu bezeichnenden Verhaltensweisen. Diese
Problematik des Relativismus von Normen ist in Bereichen der weißen
Psychologie, die sich mit Menschen verschiedener Kulturen und
Gesellschaften auseinandersetzen, bekannt. Allzu leicht wird allerdings der
unzureichende Blickwinkel eines einfachen Kulturrelativismus
eingenommen, der zwar konstatiert, dass an unterschiedlichen Orten und
Zeiten verschiedene gesellschaftliche Werte und Normen existieren, der
jedoch verschiedene ›Kulturen‹ tendenziell als distinkte Entitäten betrachtet
und gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht berücksichtigt. Um ignorante
und rassistische Konzeptualisierungen – wie ein weiß-normiertes
Diagnosesystem – in der Psychologie verändern zu können, wäre es
notwendig, dass sich die Psychologie der Whiteness ihrer eigenen Konzepte
und Fragestellungen bewusst wird und anfängt, die damit einhergehenden
rassistischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen zu bekämpfen.

BIBLIOGRAFIE
Akbar, Na’im: Chains and Images of Psychological Slavery. Jersey City: New Mind Productions,
1984
Baldwin, Joseph A.: »The African Self-Consciousness Scale. An Africentric Personality
Questionnaire.« In: The Western Journal of Black Studies 9(1985): 61-68
Davenport, Charles: »The Effects of Race Intermingling.« In: Proceedings of the American
Philosophical Society 56(1917): 364-368
Morris Staggerda: Race Crossing in Jamaica. Washington, DC: Carnegie Institute of
Washington, 1929
Davis, Betty: »Anger as a Factor and an Invisible Barrier in the Treatment of Black Clients.« In: The
Western Journal of Black Studies 40(1980): 29-30
Galton, Francis: Hereditary Genius. An Inquiry into Its Laws and Consequences. London: Fontana,
1869
Graumann, Carl Friedrich: Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin: Springer Verlag, 1985
Grier, William H. & Price M. Cobbs: Black Rage. New York: Basic Books, 1968
Guthrie, Robert V.: Even the Rat was White. A Historical View of Psychology. New York: Harper &
Row, 1976
Helms, Janet, Maryam Jernigan & Jackquelyn Mascher: »The Meaning of Race in Psychology and
How to Change it.« In: American Psychologist 60(2005): 27-36
Herrnstein, Richard J. & Charles Murray. The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in
American Life. New York: Free Press, 1994
Jensen, Arthur: »How much can we boost IQ and educational achievement?« In: Harvard
Educational Review 39(1969): 1-123
Klineberg, Otto: Race Differences. New York: Harper, 1935
Lombroso, Cesar: The Female Offender. London: T. Fisher Unwin, 1895 (Erstveröffentlichung 1892
in Italienisch)
Mbiti, John S.: African Religions and Philosophy. Garden City, NY: Anchor Books, 1970
Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt/M.: Fischer, 1996
Pearson, Karl: The Life, Letters and Labours of Francis Galton (Bd. 1-3). Cambridge, UK:
University Press, 1914-1930
Richards, Graham: ›Race‹, Racism and Psychology. Towards a Reflexive History. London:
Routledge, 1997
Row, Daniel: »IQ, Birth Weight, and Number of Sexual Partners in White, African American, and
Mixed-Race Adolescents.« In: Population 23(2002): 513-524
Weingart, Peter, Jürgen Kroll & Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und
Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988
Winston, Andrew: Defining Difference. Race and Racism in the History of Psychology. Washington:
American Psychological Association, 2004
Wundt, Wilhelm: Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig: Alfred Kröner, 1912

ANMERKUNGEN
1 Mit Even the Rat was White ist ein Buch von R.V. Guthrie betitelt, das die Ausgrenzung
Schwarzer PsychologInnen sowie ihren Beitrag zur Psychologie zum Inhalt hat. Der Titel
bezieht sich auf klassische Experimente der Lernpsychologie, in denen mit Vorliebe weiße
Ratten verwendet wurden.
2 Vgl. Helms, Jernigan & Mascher: »The Meaning of Race in Psychology and How to Change it«.
3 Ein Beispiel bildet Rowe: »IQ, Birth Weight, and Number of Sexual Partners in White, African
American, and Mixed-Race Adolescents«.
4 Die Ausführungen zur Geschichte der Psychologie stützen sich im Wesentlichen auf Richards:
›Race‹, Racism and Psychology und Winston: Defining Difference.
5 Der Schwerpunkt des vorliegenden Textes liegt auf der Zeit von 1870 bis 1930. Das für
Deutschland wichtige Thema der rassistischen Psychologie während des Nationalsozialismus
wird deshalb nicht behandelt. Einen Einstieg bietet das 1985 erschienene Buch Psychologie im
Nationalsozialismus von C.F. Graumann, welches – über 40 Jahren nach Kriegsende – das erste
in Deutschland zu diesem Thema veröffentlichte war.
6 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa.
7 Aus traditioneller christlicher Sicht wurden Schwarze AfrikanerInnen als Nachkommen
Kanaans – ein Sohn Hams – betrachtet, von dem die Bibel berichtet, dass er von Noah verflucht
wurde, da er seinen unbekleideten Vater angeschaut hatte.
8 Ein früheres Modell war die Great Chain of Being, die auf Plotinus (205–270) zurückgeht und
während der Renaissance durch den Neoplatonismus weiterentwickelt wurde. In ihrer
naturalisierten Version war sie eine scala naturae, ein Ranking von Tieren und Menschen, das
auch Races hierarchisierte.
9 Galton: Hereditary Genius, S. 23
10 Nachdruck des Briefes in Pearson: The Life, Letters and Labours of Francis Galton (Bd. 2), S.
33.
11 Vgl. Weingart, Kroll & Bayertz: Rasse, Blut und Gene.
12 Der Intelligenzforschung ist die Kulturabhängigkeit von Intelligenztests durchaus bekannt,
woraufhin versucht wurde kulturunabhängige Tests zu entwickeln. Ein Beispiel ist der Cultural
Fair Intelligence Test, der ohne sprachliche Aufgaben auskommt. Allerdings wird auch dieser
Test auf Papier dargeboten und die Aufgaben – z.B. Reihen erkennen oder Symbole
manipulieren – weisen eine hohe strukturelle Ähnlichkeit zu in der Schule vermittelten
Fertigkeiten auf.
13 Als ein wichtiger Kritiker der Race Psychology sei der Sozialpsychologe Otto Klineberg von der
Columbia University genannt. Zu seinen zentralen Beiträgen gehört die Monographie Race
Differences.
14 Wundt: Elemente der Völkerpsychologie, S. 11.
15 Race war nur eine von mehreren prominenten Kategorien, nach denen Gruppen eingeteilt und
miteinander verglichen wurden. Diskurse um die Bewertung von Races unter dem Gesichtspunkt
ihrer geistigen und charakterlichen Eigenschaften waren mit ähnlichen Diskursen um Gender,
Klasse oder Delinquenz verbunden, die sich oftmals gegenseitig ergänzten und stützten, wie in
dem Buch The Female Offender von Cesar Lombroso: »the primitive type of a species is more
clearly represented in the female« (S. 109).
16 Vgl. Akbar: Chains and Images of Psychological Slavery.
17 Baldwin: »The African Self-Consciousness Scale«, S. 62.
18 Davis: »Anger as a Factor«, S. 29.
MARÍA DO MAR CASTRO VARELA & NIKITA DHAWAN
OF MIMICRY AND (WO)MAN:
DESIRING WHITENESS IN POSTCOLONIALISM

»Turn White or disappear« (Frantz Fanon)[1]

Mimicry is one of the key concepts within contemporary critical discourses


like feminism, psychoanalysis and postcolonial[2] theory. In his discussion
of racial stereotyping, the postcolonial theorist Homi Bhabha analyses the
workings of colonial mimicry within British India. For Bhabha, even as
mimicry manifests one of the most elusive and effective strategies of
colonial power, it is at once a site of resistance, which fractures the
colonizers identity and authority. Bhabha’s notion of mimicry has been
extremely popular among the so-called counter-discourses that seek to
challenge hegemonic identities and formations within postcolonial contexts.
Here mimicry of dominant cultures and identities are seen as moments of
subversion that rupture the working of hegemonic discourses. Bhabha
contends that »mimicry marks those moments of civil disobedience[3],
wherein the »disavowal of the position of the migrant woman – her social
and political invisibility – is used by her in her secret art of revenge,
mimicry«.[4]
This paper examines Bhabha’s arguments regarding colonial mimicry
and its postcolonial versions to locate its limits for a postcolonial queer-
feminist[5] politics. Our analysis of the practice of skin lightening[6] as an
example of »mimicking whiteness« seeks to problematize the
straightforward understanding of mimicry as resistance proposed by
Bhabha. To this end we examine how the (re-)colonization of desires in
times of globalization continues to produce the white body as beautiful and
desirable. One of the consequences of this is that the practice of skin-
bleaching is becoming increasingly popular not only in postcolonial
contexts like in countries of the African and Asian Continents, but also, for
example, among European women of colour and migrant women of colour
in ›western‹ countries like Germany. Interestingly, one of the biggest
producers of these fairness products Nivea, which is based in Germany[7],
does not promote its fairness cream »Nivea fair« in Germany or in any of
the other European countries. Rather they target markets in postcolonial
contexts like countries of the African Continent and the Middle East
countries. The official website of Nivea lists its products countrywise,
whereby the fairness products are only available in certain overseas
markets. The marketing slogan for »Nivea fair« claims that the product is a
»boon to those who desire a naturally fair complexion«.[8] The term Nivea
itself is derived from the Latin word »nivis« which means »snow white«,
evoking the metaphor of »white as snow«. On the other hand, in ›Asian‹
and ›African‹ shops in Germany as well as all over Europe, these fairness
products are imported from countries like India and are consumed by
women of colour. The ›fairness industry‹ brings in millions of dollars of
profits annually for European and US-American Multinational Companies,
even as the link between these skin-lightening products and skin-problems
is being increasingly demonstrated.[9]
In her work, the Somali-Canadian sociologist Amina Mire has
extensively investigated the practice of skin-bleaching, and its link to the
ways in which whiteness historically has come to be viewed as the
›paradigm‹, the ›standard‹ universal human body, while Blackness is seen
as ›deviant‹, ›degenerate‹ and ›ugly‹.[10] Examining literature from
medical and dermatology journals, fashion magazine ads, website ads for
skin-bleaching products, critical literature on race and gender as well as
through interviews with women of colour who use highly dangerous
chemicals in order to lighten their skin tone, Mire explores the medical,
social, political and cultural implications of this destructive practice.
Furthermore, she has engaged in the study of various skin-bleaching agents
and other products on the beauty market which claim to have the formula to
make ›darker‹ skins whiter. She demonstrates how the chemical agents
applied to the skin for bleaching arrest the synthesis of the skin pigment
melanin. In many cases, this leads to the complete destruction of the
melanocytes (tissues located in the epidermis which are responsible for the
synthesis of melanin).[11] These ›beauty‹ products contain harmful
chemicals such as mercury, topical corticosteroids and are often highly
cancerous. Mire also scandalizes the western medical community’s views
with respect to the medical and social implications of skin-bleaching that
clearly demonstrate the racist and sexist manner in which they treat those
who suffer from the results of skin-bleaching chemicals.[12] She explains
how skin-bleaching has historically been seen by the western medical
establishment as a ›minor‹ problem pertaining to a ›few‹ women of colour
who futilely desire to possess whiteness by bleaching their skin in the hope
to ›pass‹ as white.[13] By underplaying the gravity of risk posed by the
practice of skin-bleaching, the medical community is complicit in the
process.[14]
Despite the risks and protests against these skin-lightening products, they
continue to be commonly used by millions of women of colour all over the
world who desire to achieve a ›fairer‹ skin.[15] This raises the question of
why should such a dangerous practice be so popular among postcolonial
women of colour? Can one simply write it down to ›ideology‹ or
›ignorance‹ of a few misguided women of colour? Or does the desire for
whiteness entail a more complex challenge to the processes of
decolonization? The consequences of hundreds of years of colonial value
coding and its reinforcement in neo-colonialism cannot be simply wished
away.[16] To deny that the consciousness of the postcolonial subject has
been shaped by processes of colonization is to deny the violent history of
the effectiveness of colonial power, what Spivak calls »denying its own
›worlding‹«[17]. Thus a mere formal transfer of power does not
automatically guarantee a regime of post-whiteness.
The postcolonial feminist Anne McClintock speaks of »commodity
racism« in contrast to »scientific racism«, whereby she explores Victorian
forms of advertising, photography and museum exhibitions which
discursively converted the narrative of imperial progress into mass-
produced »commodity spectacles«.[18] For example, McClintock traces the
story of soap and the different forms of soap advertisings to explore the
imposition of a commodity economy on African cultures.[19] In particular
her analysis of the famous Pears soap campaign demonstrates how the
magical fetish of soap promises that the commodity can wash from the skin
the very stigma of ›racial degeneration‹.[20] McClintock thereby traces
how imperial capitalism functions through creation of desire for the
›civilizing‹ commodity that is inextricably intertwined with colonial racism
and hetero-patriarchy.
Along similar lines, skin-lightening products can be seen as an instance
of »commodity racism«, whereby our paper proposes to examine the
complex working of the same within neo-colonial economy and its link to
hetero-patriarchy. In exploring the difference between ›being white‹ and
›becoming white‹, we seek to demonstrate the shortcomings of Bhabha’s
»ungendered mimicry« from a postcolonial queer-feminist perspective. In
our opinion, the (hetero-)sexist workings of counter-discourses is
conveniently overlooked in Bhabha’s work, whereby an analysis of the
discourse of »desiring whiteness« demonstrates the stabilizing aspects of
»gendered mimicry« in postcolonialism and explores it as a site of neo-
colonial power in times of globalisation. Here capitalist, hetero-patriarchy
clearly intersects the white supremacist discourse to produce the desire for
whiteness, whereby the body of the postcolonial woman of colour persists
being the ideological battleground for perpetuation of hegemonic
discourses. Our paper thereby challenges the unequivocal understanding of
mimicry as a site of resistance.

THE AMBIVALENCE OF RACIAL STEREOTYPING


In his analysis of contemporary cultural and political issues, the
postcolonial theorist Homi Bhabha, explores questions of race, ethnicity
and migration and its relation to postcolonialism. Bhabha’s colonial
discourse analysis principally focuses on 19th Century British India and the
cultural consequences thereof. In his work, he seeks to move beyond the
understanding of colonial relations in terms of systems of binary
oppositions that tend to reify the neat division between colonizer and
colonized. The positing of a simple dualism between power and
powerlessness negates the possibility of negotiation or resistance. Bhabha
finds these dualisms to be a historical and theoretical simplification. In
contrast, he seeks to emphasize the reciprocities and negotiations across the
colonial divide, whereby for him the relationship between colonizer and
colonized is more complex and fractured than traditionally implied. Bhabha
argues that colonial relations are informed by circulation of contradictory
patterns of responses (for example, fascination as well as fear of the Other),
thereby undermining the assumption that the identities and positionings of
colonizer and colonized exist in unitary terms and necessarily in conflict
with each other. According to Bhabha, the representation of the Other in the
Western discourse evidences a profound ambivalence toward that
Otherness, which is at once an object of desire and disdain. He tells us that
the colonial relationship is structured on both sides by forms of multiple
and contradictory belief, whereby colonial power is unstable and subject to
the effects of conflictual economy.[21]
In contrast to traditional colonial analysis, Bhabha shifts focus from the
›public sphere‹ of law, economics and military practices to questions of
identity-formation within the colonial context. To this end, Bhabha adapts
Jacques Lacans arguments, whose critical interpretations of Freud underlie
Bhabha’s principal theoretical premises. According to Bhabha, Fanon
already anticipates his employment of Lacanian theory for analysis of
colonial relations in his book Black Skin, White Masks. Bhabha argues that
Fanon disturbs the familiar alignment of colonial subjects into Black/white,
Self/Other so as to disperse the traditional grounds of racial identity-
formation thereby, conceiving colonial relations as dynamic and shifting
rather than static in their modes of operation.[22]
The unstable psychic sphere of colonial relations is illustrated by Bhabha
through his analysis of the workings of colonial stereotype. Bhabha does
not seek to correct the ›mistaken‹ representations of the Other constructed
by the colonizing metropolitan culture, nor does he seek to offer ›positive‹
images or ›reverse stereotypes‹ of the colonized as put forth by certain
modes of anti-colonial nationalist discourses.[23] Instead, he rejects
accounts of the psychic economy of stereotype that fail to register the
ambivalent and conflictual nature of neo-colonial relations.[24] In contrast
to traditional positions that presume stereotypes to offer a fixed and secure
point of identification, Bhabha interprets the regime of stereotype as
evidence not of the stability of the disciplinary gaze of the colonizer or
security in his own conception of himself, but of the degree to which the
colonizer’s identity and also authority is in fact fractured and destabilized
by contradictory psychic responses to the colonized Other. He explores the
dependence of colonial discourses on concepts of fixity in its representation
of the unchanging identity of subject peoples (for example, in the
stereotypes of the »noble savage«) to unfold the curiously contradictory
effect in the economy of stereotype, whereby what is supposedly already
known must be endlessly reconfirmed through repetition. In his discussion
of the problem of discrimination as the political effect of the stereotypical
racial discourse, Bhabha seeks to relate it to the question of ›race‹ and
›skin‹.[25] He shows how skin as the key signifier of cultural and racial
difference in the stereotype, is the most visible of fetishes, recognized as
›common knowledge‹ in a range of cultural, political and historical
discourses and plays a public part in the racial drama that is enacted every
day in postcolonial societies.[26] Skin as a signifier of discrimination must
be (re)produced or processed as visible. Thus, according to Bhabha, the
›already known‹ is not as securely established as the rhetorical power of the
stereotype might imply.
This in turn points to a ›lack‹ in the colonizer’s psyche, which is
exemplified in the way the stereotype requires the colonizer to identify
himself in terms of what he is not.[27] That the colonizer’s identity partly
depends upon a relationship with this potentially confrontational Other for
its constitution undermines the stability of his identity. The structure of
affective ambivalence on the part of the colonizer manifests itself in a
consistent pattern of conflict in colonial discourse.[28] Bhabha gives the
example, of how the colonised subject can be both ›savage‹ (›cannibal‹) and
yet the most obedient and dignified of servants (the bearer of food), an
embodiment of rampant sexuality and yet innocent as a child; mystical,
›primitive‹, simple-minded and yet the most worldly and accomplished liar
and manipulator of social forces.[29]
Bhabha’s analysis charts a radical departure from the traditional
conception of colonial discourse, whereby he focuses on the contradictions
and anxieties that are apparent in these mixed modes of representation. This
demonstrates how the colonial discourse is never quite as authoritative and
unified as it claims to be. Moreover, it also problematizes both the claim for
a single political-ideological intention of the colonizer, as well as the
unequivocal instrumentalist relation of power and knowledge assumed by
other postcolonial theorists. Bhabha demonstrates how the construction and
representation of the Other is in no manner straightforward within colonial
discourses. Through an in-depth analysis of the process of colonial
stereotyping of natives and their cultures, Bhabha suggests that, contrary to
what the very word ›stereotype‹ might imply, what is at issue is not a simple
matter of the crudity of the stereotype as opposed to the complexity of the
actual peoples being characterized.[30] Rather, Bhabha shows that the
colonial stereotype is a complex, ambivalent, contradictory mode of
representation, as anxious as it is assertive. In racial stereotyping colonial
power produces the colonized as a fixed reality which is at once an Other
and yet entirely knowable and visible. The contradictory structure of
colonial discourse implies that its mastery is asserted, but is also always
slipping, ceaselessly displaced, never complete.
Bhabha shows how the authority of colonial power was not easily
possessed by the colonizer, as previously argued. His concern is to unfold
the ambivalence in colonial and colonizing subjects by articulating the inner
dissension within the colonial discourse structured according to the
conflictual economy of the psyche. He argues that without such instability
of power, anti-colonial resistance would itself be powerless, whereby he
focuses on the hesitancies and irresolution of what is being resisted. Bhabha
seizes upon many of the theoretical difficulties encountered by his
forerunners (like Edward Said and Frantz Fanon) as indications of
processes that occur during the construction and exercise of colonial
knowledge and power. Colonialism is identified as the discourse which
betrays a dissonance implicit in Western knowledge. The ambivalence of
colonial discourse implies that per definition it cannot be approached in
terms of a single illuminating concept.[31]

OF MIMICRY AND MAN


In his influential essay Of Mimicry and Man, Bhabha locates mimicry as
one of the most elusive and effective strategies of colonial power and
knowledge. Bhabha develops Lacan’s remarks regarding the concept of
mimicry that offers a new term for the construction of the colonial Other in
certain forms of stereotyping, a colonial subject who will be recognizably
the same as the colonizer but still different: »not quite/not white«.[32] He
defines colonial mimicry as the »desire for a reformed, recognizable Other,
as a subject of a difference that is almost the same, but not quite«.[33] The
colonizer demands that the colonised subject imitate and adopt the values
and norms of the colonizing self. Mimicry, thereby, represents the ›epic‹
project of the mission civilisatrice to reform the colonized Other.[34]
Bhabha gives the example of colonial educational policies in India that
aimed to create Europeanised natives who would function as a class of
interpreters between the colonizers and millions of Indians whom they
governed. In the infamous words of the Governor General of British India
Thomas Macaulay this would be »a class of persons, Indian in blood and
colour, but English in taste, in opinion, in morals and in intellect«.[35] But
colonial mimicry as a system of subject formation only aimed at a partial
›re-form‹ of the native, whereby the underlying premise was that Indians
can mimic but never exactly reproduce English values. The recognition of
this perpetual gap between the »mimic men« and the ›authentic English‹
would induce the subjection of the natives.[36] Because it operates in the
affective and ideological spheres in contrast to policies of domination based
on brute force, mimicry constitutes for Bhabha one of the most efficient
strategies of colonial control.[37]
On the other hand, however, the disciplinary gaze of the colonizer is
destabilized by a ›blind-spot‹ that is the consequence of the crucial
differentiation, which the strategy of mimicry requires between being
English and being Anglicised.[38] Colonial control is dependent upon the
›gap‹ between these two terms, which sustains the hierarchized distinction
between the colonizing and colonized subjects. The colonial discourse, on
the one hand, proposes the colonized subject’s potential for reformation
through benevolent imperial guidance, which, on the other hand, is
contradicted with the irreconcilable ›ontological difference‹ of the
colonized subject.[39] At the heart of mimicry, then, is a destabilizing
›ironic compromise‹ that is the effect of a flawed colonial mimesis that
ensures its own »strategic failure«.[40] Thus, the discourse of mimicry is
constructed around an ambivalence, whereby in order to be effective,
mimicry must continually produce its slippage, its excess, its difference,
namely, it is inevitably indeterminate. Bhabha explains that mimicry repeats
rather than represents,[41] whereby instances of colonial imitation emerge
between the areas of mimicry and mockery.[42] Bhabha elaborates this with
the example of the Indian, educated in English, who works in the Indian
Civil Service and mediates between the imperial power and the colonized
Indians. If it is in some sense reassuring for the colonizers that Indians
become in certain respects ›English‹, the production of mimic Englishmen
also becomes disturbing.[43] In Bhabha’s view the »mimic man«
constitutes only a partial representation of the colonizing Englishman,
whereby far from being reassured, the colonizer is confronted with a
displaced image of himself. The surveilling eye is suddenly confronted with
a returning gaze of Otherness and finds that its mastery, its sameness, is
undone.[44] The familiar becomes uncannily transformed, the imitation
subverts the identity of that which is being represented and the relation of
power begins to vacillate. Here, the question of agency gets shifted from a
fixed point into a process of circulation. Bhabha contends that the
colonizer’s efforts to maintain power by fixing the colonized as an object of
knowledge is necessarily accompanied by an ambivalence that leads to the
relations of power becoming more equivocal.[45]
If in Fanon’s writings colonial authority works by inviting Black subjects
to mimic white culture, in Bhabha’s work such an invitation itself undercuts
colonial hegemony. Whereas Fanon’s Black mimics are dislocated subjects,
for Bhabha, mimicry has the effect of undermining authority.[46] Bhabha
does not represent mimicry as an anti-colonial tool which is not a weapon in
the hands of a self-conscious subject. Rather it is an effect of the cracks
within colonial discourse, whereby resistance becomes a condition
produced by the dominant discourse itself. An assumption that has been
extremely controversial.
Thus, in Bhabha’s work, even as colonial mimicry enables domination it
also produces the loss of power. Bhabha tells us that »the menace of
mimicry is its double vision which in disclosing the ambivalence of colonial
discourse also disrupts its authority«.[47] While control slips away from the
colonizer, mimicry means that the colonized, while complicit in the process,
remains the unwitting and unconscious agent of threat, with a resulting
paranoia on the part of the colonizer as he tries to guess the native’s sinister
intentions. Here, Bhabha is not so much exploring the orthodox forms of
resistance, although the native may participate in violent forms of rebellion.
Mimicry itself becomes a kind of agency without a subject, a form of
representation which produces effects, a sameness which slips into
Otherness. As a process that simultaneously stabilizes and destabilizes the
position of the colonizer, it results in the identity of the colonizer and
colonized becoming curiously elided.[48] The consequence of this is quite
contrary to the ›intention‹ of the colonizer, in that mimicry produces
subjects whose ›not-quite sameness‹ functions like a distorting mirror
which fractures the identity of the colonizing subject.
Bhabha argues that mimicry must be approached from the point of view
not just of the subject who is mimicked (the colonizer), but also of the
subject who mimics (the colonized). Following Lacan, for Bhabha, mimicry
can function as a defence similar to the technique of camouflage practiced
in human warfare.[49] This kind of resistance is ›active‹ insofar as the
colonized subject is empowered to return the colonizer’s gaze. Furthermore,
the subject who mimics can also refuse to return the colonizer’s gaze, which
according to Bhabha, destabilizes colonial authority in a different way, but
just as effectively. Thus, in Bhabha’s view, mimicry and associated
processes like hybridization are also the name for the strategic reversal of
the process of domination that turns the gaze of the discriminated back
upon the eye of power.[50] Here, the discursive conditions of dominance
are turned into the grounds of intervention that actively enable native
resistance. Accordingly, mimicry from being simply disquieting for the
colonizer becomes a specific form of intervention.

GENDERING RACE AND RACIALIZING GENDER: OF MIMICRY AND (WO)MAN


Besides Lacan’s influence, Bhabha’s notion of mimicry is also inspired by
the French philosopher Luce Irigaray’s idea of gender mimicry. Something
that has been ›under-theorised‹ within postcolonial feminist debates.
Irigaray challenges Lacan’s masculinism and argues that women mimic
femininity as a necessary masquerade, whereby in a world colonized by
male desire, women perform heterosexuality as a strategy of survival.
According to Irigaray, through a tactical mimetic parody of phallocentric
discourse, the disruption of misogynist theory may be possible. The
›deliberate‹ assumption of the feminine role entails the transformation of a
form of subordination into an affirmation, thereby subverting it. Irigaray
argues that women must resubmit themselves to ideas about the feminine
elaborated in/by a masculine logic, in order to make them ›visible‹ by an
effect of playful repetition.[51] She proposes that women must challenge
the norms they oppose from within. Through such subversive mimesis, that
what was supposed to remain invisible is unveiled. Women’s strategic
mimétisme of imposed feminine roles does not amount to a mere re-
production of those same norms, whereby »if women are such good
mimics, it is because they are not simply absorbed in this function«[52],
namely that femininity is not ›natural‹.
The challenge to representational norms of the ›feminine‹ by
exaggerating stereotypical images of the female body in order to undermine
them (»undoing by overdoing«) has been sceptically received within
feminist circles, as many fear that such ironic imitations merely serve to
reinforce those stereotypes. In her insightful analysis Anne McClintock
points out that in celebrating mimicry as an essentially female strategy,
Irigaray risks reinstating gender binaries, just as she completely overlooks
the question of race.[53] Thus, Irigaray risks eliding the differences
between white women and women of colour even as the differences
between those from the global North and South are ignored. McClintock
further points out that Bhabha ignores Irigary’s understanding of mimicry
as gendered subversion, whereby in his analysis of colonial mimicry the
protagonists are only men.[54] Bhabha’s »ungendered mimicry«[55] also
ignores class and focuses only on race. Thus, his mimicry as a male strategy
reinstates elite masculinity as the invisible norm of postcolonial discourse.
[56] In her brilliant critique of Bhabha, McClintock points out that Bhabha
fails to differentiate between colonial and anticolonial mimicry. She further
questions whether it is sufficient to locate agency in the internal fissures of
discourse and if ambivalence is inherently subversive.[57] Bhabha himself
admits that the ambivalences of colonized subjectivity need not necessarily
pose a threat to colonial power.[58]
Moore-Gilbert suggests that Bhabha’s theory of mimicry has already
been anticipated in the works of Caribbean thinkers like Wilson Harris and
Edward Braithwaite.[59] But in contrast to Bhabha, for Harris and
Braithwaite, mimicry has negative characteristics insofar as it sometimes
implies simple imitation and assimilation of the colonizer’s culture and not
always a process of hybridization of the dominant order.[60] According to
Harris, from this perspective mimicry to some extent involves the
postcolonial subject’s ›self-mutilation‹. Bhabha ignores these implications
that results from his predominantly argument of mimicry as a site of
successful resistance. This overlooks the effectiveness of mimicry as a
strategy of colonial control.[61] A control which in fact functions as a kind
of ›auto-control‹ that works through the regime of desire. As Michel
Foucault has demonstrated, people participate in their own subjectification
by exercising power over themselves, whereby there is no longer the need
for ›external‹ control to govern the subject.[62] In the context of
postcolonialism, the subject governs itself by ›internalising‹ the colonial
definitions of who they are and remain tied to the identities to which they
are subjected, and this persists even after the formal process of
decolonization. Here, postcolonial mimicry can reinforce colonial regimes
of desire rather than disrupt it.
Bhabha’s notion of mimicry explores the space between being English
and being Anglicised as an example of intervention and subversion of
dominant colonial discourses and identities. In exploring the ›desire‹ of
colonial mimicry,[63] Bhabha’s account of mimicry as resistance can only
function by ›silencing‹, for example, of the gendered dimensions of colonial
mimicry. Thus, while elite native men during the British Raj transformed
themselves into »mimic men« by learning English, wearing western clothes
and behaving like English Gentlemen, native women were excluded from
this possibility.[64] In the next section we seek to unpack the consequences
of skin-whitening as a form of gendered mimicry that demonstrates the
implicit (hetero-)sexism in Bhabha’s arguments for mimicry as resistance.
Similarly, the colonial continuities of capitalism and its global implications
for women of colour further complicate the issue of gendered postcolonial
mimicry.

»THE SNOW WHITE SYNDROME«[65]: DESIRING WHITENESS IN


POSTCOLONIALISM
»Mirror, Mirror on the wall, who is the fairest of them all«
(Snow White and the Seven Dwarfs)[66]

»Fair and Lovely«, one of the largest selling skin-lightening creams in the
world, was first manufactured in post-independence India and is now
exported to 38 countries around the world. On its website the
manufacturing company calls its product, »the miracle worker«[67]; with
its revolutionary breakthrough in skin-lightening technology it is »proven to
deliver one to three shades of change«. Frequently aired ads promoting
»Fair and Lovely« in India typically show a depressed woman with bleak
prospects, gaining a ›brighter‹ future by attaining a boyfriend or job after
becoming markedly ›fairer‹ (emphasized by several silhouettes of her face
lined up dark to light).[68] In one of the popular television ads two
attractive young women are having an intimate conversation. The ›lighter-
skinned‹ woman has a boyfriend and, consequently, is happy. The ›darker-
skinned‹ woman, without a boyfriend, is dejected. Her friend’s advice? Use
»Fair and Lovely« to attract men. Another ad portrays a young woman,
whose father lamented not having a son to support the family, landing a
well-paying job after using the product[69]. Thus, the use of the fairness
soap promises to wash away the ›dark skin‹ thereby guaranteeing
professional and personal success.[70] Recently the »Fair and Lovely
Foundation«[71], was launched in India that claimed to encourage
economic empowerment of women across India by providing resources in
education and business. The company’s skincare marketing Manager
announced that the company believed millions of women »who, though
immensely talented and capable, need a guiding hand to help them take the
leap forward«. »Presumably into a fairer future«.[72]
Similarly Nivea has recently launched its »fair range« in the African
market. As the title of the online article »Nivea entdeckt Africa«[73] (Nivea
discovers Africa) suggests, the continuity of the colonial metaphors and
politics are reinforced in neo-colonialism. The route of the ›fairness market‹
can be traced from India through the Arab world stretching into Africa.
Moritz Klämt, the product manager of Nivea Beiersdorf in East Africa
emphasizes that their fairness products contain sun-control filters and plant
extracts that reduce pigmenting. He remarks that most women long for the
skin they had as children before it got ›darker‹.[74] Accordingly, the
marketing slogan says »Bewahre Deine natürliche Hautfarbe« (Keep your
natural skin colour).[75]
As the names of creams like »Fairever« and »Fair and Lovely« suggest,
being ›fair‹ is considered in many postcolonial contexts synonymous with
being beautiful. Here, the colonial definition of white as ›pure‹ and ›good‹
is reproduced, which is, furthermore, typical for the western visual aesthetic
representation of the feminine.[76] This can be further combined with the
Christian idea of the ›holy‹, ›pure‹ and white Virgin Mary. Thus, whiteness
comes to symbolize all that is positive and desirable. The production of the
white body as ›superior‹ and the denigration of the non-white body within
the colonial discourse has crucial consequences for postcolonial contexts,
whereby »the colonial representations of race construct both whiteness and
Blackness, and the concomitant sets of values, dispositions and attitudes
associated with such discursively produced racial identities and racialized
bodies«.[77]
The construction of the colonized people’s culture and body images as
›uncivilized‹, ›dirty‹ and thereby ›ugly‹ has been central to the colonial
discourse of white supremacy, thereby legitimising the necessity to ›purify‹
the ›unclean‹ non-white body.[78] Correspondingly, the image of the ›fair‹
and ›translucent‹ woman is the hallmark of the imperialist representations
of beauty, whereby women being the locus of racial reproduction, all
attempts are made to ensure that she appear as white as possible.[79] This
white supremacist aesthetic standard is the one against which all other
women are measured and judged and is also the standard against which
women of colour who bleach their skin often measure their own sense of
feminine beauty.[80] Despite attempts to resist these racist standards of
beauty and celebrate non-white bodies within postcolonial discourses, the
practice of skin-whitening continues to flourish. In a postcolonial country
like India, the ›fairness industry‹ accounts for 60 percent of skincare sales,
bringing in $140 million a year. The biggest manufacturer of these products
is the Indian subsidiary of Unilever PLC, based in London, yet another
colonial link. Despite strong criticisms from feminist groups and the
growing warnings of the medical community regarding the health hazards
of skin-bleaching, the »fairness craze« in postcolonial contexts like India
continues.[81] This poses a big challenge to the process of decolonizing
whiteness.
The continuity and reproduction of this desire for whiteness can be
witnessed in various forms in several postcolonial contexts. For example, a
mere glance through the matrimonial columns of any of the leading Indian
newspapers, one reads hundreds of advertisements soliciting ›fair‹,
educated girls from decent families for eligible men[82]. In fact, the desire
for whiteness goes so far that often caste[83] is considered no bar and even
dowry is waived if the girl is ›fair‹ enough.[84] No wonder, millions of
women are ready to put their bodies in danger (sometimes fully aware of
the risks) in order to get a ›fairer‹ complexion, which is considered to be an
›asset‹ that brings privileges with it.[85]
In this context »mimicking whiteness« must not only be seen within the
contemporary socio-political and economic conditions within which it takes
place, but also as a consequence of centuries of colonial domination. As
McClintock demonstrates, whiteness functions as a commodity spectacle of
capitalist production and as a central ideological precept around which the
European imperial conquest of non-white cultures and peoples has been
justified.[86] In this context, as a capitalist commodity, whiteness can be
possessed potentially by everybody with the right exchange value. On the
other hand, as the organizing principle of European colonial conquest,
whiteness must be denied to those who must be exploited, subjugated, and
dominated, because they are not-white.[87]
Skin lightening as a form of gendered postcolonial mimicry manifests
itself at the intersection of race, gender, class and sexuality. Skin-bleaching
chemicals are used in the hope that one is able to ›pass‹ as white making it
impossible to distinguish between those who are ›really‹ white, and
›impostors‹.[88] This desire to be white/›fair‹ in the case of this form of
gendered mimicry is ›written on the body‹. But unlike Bhabha’s notion of
mimicry and similar to that of the Caribbean thinker Wilson, this form of
gendered mimicry functions at the cost of harming one’s self. The process
of transforming the non-white female body into a white one as a form of
gendered postcolonial mimicry is not a »subversive mimesis«, rather it
entails self-mutilation. Here, mimicry can hardly be seen as a resistance
strategy produced from within dominant discourses, but a violence on the
body of the one who mimics that is a result of internalised colonial regimes
and racism. The »mimic woman«, a concept alien to Bhabha’s theory, is not
subverting the dominant discourse in her attempt to become white, but her
body functions as an ideological playing-ground for the intersection of
capitalism, racism and (hetero-)sexism. Similar to the colonial situation, the
body of the non-white woman is vulnerable to both the racist imperialist as
well as the native patriarchal discourses. The desire for whiteness is
persistently (re)produced within the indigenous as well as imperialist
(hetero-)sexist structures. The body of the woman of colour becomes the
site of reproduction of a mythical beauty norm, which is a desire produced
within the colonizing logic that no woman of colour can attain even as she
is shaped by it.
Colonization is not merely an act of plundering and economic
exploitation, but also entails a violent value coding á la Spivak of the
desires of the colonized subject. In trying to ›become white‹ or at least ›fair‹
by means of skin-whitening, the postcolonial woman of colour hopes to
enter the privileged space of power (and beauty). Skin-whitening functions
as a form of ›camouflage‹ that may guard against certain forms of
discrimination. But in »mimicking whiteness« the postcolonial »mimic
woman« risks stabilizing its hegemonic power.
Women have been considered as markers of culture by the colonizers as
well as the anticolonial nationalist movements, whereby even as they
represent tradition, their identities and bodies become the ideological
battleground for competing masculinities. Thus paradoxically even as the
native woman is expected to be ›authentic‹ African or Indian (for example)
it is at once demanded from within the hetero-patriarchal system that she
also be as white as possible. Moreover, ›fairness‹ in the case of women is
also associated with being from the non-working class. Within the Indian
context, for example, this becomes an issue of status symbol, whereby a
›fair‹ wife is a sign of prosperity for she does not need to go out in the sun
to work!
This desire to be white is produced as well as sustained within the field
of capitalist exploitation. The (hetero-)sexist capitalist order is clearly a
racist order: As Audre Lorde explains, according to the hegemonic mythical
norm, to be beautiful is to be young, thin, without a disability and white.
[89] Mire writes »Whiteness is consumed, in order to shore up the white
supremacist cultural, economic and political domination of non-white
cultures, economies and modes of production«.[90] Despite the prevailing
white supremacist medical establishment’s attempts to underplay the health
implications of skin-bleaching, Mire demonstrates that it is an extremely
damaging practice which threatens the psychic and bodily integrity of those
who, in order to get a bit of whiteness, risk their physical and emotional
well-being.[91] She recommends that in order to confront this devastating
phenomenon, it is necessary to interrogate the medical, social, political and
economic discourses which construct, sustain and legitimise the global
system of capitalist white supremacy. It is only by taking this integrated
approach that one might be able to confront the destructive practice of skin-
bleaching.[92]

DECOLONISING WHITENESS
In our paper, we have attempted to examine the link between the processes
of colonization and the discourse of whiteness and its continuity into neo-
colonial times and spaces. In doing this we have tried to show how by
virtue of our »entangled histories« and the neo-liberal processes of
globalisation, the consequences and connections between different
postcolonial contexts and discourses is more complex than a
straightforward colonizer/colonized relation. We have also attempted to
unfold the limits of Bhabhian mimicry as a strategy of resistance and to
demonstrate the drawbacks it poses for a postcolonial queer feminist
politics. Let us now briefly turn our attention to the challenges involved in
the project of decolonising whiteness.
The postcolonial feminist Gayatri Chakravorty Spivak warns that the
white supremacist domination is not to be resisted by what she terms as the
politics of »chromatism«, which merely reverses the Black/white hierarchy
without displacing it. Spivak argues that this ›alternative‹ does not
challenge the dualism itself. In fact, Spivak goes so far as to reject the label
of ›woman of colour‹, which according to her, merely reproduces white as
›transparent‹.
Chromatism seems to have something like a hold on the official philosophy of U.S. anti-racist
feminism. When it is not ›third world women‹, the buzzword is ›women of color‹. This leads to
absurdities. Japanese women, for instance, have to be coded as ›third world women!‹ Hispanics
must be seen as ›women of color‹ and postcolonial female subjects, even when they are women of
the indigenous elite of Asia and Africa, obvious examples of Ariel’s mate, are invited to
masquerade as Caliban in the margins. This nomenclature is based on the implicit acceptance of
›white‹ as ›transparent‹ or ›no-color‹ and is therefore reactive upon the self-representation of the
white.[93]

Unlike her colleague Bhabha, Spivak is extremely wary of the postcolonial


»mimic woman«, whereby the focus of her politics is on the poorest of the
poor women in the global south. These rural and indigenous subaltern
women have minimal possibility of becoming »mimic women« for they are
cut off from the lines of mobility that produce the ›non-subaltern‹
postcolonial subjects.[94] In this context, the »mimic woman« represents
the postcolonial (migrant) elite who can resist the dominant discourse,
because she ›speaks‹ from within it, in their language (notwithstanding the
possibility that she might not be heard). Mimicry as a strategy of resistance
is only possible because the mimicking subject has ›access‹ to the subject
being mimicked.[95] Similar to colonial mimicry, postcolonial mimicry
addresses those subjects closer to the metropolitan centre, financially as
well as socio-culturally. For example, the target audience of most of the
advertisements featuring these skin-lightening products are those
postcolonial women of colour who have the purchasing power to buy these
expensive soaps and creams, not the subaltern woman who is struggling for
her survival in the poorest regions of the global south. Moreover, like the
colonial economy, neo-colonial capitalist economy is beneficial for a small
group of native elites, who benefit from it. Thus, not only do the
advertisements of these skin-lightening products feature for example, ›fair‹
Indian models (and not white women), but hundreds of educated, upwardly
mobile Indian men and women work for these Multinational Corporations
as crucial agents of neo-liberal capitalism. Many of these postcolonial
people of colour are migrants working in ›first world‹ countries like
Germany, complicit in reproduction and reinforcement of colonial
economies and discourses. A naïve celebration of postcolonial mimicry as
subversion thereby proves to be inadequate to the task of decolonizing
whiteness. As Spivak remarks with regard to the elite postcolonial migrant:
[…] today’s NRI (non-resident Indian) is no Resident Alien. He is on the internet, conjuring up
Hindu nationalism. He is a DISPO-dollar-income-private-sector-operator sitting in Bangalore but
part of what Robert Reich has called the secessionist community of electronic capitalism. He is in
the metropolis, recoding upward class-mobility (mimicry and masquerade) as resistance,
destabilization, intervention.[96]

For Spivak, the subaltern woman is located ›outside‹ organised resistance


(that is inevitably caught within capital logic), for the female subaltern
subject is simultaneously excluded from the dominant as well as the anti-
colonial discourses.[97] Between the ›authentic‹ white woman and the
postcolonial »mimic woman«, the subaltern woman ›disappears‹. Thus, the
project of decolonising whiteness entails locating the vulnerabilities of the
subaltern women not only within the white supremacist discourse, but also
within the postcolonial counter-discourses that unwittingly reproduce and
reinforce neo-colonial powers. In her discussion of the »new subaltern«
Spivak demonstrates how the body of the female subaltern subject is being
increasingly targeted by European and US-American Multinational
Corporations through human genome engineering and DNA patenting.[98]
It was the »scientific gaze« on the bodies of colonized subjects that made it
possible to produce racist knowledge which was useful for the exercise of
colonial power over people considered to be ›inferior races‹.[99] This
»scientific gaze« was a key-tool to domination and exploitation, which
continues in contemporary times, whereby these subaltern women are the
most vulnerable targets of hetero-patriarchal capitalism. To this end, not
only does one need to focus upon the interlocking of ›race‹ with gender,
class, sexuality (among other factors), but also the role of capitalist
globalisation, with its roots in colonialism. Unfortunately, the critique of
these processes tends to limit the discussion to metropolitan spaces and
subjects, thereby neglecting how neo-colonial discourses are now targeting
those who were previously outside the scope of finance capitalism, namely,
the indigenous subalterns. Spivak points out how efforts are being made to
»bring the world’s rural poor under one rule of finance, one global capital,
again run by the internationally divided dominant«.[100] Against the
reduction of globalisation to the question of migration and »migrant
hybrids«[101], Spivak argues that the rural and indigenous subalterns are
the most globalised through the subaltern body becoming the target of
Multinational Corporations.[102] Thus, the focus of analysis (as in the case
of Bhabha’s work) should not be limited to the postcolonial »mimic
(wo)men« represented by the postcolonial (migrant) elites situated in
metropolitan spaces, who unfortunately tend to universalise their own
experiences and positions, whereby a group small in number, but relatively
big on resources speak on behalf of the Other, consequently silencing them
doubly.[103] It is crucial to note here that the exclusive focus on identity
and identity-politics conveniently overlooks the pressing question of space
and the politics of location. With ›representation‹ becoming such a
fashionable buzzword within metropolitan postcolonialism, it is not only
important to ask who speaks for whom but also from what location? As
Spivak remarks, the mainstream postcolonial discourse is »as distant from
aboriginal subaltern in India as is Aristotle«[104], whereby the worst
product of postcoloniality, for Spivak, is the postcolonial subject who uses
the alibi of progressive politics to exploit the indigenous subaltern.[105]
The desire for whiteness prevails because ›colonial-induced-desires‹
continue to be reinforced and satiated in neo-colonialism that transcends
national boundaries and discourses. As a consequence, the ›west‹
represented by Multinational Corporations continues to earn millions of
dollars of profits by the exploitation and subjection of the Other’s bodies.
Here the postcolonial »mimic woman« is at once the ›victim‹ as well as
(sometimes unwitting) ›agent‹ of neo-colonial hegemony. Through her
desire for whiteness, she stabilises the colonial, hetero-patriarchal norms of
beauty. There are certain codes that one needs to fulfil to demonstrate that
one is ›emancipated‹. Besides being able to speak the metropolitan
hegemonic language ›correctly‹ and being ›educated‹, one must also be able
to perform the ›westernised‹ woman. For to be white is to be ›emancipated‹.
As the »Fair and Lovely« advertisements demonstrate, the use of the
product promises the postcolonial female subject entry into the charmed
world of emancipation. But this emancipation is limited to those who are
adequately ›westernised‹, namely, those who can ›pass‹ as a white woman
by ›imitating‹ her.
Bhabha crucially ignores these issues of gender and of course class,
whereby it becomes easy for him to celebrate mimicry as resistance. The
subaltern woman located in the rural global south does not in any way
figure in his analysis of mimicry, which is limited to the elite male subject
in the metropolis. The moment one focuses on the position of these
indigenous subaltern women, the question of postcolonial politics and
resistance to neo-colonial powers becomes more challenging[106]. Thus, it
is not sufficient to critique and confront the powers and privileges of the
white ›west‹, whereby the endeavour to decolonise whiteness is incomplete
unless the complicity of the mimicking postcolonial subject in the
continuing production of the subaltern is not problematised. As Spivak
warns, to ignore the rural and indigenous subaltern is to continue the
imperialist project in the interest of globalisation.[107]

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NOTES
1 Bhabha does not entirely agree with Fanon that the psychic choice is to »turn white or
disappear« (Fanon cit. in Bhabha: Location of Culture, p. 120). Instead, he proposes »the more
ambivalent, third choice: camouflage, mimicry, black skins/white masks« (ibid.).
2 The term postcolonial remains controversially discussed, whereby both the notion »colonial« as
well as the prefix »post« are intensely contested. For more on the debate on the notion of
postcolonial refer to Appiah: »Is the Post in Postmodernism the Post in Post-colonialism?«,
McClintock: Imperial Leather, Shohat: »Notes on the Postcolonial«. It is important to note here
that not only for example, countries like South Africa and Brazil are postcolonial, but also
countries like Thailand and Iran, which were never ›formally‹ colonised, are deeply informed by
processes of colonialism. By virtue of our, what Shalini Randeria calls »entangled histories«
(Conrad & Randeria: »Einleitung. Geteilte Geschichten«, p. 17), it is impossible to reduce
postcolonial analysis to national boundaries, for these boundaries are itself a product of colonial
discourses. To talk of the German context in isolation from other contexts is to substantiate these
hegemonic discourses, for Germany and the German discourse do not exist in a historical and
socio-political vacuum.
3 Bhabha: Location of Culture, p. 121.
4 Ibid., p. 56.
5 Postcolonial queer feminism marks the intersection of postcolonial critique with queer feminist
theory to unfold the consequences of hetero-patriarchal colonialism. For more on postcolonial
queer feminism refer to Vanita: Queering India, Alexander: »Erotic Autonomy«, Castro Varela
& Dhawan: »Spiel mit dem Feuer«.
6 The related practices of dyeing black hair blonde and of wearing coloured contact lenses (also
extremely popular with women of colour) are equally symptomatic of the desire for whiteness.
7 Nivea was founded in 1911 in Hamburg and is one of the oldest and biggest personal care
brands in the world selling its products in 150 countries around the world.
8 Refer to the official website of Nivea under http://www.nivea-me.com/frameset.php and look
under products for the »fair range«.
9 Mire gives the example of how »in 1996, the United States Environmental Protection Agency
(EPA) published a paper urging the United States Department of Defence (DoD) to suspend the
sale of mercury to the third world. According to the EPA, from 1989 to 1993, the United States
Department of Defence had sold 2,350 metric tons (5.18 million lbs.) of mercury to the third
world. Further, the EPA stated that the use of mercury in the third world included the production
of skin-bleaching creams. In 1996, more then 400 Mexican-American women and men living in
Arizona, California, New Mexico and Texas got mercury poisoning after using a skin-bleaching
cream called ›Crema de Belleza-Manning‹ made in Mexico and imported to the United States
illegally. ›Crema de Belleza-Manning‹ contains roughly 15 percent by weight of mercury
chloride or calomel« Mire: »Skin-Bleaching«, p. 20.
10 Ibid., p. 13.
11 Ibid., p. 18.
12 Ibid., p. 19.
13 Ibid.
14 Due to the efforts of Amina Mire and her colleague, Abdi Jowhar, the import of the skin-
bleaching cream »Diana«, which is made in Lebanon and distributed world wide by a company
called »Diana de Beauté«, was banned in Canada by the Canadian Ministry of Health. However,
Mire regrets that mercury-based skin-bleaching soaps, creams and ointments with different
brand names are still available in Canada (ibid., p. 35). The same holds for the European
context.
15 For example, in millions of beauty parlours all over India, it is possible to get a ›skin bleach‹,
the process itself requiring a few minutes.
16 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 190.
17 Ibid, p. 118.
18 McClintock: Imperial Leather, p. 33.
19 Ibid, p. 214.
20 Ibid.
21 Bhabha: Location of Culture, p. 75.
22 Bhabha: Remembering Fanon, p. ix.
23 Bhabha: Location of Culture, p. 88.
24 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 117.
25 Bhabha: Location of Culture, p. 78.
26 Ibid.
27 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 117.
28 Ibid, p. 118.
29 Bhabha: Location of Culture, p. 82.
30 Young: White Mythologies, p. 183.
31 Ibid, p.187.
32 Bhabha: Location of Culture, p. 92.
33 Ibid, p. 86.
34 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 120.
35 Cit. in Bhabha: Location of Culture, p. 87.
36 Ibid.
37 Ibid, p. 85.
38 Ibid, p. 87.
39 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 120.
40 Bhabha: Location of Culture, p. 86.
41 Ibid, p. 88.
42 Ibid, p. 86.
43 Ibid.
44 Ibid, p. 89.
45 Young: White Mythologies, p. 188.
46 Loomba: Colonialism/Postcolonialism, p. 178.
47 Bhabha: Location of Culture, p. 88.
48 Young: White Mythologies, p. 192.
49 Bhabha: Location of Culture, p. 85.
50 Ibid, p. 112.
51 Irigaray: This Sex Which is Not One, p. 78.
52 Ibid, p. 76.
53 McClintock: Imperial Leather, p. 62.
54 Ibid.
55 Ibid, p. 64.
56 Ibid, p. 64-65.
57 Ibid.
58 Bhabha: »Difference, Discrimination and the Discourse of Colonialism«, p. 205.
59 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 181.
60 Ibid.
61 Ibid.
62 Foucault: »The Subject and Power«, p. 208-210.
63 Bhabha: Location of Culture, p. 89.
64 Gandhi: Postcolonial Theory, p. 95-96.
65 Bagchi: »Re-packaging fairness«.
66 An interesting example of the politics of translation, whereby the ›original‹ German term
»hübscheste« (prettiest) became »fairest« in the English version.
67 See: http://www.hll.com/HLL/knowus/personalpro_skincare_fairnlovely.html.
68 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
69 This particular ad was withdrawn after strong protests from the AIDWA (All India Democratic
Women’s Association). But other ads continue to be aired.
70 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
71 See: http://www.hll.com/hll/archivecontent/PressRelease/PRFLFoundation.html.
72 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
73 http://www.n-tv.de/300178.html, 03.02.2005.
74 Ibid.
75 Ibid.
76 Dyer: White, p. 70-75.
77 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 14.
78 McClintock: Imperial Leather, p. 226.
79 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 26.
80 Ibid, p. 22.
81 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
82 Nair: »Gender, Genre and Generative Grammar«, pp. 227-254. In the last few years that has
been a virtual explosion of these matrimonial sites on the internet. There are a number of sites
that specially cater to migrant and NRIs (Non Resident Indians). The advertisements on these
websites are no different from the ›traditional‹ matrimonial columns. The demand for ›fair‹
brides persists the world over within the migrant Indian community and this holds for the
migrant community in Germany too.
83 The sanskrit word for caste is varna which also means ›colour‹. Precolonial ›Indian‹ society was
structured by the hierarchical caste system, whereby discrimination on the basis of caste is
inextricably linked to colour politics. This precolonial regime of power was further consolidated
in the racist context of British India.
84 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
85 Ibid.
86 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 16.
87 Ibid.
88 Ibid, p. 26.
89 Audre Lorde: Sister Outsider, p. 116.
90 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 16.
91 Ibid, p. 34.
92 Ibid.
93 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 165.
94 Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 319.
95 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 191
96 Spivak: »Resident Alien«, p. 60.
97 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 242-243.
98 Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 319-320.
99 McClintock: Imperial Leather, p. 121-122.
[100] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 322.
[101] Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 414, 169.
[102] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 320.
[103] Chow: Writing Diaspora, p. 13.
[104] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 333.
[105] Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 143.
[106] Castro Varela & Dhawan: Postkoloniale Theorie, p. 137.
[107] Ibid, p. 290.

Ohne Titel, Sabinah Odumosu


Schwarze Reflexion und Kritik an Aneignungsprozessen – die Perspektive
eines weißen Dialogs.
WEIßE MYTHEN, WELCHE
MASKEN?
KRITISCHE WEIßE
PERSPEKTIVEN
SUSAN ARNDT
›RASSEN‹ GIBT ES NICHT, WOHL ABER DIE
SYMBOLISCHE ORDNUNG VON RASSE. DER ›RACIAL
TURN‹ ALS GEGENNARRATIV ZUR VERLEUGNUNG
UND HIERARCHISIERUNG VON RASSISMUS

WEIßE MYTHEN, WELCHE MASKEN?


Vor einigen Jahren erklärte ich einer Studentin in einem meiner Seminare:
»Also für mich sind Afrodeutsche Deutsche, und im Übrigen habe ich Sie
gar nicht als Schwarze wahrgenommen.« Die Postulate »Wir sind doch alle
gleich« und vor allem: »Ich bin doch keine Rassistin« hatte ich als
Glaubensgrundsätze tief verinnerlicht. Ein rassistischer Mythos. »Der
Mythos leugnet nicht die Dinge«, schreibt Roland Barthes, »seine Funktion
besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur
einfach, er macht sie unschuldig.«[1] Ich hatte von Rassismus gesprochen,
um ihn unschuldig zu machen, ihn als nicht-existent zu deklarieren: »Sie
sind wie ich, einfach eine Deutsche, nicht Schwarz«, sagte ich und
verkündete dabei zugleich auch: »Ich bin nicht weiß« (oder zumindest: »Ich
bin nicht so eine Weiße«) und, in logischer Konsequenz: »Sie werden doch
(von mir) gar nicht rassistisch diskriminiert.« »Das ist so, weil es so
ist…«[2], lautete mein tautologischer Beweissatz.
Im Streben die Machtposition des weißen Subjekts verleugnen zu
können, bediente ich mich eben dieser. Im Verlangen, mich, das weiße
Subjekt, zu entnennen[3] und zu mythisieren, suchte ich Zuflucht in
bewährten weißen hegemonialen Strategien, das Schwarze Subjekt zum
Schweigen zu bringen, es zu sehen und nicht zu sehen, es zu interpretieren
und mythisieren, es zu charakterisieren, definieren und benennen. Ich lese
»Le Blanc est enfermé dans sa blancheur«,[4] ich bin, wie ich erkennen
muss, in meinem Weißsein eingesperrt. Den Mythos, den ich aufrief, werd’
ich nun nicht los. – Alte Mythen, neue Masken: Sind die weißen
Stoffmasken des Klu Klux Klans als ein Bekenntnis zum Mythos der
weißen Überlegenheit sowie zu weißer Gewalt gegenüber People of Color
zu lesen (wobei sie paradoxerweise doch das weiße Gesicht verbergen und
verleugnen), so sind die neuen nicht-weißen Masken darauf zugeschnitten,
das Weißsein des rassialisierenden Subjekts und seine Mythen zu
entnennen. Eine tautologische Verleugnung von Geschichte und der in ihr
und durch sie hergestellten Differenz. Wie alle anderen Mythen auch, strebt
diese Maskierung des Subjekts ebenfalls danach, die Produkte der
Geschichte in essentielle Typen zu verwandeln, die ständige Herstellung der
Welt zu verbergen, sie als Objekt endlosen Besitzens zu fixieren und damit
auch, »die Welt unbeweglich zu machen«.[5] Diesen neuen Mythen der
Verleugnung, die nicht harmloser sind als jene des rassistischen
Bekenntnisses, gilt hier mein Interesse. Dabei möchte ich ausgehen von
kontextualisierenden Begriffsverortungen von ›Rasse‹, Rassismus und
Weißsein.

RASSISMUS, ›RACIAL TURN‹ UND WEIßSEIN


Konfrontiert mit der Unmöglichkeit, Transatlantischen Sklavenhandel und
Kolonialismus mit den in Europa und den USA deklarierten Idealen von
›Freiheit‹, ›Gleichheit‹ und ›Solidarität‹ in Einklang zu bringen, bedurften
die europäischen Kolonialmächte einer Rechtfertigungsideologie für ihre
Politik der Eroberung, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewaltherrschaft.
Vor diesem historischen Hintergrund kam es im Zeitalter der Aufklärung
zur Erfindung und Hierarchisierung menschlicher ›Rassen‹ – ein Prozess
der gemeinhin als Formierung des Rassismus angesehen wird.[6]
Rassismus begreife ich als Komplex von Gefühlen, Vorurteilen,
Vorstellungen, Ängsten, Phantasien und Handlungen, mit denen Weiße aus
einer weißen hegemonialen Position heraus Schwarze und People of Color
strukturell und diskursiv positionieren und einem breiten Spektrum ihrer
Gewalt aussetzen. Rassismus baut auf von Weißen in Europa entwickelten
›Rassentheorien‹ auf, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben
haben. Dabei wurden aus einer Vielzahl von zumeist visuell sichtbaren
körperlichen Merkmalen einzelne (wie etwa die ›Hautfarbe‹) selektiert,
dichotomisiert und zu einem ›natürlich gegebenen‹ und relevanten
Kriterium der Unterscheidung erklärt. Ausgehend von einer konstruierten
Normsetzung des ›Eigenen‹ (von Weißsein) wurde das ›Andere‹ erfunden.
Mit Albert Memmi ist dabei nachzuvollziehen, wie den vermeintlich
gegebenen, statischen und objektiven ›Rassenmerkmalen‹ bestimmte
soziale, kulturelle und religiöse Eigenschaften und Verhaltensmuster
zugeschrieben werden.[7] Um das koloniale Unterfangen Europas in Afrika
zu rechtfertigen, sprach man von der »Bürde des Weißen Mannes«, Afrika
»retten« zu müssen und konstruierte das nötige Pendant, den
»unzivilisierten, primitiven Afrikaner«, der die »Quintessenz des Bösen«
verkörpert und jeglicher Moral sowie aller Werte entbehrt. Frantz Fanon
bemerkt über diesen Prozess der kolonialistischen Erfindung des ›Anderen‹:
Dem Kolonialherrn genügt es nicht, den Lebensraum des Kolonisierten psychisch, das heißt mit
Hilfe der Polizei und seiner Gendarmerie, einzuschränken. Wie um den totalitären Charakter der
kolonialen Ausbeutung zu illustrieren, macht der Kolonialherr aus dem Kolonisierten eine Art
Quintessenz des Bösen … Der Schwarze, heißt es, ist für die Ethik unerreichbar, ist Abwesenheit
von Werten, aber auch Negation der Werte. Er ist, sagen wir es offen, der Feind der Werte.
Insofern ist er das absolute Übel: ein zersetzendes Element, das alles, was mit ihm in Berührung
kommt, zerstört, alles, was mit Ästhetik oder Moral zu tun hat, deformiert und verunstaltet, ein
Hort unheilvoller Kräfte, ein unbewußtes und nicht faßbares Instrument blinder Gewalten.[8]

In theoretischer Weiterführung dieses Ansatzes schreibt Abdul


JanMohammed, dass die kolonialistische Mentalität »is dominated by a
Manichean allegory of white and black, good and evil, salvation and
damnation, civilization and savagery, superiority and inferiority,
intelligence and emotion, self and other, subject and object«[9] und, wie
sich ergänzen lässt, von Kultur und Natur.
Letztlich ist es die symbolische Ordnung, um Pierre Bourdieus Begriff
aufzunehmen, von rassialisierter Differenz, die dem Sehen zugrunde liegt,
und nicht umgekehrt. »We believe in the factuality of difference in order to
see it.«[10] Die so hergestellten Unterschiede werden, wie Memmi weiter
ausführt, in einem Prozess weißer hegemonialer Praxis verallgemeinert,
verabsolutiert und gewertet.[11] Damit präsentiert sich der rassialisierende
Herstellungsprozess trotz der partiell differierenden Ansätze verschiedener
›Rassentheorien‹ homogenisierend. Psychologisch und praktisch dient
dieser alterisierende und homogenisierende Konstruktionskomplex Weißen
dazu, unterschiedliche Macht- und Lebenschancen von Weißen und
Schwarzen sowie weiße Aggressionen und Privilegien zu legitimieren.[12]
Der Mythos der Existenz menschlicher ›Rassen‹ scheint sich beharrlich
zu halten, nicht nur im Alltagsdenken und der deutschen Sprache,[13]
sondern auch in den Naturwissenschaften. In Deutschland verbinden sich
diese Ansätze etwa mit dem Humanbiologischen Institut Hamburg und
Rainer Knußmann.[14] Dabei können heute längst wieder alle wissen, dass
das Konzept ›Rasse‹ nicht auf Menschen übertragen werden kann, da es
keine reinerbigen Teilpopulationen gibt, sondern vielmehr von einem
Kontinuum genetischer Unterschiede auszugehen ist.[15] »It is common
knowledge that some ›black‹ people can be very white, and some ›whites‹
can be very dark.«[16] Alle Grenzziehungen in diesem Kontinuum sind
letztlich willkürlich und folgen einem ideologisch motivierten historischen
Herstellungsverfahren.
Dennoch, hier scheint sich die kulturwissenschaftliche Forschung einig,
ist es nicht möglich, den Begriff ›Rasse‹ gänzlich zu vermeiden oder
einfach aufzulösen. Denn diese biologistischen ›Rassenkonstruktionen‹
haben sich nachhaltig in Denk- und Verhaltensmuster eingeschrieben, die
gesellschaftliche, kulturelle und politische Prozesse und Hegemonien
konstituieren und irreversibel rassialisierte Identitäten und Positionen
hergestellt haben. Collette Guillaumin brachte dies auf die polemische
Formel: »Race does not exist. But it does kill people.«[17] Die Erfindungen
von ›Rasse‹ haben eine symbolische Ordnung von Rasse hergestellt, die
gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in etwas verwandeln,
das, im Sinne Roland Barthes, als Natur deklariert wird.
Aus diesem Grund bedarf es einer dekonstruierenden Bewegung, die
wegführt von ›Rasse‹ als biologistischem Konstrukt und hin zu Rasse als
sozialer Position und kritischer Analyse- und Wissenskategorie. Dieser
gewendete Begriff von Rasse zeigt sich befähigt, biologistische
Konstruktionen und darauf aufbauende binäre Oppositionen (einschließlich
ihrer Auswirkung auf gesellschaftliche Prozesse und Hegemonien) zu
identifizieren und in Frage zu stellen und zugleich auch das diesbezüglich
transportierte Wissen ausgehend vom Wissen der postkolonialen
Theoriebildung zu dekonstruieren und zu ergänzen. Eine grundlegende
Konstituente dieser Rekonzeptualisierung von Rasse ist die Denkbewegung,
die Weißsein, zusätzlich zu Schwarzsein und in seinem komplexen
Verhältnis zu Schwarzsein in den Mittelpunkt der Forschung entlang der
Kategorie Rasse rückt. Diese doppelte Bewegung von ›Rasse‹ weg und auf
Rasse zu, die sich als ein »Kampf um die Bedeutung von«[18] ›Rasse‹
präsentiert, sowie die Fokuserweiterung auf Weißsein als Subjekt, Norm
und Agens von Rassialisierungsprozessen, welche die Differenzkategorie
Rasse in seiner Relationalität resituiert, bezeichne ich in partieller
Anlehnung an Shankar Raman als ›racial turn‹.[19]
Ich verwende den Begriff ›Rasse‹ in Anführungszeichen, sobald es um
die biologistische Kategorie geht, und in Kursivsetzung, wenn es sich um
die kritische Wissens- und Analysekategorie Rasse handelt. Dabei grenze
ich mich bewusst von der Tendenz ab, auf Rasse als Wissens- und
Analysekategorie mit dem englischen Begriff ›race‹ zu rekurieren. Dies
wird oft damit begründet, dass der Begriff ›Rasse‹ durch den
Nationalsozialismus »zu belastet« sei und man/frau deswegen lieber auf den
englischsprachigen Begriff ausweiche. Zum einen ist daran problematisch,
dass auf diese Weise der Begriff ›race‹ verharmlost wird, indem
gewissermaßen ausgeblendet scheint, dass er ebenfalls an eine
traumatisierende und anti-humanistische Geschichte von rassistischer
Gewaltherrschaft, die auch vor Völkermord nicht zurück schreckte,
gebunden ist. Zum anderen verleugnet diese methodische Abwendung vom
Begriff ›Rasse‹ als vermeintlich ›(rein) nationalsozialistischem Konzept‹,
dass es eine Kontinuitätslinie im Gebrauch des Konzeptes ›Rasse‹ gibt, die
in direkter Linie vom 17. Jahrhundert zum Kolonialismus des 19. und 20.
Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus und in die Gegenwart hinein
führt.[20] Zudem erscheint mir der Zugriff auf englischsprachige Termini
auch deswegen problematisch, weil damit implizit eine Distanz zum
Forschungsgegenstand Deutschland hergestellt wird. Aus diesem Grund
wird hier analog dazu auch der Begriff Weißsein (statt whiteness)
bevorzugt. Der Begriff Weißheit steht aufgrund seiner Homophonie zu
Weisheit außer Frage. Es ist wahr, dass der Suffix ›-sein‹ eine
ontologisierende Bedeutungskomponente in sich birgt, was im Übrigen
auch für das Suffix ›-ness‹ (von whiteness) gilt. Doch insofern ›Weißsein‹
ein Neologismus der Kritischen Weißseinsforschung ist, bietet er das
Potenzial, dass er theoretisch und konzeptuell besetzt werden kann und
dabei der ontologisierende Bedeutungsinhalt überschrieben werden kann.
Die Kritische Weißseinsforschung identifiziert Weißsein als Konstrukt
des Rassismus, erfasst es als soziale Position und macht es als kritische
Analysekategorie der postkolonialen bzw. kulturwissenschaftlichen
Forschung fruchtbar, die Rassismus in gesellschaftlichen Prozessen und
Strukturen in seiner Kompliziertheit, Vielschichtigkeit und ihren
Interdependenzen verstehen hilft. Dabei wird von einer Negierung
rassistischer Konstruktionen ausgegangen und deutlich gemacht, dass
Weißsein nicht von Natur aus sichtbar ist, sondern einer hergestellten und
interpretierten Sichtbarmachung unterliegt.[21] Weißsein beschreibt keine
›Hautfarbe‹ und ist daher auch nicht als biologistischer oder
somatisierender Begriff zu verstehen, der an Pigmentierung oder
Komplexion gebunden ist, sondern dekonstruiert im Gegenteil die
ideologische Konstruktion von ›Hautfarben‹ und das Theorem der
vermeintlichen Evidenz der Sichtbarkeit menschlicher ›Rassen‹. Im Prozess
dieser Dekonstruktion wird Weißsein als Symbol verortet, das an
Gewordensein gebunden ist und am ehesten über den Begriff der Position
zu erfassen ist. Dabei geht es nicht darum, ontologisierend oder
essentialisierend die Existenz des ›weißen Menschen‹ oder einer ›weißen
Kultur‹ zu postulieren, vielmehr ist Weißsein als eine Konstruktion des
Rassismus zu lesen, die kollektive Wahrnehmungs-, Wissens- und
Handlungsmuster konstituiert hat. Damit präsentiert sich Weißsein als eine
historisch und kulturell geprägte symbolische und soziale Position, die mit
Macht und Privilegien einhergeht und sich daher sich auch unabhängig von
Selbstwahrnehmungen und jenseits offizieller Institutionen individuell wie
kollektiv manifestiert.
Analog dazu ist auch Schwarzsein eine durch Rassismus historisch
hergestellte soziale und politische Position. Stuart Hall hat beschrieben, wie
Schwarze als kulturelle und politische Antwort auf Rassismus Erfahrungs-,
Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster entwickelt haben. Die »Schwarze
kulturelle Identität« existiert
als eine Identität neben einem breiten Spektrum von anderen Differenzen. Afro-karibische und
indische Menschen halten weiterhin verschiedene kulturelle Identitäten aufrecht. ›Schwarz‹ ist
nicht nur ein Beispiel für den politischen Charakter neuer Identitäten, die in und für spezifische
Zeitpunkte und Orte – positional und konjukturell – gebildet werden, sondern auch dafür, dass
Identität und Differenz unauflösbar miteinander artikuliert oder verknüpft sind, die die eine nie
vollständig druch die andere überlagert.[22]

Ich folge diesem Verständnis von Schwarz, dessen Konstruktcharakter und


Widerstandspotential durch die Großschreibung markiert wird und sich
damit von rassialisierenenden Benennungen abgrenzt, die sich etwa in
Begriffe wie das ›N-Wort‹, ›Schwarzafrika‹ etc. eingeschrieben hat. Einer
jüngeren Tendenz folgend trage ich dem von Hall angesprochenen
Spektrum von Differenzen dadurch Rechnung, dass ich von Schwarzen und
People of Color spreche. Dieser Begriff ist als Aneignung der rassistischen
Bezeichnungen »Coloureds«/»Farbige« zu lesen, was durch die
Großschreibung und die Ergänzung des Grundwortes Menschen markiert
wird. Während sich der Begriff ›Schwarze‹ in dieser Unterscheidung auf
Menschen mit afrikanischen ›roots‹ und ›routes‹[23] bezieht, rekurriert der
Begriff ›People of Color‹ auf Menschen mit ›roots‹ und/oder ›routes‹ in der
Türkei, Armenien, Afghanistan, als Sinti, als Roma etc. Ausgehend von
Rassismus als gemeinsamer Erfahrung werden hierbei verschiedene
historische Kontexte zusammengedacht und partiell differierende
Beziehungsgeschichten zusammengefasst. Damit steht der Begriff ›People
of Color‹ auch für die Notwendigkeit, beim Thematisieren von Rassismus
immer auch konkret darüber zu sprechen, wer von wem vor dem
Hintergrund welcher historischen Prozesse rassialisiert wird. Das
allgemeine Muster, dass das Erkennen der eigenen Kultur sich stets auf
einer Herstellung eines ›Anderen‹ begründet, macht es notwendig,
verschiedene Alterisierungsprozesse historisch zu situieren. Bei
Antisemitismus, Antiislamismus und der Diskriminierung von Roma und
von Sinti handelt es sich um Gewaltmuster mit einer gemeinsamen
Schnittmenge, die durch das Begriffsfeld Rassismus zu erfassen ist, und
doch haben Juden und Jüdinnen eine eigene Geschichte, ebenso wie etwa
Moslems und Musliminnen, Roma und Sinti und Schwarze aus Afrika. Die
Herausforderung an die Forschung besteht hier darin, diskursive
Überschneidungen ebenso herauszuarbeiten wie historische Divergenzen,
um das komplexe Beziehungsgefüge dieser rassistischen Gewaltmuster
analytisch erfassen zu können. Davon ausgehend sind dann auch andere
Gewaltmuster wie etwa Antislawismus, auf das später zurückzukommen
sein wird, zu positionieren.

AUSEINANDERSETZUNGEN MIT WEIßSEIN IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE


Bell hooks geht darauf ein, dass der politischen und sozialen Position der
Rassialisierten von Beginn an ein Austausch von ›speziellem‹ Wissen über
Weißsein eingeschrieben ist. Ein Hauptziel war es dabei, sich gegenseitig
dabei zu unterstützen, »in der weißen herrschenden Gesellschaft den Alltag
zu bewältigen und zu überleben«.[24] So hat sich ein politisch bewusster
Gegendiskurs zu weißen Rassialisierungsprozessen konstituiert, der
Weißsein als ›term of power‹ liest, der Privilegien garantiert und
Hierarchien herstellt.[25] Schon ein gutes Jahrzehnt vor hooks hat die
ghanaische Schriftstellerin Ama Ata Aidoo in ihrem Roman Our Sister
Killjoy die Herstellung von Schwarzsein und Schwarze Reflexionen über
Weißsein zusammengedacht: Die ghanaische Protagonistin Sissie wird
während ihrer Reise nach und innerhalb von Deutschland wiederholt als
Schwarze positioniert und dadurch – im Sinne Simone de Beauvoirs – zu
einer Schwarzen gemacht wird. Gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland
wird sie mit den Worten begrüßt: »Ja, das Schwarze Mädchen.«[26]
She was somewhat puzzled. Black girl? Black girl? So she looked around her, really well this
time. And it hit her. That all the crowd of people going and coming in all sorts of directions had
the colour of the pickled pig parts that used to come from foreign places to the markets at home …
And she wanted to vomit … For the rest of her life, she was to regret this moment when she was
made to notice differences in human colouring.[27]
Im Umkehrschluss beginnt sie, über die symbolische Bedeutung ›weißer
Haut‹ und die politische Implikation von Weißsein nachzudenken, wobei sie
beide Ebenen miteinander verbindet. Sie erkennt: ›Weiße Haut‹, die erröten
und von der Sonne verbrannt werden kann, macht Menschen verletzlich.
She could not help thinking that it must be a pretty dangerous matter, being white. It made you
awfully exposed, rendered you terrible vulnerable. Like being born without your skin or
something. As though the Maker had fashioned the body of a human, stuffed it into a polythene
bag instead of the regular protective covering, and turned it loose into the world. Lord, she
wondered, is that why, on the whole, they have had to be so extra ferocious? Is it so they could
feel safe here on earth.[28]

Diesen Zusammenhang zwischen Weißsein und Gewalt im Kontext von


Macht verortend, erkennt sie zudem, dass es zum Weißsein gehört, eine
rassialisierte Differenz herzustellen, und zwar als »an excuse to be mean. A
way to get land, land, more land/ … Power to decide/ Who is to live, Who
is to die.« Und mit typographischer Emphase heißt es dann: »Where,/
When, How.«[29]
Schon seit dem 17. Jahrhundert war die Oratur und Literatur von
Schwarzen und People of Color ein wichtiger Ort der kritischen
Auseinandersetzung mit Weißsein.[30] Und auch die Rassismusforschung
von Schwarzen/People of Color hat das weiße Subjekt kolonialistischer
Herrschaft und ihrer Mythen von Beginn an zum Gegenstand ihrer
Betrachtung gemacht.[31] Weiße haben erst in den 1990er Jahren
begonnen, sich kritisch mit Weißsein auseinander zu setzen. Bis heute sind
kritische Debatten über Weißsein fast nur im akademischen Diskurs
verankert. Katalysatorisch wirkte bei dieser akademischen Hinwendung zu
Weißsein die Verleihung des Nobelpreises an Toni Morrison 1993. Durch
diesen weißen Ehrenpreis erfuhr Morrisons Werk eine immense
Popularisierung im weißen westlichen Mainstream, die vor allem in den
USA auch der Rezeption ihres essayistischen Buches Playing in the Dark
(1992) zugute kam – einem Plädoyer für Weißsein als
kulturwissenschaftlicher Analysekategorie.[32] Nunmehr kam es auch zur
Formierung der (jetzt auch resourcengestützten) Forschungsrichtung, die in
Anlehnung an David Stowe gemeinhin als Critical Whiteness Studies
bezeichnet wird.[33] Rosi Braidotti und Gabriele Griffin haben sich jüngst
mit den Transferpotenzialen und -grenzen der Critical Whiteness Studies
auf den europäischen Kontext auseinandergesetzt. Zunächst in
Großbritannien aufgegriffen, hat diese US-amerikanische Theoriebildung
dann auch in anderen Teilen Europas, insbesondere den ehemaligen
Kolonialgesellschaften, einen fruchtbaren Resonanzraum gefunden.[34]
Auch in Deutschland und mit Blick auf die deutsche Gesellschaft gewinnt
die Auseinandersetzung mit Weißsein zunehmend an Gewicht, wobei
augenfällig ist, dass die ersten Impulse für diesen Ansatz von Schwarzen
Forscherinnen oder Forscherinnen of Color kamen. Dabei ist zudem
augenfällig, dass viele der weißen Wissenschaftlerinnen, die zu Weißsein
arbeiten, in oder aus den USA wissenschaftlich und politisch (eng gebunden
an die Person Audre Lordes) sozialisiert worden sind.[35] Übertragen auf
die deutschsprachige Forschungslandschaft folge ich dem Ansatz, auf den
deutschsprachigen Begriff Kritische Weißseinsforschung zurückzugreifen,
um so auch terminologisch die Relevanz dieses postkolonialen
Forschungsansatzes für die deutsche Gesellschaft zu unterstreichen.

WEIßSEINS-VERLEUGNUNG IM KONTEXT VON »LA VACCINE«, »MYTH OF


SAMENESS«, »EVASIVENESS« UND »COLOUR-BLINDNESS«

Ein inhaltlicher Schwerpunkt der frühen Kritischen Weißseinsforschung


war die Tendenz, dass es weißen Personen in den USA bzw. Deutschland
mehrheitlich unmöglich ist, über ihr Weißsein und ihren Anteil an der
Existenz des Schwarzseins Auskunft zu geben.[36] So nennen weiße
Deutsche etwa, wenn sie sich beschreiben – wie Ursula Wachendorfer
ausführt – Dinge wie Beruf, Alter, Geschlecht, religiöse Orientierung und
Familienstand. Alle diese Beschreibungen werden sicherlich aus dem
Grund genannt, weil sie es für sich selbst als wichtig ansehen und auch
möchten, dass andere dies tun. Weißsein ist in der Regel als Selbstkonzept
nicht bewusst vorhanden. Werden Weiße damit konfrontiert, so erklären sie
oft, dass Weißsein nichts über ihr ›Eigenes‹ Leben aussage. Gern ergänzen
sie dann auch, dass sie ›Rasse‹ überhaupt unwichtig finden und auch
Schwarze gar nicht als Schwarze wahrnehmen. Die dennoch diskursiv
präsenten rassialisierenden Zuschreibungen können diskursanalytischen
Zugriffen dann aber nicht verborgen bleiben. Hier zeigt sich, dass sich
Weißsein in Deutschland einer »strukturellen Unsichtbarkeit« erfreut und
sich gleichzeitig als »unsichtbar herrschende Normalität« präsentiert.[37]
Diesen (Nicht-)Positionierungen liegt eine auch jenseits von
Rassialisierungsprozessen anzutreffende rhetorische Figur zugrunde, die
Roland Barthes als la vaccine bezeichnet. Mit diesem Begriff ruft er das
Immunisierungsverfahren auf, Menschen mit den Kuhpocken zu infizieren,
die für Menschen nicht lebensgefährlich sind, um sie gegen die
lebensbedrohliche Pockenerkrankung immun zu machen.[38] Überträgt
man dieses Verfahren, das die Pocken gewissermaßen domestiziert, auf den
Kontext sozialer Prozesse, so rekurriert diese Figur auf Bemühungen, die
Gesellschaft zu immunisieren. Zum einen werden minimale Subversionen,
die kontrollierbar und harmlos erscheinen – also an der Peripherie, im
Bereich des Unwesentlichen, Sekundären, lokal begrenzt usw. –, toleriert,
um fundamentale Erschütterungen der auf Klasse oder Rasse aufbauenden
symbolischen Ordnung und Differenz zu verhindern. So zögere die
Bourgeoise etwa nicht mehr (wie noch einhundert Jahre zuvor), die
Avantgarde, das kindliche Irrationale usw. anzuerkennen. »Die Bourgeoise
… lebt nunmehr in einer Ökonomie der Kompensierungen. Wie in jeder
guten Aktiengesellschaft gleichen die kleinen Anteile juristisch (aber nicht
de facto) die großen aus.«[39] Zum anderen wird die Existenz minimaler
Unterschiede akzeptiert (wodurch dann auch die alterisierende Rhetorik
gerettet werden kann), um die Existenz hegemonialer Differenzen (in ihrer
Realität von Macht und Privilegien) zu zähmen und zu verleugnen.
In ihrer Analyse der rhetorischen Manifestationen von Weißsein
identifizierten bell hooks diese Figur als »myth of sameness« und Toni
Morrison als »evasion« (»Ausweichmanöver«). Dabei benennen beide
wichtige weiterführende Aspekte. Hooks führt aus, wie in logischer
Konsequenz der Verweigerungshaltung gegenüber der rassialisierten
Differenz und dem eigenen Weißsein, es Weißen unheimlich bis
ungebührlich vorkommt, sich dem gazing B(l)ack ausgesetzt zu sehen und
sich als von Schwarzen kodiert zu erkennen:
Usually, white students respond with naive amazement that black people critically assess white
people from a standpoint where ›whiteness‹ is the privileged signifier … They have a deep
emotional investment in the myth of ›sameness‹, even if their actions reflect the primacy of
whiteness as a sign informing who they are and how they think … In white supremacist society,
white people can ›safely‹ imagine that they are invisible to black people since the power they have
historically asserted, and even now collectively assert over black people, accorded them the right
to control the black gaze.[40]

Hier deutet sich eine wichtige Ursache dafür an, warum Weiße nicht über
Weißsein reflektieren: Weißsein zu sehen und es kritisch zu reflektieren,
bedeutet »to deny the imperial epistemological and ontological base from
which it sees what it wants (or has been shaped historically) to see«.[41]
Die zeitversetzte und noch immer zögerliche Reflexionsarbeit hängt
ursächlich damit zusammen, dass die Archivierung von weißem Wissen, das
diskursiven Internalisierungsprozessen zugrunde liegt, zwar von Schwarzen
kritisch reflektiert, kommentiert und herausgefordert wurde, Weiße jedoch
gern auf ihr Privileg verließen, dies zu ignorieren und dem weißen
Wissenssystem unbeirrt weiter unkritisch zu vertrauen. Das bedeutet eben
auch, dass es keine weißen Erinnerungsorte und Diskurse gibt, an die Weiße
bei einer kritischen Reflexion von Weißsein anschließen könnten. Folglich
muss die Erinnerungsarbeit auch Auseinandersetzungen mit dieser
Ortlosigkeit im weißen Wissensarchiv einschließen – und den daraus
folgenden Irritationen und Verunsicherungen, die in einem breiten
Spektrum von Gefühlen resultieren können: in Frustration, Empörung und
Wut sowie auch Schamgefühlen, die sich etwa auch in einer Rhetorik von
Be-Schweigen als Verweigerungsmuster manifestieren. Diese Gefühle
schützen Weiße davor bzw. hindern sie daran, Weißsein kritisch zu
reflektieren und zu beginnen, es anders zu sehen und die Archivierung
weißen Wissens zu resituieren. Das zeigt, dass nicht nur die rhetorische
Figur des »blaming the victim« (diese seien selbst schuld, überempfindlich,
hätten etwas (absichtlich) missverstanden etc.), sondern auch die Rhetorik
des Beschweigens als (aggressive) Verweigerungsmuster zu verstehen sind.
Toni Morrison betont zudem, dass diese Verweigerungshaltung eben
gerade noch dadurch verkompliziert werde, dass »the habit of ignoring race
is understood to be a graceful, even generous, liberal gesture«.[42] Dabei ist
es eben nicht problematisch, eine bestehende Differenz zu benennen,
sondern sie zu ›entnennen‹. Denn dies verhindert einen »adult discourse«
(im Sinne einer verantwortungsbewussten und -orientierten
Auseinandersetzung), der dem »black body a shadowless participation in
the dominant cultural body«[43] aufzwinge.
Gesellschaftliche, politische und kulturelle Formationsprozesse fußen
auf einem historischen Rassialisierungsprozess, bei dem Weißsein eine
hegemoniale Rolle zukommt. Diese Hegemonien und die Differenzen
können nicht einfach nur dadurch überwunden werden, dass sie negiert oder
ignoriert werden. Im Gegenteil: Wenn Weißsein entnannt wird, werden auch
die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken
verleugnet, die an Weißsein gebunden sind, und wird den Ausgrenzungs-
und Gewalterfahrungen, die Schwarze und People of Color durch Weiße
real erleben, keine Rechnung getragen. Dadurch wird Weißsein nicht nur
verstärkt und naturalisiert,[44] zudem bleibt sein Status als »unmarked
marker« und »unsichtbar herrschende Normalität« unerschüttert.
In Anlehnung an Morrisons Begriff der ›evasiveness‹ werde ich im
Folgenden von der ›Weißseins-Verleugnung‹ sprechen. Diesen Terminus
finde ich präziser als die allgemeineren Begriffe der ›Machtverleugnung‹
oder auch ›Machtvermeidung›, weil es ja um eine spezifische Machtform
(weiße Hegemonie) geht und (wie in Bezug auf ›Machtvermeidung‹ zu
sagen bleibt) nicht um eine ›Vermeidung‹ von Macht, sondern die
Verleugnung der Tatsache, dass die Macht eben gerade nicht vermieden
wird/vermeidbar ist. Zudem setze ich mich auch von dem problematischen
Begriff der ›colour-blindness‹ ab. Zum einen euphemisiert er den
eigentlichen Gegenstand dieser Verleugnung. Die ›Hautfarbe‹, auf die
dieser Begriff rekurriert, ist nichts anderes als ein rassialisierendes
Konstrukt, eine biologistische Konstruktion zur Herstellung von ›Rassen‹.
Letztlich geht es um die der rassialisierten Differenz eingeschriebene
Macht. Zudem geht es nicht um ›Blindheit‹ (eine problematische
Aneignung der gleichnamigen physischen Beeinträchtigung), sondern um
eine mehr oder minder bewusste Verweigerungshaltung.
Während die rhetorische Figur der ›Weißseins-Verleugnung‹ auf die
Tendenz rekurriert, dass Weiße ihr Weißsein nicht reflektieren, gibt es eine
verwandte rhetorische Figur, die ich als ›Weißseinshierarchisierung‹
bezeichne. Diese Figur, die gerade auch kritische weiße Perspektiven
innerhalb der Weißseinsforschung diskursiv prägt, baut zum einen auf der
These auf, dass Weißsein verhandelbar, temporär und reversibel ist. Es kann
einem abgenommen werden und ist in logischer Konsequenz auch aus einer
kritischen ›Gutmensch-Perspektive‹ heraus überwindbar (»Ich bin eine gute
Weiße. Ich bin nicht mehr weiß«). Ich nenne dies Traktabilität. Zum
anderen stellt sich die ›Weißseinshierarchisierung‹ über die These her, dass
sich Weißsein nicht nur mit anderen Strukturkategorien verschränkt,
sondern sich dabei auch relativieren, wenn nicht gar aufheben lässt (»Ich
bin nicht so weiß wie ihr, weniger weiß als andere«). Diese sich
wechselseitig bedingenden Strategien möchte ich im Folgenden erörtern.

VON ›BÖSEN‹ UND ›GUTEN‹ WEIßEN


Zunächst zur Traktabilität. Das Muster ist einfach erklärt: Ich zeige mit dem
Finger auf die weißen Masken des Klu Klax Klans und die weißen Siedler,
die die Apartheid preisen und, hierzulande, auf Neonazis und Skinheads,
manchmal auch noch auf die WählerInnen der NPD oder der DVU. Dann
lehne ich mich zurück und suche nach den Ursachen für diese ›Auswüchse‹
– im kommunistischen Regime der DDR, etwa, oder im ›unterprivilegierten
Bildungsniveau‹, oder auch über das Modell der Entpolitisierung, dass den
Täter/die Täterin ›entschuldet‹: Es seien einfach ja eigentlich familiäre
Konflikte, mit Geschwistern, der Mutter, zumeist aber mit dem Vater, die
hier auf Rassialisierte übertragen werden. Gern wird auch von einer
›Jugendkultur‹ gesprochen. Bei diesen Ursachenbeschreibungen haben wir
es mit der von der Psychoanalyse beschriebenen rhetorischen Figur der
›Isolierung eines Problems‹ zu tun. Auf dieser Grundlage erkläre ich dann
(guten Gewissens), dass ich so weder handeln noch denken würden. Ich
gebe mich offen und liberal, reflektiert und solidarisch, kurzum: gut(willig).
Diese Traktibilität verschleiert, dass Neonazis, Apartheid-IdeologInnen und
der Klu Klux Klan nur die Spitze des Eisberges sind und Rassismus aus der
Mitte der Gesellschaft kommt. Denn seine Gewalt und Macht verdankt der
weiße Koloss seiner Masse und Tiefe, seinem Fundament dem Weißsein, in
dem Weiße (und eben auch die ›Gutmenschen‹) – forciert durch die
Aufklärung – diskursiv und strukturell be- und gefangen sind. »[R]acial
oppression is not the work of ›racists‹, but of people who in many cases
would be sincerely offended if accused of complicity with white
supremacy.«[45]
Janine Jones entwirft eine plausible Erklärung für diesen scheinbaren
Widerspruch. Der Abwendung von rassistischer Segregation muss nicht auf
einer kritischen Durchdringung des Weißseins aufbauen, ja nicht einmal im
Kern dem Rassismus selbst gelten. Vielmehr reiche es aus, dass auf einer
abstrakteren Ebene Analogien zwischen den (rassistischen) Erfahrungen des
›Anderen‹ und eigenen Lebenserfahrungen und -prämissen zu finden sind.
»Thus, empathy occurs when we succeed in mapping the structure of an
experience of the individual with whom we seek to empathize. Or as Barnes
and Thagard put it, empathy is possible when ›there is a system of mapping
that draws correspondences between two persons’ situations, goals, and
emotions.‹«[46] Eine mögliche Ursache für weiße Empörung über
intendierten Rassismus mag also darin bestehen, dass etwa Gerechtigkeit
oder Freiheit Metakategorien des eigenen Strebens sind und Erfahrungen
von Ungerechtigkeit und Unfreiheit das eigene Leben konturier(t)en. Die so
frei gelegten Gefühle der Frustration, Empörung und Wut sind dann
abrufbar, wenn man/frau glaubt, ein analoges Grundmuster anzutreffen.
Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum dieses Muster der den
Rassismus betreffenden Traktabilität etwa vergleichsweise oft in Kreisen
weißer feministischer[47] oder/und marxistischer TheoretikerInnen oder
AktivistInnen anzutreffen ist. Doch, wie Jones unterstreicht, ist die Quelle
dieser Art von Empathien insofern fraglich, als die strukturelle Differenz
dieser Erfahrungsmuster dabei ignoriert wird – es einer weißen Person
unmöglich bleibt, sich in einer von ihr angenommen strukturellen Nähe zu
Rassismus zu befinden.[48]
Der der Figur der Traktabilität innewohnende Mythos, dass Weißsein
hierarchisierbar sei, wird von einigen kritischen weißen
WeißseinsforscherInnen bis zur These ausgereizt, dass Weißsein reflektiert,
durchschaut und auf dieser Grundlage überwunden werden könne. Die
Rede ist vom ›unmaking of whiteness‹, vom New Abolitionism – schon
terminologisch ein fragwürdiger Ansatz. Die weißen Historiker David
Roediger, John Garvey und Noel Ignatiev gehören zu den prominentesten
Vertretern dieses New Abolitionism. Garveys und Ignatives Zeitschrift Race
Traitor »aims to serve as an intellectual center for the new abolitionism. Its
task is to chronicle and analyze the making, remaking and unmaking of
whiteness.«[49]
In der internalisierten Traktabilität des ›Gutmenschen‹ und in teilweise
abwertender Perspektive auf eine ›bildungsunterprivilegierte‹
Arbeiterklasse proklamieren sie:
[T]he ›white race‹ is not a natural but a social category and … that what was historically
constructed can be undone … The white race is a club that enrols certain people at birth, without
their consent, and brings them up according to its rules … Race Traitor aims to abolish this white
club, to break it apart, to explode it … The abolitionists recognize that ›whites‹ cannot
individually abandon the privileges of whiteness … The point is not for individuals to become
unwhite (although that is good when it happens …) but to blow apart the social formation known
as the white race, so that no one is ›white‹ … The effect of the poor whites’ consciousness and
behavior is predictable. With color no longer serving as a handy guide for the distribution of
penalties and rewards, European Americans of the downtrodden class would at last be compelled
to face their real condition of life and their relations with humankind. It would be the end of the
white race and the beginning of a new phase in the struggle for a better world.[50]

Dazu sei es nötig, Weißsein als Währung zu entwerten, ungültig zu machen,


indem die Unterteilung von Menschen nach ›Rassen‹ (von den ›Gutmensch-
AbolitionistInnen‹) durch zielgerichtete Widerstandspraktiken unbrauchbar
gemacht werde.
Es gilt als Konsens der Kritischen Weißseinsforschung, dass ›Rasse‹ ein
Mythos ist – und Weißsein eine ihn tragende sozial und politisch
konstruierte Kategorie mit historischer Funktion. Doch eben dies verneint
nachgerade, dass Weißsein individuell überwunden werden oder gar zur
kollektiven Selbstauflösung getrieben werden kann. Yancy arbeitet
überzeugend heraus, dass Weißsein keine Fiktion, sondern eine politische
und soziale Realität ist, die nicht auf eine Form von Freiwilligkeit reduziert
werden könne, ihr kulturelles Erbe auszuschlagen.[51] »It is not enough«,
schreibt der afrikanisch amerikanische Philosoph, »that whites with good
intentions, thematize their whiteness and attempt to render it harmless.« Der
semiotische Raum des Weißseins geht weit über individuelle Intentionen
und Proklamationen hinaus.
Hence, whites can have good intentions, but what is done when one’s whiteness carries a surplus
of significations over and above such intentions? For example what would it mean for a white to
fight against white supremacy and yet reap the material benefits of whiteness: easily obtaining
bank loans, gaining meaningful employment, and so on? … To advocate the ›abolition of
whiteness‹ while structures created by whites to benefit whites still remain in place is a nominal
position at best.[52]

Weißsein als Diskurs, als »Fluss von Wissen durch die Zeit«,[53] kann sich
nicht seiner Präsenz entziehen, wohl aber seiner Präsenz stellen. Das weiße
Subjekt mag seine Privilegien und Machträume teilen können, doch es
vermag es nicht, diese in ihrer Komplexität zu verlassen. Es agiert
ausgehend von einer Freiwilligkeit des Handelns, die ihrem Wesen nach
immer rudimentär bleibt.
Diskursiv gereicht es sich nicht als Zufall, dass insbesondere die
VerfechterInnen des New Abolitionism in reziproker Perspektive das
argumentative Muster überstrapazieren, dass Weißsein verhandelbar,
temporär und reversibel ist, man/frau Weißsein erwerben und es einem auch
verweigert werden kann. Weißsein, so die These, sei nicht einfach nur ein
biologistisch konstruiertes Erbe, sondern auch davon abhängig, ob man sich
mit seinen Kodes identifiziere und ihnen entsprechend performe.[54] Als
Beleg dafür werden immer wieder die irischen und osteuropäischen
MigrantInnen in den USA im 19. Jahrhundert[55] oder auch die
›verkafferten‹ weißen deutschen Kolonialisten angeführt, die weiße
Privilegien einbüßten und damit angeblich belegen würden, dass die
Möglichkeit der Grenzüberschreitung zwischen den binär verfassten
Kategorien Schwarz und weiß besteht und selbst ein Kolonisator zum
›Anderen‹ werden konnte.[56]
Kurtz’ in Joseph Conrads Heart of Darkness ist das wohl prominenteste
Beispiel für das, was im rassistischen Kolonialjargon als ›verkaffert‹
bezeichnet wird: Sie sind alkoholabhängig, mit Schwarzen Frauen
verheiratet, kreolisieren ihre Muttersprache und/oder (was auf Kurtz nicht
zutrifft) verarmt. Im deutschen Koloniallexikon ist nachzulesen, dass ein
»verkafferter Europäer« ein »verlorenes Glied der weißen Bevölkerung« ist.
[57] Ganz prominent regierte dieser Begriff auch die kolonialistische
Propaganda des Deutschen Frauenbundes. Hier scheint er der Angst
Ausdruck zu verleihen, dass lange Zeit als Junggesellen in Afrika lebende
Männer ähnlich wie Tarzan kulturell degenerieren würden – und ähnlich
wie Jane nur die weiße Frau den Sieg der Natur über die Kultur verhindern
könne. Aber gerade das Beispiel Tarzan zeigt ja auch, dass die
kolonialistische Mentalität Weißsein als ›Natur‹ (im Sinne Roland Barthes’)
setzt und daher ihrer eigenen Logik gemäß zwar überlagert, nicht aber
verloren gehen kann. Und genaugenommen sagt das Koloniallexikon eben
dies. Ein ›verkafferter‹ Weißer ist ein verlorenes Glied der weißen
Bevölkerung, nicht aber einer, der sein Weißsein verloren hat oder verlieren
wird. Er ist ein reversibel für die weiße Herrenmenschenideologie verloren
gegangener Weißer, der doch den Großteil weißer Macht und Privilegien
beibehält und daher auch im Kontext kolonialistischer Macht und Gewalt
um nichts weniger weiß ist als andere Weiße. Hinzukommt, dass er jederzeit
aufgrund seiner ›biologischen Abstammung‹ und der rassistischen
Konstruktion und Kodierung seiner ›Hautfarbe‹ als gänzlich
gleichberechtigtes Glied der weißen Bevölkerung rehabilitiert werden kann.
Gerade im Kontext des Kolonialismus, der sich auf Rassentheorien
gründete, scheint es wenig sinnvoll, zu argumentieren, dass es soziale
Bedingungen gibt, unter denen das biologisch geerbte Weißsein verloren
gehen und ein Weißer Schwarz werden kann. Dabei bleibt aber die Frage
interessant, aus welchem Grund diese Männer von Weißen im Zentrum als
»kulturell degeneriert« imaginiert wurden und worin die Ursache für diese
Veränderung liegt. Mit Conrad kann dabei die These vertreten werden, dass
dies eher eine logische Folge der Perversion des Kolonialismus, deren
Praxis stets dem proklamierten Mythos von der ›Bürde des weißen Mannes‹
widersprochen hatte, war, als ein Ergebnis der Nähe zu afrikanischen
Kulturen.
Auch im Fall der Polen und Polinnen wird oft die Frage aufgeworfen, ob
sie tatsächlich als Weiße zu positionieren seien. Dafür werden vor allem
zwei historische Kontexte als Referenzrahmen herangezogen, die
historische Ausnahmeräume darstellen – die nationalen Formationsprozesse
in den USA im späten 19. und vor allem frühen 20. Jahrhundert sowie der
Nationalsozialismus. Zunächst zum US-amerikanischen Kontext. Auch
wenn Rassialisierungsprozesse und rassistische Ideologien für die weißen
ImmigrantInnen aus Europa nicht grundsätzlich neu waren und sie von
europäischen Rassentheorien diskursiv geprägt worden waren, war es
dennoch eine deutlich weitgehendere Erfahrung, in eine Nation zu kommen,
in der Weiße obsessiv rassialisierten und segregierten. Die europäischen
MigrantInnen mussten sich stets dringend und schnell einen Platz in der
symbolischen Ordnung von Rasse suchen, weil dieser Platz eben etwa auch
Zugänge zu ökonomischen Resourcen (etwa die Art der Arbeit, die Höhe
der Löhne, Wohnorte, Zugang zu Gewerkschaften etc.) eröffnen oder
verschließen konnte. Diese Ordnung war als stark binnendifferenziert
erfahrbar, wobei sich diese Hierarchisierungen maßgeblich entlang von in
Europa präsenten Machtverhältnissen vollzogen, bei denen die Kategorie
Nation(alität) eine zentrale Rolle spielte. Zudem herrschte auch das »Recht
der Rechtzeitigkeit«: Die älteren MigrantInnengenerationen positionierten
jeweils die gerade neuen Generationen in der Hierarchie unter sich, so etwa
im frühen 20. Jahrhundert auch die IrInnen, die mehrheitlich bereits in den
1840er und 1850er Jahren in die USA gekommen waren, die PolInnen.[58]
Entsprechend der allgemeinen Dominanz der Kategorie ›Rasse‹ in den USA
wurde diese Nationenhierarchie[59] dann in diesem konkreten Zeitraum in
Dynamiken übersetzt, die oft als rassialisiert interpretiert werden. »In 1926
Serbo-Croatians ranked near the bottom of a list of forty ›ethinc‹ groups
whom ›white American‹ respondents were asked to order according to the
respondents’ willingness to associate with members of each group. They
placed just above the N., Filipinos, and Japanese. Just above them were
Poles.«[60] Roediger vertritt dabei die These, dass diese »literal
inbetweenness of new immigrants on such lists« belege, dass »[t]the state of
whiteness was approached gradually and controversially.«[61] Mir scheint
es dagegen plausibel, dass hier deutlich wird, dass die PolInnen und
anderen neuen weißen europäischen ImmigrantInnen zu keinem Zeitpunkt
ihr Weißsein verloren, sondern nur an die Peripherie des Weißseins
delegiert wurden. Dabei blieben sie stets ein Teil des weißen Gefüges.
Dafür spricht etwa, dass sich für polnische und andere ›neue
ImmigrantInnen‹ der Weg ins Mainstream-Weißsein in der Regel deutlich
schneller zu einer US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ebnete – und
selbst diese konnten weiße ImmigantInnen aus Europa vergleichsweise
kurzfristig erlangen (hier wurde ihr Weißsein dann besiegelt), was in
starkem Kontrast zu den Erfahrungen nicht-europäischer MigrantInnen
steht.[62] Dabei war es ein wichtiger Meilenstein des Weges, rassialisiertes
Denken und Agieren als wichtige gesellschaftliche Konstituente zu
erkennen und sich unmissverständlich und irreversibel als weiß zu
positionieren – und diese Option stand eben den weißen europäischen
ImmigrantInnen anders etwa als den AfroamerikanerInnen oder den
chinesischen oder indischen usw. MigrantInnen auch offen. Hinzu kommt,
dass die europäischen ImmigrantInnen auch zu keinem Zeitpunkt Opfer der
Jim Crow Gesetze, die der Verschärfung rassistischer Segregation in allen
Lebensbereichen dienten, wurden und es für die NachfahrInnen der
SklavInnen letztlich keinen Unterschied darstellte, ob ein gerade
angekommener polnischer Immigrant oder eine bereits verwurzelte weiße
US-Amerikanerin sie rassistischer Gewalt aussetze. Hier zeigt sich, dass es
möglich sein mag, für den historischen Moment der Ankunft polnischer und
anderer neuer europäischer ImmigrantInnen in den USA zu postulieren,
dass Weiße ausgehend von in Europa geltenden Nationalitäts-Hierarchien
hierarchisiert wurden und dabei auch als »inbetween races« hergestellt
wurden, doch heißt das nicht, dass sie als Nicht-Weiße konstruiert wurden
und schon gar nicht, dass es politisch oder theoretisch plausibel ist, sie auch
heute noch als Nicht-Weiße oder als Schwarze/People of Color zu
positionieren.
Für den deutschen Kontext stellt sich die Situation partiell anders da. Im
Kontext von Kolonialismus und Nationalsozialismus und seiner
rassistischen Ideologiegebilde – prominent auch vertreten in Wissenschaft
und Literatur –[63] hat sich in Deutschland eine strukturelle und diskursive
Kongruenz von Deutschsein, christlicher Religion und Weißsein formiert.
In Korrespondenz mit der prinzipiellen Willkürlichkeit, mit der
Rassentheorien ökonomischen, politischen und militärischen Interessen
angepasst wurden, sind Theorien der vermeintlichen ›rassischen
Minderwertigkeit‹ von PolInnen im Nationalsozialismus (in Rückgriff auf
die Tradition des Antislawismus und auch frühere Rassentheorien)
weiterentwickelt worden. Dennoch scheint es unerlässlich, zu
berücksichtigen (das Beispiel des Warschauer Ghettos macht dies
exemplarisch deutlich), dass der nationalsozialistische Rassenwahn einen
deutlichen Unterschied machte zwischen jüdischen und christlichen
PolInnen und daher auch die Analyse zwischen Opfern der Shoa und
Opfern von Krieg, Verschleppung und Zwangsarbeit unterscheiden muss.
Es steht nicht zu bezweifeln, dass weiße christliche Polen in Deutschland
komplexen Positionierungs- und Gewaltformen ausgesetzt waren und noch
immer sind und die nationalsozialistischen Konzepte, die bis heute
diskursiv fortwirken, dabei konstituierend wirk(t)en. Doch es ist theoretisch
und politisch wichtig, zwischen Antislawismus einerseits und Rassismus
und Antisemitismus andererseits zu differenzieren – zwischen den
strukturellen und diskursiven Positionierungs- und Gewaltmustern, denen
einerseits weiße christliche PolInnen ausgesetzt sind, und andererseits
jenen, die Schwarze PolInnen (wie auch andere somatisierend und/oder
religiös markierte EuropäerInnnen wie z.B. TürkInnen) und Juden/Jüdinnen
in Deutschland sowie auch in Europa im Allgemeinen erfahren.
Im Vergleich der beiden diskutierten Kontexte scheint es mir historisch
und um so mehr für die Gegenwart am treffendsten, mit dem Konzept der
›Ethnisierung‹ zu arbeiten. Dies hieße, PolInnen als ›Ethnisierte‹ zu
beschreiben – und sie als Weiße zu positionieren.

MYTHOS: WIR SIND ALLE »ANDERS«


Die für Deutschland beschriebene Kongruenz von Deutschsein, christlicher
Religion und Weißsein zeigt exemplarisch, dass sich Weißsein oft in
Verschränkung mit anderen Strukturkategorien herstellt. Neben Nation und
Religion wirken sich noch viele andere Strukturkategorien wie etwa
Geschlecht, Klasse, Bildung, Mobilität oder Gesundheit und sich daraus
konstituierende Differenzen konstitutiv auf rassialisierende
Herstellungsprozesse von Weißsein aus. So können eben Weiße Frauen oder
Männer, ArbeiterInnen oder SpitzenverdienerInnen, heterosexuell oder
homosexuell, sowie moslemisch, jüdisch oder christlich oder einer weiteren
Religion angehörig etc. sein. Dies legt nahe, von einer Koexistenz
verschiedener Differenzmuster und Gewaltmuster auszugehen und
Weißsein (wie auch andere soziale Positionen) in komplexen und
dynamischen Positionalisierungsprozessen zu situieren. Dies impliziert aber
keineswegs, dass es zu einer wechselseitigen Aufhebung verschiedener
Differenzen kommen könne und Weißsein (genauer verschiedene weiße
Positionen) sich in irgendeiner Weise hierarchisieren ließen. Auch wenn es
neben der rassialisierten Differenz Geschlechterdifferenzen und
sozialökonomische Differenzen gibt, so ist es eben doch nicht überzeugend,
diese dahingehend zu interpretieren, dass weiße Frauen und
sozialökonomisch benachteiligte weiße Männer weniger weiß wären als
weiße Mittelklasse-Männer. Und wie etwa und auf der Grundlage welcher
Kriterien sollten sich auch eine weiße ›gesunde‹ heterosexuelle Arbeiterin,
eine weiße ›gesunde‹ lesbische Akademikerin, die offen lebt, ein weißer
heterosexueller Mann, der im unzureichend barriefreien öffentlichen Raum
auf einen Rollstuhl angewiesen ist und ein weißer schwuler Mann, der nicht
out ist, sinnvoll oder eindeutig auf einer Hierarchieskala anordnen lassen.
Wer wäre warum weniger weiß als der oder die andere?
Nehmen wir das Beispiel der ›armen Weißen‹. Es ist wahr, dass diese
eben ›gesund‹ oder ›körperlich behindert‹, heterosexuell oder homosexuell,
AkademikerInnen oder ArbeiterInnen, Frauen oder Männer etc.
moslemisch, jüdisch oder christlich oder einer anderen Religion angehörig
sein können und dadurch differente soziale Positionen innehaben.
Entscheidend ist dabei aber, dass sie, wie Yancy unterstreicht, unter dem
System weißer Hegemonie auch »manage to reap aesthetic and
psychological rewards as a result of possessing the valued property of
whiteness. Hence, whether poor or wealthy, whiteness constitutes an
invisible knapsack of unearned assets that they (white people) can rely
on.«[64] Die ›white riots‹ in den USA und in Südafrika zeigen dies
exemplarisch. In einem kausalen Zusammenhang zwischen weißen
Privilegien und rassistischer Gewalt versuchen Weiße zum einen,
ökonomische Macht von Schwarzen subversiv zu unterwandern. Dabei
spielen reiche Weiße die ›race card‹ aus, um ein Bündnis mit armen Weißen
gegen wohlhabendere Schwarze zu schmieden.[65] Zum anderen sind
Konflikte zwischen weißen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen oft in
Form von Gewalt gegen Schwarze ausgetragen worden. So waren etwa
auch die als »Rand Revolt« in die Geschichte eingegangenen Aufstände
weißer südafrikanischer Arbeiter zwar eigentlich gegen ihre weißen
ArbeitgeberInnen und den Staat gerichtet. Doch manifestierte sich der
Aufstand in rassistischer Gewalt gegen Schwarze.[66] In aktualisierender
Perspektive auf Deutschland lassen sich analoge Prozesse beschreiben. So
werden etwa auch im demokratischen Spektrum der Politik Debatten um
Arbeit und Arbeitslosigkeit diskursiv mit Einwanderung und Asyl
vermengt, wobei es dann – gemäß dem in rassistischen Diskurs in
Deutschland Konzept von »Ausländer«(feindlichkeit) – nicht um weiße
westliche ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge geht, sondern um Schwarze
und People of Color. Auf einem anderen Blatt stehen dann ohnehin noch die
ökonomischen Fakten, die pauschal besagen, dass weder der Abzug von
Arbeitsplätzen ins Ausland prozentual ins Gewicht fällt noch die These,
›AusländerInnen‹ würden ›Deutschen‹ die Arbeitsplätze wegnehmen,
sozial-ökonomisch zu belegen ist. Dies zeigt nur, dass die ›ins Feld‹
geführten Behauptungen politisch gut geeignet sind, um weiße Ängste zu
bedienen.

JENSEITS DER »WEIßSEINSHIERARCHISIERUNG«


Wie also kann die Komplexität von Weißsein gezähmt werden, ohne dem
Muster »weniger weiß – weiß – weißer« zu verfallen? In ihrem Buch
Desiring Whiteness. A Lacanian Analysis of Race schlägt Kalpana
Seshadri-Crooks vor, von einem Master-Signifier Weißsein auszugehen,
von dem aus eine symbolische Ordnung von Rasse hergestellt wird. Diese
sei über das Modell der Signifikantenkette zu erfassen. »This chain
provides subjects with certain symbolic positions such as ›Black‹, ›White‹,
›Asian‹ etc., in relation to the master signifier. ›Race‹, in other words, is a
system of categorization that once it has been organized shapes human
difference in certain seemingly determined ways.«[67] Seshadri-Crooks
Modell hat den Vorteil, dass es Weißsein ebenso als Konstrukt entwirft wie
das ›nicht-weiße Andere‹ und dieses zudem in seiner Pluralität zu erfassen
vermag. Doch es entzieht sich einer klaren Positionierung der Anordnung
von Weißseinsformen sowie der pluralen Manifestationen der ›nicht-weißen
Anderen‹. Methodisch scheint hier eine dreidimensionale Anordnung
weitgehender: Um einen Master-Signifier Weißsein herum finden sich
weiße und Schwarze Umlaufbahnen. Die Schwarzen Positionen mögen sich
auf miteinander verwobenen Bahnen bewegen, doch bleiben sie dabei
innerhalb des Schwarzen Koordinatensystems, dem die weißen Räume
unzugänglich bleiben. Ebenso mögen sich etwa die Bahnen verschiedener
weißer Positionen überschneiden oder überlagern, doch bleiben sie dabei
stets innerhalb des weißen Koordinatensystems. Und es ist eben diese
manichäische Konstellation, die in der Grundanlage rassistischer Theorien
begründet ist, die das Festhalten an Weißsein und Schwarzsein als
Kategorien der Dekonstruktion erforderlich macht und sie dem Vorwurf der
Essentialisierung entheben muss. So konstatiert Fisher Fishkin es ja
nachgerade als ein Ergebnis des Nachdenkens entlang der Kategorien weiß
und Schwarz: »Our ideas of ›whiteness‹ were interrogated, our ideas of
blackness were complicated.«[68]
Auch wenn hier verneint wird, dass Weißsein hierarchisiert oder gar
überwunden und aus den Landschaften der sozialen Ordnung verschwinden
kann, so heißt das keineswegs, dass die Möglichkeit ausgeschlossen bleibt,
dass der weiße Eisberg und der Fluss Weißsein kartiert und gezähmt – d.h.
weiße Strukturen identifiziert, analysiert und dekonstruiert, weißes Wissen
neu archiviert und Weißsein resituiert werden können. Es gibt zwar keine
unterschiedlichen Stadien von Rassismus, wohl aber im Umgang damit.
Über Begriffe wie Bewusstsein, Scham und Reflexionsbereitschaft und -
vermögen eröffnen sich Perspektiven auf unterschiedliche Identitätsmuster
von Weißsein. Es ist wichtig, diese wahrzunehmen, ohne in die
Hierarchisierungsfalle zu tappen. Denn es ist diese Prämisse, die der
Kritischen Weißseinsforschung überhaupt erst ihre epistemologische Logik
und ihren politischen Sinn verleiht, die diesbezügliche Notwendigkeit
kritischer weißer Perspektiven überhaupt erst motiviert und den
kommunikativen Rahmen für Dialoge zwischen Schwarzen, People of
Color und Weißen bietet. Der Satz: »Ich weiß, das ich weiß bin«, hält mich
aporetisch in der Traktabilität gefangen und ist doch der einzige Zugang
zum Weißsein – seinen Mythen, Masken und mir – dem weißen Subjekt.

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ANMERKUNGEN
1 Barthes: Mythen des Alltags, S. 131. Für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem
rassitischen Mythos und seinen Figuren der Altersierung, Identifikation, Machtverleugnung und
Tautologie vgl. Arndt: »›The Racial Turn‹«.
2 Für diese tautologische Grundformel vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 143.
3 In meinem Beitrag arbeite ich mit dem von Nicola Lauré Al-Samarai entworfenen Begriff der
›Entnennung‹, um auf den komplexen Prozess der Dehistorisierung, Depolitisierung und
Dethematisierung von Weißsein und rassialisierter Differenz zu verweisen. Siehe dazu den
Beitrag von Lauré Al-Samarai in diesem Band.
4 Fanon: Peau noir, masques blancs, S. 7.
5 Barthes: Mythen des Alltags, S. 147.
6 Der Begriff ›Rasse‹ (lat. ratio ›Ordnung, Kategorie, Spezie‹) tauchte zuerst im Zusammenhang
mit der Klassifizierung von Tier- und Pflanzenarten auf. Er bezeichnete Gruppen, die sich von
anderen derselben Art durch konstante und vererbbare Merkmale unterscheiden. 1684 benutzte
der französische Arzt und Reisende François Bernier erstmals den Schlüsselbegriff »Rasse« zur
Unterteilung der Menschheit. Nach Deutschland kam der Begriff ›Rasse‹ 1775 durch Immanuel
Kant. Von Anfang an ging die Klassifizierung von Menschen nach ›Rassen‹ mit biologistischen
Verallgemeinerungen, Verabsolutierungen, Wertungen und Hierarchisierungen einher. Für eine
gute Zusammenfassung der Konstituierung der biologischen Kategorie »Rasse« vgl. etwa:
Geiss: »Rassismus«.
7 Vgl. Memmi: Rassismus, S. 164-178.
8 Fanon: Die Verdammten dieser Erde, S. 34. Markierte Übersetzungsänderung von mir.
9 JanMohamed: Manichean Aesthetics, S. 4
10 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 5.
11 Vgl. Memmi: Rassismus, S. 164-178.
12 Vgl. ebenda, S. 164-178. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit
Rassialisierungsprozessen, vgl. auch: Eggers: Rassifizierung und kindliches Machtempfinden,
bes. S. 73-124.
13 Eine Vielzahl von Begriffen, die in der Alltagssprache und zum großen Teil auch in
Schulbüchern und Wörterbüchern unkritisch Verwendung finden, basieren auf der
Grundannahme der Existenz menschlicher »Rassen«, dazu zählen neben dem N-Wort, u.a.
Begriffe wie »Mohr«, »Farbige«, »Mischling«, »Mulatte«, »Bastard«, »Stamm«, »Ethnie«,
»Häuptling«, »Eingeborene«, »Busch«, »Buschmann«, »Hottentotten«, »Pygmäe«, »Kaffer«,
»Hamit«, »Schwarzafrika«, »schwarzer Kontinent«, »Naturvölker«, »Naturreligion«. Vgl. dazu
Arndt & Hornscheidt (Hrsg.): Afrika und die deutsche Sprache; Kilomba: »›Dont’ you call me
Neger!‹«.
14 Vgl. Knußmann: Vergleichende Biologie des Menschen. 1998 erschien ein Buch mit
ausführlicheren Beiträgen zur Humanbiologie in Hamburg, vgl. Deine Knochen – deine
Wirklichkeit; ein Jahr später sind die Beiträge einer kritischen Ringvorlesung zur
Humanbiologie, die im Sommersemester 1997 in Hamburg stattfand, publiziert worden, vgl.
Kaupen-Haas & Saller (Hrsg.): Wissenschaftlicher Rassismus. Dass dieser von Knußmann
vertretene Ansatz aber kein Einzelfall in der deutschen Wissenschaftslandschaft ist, stellte jüngst
Prof. Andreas Elepfandt von Institut für Biologie in der Humboldt-Universität zu Berlin unter
Beweis, der in einer Lehrveranstaltung im Wintersemester 2004/2005 nicht nur die These von
der Existenz menschlicher »Rassen« lehrt, sondern auch rassentheoretische Intelligenztheorien
verteidigt haben soll. Er soll Studierenden, die ihn als Rassist bezeichneten, gedroht haben,
gegen sie juristisch vorzugehen. Quelle: OFFENER BRIEF der Studierenden.
15 Vgl. z.B. Cavalli-Sforza & Cavalli-Sforza: Verschieden und doch gleich; Dies.: The Great
Human Diasporas; Olson: Herkunft und Geschichte des Menschen.
16 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 2.
17 Guillaumin: Racism, Sexism, Power and Ideology, S. 107.
18 Raman: »The Racial Turn«, S. 255.
19 Shankar Raman hat 1995 den methodologischen Begriff des ›racial turn‹ in wenigen Sätzen
entworfen. In meiner Arbeit zu Weißsein habe ich diesen Begriff aufgegriffen und dabei
theoretisch ausdifferenziert und erweitert, vgl. dazu z.B.: Arndt, Susan: »Weißsein – zur Genese
eines Konzepts. Von der griechischen Antike zum postkolonialen ›racial turn‹.«; Arndt: »The
Racial Turn. Kolonialismus, Weiße Mythen und Critical Whiteness Studies«.
20 Diese These geht auf Aimé Cesaire zurück und ist später auch von (westlichen) Intellektuellen
wie Hannah Arendt (Elemente und Ursprünge) und Robert Young (White Mythologies)
aufgegriffen worden. Theoretisch ausdifferenziert behandelt wird diese Forschungsperspektive
etwa bei Enzo Traverso (Moderne und Gewalt), Zimmerer (»Die Geburt des ›Ostlandes‹ aus
dem Geiste des Kolonialismus«), Plumelle-Uribe (Weiße Barbarei) oder Madley (»From Africa
to Auschwitz«).
21 Vgl. auch: Wollrad: Weißsein im Widerspruch.
22 Hall: »Die Frage der kulturellen Identität«, S. 217.
23 Clifford und Gilroy haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, den der Diaspora tradiert
eingeschriebenen Begriff der »roots« um den Begriff der »routes« zu ergänzen, der den Aspekt
des historischen Gewordenseins und Werdens der diasporischen Identität in sich trägt. Dieser
Ansatz kann auch auf prinzipiell auf die Konstituierung von Schwarzen Identitäten übertragen
werden (vgl. Clifford: Routes; Gilroy: The Black Atlantic).
24 hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 204.
25 Vgl. dazu den Reader: Roediger (Hrsg.): Black on White.
26 Aidoo: Our Sister Killjoy, S. 12.
27 Ebenda, S. 12-13.
28 Ebenda, S. 76.
29 Ebenda, S. 13-16.
30 Vgl. dazu: Roediger (Hrsg.): Black on White. James Baldwin und Toni Morrison sind wichtige
literarische Repräsentant/innen dieser literarischen Strömung. Vgl. Baldwin: Giovanni’s Room;
Ders. »On Being ›White‹«; Morrison: Jazz; Dies.: Song of Solomon; Dies.: The Bluest Eye. Für
den bundesdeutschen Kontext vgl. jüngst: Piesche, Küppers, Ani & Alagiyawanna-Kadalie
(Hrsg.): May Ayim Award und dazu: Piesche: »Identität und Wahrnehmung«.
31 Vgl. etwa Fanon: Peau noire, masques blancs; Memmi: Portrait.
32 Morrison: Playing in the Dark, S. 90. Hier entwickelte sie Thesen weiter, die sie bereits in
einem früheren Aufsatz entwickelt hatte, vgl. Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«.
33 Stowes Aufsatz »Uncolored People« sowie Fisher Fishkins bibliographisches Essay
»Interrogating ›Whiteness‹« geben einen ersten Einblick in die Genese der Whiteness Studies.
34 Braidotti & Griffin: »Whiteness and European Situatedness«.
35 Vgl. etwa: Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe Bekennen; Schultz: »Kein Ort nur für uns
allein«.
36 Vgl. hooks: »Representations of Whiteness«; Frankenberg: White Women, Race Matters;
Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«.
37 Vgl. Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 88; Dies.: »Soziale Konstruktion von
Weiß-Sein«.
38 Diesen Hinweis verdanke ich Ohad Parnes und Robert Stockhammer, vgl. dazu ausführlich:
Arndt: »›The Racial Turn‹«.
39 Barthes: Mythen des Alltags, S. 141.
40 Vgl. hooks: »Representations of Whiteness«, S. 167-168.
41 Yancy: »Introduction«; McIntyre: Making Meaning of Whiteness, S. 13.
42 Morrison: Playing in the Dark, S. 9-10.
43 Ebenda.
44 Vgl. Stowe: »Uncolored People«, S. 68.
45 Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347.
46 Jones: »The impairment of empathy«, S. 72; vgl auch: Thagard & Barnes: »Empathy and
analogy«.
47 Dagmar Schultz hat die kritische Auseinandersetzung mit dem weißen deutschen Feminismus
bereits zu Beginn der 1990er Jahre angestoßen, vgl. etwa: Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«;
Dies.: »Unterschiede zwischen Frauen«. Vgl. auch: Rommelspacher: »Das Selbstverständnis des
weißen Feminismus«; Gutiérrez Rodríguez: »Frau ist nicht gleich Frau«; Broeck: »Wird der
weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«; Dietze: »Wie viel ›Race‹ ist in den
Gender Studies«.
48 Jones: »The impairment of empathy«, S. 73.
49 Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 349. Vgl. auch: Roediger: Towards the
Abolition of Whiteness.
50 Vgl. Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347-348.
51 Yancy: »Introduction«, S. 8-9.
52 Ebenda, S. 17. Vgl. auch »One can cease to cooperate with structures of white power, cease to
perform white racist acts; and hence, help to dismantle structures of white power. Whites must
come to see how they have become seduced by whiteness, and how they make choices based
upon that seduction … Although I reject the notion of racialized whiteness as an actual entity
that constitutes an ontological substratum, a fixed essential thing that makes whites into
naturally occurring racial kinds, it does not follow that whiteness is not devoid of reference«
(ebenda S. 9, 14).
53 Jäger: Kritische Diskursanalyse, S. 129.
54 Vgl. etwa: Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347-348.
55 Vgl. Ignatiev: How the Irish Became White; Jacobsen: Whiteness of a Different Color;
Guglielmo & Salerno: Are Italians White.
56 Vgl. zur diesbezüglichen Interpretation der ›Verkafferung‹ etwa: Axter: »Die Angst vor dem
›Verkaffern‹«; Walgenbach: »Zwischen Selbstaffirmation und Distinktion«; auch ihr Aufsatz in
diesem Band.
57 Schnee: »Verkafferung«, S. 606.
58 Vgl. Roediger: »Toward Nonwhite Histories«, S. 144-146. Inwiefern dabei auch noch
innereuropäische Machtkonstellationen sowie die Hegemonie der englischen Sprache zum
Tragen kam, obliegt einer weiterführenden Forschungsfrage, der hier nicht nachgegangen
werden kann.
59 In diesem Rahmen kann das Problem der Konstruktion und Erfindung von Nationen, auch und
gerade als Macht- und Herrschaftsfaktoren, nicht erörtert werden, vgl. aber: Anderson: Imagined
Communities.
60 Vgl. Roediger: »Toward Nonwhite Histories«, S. 144, meine Abkürzung des N-Wortes im Zitat.
61 Ebenda, S. 144.
62 Vgl. ebenda.
63 Vgl. etwa Deutschlands ›Nationendichter‹ Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt.
64 Yancy: »Introduction«, S. 8.
65 Vgl. Smith McKoy: When Whites Riot.
66 Vgl. Krikler: White Rising.
67 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 4.
68 Fisher Fishkin: »Interrogating ›Whiteness‹«, S. 429.
ANETTE DIETRICH
KONSTRUKTIONEN WEIßER WEIBLICHER KÖRPER
IM KONTEXT DES DEUTSCHEN KOLONIALISMUS

Der Körper stellt einen zentralen Bezugspunkt für den weißen deutschen
Feminismus dar. In den feministischen Kämpfen um mehr
Selbstbestimmung spielt(e) der weibliche Körper eine wichtige Rolle Dabei
wurde der Begriff der ›Kolonisierung‹ der Frau oder des weiblichen
Körpers verwendet – ohne dabei natürlich den (deutschen) Kolonialismus
mitzudenken.[1] Dieser Zusammenhang soll im Folgenden hergestellt
werden:
Zunächst geht es in diesem Artikel um den weiblichen Körper innerhalb
der (weißen) feministischen Theoriebildung. Im Anschluss beschreibe ich
den Körper als Ort der Einschreibung kolonisierender und rassifizierender
Praxen, um die Konstruktion weißer Körperkonzepte im Kontext des
Kolonialismus nachzuvollziehen. Dabei richte ich den Blick vor allem auf
Diskurse der Ersten Frauenbewegung im Deutschen Reich und deren
Beteiligung an der Konstruktion weißer Körperlichkeit.
Die Frauenbewegung kritisierte die Reduzierung von Frauen auf ihren
Körper. Zugleich blieb der Körper ein wichtiger Ort, Weiblichkeit,
Sexualität, das ›Private‹ politisch zu besetzen und positiv umzudeuten. Die
Geschlechterdifferenz war dabei positiver Bezugspunkt und der Körper
wurde in seiner differenten Materialität zunächst biologisch vorausgesetzt.
›Körper‹ werden in der feministischen Forschung mittlerweile u.a. im
Anschluss an Foucault politisiert und historisiert.[2] Die Materialität des
Körpers steht damit zur Disposition, die biologistische Grundlage wird dem
Körper entzogen. Die Materie des Körpers gilt in dekonstruktivistischen
Theorien als von Herrschaftsmechanismen durchzogen und geformt, sie
stellt eine Wirkung von Machtdynamiken dar. Es sind »die regulierenden
Normen des ›biologischen Geschlechts‹, die in performativer
Wirkungsweise die Materialität der Körper konstituieren und, spezifischer
noch, das biologische Geschlecht des Körpers, die sexuelle Differenz im
Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs
materialisieren.«[3] Auffällig in der beschriebenen Historisierung und
Politisierung des Körpers jedoch ist das Verharren bei der
Geschlechterdifferenz: Problematisiert wird insbesondere die Produktion
der gesellschaftlichen Zweigeschlechtlichkeit, der daran gebundenen
vereindeutigten Geschlechtsidentitäten sowie die zugrundeliegende
heteronormative Matrix. Diese Prioritätensetzung zieht weitreichende
Verdrängungen, Ausschlüsse, und ›weiße Flecken‹ in der feministischen
Theoriebildung nach sich. Der weiße Feminismus geht mit der
Privilegierung der Kategorie Geschlecht davon aus, dass es
gesellschaftliche Bereiche gibt, die nicht rassistisch codiert und markiert
sind, sondern nur von der Geschlechterdifferenz – die so als weiße gesetzt
wird – als elementar zugrundeliegender gesellschaftlicher Struktur geformt
sind. Weißsein bleibt damit unmarkiert und wird nicht als Positionierung
innerhalb einer rassifizierten Gesellschaftsstruktur betrachtet.[4] Körper
werden selten im Zusammenhang rassifizierender[5] Praxen gesehen: so
lange es sich um den weißen Körper handelt.[6] Schwarze Körper werden
als sexualisiert und rassifiziert analysiert, während der weiße (weibliche)
Körper lediglich als sexualisiert betrachtet wird.[7] Der weiße Körper ist
dabei scheinbar farblos und nicht rassifiziert: er bleibt unmarkiert, die
unangetastete Norm, das definierende Zentrum. So reproduziert die
feministische Forschung mit der Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht
die Annahme, weiße Körper seien die Norm und der Andere Körper die
Devianz. Ausgeblendet wird dabei die Positionierung als Weiße in einer
postkolonialen Gesellschaftsformation. Eske Wollrad kritisiert diese
Ausblendungen der Genderforschung, in der Weißsein als Positionierung
diskursiv ausgelöscht wird und die von einem Rassismus ohne handelnde
Subjekte ausgeht. »Die Unterschlagung dieser Fabrikation als Produkt der
eigenen partikularen und innerhalb der Matrix rassistischer Dominanz
privilegierten Position ermöglicht es den Weißen Forschenden […], sich
selbst als objektiv Analysierende und neutral Außenstehende zu
platzieren.«[8] Zwar hat sich die Einsicht in die Differenzen unter Frauen
mittlerweile durchgesetzt - different sind allerdings immer nur die
›Anderen‹. Dass Deutschland, und damit auch weiße deutsche
Feministinnen eine Kolonialgeschichte haben, bleibt meist ausgeklammert
bzw. ignoriert[9] – der deutsche Kolonialismus ist nach wie vor nicht im
gesellschaftlichen Wissen präsent.[10] Der in Deutschland noch
vorherrschende Blick auf die Konstruktion von Fremdheit und des
›Anderen‹ schreibt Fremdheit fort und lässt die Subjekte des Rassismus
unmarkiert. Weiße sind jedoch ebenso von rassistischen Strukturen geprägt:
Auch Weißsein ist eine ›Rassenkonstruktion‹. Hier zeigt sich, wie wichtig
ein Perspektivenwechsel für den deutschen Kontext ist, der u.a. von Critical
Whiteness-Ansätzen eingefordert wird, um eine »stubborn white
identity«[11] auch in der deutschen feministischen (Gender-)Forschung zu
verändern. Dabei geht es auch darum, sich als weiße Wissenschaftlerin mit
in den Prozess einzubeziehen, die eigenen Rassismen aufzuspüren, eigene
Gewissheiten zu dekonstruieren und das eigene Weißsein für sich sichtbar
zu machen.
Die Unsichtbarkeit von Weißsein für Weiße verschleiert und sichert
zugleich Macht und die daran geknüpften Privilegien.
Bei der Beschäftigung mit whiteness ergibt sich nicht nur die Schwierigkeit, daß sich der weiße
Körper als Norm hartnäckig der Betrachtung und somit einem kritischen Diskurs entzieht, sondern
daß whiteness nur implizit zu existieren scheint, das heißt, daß ihre Qualität nur im Kontrast zu
dem in Erscheinung tritt, was sie nicht ist.[12]
Auch Toni Morrison verweist auf die zentrale Bedeutung Schwarzer
Repräsentation für die Konstruktion weißer Identität.[13] Eine koloniale
Bilderwelt schwingt in den Repräsentationen von Weißsein immer mit.
Richard Dyer warnt jedoch davor, das nicht-weiße Subjekt nur in dessen
Funktion für das weiße Subjekt zu betrachten. »Yet this emphasis has also
worried me, writing from a white position. If I continue to see whiteness
only in texts in which there are also non-white people, am I not reproducing
the relegation of non-white people to the function of enabling me to
understand myself?« In seiner Untersuchung weißer Repräsentationen im
Film versucht er, das Andere nicht nur als unbekanntes, »forbidden self«
weißer Identität zu Grunde zu legen, denn »it is not the whole story and
may reinforce the notion that whiteness is only racial when it is ›marked‹ by
the presence of the truly raced, that is, non-white subject.«[14] Die
Konstruktionen weißer Repräsentationen finden sich demnach auch ohne
Nicht-Weiße. Dennoch bleibt die koloniale Bilderwelt – auch ohne direkte
Bezugnahme – als zentraler Entstehungskontext weißer Identität in sie
eingeschrieben.

KOLONIALISMUS UND RASSIFIZIERTE KÖRPER


Die europäische Moderne bildete sich in einem wechselseitigen
Konstitutionsprozess mit den Kolonien heraus.[15] Im 19. Jahrhundert
stellte der moderne Rassismus die grundlegende Grammatik der imperialen
Gesellschaftsordnung dar. Er begründete und produzierte u.a. in seiner
Verbindung mit Rassenhygieneund Sozialdarwinismus rassialisierte und
vergeschlechtlichte Körperkonzepte.[16]
Der westliche Jagdblick auf den Körper, sein Z/erlegen des Physiognomischen und willkürliche
Klassifikationen gehören zu den zentralen Obsessionen der Moderne. Sie machte Körper zu
Landkarten, deren Farben und Wölbungen alles über den Wert oder Unwert eines Menschen zu
erzählen vermochten und die unumstößliche Gewissheiten vermittelten.[17]
Der Körper als Knotenpunkt der Macht ist zentraler Bestandteil kolonialer
Politiken und kolonisierender Praxen. Vergeschlechtlichte und rassifizierte
Identitäten werden durch Prozesse negativer Differenzierung
hervorgebracht. Der weiße Körper stellt sich über ein konstitutives Außen,
über den Ausschluss nicht-weißer Körper her. Der Körper war zentrale
Kategorie der bürgerlichen Selbstkonstitution und wurde insbesondere im
kolonialen Kontext Träger von ›Zivilisation‹ und ›Kultur‹. Rassendiskurse
reduzierten das koloniale ›Andere‹ oftmals auf seinen Körper und seine
Sexualität .[18] Ungezügelte Sexualität galt im bürgerlichen
Selbstverständnis als Bedrohung der modernen Zivilisation, und diese
wurde auf Schwarze projiziert und pathologisiert, insbesondere Schwarze
weibliche Sexualität.[19] Schwarze Frauen
verkörperten all das, was weiße Frauen nicht waren, bzw. nicht sein durften. Diese Dichotomie
rechtfertigte zum einen die Kontrolle weißer Frauen […] zum anderen die sexuelle Gewalt gegen
schwarze Frauen. Sie wurden zwar als abstoßend dargestellt, gleichzeitig wurde jedoch ihre
ständige sexuelle Verfügbarkeit vorausgesetzt.[20]

Vorstellungen weißer Weiblichkeit stellten sich über die Abgrenzung der


Repräsentationen Schwarzer als keusch, rein und zivilisiert her.
Schwarzen Männern wurde dabei ein übermäßiger Sexualtrieb
unterstellt. Wiederkehrendes Motiv stellte die Angst vor der
Vergewaltigung der weißen Frau dar.[21] Dadurch wurde die sexualisierte
Gewalt weißer Männer an Schwarzen Frauen verschoben. »Inter-racial
(non-white on white) rape is represented as bestiality storming the citadel of
civilisation – but this often implies that sexuality itself is bestial and
antithetical to civilisation, itself achieved and embodied by whites.«[22]
Die weiße Frau nahm demnach eine wichtige Position der Grenz-
Markierung einer weißen ›Rasse‹ ein. Während weiße
Männlichkeitskonzepte zwischen Körper und Kultur schwanken, verfügt
die weiße Frau in den Konzepten bürgerlicher weißer Weiblichkeit nicht
einmal über Triebe, die sie hätte bekämpfen müssen.
White identity is founded on compelling paradoxes: a vividly corporeal cosmology that most
values transcendence of the body; a notion of being at once a sort of race and the human race, an
individual and a universal subject; a commitment to heterosexuality that, for whiteness to be
affirmed, entails men fighting against sexual desires and women having none; a stress on the
display of spirit while maintaining a position of invisibility; in short, a need always to be
everything and nothing, literally overwhelmingly present and yet apparently absent, both alive and
dead.[23]

Der weiße weibliche Körper symbolisiert die Grenzen einer imaginierten


Gemeinschaft. Frauen »verkörpern die Posten, die die
Gemeinschaftsbegrenzungen markieren.«[24] Dem weiblichen Körper
kommt in der Repräsentation von Kollektivkörpern wie ›Volk‹ und ›Rasse‹
eine wichtige symbolische und politische Rolle zu.[25] Der Körper ist die
älteste und bekannteste Metapher für politische Gemeinschaften. Die
Aufrechterhaltung des Geschlechterdualismus und die Regulierung der
Sexualität dient auch der Reproduktion rassistischer und nationaler
Gemeinschaften. Damit spielen Frauen eine zentrale Rolle für den Erhalt
und die Reproduktion vorgestellter Gemeinschaften. Der weibliche Körper
ist damit soziales Territorium und kann – in seiner Verletzungsoffenheit –
zugleich die gesamte Gemeinschaft bedrohen. Feministische Theorien
thematisierten in diesem Kontext hauptsächlich den politischen Ausschluss
von Frauen.[26] Dieser Ausschluss ist historisch jedoch nicht mehr haltbar.
Frauen beteiligten sich auf unterschiedlichsten Ebenen am kolonialen
Projekt und trugen darüber hinaus dazu bei, den weißen Frauenkörper
diskursiv als Symbol für Reinheit und Vorherrschaft einer vorgestellten
weißen ›Rasse‹ herzustellen. Diskurse der Ersten Frauenbewegung
korrespondierten mit diesen Konstruktionen und verbanden mittels der
Thematisierung von Sittlichkeit, Sexualmoral, Hygiene etc. die Sorge um
den gesunden ›Volks‹- und ›Gesellschaftskörper‹ mit sozialdarwinistischen
Vorstellungen von ›Rassenhygiene‹. Deutlich wird der Zusammenhang z.B.
anhand von Auseinandersetzungen umso genannte ›Mischehen‹ in den
Kolonien und deren Anknüpfungspunkte an die Sittlichkeitsdebatten der
ersten bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Reich.

DEUTSCHLAND (POST)KOLONIAL
Insbesondere Schwarze deutsche Feministinnen begannen Mitte der 1980er
Jahre, aktuelle Rassismen und Stereotypen von Schwarzen (Frauen) in den
Kontext der kolonialen Vergangenheit Deutschlands zu stellen und damit
eine postkoloniale Perspektive zu eröffnen.[27] Dies steht im
Zusammenhang mit den Rassismusdebatten innerhalb der Frauenbewegung,
in denen der Feminismus westlicher Prägung als Interessensvertretung der
weißen bürgerlichen Frau kritisiert wurde. Schwarze Frauen, Migrantinnen
und Women of Color thematisierten den kolonisierenden,
universalisierenden und ausgrenzenden Gestus weißer Feministinnen, die
die eigene Verstricktheit in Herrschaftsverhältnisse und ihren Profit daran
durch einen entlastenden Opferdiskurs ausblendeten und verdrängten.
Der deutsche Kolonialismus stellt ein Strukturierungspotential für die
deutsche Moderne, die Herausbildung des deutschen Nationalstaates und
die Vorstellung eines nationalen homogenen weißen Raumes dar. Der
Kolonialismus bot eine Folie für die Konstruktion nationaler Identität,
insbesondere für entstehende ›Rassediskurse‹ in Deutschland. Er schlug
sich im gesellschaftlichen Selbstverständnis nieder; und damit auch in der
deutschen Frauenbewegung.
Unter Frauen(-verbänden) dominierte eine breite Unterstützung des
Kolonialismus.[28] Frauen engagierten sich auf unterschiedlichen Ebenen
für den Kolonialismus und wollten die Kolonien mit aufbauen und
gestalten.[29] Nicht nur für nationalistische, konservative und
kolonialbegeisterte Frauen(verbände) stellten die Kolonien einen wichtigen
Bezugspunkt ihrer Aktivitäten dar, auch für Feministinnen dienten die
Kolonien als Projektionsfläche für – im Deutschen Reich bislang
fehlgeschlagene – Emanzipationsphantasien für weiße Frauen.[30]
Diskurse der Frauenbewegung im Deutschen Reich wurden bislang
kaum im Kontext von Kolonialdiskursen des imperialen Deutschen Reichs
betrachtet. Selbst in der expliziten Beschäftigung mit Rassismus in der
deutschen Frauenbewegung finden sich selten Bezüge auf den deutschen
Kolonialismus.[31] Wie überschneiden sich Diskurse über Sexualität und
Körperlichkeit mit kolonialen Praxen? Wie haben Diskurse der
Frauenbewegung dazu beigetragen, Vorstellungen von weißer
Körperlichkeit zu prägen?

WEIßE KÖRPERKONZEPTE
Neben dem Kolonialismus und Rassismus benennt Richard Dyer als drittes
konstitutives Element des weißen Körpers das Christentum. Diese Elemente
geben dem Denken und Fühlen des weißen Körpers nicht nur ein
theoretisches Gerüst, »but also their forms and structures, the cultural
register of whiteness.«[32] Der Körper stellt ein zentrales Konzept für das
Christentum dar. Der darin konzeptionierte Dualismus zwischen Körper und
Geist verdammt den Körper als minderwertig und schwach, während der
Geist nach Reinheit und Transzendenz strebt. Der christlich konzeptionierte
Körper geht also über den Körper hinaus, es findet sich etwas darin, »that is
in the body but not of the body.«[33] Der Geist verleiht die Möglichkeit,
den Körper zu transzendieren.
Dieser Dualismus ist auch für den christlichen bürgerlichen
Geschlechterdiskurs zentral, wobei den Geschlechtern dabei
unterschiedliche Verhältnisse zu ihrem Körper und Geist zugesprochen
werden. Während weiße Männlichkeit um das Verhältnis zwischen Körper
und Geist ringt – wie auch später im Kontext der Auseinandersetzungen um
die so genannte ›Rassenmischung‹ in den Kolonien zu sehen ist – ist die
komplementäre (passive) weiße Weiblichkeitskonstruktion von triebhafter
Körperlichkeit, Begehren und Sexualität bereinigt. Körper verfügen also
eine unterschiedliche ›geistige‹ Qualität, die Dyer als zentral für die
Konzeptionierung von Differenzen – vergeschlechtlichte und rassifizierte –
erachtet. [34] »All concepts of race, emerging out of eighteenth-century
materialism, are concepts of bodies, but all along they have had to be
reconciled with notions of embodyment and incarnation. The latter become
what distinguish white people, giving them a special relation to race.«[35]
Schwarze Menschen werden in rassistischen Kontexten u.a. auf ihren
Körper und ihre ›Rasse‹ reduziert, während Weiße über ihre ›Rasse‹, über
ihren Körper hinausgehen, transzendieren können. »Above all, the white
body could both master and transcend the white body, while the non-white
soul was a pry to the promptings and fallibilities of the body.«[36]
Heterosexualität ist dabei zentrales Konzept zur Reproduktion der
imaginierten weißen ›Rasse‹, zugleich gefährdet es sie jedoch. Die weiße
Frau erweist sich als eine instabile Basis für die Reproduktion der weißen
›Rasse‹ dar, daher ist ihre Position stark symbolisch aufgeladen. »Die
›Frau‹ verkörpert auf ambivalente Weise das Bedrohungs- und
Produktivitätspotential der Moderne.«[37] Da diese Grenze an den
Machterhalt geknüpft ist, stellt sie einen Knotenpunkt weitreichender
Ängste, aber auch von Begehren dar.[38] Dies verdeutlicht sich in einer
Tabuisierung der so genannten ›Rassenmischung‹ und der deutschen
›Rassenpolitik‹. Die so genannten ›Mischehendebatten‹ spielten eine
zentrale Rolle in der (kolonialen) ›Rassenpolitik‹.[39] In den
Mischehendebatten ging es u.a. darum, eine weiße Vorherrschaft und Macht
in den Kolonien zu sichern und klare Grenzen zwischen Schwarz und weiß
zu ziehen. ›Mischehen‹ wurden in den Kolonien schließlich verboten bzw.
bereits geschlossene Ehen annulliert.[40] Bevölkerungs- und
>rassen<politische Fragen verbanden sich mit einer Regulierung von
männlicher Sexualität.[41] Hier deutet sich ein Zusammenhang mit den
Geschlechter- und sexualpolitischen Debatten um Sittlichkeit im Deutschen
Reich an.
Der Widerspruch im weißen Körperkonzept liegt nach Dyer in der
Notwendigkeit der Reproduktion: Körperlichkeit und Sexualität als den
rassifizierten Anderen von Weißen zugeschrieben ist notwendig für die
eigene Reproduktion.[42] »Whites must reproduce themselves, yet they
must also control and transcendent their bodies. Only by (impossibly) doing
both can they be white.« Dies stellt nach Dyer die weiße Körperkontrolle
und Transzendenz in Frage, denn »the means of reproducing whiteness are
not themselves pure white.«[43] Die Angst vor einer ›Rassenmischung‹
verweist auf den möglichen Verlust von Weißsein, der machtvollen,
privilegierten gesellschaftlichen Position. Die ›Mischehendebatte‹ eröffnete
einen Deutungsraum für Ängste des politischen Kontrollverlusts und für
Untergangsphantasien.
Frauenverbände entwickelten sich zu erbitterten Gegnern von
›Mischehen‹. In der ›Mischehenfrage‹ standen Konzepte bürgerlicher
Sexualmoral gegen grundsätzliche bevölkerungspolitische,
›rassenpolitische‹ Ziele. Durch die ›Mischehenverbote‹ in den Kolonien
wurde erstmals ein Verhaltenskodex für Männer im Sinne einer
›Rassenmoral‹ erlassen.[44] Die ›Mischehendebatte‹ bewegte sich damit im
Widerstreit zwischen rassistischer Ideologie und bürgerlich-christlicher
Moral – dem Schutz der Institutionen Ehe und Familie – sowie zwischen
Appellen an das ›Rasseempfinden‹ und dem von Männern reklamierten
Recht auf sexuelle Freiheit.
Innerhalb der Debatten um die Problematik der ›Mischehen‹ erlangte das
Postulat der ›Rassenreinheit‹ Priorität vor der Einheit der Familien und zog
eine gesellschaftliche Eingrenzung männlicher Sexualität nach sich. Diese
Priorität konnte sich jedoch in der Reichsgesetzgebung nicht durchsetzten,
sondern blieb auf die Kolonien beschränkt: Im Konflikt zwischen
männlicher sexueller Autonomie und einer ›reinen weißen Rasse‹ setzte
sich zunächst die bürgerlich-patriarchale Geschlechterordnung durch.
Themen der von der heterogenen Frauenbewegung geführten
Sittlichkeitsdebatten erwiesen sich auch für die Kolonien als Bedeutsam.
Diskurse um Hygiene, weiblicher (weißer) Kultur und Sittlichkeit trugen zu
einer Distinktion und Herstellung weißer Überlegenheit und Zivilisation
bei. Die Sittlichkeitsdebatten, so zeigt sich im Folgenden, korrespondierten
mit den ›Mischehendebatten‹ im kolonialen Kontext.

SITTLICHKEITSDEBATTEN DER ERSTEN FRAUENBEWEGUNG IM DEUTSCHEN


REICH
Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts beendete in England eine
überwiegend von Frauenverbänden getragen ›purity campaign‹, die im
kolonialen Kontext zugelassene kontrollierte Prostitution. Männliche
Sexualität galt nicht mehr als Privatangelegenheit, sondern unterstand der
Öffentlichkeit als moralische und disziplinierende Kontrollinstanz.[45] Im
Deutschen Reich wurde die Sittlichkeitskampagne erst Ende der 90er Jahre
des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Elisabeth Meyer-Renschhausen ordnet
die Sittlichkeitsdebatte in den Kontext der sexuellen und körperlichen
Selbstbestimmungsbestrebungen der Frau ein und sieht Verbindungslinien
zur heutigen Frauenbewegung.[46] Die Auseinandersetzungen um
Sittlichkeit reichten thematisch von Prostitution, ehelichen und unehelichen
Geschlechterverhältnissen, Sexualmoral, bis hin zur Bevölkerungspolitik .
Der Sittlichkeitsdiskurs forderte eine sozial verantwortliche, regulierte
Sexualität. Straffreie Prostitution begriffen viele Feministinnen als moderne
Form der Sklaverei.[47] Bezeichnender Weise ist der Begriff
›Abolitionistinnen‹, die sich ab 1898 im Deutschen Reich formierten,
eigentlich von der Sklavenbefreiung in den USA entlehnt. Im
Sittlichkeitsdiskurs der bürgerlichen Frauenbewegung verbanden sich
heterogene bevölkerungswissenschaftlich-nationalökonomische Diskurse
mit sozial- und sexualhygienischen, mit ethischen und medizinischen
Diskursen um die moralisch ›richtige‹ und ›normale‹ Lebensform, wobei es
in den unterschiedlichen Flügeln der Frauenbewegung erstaunlich viele
Bezüge und Parallelen gab.[48] Für die Positionen von Prostituierten
interessierten sich die Abolitionistinnen nicht, sie konstatierten, dass »sie
ihrer ursprünglichen weiblichen Natur völlig entfremdet ist und daher als
unrettbar verloren erscheint.«[49]
Mit den Debatten um Sittlichkeit ging es um weitreichende Aushandlungen
der Geschlechterverhältnisse sowie der Bevölkerungspolitik; aber auch um
den Schutz bürgerlicher Frauen vor dem Verdacht der Prostitution und dem
Erhalt ihrer Sittlichkeit.[50] Die Debatte um Prostitution führte zur
Thematisierung männlicher und weiblicher Sexualität. Die Feministinnen
kritisierten die Doppelmoral des Wilhelminischen Deutschlands, zur
Disposition stand eine unregulierte männliche Sexualität, die eine Gefahr
für die gesamte Gesellschaft darstellte und damit ursächlich beteiligt war an
einer Krise der Kultur, Moral und Gesellschaft. Die radikale
Mutterschutzbewegung verband mit dieser Kritik die Thematisierung
weiblicher Selbstbestimmung – über die eigenen Körper und Sexualität. Sie
war jedoch verbunden mit einem normierenden moralischen Sittenkodex,
der mittels Selbstdisziplin und sexueller Enthaltsamkeit (für Männer und
Frauen) eine heterosexuelle eheliche Reproduktion einforderte sowie
zentrale bevölkerungspolitische Themen berührte.[51] Konzepte von
(bürgerlicher) weißer Weiblichkeit begründen sich auf Tugendhaftigkeit,
Reinheit und Sittlichkeit.
Dabei werden die Diskursfiguren der Frau als sexuell-asketische Mutter und der
fortpflanzungsorientierten Sexualität zum Inbegriff eines höher stehenden Kulturideals, während
Prostitution und Homosexualität den Kulturverfall repräsentieren. Dieser wird im sexualethischen
Diskurs der Frauenbewegung als Ausdruck der Ungleichheit der Geschlechter und der
Rechtlosigkeit von Frauen betrachtet.[52]

Die Verhandlungen männlicher Sexualität waren demnach verbunden mit


einer Sorge um den ›gesunden‹ Volks- und Gesellschaftskörper. Die
Sittlichkeit der Frau schafft einen gesellschaftlichen Kulturauftrag für die
Frau. Die moralische Erneuerung der Gesellschaft verankerte die Kultur im
Biologischen und verband Kultur mit einer ›rassischen‹ Reproduktion.
»Gesundheitskontrolle und -fürsorge und der Kontrolle und Regulierung
des Geschlechts- und Sexuallebens werden damit unmittelbar zu
Kulturfragen, die sich strukturell als Frage des ›Überlebens‹ und der
Höherentwicklung der ›Kultur-Rasse‹ artikulieren.«[53]

WEIßE SITTLICHKEIT – RASSIFIZIERTE KÖRPER


Dieser Kulturauftrag entwickelte sich zu einer wichtigen Aufgabe von
weißen Frauen in den deutschen Kolonien. Der ›Zustand‹ der
gesellschaftlichen Sexualität verwies direkt auf den Zustand der Kultur. Das
weibliche weiße Geschlecht stellte dabei das ›moralische Geschlecht‹ dar
und bekam eine zentrale Bedeutung in der Aufrechterhaltung weißer
›Zivilisiertheit‹ und Kultur in den Kolonien. Dies war ein zentrales
Argument für die Einwanderung von weißen Frauen in die Kolonien.
Männer hingegen drohten ohne den weiblichen Kultureinfluss in den
Kolonien zu ›verkaffern‹.[54] Hier zeigt sich die Brüchigkeit von Weißsein
als gesellschaftliches Differenzierungsprinzip in den Kolonien: Weißsein
konnte man z.B. durch langes Leben in den Kolonien oder durch sexuelle
Beziehungen mit Schwarzen Frauen verlieren, sodass es vereinzelte Fälle
gab, in denen weißen Männern ihr Weißsein abgesprochen wurde bzw. sie
ihre weißen Privilegien verloren.[55] Auch Schwarze konnten eigentlich an
die weiße Position geknüpfte Privilegien zugestanden bekommen, wie im
Falle einzelner kolonialer Untertanen, die aufgrund ihrer ›zivilisierten‹ und
›europäischen‹ Lebensweise als weiß anerkannt wurden.
Der Sittlichkeitsdiskurs im Deutschen Reich und in den Kolonien stellte
sich als Geschlechterdiskurs dar, der die Problematisierung der
Geschlechterdifferenz, des geschlechtlichen Begehrens und der Sexualität
mit Fragen der Bevölkerungs- und Gesundheitskontrolle, der Sexual-,
Sozial- und ›Rassenhygiene‹ verband. »Dieser neue sexualmoralische
Diskurs zielte auch in den Kolonien auf dasselbe Problem ab wie die
Sittlichkeitskampagne in der Metropole: die Kontrolle männlicher
Sexualität.«[56]
Verbindungen zu rassenhygienischen und eugenischen Diskursen treten
noch deutlicher in dem 1904 u.a. von Helene Stöcker gegründeten ›Bund
für Mutterschutz‹ zutage.[57] Stöcker stellte tradierte Geschlechternormen
grundlegend in Frage. Sie forderte eine Sexualreform und formulierte eine
neue Ethik der Geschlechter. Der ›Bund für Mutterschutz‹ (BfM) trat der
Forderung weiblicher Enthaltsamkeit, wie auch von einem Großteil der
Frauenbewegung erhoben, entgegen und polarisierte mit seinen radikalen
Positionen – vor allem hinsichtlich einer freieren Sexualmoral – sowohl
innerhalb der Frauenbewegung als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit.
Der BfM verankerte frauenrechtlerische Forderungen (z.B. nach einer
freieren weiblichen Sexualität) jedoch mit bevölkerungspolitischen und
rassenhygienischen Diskursen. Helene Stöcker betonte den engen
Zusammenhang zwischen der individualistischen Bevölkerungspolitik der
Mutterschutzbewegung und dem Neomalthusianismus, eugenischer
Rassenhygiene und Kulturkritik.
Trotz der konträren politischen Zielsetzungen der unterschiedlichen
Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung einte sie die Konzeption von
Weiblichkeit im Zusammenhang mit der ›Hebung der Rasse‹ und dem
›gesunden Volkskörper‹.
Wie unterschiedlich die Positionen der Frauenbewegung auch sind: Es geht im Diskurs um eine
Höherentwicklung der kulturellen Sittlichkeit um die Verknüpfung von (Sexual-)Moral, entweder
als Moral einer asketischen Mutterschaft oder als Ethik freigewählter Liebesbeziehungen gedacht,
und um die kulturelle Gleichberechtigung der Geschlechter, um die Vereinigung des Geschlechts-
und Sexuallebens mit dem geistigen Vermögen der Geschlechter und seiner Funktion für die
Höherentwicklung der Kultur(menschen); angenommen wird ein Kausalzusammenhang zwischen
(Sexual-) Moral und ›Hebung der Rasse‹.[58]

In den Debatten um männliche und weibliche Sexualität und der


Reproduktion der Gesellschaft spiegelte sich der Kampf um
Selbstbehauptung und -affirmation der bürgerlichen weißen Frau. Der
Sittlichkeitsdiskurs spielte eine zunehmend wichtige Rolle im Deutschen
Reich und durchzog auch die Kolonialdebatten.[59] Mit dem Eintritt weißer
deutscher Frauen in die Kolonialbewegung verstärkte sich die Ideologie der
›rassisch‹ begründeten Reproduktion, die sich um den symbolträchtigen
weißen Frauenkörper herum etablierte. Das Bild weißer Reinheit
entwickelte sich zu einem zentralen ideologischen Moment kolonialer
Herrschaft.
In der Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus und
Rassismus wurde deutlich, dass Körper niemals nur vergeschlechtlicht,
sondern auch als weiß oder nicht-weiß hergestellt werden. Die
Konstruktionen von Weißsein sind brüchig und nicht naturgegeben. Sie
müssen daher immer wieder performativ hergestellt und abgesichert
werden. Diese Reproduktion weißer Körper und die Konstruktionen von
Weißsein innerhalb eines rassistischen Paradigmas mit einer u.a. kolonialen
Vergangenheit und post-kolonialen Gegenwart sichtbar zu machen, ohne in
einen weißen Solipsismus zu verfallen, sollte Teil einer (feministischen)
herrschaftskritischen Auseinandersetzung werden.

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ANMERKUNGEN
1 In patriarchatskritischen Texten wurde häufig von der ›Kolonisierung der Frau‹ im ›Patriarchat‹
geschrieben und Frauen als gleichermaßen unterdrückt wie ›Natur‹ und ›Kolonisierte‹ begriffen,
z.B. in einem Aufsatz von 1991: Albrecht-Heide: »Militär und Patriarchat«, S. 111.
Insbesondere in vom Ökofeminismus beeinflussten Debatten wurden Sexismus und Rassismus
als Herrschaftsverhältnisse gleichgesetzt. Die Ausbeutung und Unterwerfung der Kolonien und
der Frau unterstehen demnach derselben Herrschaftslogik, in der die Frau zum universalen
Patriarchatsopfer stilisiert wird. Diese Gleichsetzung blendet aus, dass auch weiße Frauen in
einem (rassistischen) Herrschaftsverhältnis positioniert und privilegiert sind. Vgl.
Rommelspacher: »Fremd- und Selbstbilder«, S. 35. Zur Thematisierung des Körpers in
feministischen Kontexten vgl: Villa: Sexy Bodies, S. 53-55.
2 Vgl. Schwerpunktheft der Femina politica 8.2(1999).
3 Butler: Körper von Gewicht, S. 22.
4 So z.B. in der feministischen Psychoanalyse, die vielfach die sexuelle Differenz allem Sprechen
als Grammatik zugrundelegt und die sexuelle Differenz damit als elementarer ansieht als eine
rassifizierende Markierung. »Dieses Geltendmachen des Vorrangs der sexuellen Differenz vor
der rassischen Differenz hat den psychoanalytisch geprägten Feminismus in weiten Teilen als
weißen Feminismus ausgewiesen, denn hier wird nicht nur davon ausgegangen, daß die sexuelle
Differenz grundliegender ist, sondern daß es eine ›sexuelle Differenz‹ genannte Beziehung gibt,
die selbst von der Markierung durch Rasse frei bleibt. Daß das Weißsein von einer solchen
Perspektive nicht als eine rassische Kategorie verstanden wird, ist eindeutig; es ist noch eine
weitere Macht, die ihren Namen nicht zu nennen braucht. Zu behaupten, die sexuelle Differenz
sei grundlegender als die rassische Differenz, bedeutet letzten Endes, davon auszugehen, daß die
sexuelle Differenz eine weiße sexuelle Differenz ist und daß das Weißsein keine Form einer
rassischen Differenz ist.« Ebenda, S. 251.
5 ›Rassifizieren‹ begreife ich als einen Prozess des Markierens über ›Rassenkonstruktionen‹.
Auch in neueren Entwürfen von Körper und Leib ist die Rassifizierung nur selten berücksichtigt.
6 Zu einem Überblick aktueller Forschung über Körpertheorien siehe die Sammelrezension von:
Ellerbrock: »Körper-Moden«.
7 In den folgenden Abschnitten greife ich Ansätze auf, die die Rassifizierung von Körpern
berücksichtigen bzw. die Privilegierung der Kategorie Geschlecht in Frage stellen.
8 Wollrad: »Körperkartographien«, S. 192.
9 Auch wenn es mittlerweile einige Arbeiten über weiße deutsche Frauen im Kolonialismus gibt,
bleibt das Wissen darum marginal und spielt keine Rolle in der Analyse gegenwärtiger
gesellschaftlicher Verhältnisse. Vgl. Mamozai: Schwarze Frauen, Walgenbach: »Rassenpolitik
und Geschlecht«, Wildenthal: German Women
10 Insbesondere im Gedenkjahr 2004 zum 120. Jahrestag der Berliner Afrikakonferenz, bei der
Afrika unter den europäischen Kolonialmächten ›aufgeteilt‹ wurde, erlangte der deutsche
Kolonialismus erstmals breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Es stellt sich jedoch die Frage,
inwieweit dieses Gedenken an die Jahrestage gebunden ist und ob jenseits dieser Gedenktage
das gesellschaftliche Wissen um eine deutsche Kolonialherrschaft und deren Folgen präsent
bleibt.
11 Wildenthal: German Women, S. 151.
12 Rosenthal: »Die Kunst des Errötens«, S. 98.
13 Vgl. Morrison: Playing in the Dark. Toni Morrison bezieht sich hierbei auf den US-
Amerikanischen Kontext, insofern wäre zu fragen, wie dieser Schwarz-weiß-Dualismus auf den
deutschen Kontext zu übertragen wäre. Vgl. Fußnote 42.
14 Dyer: White, S. 13-14.
15 Hall: »Wann war ›das Postkoloniale‹?«, S. 231.
16 Zur Verknüpfung moderner Geschlechterverhältnisse mit Rassekonstruktionen siehe Zantop:
Kolonialphantasien, S. 15, Stoler: Race, S. 27. Pascal Grosse betont, dass es jedoch keine
geradlinigen Verbindungen eugenischer Diskurse zur kolonialen Politik und Praxis gibt, sondern
dass es eher ambivalente, spezifische Berührungspunkte sind. Grosse: Kolonialismus, S. 41.
17 Wollrad: »Körperkartographien«, S. 184.
18 Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, S. 87.
19 Dies wird z.B. in Studien über die so genannte ›Hottentottenvenus‹ Saartje Baartman, deren
angeblich überdimensionierten Geschlechtsmerkmale präpariert und ausgestellt wurden,
deutlich.
20 El Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 152-153.
21 Deutlich auch in den rassistischen Hetzkampagnen zur ›Schwarzen Schmach‹ am Rhein, die
sich gegen den Einsatz Schwarzer Kolonialtruppen Frankreichs bei der Besetzung des
Rheinlandes im Zuge des Ersten Weltkrieges wandten. Zentral war in den Kampagnen das Bild
der weißen deutschen Frau als Opfer von Vergewaltigungen und sexueller Übergriffe seitens der
Schwarzen Soldaten. Vgl. El Tayeb: Schwarze Deutsche.
22 Dyer: White, S. 26.
23 Ebenda, S. 39.
24 Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, S. 79.
25 Jansen: Schädlinge, S. 13.
26 Vgl. Dietrich: »Konzepte«.
27 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe bekennen.
28 Dazu Mamozai: Schwarze Frau, S. 212-218.
29 Wildenthal: German Women, Mamozai: Schwarze Frau. Die deutsche Kolonial- und
›Rassen‹politik gestaltete sich in den verschiedenen Kolonien jedoch unterschiedlich. Das
kolonisierte ›Deutsch-Südwestafrika‹, heute Namibia, war die einzige Siedlungskolonie und
stellte daher Hauptbezugspunkt kolonialer Debatten dar. Daher beziehe ich mich im Folgenden
vor allem auf ›Deutsch-Südwestafrika‹.
30 So engagierte sich Minna Cauer, eine zum radikalen Flügel der Frauenbewegung gezählte
Feministin, bereits Ende der 1890er Jahre für die Auswanderung weißer Frauen in die Kolonien
und erhoffte sich eine Möglichkeit, über den Kolonialismus Fragen der Berufstätigkeit
bürgerlicher weißer Frauen und der gesellschaftlichen Stellung von weißen Frauen generell neu
zu verhandeln. Zudem existieren personelle und organisatorische Überschneidungen zwischen
der bürgerlichen Frauenbewegung, z.B. des Bund Deutscher Frauenvereine und dem
Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft. Vgl. Dietrich: »Konstruktionen«, Wildenthal:
German Women, S. 131-171.
31 Encarnatíon Gutiérrez Rodríguez kritisiert zudem, dass im deutschen Kontext kein Bezug
zwischen postkolonialen Theorien und antirassistischer Kritik und Schwarzem Feminismus
hergestellt wird. Damit bleiben postkoloniale Ansätze meist dekontextualisiert. Gutiérrez
Rodríguez: »Fallstricke des Feminismus«.
32 Dyer: White, S. 14.
33 Ebenda.
34 Das Christentum ist Dyer zufolge jedoch nicht grundsätzlich weiß. Jedoch rassifizierten schon
die Kreuzfahrer das Christentum, der manichäische Dualismus zwischen schwarz und weiß ist
eine zentrale Grammatik für die christliche Religion.
35 Ebenda.
36 Ebenda, S. 23.
37 Bublitz: »Einleitung«, S. 14.
38 Vgl. Young: Colonial Desire.
39 Walgenbach: »Rassenpolitik und Geschlecht«, S. 165. In der ›Mischehenfrage‹ ging es vor
allem um den Status der Nachkommen aus ›Mischehen‹ zwischen weißen Männern und
Schwarzen Frauen aus den Kolonien. Da die Staatsangehörigkeit nach dem Prinzip des ius
sanguinis über den deutschen Vater bestimmt wurde, eröffneten ›Mischehen‹ für diese
Nachkommen die Möglichkeit, deutsche Bürger zu werden. Männliche Kinder aus ›Mischehen‹
waren aus juristischer Sicht wehrpflichtig und fähig, öffentliche Ämter zu erlangen. Die weiße
Vorherrschaft in den Kolonien, aber auch im Reich, schien gefährdet und es wurde versucht,
diesem ›Problem‹ gesetzlich zu begegnen.
40 Dabei gibt es Unterschiede zwischen denverschiedenen deutschen Kolonien. Das Kolonialrecht
annullierte in Deutsch-Südwestafrika Ehen, die vor 1905 geschlossen worden waren, ab 1908
konnten Männer, die mit afrikanischen Frauen verheiratet waren oder offen zusammenlebten, die
bürgerlichen Ehrenrechte verlieren: Es drohte der Entzug des Wahlrechts, Grundbesitz konnte
nicht mehr erworben werden, eine Folge konnte auch der Ausschluss aus Vereinen und dem
Sozialleben in den Kolonien sein. Gerade im rechtlichen Bereich wird eine Rückwirkung der
kolonialen auf die deutsche Gesellschaftsordnung deutlich: Im Zuge der ›Mischehendebatten‹
versuchte die Kolonialverwaltung ›rassische‹ Kriterien in einer Neufassung der
Staatsangehörigkeit zu verankern. Die Kolonialverwaltung war bestrebt, systematisch
›rassische‹ Kategorien in das Gefüge der deutschen Gesellschaftsordnung einzupassen. Als eine
(wenn auch umstrittene) Lösung der ›Rassenmischung‹ in den Kolonien setzte sich zunehmend
die Einwanderung weißer Frauen durch – sowohl von Frauenverbänden als auch in den
Kolonialverbänden.
41 Dazu Kundrus: Moderne Imperialisten, Grosse: Kolonialismus, El Tayeb: Schwarze Deutsche.
42 Dyer bezieht sich in seiner Untersuchung auf den US-Amerikanischen Kontext. Daher müsste
für die Analyse von Weißsein und weißer Körperkonzepte im deutschen Kontext u.a.
Antisemitismus, Antislawismus und Orientalismus stärker einbezogen werden. Eine Analyse zu
deren Verhältnis und Wirkungsweise untereinander steht jedoch noch aus.
43 Dyer: White, S.30.
44 Die ›Mischehenverbote‹ verhinderten die staatsbürgerliche Gleichstellung Schwarzer Ehefrauen
weißer deutscher Männer und gemeinsamer Nachkommen, nicht aber die ›Rassenmischung‹ an
sich.
45 Grosse: Kolonialismus, S. 156.
46 Meyer-Renschhausen: Weibliche Kultur, S. 243.
47 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 273.
48 Wischermann: Frauenbewegungen, S. 87.
49 Omran: Frauenbewegung und ›Judenfrage‹, S. 135.
50 Die Sittenpolizei des Deutschen Reiches verhaftete ›verdächtige‹ Frauen auf der Straße und
konnte eine Zwangsuntersuchung auf Geschlechtskrankheiten verordnen. Diese Praxis wurde
immer wieder von Frauen(-verbänden) geschildert und skandalisiert.
51 Wischermann: Frauenbewegungen, S. 65.
52 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 290.
53 Ebenda, S. 314.
54 ›Verkaffern‹ bezieht sich auf einen zentralen kolonialen Diskurs, in dem versucht wurde, weiß
und Schwarz klarer zu definieren, Grenzen zwischen Schwarz und weiß zu ziehen und diese
Rassenkonstruktionen abzusichern. Kolonialengagierte Frauen bezogen sich auf die Gefahr des
›Verkafferns‹ des weißen Mannes um die Einwanderung von weißen Frauen mittels deren
angeblichen Kultureinfluss zu legitimieren und eine ›Verkafferung‹ – und damit der Niedergang
deutscher Kultur und weißer ›Rasse‹ zu verhindern. Vgl. Walgenbach: »Rassenpolitik und
Geschlecht«, S. 173-176.
55 Sie konnten aus dem sozialen Leben in den Kolonien ausgeschlossen werden und ihre
Bürgerrechte verlieren.
56 Grosse: Kolonialismus, S. 156.
57 Vgl. Herlitzius: Frauenbefreiung und Rassenideologie.
58 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 312.
59 Vgl. Omran: Frauenbewegung und ›Judenfrage‹.
KATHARINA WALGENBACH
›WEIßSEIN‹ UND ›DEUTSCHSEIN‹ – HISTORISCHE
INTERDEPENDENZEN

Gegen einen Transfer der angloamerikanischen Whiteness-Debatte auf den


bundesdeutschen Kontext wird oft eingewandt, dass sich die
gesellschaftlichen Verhältnisse doch signifikant von den USA oder
Großbritannien unterscheiden würden. Dabei werden insbesondere zwei
Unterschiede hervorgehoben: erstens gäbe es in Deutschland keine
vergleichbar quantitative Präsenz von Schwarzen bzw. People of Color und
zweitens seien Themen wie ›Nation‹ oder ›Heimat‹ für die BRD wesentlich
bedeutsamer.
Der erste Einwand erinnert an eine Interviewpassage aus Ruth
Frankenbergs White Women, Race Matters. Hier versicherte eine
Interviewperson, dass ihr der Rassismus in den USA erst bewusst wurde,
als ein Schwarzer Arzt versuchte, in ihre exklusiv weiße Wohngegend zu
ziehen und die weißen NachbarInnen dies verhindern wollten. Wie
Frankenberg bemerkt, wurde die Existenz einer exklusiv weißen
Wohngegend an sich von der Interviewperson nicht als Effekt rassistischer
Stratifikation identifiziert.[1] In diesem Sinne wird in diesem Artikel
argumentiert, dass der Hinweis auf eine vornehmlich weiße Gesellschaft in
Deutschland doch gerade für eine Adaption der Critical Whiteness Studies
sprechen müsste. Muss die Frage nicht vielmehr sein, was
gesellschaftspolitisch getan wurde, um Deutschland vornehmlich weiß zu
halten?[2]
Des Weiteren lassen sich die Critical Whiteness Studies m.E. nicht auf
einen Schwarz-Weiß-Binarismus reduzieren, denn es geht ihnen um
Dominanz und nicht um rassifizierte Merkmale wie ›Hautfarbe‹.[3] Dies
impliziert, dass sich Critical Whiteness Studies in der BRD nicht auf sozial
konstruierte Schwarz-Weiß-Relationen reduzieren müssen, sondern weitere
Relationen in den Blick nehmen können. Das Potenzial der Critical
Whiteness Studies liegt dabei in dem Perspektivenwechsel, der die Norm in
das Zentrum der Analyse stellt. Dieses Potenzial zu nutzen, ist eine
wichtige Forschungsaufgabe der Zukunft.
Der zweite Einwand ist darauf zurückzuführen, dass in Deutschland oft
die Unterscheidung zwischen ›Inländer‹ und ›Ausländer‹ als
Primärdifferenz definiert wird. Infolgedessen wird rassistische Gewalt in
Deutschland häufig mit Begriffen wie ›Ausländerfeindlichkeit‹ oder
›Fremdenfeindlichkeit‹ umschrieben. Dabei wird übersehen, dass der
rassistische Terror in Deutschland bei der Auswahl seiner Opfer nicht die
jeweilige Staatsangehörigkeit, sondern rassifizierte Merkmale wie
›Hautfarbe‹ relevant setzte. So betraf die tödliche Anschlagwelle Anfang
der 1990er Jahre in Folge der politischen Debatte über das Asylrecht nicht
etwa weiße EU-BürgerInnen, sondern ethnisierte, d.h. angeblich ›Anders‹
aussehende Deutsche, EuropäerInnen und MigrantInnen.[4]
Auch die Schwierigkeiten der deutschen Dominanzgesellschaft,
›Schwarze Deutsche‹ oder ›Deutsch-Türkinnen‹ als selbstverständliche
bzw. integrale Bestandteile der deutschen Gesellschaft anzusehen, deuten
darauf hin, dass der Besitz des ›richtigen‹ Passes allein noch nicht vor
rassistischer Diskriminierung schützt. Aufgrund dieser Situation muss auch
dem zweiten Einwand eine Frage entgegengestellt werden: Inwieweit ist das
deutsche Nationenverständnis nicht auch weiß markiert?
In diesem Artikel möchte ich auf die aufgeworfenen Fragen Antworten
geben, indem ich nach den historischen Bedingungen frage, die dazu
beigetragen haben, dass Deutschland sich zu einer dominant weißen Nation
entwickelt hat.[5] Dabei möchte ich aufzeigen, dass sich in Deutschland
aufgrund spezifischer historischer Prozesse ein besonders
integrationsresistentes Konzept von Zugehörigkeit durchsetzen konnte, das
bis heute virulent ist.
Unter ›Weißsein‹ verstehe ich dabei die gesellschaftlich akzeptierte
Zugehörigkeit zu einem privilegierten Kollektiv, welches sich auf der Basis
biologistischer bzw. ›rassischer‹ Kriterien gründet. Wobei ich zeigen werde,
dass diese Zugehörigkeit auch oft durch kulturelle Performanz und
Identifikation mit dem weißen Kollektiv bestätigt werden muss. Wenn ich
auf das Kriterium ›gesellschaftliche Akzeptanz‹ verweise, geht es mir
darum, dass es nicht ausreichend ist, wenn ein Individuum rassifizierte
Merkmale wie eine ›helle Haut‹ aufweisen kann.[6] Die Prozesse des
Becoming White in der Migrationsgeschichte der IrInnen in den USA oder
des Unbecoming White im kolonialen Prozess der ›Verkafferung‹, auf den
ich noch zurückkommen werde, manifestieren vielmehr, dass es bei der
Inklusion in ein weißes Kollektiv um gesellschaftliche Zuschreibungen
geht, die historisch und geographisch spezifisch sind und auch umkämpft
werden.[7] ›Deutschsein‹ wird in diesem Artikel aus pragmatischen
Gründen lediglich in seiner staatsbürgerrechtlichen Dimension diskutiert.
Es muss zukünftigen Forschungen überlassen werden, die Diskussion um
weitere Dimensionen zu ergänzen.
Es ist leider nicht umgänglich, bei der Analyse von Prozessen der
Rassifizierung deutscher Identitäten[8] rassistische Terminologien
anzuführen, welche die untersuchten Perioden charakterisieren. Keinesfalls
geht es darum, diese durch ihre erneute Nennung zu reproduzieren,
vielmehr sollen diese Begriffe, welche vielen Menschen vor allem im
Kolonialismus und Nationalsozialismus das Leben gekostet haben, kritisiert
und dekonstruiert werden, um sie endgültig aus der Welt zu schaffen. Bevor
ich meine These näher ausführe, soll allerdings herausgestellt werden, dass
die deutsche Geschichte nicht isoliert von der Gesamtentwicklung in
Europa analysiert werden kann.

EUROPÄISCHE EXPANSION UND WISSENSARCHIVE


Lange vor seiner offiziellen Kolonialgeschichte war Deutschland
ökonomisch, politisch, sozial und kulturell mit der europäischen Geschichte
des Kolonialismus und der Sklaverei verbunden. So waren Hamburger See-
und Kaufleute spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts im Sklavenhandel
aktiv.[9] Wie Susanne Zantop zeigt, waren zudem deutsche Händler,
Wissenschaftler, MissionarInnen und LiteratInnen in die europäischen
Aktivitäten der Kolonisation involviert oder träumten selbst von einem
Kolonialreich.[10]
Legitimiert wurde die europäische Expansion und Herrschaft zunächst
durch die christliche Kirche. Als diese in Europa mit dem Ende des
Feudalismus zunehmend an Einfluss verlor, entwickelten sich
Wissenschaften wie Biologie, Medizin oder Philosophie zu neuen
Legitimationsinstanzen, welche Bedeutungsmuster zur Erklärung sozialer
Ungleichheit zur Verfügung stellten. Die soziale Stellung von Individuen
wurde somit nicht mehr durch die Bibel legitimiert, sondern ›aus der Natur‹
abgeleitet.[11] Die wissenschaftliche Erfindung von ungleichen
›Rassen‹[12], welche sich primär im 18. und 19. Jahrhundert verorten lässt,
war ein gesamteuropäisches Projekt.[13] Europäische Wissenschaftler wie
z.B. Blumenbach, Gobineau, Chaimberlain oder Darwin stellten in
unterschiedlicher Weise machtvolle ›Wissensarchive‹ (Foucault) zur
Verfügung, mit denen rassistische Diskriminierung legitimiert wurde.
Dabei bestimmten diese ›Wissensarchive‹ auch fundamental das
Selbstverständnis der weißen EuropäerInnen. Nicht selten kontrastierten
europäische Intellektuelle im Prozess der Theoriebildung die Figur des
›primitiven Negers‹ mit dem ›rationalen Europäer‹, um Themen wie
Vernunft, Moral oder menschliche Entwicklung zu diskutieren.
Eurozentrische Dichotomien bzw. Dominanzphantasien wurden somit als
heuristische Mittel eingesetzt, um die eigenen Theorien zu verifizieren.
Dies lässt ahnen, wie tiefgreifend die Unterwerfung des Anderen im
europäischen Denken eingeschrieben ist.[14]
Im Folgenden soll untersucht werden, wie Konzepte von ›Weißsein‹ und
›Deutschsein‹ in der deutschen Geschichte miteinander verbunden wurden.
Dabei stellt die Analyse keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weil sie sich
notwendigerweise auf einige wesentliche Momente reduzieren muss. Da
sich mein Erkenntnisinteresse auf Prozesse der Rassifizierung deutscher
Identitäten konzentriert, erscheinen insbesondere jene historische Momente
interessant, bei denen die Interdependenz von ›Rasse‹ und Nationalität
besonders deutliche Konturen annimmt. Als einen wichtigen Moment sehe
ich hier den Prozess der deutschen Nationenbildung, in welchem die Idee
eines exklusiven ›Volkstums‹[15] an Hegemonie gewann.

DEUTSCHLAND – DIE ›VERSPÄTETE NATION‹


Die Frage, warum sich in Deutschland ein spezifisch rassistisches bzw.
völkisches Denken herausbilden konnte, wurde bereits von kritischen
WissenschaftlerInnen während und nach dem Holocaust aufgeworfen. So
führten Hannah Arendt und Helmuth Plessner das völkische Denken in
Deutschland auf dessen verspätete ökonomische und politische
Entwicklung im Vergleich zu anderen europäischen Nationalstaaten zurück.
Während Länder wie Frankreich oder England ihr nationalstaatliche Basis
bereits im 16. und 17. Jahrhundert gefunden hatten, so Plessner, war das
spätere ›Deutsche Reich‹ zu dieser Zeit noch föderal, ständisch und
konfessionell fragmentiert. Aus diesem Grund hätte sich in Deutschland
weder der politische Liberalismus Englands noch der demokratische
Rationalismus Frankreichs in der deutschen Kultur etablieren können.
Stattdessen wurde die Idee eines ›ursprünglichen Volkstums‹ im
öffentlichen Bewusstsein kultiviert.[16]
In Deutschland hat der Begriff ›Volk‹ verschiedene semantische
Bedeutungen durchlaufen.[17] HistorikerInnen weisen etwa darauf hin, dass
der Begriff ›deutsches Volk‹ erst seit dem 19. Jahrhundert belegt ist, zuvor
gab es lediglich das ›Sachsenvolk‹ oder ›Baiernvolk‹. So wurde in der
badischen Verfassung von 1818 noch von ›deutschen Völkern‹ im Plural
gesprochen.[18] In der deutschen Geschichte waren sehr unterschiedliche
Bedeutungsvarianten des ›Volks‹-Begriffs präsent. Doch um 1800 gewann
ein Volksbegriff an Hegemonie, der sich zunehmend biologisch begründete.
Wie lässt sich das erklären?
HistorikerInnen sehen eine wichtige Zäsur in der Niederlage Preußens
gegenüber Frankreich im Jahre 1806 und der napoleonischen Hegemonie,
welche große Teile Europas beeinflusste. Diese Prozesse hätten zu einer
bedeutsamen Aufwertung des deutschen Volksbegriffs geführt. Gleichwohl
es zuvor politisch gesehen weder ein ›deutsches Volk‹ (noch eine Nation)
gegeben hat, wurde dieses nun zu einer Vision, einer gedachten Ordnung
stilisiert, um die verschiedenen ›Staatsvölker‹ des zerfallenden Reiches zu
einem ›Volk‹ zu einigen.[19]
Im Zuge dessen beschwor man eine gemeinsame deutsche ›Sprach- und
Kulturgemeinschaft‹ oder die Notwendigkeit einer einheitlichen deutschen
›Nationalerziehung‹ (Fichte und Herder), aber auch die Vorstellung
gemeinsamer ›Blutsbande‹ oder ›Stammesverwandtschaft‹, welche die
Einheit des Volkes nach außen sichern sollten.[20] So entwickelte sich die
Vorstellung eines ›deutschen Volkes‹ sozusagen als Gegenmodell zur
französischen Nation.[21]
Mit Hannah Arendt lässt sich daher zusammenfassen, dass das völkische
Denken in Deutschland auf die ›politische Verlegenheit‹ zurückzuführen ist,
dass es historisch keine Idee davon gab, was Deutschland ausmachen sollte.
Weder historisch noch geographisch gab es eine eindeutige Definition, wo
die Grenzen der deutschen Nation verlaufen sollten, auch hatte sich auf dem
deutschsprachigen Territorium kein nationales Gedächtnis herausgebildet.
Das Bewusstsein einer gemeinsamen, biologisch begründeten Herkunft
sollte daher der inneren Kohäsion dienen und die französische
Fremdherrschaft abwehren.[22]
Was bedeutet diese historische Periode für die Verknüpfung von
›Weißsein‹ mit ›Deutschsein‹? Indem der biologisch begründete
›Volkstum‹-Begriff an Hegemonie gewann, entwickelte sich in Deutschland
ein äußerst integrationsresistentes Verständnis nationaler Zugehörigkeit.
Eine Inklusion in das Kollektiv des ›deutschen Volkes‹ orientierte sich
verstärkt an Kriterien wie ›Abstammung‹ oder ›Blutsverwandtschaft‹.
Dieser Prozess wurde durch Entwicklungen im deutschen Staatsbürgerrecht
forciert, welches Mitte des 19. Jahrhunderts damit begann, das ius sanguinis
(Blutprinzip) gegenüber dem ius soli (Territorialprinzip) zu privilegieren.
[23]
Der lateinische Begriff solium (Thron oder Königreich) verweist noch
auf die feudalistische Tradition des Territorialprinzips: der Bürger war
Eigentum des Königs und sein Wohnsitz entschied, ob er sich in einem
Treueverhältnis zum Monarchen befand.[24] Die bürgerliche Rechtsfigur
der Staatsbürgerschaft wurde in Europa erst mit der französischen
Verfassung 1791 eingeführt. Rechtsprägend für europäische Staaten war
insbesondere der 1804 verabschiedete Code Civil, der als Code Napoléon
von vielen süddeutschen Staaten[25] des späteren Deutschen Reichs
übernommen wurde. Hier wurde das ius soli noch eindeutig gegenüber dem
ius sanguinis privilegiert. Staatsangehörige waren damit primär im Land
Geborene.[26]
Im Jahre 1842 erließ der Staat Preußen allerdings ein Gesetz, nach dem
jedes eheliche Kind eines Preußen automatisch ›preußischer Untertan‹ sein
sollte, auch wenn es im Ausland geboren ist. Damit ging Preußen zum
Prinzip des ius sanguinis über. Mit der Reichsgründung 1871 wurde das
preußische Prinzip in das »Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz«
übernommen.[27]
Zusammengefasst wurden seit dem 19. Jahrhundert biologistische
Konzepte wie ›Blutsverwandtschaft‹, ›Stammeszugehörigkeit‹ oder
›Volkstum‹ dazu genutzt, zu einem Verständnis einer homogenen deutschen
Nation zu gelangen. Dieses Verständnis gewann durch politische,
philosophische, literarische und juristische Interventionen an Hegemonie.
Mit der Reichsgründung setzte sich im deutschen Staatsbürgerrecht zudem
eine Praxis durch, welche das Prinzip des ius sanguinis privilegierte. Mit
diesen Prozessen wurde quasi der Grundstein für eine rassifizierte nationale
Identität gelegt.

›WEIßSEIN‹ IM DEUTSCHEN KOLONIALISMUS


Die zweite Periode, welche meines Erachtens wichtige Aufschlüsse über
die aufgeworfenen Fragen gibt, ist die deutsche Kolonialgeschichte.
Bekanntlich trat Deutschland erst sehr spät als Kolonialmacht in
Erscheinung.[28] Die Profilierung als ›Weltmacht‹ war ganz sicher eine
wichtige Motivation, warum sich die deutsche Politik doch noch an der
europäischen Unterwerfungsgeschichte beteiligte.[29] Ferner versprach
man sich von dem kolonialen Projekt positive Effekte bezüglich der
Stabilisierung eines Nationalbewusstseins im deutschen Kaiserreich selbst.
[30]
Doch die besonders vom liberalen Großbürgertum bewunderte
Transformation des Nationalcharakters nach britischen Vorbild wollte den
Deutschen nicht so schnell gelingen. Die koloniale Identität der Deutschen
schien nach den Aussagen enttäuschter KolonistInnen zwischen
Omnipotenzphantasien und Minderwertigkeitskomplexen zu oszillieren. So
klagte das liberale deutsche Großbürgertum, dass im Gegensatz zu den
BritInnen in ›Deutsch-Südwest‹ statt selbstverständlicher Größe lediglich
Selbstüberschätzung überwiegen würden.[31]
Dennoch waren deutsche Akteure, wie bereits erwähnt, in vielfältiger
Weise im europäischen Kolonialismus involviert. So verwundert es nicht,
dass deutsche KolonistInnen den Mythos der eigenen ›rassischen
Überlegenheit‹ adaptiert hatten, bevor der Prozess der deutschen
Kolonisation begann. Als EuropäerInnen hatten sie bereits die grausame
Geschichte des europäischen Kolonialismus und des Sklavenhandels
internalisiert, die eine Hierarchisierung zwischen Schwarzen und weißen
Menschen einschloss.[32]
Die Idee eines ›deutschen Volkes‹ erwies sich auch in den Kolonien als
wichtiges Konzept, da es durch die Vorstellung einer ›Blutsgemeinschaft‹
territorial nicht gebunden war. Zudem diente diese Fiktion dazu, sich von
anderen weißen KolonistInnen abzusetzen. Dazu gehörten insbesondere
konkurrierende Kolonialmächte wie England und Frankreich. Deutsche
KolonistInnen sahen sich hier herausgefordert, das spezifische des
›Deutschtums‹ zu definieren und sich als Kolonialmacht ein Profil zu
geben.[33]
Trotz der bereits existierenden Identitätsangebote aus dem europäischen
›Wissensarchiv‹ war ›Weißsein‹ für deutsche KolonistInnen aber auch
etwas, das immer wieder hergestellt werden musste. In diesem Prozess der
weißen Selbstaffirmation[34] nahmen weiße Frauen eine wichtige Funktion
ein: sie sollten das weiße Kollektiv biologisch, sozial und kulturell
reproduzieren.[35] So gründete sich im Jahre 1907 der »Frauenbund der
deutschen Kolonialgesellschaft«, um so genannte ›Mischehen‹[36] in den
Kolonien zu verhindern und das ›Deutschtum‹ zu etablieren.
Der Frauenbund sorgte sich insbesondere um die angebliche
›Verkafferung‹[37] männlicher Kolonisten. Unter diesem Begriff verstand
man eine kulturelle Degeneration, die sich bspw. in materieller Verarmung,
übermäßigen Alkoholkonsum, der Integration afrikanischer Sprachelemente
und vor allem in deutsch-afrikanischen ›Mischehen‹ ausdrückte. In der
symbolischen Figur des ›verkafferten Kolonisators‹ wird aber auch die
Möglichkeit der Grenzüberschreitung zwischen den binär verfassten
Kategorien ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ angedeutet. Zugespitzt formuliert wird
hier die drohende Transformation des Kolonisators zum ›Anderen‹
beschworen.
›Weißsein‹ scheint demnach kein primordial gegebenes Merkmal zu
sein, man kann ›Weißsein‹ vielmehr erwerben oder verlieren. So war der
›verkafferte Europäer‹ gemäß des Deutschen Koloniallexikons ein
»verlorenes Glied der weißen Bevölkerung«.[38] Des Weiteren scheint
›Weißsein‹ im Kontext der deutschen Kolonien nicht allein eine Frage der
›Hautfarbe‹ zu sein, sondern auch ein Produkt der Identifikation und
Lebensführung.[39] Dies bedeutete allerdings auch, dass es für den weißen
Kolonisten möglich war, in das weiße Kollektiv zurückzukehren.
Wie stellte sich im Kontext der deutschen Kolonien nun die
Interdependenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ dar? Um dieses
Verhältnis herauszuarbeiten möchte ich insbesondere die Entwicklungen in
der Siedlungskolonie Südwestafrika in den Fokus nehmen. Wie Pascal
Grosse herausstellt, änderten sich die politischen Prämissen in dieser
Kolonie von einer Politik der Assimilation zu einer Politik der
Dissimilation.[40]
Die Politik der Assimilation kennzeichnet die erste Phase der deutschen
Kolonisation, als die deutschen KolonistInnen unter ökonomischen,
sozialen und militärischen Gesichtspunkten noch bedeutend von den
Kolonisierten abhängig waren. Diese Politik änderte sich mit einem sich
wandelnden Kräfteverhältnis und dem Aufstand der Herero und Nama, der
in Südwestafrika zu einem Völkermord führte: den Kolonialkrieg von 1904-
1907 sollten nur 20.000 von geschätzten 60-80.000 Hereros überleben. Von
den 20.000 Namas überlebte weniger als die Hälfte.[41]
Fortan wurde eine Politik der Dissimilation verfolgt. Diese zeichnete
sich dadurch aus, dass in Südwestafrika ein rassistisches Subsystem
etabliert wurde, das jede soziale Mobilität für Kolonisierte ausschloss. Es
gab demnach keine lokalen afrikanischen Eliten mehr, vielmehr sollten alle
Kolonisierten zu einer ›Dienstbotenklasse‹[42] zusammengefasst werden.
Mit den so genannten ›Eingeborenenverordnungen‹ von 1906/1907 wurde
der koloniale Slogan »weiße Köpfe, schwarze Hände«[43] umfassend
juristisch kodifiziert.[44]
Darüber hinaus kam es auf Initiative der lokalen Kolonialbehörden im
Jahre 1905 zu einem Verbot so genannter ›Mischehen‹. Diese waren
quantitativ zwar weit weniger verbreitet als nicht legitimierte sexuellen
Beziehungen zwischen deutschen Kolonisten und afrikanischen Frauen,[45]
doch erbten nach deutschem Recht die Nachkommen dieser Ehen
automatisch die Staatsbürgerschaft des deutschen Vaters. Dies hätte zur
Folge gehabt, dass so genannte ›Mischlinge‹ auch ›Deutsche‹ gewesen
wären. Eine Kombination, die man unbedingt verhindern wollte. Besonders
in Bezug auf die Kolonie Südwestafrika findet sich deshalb der wiederholte
Appell, ein ›starkes Rassenbewusstsein‹ zu kultivieren und auf die
›Rassenreinheit‹ zu achten.[46]
Laut Definition des Schutzgebietsgesetzes konnten deutsche
Reichsangehörige keine ›Eingeborenen‹ sein.[47] Hier wurde ›Weißsein‹
und ›Deutschsein‹ also auf das engste verknüpft. Die deutsche
Kolonialpolitik wird dabei von den Leipziger Neueste Nachrichten auf den
Punkt gebracht: »Das Deutsche Reich wird in Zukunft viele farbige
Untertanen haben, farbige Deutsche wird es allerdings niemals geben.«[48]
Zum rassistischen Subsystem gehörte ferner, dass eine Migration der
kolonialen Untertanen in das deutsche Kaiserreich weitgehend nicht
gefördert wurde. 1906 wurde zudem ein Verbot erlassen, dass auch
umgekehrt die Einwanderung Schwarzer in Südwestafrika unterband.[49]
Hier zeigt sich demnach eine völlig andere Kolonialpolitik als sie bspw.
England mit seinem Empire-Konzept verfolgte: jegliche Integration der
Kolonisierten in die deutsche Nation wurde ausgeschlossen, und es gab
auch keinen Versuch, die Eliten der kolonisierten Länder in die eigene
Gesellschaft bzw. das koloniale Herrschaftssystem einzubinden.
Zusammengefasst waren ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ in Südwestafrika
im Zuge des rassistischen Subsystems untrennbar miteinander verbunden.
Wie die koloniale Praxis der ›Mischehen‹-Verbote zeigte, wurde das Prinzip
des ius sanguinis für Schwarze bzw. deutsch-afrikanische Nachkommen
noch einmal verengt, denn es ging nicht mehr allein um den Nachweis einer
›deutschen Abstammung‹, sondern auch um die Idee einer ›Rassenreinheit‹.
[50] Dennoch muss auch festgehalten werden, dass die kolonialen Konzepte
von nationaler Zugehörigkeit umkämpft waren. Diese Kämpfe wurden
durch die herrschende Rechtsunsicherheit in den Kolonien begünstigt, denn
die oben angeführten Verordnungen waren vor allem auf Initiative der
lokalen Kolonialbehörden entstanden und bedurften im Prinzip der
Bestätigung durch das Reichskolonialamt in Berlin.
Die unsichere Rechtssituation hatte bspw. zur Folge, dass ›Mischehen‹
auf dem Territorium des deutschen Kaiserreichs als gültig angesehen
wurden, zudem konnten deutsch-afrikanische Paare die Verbote umgehen,
indem sie im Ausland, bspw. Südafrika, heirateten.[51] Schließlich zeigte
auch die Diskussion über den ›verkafferten Kolonisten‹, dass ›Weißsein‹ ein
Gratifikationsprodukt ist, das einem auch entzogen werden konnte:
›biologische Abstammung‹ reichte hier für die Inklusion in das weiße
Kollektiv nicht aus, vielmehr ging es auch Identifikation und kulturelle
Performanz.
NATIONALSOZIALISMUS
Während die Vorstellung eines ›deutschen Volkstums‹ bzw. einer ›weißen
Rasse‹ zum Zeitpunkt der deutschen Nationenbildung und des deutschen
Kolonialismus noch von Momenten der Instabilität und Unsicherheit
begleitet wurden, sind sie im Nationalsozialismus zu konstitutiven
Elementen eines ›völkischen Staates‹ geworden. In Mein Kampf postulierte
Hitler 1925, dass die ›völkische Weltanschauung‹[52] von einer
›Höherwertigkeit‹ und ›Minderwertigkeit‹ ungleicher ›Rassen‹ ausgehen
würde.[53] Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ›Rasse‹ sollte im
Nationalsozialismus entscheidend für die gesellschaftliche Positionierung
eines Individuums sein. Mehr noch: sie bestimmte über Leben und Tod. Die
Unterscheidung zwischen ›Ariern‹ und ›Semiten‹ wurde dabei zur
Primärdifferenz nationalsozialistischer Politik.
Welche zentrale Stellung ›Weißsein‹ in der nationalsozialistischen
Propaganda einnahm, zeigte sich insbesondere in der Glorifizierung der so
genannten ›nordischen Rasse‹. In seiner Schrift Der Mythus des 20.
Jahrhunderts führte Alfred Rosenberg[54] aus, »daß alle Staaten des
Abendlandes und ihre schöpferischen Werte von den Germanen erzeugt
wurden«.[55] Der ›nordischen Rasse‹ wurde dabei ein bestimmter
Körperbau sowie spezifische Charaktereigenschaften und Fähigkeiten
zugeschrieben: sie sei von ›hohem Wuchs‹, ›langschädelig‹ und
›schmalgesichtig‹, hätte ›blonde Haare‹, ›blaue Augen‹ und ›helle Haut‹.
Ihr Charakter zeichne sich angeblich durch ›Härte‹, ›Mut‹ und
›Entschlusskraft‹ aus.[56]
Die angegebenen Ordnungskriterien Schädelform, Körpergröße sowie
Haar- und Augenfarbe decken sich mit den Diskursangeboten aus den
›Wissensarchiven‹ des ›wissenschaftlichen Rassismus‹. In der Tat bezogen
sich Hitler und Rosenberg explizit auf Gobineau und Chamberlain.[57]
Darüber hinaus waren ihre inhumanen Argumentationen auch von
sozialdarwinistischen Deutungsmustern geprägt.[58]
Durch den Mythos des ›Ariers‹ kam dem weißen Kollektivkörper in der
nationalsozialistischen Propaganda eine besondere Aufmerksamkeit zu.
Abgeleitet von dem Sanskrit-Begriff arya – der Edle – sollten damit alle
Deutschen bezeichnet werden, die ›reinrassig‹ in Bezug auf die ›nordische
Rasse‹ seien.[59] ›Nordisch-germanische‹ Menschen sollten den ›deutschen
Volkskörper‹ bilden, eine ›geschlossene Volksgemeinschaft‹, welche nach
Hitler die Grundlage des ›Germanischen Reichs Deutscher Nation‹
darstellen sollte.[60] Arisch, nordisch und germanisch wurden in der
nationalsozialistischen Propaganda dabei meist synonym verwandt.
Doch das ›deutsche Volk‹ bestand nach Ansicht der
NationalsozialistInnen nicht allein aus der ›nordischen Rasse‹, diese würde
zu ihrem Bedauern lediglich die Hälfte der deutschen Bevölkerung
ausmachen.[61] Daneben sollte es sich aus den fälischen, westischen,
dinarischen, ostischen und ostbaltischen ›Rassen‹ zusammensetzen.[62]
Insofern wurde das ›deutsche Volk‹ auch durch die Vorstellung
unterscheidbarer ›Rassen‹ fragmentiert. Nach Hitler habe der Staat nun die
Aufgabe, die »wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen« aus dem
›deutschen Volk‹ zu sammeln und »zur beherrschenden Stellung empor zu
führen«.[63]
Durch Maßnahmen der so genannten ›Rassenpflege‹, mit welcher eine
Politik rassistischer Segregation und tödlicher Selektion gemeint war,
wollte der nationalsozialistische Staat die ›nordische Rasse‹ privilegieren
und eine homogene ›Volksgemeinschaft‹ erschaffen. Die Konstruktion eines
›deutschen Volkskörpers‹ implizierte dabei sowohl Ausgrenzungen und
Vernichtung als auch pronatale Praktiken.
So wurden in der nationalsozialistischen Propaganda Juden und
Jüdinnen, Schwarze, Sinti und Roma, PolInnen, RussInnen und
OsteuropäerInnen als ›rassisch minderwertig‹ markiert, womit der
anschließende Völkermord legitimiert werden sollte.[64] Auch Juden und
Jüdinnen sollten nach Ansicht der Nationalsozialisten einer besonderen
›Rasse‹ angehören. Wie religiöse Zugehörigkeit dabei en passant in
›Rassen‹-Zugehörigkeit transformiert wird, macht folgende Passage aus den
Nürnberger Gesetzen von 1935 deutlich: »Jüdischer Mischling ist, wer von
einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt […] als
volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen
Religionsgemeinschaft angehört hat.«[65]
Wie schon in der deutschen Kolonialgeschichte werden ›rassische‹
Zugehörigkeiten einfach per Dekret entschieden.[66] In Mein Kampf setzte
Hitler die ›jüdische Rasse‹ dabei explizit in einen Kontrast zur ›weißen
Rasse‹.[67] Anders als Schwarze Kolonisierte in den deutschen Kolonien,
sollte die ›jüdische Rasse‹ allerdings nicht in ein rassistisches Subsystem
als ›Arbeitsvolk‹ integriert werden, Ziel der nationalsozialistischen Politik
war vielmehr deren ›Vernichtung‹ bzw. verbrecherischen Ermordung in
ganz Europa.
Die Herstellung einer weißen bzw. ›nordischen Rasse‹ war im
Nationalsozialismus demnach untrennbar mit einer Politik der tödlichen
Vernichtung verbunden. Diese implizierte ebenfalls die Selektion interner
›Anderer‹ (Behinderte, Alkoholsüchtige, Homosexuelle oder so genannte
›Asoziale‹) durch Sterilisation und systematischen Mord. Ihr ›Anderssein‹
wurde in ihrem ›Erbgut‹ gesehen, welches die ›arische Rasse‹ vorgeblich
schwächen würde.[68]
Zugleich wurde die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten aber
auch von einer pronatalen Politik begleitet. Dem Ziel der ›Züchtung‹ eines
›Herrenvolks‹ am nächsten kamen sicher die Maßnahmen des Reichsführers
der SS, Heinrich Himmler, mit seiner Heirats- und Familienpolitik für die
SS und der Einrichtung des Vereins ›Lebensborn e.V.‹ im Jahr 1935.[69]
Doch auch die Besiedlungsprogramme für den europäischen Osten gehörten
zur ›Rassenpolitik‹ der NationalsozialistInnen. Durch ›Rücksiedelung‹ von
›Volksdeutschen‹ und ›Eindeutschung‹ von Kindern und Erwachsenen aus
Ost- und Westeuropa, sollte ein neues ›Germanisches Reich‹ entstehen.[70]
Angestrebt wurde demnach eine Neuordnung Europas nach ›rassischen‹
Kriterien.
Abschließend bleibt zu fragen, wie sich die Interdependenz von
›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ im Nationalsozialismus manifestierte. Mit
den NationalsozialistInnen wurde das Reichs- und
Staatsangehörigkeitsrecht konsequent an dem Prinzip des ius sanguinis
ausgerichtet. Dabei wurde eine Unterscheidung zwischen
›ReichsbürgerInnen‹, ›Staatsangehörigen‹ und ›Schutzangehörigen‹
installiert.[71] In den Nürnberger Gesetzen heißt es zu dieser Frage:
»Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten
Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geneigt ist, in
Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen.«[72]
›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ fallen demnach in der Kategorie
›ReichsbürgerIn‹ zusammen, denn die Zugehörigkeit war hier durch
angeblich definierbare ›deutsche Blutsanteile‹ reguliert. Ein ›Volksgenosse‹
konnte nur sein, wer einen ›Ariernachweis‹ bis in die dritte Generation
erbringt. Für die SS galt sogar ein Nachweis bis zum Jahre 1648.[73] Die
zeitlichen Zäsuren zeigen allerdings auch die nationalsozialistische
Hilflosigkeit, klare Trennlinien zwischen den konstruierten Kollektiven zu
ziehen, welche sich vorgeblich durch ›biologische Tatsachen‹ ergeben
würden.
Trotz biologistischer Definition findet sich ferner auch in den
Nürnberger Gesetzen der Verweis, dass der Status als ›Reichsbürger‹
erworben werden muss oder entzogen werden kann. Hier lassen sich
demnach erneut Parallelen zum deutschen Kolonialismus ziehen. So wird
im Nürnberger Gesetz auch das Verhalten des ›Reichsbürgers‹ zum
Inklusionskriterium gemacht.[74]
Zusammengefasst sollte es nach den Willen der NationalsozialistInnen
langfristig zu einer totalen Kongruenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹
kommen. Durch Praktiken der ›Vernichtung‹ und ›Züchtung‹ sollte ein
›germanisches Volk deutscher Nation‹ erzeugt werden. Im Gegensatz zum
deutschen Kolonialismus wurden diese Diskurse und Praktiken intern
immer weniger umkämpft, da jede Opposition in die Politik der
Vernichtung einbezogen wurde.

AUSBLICK
In meinem historischen Rückblick habe ich lediglich eine Auswahl
wichtiger Momente deutscher Geschichte diskutieren können, die zu einem
Verständnis der Interdependenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹
beitragen. Auch fehlt es aufgrund der gebotenen Kürze an dialektischen
Momenten, an Gegendiskursen und Traditionen des Widerstands. Darüber
hinaus müssten zu einem historischen Verständnis von ›Whiteness‹ im
deutschen Kontext ganz sicher weitere Diskurse wie etwa deutsche
Versionen des Orientalismus oder Antisemitismus berücksichtigt werden.
Hier besteht noch ein großes Forschungsdesideratum. Der Artikel sollte
zunächst eine Idee davon vermitteln, wie sich in Deutschland ein
integrationsresistentes (da biologisch definiertes bzw. rassifiziertes)
Nationenkonzept etablieren konnte, das ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ so
eng miteinander verknüpft.
Die eingangs erwähnte Verleugnung der Relevanz der Critical Whiteness
Studies für den deutschen Kontext liegt u.a. daran, dass der Begriff ›Rasse‹
heute weitgehend tabuisiert ist. Explizit möchten viele weiße Deutsche sich
von der ›Rassenideologie‹ der Nationalsozialisten absetzen. Dennoch lebt
die Idee von ›Rassen‹ weiter. Die Tabuisierung macht es für die kritischen
Whiteness Studies in Deutschland so schwierig, ihr Anliegen vorzubringen
und sich gegen angeführte Argumente zu behaupten. Doch da die Idee von
›Rassen‹ weiterhin soziale Realitäten strukturiert, ist es notwendig, sich
auch künftig mit dem Begriff zu beschäftigen. Nicht um diese Idee zu
reproduzieren, sondern um sich wirklich endgültig von ihr zu
verabschieden.[75]

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Oguntoye, Katharina, May Opitz & Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den
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Plessner; Helmuth: Die verspätete Nation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (Erstveröffentlichung
1935/1959)
Rohrbach, Paul: Deutsche Kolonialwirtschaft. Kulturpolitische Grundsätze für die Rassen- und
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Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München: Hoheneichen, 1938
(Erstveröffentlichung 1930)
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Zantop, Susanne: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870). Berlin: Erich
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Links, 2003, S. 26-41
& Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-
1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin: Ch. Links, 2003

ANMERKUNGEN
1 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 46.
2 Neben den Bemühungen nachzuweisen, wie Deutschland weiß konstruiert und gehalten wurde,
sollte allerdings der Einwand von Ruth Frankenberg nicht vergessen werden, dass weiße Räume
immer nur scheinbar exklusiv weiß sind (Frankenberg: »Weiße Frauen, Feminismus und die
Herausforderung des Antirassismus«). So findet sich auch in Deutschland eine lange Tradition
Schwarzer deutscher Geschichte, welche im öffentlichen weißen Bewusstsein verdrängt wurde
und seit einigen Jahren durch die Selbstorganisation Schwarzer Deutscher und Projekte der
›Gegenerinnerung‹ präsenter werden. Vgl. Campt: Other Germans; Oguntoye, Optiz & Schultz:
Farbe bekennen; Haus der Kulturen der Welt, Campt & Gilroy: Der Black Atlantic.
3 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 29-42.
4 Eine Einschränkung im Hinblick auf EU-BürgerInnen muss an dieser Stelle allerdings gemacht
werden, denn es lassen sich in der konfliktreichen Geschichte zwischen Deutschland und Polen
durchaus Diskurse ausmachen, in denen PolInnen von der deutschen Dominanzgesellschaft
rassifiziert wurden. Es wäre allerdings eine interessante Forschungsfrage, ob und durch welche
sozialen Prozesse PolInnen mittlerweile weiß geworden sind (vgl. dazu etwa: Ignatievs: How the
Irish Became White). Des Weiteren richtete sich rechtsextreme Gewalt zum genannten Zeitpunkt
ebenfalls gegen weiße Obdachlose. Eine Politik, die mit der Ideologie des Nationalsozialismus
übereinstimmt, wie noch gezeigt werden wird.
5 Da Fragestellungen, Interpretationen und Forschungsinteressen durch die Subjektposition der
ForscherInnen beeinflusst werden (Harding: Das Geschlecht des Wissens), soll diese im
Folgenden transparent gemacht werden. Die Autorin ›spricht‹ von einer Position, welche durch
rassistische Strukturen privilegiert ist (zur Diskussion von Sprechpositionen siehe Spivak: »Can
the Subaltern Speak«; Haraway: »Situiertes Wissen«; Steyerl, Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.):
Spricht die subalterne deutsch?). Diese Position schließt eine kritische Perspektive auf weiße
Dominanz allerdings nicht aus. Vielmehr geht es um die erkenntnistheoretische Einsicht, dass
Wissensproduktion stets situiert verläuft.
6 Siehe dazu ausführlicher Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 29-34
und S. 194-209.
7 Weitere Beispiele wären die koloniale Praxis der ›Naturalisation‹ und das Phänomen des
Passing as White.
8 Im Englischen spricht man auch von ›racialized identities‹, um den Prozesscharakter von
Identitätsformationen herauszustreichen. Für die Übertragung auf den deutschen Kontext siehe
auch Müller: »White Germanness, German Whiteness«.
9 Möhle: »Die Sklavenhändler«, S. 12.
10 Vgl. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland. Vgl. dazu auch Gründer:
Geschichte der deutschen Kolonien, S. 15.
11 Zur historischen Entstehung der Idee von ›Rassen‹ siehe z.B. Geiss: Geschichte des Rassismus.
In diesem Artikel wird allerdings ein Schwerpunkt auf den wissenschaftlichen Rassismus im 18.
und 19. Jahrhundert gelegt, da dieser im hier relevanten Zeitraum bereits an Hegemonie
gewonnen hatte.
12 In diesem Artikel wird der Begriff ›Rasse‹ in Anführungsstrichen verwendet um
herauszustreichen, dass es sich bei diesem Konzept um eine soziale Erfindung handelt, welche
Machtverhältnisse legitimieren soll und das jeder biologischen Grundlage entbehrt: vgl. Hanke:
»Zwischen Evidenz und Leere«.
13 Vgl. Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene; Conze & Sommer: »›Rasse‹«; Mosse:
Geschichte des Rassismus in Europa.
14 Vgl. Walgenbach: »Weiße Dominanz« und Wollrad: Weißsein im Widerspruch, S. 62-67.
15 Analog zum Begriff ›Rasse‹ wird der Begriff ›Volkstum‹ in Anführungszeichen gesetzt, um sich
von biologischen Definitionen abzugrenzen.
16 Vgl. Plessner: Die verspätete Nation.
17 Historisch besetzt der Begriff ›Volk‹ sehr unterschiedliche Bedeutungsfelder: er konnte eine
politische Einheit umschreiben (populus, natio, patria), er konnte religiös definiert sein
(Gottesvolk) oder militärisch (Kriegsvolk), eine quantitative oder soziale Größe umfassen
(Bevölkerung, Masse, Pöbel, soziale Unterschicht), demokratische Systeme bezeichnen
(Volksherrschaft), kulturelle Entitäten definieren (›Kultur- und Sprachgemeinschaft‹) oder
biologische Homogenität behaupten (›Stammesverwandtschaft‹). Aufgrund dieser Pluralität von
Bedeutungsinhalten erscheint es nicht verwunderlich, wenn er in historischen Quellen manchmal
synonym für andere Begriffe wie ›Nation‹ oder ›Rasse‹ verwandt wird.
18 Vgl. Werner: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 238.
19 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 149. Vgl. auch: Arendt: Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 365.
20 Auch die Vorstellung eines ›deutschen Stammes‹, welche eine gemeinsame biologische
Verwandtschaft behauptete, war in ihrer heutigen Bedeutung eine Erfindung des 19. Jahrhundert.
So wurden Franci, Alamanni, Saxones, Baiuuarii rückwirkend zu ›deutschen Stämmen‹ ernannt,
um die Existenz eines kohärenten ›germanisch-deutschen Volkes‹ zu deklarieren. Dabei übersah
man geflissentlich, dass Teile der Franken und Sachsen Mitbegründer anderer Großnationen wie
Frankreich oder England gewesen waren, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt dem, was später
›deutsches Volk‹ genannt werden sollte, anzugehören. Die generelle Bezeichnung dieser Völker
als ›deutsche Stämme‹ ist demnach ein Produkt spätnationaler Geschichtsdeutungen. Vgl.
Werner: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 174-176.
21 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 149.
22 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 365.
23 Wie Mathias Bös anhand der Geschichte der Staatsbürgerschaft in Deutschland, England,
Frankreich und den USA herausarbeitet, finden sich seit dem 18. Jahrhundert in allen Staaten
Kombinationen beider Prinzipien. Die Privilegierung eines Prinzips zu einer bestimmten Periode
ist dabei abhängig von bevölkerungspolitischen Interessen, Migrationsbewegungen,
Kooperationen oder Konflikten zwischen Staaten und Folge des zunehmenden
Identitätsmanagements von modernen Gesellschaften in Europa. Dabei konstatiert Bös für alle
untersuchten Staaten in der angegebenen Periode einen Trend zum ius sanguinis. Vgl. Bös:
»Ethnisierung des Rechts?«, S. 634.
24 Vgl. ebenda, S. 622. Hier und im Folgenden wird bewusst die männliche Form gewählt, da sich
die Debatten und die staatsbürgerlichen Rechte primär am männlichen Subjekt orientierten.
25 Zu den süddeutschen Staaten gehörten: Bayern, Würzburg, Hessen, Darmstadt, Nassau, Baden,
Westfalen, Frankfurt. Auch das nördliche Preußen verfolgte gemäß seiner Verordnung von 1818
zu dieser Zeit noch das ius soli. Vgl. ebenda, S. 625.
26 Vgl. ebenda, S. 624.
27 Ebenda, S. 626. Die Einführung des ius sanguinis war allerdings nicht allein durch nationale
Schließungsprozesse motiviert, vielmehr muss man sich vergegenwärtigen, dass Deutschland zu
diesem Zeitpunkt ein Auswanderungsland war und man somit seine ›Mitglieder‹ auch im
Ausland an die deutsche Nation binden wollte (ebenda, S. 637). Dies deutet bereits darauf hin,
wie komplex die historischen Prozesse der Interdependenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹
verlaufen.
28 1884 wurde Südwestafrika (Namibia), Ostafrika (Tanzania), Togo und Kamerun, sowie eine
Reihe pazifischer Inseln (Kaiser-Wilhelmsland, Neuguinea, Bismarck-Archipel, Salomon- und
Marshall Inseln) unter ›deutschen Schutz‹ gestellt. 1898 kam Kiautschou als Handelskolonie in
China hinzu, sowie weitere Inseln in der Südsee (Samoa, Marianen- Karolinen und Palauinseln).
29 Vgl. Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, S.51.
30 Vgl. Kundrus, Koloniale Behauptungen, S. 9 und S. 80.
31 Vgl. ebenda, S. 136-139.
32 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹; El-Tayeb: Schwarze
Deutsche; Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft.
33 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 162-168 und 210-235.
34 Zum Begriff ›Weiße Selbstaffirmation‹ vgl. Dies.: »Zwischen Selbstaffirmation und
Distinktion«.
35 Allgemeiner zu Geschlecht, Körper und ›Weißsein‹ vgl. Lorey: »Fetisch Körper und Weißsein«.
36 In diesem Artikel wird davon ausgegangen, dass ›Rassen‹ nicht biologisch vorgegeben sind,
sondern als soziale Konstruktionen analysiert werden müssen. Die Idee, dass ›Rassen‹ sich
›vermischen‹ können, rekurriert demnach auf biologistische Vorstellungsmuster. Aus diesem
Grund werden die Begriffe ›Mischehen‹ und ›Mischlinge‹ in Anführungszeichen gesetzt.
37 Wie im Folgenden deutlich wird, handelt es sich ebenfalls bei dem Begriff ›Verkafferung‹ um
eine rassistische Terminologie. Zum Begriff vgl. auch Machnik: »›Kaffer/Kafferin‹«, S. 155.
38 Schnee: »Verkafferung«.
39 Vgl. dazu ausführlich: Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹ und Dies.:
»Zwischen Selbstaffirmation und Distinktion«. Umgekehrt gab es für ›Schwarze‹ aufgrund des
rassistischen Subsystems keine Möglichkeit der ›Weißwerdung‹. Eine Ausnahme stellt hier
lediglich die koloniale Praxis der ›Naturalisation‹ dar, welche für eine exklusive Gruppe von
Nachkommen deutsch-afrikanischer Ehen reserviert war, die als besonders ›ehrbar‹ galten
(bspw. Missionsehen). Auf diese Praxis kann hier leider nicht weiter eingegangen werden. Vgl.
bspw. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 97; Becker: Rassenmischehen-Mischlinge-
Rassentrennung.
40 Vgl. Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft.
41 Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, S. 189 und S. 203;
Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, S. 121; Zimmerer & Zeller (Hrsg.): Völkermord in
Deutsch-Südwestafrika.
42 Vgl. etwa Rohrbach: Deutsche Kolonialwirtschaft.
43 Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft, S. 97.
44 Existenzsichernde Rechte wie Viehbesitz oder Jagdrecht wurden drastisch eingeschränkt.
Folglich waren die Kolonisierten gezwungen, ihre Arbeitskraft an weiße SiedlerInnen und
Unternehmer zu verkaufen. Über Kontrollinstrumente wie Dienstbücher, Passmarken oder
Landstreicherverbote wurde ein System des Arbeitszwangs etabliert. Mit der Verordnung, dass
nicht mehr als zehn afrikanische Familien an einem Ort unter Aufsicht eines weißen
Grundstückbesitzers leben durften, sollten alte Gesellschaftsordnungen und traditionelle
Organisationsformen zerstört werden. Schließlich wurden alle Kolonisierten juristisch für
unmündig erklärt, womit die deutschen KolonistInnen ihnen jegliche Rechtsgeschäfte
verweigerten. Vgl. dazu: Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika,
S. 192; Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, S. 122; Zimmerer: »Der koloniale
Musterstaat?«, S. 34.
45 Vgl. Kundrus: Koloniale Behauptungen, S. 247 und S. 256; Grosse: Kolonialismus, Eugenik und
bürgerliche Gesellschaft, S. 149-150 und 163; Essner: »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹«, S.
147.
46 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S.168-171 und 185-209.
47 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 103.
48 Leipziger Neueste Nachrichten 08.03.1906.
49 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S.94.
50 Vgl. ebenda, S. 136
51 Vgl. Essner: »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹«, S. 148.
52 Im Folgenden werden nationalsozialistische Terminologien, welche zu Pogromen,
Ghettoisierung, Sterilisation, Deportation und systematischen Ermordung von Millionen
Menschen führten, ebenfalls durch Anführungsstriche angeführt.
53 Vgl. Hitler: Mein Kampf, S. 420.
54 Rosenberg war ›Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und
weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‹.
55 Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 81.
56 Vgl. Kammerer & Bartsch: Nationalsozialismus, S. 133.
57 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 238; Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹,
S. 17.
58 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 418.
59 Vgl. Conze & Sommer: »›Rasse‹«, S. 159 und 176; Kammerer & Bartsch: Nationalsozialismus,
S. 19.
60 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse«‹, S. 418.
61 Vgl. Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland, S. 145.
62 Die Tatsache, dass die hier angegebenen ›Rassen‹ heute keine Ordnungsbegriffe mehr hergeben,
zeigt erneut, dass ›Rassen‹ nichts anderes als public fictions sind, die im Laufe der Geschichte
auftauchen und wieder verschwinden. Vgl. Jacobsen: Whiteness of a Different Color, S. 10 und
S. 137.
63 Hitler: Mein Kampf, S. 439.
64 Auf interne Differenzierungen zwischen den angeblich ›minderwertigen Rassen‹ und den damit
verbundenen politischen Interessen der NationalsozialistInnen (wie etwa die Wiederbesetzung
deutscher Kolonien, welche zu einer gesonderten Politik gegenüber Schwarzen
KolonialmigrantInnen führte) kann aufgrund des Fokus auf ›Weißsein‹ nicht näher eingegangen
werden.
65 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 14.11.1935.
66 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 81.
67 Hitler: Mein Kampf, S. 357. Wie Sander Gilman zeigt, findet sich die Gleichsetzung von Juden
und Schwarzen ebenfalls bei Chamberlain, dem bevorzugten Rassentheoretiker Hitlers.
Identifizieren lässt sich diese Assoziation nach Gilman allerdings schon vor dem 19.
Jahrhundert, insbesondere in christlichen Mythen. Vgl. dazu: Gilman: Rasse, Sexualität und
Seuche, S. 25-31.
68 Vgl. Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus; Mosse: Die Geschichte des Rassismus
in Europa, S. 253. Fatima El-Tayeb weist darauf hin, dass auch Afro-Deutsche im
Nationalsozialismus sterilisiert wurden. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 188.
69 In den Entbindungsheimen des ›Lebensborns‹ sollten unverheiratete Mütter unter dem Schutz
der NationalsozialistInnen auch heimlich ihre ›erbbiologisch wertvollen‹ Kinder zur Welt
bringen können. Vgl. Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹, S. 16-31, 42-58 und 152-155.
70 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 254; Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹,
S. 20 und 33-34.
71 Mit der Kategorie ›Staatsangehörige‹ wurden Juden/Jüdinnen, Schwarze und Sinti und Roma zu
BürgerInnen zweiter Klasse degradiert. Dies hatte drastische Folgen, welche vom Verlust
bürgerlicher Rechte und Freiheiten, über das Einziehen des deutschen Passes bis zur
Internierung und Ermordung in Konzentrationslagern reichen konnten. Vgl. Morgenstern:
Rassismus - Konturen einer Ideologie, S. 223; El-Tayeb: Schwarze Deutsche S. 178-200.
72 Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre. Reichsgesetzblatt (1935), Teil. 1, Sp. 1146.
73 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 418.
74 Vergleichbar gab es in den besetzten osteuropäischen Ländern ›deutsche Staatsangehörige auf
Widerruf‹ (ebenda, S. 420). Solche Definitionen unterstützten die soziale Kontrolle und
Willkürherrschaft der NationalsozialistInnen.
75 Den Mitgliedern des Berliner Whiteness-Kolloquiums danke ich für ihre inhaltlichen
Anregungen.
SANDER L. GILMAN
DIE JÜDISCHE NASE: SIND JUDEN/JÜDINNEN WEIß?
ODER: DIE GESCHICHTE DER NASENCHIRURGIE[1]

Die Spalten ›Persönliches‹ des Washingtonian, dem lokalen Stadtmagazin


in Washington, D.C., sind voller Privatanzeigen »auf der Suche nach«
Lebensgefährten. (»Auf der Suche nach« ist die Rubrik, unter welcher sich
diese Anzeigen finden.) Diese Annoncen sind mit verschiedenen
Kodewörtern gespickt, die so geläufig sind, dass ihre Bedeutung niemals
wirklich erklärt wird: »DWM [Divorced White Male = Geschieden Weiß
Männlich], kürzlich von Boston zugezogen, sucht eine nicht rauchende,
finanziell abgesicherte 40+, die das Lachen liebt« […] oder »JSF [Jewish
Single Female = Jüdisch Single Weiblich], Typ Kathleen Turner, mit
Lebenshunger auf der Suche nach S/DJM […] für eine leidenschaftliche
Beziehung.« Neulich stolperte ich über eine Anzeige, die mit den Worten
begann »DW(J)F [Divorced White (Jewish) Female = Geschieden Weiß
(Jüdisch) Weiblich] – jung, 41, Ph.D., berufstätig, keine Kinder […] sucht
S/D/WWM, außergewöhnliches Gemüt, Herz & Seele […].«[2] Mich
faszinierten die Klammern: Annoncen für ›Juden‹ oder für ›African
Americans‹ oder für ›Weiße‹ machen deutlich, dass es die einzelnen
bevorzugen, ihre Sexualpartner aus spezifisch positionierten Gruppen
innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft auszuwählen. Aber die
Klammern implizieren, dass hier eine Frau gleichermaßen ›weiß‹ und
›jüdisch‹ ist. Wo fügen sich Juden/Jüdinnen ein, in Anbetracht der
Rassenpolitik der post-bürgerrechtlichen USA? Ich stellte mir diejenige
Frage, welche die Frau in der Privatanzeige deutlich ansprach: sind
Juden/Jüdinnen weiß? Und was bedeutet ›weiß‹ in diesem Kontext? Oder,
um die Frage etwas weniger polemisch zu stellen, wie hat die Frage der
Rassenidentität die jüdische Identität in der Diaspora geformt? Ich
rekurriere hier nicht darauf, wie Juden/Jüdinnen religiös, ethnisch oder
kulturell zu definieren wären – sei es nun in der Innenperspektive oder
außerhalb des Judentums oder der jüdischen Community. Vielmehr geht es
um die Frage, wie die Kategorie Rasse, gegenwärtig in der westlichen,
wissenschaftlichen und populären Kultur, die jüdische Selbstwahrnehmung
geprägt hat.
Meine Frage ist nicht nur eine ›akademische‹ – ich bin eher an der Frage
interessiert, wie die Repräsentation des jüdischen Körpers geformt wurde
und, im Gegenzug, die Bedeutung der jüdischen Identität beeinflusst hat.
Mein Ausgangspunkt ist folgende Ansicht von Mary Douglas:
Der menschliche Körper wurde schon immer als Bild der Gesellschaft behandelt und […] es kann
keine natürliche Weise geben, den Körper zu betrachten, ohne gleichzeitig eine soziale Dimension
zu sehen. Das Interesse an seinen Öffnungen kommt auf die Beschäftigung mit sozialen
Ausgängen und Eingängen, Fluchtwegen und Invasionen an. Wenn dem Schutz sozialer Grenzen
keine Bedeutung beigemessen wird, so kann ich nicht davon ausgehen, dass eine Reflexion
körperlicher Grenzen stattfindet.[3]

Wo und wie eine Gesellschaft den Körper definiert, reflektiert wie diese
Gesellschaft sich selbst definiert. Dies trifft besonders auf
›wissenschaftliche‹ oder pseudo-wissenschaftliche Kategorien wie ›Rasse‹
zu, welcher außergewöhnliche Bedeutung bei der Gestaltung beigemessen
wird, wie wir alle uns selbst und gegenseitig verstehen. Seit Ende des 19.
Jahrhunderts wurde der Idee der ›Rasse‹ sowohl eine positive als auch
negative Bedeutung zugeteilt. Für viele Gruppen gelten die Aussagen »Wir
gehören einer ›Rasse‹ an« und »Unsere Biologie definiert uns« ebenso als
richtig wie das Gegenteil: »Du gehörst zu einer ›Rasse‹ und deine Biologie
schränkt dich ein.« Rasse ist eine konstruierte Kategorie sozialer
Organisation so viel wie sie eine Reflexion einiger Aspekte biologischer
Wirklichkeit ist. ›Rassen‹-Identität war eine mächtige Kraft, um das
Verständnis unserer selbst am Ende des 20. Jahrhunderts zu formen –
oftmals uns selbst zum Trotz. Beginnend im 18. Jahrhundert und bis heute
andauernd gab und gibt es eine wichtige kulturelle Antwort auf die Idee der
›Rasse‹, eine Antwort, welche die Einzigartigkeit des Individuums über die
Einheitlichkeit der Gruppe stellt. Wie Theodosius Dobzhansky 1967
bemerkte:
Jede Person hat einen Genotyp und eine Lebensgeschichte, die sich von jedem anderen Wesen
unterscheiden, sei es von einem Mitglied der Familie, des Clans, der Rasse oder der Menschheit.
Über die universellen Rechte aller menschlichen Wesen hinaus (was eine typologische
Zuschreibung sein kann!), sollte eine Person aufgrund seiner eigenen Verdienste bewertet werten.
[4]

Dobzhansky und viele WissenschaftlerInnen der 1960er gaben ›Rasse‹ als


eine Kategorie wissenschaftlicher Bewertung auf und argumentierten, dass,
wann immer sie im Laufe der Geschichte einbezogen wurde, entsetzlicher
Missbrauch daraus resultierte.[5] Zur selben Zeit fand in der westlichen,
insbesondere US-amerikanischen Kultur der 1960er auch eine Resituierung
des Konzeptes Rasse statt. ›Schwarz‹ war ›schön‹ und ›Wurzeln‹ sollten
gefeiert, nicht geleugnet werden. Die Ansicht, sich selbst als Teil einer
Rasse zu sehen, wurde als stärkender Faktor wahrgenommen. Am Ende des
20. Jahrhunderts sind wir indes nicht plötzlich abgestumpft gegenüber dem
negativen Potential des Konzeptes Rasse. In Anbetracht ihres Missbrauches
während der Shoah[6] ebenso wie in neokolonialen Regierungen
weltweit[7] wird deutlich, dass sehr viel Sensibilität beim Gebrauch
derselben Idee von Rasse notwendig ist. Durch die Umkehrung der Idee
Rasse werden ihre negativen Implikationen nicht aufgehoben, sondern
lediglich verhüllt. Darum ist auch klar, dass die Bedeutungen, welche mit
›Rasse‹ assoziiert werden, starken Einfluss auf diejenigen haben, die in
diesen konstruierten Kategorien enthalten sind. Sie formen und prägen sie.
Und das kann eine anscheinend positive oder eine deutlich negative
Antwort sein. Es steht außer Frage, dass es keine ›realen‹, das heißt
gemeinsame genetische Kennzeichen innerhalb der und zwischen den
Gruppierungen gibt. Aber die Rhetorik darüber, was dieses geteilte
Kennzeichen innerhalb der allgemeinen Kultur und der so definierten
›Gruppe‹ ausmacht, wird für jedwedes Verständnis der eigentlichen
Bedeutung von Rasse wichtig.
Ich möchte mit der Anzeige im Washingtonian beginnen sowie mit der
Frage, die das in Klammern gesetzte (J) hervorruft: Sind Juden/Jüdinnen
weiß? Um die Frage beantworten zu können, müssen wir die Debatte über
die ›Hautfarbe‹ von Juden/Jüdinnen betrachten, da die ›Hautfarbe‹ seit jeher
eines der hervorstechenden Kennzeichen für die Konstruktion von ›Rasse‹
im Westen ist. Der allgemeine Konsens in der ethnologischen Literatur des
späten 19. Jahrhunderts ist, dass Juden/Jüdinnen ›Schwarz‹ oder, zumindest,
›schwärzlich‹ sind. Diese Sichtweise hat eine lange Geschichte in der
europäischen Wissenschaft. Bereits 1691 argumentierte François-
Maximilien Misson, dessen Ideen Buffon’s Natural History beeinflussten,
gegen die Zuschreibung, dass Juden/Jüdinnen Schwarz seien:
Dies ist ein vulgärer Irrtum, dass die Juden alle schwarz sind; dies trifft nur für die portugiesischen
Juden zu, die, da sie immer untereinander heiraten, Kinder wie ihrer selbst bekommen und
deshalb ist konsequent das Schwarzsein ihres Aussehens in ihrer gesamten Rasse vererbt, sogar in
den nördlichen Regionen. Aber die Juden mit Ursprung in Deutschland, die ich, beispielsweise, in
Prag gesehen habe, sind nicht schwärzer als die anderen ihrer Landsmänner.[8]

Das aber war die Position einer Minderheit. Für den Wissenschaftler des 18.
und 19. Jahrhunderts war die ›Schwärze‹ des Juden/der Jüdin nicht nur ein
Marker seiner ›rassischen‹ Minderwertigkeit, sondern auch ein Indikator
der erkrankten Natur des Juden/der Jüdin. Der ›liberale‹ bayrische
Schriftsteller Johann Pezzl, welcher in den 1780ern nach Wien reiste,
beschrieb den ›typischen‹ Wiener Juden seiner Zeit so:
In Wien schweben ungefähr fünfeinhalbhundert Judenseelen. Ihr einziger und ewiger Beruf ist zu
mauscheln und schachern und Geldmäkeln und zu betrügen, Christen, Türken, Heiden, ja sogar
sich selbst untereinander. […] Dies ist indessen bloß der bettelhafte Troß aus Kanaan, der an
Schmutz, Unsauberkeit, Gestank, Ekelhaftigkeit, Armut, Schelmerei, Zudringlichkeit und, was
etwa sonst noch die Eigenschaften des auserwählten Volkes sein mögen, nur noch von dem
Gesindel der zwölf Stämme aus Galizien übertroffen wird […] Die indischen Fakire abgerechnet,
gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang-Utan näher kommt,
als einen polnischen Juden. […] Vom Fuß bis zum Hals voll Kot, Schmutz und Lumpen, in einer
Art von schwarzem Sack steckend, der um die Mitte mit einem Gürtel gebunden ist, woran ein
schmieriges Stück Riemen und einige Schnüre hängen […] der Hals offen und von der Farbe der
Kaffern, das Gesicht bis in die Augen verwachsen von einem Bart, der selbst dem hohen Priester
im alten Tempel Grausen erregen würde, die Haare büschelweise verdreht und in Knoten geknüpft
um die Schulter triefend, als ob sie alle die polnische Plika hätten …[9]

Das Bild des Wiener Juden ist das des Ostjuden (›the Eastern Jew‹), der an
den Krankheiten des Ostens leidet, so wie der ›Judenkrätze‹, der frei
erfundenen Haut- und Haarkrankheit, die auch den Polen unter der
Bezeichnung ›plica polonica‹[10] zugeschrieben wird. Die ›jüdische
Krankheit‹ steht auf der Haut geschrieben. Die Erscheinung, die
›Hautfarbe‹, die äußeren Kennzeichen des Juden/der Jüdin markieren den
Juden/die Jüdin als abweichend. Für einen nicht-jüdischen Besucher in
Wien steht außer Frage, beim ersten Anblick des Juden/der Jüdin zu sehen,
dass der Jude/die Jüdin am Jüdischsein leidet. Der interne, moralische
Zustand des Juden/der Jüdin, die dem Juden/der Jüdin eigene Psychologie,
manifestiert sich im krankhaften Äußeren des Juden/der Jüdin. Die ›plica
colonica‹ ist (…)[11] tatsächlich ein dermatologisches Syndrom. Es
resultiert aus dem Leben in Dreck und Armut. Aber es wurde auch mit der
unhygienischen Natur des Juden/der Jüdin assoziiert und, in der Mitte des
19. Jahrhunderts, mit der besonderen Beziehung des Juden/der Jüdin zur der
erschreckendsten Krankheit der damaligen Zeit, der Syphilis.[12] Für den
Nicht-Juden spiegelte der Anblick des Juden/der Jüdin die populären
Vermutungen über die dem Juden/der Jüdin inhärente, essentielle Natur
wider. Pezzls Zeitgenosse, Joseph Rohrer, betonte die »ekelerregenden
Hautkrankheiten« des Juden/der Jüdin als ein Zeichen der allgemeinen
Gebrechlichkeit dieser Gruppe.[13] Und für Pezzl ist der essentielle Jude
der galizische Jude, der Jude/die Jüdin aus den östlichen Reichweiten des
Habsburger Reiches.[14] (Diese Ansicht des späten 18. Jahrhunderts über
die Bedeutung ›der Hautfarbe des Juden‹ wurde nicht nur von Nicht-Juden
aufrechterhalten. Der Aufklärer und jüdische Arzt Elcan Issac Wolf befand
diese ›schwarz-gelbe‹ ›Hautfarbe‹ als pathognomonisches Zeichen des
krankhaften Juden.[15]) Der humoralen Theorie der damaligen Zeit
zufolge, äußerte sich James Cowles Pritchard (1808) über das jüdische
»cholerische und melancholische Temperament, das dazu führt, dass ihre
Gesichtsfarbe im Allgemeinen eine Schattierung dunkler ist als die der
Engländer […].«[16] Die Anthropologie des 19. Jahrhunderts äußerte sich
bereits durch die Arbeit von Claudius Buchanan über die
›Minderwertigkeit‹ ›Schwarzer‹ Juden/Jüdinnen aus Indien.[17] In der
Mitte des Jahrhunderts wurden Schwarzsein, Jüdischsein, Kranksein und
›Hässlich‹sein unerbittlich miteinander in Verbindung gebracht. Alle
›Rassen‹ wurden, übereinstimmend mit der damalig aktuellen Ethnologie,
mit Begriffen der Ästhetik beschrieben – als entweder ›hässlich‹ oder
›schön‹.[18] Die Schwarzen in Afrika, insbesondere die als ›Hottentotten‹
konstruierten Völker Südafrikas, wurden, wie ich andernorts gezeigt habe,
zur Verkörperung der ›hässlichen Rasse‹.[19] Und hässlich zu sein war, wie
ich ebenfalls andernorts dargelegt habe, nicht nur eine ästhetische Frage,
sondern ein deutliches Zeichen der Pathologie, der Krankheit. Schwarz zu
sein hieß dabei eben nachgerade nicht schön zu sein. In der Tat wurde die
Schwärze des Afrikaners und der Afrikanerin, ebenso wie die Schwärze des
Juden/der Jüdin, als Zeichen eines pathologischen Wandels der Haut
gedeutet, als das Resultat angeborener Syphilis. (Und, wie wir sehen
werden, wurde der Syphilis auch die Verantwortung für die Formung der
Nase zugeschrieben.) Man übertrug die Zeichen des erkrankten Status auf
die Anatomie und, in Ausweitung, auch auf die Psyche. All diese Zeichen
verwiesen Juden/Jüdinnen darauf, Mitglied einer der ›hässlichen‹ (und nicht
einer ›schönen‹) ›Rassen‹ der Menschheit zu sein. Der Körper des
Juden/der Jüdin wurde durch die Leugnung jeglicher Verbindung zu
Schönheit und Erotik verunglimpft.[20]
In der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts bedeutete ›Schwarz‹-sein, dass
Juden/Jüdinnen rassialisierte Grenzen überschritten hatte. Die Grenzen
zwischen den ›Rassen‹ waren eine der mächtigsten sozialen und politischen
Unterteilungen, entwickelt in den Wissenschaften dieser Zeit. Statt
aufgrund endogener Ehen als reine ›Rasse‹ zu gelten, wurden
Juden/Jüdinnen gerade aus diesem Grund vielmehr als einer unreinen
›Rasse‹ angehörig betrachtet und damit als latent krankhaft. Diese
Unreinheit sei in der Physiognomie festgehalten. Houston Stewart
Chamberlain zufolge gehören Juden/Jüdinnen einer »bastardierten« (und
eben nicht einer gesund ›gemischten‹) ›Rasse‹ an, welche mit
AfrikanerInnen Inzucht betrieben hätten während der Zeit des Exils in
Alexandria.[21] Die ›jüdische Rasse‹ »ist […] eine durch und durch
bastardierte, welche diesen Bastardcharakter bleibend bewahrt.«
Juden/Jüdinnen hätten mit Schwarzen im alexandrinischen Exil
›hybridisiert‹. In einer ironischen Rezension zu Chamberlains Arbeit
schrieb Nathan Birnbaum, jener wienerisch-jüdische Aktivist, welcher das
Wort ›Zionist‹ prägte, dass die Ursprünge dieser »Bastardrasse« in ihrer
Neigung zum Inzest und sexueller Selektivität zu finden wären.[22]
Juden/Jüdinnen trügen das Zeichen von Schwarzen, »der afrikanische
Charakter des Juden, sein maulartig geformter Mund und sein Gesicht
entfernen ihn von bestimmten anderen Rassen […]«, wie Robert Knox in
der Mitte des Jahrhunderts notierte.[23] Die Physiognomie des Juden/der
Jüdin gleiche der des Schwarzen:
[…] die Kontur ist konvex; die Augen lang und fein, die äußeren Gesichtswinkel verlaufen bis zu
den Schläfen; die Brauen und Nase neigen dazu, eine einzige konvexe Linie zu bilden; die Nase
vergleichsweise schmal an der Wurzel, die Augen folglich eng nebeneinander; die Lippen sehr
voll, der Mund vorspringend, kleines Kinn und die ganze Physiognomie, wenn wie so oft
schwärzlich, hat ein afrikanisches Aussehen.[24]
Nicht nur die ›Hautfarbe‹ ist folglich für die Wissenschaft Ausschlag
gebend, um den Juden/die Jüdin als Schwarz anzusehen, sondern auch die
verwandten anatomischen Zeichen, wie die Form der Nase. Juden/Jüdinnen
werden absolut buchstäblich als Schwarz gesehen. Adam Gurowski, ein
polnischer Adeliger, »hielt jeden hellhäutigen Mulatten für einen Juden« als
er in den Vereinigten Staaten in den 1850ern Jahren ankam.[25]
Wenn Deutsche (Arier) eine ›reine‹ ›Rasse‹ darstellen – und das ist für
die Wissenschaft zur Jahrhundertwende eine positive Eigenschaft – dann
können Juden/Jüdinnen nicht Mitglied einer ›reinen Rasse‹ sein. Aber was
passiert, wenn der Jude/die Jüdin versucht, kein Jude/keine Jüdin mehr zu
sein und außerhalb seiner/ihrer ›Rasse‹ heiratet? Sein/Ihr Jüdischsein wird
weniger abgeschwächt, denn verstärkt. Sein/Ihr Status als
Angehöriger/Angehörige einer gemischten ›Rasse‹ wird im Sinnbild des
›Mischlings‹ veranschaulicht, dem Mitglied der ›gemischten Rasse‹.[26]
Der Begriff ›Mischling‹ referiert im späten 19. Jahrhundert in der
Rassenlehre auf die Nachkommen eines jüdischen und eines nicht-
jüdischen Elternteils. Das Jüdischsein des ›Mischlings‹
bedeutet also ganz ohne Zweifel eine Entartung: Entartung des Juden, dessen Charakter ein viel zu
fremder, fester, starker ist, als dass er durch germanisches Blut aufgefrischt und veredelt werden
könnte, Entartung des Europäers, der durch die Kreuzung mit einem ›minderwertigen Typus‹ […]
natürlich nur verlieren kann.[27]

Sie könnten »jüdisch-negroide« Züge haben.[28] Sprach- und ebenso


Gedankenprozesse seien deshalb ein Reflex des ›Rassen‹-Ursprungs des
›Schwarzen‹ Juden/der ›Schwarzen‹ Jüdin. Und sein/ihr ›Schwarzsein‹
erscheint umso durchschlagender in gemischten Ehen, beinahe als ob die
Natur den Unterschied und die Sichtbarkeit des Juden/der Jüdin
verdeutlichen wolle. Dieser ›Makel‹ kann in Familien auftreten, »in die
jüdisches Blut eingeflößt wurde. […] Es neigt dazu, in einer
gekennzeichneten und intensiv jüdischen Art an Merkmalen und Ausdruck
aufzutreten […].«[29] In der ›gemischten‹ Brut seien diese negativen
Qualitäten deshalb am deutlichsten zu erkennen. In diesem Zusammenhang
gab der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann ein Gespräch mit
einem klassischen Antisemiten aus den frühen 1890er Jahren wieder, der
sagte:
Die Frage ist nur, ob sie Christen werden können, anders als im oberflächlichen Sinn, wie es ja die
Mehrzahl der Christen selbst ist. Die Frage ist, ob sie deshalb aufgehört haben, Juden zu sein und
dies in einem tieferen Sinn; man weiß es nicht, man kann es nicht kontrollieren. Ich glaube an ein
Weiterwirken der Einflüsse. Judentum ist wie ein intensives Färbemittel; die geringste Quantität
reicht hin, um einer unvergleichlich größeren Masse seinen Charakter zu geben oder wenigstens
Spuren davon.[30]

Die Grenzüberschreitung der ›Rassen‹ stellte das Potential an


Hervorhebung der Minderwertigkeit von Juden/Jüdinnen dar.
Auch wenn der Jude/die Jüdin spurlos zu verschwinden wünschte, durch
die Heirat außerhalb der ›Rasse‹, wurde sein oder ihr Schwarzsein nicht
vermindert. Im Gegenteil, es wurde verstärkt. Die Macht des Bildes vom
›Schwarzen Juden‹, dem Produkt der Kreuzung zwischen Juden und
Schwarz, ist sehr einflussreich im Europa des 19. Jahrhunderts,
insbesondere für jene Juden/Jüdinnen, die sich selbst als weiß sehen
wollten. Als beispielsweise Sigmund Freud ein halbes Jahrhundert nach
Knox’ Arbeit das Unbewusste mit dem Vorbewussten verglich, beschwor er
das Bild des ›Mischlings‹ oder ›Mestizen‹ herauf:
Man muss sie mit den Mischlingen menschlicher Rassen vergleichen, die im großen und ganzen
bereits den Weißen gleichen, ihre farbige Abkunft aber durch den einen oder anderen auffälligen
Zug verraten und darum von der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben und keines der Vorrechte der
Weißen genießen.[31]

Der Jude/die Jüdin bleibt sichtbar, auch wenn der Jude alle kulturellen
Zeichen seines oder ihres Jüdischseins aufgibt und außerhalb der ›Rasse‹
heiratet. Die Unfähigkeit, als etwas anderes durchzugehen (to pass),[32]
d.h. sich in einer anderen Rasse zu positionieren, wird hier ebenso deutlich
wie das Bild der ›gemischten Rasse‹. Aber was ist der »auffällige Zug«, der
den Juden/die Jüdin als verschieden kennzeichnet, der den Juden/die Jüdin
als sichtbar markiert, auch in der vom Juden/von der Jüdin gewünschten
Unsichtbarkeit?
Juden/Jüdinnen sehen anders aus, sie haben ein anderes Auftreten und
dieses Auftreten hat pathognomonische Bedeutung. Die ›Hautfarbe‹
kennzeichnete den Juden/die Jüdin zugleich als ›anders‹ und ›krank‹. Für
den jüdischen Wissenschaftler Sigmund Freud stellten bei den Individuen
»gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die Gefühle von
Fremdheit und Feindseligkeit« zwischen ihnen her.[33] Dies stempelte
Freud klinisch als »Narzissmus der kleinen Unterschiede«[34] ab. Aber
sind diese Unterschiede ›klein‹, sei es aus der Perspektive derer, die
abstempeln oder derer, die abgestempelt werden? Freud spielte die
Bedeutung des Ursprungs der Unterschiede zwischen Individuen »bei
sonstiger Ähnlichkeit« herunter, wobei er sich nicht nur auf den
aufklärerischen Anspruch der Allgemeingültigkeit von Menschenrechten
bezog, sondern auch auf die christlichen Untermauerungen dieser
Ansprüche. Aus diesem Narzissmus sei »die Feindseligkeit abzuleiten, die
wir in allen menschlichen Beziehungen erfolgreich gegen die Gefühle von
Zusammengehörigkeit streiten und das Gebot der allgemeinen
Menschenliebe überwältigen sehen.«[35] Mit dem christlichen Anspruch
universeller brüderlicher Liebe argumentierte Freud, um zu zeigen, dass die
Unterschiede zwischen ihm, seinem Körper, und dem arischen Körper
unbedeutend sind. Freud verstand den besonderen Platz, den der Jude/die
Jüdin im dämonischen Universum der arischen Psyche einnahm. Aber er
spielte diese Rolle insofern herunter, als er ihnen auf die Frage nach der
Funktion von Juden/Jüdinnen eine »ökonomisch entlastende Rolle […] in
der Welt des arischen Ideals«[36] reduzierend zuweist, statt diese als eine
der zentralen Gegenstände der Wissenschaft seiner Zeit zu situieren. Freud
verhüllte, dass Juden/Jüdinnen nicht nur die Fantasie-KapitalistInnen des
paranoiden Irrglauben der Antisemiten darstellten, sondern auch ihre
Selbstwahrnehmung das Bild ihrer eigenen Verschiedenheit widerspiegelt.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die ›Realität‹ der physischen
Verschiedenheit des Juden/der Jüdin als zentrales ›Rassen‹-Kennzeichen
verstärkt in Frage gestellt. Mit antithetischen Theorien, wie denen von
Friedrich Ratzel, wurde argumentiert, dass die ›Hautfarbe‹ ein Reflex der
Geographie sei und sich wandeln könnte und würde, wenn Menschen von
einer Erdhälfte zur anderen zögen. Aufbauend auf frühere Werken des
Präsidenten der Princeton University am Ende des 18. Jahrhunderts, Samuel
Stanhope Smith (1787), wurden Juden/Jüdinnen als das anpassungsfähige
Volk schlechthin gesehen: »In Britannien und Deutschland sind sie
hellhäutig, braun in Frankreich und der Türkei, schwärzlich in Portugal und
Spanien, olivefarben in Syrien und Khaldea, gelbbraun oder kupferfarben in
Arabien und Ägypten.«[37] William Lawrence vermerkte 1823, dass »ihre
Farbe überall verändert ist durch die Umstände, in denen sie sich
befinden.«[38] Die Zweifelhaftigkeit der ›Hautfarbe‹ als Kennzeichen der
jüdischen Verschiedenheit traf mit anderen Eigenschaften zusammen und
machte den Juden/die Jüdin sichtbar.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren westeuropäische
Juden/Jüdinnen nicht mehr zu unterscheiden von anderen
WesteuropäerInnen in Bezug auf Sprache, Kleidung, Beschäftigung,
Wohnlage und Haarschnitt. Wenn also Rudolf Virchows umfassende Studie
mit über 10000 deutschen Schulkindern, veröffentlicht im Jahr 1886, als
korrekt angesehen wird, so waren Juden/Jüdinnen bezüglich von Haut-,
Haar- und Augenfarbe nicht von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung
zu unterscheiden.[39] Virchows Statistiken wollten aufzeigen, dass, wo
auch immer eine größere Prozentzahl der Gesamtpopulation hellere Haut,
blauere Augen oder blondere Haare hatte, ebenso ein höherer Prozentsatz
an Juden/Jüdinnen mit hellerer Haut, blaueren Augen oder blonderen
Haaren lebte. Obwohl Virchow versuchte, eine vernünftige Erklärung zu
liefern für den Sinn jüdischen Anpassungsvermögens, so ging er doch
davon aus, dass Juden/Jüdinnen einer besonderen und eigenen ›Rassen‹-
Kategorie angehörten. George Mosse kommentierte, die
[…] Absonderung der jüdischen Schulkinder sagt etwas über den Verlauf der jüdischen
Emanzipation in Deutschland aus. So wissenschaftlich begründet die Untersuchung auch war, sie
muss den jüdischen Kindern ihren Minderheitsstatus und ihre andere Herkunft bewusst gemacht
haben.[40]

Dennoch, obwohl als ›Anders‹ hergestellt und markiert, entsprachen


Juden/Jüdinnen der auch anderweitig für Europa geltenden Typenskalen.
Ein gleicher Ausweg in der Wahrnehmung des jüdischen Körpers lässt
sich im 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten wieder finden. Die
Nachkommen der zweiten und dritten Generation osteuropäischer jüdischer
ImmigrantInnen ›sahen‹ nicht nur anders als ihre Großeltern aus, sie ›sahen‹
sogar amerikanisch aus. Der Schriftsteller und Regisseur Philip Dunne
vermerkte zum Prozess der physischen Anpassung des Juden im südlichen
Kalifornien des 20. Jahrhunderts:
Man kann sogar den physischen Wandel der Familie in der zweiten Generation sehen – nicht im
Geringsten der ersten Generation ähnelnd. Natürlich gilt dies landesweit, aber insbesondere ist
dies bemerkbar bei Menschen aus sehr armen Familien. […] Ein guter Freund und Kollege von
mir kam aus dem Lower East Side Slum. Er war hoffnungslos arm. Und er wuchs zu einem
gebrechlichen, kleinen Mann heran, der augenscheinlich als Kind gelitten hatte. In der Schule, so
berichtete er mir, hätte der Goyim ihn ausgelacht. Seine zwei Söhne, aufgewachsen in Kalifornien,
sind hoch gewachsen, braun gebrannt und blond. Beide waren herausragend in der Schule und im
Sport. Einer wurde Offizier beim Militär, der andere Arzt. Sie sind kalifornische Kinder. Nicht nur
US-amerikanisch, sondern kalifornisch.[41]

Aber je mehr Juden/Jüdinnen in Deutschland und Österreich am Ende des


19. Jahrhunderts wie ihre nicht-jüdischen ZeitgenossInnen aussahen, umso
mehr fühlten sie sich selbst ›Anders‹ und wurden auch als ›Anders‹
angesehen. Wie der anglo-jüdische Sozialwissenschaftler Joseph Jacobs
bemerkte, »es sind einige Eigenschaften, die ihre Gesichtszüge als deutlich
›jüdisch‹ charakterisieren. Dies bestätigt sich in der interessanten Tatsache,
dass Juden, die sich viel mit der Außenwelt mischen, ihre jüdischen
Eigenschaften zu verlieren scheinen. Dies war der Fall bei Karl Marx
[…].«[42] Und, wie wir wissen, waren es nachgerade die am meisten
assimilierten Juden/Jüdinnen, jene, die als nicht-jüdisch durchgingen
(passed), die sich davor fürchteten, dass ihre Sichtbarkeit als
Juden/Jüdinnen in den Vordergrund treten könnte. Sie waren es, die am
meisten fürchteten, dass sie als Träger dieser Krankheit angesehen werden
könnten. Jüdischsein, so Heinrich Heine, das die Juden/Jüdinnen aus
Ägypten mitbrachten.
In den 1920ern zeichnete Jakob Wassermann die Ambivalenz deutscher
Juden/Jüdinnen gegenüber ihrem eigenen Körper, ihrem eigenen
›Anderssein‹ auf. Wassermann artikulierte diesen Unterschied in Begriffen
der ›Rassen‹-Biologie. Er schrieb:
Ich kenne, kannte viele, die vor Sehnsucht nach dem blonden und blauäugigen Menschen
vergingen. Sie betteten sich ihm zu Füßen, sie schwangen Räucherfässer vor ihm, sie glaubten ihm
aufs Wort, jedes Zucken seiner Lider war heroisch, und wenn er von seiner Erde sprach, wenn er
sich als Arier auf die Brust schlug, stimmten sie ein hysterisches Triumphgeschrei an.[43]

Die Antwort sei, so argumentiert Wassermann, dass Juden/Jüdinnen sich


vor ihren eigenen Körpern ekelten, die, auch wenn in jeglicher Hinsicht
völlig identisch mit dem arischen Körper, ›anders‹ blieben:
Eine ergötzliche Figur war mir ein junger Wiener Jude, elegant, von gedämpften Ehrgeiz, ein
wenig melancholisch, ein wenig Künstler, ein wenig Schriftsteller; den hatte die Vorsehung selbst
blond und blauäugig geschaffen, aber siehe da, er glaubte nicht an seine Blondheit und
Blauäugigkeit; er hielt sich im Innersten für gefälscht […][44]

Die Erfahrung des Juden/der Jüdin mit seinem oder ihrem eigenen Körper
war so tief mit der antisemitischen Rhetorik verbunden, dass selbst, wenn
dieser Körper den Perfektionsansprüchen der Gesellschaft, in der der
Jude/die Jüdin lebte, entsprach, der Jude/die Jüdin seinen/ihren Körper als
fehlerhaft, als erkrankt erfuhr.[45] Wenn man doch nur die Aspekte des
Körpers verändern könnte, die einen selbst als ›jüdisch‹ kennzeichnen!
Aber nichts, keine Akkulturation, keine Taufe, konnte die Spur der
›Rasse‹ wegwischen. Egal wie sehr sie sich auch verändern mochten, sie
blieben immer noch ›kranke Juden/Jüdinnen‹. Das war ihrer Physiognomie
eingeschrieben. Moses Hess, der deutsch-jüdische Revolutionär und
politische Theoretiker, vermerkte in seinem Rom und Jerusalem (1862):
Selbst die Taufe erlöst ihn nicht von dem Alpdruck des deutschen Judenhasses. Die Deutschen
hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Race, weniger ihren eigenthümlichen Glauben, als
ihre eigenthümlichen Nasen. […] Die jüdischen Nasen werden nicht reformirt, und das schwarze,
krause jüdisches Haar wird durch keine Taufe in blondes, durch keinen Kamm in schlichtes
verwandelt. Die jüdische Race ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer
Integrität reproducirt. […] Der jüdische Typus ist unvertilgbar.[46]

Das Thema der Unveränderlichkeit des Juden/der Jüdin wurde direkt mit
den Argumenten über die Beständigkeit der negativen Aspekte der
›jüdischen Rasse‹ verbunden.
In einem Punkt scheint Hess sich getäuscht zu haben – die äußerliche
Erscheinung des Juden/der Jüdin wandelte sich offenbar. Seine/ihre Haut
schien weißer zu werden, zumindest seiner/ihrer eigenen Meinung nach,
aber sie konnte nie weiß genug werden. Juden/Jüdinnen, jedenfalls in
Westeuropa, litten nicht länger unter den ekelerregenden Hautkrankheiten
der Armut, die einst ihre Haut gekennzeichnet hatten. Aber in einer anderen
Hinsicht hatte Hess Recht: Die Nase des Juden/der Jüdin konnte nicht
›reformiert‹ werden. Zusammenhängend mit der Bedeutung der Haut war
die Bedeutung der Physiognomie des Juden/der Jüdin, insbesondere der
Nase des Juden/der Jüdin. Und sie wurde auch mit der Veranlagung des
Juden/der Jüdin in Verbindung gebracht. George Jabet, schreibend als Eden
Warwick, charakterisierte in seinen Notes on Noses (1848) die »jüdische
oder Hakennase« als »sehr konvex und ihre konvexe Form wie einen Bogen
über die gesamte Länge von den Augen bis zur Spitze hinweg. Sie ist dünn
und spitz.« Die Form trägt hier eine besondere Bedeutung: »Sie weist auf
erheblichen Scharfsinn im wortwörtlichen Sinne hin; ein tiefer Einblick in
den Charakter und eine Möglichkeit, diesen Einblick in gewinnbringende
Rechnungen zu lenken.«[47] Ärzte, die sich auf diese Analogien bezogen,
spekulierten, dass die Verschiedenheit der jüdischen Sprache, dieser
deutliche Spiegel ihrer Sprache, das Ergebnis der Nasenform des Juden/der
Jüdin sei. So bezieht sich Bernhard Blechmanns Erklärung für das
Mauscheln von Juden/Jüdinnen, ihrer Unfähigkeit, ohne eine jüdische
Intonation zu sprechen, darauf, dass »die Muskeln, welche zum Sprechen
und Lachen dienen, nach einer Art, welche gänzlich von der der Christen
unterschieden ist, bewegt werden, und aus dieser auffallenden Bewegung
kann man […] die grossen Veränderungen in ihrer Nasen und Kinn
ableiten.«[48] Die Nase wurde einer der zentralen ›loci‹ der Differenz in der
Wahrnehmung von Juden/Jüdinnen.
Die Beziehung zwischen Charakter und Physiognomie ließ jüdische
SozialwissenschaftlerInnen, wie etwa Joseph Jacobs, der Frage der
›Nostrilität‹ von Juden/Jüdinnen gegenübertreten. Er (und andere jüdische
WissenschaftlerInnen zur Jahrhundertwende) sah, dass »die Nase sehr viel
dazu beitrug, die jüdische Ausdrucksweise zu erzeugen«.[49] Aber wie
kann jemand die ›Nostrilität‹ der jüdischen Nase verändern, ein Zeichen,
dass, wie auch die ›Hautfarbe‹ des Juden/der Jüdin, nicht zu verschwinden
scheint, wenn der Jude/die Jüdin akkulturiert ist. Tatsächlich fasste eine
detaillierte anthropologische Studie über die »von Juden und Nicht-Juden
gezeugten Mischlinge«, veröffentlicht 1928, die angedeutete Sichtweise
zusammen, dass es eine ›Judennase‹ gäbe und dass diese besondere Form
der Nase dominant bei ›gemischten Ehen‹ auftrete und als ein festes,
vererbliches Zeichen des Jüdischseins erkannt werde.[50] In populären und
medizinischen Imaginationen wurde die Nase zum Zeichen des
pathologischen jüdischen Charakters westlicher Juden/Jüdinnen, wobei sie
das pathognomische Zeichen der Haut zwar ersetzte, mit dieser aber eng
verbunden blieb. Die Form der Nase und die Farbe der Haut sind, wie
gezeigt, miteinander verbundene Zeichen.
Es schien, als könnte die Haut ›geheilt‹ werden, dass man sie weniger
›Schwarz‹ erscheinen lassen könnte, indem die Hautkrankheiten, der Spuk
der Ghetto-Armut, beseitigt wurden – oder aber man sah sich selbst einfach
als weiß an. Dadurch konnte die ›Krankheit‹ des Jüdischseins nicht länger
an der Haut abgelesen werden. Aber wie kann das Symptom der
›Nostrilität‹ des Juden/der Jüdin beseitigt werden, das Zeichen, das jeder
am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Sichtbarkeit des Juden/der Jüdin
assoziierte? Eine Antwort gab Jacques Joseph, ein stark akkulturalisierter
junger deutsch-jüdischer Chirurg, der im Berlin der Jahrhundertwende
praktizierte. Als Jakob Joseph geboren, hatte der Arzt seinen jüdischen
Namen während des Medizinstudiums in Berlin und Leipzig geändert.
Joseph war ein typisch angepasster Jude seiner Zeit. Er war Mitglied einer
der konservativen duellierenden Burschenschaften und trug die Narben
seines Säbelduells mit Stolz. Wie viele angepasste Juden/Jüdinnen, wie
etwa Theodor Herzl, »fand [Joseph] Geschmack an dem Test und
Abenteuer des Duells, der so genannten Mensur, die als männlich und
erbaulich angesehen wurde.«[51] (…) Die Narbe, die Joseph sein Leben
lang trug, markierte ihn als satisfaktionsfähig, als jemanden, der als
gleichberechtigt angesehen und zu einem Duell herausgefordert wurde.
Eingeschrieben in sein Gesicht war seine Integration in die deutsche Kultur.
Und je marginalisierter man war, umso mehr sehnte man sich nach einer
solchen Narbe. (…) Mitglied einer jüdischen Burschenschaft zu sein (von
denen sich die meisten nicht duellierten) konnte den kränkelnden jüdischen
Körper als das rekonstituieren, was Max Nordau den ›neuen Muskeljuden‹
genannt hatte. 1902 proklamierte die jüdische Burschenschaftsorganisation,
dass »sie nach der körperlichen Erziehung seiner Mitglieder strebe, um der
physischen Regenerierung des jüdischen Volkes zu bewirken.«[52] Eine
Duelliernarbe markiert das soziale gesunde Individuum. Ende des 19.
Jahrhunderts wurde der soziale Burschenschaftlerstatus für Juden/Jüdinnen,
wie auch der des Militäroffiziers, angefochten. 1896 wurde folgender
Vorschlag von den duellierenden Burschenschaften akzeptiert:
In vollster Würdigung der Tatsache, dass zwischen Ariern und Juden ein so tiefer moralischer und
psychischer Unterschied besteht und dass durch jüdisches Unwesen unsere Eigenheit so viel
gelitten, in Anbetracht der vielen Beweise, die auch der jüdische Student von seiner Ehrlosigkeit
und Charakterlosigkeit gegeben und da er der Ehre nach unseren deutschen Begriffen völlig bar
ist, fasst die heutige Versammlung […] den Beschluss: ›Dem Juden ist auf keine Waffe mehr
Genugtuung zu geben, da er deren unwürdig ist.‹[53]

Juden/Jüdinnen sind ›Anders‹. Aber mit ihren Gesichtsnarben sehen sie aus
wie ›wir‹. Die Sichtbarkeit der Narben steht als Bürgschaft für die Reinheit
der Gruppe. Aber da Juden/Jüdinnen nicht rein sein können, müssen sie
ausgeschlossen werden. Wenn ein Jude eine Gesichtsnarbe trägt, dann
versteckt er sein kränkelndes Wesen vor ›uns‹. Und das ist ›unheilvoll‹.
Der narbige Jacques Joseph war ein geübter orthopädischer Chirurg, der
Assistent von Julius Wolff war – einem der Vorreiter auf dem Gebiet der
rekonstruktiven Orthopädie. (…) Die Orthopädie stellte, mehr als jedes
andere medizinische Fachgebiet der damaligen Zeit, die Herausforderung
dar, sichtbare Wachstumsfehler zu verändern, um die ›normale‹ Funktion
wiederherzustellen. Wolffs Ansatz legte dabei den Akzent auch auf die
Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen körperlichen Aspekten. Zu
seinen Behandlungsmethoden gehörten verbessernde operative Eingriffe
und der Gebrauch von Vorrichtungen. Josephs Interessen lagen nicht im
Bereich des Fußes, einem weiteren Zeichen der vermeintlichen jüdischen
Minderwertigkeit, sondern andernorts in der Anatomie. 1896 hatte Joseph
eine korrektive Behandlung an einem Kind mit abstehenden Ohren
vorgenommen, die ihm, obwohl erfolgreich, die Kündigung in Wolffs
Klinik einbrachte. Dies sei kosmetische und nicht rekonstruktive Chirurgie
gewesen.[54] Man unternehme einfach keine chirurgischen Eingriffe der
Eitelkeit zuliebe, wurde ihm erklärt. Hier habe kein Fall von funktionaler
Störung vorgelegen, wie beispielsweise ein Klumpfuß. Das Kind habe nicht
unter physischer Unpässlichkeit gelitten, die mit den Mitteln der Chirurgie
hätte gelindert werden können.
Joseph eröffnete eine private chirurgische Praxis in Berlin. Im Januar
1898 kam ein 28jähriger Mann zu ihm, der von der erfolgreichen Operation
der Kinderohren gehört hatte. Er beklagte, dass
[…] seine Nase ihm von jeher ausserordentlich viel Verdruss bereitet habe. Wo er gehe und wo er
stehe, starre ihn alles an, und oft genug sei er die Zielscheibe des ausgesprochenen, wie des
unausgesprochenen, durch Zeichen angedeuteten, Spottes gewesen. Er sei in Folge dessen was
schwermüthig geworden, habe sich aus dem gesellschaftlichen Leben fast ganz zurückgezogen
und hege nunmehr den dringenden Wunsch, von seiner Verunstaltung befreit zu werden.[55]

Joseph übernahm die Behandlung des jungen Mannes und begab sich an die
erste moderne kosmetische Rhinoplastik. Am 11. Mai 1898 berichtete er
über diese Operation vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft. In
diesem Bericht lieferte er eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung für die
Vornahme einer medizinischen Behandlung an einer ansonsten vollständig
gesunden Person:
Die schwermuthsvolle Stimmung des Patienten ist völlig geschwunden. Er ist froh, nunmehr
unbeachtet umhergehen zu können. Dass sich seine Lebensfreude ganz ausserordentlich erhöht
hat, ist unter Anderem, wie mir seine Gattin voller Freude mittheilte, daran zu erkennen, dass der
Patient, der früher allem gesellschaftlichen Verkehr scheu aus dem Wege ging, nunmehr den
Wunsch hat, Gesellschaften zu besuchen und zu geben. Mit einem Wort, er ist glücklich über den
Erfolg der Operation.[56]

Der Patient fühlte sich nicht länger durch die Form seiner Nase markiert. Er
wurde von seiner ›Krankheit‹ geheilt, die in seiner Sichtbarkeit bestand.
Joseph hatte eine chirurgische Behandlung vorgenommen, welche die
psychologische Störung des Patienten geheilt hatte!
Josephs Behandlung war nicht die erste verkleinernde Rhinoplastik.
Kosmetische Nasenchirurgie wurde in Deutschland und Frankreich bereits
im vorherigen Jahrhundert durchgeführt, vor der Einführung von modernen
chirurgischen Techniken wie Betäubungs- und entzündungshemmenden
Mitteln durch Chirurgen wie Johann Friedrich Dieffenbach. In den 1880ern
führte John Orlando Roe in Rochester, New York, eine Operation durch, um
eine ›Stupsnase‹ zu ›heilen‹.[57] Ausgehend vom Profil unterteilte Roe die
Form der Nase in fünf Kategorien: romanische, griechische, jüdische,
Boxer- oder Stupsnase und Himmelfahrtsnase. Roe bezeichnete die
›Stupsnase‹ als Beweis der ›Degenerierung der menschlichen Rasse‹. In
dieser Zeit wurde selbstredend das irische Profil in Karikaturen dargestellt,
charakterisiert durch die Stupsnase.[58] Roes Behandlung verwandelte die
irische Nase in »ein Ding der Schönheit«.[59] (…) Joseph war jedoch der
Erste, der die bis heute praktizierte Behandlung durchführte. Die Zeit war
reif für die Entwicklung einer schnellen und relativ einfachen
Behandlungsmethode, um die äußere Form der Nase zu verändern. Die
früheren Behandlungsmethoden waren nicht nur komplizierter (und ebenso
gefährlicher), zudem war zu diesem Zeitpunkt das Bedürfnis, die Krankheit
der Sichtbarkeit des Anderen zu ›heilen‹, nicht so ausgeprägt. Josephs
Verfahren der Nasenverkleinerung zeichnete sich insbesondere dadurch aus,
dass keine ›sichtbare Narbe‹ blieb.[60] Mit Josephs Behandlung begann zur
Jahrhundertwende die Manie der Nasenchirurgie in Deutschland und
Österreich. In der Geschichte der Medizin wurde Joseph der ›Vater der
ästhetischen Rhinoplastik‹. In der deutsch-jüdischen Community trug er den
Spitznamen ›Nase-Josef = Nosef‹.[61]
Es ist nicht bekannt, ob Josephs erster Patient Jude war, aber die
Schilderung seines psychologischen Gespürs sozialer Isolation aufgrund der
Form seiner Nase spiegelt sicherlich die mit antisemitischen Vorurteilen
verbundene Bedeutung zur Jahrhundertwende wider. Es ist jedoch bekannt,
dass Josephs anfängliche Klientel vornehmlich Juden/Jüdinnen waren, und
dass er regelmäßig ›jüdische Nasen‹ in ›nicht-jüdische Konturen‹
reduzierte. Viele seiner Patienten unterzogen sich der Operation, »um ihre
Ursprünge zu verschleiern«.[62] Um seine Behandlungen zu rechtfertigen,
berief sich Joseph auf die Erklärung der psychologischen Schäden, die
durch die Form der Nase hervorgerufen werden. Er heilte das
Minderwertigkeitsgefühl seiner Patienten, indem er die Form ihrer Nase
änderte. Seine primäre ›Heilung‹ bestand darin, sie weniger sichtbar zu
machen. Dies war eine der Erklärungen, die andere deutsch-jüdische
plastische Chirurgen dieser Zeit zitierten, wie der Kunstwissenschaftler und
Arzt Eugen Holländer.[63] Josephs orthopädische Ausbildung war ihm sehr
zunutze. Er konnte hollistisch die gesamten Unpässlichkeiten der
PatientInnen heilen, einschließlich die der Psyche, indem er die Nase der
PatientInnen operierte. Hier wurde das Gesetz von Wolff in den
psychologischen Bereich ausgedehnt. Joseph notierte in der
Schlussfolgerung seines ersten Jahresberichtes (1917) als Direktor der
ersten Abteilung für ›Gesichtsplastik‹ an der Charité, dem wichtigsten
Lehrkrankenhaus in Berlin, dass »die befreiten Patienten alle von ihren
psychischen Depressionen geheilt sind, in welche das Bewusstsein der
körperlichen Deformierung immer eingeschlossen ist«.[64] Dies waren
insbesondere Patienten, die, grausam im Krieg verstümmelt, unversehrt
gemacht wurden, sowohl physisch als auch psychisch. Wie gleichermaßen
zutreffend für seine privaten PatientInnen.
Es ist lediglich eine späte Fallbeschreibung von einer der Rhinoplastiken
von Joseph erhalten, datiert im Januar 1933, kurz nachdem die Nazis die
Macht übernommen und jüdischen ÄrztInnen das Operieren nicht-jüdischer
Patienten ohne spezielle Erlaubnis verboten hatten. Die 16jährige
Adolphine Schwarz folgte dem Beispiel ihres älteren Bruders und ließ »ihre
Nase kürzen«. Sie vermerkte, dass ihr Bruder an Joseph geschrieben und
ihn darüber informiert hatte, dass er nur über sehr beschränkte Mittel
verfüge. »Joseph war sehr großzügig«, sagte sie später, »und wenn er
spürte, dass jemand an einer ›jüdischen Nase‹ litt, dann operierte er
umsonst.«[65] Das Bild des »Leiden an einer ›jüdischen Nase‹« ist sehr
mächtig. Junge Männer und Frauen mussten unsichtbar werden, mussten
ihre Körper verändern, da ihre Sichtbarkeit umso mehr kennzeichnend
wurde. Doch die virtuelle Unsichtbarkeit von Juden/Jüdinnen in
Deutschland verschwand mit der Einführung des gelben ›Judensterns‹.
›Nosef‹ starb im Februar 1934 an einem Herzinfarkt, bevor ihm die
medizinische Praxis vollständig verboten wurde. Sein narbiges Gesicht
machte ihn letztendlich nicht unsichtbar als Juden, ebenso wenig wie seine
chirurgischen Eingriffe die Juden/Jüdinnen weniger sichtbar machten, deren
Nasen er ›kürzte‹.
Aber Jacques Joseph war nicht der einzige Berliner Arzt, der in den
1890er Jahren Nasen operierte. Zwei jüdische Wissenschaftler im Europa
der Jahrhundertwende, deren Forschungsfokus der Nase galt,
argumentierten, dass es eine direkte Verbindung zwischen der ›Nase‹ und
den ›Genitalien‹ gäbe. Wilhelm Fliess und sein Wiener Kollege Sigmund
Freud sahen in der Nase eher ein Zeichen universaler Entwicklung als ein
spezifisches Zeichen einer ›minderwertigen‹ ›Rassen‹-Identität.[66] Die
Nase sei die Entwicklungsanalogie zu den Genitalien. Zwischen dem
Gewebe der Nase und dem der Genitalien gäbe es eine enge Beziehung, da
sie sich embryologisch im selben Stadium entwickelten. Und für Fliess
sowie Freud traf dies auf alle Menschen zu, nicht nur auf Juden/Jüdinnen.
Dementsprechend war die Heilung sexueller Disfunktionen, laut Fliess,
durch die Operation der Nase möglich, was er selber auch regelmäßig
praktizierte. Fliess’ Ansicht teilten andere Ärzte seiner Zeit, so etwa John
Noland Mackensie von der Johns Hopkins Universität.[67] Aber ihr
Interesse war rein hypothetisch; Fliess richtete sich nach seinen Theorien
bei den Nasenoperationen, um erkennbare ›nervöse‹ Krankheiten zu heilen.
Bei der Durchsicht seiner Aufzeichnungen fällt auf, dass Fliess’
PatientInnen nicht den Querschnitt der Gesellschaft darstellten. Von den
156 Fällen, die er aufzeichnete (einige in der medizinischen Literatur der
damaligen Zeit) waren nur ein Dutzend Männer.[68] Alle anderen
PatientInnen waren Frauen, die wegen verschiedener, insbesondere
psychologischer Beschwerden operiert wurden. Fliess behandelte eine
große Bandbreite mentaler Krankheiten, auch Hysterie, durch die extensive
Verschreibung von Kokain, aber er trug auch Säure auf die inneren
Strukturen der Nasengänge auf oder entfernte sie chirurgisch. In diesen
Jahren gelang es Fliess, eine vermeintliche ›Rassen‹-Eigenschaft (von
Juden/Jüdinnen) in ein geschlechtsspezifisches Charakteristikum zu
verwandeln. Während ihm sowohl Männer als auch Frauen als theoretisches
Material dienten, konzentrierte sich sein klinisches Material (vermutlich ein
Spiegel seiner Praxis) auf weibliche Nasenhöhlen als klinischen Ersatz für
die jüdische Nase.
Nicht nur, dass zur Jahrhundertwende in Europa die Vorstellung einer
Verbindung zwischen den Genitalien und der Nase bestand; schon seit
langem wurde eine direkte Beziehung in populären und medizinischen
Vorstellungen zwischen der Größe der Nase und der des Penis gezogen.
Ovid schrieb: »Noscitur e naso quanta sit hast viro.« Die Verbindung
zwischen der Sexualität des Juden und der Nase des Juden war weit
verbreitet am Ende des Jahrhunderts, aber hier wurde das gewohnte Muster
umgekehrt.[69]
Die besondere Form der Nase des Juden weise auf die schadhafte Natur,
die verkürzte Form seines Penis hin. Die traditionell positive Assoziation
zwischen der Größe der Nase und der des männlichen Genitals wurde
umgekehrt, und aus dieser Umkehrung wurde ein pathologisches Zeichen.
[70] Die Verbindung zwischen der jüdischen Nase und dem beschnittenen
Penis als Zeichen der jüdischen ›Andersheit‹ wurde in geschmacklosester
und abstoßendster Weise in den 1880er Jahren verbreitet. In den Straßen
von Berlin und Wien waren in Groschenheften, auf den neu installierten
›Litfasssäulen‹ oder auf Werbeplakaten Karikaturen von Juden/Jüdinnen zu
sehen.[71] Ein Bild des unentbehrlichen Juden, dem kleinen ›Mr. Kohn‹,
zeigte ihn als Ertrunkenen, nur die Nase und die großen
überdimensionierten Füße aus dem Wasser herausragend.[72] Diese
außerordentlichen Karikaturen zielten auf einen zentralen
physiognomischen Aspekt des männlichen Juden ab, seine Nase, die als
verstecktes Zeichen seiner sexuellen ›Andersheit‹, seines beschnittenen
Penis, stand. Das jüdische Zeichen der sexuellen Differenz, seine ›sexuelle
Selektivität‹ als Zeichen seiner Identität war, wie Friedrich Nietzsche
treffend in seinem Jenseits von Gut und Böse beobachtete, der Fokus der
deutschen Angst vor der Oberflächlichkeit ihrer kürzlich geschaffenen
nationalen Identität.[73] Diese Angst zeigte sich in Karikaturen durch die
verlängerte Nase. Sie durchdrang die wissenschaftlichen Diskussionen der
damaligen Zeit. In der ›anatomisch-anthropologischen‹ Studie der Nase des
Wiener Anatom Oskar Hovorka (1893) wurde die Form der Nase als
Zeichen negativer ›Rassen‹-Unterschiede gesehen und ebenso als Zeichen
des »Idioten und Geisteskranken«.[74] Betrachte die Nase des ›Anderen‹
und du wirst das grundlegende Zeichen von Atavismus sehen. Somit
verband Wilhelm Fliess bei seinen Versuchen, die Pathologie der Genitalien
durch Operation der Nase zu verändern – in Zeiten, in denen die nationale
Identität extrem verunsichert und Sündenböcke leicht zu finden waren – die
aufklärerische universalistische Theorie mit der deutschen ›Rassen‹-
Biologie. Fliess’ Wunsch war es, daraus eine Eigenschaft aller Menschen,
männlich und weiblich, Jude/Jüdin und Arier, nicht ausschließlich der
jüdischen Männer, zu schaffen. Es gelang ihm, das Bild einer Frau zu
erzeugen, leidend an der Pathologie der Nase, welches zum Äquivalent der
allgemeinen kulturellen Sichtweise des männlichen Juden wurde.
Fliess’ Ziel war es – wie das vieler anderer seiner Zeit – den jüdischen
Köper zu verwandeln, damit er unsichtbar werde. Einige Juden/Jüdinnen,
wie etwa der Berliner Literaturkritiker Ludwig Geiger, rebellierten gegen
den Wunsch nach jüdischer Unsichtbarkeit:
Ist Assimiliation – und das kann doch nur der Sinn des Wortes sein – eine Deutschwerdung in
Sitte, Sprache, Behaben, Gefühlen, so bedarf es dazu weder der Mischehe noch der Taufe. Für
eine Assimilation in der Art, dass etwa alle Juden gerade Nasen und blonde Haare haben, wird
kein ernster Mann plädieren.[75]

Aber Geiger reagierte in dieser Art der Argumentation natürlich genau auf
die Zwänge, die Juden/Jüdinnen dazu brachten, ihre Haare zu färben und
ihre Nasen zu ›kürzen‹. Geiger deutet an, dass diese Verwandlungen
vorrangig aus kosmetischen Gründen, der Eitelkeit wegen vorgenommen
würden. Was er bei dieser Diskussion unbedingt zu meiden versucht ist die
Tatsache, dass diese Operationen im Kern darauf abzielen, die Krankheit
des Jüdischseins zu ›heilen‹, die Angst davor, als Jude/Jüdin erkannt zu
werden. Als Jude/Jüdin erkannt zu werden bedeutete, verfolgt, attackiert
und schikaniert zu werden. Die ›Heilung‹ davon war tatsächlich die
Verwandlung des Körpers. Der jüdische Geist, den die deutsche Kultur aus
der arischen Perspektive heraus als ›Anders‹ herstellte, ist geplagt von dem
Gefühl der eigenen Andersheit. Um den jüdischen Geist zu heilen,
operierten Joseph und Fliess die Nasen des Juden/der Jüdin.
Ein anderes Beispiel, nicht aus der chirurgischen, sondern
psychoanalytischen Literatur zur Jahrhundertwende, zeigt einen weiteren
Fall einer schweren psychologischer Schädigung durch die Internalisierung
der Bedeutung der ›jüdischen Nase‹. Das Beispiel ist den Patientenakten
von Freuds erstem Biographen, einem der ersten Psychoanalytiker, dem
wienerisch-jüdischen Arzt Fritz Wittels entnommen. Bei der Versammlung
der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft am 9. Dezember 1908
berichtete Wittels detailliert über den Fall eines Patienten, der ihn
ausschließlich wegen seiner polemischen Veröffentlichung über getaufte
Juden/Jüdinnen aufsuchte, die versuchten, als Christen durchzugehen (to
pass).[76] Wittels deutet dieses Verhalten als Ausdruck einer psychischen
Störung. Der junge Mann, ca. 30 Jahre alt, leide an »antisemitische
Verfolgungen, für die er seine gar nicht auffällig semitische Nase
verantwortlich macht. Er will sich darum die Nase chirugisch formieren
lassen«.[77] Wittels versuchte ihn zu überzeugen, dass seine Beklemmung
wegen seiner Nase lediglich die Verdrängung seiner Angst vor seiner
sexuellen Identität sei, »was Patient für einen guten Witz erklärt.«[78] Die
offensichtliche Analogie von Wittels Vermutungen schien ihm absurd zu
sein. Wenn ein Patient ausdrücklich wegen seiner Schriften über die
Neurose der Konversion zu ihm kam und seine Nase zu verändern
wünschte, um sein Jüdischsein zu verstecken, dann ist die Frage seiner
eigenen ›paranoiden‹ Beziehung zu seinem eigenen beschnittenen Penis,
dem unsichtbaren aber omnipräsenten Zeichen des männlichen
Jüdischseins, selbstredend. Freud nahm dies direkt auf und erklärte, dass
der »Mann […] offenbar unglücklich [ist], daß er ein Jude ist, und will sich
taufen lassen (wozu Wittels bemerkt, daß er ein enragierter Jude ist). In dem
Umstand, daß er sich doch nicht taufen läßt, steckt der Konflikt, der die
Bedeutung anderer Konflikte in sich aufgenommen hat […].«[79]
Jude/Jüdin mit einer derartigen Fixierung auf die öffentliche Sichtbarkeit
dieser Identität zu sein, bedeutet krank zu sein. Dann nannte Wittels den
Zuhörenden den Namen des Patienten und Freud erkannte am
Familiennamen, dass der Vater des Patienten ein engagierter Zionist war.
Daraufhin las er den Wunsch, das eigene Jüdischsein aufzuheben, als
Zeichen der Ablehnung gegenüber dem Vater. Freud kommentierte nicht die
Verbindung zwischen einer starken jüdischen Identität und der Ablehnung
gegenüber der Sichtbarkeit, welche diese Identität mit sich bringt. Freuds
Bemerkung traf eine wahre Aussage: der jüdische Körper, repräsentiert
durch die Haut oder die Nase, könne niemals wirklich verändert werden.
Der Körper ist dauerhafter Bestandteil, welcher fortwährend die rassische
Identität des Juden/der Jüdin widerspiegelt. Die äußere Erscheinung des
Juden/der Jüdin zu verändern, mag einen weiten Spielraum für den
Juden/die Jüdin geschaffen haben, in dem er oder sie ›als etwa anderes
durchgehen‹ konnte (to pass), aber der Jude/die Jüdin kann niemals
wirklich in Frieden mit seiner oder ihrer Unsichtbarkeit sein.
Das Bild des buchstäblich narbigen Jacques Joseph, der das
buchstäbliche Bild des Juden/der Jüdin operiert, ist stark beunruhigend.
Joseph gestaltete das Bild des Juden/der Jüdin um, aber auch das reichte
nicht aus. Je mehr der Jude/die Jüdin wünschte, unsichtbar zu werden, umso
mehr wurde die Unsichtbarkeit des Juden/der Jüdin zum Zeichen der
Differenz. Wir können diese Operation im Wesentlichen in den Schriften
Walter Lippmanns wieder finden, einem der tonangebenden amerikanisch-
jüdischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in den
späten 1920ern vermerkte, dass
die reichen und vulgären und anspruchsvollen Juden unserer großen amerikanischen Städte
vielleicht das größte Unglück sind, das jemals die jüdischen Leute befallen hat. Sie sind eine
Fontäne des Antisemitismus. Wenn sie in ihren Super-Autos vorbeirauschen, juwelenbehängt und
in Pelz gekleidet und geschminkt und überfrisiert, wenn sie sich französische Schlösser und
italienische Palazzi bauen, schüren sie den latenten Hass gegen simplen Reichtum in den Händen
oberflächlicher Leute; und diesen Hass verbreiten sie selbst.[80]

Ein Jude/eine Jüdin bleibt ein Jude/eine Jüdin, sogar verkleidet. Das liegt in
seinem oder ihrem »geschminkten und überfrisierten« Kern. Man kann sich
– Nasenoperation oder nicht – der ›Rassen‹-Lehre nicht entziehen. Und dem
Juden/der Jüdin ist dies am meisten bewusst. Lippmann sieht vor seinem
inneren Auge das Bild seiner Antithesis, das des ›schlechten‹ Juden
gegenüber seinem ›guten‹ Juden. Und dieser Jude ist nur so sichtbar, wie er
sich selbst als unsichtbar glaubt. Lippmann in seinem Wall Street-Anzug
und mit sorgsam kontrolliertem Auftreten und Erscheinen sieht aus wie
jedermann – so glaubt er zumindest. Aber Verstecken ist vor der Tatsache
einer konstruierten Verschiedenheit nicht möglich. Es gibt keine Maske,
keine Operation, keine Zuflucht. Trotzdem, wie der plastische Chirurg
Mark Gorney kürzlich vermerkte,
Patienten, die eine Rhinoplastik wünschen […], zeigen häufig eine schuldbewusste, zweite-
Generationen-spezifische Ablehnung ihres ethnischen Hintergrundes, maskiert durch
Entschuldigungen, so in der Art, nicht gut fotografieren zu können. Oft ist es nicht vorrangig der
Wunsch, die ethnische Gruppe zu verlassen, denn als Individuen angesehen zu werden und
spezifische physische Attribute loszuwerden, die mit ihrer bestimmten ethnischen Gruppe
verbunden werden.[81]

Dieses Sichtbarsein in ›dem verratenden Körper‹ ist dem Juden/der Jüdin


am meisten unangenehm.[82] Die Sichtbarkeit bedeutet nicht, als
Individuum gesehen zu werden, sondern als ein ›Anderer‹, ein Mitglied der
›hässlichen‹ ›Rasse‹.

Aus dem Englischen von Viola Prüschenk

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ANMERKUNGEN
1 Leicht gekürzte und übersetzte Fassung des Aufsatzes: »The Jewish Nose: Are Jews White? Or,
The History of the Nose Job.« In: Sander Gilman: The Jew’s Body. London & New York:
Routledge, 1991, S. 169-193.
2 Washingtonian 26, 4.1.1991, S. 196.
3 Douglas: Natural, S. 70.
4 Dobzhansky: »On Types, Genotypes, and the Genetic Diversity in Populations«, S. 12.
5 Vgl. z.B.: Bochnik: Die mächtigen Diener.
6 Lifton: The Nazi Doctors.
7 Vgl. Ransford: »Bid the Sickness Cease.«
8 Mission: A New Voyage to Italy, Bd. 2, S. 139.
9 Pezzl: Skizze von Wien, S. 170-171
10 Über die Bedeutung von Krankheit in der medizinischen Literatur der Periode siehe die
folgende Dissertation zu diesem Topus: Scheiba: Dissertatio inaugurialis medica; Ludolf:
Dissertatio inaugurialis medica de plica.
11 Kürzungen im Text, die die Herausgeberinnen vornahmen, sind durch ein (…) gekennzeichnet.
12 Friedenwald: The Jews and Medicine, Bd. 2, S. S. 531.
13 Rohrer: Versuch über die jüdischen Bewohner der österreichischen Monarchie, S. 26. Die
Debatte über die besondere Neigung der Juden zu Hautkrankheiten, vor allem der »plica
polonica«, wird auch im 20. Jahrhundert weiterhin geführt. Vgl. Weinberg: »Zur Pathologie der
Juden«, S. 10-11.
14 Häusler: Das galizische Judentum. Über den Stellenwert der Debatten über die Pathologie der
Ostjuden nach 1919 vgl.: Voprosy biologii i patologii evreev.
15 Wolf: Von den Krankheiten der Juden, S. 12.
16 Pritchard: Researches into the Physical History of Man, S. 186.
17 Buchanan: Christian Researches, S. 169. Zum Hintergrund dieser Fragen vgl.: Stocking:
Victorian Anthropology.
18 Poliakov: Der arische Mythos, S. 244-286.
19 Gilman: On Blackness without Blacks.
20 Vgl. Herr: »The Erotics of Irishness«.
21 Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 406.
22 Birnbaum: »Über H. St. Chamberlain«, S. 205.
23 Knox: The Races of Men, S. 134.
24 Ebenda, S. 133.
25 Gurowski: America and Europe, S. 177.
26 Zur Frage der Definition und Bedeutung des Mischling siehe: Weindling: Health, Race and
German Politics, S. 531-532.
27 Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. S. 355.
28 Kopp: »Beobachtung an Halbjuden«, S. 392.
29 Jacobs: Studies in Jewish Statistics, S. xxiii.
30 Wassermann: Mein Weg, S. 54-55.
31 Sigmund Freud: »Das Unbewusste«, S. 69.
32 Anm. d. Ü.: Damit ist im Deutschen die vielschichtige englische Bedeutung des Begriffes
passing nur unzureichend wiedergegeben. Der Begriff passing situiert sich nämlich in einem
komplexen Konzept hegemonialer Einschließungs- und Ausschließungspraxen, welches vor
allem in den USA als Teil einer jahrhundertealter Marginalisierungsstrategie schließlich auch
theoretisch verankert wurde.
33 Sigmund Freud: »Das Tabu der Virginität«, S. 540.
34 Ebenda.
35 Ebenda.
36 Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 479.
37 Smith: An Essay, S. 42.
38 Lawrence: Lectures, S. 468.
39 Virchow: »Gesamtbericht«.
40 Mosse: Die Geschichte des Rassismus, S. 114.
41 Zitiert aus einem Interview bei: Gabler: An Empire of Their Own, S. 242.
42 »Types«, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 12, S. 295.
43 Wassermann: Mein Weg, S. 115.
44 Ebenda.
45 Zum kulturellen Hintergrund dieses Konzepts siehe Katz: Out of the Ghetto; Erb & Bergmann:
Die Nachtseite der Judenemanzipation.
46 Hess: Rom und Jerusalem, S. 11, 12, 13.
47 Warwick: Notes on Noses, S. 11. Zur allgemeinen Frage der Repräsentation der Physiognomie
des Juden in der Kultur zur Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Cowling: The Artist as
Anthropologist, S. 118-119, 332-333.
48 Blechmann: Ein Beitrag zur Anthropologie der Juden, S. 11.
49 Jacobs: Studies in Jewish Statistics, S. xxxii.
50 Leicher: Die Vererbung anatomischer Variationen der Nase, S. 80-85.
51 Elon: Herzl, S. 63.
52 Zit. in: Jarausch: Students, Society and Politics in Imperial Germany, S. 272.
53 Zitiert in: Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus, S. 267.
54 Die traditionellen Geschichten über wiederherstellende Chirurgie umfassen bis heute nicht die
kosmetische Chirurgie. Siehe z.B.: Gabka & Vaubel: Plastic Surgery, die Joseph kurz erwähnen,
aber nicht einmal seine Biographie in ihren biographischen Appendix aufführen. Die einzige
umfassende Geschichte der kosmetischen Chirurgie diskutiert seine Rolle, jedoch ohne den
sozialen Kontext, vgl.: González-Ulloa (Hrsg.): The Creation of Aesthetic Plastic Surgery, S. 87-
114.
55 Joseph: »Über die operative Verkleinerung einer Nase«, S. 882. Siehe auch Natvig: Jacques
Joseph, S. 23-24. Zur allgemeinen Geschichte der Rhinoplastik vgl.: Rogers: »A Chronological
History of Cosmetic Surgery«; Rogers: »A Brief History of Cosmetic Surgery«; Milstein:
»Jacques Joseph«, S. 424; Carey, J. S.: »Kant and the Cosmetic Surgeon«, S. 637-643.
56 Joseph: »Über die operative Verkleinerung einer Nase«, S. 884.
57 Roe: »The Deformity Termed ›Pug Nose‹«, S. 114.
58 Cowling: Artist as Anthropologist, S. 125-129. Das Bild der Nase, abgedruckt ebenda, aus der
physiognomischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit der Darstellung der irischen Nase ist
identisch mit dem der ›Vorher‹-Bilder, abgedruckt bei Roe: »Über die operative Verkleinerung
einer Nase«.
59 Vgl. dazu: Rogers: »John Orlando Roe«.
60 Joseph: »Nasenverkleinerungen«, S. 1095.
61 Natvig: Jacques Joseph, S. 94.
62 Ebenda, S. 71.
63 Siehe die Kommentare von Holländer: »Die kosmetische Chirurgie«, S. 673.
64 Natvig: Jacques Joseph, S. 179.
65 Ebenda, S. 95.
66 Siehe Gilman: Disease and Representation, S. 182-201.
67 Sulloway: Freud, S. 148-150.
68 Fliess: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen.
69 Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel ›Nase‹, Bd. 6,
S. 970-979; Ellis: Studies in the Psychology of Sex, S. 67-69.
70 Über dieses Umkehrprinzip und die Bedeutung der Nase als Symbol des kastrierten Penis siehe
Fenichel: »Die ›lange‹ Nase«, S. 502-504.
71 Grand-Carteret: L’affaire Dreyfus et l’image; Fuchs: Die Juden in der Karikatur; Vogt:
Historien om et Image.
72 Vgl. Bering: Der Name als Stigma, S. 211.
73 Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse«, S. 716-718.
74 Hovorka: Die äussere Nase, S. 130-140. Zur pathologischen Bedeutung der Nase in der
deutschen Gesellschaft späterer Zeit siehe: Leicher: Die Vererbung anatomischer Variationen
der Nase, S. 81.
75 Aus Ludwig Geigers Antwort auf die Fragen von: Landsberger (Hrsg.): Judentaufe, S. 45.
76 Vgl. Gilman: Jewish Self-Hatred, S. 193-194.
77 Nunberg & Federn (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, S. 66.
78 Ebenda.
79 Ebenda, S. 67.
80 Steel: Walter Lippmann, S. 192.
81 Gorney: »Patient Selection«, S. 2.
82 Sartre: Anti-Semite and Jew, S. 119.
ESKE WOLLRAD
WEIßSEIN UND BUNDESDEUTSCHE GENDER STUDIES

Im letzten Jahrzehnt ist es der Genderforschung vielerorts gelungen, sich als


eigener Studiengang oder Schwerpunktbereich an Universitäten zu
etablieren. Dabei ist ihr Grundproblem unverändert geblieben, welches in
ihrer beharrlichen Weigerung besteht, Schwarze feministische
Theoriebildung und die in diesem Kontext situierte postkoloniale
feministische Kritik als Herausforderung eigener epistemologischer
Grundannahmen anzuerkennen. Sich dieser Herausforderung zu stellen,
bedeutete meines Erachtens die Konfrontation mit tief verwurzelten
rassifizierten Wissens- und Wahrheitsregimes und daher die Infragestellung
von Weißsein als Norm und Motor von Rassifizierungsprozessen. Damit
wäre die Einsicht verknüpft, dass Weißsein eine Vielzahl von Geschlechtern
hervorgebracht hat, die mit der singulären und vermeintlich ›farblosen‹
Kategorie ›Gender‹ nicht erfasst werden kann.
Dieser Beitrag behandelt aus weißer feministischer Perspektive
inhaltliche wie institutionelle Aspekte von Weißsein und bundesdeutschen
Gender Studies. Inhaltlich geht es um die Frage, welche Auswirkungen die
Setzung von Gender als Metakategorie hat und wie diese paradigmatische
Engführung Weißsein als Norm, »an der alles andere gemessen wird, und
als Rest, das, was übrig bleibt, nachdem alles andere benannt wurde«,[1]
stützt. Auf der institutionellen Ebene geht es um Macht, vor allem um die
Macht zu definieren, was Gender Studies beinhalten, was geforscht, gelehrt
und folglich finanziert wird. Hier steht die Debatte um den Kanon im
Mittelpunkt, jenen Wissenskorpus, der das unverzichtbare Grundwissen
eines Fachs umfasst. Der Beitrag schließt mit einer Skizzierung der
Grundlagen postkolonialer feministischer Kritik, welche für einen
Feminismus unerlässlich ist, der sich der Komplexität gesellschaftlicher
Gewaltverhältnisse stellt.

GENDER ALS META-KATEGORIE


»Welche Frau hier ist in ihre eigene Unterdrückung, ihren
Status als Unterdrückte, so verliebt, dass sie den Abdruck ihres
Absatzes im Gesicht einer anderen Frau nicht zu sehen
vermag?«[2]
Audre Lorde

Grundlegend für feministische Theoriebildung ist die Kritik an


erkenntnistheoretischen Positionen, die von der sozio-politischen
Situiertheit des jeweiligen Wissenssubjekts abstrahieren und
Wissensformationen als historische gewordene und vermittelte ignorieren.
Problematisch ist jedoch, dass weiße feministische Theoretikerinnen, die im
Bereich institutionell etablierter Gender Studies arbeiten, zumeist diese
Kritik auf androzentrische Positionen beziehen, sie jedoch nicht reflexiv an
die eigenen Ansätze rückbinden und so der Weg zur Erkenntnis, dass sie
selbst in der Kontinuität spezifischer rassistischer Wissensformationen
stehen, die mit sorgfältig gehegten Ent-Innerungen und der fortwährenden
Nutzung von Privilegien einher geht, verstellt bleibt. Während im
angloamerikanischen Kontext – vor allem durch die massiven
Interventionen von Schwarzen Intellektuellen – spätestens seit den 1990er
Jahren weiße feministische Theoretikerinnen ihre epistemologischen
Grundannahmen revidierten,[3] trifft das auf die Mehrzahl bundesdeutscher
weißer Genderforscherinnen nicht zu.
In Deutschland waren die 1990er Jahre durch die Sex-Gender-Debatte
dominiert, ausgelöst durch die Theorie der weißen US-amerikanischen
Feministin Judith Butler, die nicht zwischen weiblichem Geschlechtskörper
(sex) und kultureller Geschlechterrolle (gender) unterscheidet, sondern
beide als Effekt diskursiver Tätigkeit definiert und somit die Existenz
vorsprachlicher, natürlicher Geschlechtskörper negiert.[4] Butlers
Diskurstheorie stellte zentrale Kategorien feministischen Denkens infrage
und provozierte heftige Diskussionen, über die sich auch Unterschiede
zwischen der älteren und der jüngeren Generation weißer deutscher
Wissenschaftlerinnen artikulierten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist
die Tatsache, dass der so genannte »Butler-Boom«[5] genau zu dem
Zeitpunkt entstand, als sich Schwarze feministische Theoretikerinnen
zunehmend mehr Gehör in öffentlichen Räumen Deutschlands erkämpften.
[6] Ihre Kritik des gesellschaftlichen Rassismus (einschließlich rassistischer
Implikationen der Ansätze weißer deutscher Feministinnen) stand in
scharfem Gegensatz zum Fokus etablierter Genderforschung, der sich auf
Butlers abstrakte begriffsanalytische und philosophische Überlegungen
richtete, welche sich im gänzlich »geschichts- und empiriefreien Raum«[7]
bewegten. Hinzu kam, dass Butlers Ansatz weißen deutschen Forscherinnen
Vertrautes reproduzierte, da sie die für die Theoretisierung der Kategorien
›Körper‹ und ›Gender‹ konstitutiven Rassifizierungsdynamiken fast
vollständig ausblendete.
Heute würde kaum eine Vertreterin der etablierten Genderforschung
behaupten, Kategorien wie ›Rasse‹, ›Klasse‹ als auch Alter und Lebensform
seien für die Analyse der Geschlechterverhältnisse irrelevant, allerdings
lässt sich bei den meisten ein additives Verständnis des Verhältnisses der
Kategorien zueinander feststellen. Exemplarisch sei hier Inge Stephan
angeführt, die zusammen mit Christina von Braun eine der grundlegenden
Einführungen in die Gender Studies verfasst hat: »Race und class traten als
neue Schlüsselkategorien neben die ›Gender‹-Kategorie und bildeten fortan
eine kritische Trias im feministischen Diskurs.«[8] Eine weiße
Mittelschichtsperspektive, die ›Rasse‹ und Klasse als ›neue
Schlüsselkategorien‹ wahrnimmt, blendet aus, dass die Gender-Kategorie
über ›Rasse‹ und Klasse konstituiert ist (und umgekehrt), dass also Gender
in vermeintlicher ›Reinform‹, wie es traditionell im hegemonialen
Feminismus untersucht wurde, Normativitäten wie Weißsein und Wohlstand
stets beinhaltet hat.
Das additive Verständnis der Analysekategorien basiert auf der
Priorisierung der Gender-Kategorie, d.h. Gender bildet das Dachparadigma,
unter dem die Varianzen (›Rasse‹, Klasse, Lebensform, Ethnizität usw.)
angeordnet sind.[9] Der Genderforscherin Andrea Maihofer zufolge »finden
individuelle Entwicklungsprozesse nach wie vor – wie auch immer in sich
heterogen und vielfach ›klassenspezifisch‹, ›ethnisch‹ oder ›sexuell‹
differenziert und modifiziert – im Rahmen bürgerlich patriarchaler
Machtverhältnisse […] statt.«[10] Wenn also Kapitalismus, Rassismus und
Heterosexismus Prozesse zwar differenzieren und modifizieren, der
Analyserahmen jedoch durch patriarchale Machtverhältnisse definiert ist,
dann erscheint Geschlecht als maßgebliche Kategorie, welche Frauen als
Unterdrückte und Männer als Unterdrücker positioniert. Daraus folgt, dass
sich weiße Frauen der Mittelschicht vorrangig als Opfer des Patriarchats
und nicht als Gewalt Ausübende im Hinblick auf Rassismus und
Klassenherrschaft definieren können. Die Setzung von Gender als
Metakategorie hat mithin die Funktion, die Komplexität von miteinander
verwobenen Gewaltverhältnissen zu trivialisieren und das Ausmaß der
Gewalt, die bestimmte Frauen anderen Frauen (und Männern) antun, zu
verschleiern.
Die Verschleierung von Gewalt impliziert auch die diskursive
Verwandlung von Machthierarchien unter Frauen in ›Differenzen‹ unter
Frauen, die zuweilen vermittels des Begriffs der ›Vielfalt‹ ins Positive
gewendet werden: »Eine Vielfalt von Frauenleben, Atypisches und
Typisches zugleich als frauenmäßig zu denken, ist Programm aktueller
Frauenforschung.«[11] Über die Imagination des ›Frauenlebens in seiner
Vielfalt‹, zu der auch Schwarze und weiße Frauen zählen, wird Weißsein als
Norm neutralisiert, indem es nunmehr lediglich einen Unterschied
bezeichnet, aber keine Machtposition.
Es ist durchaus möglich, dass hegemoniale Gender Studies künftig
Weißsein neutralisieren, indem sie es unter dem Dach der Vielfalt
absorbieren. Vorstellbar wäre ein Szenario, in dem weiße
Genderforscherinnen die Problematisierung von Weißsein begrüßen – unter
der Voraussetzung, dass Weißsein ausschließlich als Konstrukt begriffen
wird. Eine Verknüpfung von Butlers Diskurstheorie mit
dekonstruktivistischen Ansätzen innerhalb der Critical Whiteness Studies
wäre problemlos herstellbar: Weißsein wäre dann lediglich eine diskursive
Konfiguration sowie eine Identität, die immer wieder aufs Neue
performativ hergestellt werden muss. Fest auf theoretischer Ebene verankert
wäre somit sichergestellt, dass Weißsein als terrorisierende Gewalt[12]
weder in seinen historischen noch gegenwärtigen Dimensionen
problematisiert wird. Dieses Szenario entspräche überdies einer Tradition
im weißen bundesdeutschen Feminismus: Schon vor vielen Jahren
kritisierte die afro-deutsche Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft, dass
die wenigen weißen Feministinnen, die sich mit Rassismus befassen, diesen
ausschließlich bzw. primär als ein intellektuelles und theoretisches Konzept,
als eine Idee, betrachten, aber kein Interesse daran haben, sich mit den
Erfahrungen Schwarzer Frauen auseinander zu setzen.[13]
Ob die Erfahrungen Schwarzer Frauen und ihre Theoretisierung im
Rahmen postkolonialer feministischer Kritik Eingang in etablierte Gender
Studies finden, ist nicht nur eine Frage epistemologischer Grundlegungen,
sondern ebenso eine der Macht. Diese stellt sich insbesondere im Hinblick
auf solche, die den öffentlichen Diskurs darüber bestimmen, was Gender
Studies ausmacht und wie ihr Kanon gestaltet ist.

DER KANON DER GENDER STUDIES


Die Bologna-Erklärung von 1999 leitete den Prozess der Schaffung eines
europäischen Hochschulraums mit vergleichbaren Studiengängen,
vereinheitlichten Abschlüssen, Kreditpunktesystemen und gestuften
Studiengängen ein. Für die seit 1997 in Deutschland existierenden
Studiengänge der Frauen- und Geschlechterforschung bedeutet die
Studienstrukturreform eine wesentliche Veränderung, nämlich die
Integration von Gendermodulen bzw. -ergänzungsbereichen in neu
geschaffene BA- und MA-Studiengänge oder aber die Etablierung eigener
Studiengänge. Diese Veränderungen gingen (und gehen noch) in allen
Fächern mit massiven Verteilungskämpfen einher, begleitet von Diskussion
darüber, worin das Kernwissen eines jeden Faches bestehen soll. Da die
Neuordnung auf ein zügiges Studium zielt, stehen auch die Gender Studies
vor der Frage, welche epistemologischen Grundlagen, welche Theorien und
Methoden unbedingt vermittelt werden müssen. Besondere Brisanz gewinnt
diese Frage nach dem Kanon durch die Tatsache, dass sich feministische
Wissenschaft zentral über Kanonkritik, d.h. über die Infragestellung
patriarchal organisierter Wissenschaft, konstituiert hat.[14]
Die Skepsis gegenüber einem Gender Studies-Kanon, die in den
Diskussionen unter Genderforscherinnen immer wieder laut wird, kann
nicht darüber hinweg täuschen, dass faktisch ein – wenngleich nicht im
Detail fixierter – Kanon existiert. Als selbstverständliche Meilensteine der
Gender Studies gelten die Texte von »Simone de Beauvoir über Kate Millet
und Donna Haraway bis hin zu Judith Butler –, wie sie in den zahlreichen
Einführungen in die Gender Studies benannt werden.«[15] Der
vorwiegende oder ausschließliche Bezug auf weiße westliche Ansätze, der
die deutschsprachigen Grundlagenwerke zu Gender Studies[16] prägt,
impliziert dabei nicht nur die Tradierung von Gender als Meta-Kategorie,
sondern damit einher gehend auch die Marginalisierung Schwarzer
feministischer Theoretikerinnen und ihrer profunden Kritik an Weißsein als
Norm und Motor von Rassifizierungsprozessen. Marginalisierung bedeutet
nicht, dass die Sammelbände keine Beiträge Schwarzer feministischer
Wissenschaftlerinnen enthalten, sondern dass sie – als Ausdruck
›vielfältigen Frauenlebens‹ – neben denen weißer Autorinnen stehen,
welche hegemoniale Konzepte unverändert tradieren. Das im Frühjahr 2005
von Christina von Braun und Inge Stephan herausgegebene Handbuch der
Gender-Theorien dokumentiert auf bedrückende Weise dieses
›Nebeneinander‹: Einzig in dem Kapitel zu »Postcolonial Theory« referiert
Gabriele Dietze Ansätze und Theorien Schwarzer Feministinnen,[17] alle
anderen Beiträge zu zentralen Themenfeldern wie ›Identität‹, ›Körper‹ und
›Gewalt/Macht‹ blenden Schwarze feministische Erkenntnisproduktionen
systematisch aus. Gleichzeitig werden kolonialrassistische Begrifflichkeiten
bedenkenlos tradiert: Dorothea Dornhof schreibt über »farbige […] Frauen«
und »rassische […] Differenzen«.[18]
Gegenwärtige Verteilungskämpfe, das Bemühen, Bestehendes zu sichern
und in den neuen Studienstrukturen zu verankern, neue Curricula, die die
Kanonisierung weißer hegemonialer Perspektiven auf Gender begünstigen –
all diese Faktoren sprechen kaum dafür, dass ein grundlegender Wandel der
Gender Studies im Sinne einer Abkehr von Gender als Metakategorie in
nächster Zeit zu erwarten ist. Gleichzeitig jedoch wächst auch unter
etablierten Genderforscherinnen ein Unbehagen bezüglich paradigmatischer
Engführungen und Ausblendungen, welches unter anderem in der Frage
»Wie viel ›Race‹ ist in den Gender Studies?«[19] zum Ausdruck kommt.
Gabriele Dietze verweist mit ihrer Frage darauf, dass es keine Gender-
Konstruktionen jenseits von ›Rasse‹ gibt und kritisiert, dass »die Whiteness
unserer [sic] Position meist unsichtbar«[20] bleibt. Dietzes Kollegin
Susanne Baer geht noch einen Schritt weiter, indem sie – wenn auch nur in
einer Fußnote – die Frage andeutet, ob es angemessen sei, künftig weiterhin
von Gender Studies zu sprechen, wenn doch andere Kategorien wie ›Rasse‹
und Klasse nicht minder bedeutsam sind, und ob nicht eher von »critical
studies« ohne Priorisierung der Gender-Kategorie gesprochen werden
sollte.[21]
Unter den weißen deutschen Wissenschaftlerinnen hat die Amerikanistin
Sabine Broeck am deutlichsten herausgearbeitet, in welchem Maß weiße
Genderforscherinnen hegemonial-rassistische Epistemologien tradieren,
und sie prognostiziert, dass die Erkenntnis dessen zu einem fundamentalen
Paradigmenwechsel in den Gender Studies führen wird:
Eine radikale Anerkennung unserer ethischen und epistemologischen Interessenbindung und ihrer
Eingebundenheit in Weißheit und racialisation wird zu einem Paradigmenwechsel führen, der
mindestens so weitreichende Konsequenzen haben wird wie der, den (weiße) Gender Studies
innerhalb der westlichen akademischen Welt in den letzten Jahrzehnten herbeigeführt haben.[22]

Würden bei diesem Paradigmenwechsel aus den Gender Studies Critical


Studies? Und bedeutete ein solcher Wechsel nicht das Aufgeben der
Geschlechterperspektive? Eine entscheidende Veränderung, die dann in der
Tat mit einem Paradigmenwechsel einher ginge, wäre der Verlust einer
Genderforschung, die auf dem Ausschluss der Mehrheit der Frauen
weltweit, auf elitären Perspektiven und grenzenloser Anmaßung beruht.

POSTKOLONIALE FEMINISTISCHE KRITIK


Critical Studies haben in Schwarzer feministischer Theoriebildung eine
lange Tradition. Aus ihr erwuchsen komplexe Betrachtungsweisen, die
heute unter der Bezeichnung ›postkoloniale feministische Kritik‹ bekannt
sind. Postkolonialität bezeichnet im Wesentlichen eine kritische politische
Analysekategorie, die die politischen, kulturellen und diskursiven Aspekte
des unabgeschlossenen und in Deutschland verdrängten Kolonialdiskurses
sichtbar macht.[23] Sie ermöglicht es, in gegenwärtigen Konstruktionen der
›Einen und Eigentlichen‹ in Relation zu und abhängig von Konstruktion der
›Besonderen, Minderen, Anderen‹ Echos kolonialer Wissens- und
Wahrheitsproduktionen wahrzunehmen, die sowohl Unübersetzbarkeiten,
Brüche und Diskontinuitäten wie auch Übergänge und Kontinuitäten
beinhalten.[24] Diese kolonialen Wissens- und Wahrheitsproduktionen
haben Imaginationen von Weißsein als Norm mit ihren unendlichen
Abweichungen hervorgebracht und tradiert, deren Spuren im gegenwärtigen
Deutschland von postkolonialen TheoretikerInnen erforscht werden.
Weißsein in seiner spezifisch deutschen Historizität wahrzunehmen und
ernst zu nehmen, ist deswegen von immenser Bedeutung, weil andernfalls
die Vorstellung entstehen könnte, Weißsein sei eine importierte Kategorie
aus dem angloamerikanischen Raum.
Encarnación Gutiérrez Rodríguez, die zu den bedeutendsten
Theoretikerinnen postkolonialer feministischer Kritik zählt, unterscheidet
auf dem Feld der Post-Colonial Studies zwei Herangehensweisen: eine
sozialhistorische und eine gesellschaftskritisch-poststrukturalistisch-
feministische. Erstere legt den Schwerpunkt auf »postkoloniale Räume,
Erfahrungen und Kulturen von ehemaligen europäischen
Kolonialgebieten«.[25] Die zweite analysiert neben Rassismus, Macht,
Kultur und Imperialismus als miteinander korrelierenden Strukturen den
Androzentrismus in postkolonialer Theorie, der die Kritik an weißer
Vorherrschaft auf weiße Männer fokussiert. Postkoloniale feministische
Kritik verweist darüber hinaus auch auf die Komplizenschaft weißer Frauen
(nicht nur) im Kolonialismus.[26] Gutiérrez Rodríguez definiert sechs
Eckpfeiler postkolonialer feministischer Kritik:
»Kolonialismus/Postkolonialismus und Geschlecht, die Auseinandersetzung
mit Weißsein, die Redefinition des ›Dritten Welt‹-Subjekts, Sexualität und
sexuelle Rechte und feministische Kritik am Orientalismus sowie
Geschlecht und Post/Koloniale Raumbeziehungen.«[27]
Die Verortung der Problematisierung von Weißsein in einem
postkolonial-feministischen Referenzrahmen hat fünf zentrale
Implikationen.
Erstens ist durch diesen Referenzrahmen eindeutig festgelegt, dass die
Auseinandersetzung mit Weißsein ein wichtiger Aspekt der Forschung ist,
aber eben nur einer unter und in Verbindung mit anderen Aspekten. Das
bedeutet: Der postkolonial-feministische Referenzrahmen stellt sicher, dass
Weißsein nicht – wie in hegemonialen feministischen Diskursen ›Gender‹ –
zur Metakategorie wird, der sich andere Gewaltachsen unterzuordnen
haben, vielmehr erfolgt eine komplexe Analyse im Kontext der anderen
oben definierten Eckpfeiler.
Damit einher gehend betont der Referenzrahmen zweitens Weißsein als
relationale Kategorie, die erst in dem Maß Konturen bildet, in dem sie ihr
Gegenüber – Schwarzsein – erfindet und negativ auflädt. Schwarzsein wird
so zur Bedingung der Existenz von Weißsein – daher sprechen afrikanisch
amerikanische Intellektuelle vom parasitären Charakter von Weißsein.[28]
Gleichzeitig konstituiert sich Weißsein über weitere Kategorien wie Klasse,
Geschlecht, Nationalität, Lebensform und Religion[29] und hat mithin
keine ›Essenz‹, die transkontextuell erfasst werden könnte.
Drittens fordert der postkolonial-feministische Referenzrahmen eine
Einbettung von Weißsein in spezifische Zeit/Räume. Zu fragen ist, wann,
wo und warum Weißsein zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten
markiert oder codiert wurde bzw. wird und welche Ausschlussverfahren,
Rassifizierungstechnologien und sozio-ökonomischen Verfasstheiten damit
verbunden waren bzw. sind. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf
Formationen von Weißsein zur Zeit des deutschen Kolonialismus sowie
Diskontinuitäten, Brüchen und Echos bis in die Gegenwart hinein.
Viertens verhindert der Referenzrahmen eine ausschließlich
konstruktivistische Auseinandersetzung mit Weißsein, indem er beide
Dimensionen, die erkenntniskritische und die gesellschaftskritische als
miteinander unauflöslich verwobene hervorhebt. Die Erkenntniskritik
betrifft die Erforschung von Weißsein als einem Konstrukt, das erfunden
wurde, um Herrschaft und den Besitz von Privilegien zu legitimieren und
aufrecht zu erhalten. Dieser Zugang widmet sich der Kontingenz von
Weißsein: »Einige Menschen werden weiß geboren, andere erlangen
Weißsein, und einigen wird Weißsein aufgedrängt.«[30] Die
gesellschaftskritische Dimension befasst sich mit Weißsein als Norm und
Realität, die auf unendlich gewaltvolle Weise nicht nur Blickbeziehungen,
Kommunikationsformen und Überlebenschancen prägt, sondern auch in
allen zentralen gesellschaftlichen Institutionen und in der Kultur- und
Wissensproduktion verankert ist.
Postkolonial-feministische Perspektiven wurden von marginalisierten
Schwarzen Deutschen und Migrantinnen entwickelt. Ihre Publikationen, die
wissenschaftliche Studien, Autobiografien und Lyrik umfassen, bilden –
und dies ist der fünfte Aspekt – einen Wissenskorpus, der die Grundlage
der Weißseinsforschung darstellt und der die »Dekonstruktion des
hegemonialen Wissens und der Figur der ›Migrantin‹ sowie der ›Schwarzen
Frau‹ und die Ausformulierung von Widerstand«[31] betreibt. Bestandteil
der Dekonstruktion ist die Untergrabung des Phantasmas einer ethnisch wie
›rassisch‹ homogen deutschen Nation, welches die Un-Gleichzeitigkeit von
Deutsch-Sein und Schwarz-Sein postuliert. Die Untergrabung erfolgt,
»indem eine Schwarze Anwesenheit innerhalb nationaler und kultureller
Identitäten artikuliert wird, die traditionell ›weiß‹ konstruiert waren
beziehungsweise sind und somit eine Gleichzeitigkeit von Deutsch-Sein und
Schwarz-Sein für kategorisch unvereinbar erklär(t)en.«[32] Die
Artikulationen Schwarzer Anwesenheiten in Deutschland sind vielfältig und
haben verschiedene Ausdrucksformen gefunden, die in der Forschung
gleichermaßen reflektiert werden müssen, d.h. Lyrik/lyrics und
Autobiografien Schwarzer Menschen in Deutschland[33] sind von ebenso
großer Bedeutung wie die wachsende Zahl wissenschaftlicher Beiträge.
Die akademische Verankerung postkolonialer feministischer Kritik ist
dringend erforderlich, liegt aber ebenso in weiter Ferne wie ein
Paradigmenwechsel innerhalb etablierter Gender Studies in Deutschland,
der die Voraussetzung für die Würdigung postkolonial-feministischer
Perspektiven bildet. Ein großes Problem stellt sich dabei nicht nur
hinsichtlich gegenwärtiger Curriculumsinhalte, sondern ebenfalls – und
damit korrelierend – hinsichtlich der Zusammensetzung des Lehrkörpers.
Encarnación Gutiérrez Rodríguez konstatiert:
Eine Förderung von Studierenden und WissenschaftlerInnen mit Diaspora-, Exil- und
Migrationshintergrund scheint an deutschen Universitäten im Vergleich zu den Nachbarländern
Großbritannien und den Niederlanden kaum diskutiert worden zu sein und in weiter Ferne zu
liegen.[34]

Die Stärkung postkolonial-feministischer Forschung hängt mit der


Nachwuchsförderung unmittelbar zusammen und diese wiederum mit
Fördernden, die über die entsprechend fachliche Expertise verfügen und
Lehrstühle innehaben. M. E. sind für die Verstetigung und Konsolidierung
von Forschung und Lehre auf dem Feld postkolonialer feministischer Kritik
zwei Schritte notwendig: zum einen die Quotierung aller neu zu
besetzenden Professuren, zum zweiten die Verankerung von
(Teil)Denominationen, die ein spezifisch postkolonial-feministisches Profil
zum Inhalt haben. Fächer, an die diese Forderungen zu richten sind,
beschränken sich nicht auf die Gender Studies oder Queer Studies, sondern
beziehen sich ebenfalls auf so genannte ›klassische‹ Disziplinen wie
Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaften.
Die Zukunft bundesdeutscher Gender Studies hängt davon ab, in
welchem Maße etablierte Frauen- und Geschlechterforscherinnen sich
entschließen, dazu beizutragen, ihr eigenes Forschungsfeld grundlegend zu
verändern, indem sie Gender als übergeordnete Analysekategorie aufgeben
und sich mit Prozessen der Konstituierung verschiedener ›Genders‹ über
›Rasse‹, Klasse, Nation, Ethnizität, Religion, Lebensform und anderen
Aspekten mehr befassen. Damit wäre ein Anschluss an bereits vorliegende
und bisher in hegemonialer akademischer Forschung ausgeblendete Ansätze
möglich, deren Ausgangspunkt die Komplexität miteinander verwobener
Machtachsen bildet, die politische Projekte der Herrschaftskritik
artikulieren und auf einem umfassenden Feminismusbegriff beruhen, wie
ihn die afrikanisch amerikanische Theoretikerin Barbara Smith schon vor
Jahren formuliert hat:
Feminismus ist die politische Theorie und Praxis zur Befreiung aller Frauen: Frauen of Color,
Frauen der Unterschicht, armer Frauen, physisch herausgeforderter Frauen, Lesben, alter Frauen
ebenso wie weißer ökonomisch privilegierter heterosexueller Frauen. Alles darunter ist nicht
Feminismus, sondern bloß weibliche Selbsterhöhung.[35]

Ein solch komplexer Feminismus ist nicht anders zu denken als eine
Bewegung, die von denen getragen wird, die offen dafür sind, fixierte
Subjektpositionen in Frage zu stellen und dichotome Konstrukte
aufzubrechen. Zu dieser Offenheit gehört ebenfalls die Fähigkeit zur
Selbstkritik sowie die Bereitschaft aller, ein bisschen zu rücken, damit Platz
ist für viele.

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Kroll, Renate (Hrsg.): Metzler-Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung. Ansätze – Personen
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Lorde, Audre: »Vom Nutzen unseres Ärgers.« In: Audre Lorde & Adrienne Rich: Macht und
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Münster: Unrast, 2003, S. 38-55
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Wollrad, Eske: Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und
Religion. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 2005

ANMERKUNGEN
1 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 204. Ich habe alle Zitate aus dem Englischen –
wenn nicht anders angegeben – übersetzt.
2 Lorde: »Vom Nutzen unseres Ärgers«, S. 107.
3 Überblick bei Singer: »Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie«, S. 259-264.
4 Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter.
5 Villa: »(De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie«, S. 142.
6 Vgl. Gutiérrez Rodríguez: »Frau ist nicht gleich Frau«, S. 165.
7 Becker-Schmidt & Knapp: Feministische Theorien, S. 84.
8 Stephan: »Gender, Geschlecht«, S. 70.
9 Eine ausführlichere Analyse von Gender als Metakategorie in bundesdeutschen Gender Studies
habe ich an anderer Stelle vorgelegt (Wollrad: Weißsein im Widerspruch, S. 100-116).
10 Maihofer: »Geschlecht«, S. 427.
11 Metz-Göckel: »Spiegelungen und Verwerfungen«, S. 37.
12 Vgl. hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 210.
13 Vgl. Kraft: »Frauen afrikanischer Herkunft«, S. 42.
14 Vgl. Binswanger & Schnegg: »Kanon – no Kanon«, S. 77.
15 Ebenda, S. 78.
16 Die kontinuierlich wachsende Zahl von Handbüchern und Einführungen in die Gender Studies
seit dem Jahr 2000 lässt auf eine inhaltliche Konsolidierung des Fachs schließen [vgl. etwa: von
Braun & Stephan (Hrsg.): Gender Studien; Dies. Gender@Wissen; (Hrsg.): Kroll (Hrsg.):
Gender Studies; Haug (Hrsg.): Wörterbuch des Feminismus; Becker & Kortendieck (Hrsg.):
Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung].
17 Vgl. Dietze: »Postcolonial Theory«, S. 304-324.
18 Dornhof: »Postmoderne«, S. 275.
19 Vgl. Dietze: »Wie viel ›Race‹ ist in den Gender Studies?«, S. 83.
20 Ebenda. Die Konstituierung von Gender Studies als weiß dominiertes Fach erfolgt auch über die
kontinuierlich wiederholte Anrufung des Publikums bzw. der LeserInnenschaft als weiß.
21 Vgl. Baer: »Einführung«, S. 69.
22 Broek: »Gender Studies und Weißheit«, S. 94.
23 Vgl. Ha: Ethnizität, S. 84.
24 Vgl. Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 41.
25 Gutiérrez Rodríguez: »Postkolonialismus«, S. 240.
26 Vgl. ebenda.
27 Ebenda, S. 241.
28 Vgl. West: Keeping Faith, S. 20; Morrison: Im Dunkeln spielen, S. 87.
29 An anderer Stelle habe ich diese Komplexität im Hinblick auf biologistische sowie sozio-
symbolische Aspekte der weißen Mutterschaft näher beleuchtet: Wollrad: Weißsein im
Widerspruch, S. 92-99.
30 Cohen: »Laboring under Whiteness«, S. 244.
31 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik«, S. 29.
32 Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«, S. 199.
33 Siehe Lauré al-Samarai in diesem Band.
34 Gutiérrez Rodríguez: »Vergesellschaftung revisited?!«, S. 135.
35 Smith: »Racism in the Women’s Movement«, S. 61.
CARSTEN JUNKER
WEIßSEIN IN DER AKADEMISCHEN PRAXIS:
ÜBERLEGUNGEN ZU EINER KRITISCHEN
ANALYSEKATEGORIE IN DEN DEUTSCHSPRACHIGEN
KULTURWISSENSCHAFTEN

VORÜBERLEGUNGEN
Im Jahr 1997, nach der Sitzung eines Seminars zur britischen
Kolonialgeschichte und Kolonialliteratur am Goldsmiths College at the
University of London, bemerkte der Postkolonialismus-Theoretiker Bart
Moore-Gilbert in einem Gespräch zu mir, dass es nun an der Zeit sei, auch
in Deutschland die deutsche koloniale Vergangenheit und die Kontinuitäten
des (kolonialen) Rassismus zu einem Gegenstand der Forschung zu
machen. Ich hatte mir als weißer deutscher Student die deutsche
Kolonialgeschichte und ihre andauernde Wirkmacht in Deutschland bisher
nicht umfassend bewusst gemacht: Im westdeutschen Bildungssystem war
deutsche Kolonialgeschichte kein Thema. Rassismus wurde öffentlich unter
Begriffen wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus und primär
als Phänomen der neuen Bundesländer diskutiert.[1] Einhundertzwanzig
Jahre nach der Berliner Konferenz von 1884/5, auf der die europäischen
Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, und hundert Jahre nach dem
Hererogenozid in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, rückt die
koloniale Vergangenheit der Deutschen in den Blickwinkel kritischen
wissenschaftlichen Interesses.[2] Den theoretischen Rahmen hierzu bieten
Ansätze der Postkolonialen Theorie, die »als sehr weitläufiger, eher durch
familiäre Ähnlichkeiten als durch fixe Definitionen abgegrenzter und
hauptsächlich im angloamerikanischen Sprachraum entwickelter
Wissenskorpus begriffen werden [kann].«[3] Hito Steyerl führt aus, dass
dieser Wissenskorpus in den 1990er Jahren »so verschiedene Themen
umfasste wie ›Migration, Sklaverei, Unterdrückung, Widerstand,
Repräsentation, Differenz, ›Rasse‹, Geschlecht, Ort und Reaktionen auf
imperiale europäische Meisterdiskurse wie Geschichte, Philosophie und
Linguistik‹, und sich vor allem in den Kultur- und Literaturwissenschaften
etabliert hatte.«[4] Zunehmend finden an kulturwissenschaftlich
ausgerichteten geistes- und sozialwissenschaftlichen Instituten deutscher
Universitäten Auseinandersetzungen mit Hegemoniekritik statt.[5] Wenn
ein Schlüsselbegriff im Rahmen der englischsprachigen Wissensproduktion
whiteness ist, so bildet sich in den Debatten im deutschsprachigen
Zusammenhang nunmehr der Begriff Weißsein heraus.
Im Folgenden möchte ich zuerst den angloamerikanischen Kontext
nachzeichnen, in dem die Analysekategorie whiteness konzeptionalisiert
worden ist. Dabei beabsichtige ich, die Probleme eines Sprechens über
Critical Whiteness Studies als Forschungsfeld kritisch zu reflektieren. Im
Anschluss daran diskutiere ich im Hinblick auf die deutschen
Kulturwissenschaften, was es bedeutet, die Kategorien Weißsein und
›Rasse‹ aus dem deutschsprachigen Kontext heraus zu entwickeln. Ich frage
danach, wie sich die Kategorien Weißsein und ›Rasse‹ auf Fragestellungen
und SprecherInnenpositionen im Rahmen einer deutschsprachigen
Kritischen Weißseinsforschung auswirken.

WHITENESS IM KONTEXT DES ANGLOAMERIKANISCHEN ›RACIAL TURN‹


Wenn in englischsprachigen Arbeiten in den letzten Jahren whiteness als
Analysekategorie und Untersuchungsgegenstand verstärkt in den
Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt ist, so mit der Absicht, den
Konstruktionscharakter von whiteness sichtbar zu machen und der
normativen Funktion von whiteness entgegenzuwirken. Mit der
Bewusstmachung und Untersuchung von whiteness ist auf ein Defizit in
vorherrschenden Diskursen über race reagiert worden, die race mit dem
gleichsetzen, was von whiteness ausgeschlossen ist. Hazel Carby beschreibt
dieses erkenntnistheoretische Defizit folgendermaßen: »Processes of
racialization […] are discussed as if they were the sole concern of those
particular groups perceived to be racialized subjects.«[6] Dabei wird
übersehen, dass race die Kategorie eines Unterscheidungssystems ist, in
dem race diejenigen, die das Unterscheidungssystem in der privilegierten
Position verortet, genauso prägt wie jene, die dieses System diskriminiert
und marginalisiert; weiß ist demnach ebenso eine soziale Position und
kulturelle Identität wie Schwarz. Diese Erkenntnis hat einen Blickwechsel
auf whiteness als eine Position und Perspektive erforderlich gemacht, die
bestimmte Subjekte mit Handlungsoptionen und Handlungsdirektiven
ausstattet.
Die weiße Theoretikerin Ruth Frankenberg definiert whiteness
folgendermaßen: »First, whiteness is a location of structural advantage, of
race privilege. Second, it is a ›standpoint,‹ a place from which white people
look at […] society. Third, ›whiteness‹ refers to a set of cultural practices
that are usually unmarked and unnamed.«[7] Der weiße Theoretiker
Richard Dyer argumentiert, dass sich das Privileg der Unsichtbarkeit von
whiteness darin ausdrückt, dass whiteness die Position unmarkierter,
allgemeingültiger Menschlichkeit zugeordnet wird:[8] »Th[e] assumption
that white people are just people, which is not far off saying that whites are
people whereas other colours are something else, is endemic to white
culture.«[9] Dementsprechend hat bell hooks darauf verwiesen, dass
›liberale‹ Weiße empfindlich darauf reagieren, wenn Schwarze sie nicht als
race-neutral, sondern mit einem kritischen ›ethnographischen‹ Blick als
Weiße wahrnehmen: »Often their [white people’s] rage erupts because they
believe that all ways of looking that highlight difference subvert the liberal
belief in a universal subjectivity (we are all just people) that they think will
make racism disappear.«[10] Erst die Erkenntnis, dass whiteness eine
spezifische soziale Position und kulturelle Identität im Kontext eines
Machtverhältnisses ist, hat eine kritische Reflexion weißer Dominanz
ermöglicht.[11]
Der erkenntnistheoretische Schritt, whiteness als eine Analysekategorie
zu etablieren, ist nicht zuletzt von der Forderung begleitet gewesen, diese
Position auf ihre Entstehungszusammenhänge und Veränderbarkeiten hin zu
befragen. So haben historische Studien, etwa zur Arbeitsmigration im
Hinblick auf Formationsprozesse von race in den USA im 19. Jahrhundert,
whiteness dem Bereich des Natürlichen entzogen und anhand
verhandelbarer Zugehörigkeitsbedingungen zur Kategorie deren
Formationsprozesse untersucht.[12] Whiteness konnte auf diese Weise als
›natürliche‹ biologische Essenz und Norm zur Disposition gestellt werden.
Denn die problematische Kategorie race war bereits in ihrem
eurozentristischen Entstehungszusammenhang im Spannungsverhältnis von
Natur und Kultur gedacht worden.[13] Um rassistischen
Unterscheidungsprozessen und Hierarchiebildungen die
Legitimationsgrundlage zu entziehen, war es nötig, race als soziale
Konstruktion sichtbar zu machen. Colette Guillaumin bemerkt dazu: »Race
does not exist«. Und sie fährt gleich fort: »But it does kill people«.[14]
Diese Formulierung macht die Wirkmächtigkeit und Durchschlagkraft
deutlich, die in Bezug auf race und den damit verbundenen Prozessen der
racialization und Rassismus mitzudenken sind. Der Begriff des ›racial turn‹
beschreibt einen erkenntnistheoretischen und soziopolitischen Prozess, der
eine doppelte Bewegungen umfasst: race als eine (kolonial)rassistische und
biologistisch gedeutete Kategorie abzulehnen und stattdessen als sozial
konstruierte Kategorie anzueignen, um damit zu analysieren, wie
Herrschaftsverhältnisse legitimiert werden; Raman erinnert daran, dass
dieser Prozess mit der Zielvorgabe ausgestattet ist, »die Bedingungen der
Unterdrückung in Bedingungen der Befreiung zu verwandeln«.[15]
Insofern erfordert ein Sprechen über whiteness als kritischer
Analysekategorie, den umfassenden Kontext eines »Kampfes um die
Bedeutung von ›race‹« mitzudenken.[16]
Arbeiten zu whiteness einem Forschungsgebiet zuzuweisen, das unter
dem Begriff Critical Whiteness Studies gefasst worden ist, verdeutlicht eine
Schwierigkeit im Umgang mit whiteness.[17] Denn dies macht erforderlich,
einen räumlichen, zeitlichen und thematischen Rahmen zu skizzieren, der
diesen Bereich der Wissensproduktion von anderen abgrenzt. Dabei stellt
sich die Frage, wem die Teilhabe an diesem Bereich zugestanden wird. Das
Problematische eines solchen Unterfangens sehe ich darin, den Arbeiten
bestimmter TheoretikerInnen ein hohes Maß an Autorität zuzuschreiben,
andere dagegen aus dem Bereich der Wissensproduktion auszublenden.
Wessen Arbeiten werden ausgegrenzt, und welche Dynamik und Systematik
liegen dem zugrunde?[18] Richard Dyer, Ruth Frankenberg, bell hooks,
Toni Morrison und David R. Roediger etwa werden häufig als prägende
Stimmen der Critical Whiteness Studies in den angloamerikanischen
Kulturwissenschaften genannt. Ob es ein Zufall ist, dass es sich bei drei der
fünf hier Genannten um KritikerInnen handelt, die aus einer weißen
Perspektive schreiben? Das heißt, der Versuch, Critical Whiteness Studies
einzugrenzen, ist insofern problematisch, als es um Fragen des Ein- und
Ausschlusses von AkademikerInnen und um deren Sprecherpositionen und
damit verbundenen Eigenidentifizierungen geht.[19] Zu fragen wäre hier
nach der Funktion des Versuchs, Critical Whiteness Studies als
Forschungsgebiet klar zu umreißen: Wie kann ein hegemoniekritisches
Forschungsprojekt gedacht werden, ohne weiße Dominanz darin erneut
einzuschreiben?
Die im Rahmen der Critical Whiteness Studies entstandenen Arbeiten
sind in einem weit abgesteckten theoretischen Rahmen entstanden. Deren
Referenzpunkte liegen in sich überschneidenden Bereichen wie der
postkolonialen Theoriebildung, Rassismusforschung, African American
Studies und Gender Studies. Diese Bereiche haben Schwarze
WissenschaftlerInnen maßgeblich geprägt. Für weiße WissenschaftlerInnen
ist es also erforderlich, sich die zeitlichen und die von der Position in der
Gesellschaft abhängigen Dimensionen des kritischen Umgangs mit
whiteness zu vergegenwärtigen. Das ist Voraussetzung dafür, dass weiße
KulturwissenschafterInnen bei dem Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse
rassismuskritisch zu analysieren und zu kritisieren, die Gefahr erkennen,
weiße Dominanz zu reproduzieren.[20]
Ein Missverständnis, das durch ein Sprechen über die Critical Whiteness
Studies entsteht, sehe ich zum einen darin, dass whiteness in den USA und
Großbritannien – anders als es ein Sprechen von einem neuen
Forschungsfeld impliziert – nicht erst seit Anfang der 1990er Jahre einer
kritischen Benennung unterzogen wird. Die Ansätze einer Kritik an
whiteness als einer prägenden Kategorie in der Produktion von Wissen
müssen schon vor den frühen 1990er Jahren verortet werden. Das heißt, sie
liegen vor dem Zeitraum, ab dem whiteness im Rahmen der Critical
Whiteness Studies verstärkt in den Vordergrund gerückt zu sein scheint.
Zum anderen ist es erforderlich, whiteness als relationale Kategorie zu
betrachten und dabei grundlegende Probleme der Grenzziehung und
Hierarchiebildung im Kontext von Rassismus in den Blick zu rücken. Es
handelt sich nicht um einen Diskurs, in dem primär weißen
WissenschaftlerInnen eine Position als Wissensproduzenten zugeschrieben
werden könnte. Schwarze haben immer schon die Blickrichtung auf Weiße
und deren Positionierung in Machtverhältnissen gelenkt, die auf
Konstruktionen von race basieren, nicht zuletzt deshalb, um in einer weißen
Dominanzgesellschaft überleben zu können.[21] Dieser Aspekt wirft
grundlegende Fragen nach dem Verhältnis von sozialer Positionierung und
der Sichtbarkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf.
In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeiten der Psychologin
Philomena Essed verwiesen, die den Stellenwert von Erfahrungsberichten
und Deutungen sozialer Wirklichkeiten hinsichtlich der Perspektive
Schwarzer Frauen hervorgehoben hat, um theoretisch fundierte
Erkenntnisse über die Wirkungsweisen rassistischer Strukturen zu
gewinnen.[22] Begreift man Erfahrung als eine Kategorie der
Wissensproduktion, wird die Einbeziehung Schwarzer Perspektiven in
einen Forschungszusammenhang zu whiteness unerlässlich.[23] Bereits im
US-amerikanischen Rahmen feministischer Theoriebildung in den 1970er
Jahren verdeutlichten Schwarze Frauen mit Hinweis auf die Missachtung
ihrer Erfahrungen sozialer Wirklichkeiten die Notwendigkeit, Ein- und
Ausschlussprozesse in der Entwicklung von Theorien zu reflektieren.[24]
Auch für weiße KulturwissenschaftlerInnen sollte die Forderung gelten,
unterschiedliche Lebenserfahrungen sozialer Realitäten aufgrund von
rassistischen Differenzierungsprozessen als Grundlage wissenschaftlicher
Praxis einzubeziehen und die eigene Positionierung und Perspektive, von
der aus Wissen produziert wird, als partikular zu markieren und in die
kritische Reflexion der Wissensproduktion einzubinden.[25]

WEIßSEIN, ›RASSE‹ UND RASSISMUS IM DEUTSCHSPRACHIGEN


KULTURWISSENSCHAFTLICHEN KONTEXT

Die Situation in Deutschland ist von einer prekären erkenntnistheoretischen


Ungleichzeitigkeit geprägt: Im angloamerikanischen Kontext sind die
Arbeiten der Critical Whiteness Studies in transdisziplinär eingerichtete
Fachgebiete wie den African American Studies und Postcolonial Studies
eingebettet. Während sich im Rahmen dieser kritischen Wissenschaften der
›racial turn‹ als ein postkolonialer Aneignungsprozess der Kategorie race
vollzogen hat, hat im Rahmen der deutschsprachigen Kulturwissenschaften
(bisher) kein vergleichbarer kritischer Blickwechsel weg von ›Rasse‹ als
einer biologistischen, rassistisch konnotierten hin zu ›Rasse‹ als einer sozial
konstruierten Analysekategorie stattgefunden.[26] Was folgt daraus für den
deutschen Begriff Weißsein und eine Kritische Weißseinsforschung im
Rahmen der deutschsprachigen Kulturwissenschaften? Da es geboten ist,
kontextgebunden Fragestellungen zu Machtverhältnissen zu entwickeln, die
auf rassistisch markierten Differenzierungsprozessen gründen, stellt sich die
Frage, wie sich Weißsein als Strukturkategorie in einem deutschen Kontext
denken lässt, ohne den deutschen Begriff Weißsein etwa als kollektives
Identitätskonzept zu denken (worauf die zweite Konstituente des
Kompositums verweist), das nach innen vereinheitlichend und nach außen
ausschließend wirkt, sondern im Sinn einer Position weißer Dominanz – als
soziokulturelle und ökonomische Strukturkategorie. Wie kann Weißsein als
Analysekategorie in der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Praxis
produktiv gemacht werden?
Die Probleme und Perspektiven von Weißsein (nicht whiteness) als
Struktur- und Analysekategorie in den Blick zu nehmen, erfordert zuerst
einmal, über das Verhältnis des Konzepts ›Rasse‹ und Rassismus in einem
deutschen Kontext nachzudenken. Fatima El-Tayeb hat dargelegt, dass die
Grundannahme, das Konzept ›Rasse‹ existiere unabhängig von Rassismus,
eine Auseinandersetzung mit Rassismus sowohl in der öffentlichen
Diskussion als auch innerhalb des akademischen Diskurses in Deutschland
geprägt hat.[27] Diese Annahme verhindert eine konstruktive historische
Analyse der Verbindung des Konzepts ›Rasse‹ mit Rassismus und
›Rassifizierungsprozessen‹ (racialization). Bereits an der Schwierigkeit,
einen deutschen Begriff für Prozesse zu finden, in denen soziale Gruppen
rassistisch konstruiert und markiert werden, zeigt sich, dass ein kritischer,
historisierender Umgang mit der Geschichte des Begriffs und Konzepts
›Rasse‹ für einen deutschen Kontext noch aussteht. Offensichtlich konnte
sich im deutschen Kontext bisher kein Vokabular durchsetzen, mit dem
Machtverhältnisse kritisch untersucht werden, die auf
Differenzierungsprozesse im Sinne der Durchsetzung von äußerlich
sichtbaren, rassistisch konstruierten Unterschieden rekurrieren. Hito Steyerl
argumentiert, dass der Begriff ›Rasse‹ von vielfältigen, sich überlagernden
und von einander abgrenzenden biopolitischen Diskursen im Verlauf der
deutschen Geschichte geprägt ist.[28] Demnach bezog der Begriff ›Rasse‹
seine Bedeutungszuweisungen in einem Feld »rassifizierender
Machtausübung, [in dem] immer wieder neue rassistische, eugenische und
antisemitische Ideologien [entstanden], die der Kontrolle, Produktivierung
und Hierarchisierung von Lebensformen einen ›wissenschaftlichen‹
Anstrich verliehen.«[29] Von der Beobachtung, dass »wir im 20.
Jahrhundert auch in schneller Abfolge die verschiedensten biopolitischen
Paradigmen [finden], die schroffe Brüche ebenso wie Kontinuitäten
aufweisen«, leitet Steyerl die Forderung ab, biopolitische Diskurse und
Praktiken aus fünf verschiedenen Formen politischer Herrschaft in
Deutschland seit 1871 (Monarchie, Weimarer Republik,
Nationalsozialismus, BRD, DDR) auf ihre Residuen in gegenwärtigen
»postkolonialen, postnationalsozialistischen, postsozialistischen« Diskursen
zu befragen.[30]
Die problematische Kategorie ›Rasse‹ muss im Verhältnis zu Rassismus
gelesen werden. Dass dies kaum geschehen ist,[31] kann als
Ausweichstrategie seitens weißer Deutscher gedeutet werden, um eine
Auseinandersetzung mit Rassismus zu vermeiden und um sich nicht mit der
anhaltenden Wirkmächtigkeit rassistischer Zuschreibungen und den damit
verbundenen Machtverhältnissen zu beschäftigen. Den Begriff ›Rasse‹ zu
isolieren, zu enthistorisieren und zu dekontextualisieren, ermöglicht es, ein
Bewusstsein für die eigene privilegierte Positionierung und für die
anhaltende Wirksamkeit rassistischer Zuschreibungen und der damit
verbundenen rassistischen Hierarchien weitgehend auszublenden – und
damit fortzuschreiben. Wenn Paul Mecheril betont: »Es findet eine
Unterschlagung der Wörter, nicht aber der Praxis statt«,[32] verweist dies
darauf, dass eine hegemoniekritische Auseinandersetzung mit dem Thema
Rassismus im weißen deutschen Wissenschaftsbetrieb bisher nicht
stattgefunden hat. Von daher wird verständlich, wenn Mark Terkessidis und
andere argumentieren, dass umfassende theoretische Versuche über
Rassismus eher Seltenheitswert haben bzw. von Weißen oft nicht
wahrgenommen werden, wenn sie von Schwarzen verfasst sind.[33] Der
Ausschluss des Themas Rassismus an den Universitäten bzw. eine
hegemoniale Art der Repräsentation von Rassismus, mit der weiße
›normale‹ Wissenssubjekte ihre ›Anderen‹ als Objekte der
Wissensproduktion herstellen, kann als Auswirkung einer Struktur gedeutet
werden, die Rassismus fortwährend hervorbringt.[34] Dieser Ausschluss
durch Einbeziehung geschieht auch, wenn Rassismus als Sonderthema im
Bereich der Geschlechterstudien behandelt wird,[35] wobei wiederum den
Geschlechterstudien in einem größeren akademischen Kontext ein
peripherer Status zukommt. Ein Aufkündigen des Konsens’, dass
Rassismus im akademischen Diskurs ein marginales und kein strukturelles
Phänomen sei – und diesen Konsens selbst als rassistische
Ausschlussstrategie zu erkennen – erfordert auch, ›Rasse‹ in einem
deutschen Kontext als problematischen Untersuchungsgegenstand zu
begreifen. El-Tayeb verweist auf die Konsequenzen, die eine Vermeidung
jeder Referenz auf Rassenkonzepte haben:
[S]o werden einerseits die enormen politischen und ökonomischen Ungleichheiten, die die soziale
Wirksamkeit der Rassenhierarchie mit sich brachte und noch bringt, ignoriert, d.h. struktureller
Rassismus kann nicht adäquat analysiert werden. Andererseits wird das Widerstandspotenzial
sozialer Gruppenidentitäten, die sich als Reaktion auf rassistische Zuschreibungen bildeten,
negiert.[36]

PERSPEKTIVEN UND POSITIONEN INSTITUTIONELLER WISSENSPRODUKTION


In Anlehnung an Edward W. Saids Überlegungen zu Theorien auf
Wanderschaft,[37] möchte ich nicht nur diskutieren, wie sich der
spezifische deutsche Forschungskontext auf die Analysekategorien
Weißsein und ›Rasse‹ auswirkt, sondern insbesondere danach fragen, wie
sich – in einer wechselseitigen Bewegung – die Etablierung der Kategorie
auch auf die Fragestellungen und SprecherInnenpositionen und -haltungen
in wissenschaftlichen Debatten auswirkt: Die Kategorie Weißsein fordert
grundsätzliche Überlegungen danach heraus, wie weiße
WissenschaftlerInnen an der Produktion und Absicherung weißer Dominanz
als einem gesellschaftlichen Konsens mitwirken und wie sie als dominante
Akteure hierauf zurückreifen können.[38] Zur Diskussion steht dabei, in
welchem (selbstreflektierten) Verhältnis sie im akademischen Feld zu einer
»Dominanzkultur« stehen, die auf weißer Dominanz gründet, weißer
hegemoniekritische Interventionen aber abwehren und rassistische
Machtverhältnisse nicht thematisieren und historisieren, um dem eigenen
Anspruch nach Gleichheit entgegenzukommen.[39] Eine Thematisierung
rassistischer Machtverhältnisse würde die Diskrepanz zwischen
Gleichheitsanspruch und sozialer Wirklichkeit sichtbar machen. Diese
Diskrepanz scheint für Weiße schlecht auszuhalten zu sein.
Die Frage, inwiefern wissenschaftliche Debatten also so angelegt sind,
dass sie weiße Dominanz fortschreiben, um rassenspezifische
Machtverhältnisse nicht anerkennen zu müssen, ist verbunden mit der Frage
nach einer systematischen Unsichtbarmachung des Konzepts ›Rasse‹ .
Diese Unsichtbarmachung kann in Anlehnung an Terkessidis’ These, nach
der ein Komplex an Wissen, Macht und Institutionen Weiße als Träger
»rassistischen Wissens« hervorbringt und weiße Dominanz und Autorität
produziert, als Strategie der Vermeidung gedeutet werden.[40] Im
Folgenden führe ich verschiedene Aspekte diskursiver Abwehrstrategien
an, die eine »Dethematisierung«[41] von Weißsein und Rassismus
legitimieren, und ihn auf diese Weise fortschreiben: Laut Bettina Stötzer
verweisen insbesondere zwei Aspekte auf die Spezifik der deutschen
Debatte, die eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit Rassisierung im
öffentlichen und akademischen Diskurs verhindern: »Die Gleichsetzung
von Rassismus mit den Verbrechen der nationalsozialistischen
Vergangenheit sowie die Nicht-Wahrnehmung Deutschlands als
Einwanderungsland.«[42] Die These, Deutschland sei kein
Einwanderungsland, kann als hartnäckiger Topos im Kontext einer
»soziohistorischen Amnesie«[43] gedeutet werden, um die Fiktion weißer
Homogenität fortzuschreiben und ›rassenspezifische‹ Machtverhältnisse
nicht anerkennen zu müssen.[44] Die Referenz auf den Nationalsozialismus
scheint die Funktion zu haben, einen Konsens darüber herzustellen, dass
Essentialismen zu überwinden seien, die durch das Benennen von
rassistisch markierten Differenzen hergestellt werden. Allerdings ist mit
Rekurs auf einen anzustrebenden Bruch mit der Epoche des
Nationalsozialismus (auf jeweils unterschiedliche Weisen in beiden Teilen
Deutschlands nach 1945) auch eine Tabuisierung des Konzepts ›Rasse‹
legitimiert worden, ohne die damit verbundenen Probleme zu thematisieren.
In Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte kann dagegen nicht die Rede
davon sein, dass ein aktiver Bruch stattgefunden hätte: Denn die koloniale
Vergangenheit Deutschlands wurde, anders als die Shoa, in Deutschland »in
keiner Form Teil eines sozialen Gedächtnisses«.[45] Kien Nghi Ha merkt in
diesem Zusammenhang an, dass es in der zeitgenössischen Historiographie
ein übliches Verfahren sei, die Bedeutung des deutschen Kolonialismus
durch Vergleiche mit ›größeren‹ Imperialmächten zu relativieren. Dabei
ignoriere »eine ausschließlich ökonomische und geopolitische Bilanzierung
[…], dass bereits die Idee des Kolonialismus weitreichende Auswirkungen
hatte.«[46] El-Tayeb argumentiert darüber hinaus, dass die Notwendigkeit
einer Untersuchung des deutschen Rassismus verneint wird, »indem die
Existenz ›materieller‹ Indikatoren – einer langjährigen Kolonialgeschichte,
einer signifikanten schwarzen Bevölkerung – bestritten wird.«[47] Erst in
den letzten Jahren sind verstärkt Arbeiten erschienen, die die deutsche
Kolonialgeschichte zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand machen.
[48] Untersuchungen der Brüche und Verbindungen zwischen den
verschiedenen Geschichtsepochen und politischen Herrschaftsformen sind
besonders aufschlussreich im Hinblick darauf, wie »das gewalttätige
Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen sowie ihre Geschichte ›ent-
innert‹ (›disremembered‹) [wird]«.[49]
Um die Dethematisierung von Rassismus und weißer Dominanz zu
thematisieren, wären u.a. Untersuchungsgegenstände wie
›Nationalstaatenbildung‹, ›pluralistische Demokratie‹ und ›kulturelle
Differenz‹ darauf hin zu befragen, wie sie in einem deutschen Kontext
rassistisch kontextualisiert worden sind. Denn es sind solche Konzepte, die
das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse auf Kategorien wie Nation und
Kultur verlagern. Ein unreflektierter Umgang mit diesen Konzepten macht
unsichtbar, dass gerade Deutschland seine ›Identität‹ bis in die jüngste Zeit
fast ausschließlich über homogenisierende völkische Kriterien definiert hat.
[50] So argumentiert Ursula Wachendorfer etwa, dass Weißsein in
Deutschland bis zur Zeit des Nationalsozialismus Bestandteil »eines
gesellschaftlich verordneten und privat gelebten ›arischen‹ Superioritäts-
Selbst-Bildes und ein Kriterium [geworden war], das über die
Zugehörigkeit zur sog. Volksgemeinschaft entschied.«[51] Nicht zuletzt
anhand des Themenkomplexes Nationalsozialismus wird deutlich, dass eine
Untersuchung von Weißsein Fragen nach den Interdependenzen von ›Rasse‹
mit anderen Kategorien aufwirft. In diesem Zusammenhang werden die
Grenzziehungen und Hierarchiebildungen innerhalb von Weißsein näher zu
betrachten sein. So ist beispielsweise ein Spezifikum des
nationalsozialistischen ›Rassendiskurses‹ die Durchsetzung von
Überlegenheitsvorstellungen und Hegemonialpositionen bestimmter weißer
Subjekte: Hier stellt sich die Frage, entlang welcher Differenzlinien und
aufgrund welcher Ein- und Ausschlusskriterien Weiße als deutsch bzw.
›undeutsch‹ markiert wurden. Wie verhandelten weiße Deutsche im
Hinblick auf solche Kriterien wie die politische Überzeugung, den sozialen
Stand, die sexuelle Orientierung, die körperliche Verfasstheit – um nur
einige zu nennen – das Verhältnis von nationaler Zugehörigkeit und
Weißsein?
Zur Diskussion steht weiter das Verhältnis von
Untersuchungsgegenständen und SprecherInnenpositionen und -
perspektiven in kulturwissenschaftlichen Debatten, die einen
rassismuskritischen Ansatz verfolgen. Wem werden beispielsweise in den
so genannten Ausländer- und Fremdenfeindlichkeitsdiskursen welche
Positionen zugewiesen? Welche Funktionen und Wirkungen haben welche
Diskursformationen? Yasemin Yýldýz hat argumentiert, dass Begriffe wie
›Ausländerfeindlichkeit‹ und ›Xenophobie‹ als Euphemismen für
Rassismus zu begreifen seien. Nicht etwa rassistische Einstellungen oder
Strukturen würden durch sie analysiert und kritisiert, sondern Rassismus
werde zu einem Problem der Gefühle Einzelner reduziert. »Als Zielgruppe
dieser Feindlichkeit werden ›Ausländer‹ und ›Fremde‹ definiert,
unabhängig davon, wie sich diese Menschen, z.B. ich, selbst definieren,
z.B. als Inländerinnen.«[52] Von daher erscheinen Arbeiten zu
›Ausländerfeindlichkeit‹, ›Fremdenfeidlichkeit‹ und ›Xenophobie‹ prekär,
wenn weiße VerfasserInnen ihre Position unangetastet lassen und nicht
problematisieren, wie das Konstrukt Weißsein erst in einem dynamischen
Verhältnis der Abgrenzung und Aneignung als normativ und unsichtbar
hergestellt wird. Eine Problematisierung von Weißsein macht demnach die
Frage danach erforderlich, in welchem Verhältnis weiße
KulturwissenschaftlerInnen im Rahmen etwa der Antisemitismus-,
Orientalismus-, der Migrations- und der Postkolonialismusforschung zu
ihrem Untersuchungsgegenstand stehen und ob und wie sie die eigene
Positionierung reflektieren und politisch verantworten. So etwa untersucht
Ha im Rahmen der deutschsprachigen Rezeption postkolonialer Diskurse,
wie weiße Deutsche sich unkritisch den Hybriditätsbegriff aneignen und
damit Gefahr laufen, »durch eine sorglose und unreflektierte
Begriffsverwendung in rassistische Diskurse zurückzufallen und neue zu
evozieren.«[53]

WESSEN DEUTUNGSHOHEIT, WESSEN DEFINITIONSMACHT?


Abschließend möchte ich das paradoxe Problem der Aneignung Schwarzen
Wissens und Aberkennung Schwarzer Autorität durch Weiße aufgreifen,
indem ich eine Argumentationsstruktur diskutiere: die These nämlich, dass
es, anders als etwa in den USA, in Deutschland keine von Schwarzen
getragenen sozialen Bewegungen gegeben habe, die von Weißen ein
Bewusstsein als Träger rassistischen Wissens eingefordert hätten.[54] Die
Annahme, es habe hierfür keine Infrastruktur gegeben, könnte als Hinweis
auf die Wirkmächtigkeit der weißen Dominanzkultur gelesen werden,
solche Bewegungen zu verhindern. Die Artikulation solch einer Annahme
kann aber ebenso die Funktion haben, die Einflussnahme und
Theoriebildung Schwarzer WissenschaftlerInnen auszublenden und sie von
der Produktion von Wissen auszuschließen. Die These, es habe keine von
Schwarzen getragene sozialen Bewegungen gegeben, liest sich dann als
gewaltvolle weiße Strategie, Schwarze Präsenz zu negieren und die Fiktion
einer völkisch definierten weißen Gemeinschaft fortzuschreiben. Besonders
die Arbeiten über afro-deutsche Geschichte haben das Verhältnis von
Deutschsein und Weißsein zur Disposition gestellt. Farbe bekennen. Afro-
deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte bündelt umfassend und
grundlegend die Kritik an deutschen Verhältnissen aus der Perspektive
Schwarzer Theoretikerinnen.[55] Ohne Arbeiten, die sich aus einer
historischen Perspektive mit dem Vorhandensein einer Schwarzen
Bevölkerungsgruppe in Deutschland beschäftigen, wäre es nicht möglich
gewesen (und sollte es auch in Zukunft nicht möglich sein), die Geschichte
von Weißsein sowie die Einbezogenheit Weißer in ›rassenspezifische‹
Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen.[56]
Es geht mir nicht darum, die Arbeiten Schwarzer AkademikerInnen auf
die Leitdifferenz ›Rasse‹ zu reduzieren, oder etwa das Sprechen über
Konstruktionen von ›Rasse‹ im Kontext von Rassismus an
Sprecherpositionen zu binden. Anstatt etwa zu fragen, ob Weiße einen
Schwarzen Standpunkt einnehmen könnten, stellt sich vielmehr die Frage:
Warum will eine weiße Person überhaupt eine ›nicht-weiße‹ Perspektive
einnehmen, und warum meint sie es zu können? Ich möchte aber auch die
Frage aufwerfen, inwiefern weiße KulturwissenschafterInnen überhaupt nur
mit Hilfe der Arbeiten ihrer Schwarzen KollegInnen zu den
Themenkomplexen Weißsein und Konstruktionen von ›Rasse‹ arbeiten
können.[57] Auf welche Weise machen sich weiße AkademikerInnen die
Erkenntnisse derjenigen zu eigen, die von einer peripheren Position des
akademischen Felds zu dessen weißen Zentrum sprechen? Wie machen sie
– womöglich durch einen vermeintlich aufgeklärten Gleichheitsanspruch –
marginalisierte Perspektiven unsichtbar und reproduzieren so die
Machtverhältnisse, die gerade durch die Analysekategorie ›Rasse‹ und ein
Bewusstsein für Weißsein aufgedeckt werden könnten? Es geht darum
anzuerkennen, dass seit Jahrzehnten Schwarze WissenschaftlerInnen in
Deutschland über Rassismus, Schwarze Präsenz und weiße Dominanz
geschrieben und Arbeiten hierzu veröffentlich haben. Die These, dass es
keine sozialen Bewegungen gegeben habe, die ein Bewusstsein für
Weißsein/weiße Dominanz befördert hätten, macht unsichtbar, dass
diesbezügliche Arbeiten existieren und verweist auf die Zuweisung von
Sprecherpositionen im akademischen Feld.
Des Weiteren geht es darum, Mechanismen weißer Vereinnahmung und
Aneignung wahrzunehmen: Schwarze WissenschaftlerInnen leisten
erkenntnistheoretische Arbeit zu Rassismus und sind nicht zuletzt deshalb
seit ihrem Zugang zum akademischen Feld der Gefahr der Marginalisierung
ausgesetzt gewesen bzw. werden von Weißen nicht entsprechend
institutionell eingebunden.[58] Während die Arbeiten Schwarzer
AkademikerInnen häufig an den Peripherien des akademischen Diskurses
und seiner finanziellen Netzwerke entwickelt werden,[59] positionieren
sich Weiße weiterhin im Zentrum des universitären Betriebs.[60] Grada
Kilomba hat in diesem Zusammenhang zur Diskussion gestellt, ob wir ein
koloniales Muster reproduzieren, in dem Wissen erst als akademisch
verwertbares Wissen gilt, wenn es in weißen Besitz übergegangen ist. Dies
verleiht den folgenden Fragen besondere Relevanz: Wie sind Schwarze und
weiße WissenschaftlerInnen an der Universität positioniert bzw. können sie
sich positionieren? Wessen Wissen hat Geltung? Wieviel Autorität weisen
weiße AkademikerInnen den Arbeiten Schwarzer AkademikerInnen im
deutschen akademischen Feld zu? Inwiefern wird dieses Wissen erst
anerkannt, wenn Weiße es sich aneignen? Sabine Broeck hat als Problem
des weißen akademischen Mainstreams benannt, dass trotz »jüngster
theoretischer (postkolonialer) Bemühungen, die epistemologische
Herrschaft ethnozentrischer Standards einer post-aufklärerischen Tradition
aufzuheben, […] die akademische Subjektposition [weißer
AkademikerInnen] festgelegt [bleibt] als ›default position‹.«[61] Diese
Festlegung, so Broeck, zeige sich »in einer exklusiven Perspektive auf die
Welt, im Ausweichen vor wirklichem Dialog mit Intellektuellen, die nicht
von westlichen akademischen Zentren aus sprechen, in universalen
Repräsentationsansprüchen und in einer weitverbreiteten Unfähigkeit,
nicht-weiße Autorität als Ausgang und Maßstab für die eigene
anzuerkennen.«[62]
Nicht nur in universitären Diskussionszusammenhängen kommt es
mitunter zu emotional besetzten Reaktionen bei Weißen, etwa wenn
Schwarze sie höflich dazu auffordern, diskriminierende Begriffe durch von
ihnen selbstgewählte Begriffe zu ersetzen. Laut Wachendorfer mag ein
Grund darin liegen, dass Weiße ihre Definitionsmacht in Gefahr wähnen:
»Haben sie nicht über viele Generationen emsig Schwarze beforscht,
eingeordnet und definiert, so dass sie glaubten, ›eigentlich‹ besser über
Schwarze Bescheid zu wissen als diese über sich selbst? Dann ist es
kränkend, andere nicht mehr uneingeschränkt definieren zu können.«[63]
An aufgewühlten Reaktionen weißer Studierender und Lehrender zeigen
sich die Grenzen eines weißen Rationalitätsverständnisses, dem nicht die
geeigneten Begriffe zur Verfügung stehen, eigenes rassistisches Wissen
sichtbar zu machen und reflexiv mit der Eingebundenheit in rassistische
Verhältnisse umzugehen: Es steht uns kein etabliertes wissenschaftliches
Repertoire an Begriffen und Theorien zur Verfügung, das einer sachlichen
Auseinandersetzung dienen könnte. Zu fragen wäre von daher, wie Weiße
ihre Reflexe der Abwehr aufbrechen und die Autorität Schwarzer
AkademikerInnen anerkennen können, statt in vorgefertigten
Verhaltensmustern zu verharren.
Die Kulturwissenschaften bieten einen Rahmen, in dem Weißsein als
eine signifikante Kategorie zu denken ist, die Wissen interessengebunden
strukturiert. Dabei geht es um einiges: Eine historische Perspektivierung der
Durchsetzung weißer Dominanz fordert eine grundsätzliche Kritik der
etablierten Wissensproduktion und der mit ihr verbundenen Institutionen
und Subjekte heraus. Weißsein kann dabei als Analysekategorie dienen, um
andauernde Prozesse der Grenzziehung, Hierarchiebildung und
Ausgrenzung im Rahmen der akademischen Wissensproduktion in den
Blick zu rücken und zu fragen, wer im Hinblick auf ›rassenspezifische‹
Machtverhältnisse Deutungshoheit hat und wer nicht, und welche
Perspektiven sich in der dominanten Wahrnehmung leicht, welche schwer
durchsetzen lassen. Es ist meine Absicht, mit diesem Beitrag für einen
behutsamen Umgang mit dem deutschen Begriff ›Rasse‹ im
Wissenschaftsbetrieb zu argumentieren. Denn die historischen
Zusammenhänge, in denen der Begriff gebraucht worden ist, sowie die
Wirkungsweisen seines Gebrauchs bzw. Nicht-Gebrauchs lassen sich nicht
ausblenden. Erst wenn ›Rasse‹ als problematische Kategorie der
Strukturierung von Wissen und der Positionierung von Subjekten benannt
wird, können Prozesse der Hierarchisierung aufgrund der Konstruktionen
von ›Rasse‹ (be)greifbar werden.[64]

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ANMERKUNGEN
1 Laut Nora Räthzel setzten sich noch im Jahr 2000 in der Bundesrepublik die meisten
Forschungsarbeiten mit Fragen des Rassismus’ auseinander, indem sie sich auf
rechtsextremistische Aktivitäten, meist von Jugendlichen, konzentrierten. Siehe Räthzel:
»Vorwort«, S 5.
2 Siehe etwa die vorliegenden Arbeiten zur deutschen Kolonialgeschichte: Zantop: Colonial
Fantasies; Friedrichsmeyer, Lennox & Zantop: The Imperialist Imagination; Grosse:
Kolonialismus; Wildenthal: German Women for Empire; Conrad & Randeria (Hrsg.): Jenseits
des Eurozentrismus; Kundrus: Moderne Imperialisten; Dies. (Hrsg.): Phantasiereiche.
3 Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 40.
4 Ebenda, S. 40-41.
5 Wenn ich im Folgenden von den deutschen bzw. deutschsprachigen Kulturwissenschaften
spreche, so fasse ich darunter in einem weiten Sinn geistes- und sozialwissenschaftliche
Disziplinen, die um eine kulturwissenschaftliche Erneuerung bemüht sind. Zu einer aktuellen
Positionsbestimmung der deutschen Kulturwissenschaften, siehe Nünning & Nünning: Konzepte
der Kulturwissenschaften.
6 Carby: »The Multicultural Wars«, S. 193.
7 Frankenberg: »White Women, Race Matters«, S. 447.
8 Wie die näheren Bestimmungen von Dyer und Frankenberg verdeutlichen, kann die rassische
Markierung Weißer irritierend wirken. Die Irritation wird dadurch ausgelöst, dass die Norm
weißer Unsichtbarkeit verletzt wird.
9 Dyer: White, S. 2. Die Strategie, »colour« bzw. »Farbe« für weiße Menschen zu reklamieren,
wie Dyer sie hier durch die Formulierung »other colours« implizit vorführt, betrachte ich als
problematisch, weil dies die Vorstellung von »Farbe« als einer weißen Markierungsstrategie, als
einer Konstruktion im Kontext von Rassismus, unsichtbar macht.
10 hooks: »Representations of Whiteness«, S. 34.
11 Whiteness als Analysekategorie muss bereits immer mit weiteren Kategorien von kultureller
Identität und sozialer Positionierung verschränkt gedacht werden. Diese Verschränkungen sollen
hier jedoch zwecks einer Pointierung der Überlegungen zu whiteness und Weißsein in den
Hintergrund treten. Zu den Interdependenzen von race, class und gender, siehe Dietze »Race
Class Gender«.
12 Siehe Roediger: The Wages of Whiteness; Allen: Die Erfindung der weißen Rasse; Ignatiev:
How the Irish Became White; Jacobsen: Whiteness of a Different Color.
13 Bernasconi: »Who Invented the Concept of Race?«, S. 26-30.
14 Guillaumin: »The Changing Face of ›Race‹«, S. 362.
15 Raman: »The Racial Turn«, S. 255.
16 Ebenda.
17 Eine Reihe von Sammelbänden, in denen Texte zu whiteness anthologisiert worden sind, haben
zur Formierung eines Kanons der so genannten Critical Whiteness Studies beigetragen. Dazu
zählen u.a.: Delgado & Stefanic (Hrsg.): Critical White Studies; Fine, Powell & Wong (Hrsg.):
Off White; Frankenberg (Hrsg.): Displacing Whiteness; Hill (Hrsg.): Whiteness; Ignatiev &
Garvey (Hrsg.): Race Traitor. Zur Formierung des Forschungsgebiets der Critical Whiteness
Studies, siehe Stowe: »Uncolored People« und Wiegman: »Whiteness Studies«.
18 Zu fragen wäre hier auch nach der unterschiedlichen Bewertung verschiedener Genres wie
Autobiographien, Essays u.a., die als Rahmen dafür dienen, bestimmtes Wissen auf bestimmte
Art und Weise verfügbar zu machen und zu autorisieren.
19 Wiegman: »Whiteness Studies«, S. 122.
20 Beispielhaft seien Tagungen genannt, auf denen Schwarze Teilnehmende Kritik daran üben, dass
sie nicht in die Vorbereitungen der weißen OrganisatorInnen einbezogen werden und so
verdeutlichen, wie in einem Forschungszusammenhang, der rassistische
Ausschlussmechanismen und Dominanzverhältnisse problematisieren will, solche Mechanismen
unbeabsichtigt reproduziert werden können.
21 hooks: »Representations of Whiteness«, S. 31; Roediger: »Introduction«, S. 4-6.
22 Essed: Understanding Everyday Racism, S. 1-2.
23 Zu der Erkenntnis, dass Erfahrung diskursiv vermittelt ist und dementsprechend Unterschiede
erst herstellt und festschreibt, anstatt sie als Quelle vermeintlich essentialistischer Differenzen zu
begreifen, siehe Scott: »The Evidence of Experience«, S. 777.
24 Siehe etwa Morrison: »What the Black Woman Thinks About Womens’ Lib«; später z.B.
Collins: Black Feminist Thought.
25 Siehe etwa Fry: »On Being White«; Harding (Hrsg.): Feminism and Methodology; Rich: »An
der Wurzel gespalten«, die sich mit dieser Forderung auseinander setzen. Auf weitere Aspekte
im Rahmen der (weißen) feministischen Standpunkttheoriebildung gehe ich an dieser Stelle
nicht näher ein.
26 An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass im englischsprachigen Zusammenhang die Kategorie
race außerhalb hegemoniekritischer Wissensproduktion noch immer biologistisch/rassistisch
konnotiert ist und die Bedeutungszuweisung des Begriffs race auch hier abhängig von dessen
Gebrauchszusammenhang bleibt.
27 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 7.
28 Steyerl führt aus, dass das »Konzept der Biopolitik […] sich darauf [konzentriert], wie das
Leben und das Lebendige in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen und
ökonomischer Strategien gelangten. Seit dem 18. Jahrhundert wenden sich Macht- und
Wissenssysteme der Aufgabe zu, ›Lebensprozesse‹ kontrollieren und regulieren zu können«
(Steyerl »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 39).
29 Ebenda, S. 39.
30 Ebenda, S. 39-40.
31 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 7.
32 Mecheril: »Rassismuserfahrungen von Anderen Deutschen«, S. 189.
33 Vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 13; El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 211;
Stötzer: InDifferenzen, S. 50.
34 Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 12-13.
35 Vgl. Gümen: »Das Soziale des Geschlechts« S. 198.
36 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 138-140, dort Anm. 1.
37 Said: »Theorien auf Wanderschaft«, S 263-292.
38 Vgl. Walgenbach: »Weiße Dominanz«, S. 132.
39 Rommelspacher: »Orientierungslosigkeit und Macht«, S. 32.
40 Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 83-108. Laut Terkessidis wirkt Rassismus als
›Dispositiv‹ im Foucaultschen Sinne, als Macht-Wissen-Komplex: »Eine Untersuchung über
Rassismus beschäftigt sich daher nicht mit der Feindseligkeit gegenüber ›Fremden‹, sondern mit
einer praktischen Einheit von Wissen und Institutionen, die das Eigene und das Andere erst
hervorbringt« (Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 13).
41 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 88.
42 Stötzer: InDifferenzen, S. 50.
43 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 89.
44 Eine historische Analyse des Kontexts, in dem langsam ein Umdenken in der dominanten
Wahrnehmung von Deutschland als einem Einwanderungsland einsetzt, bietet Green:
»Immigration, Asylum and Citizenship in Germany«, S. 84.
45 Behr: »Gen-Deutsche und Kreolen«, S. 66.
46 Ha: »Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«, S. 97.
47 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 9.
48 Für bibliographische Hinweise, siehe Anm. 2. Es wäre ein Forschungsprojekt, kolonialismus-
und eurozentrismuskritische Arbeiten aus den 1960er bis 1980er Jahren darauf hin zu
untersuchen, ob und wie die VerfasserInnen die eigenen Vorannahmen bezüglich rassistischer
Positionierungen mitreflektieren. Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang insbesondere ein
Vergleich der Arbeiten aus der BRD und DDR (für die BRD z.B. Hausen: Deutsche
Kolonialherrschaft; Bley & Tetzlaff (Hrsg.): Afrika und Bonn; Werlhof, Mies & Bennholdt-
Thomsen: Frauen, die letzte Kolonie; für die DDR z.B. Heyden: 75 Jahre Afrikanischer
Nationalkongress von Südafrika).
49 Kilomba Ferreira: »Die Kolonisierung des Selbst«, S 162. Siehe u.a. auch: Walgenbach: »Weiße
Dominanz«; Ha: »Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«; Steyerl:
»Postkolonialismus und Biopolitik«.
50 Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 47; Behr: »Gen-Deutsche und Kreolen«, S. 66.
51 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 91.
52 Yýldýz: »Keine Adresse in Deutschland?«, S. 226.
53 Ha: »Hybride Bastarde«, S. 159.
54 Dieser Argumentationsstruktur folgen etwa Alf Lüdtke und Stefan Mörchen in ihrem Editorial:
»›Die Farbe Weiß.‹ Race in der Geschichtswissenschaft«, wo es heißt (S. 5, Anm. 9): »… zum
anderen gab es in Deutschland, anders als in den USA, keine soziale Bewegung, die
Veränderungen unter diesem Begriff [›Rasse‹] eingefordert hat.«
55 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen; im Anschluss daran siehe z.B.: Reed-
Anderson: Eine Geschichte von mehr als 100 Jahren; Oguntoye: Eine afro-deutsche Geschichte;
Gelbin, Konuk & Piesche (Hrsg.): AufBrüche; El-Tayeb: Schwarze Deutsche; Campt: Other
Germans; Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«; Dies.: »Neither Foreigners Nor
Aliens«.
56 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 8.
57 hooks: »Postmodern Blackness«, S. 2480.
58 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 142.
59 Stötzer: InDifferenzen, S. 39, 78.
60 Kilomba Ferreira: »Rewriting the Black Body«, S. 54.
61 Broeck: »Wird der weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«, S. 89.
62 Ebenda.
63 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 96.
64 Mein großer Dank für prägende Denkanstöße geht an Eddie Bruce-Jones, Amy Evans, Rotraut
Junker-von der Emden und Kristin Kopp. Danke für andauernde Gespräche und hilfreiche
Kommentare, nicht nur zu diesem Artikel: Sabine Broeck, Gabriele Dietze, Renate Hof, Grada
Kilomba, Nicola Lauré al-Samarai, Stefania Maffeis, Julie Miess, Anna Katharina Neufeld,
Susann Neuenfeldt, Matthias Neumann, Julia Roth, Hortense Spillers, Simon Strick, Ursula
Wachendorfer, Eske Wollrad und den Teilnehmerinnen des Forschungskolloquiums zu Weißsein
am Zentrum für Literaturforschung, Berlin.
ASTRID ALBRECHT-HEIDE
WEIßSEIN UND ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT[1]

Dass Weißsein und weiße Hegemonie in den letzten zehn bis 15 Jahren
wieder verstärkt in den Blick gerückt wird, hat vermutlich primär weniger
etwas mit ›unserer‹[2] gewandelten Wahrnehmung als vielmehr mit
geopolitischen Veränderungen zu tun. Im ›Drei-Welten-Konzept‹ des Kalten
Krieges war die weiße Vorherrschaft, im Westen wie im Osten
gleichermaßen, dethematisiert. Vieles spricht dafür, dass die Globalisierung
auch als eine Art Rekonfiguration jener Kräfte begriffen werden kann, die
die Welt bereits seit Jahrhunderten geprägt haben.[3] An dieser
Rekonfiguration ist weiße Erziehungswissenschaft beteiligt. In meinem
Versuch, einigen Grundlagen dieser Beteiligung auf die Spur zu kommen,
unternehme ich eine zweifache Bewegung. Ich gehe ihrer
Entstehungsgeschichte nach, und ich thematisiere meine eigene
Involviertheit als Weiße. An die Grenzen der eigenen Disziplin (welch ein
ehrlicher Begriff!) werde ich mich wegen ihrer entpolitisierenden Funktion
nicht halten.[4]

WEIßSEIN ALS GEWÄHLTER STATUS


Weißsein ist – ob es mir gefällt oder nicht – keine Aussage über meine
körperliche Existenz. Es ist zuallererst eine Aussage über meinen gewählten
sozialen und kulturellen Status als Weiße.[5] Dass ich ihn als sozial
hergestellt bereits vorfinde, wenn ich auf die Welt komme, ändert daran
nichts. Ich wähle, ob ich auf den vorgefundenen Wegen der mich
ermächtigenden Selbstentfremdung und der ›Andere‹ im Othering
(versuchten)[6] Enteignung gehe, oder ob ich beginne, mich aus dem
angebotenen und vorgefundenen weißen Selbstbetrug heraus zu begeben
und zunächst meinen privilegierten, parasitären Status zu begreifen.[7]
Grundlegend für meine Sicht ist der einfache Gedanke, dass ›wir‹ nicht
quasi ›schicksalhaft‹ oder marionettenmäßig eingebunden sind, sondern
aktiv an ›unseren‹ Positionierungen beteiligt sind.[8]

DER VERHÖRSPIEGEL
In meiner Auseinandersetzung mit deutscher/euroamerikanischer weißer
Erziehungswissenschaft als Beteiligte geht es mir darum, mit Hilfe einiger
Foucaultscher Handwerkszeuge zentrale Konstruktionszusammenhänge
aufzudecken – und damit um eine Aufklärung der Aufklärung. Es geht u.a.
darum, dass weiße Erziehungswissenschaft als Teil der alteuropäischen
Erzählungen von Wahrheit, Vernunft und Geschichte mit Macht und
Herrschaft verstrickt ist und dass die in ihr enthaltenen
Emanzipationsgeschichten »haltlose Wunschprojektionen« sind.[9] Auf
diese Weise kann ich zeigen, dass die neuzeitliche europäische
Erziehungswissenschaft eine Herrschafts- und Kontrollwissenschaft des
weißen, bürgerlichen, heterosexuellen, gesunden Mannes[10] ist. Die
Herrschafts- und Kontrolldimensionen sind nicht nur
entstehungsgeschichtlich,[11] sondern insbesondere auch im
Erkenntnisblick nachweisbar.[12]
Mit dem hegemonialen Erkenntnisblick sehe ich, ohne gesehen zu
werden.[13] Am deutlichsten – und zugleich als Metapher darüber hinaus
dienlich – wird dies in einer Beobachtungsanordnung, die kriminalistischen
Verhörmethoden entspricht: Ein nur in einer Richtung durchsichtiger
Spiegel liefert mein Gegenüber gnadenlos meinem gelegentlich wohl von
ihm oder ihr gewussten, gleichwohl unsichtbaren optischen und
definitionsmächtigen, im Kern voyeuristischen Zugriff aus.[14] Es spielt
keine Rolle, ob mein Blick wohlwollend, gnädig, aggressiv oder bösartig
ist. Ich zeige mich nicht, und es ist in meine Willkür gelegt, was ich
wahrnehme. So wird Wahrheit produziert,[15] und das Wissen hinter dem
Spiegel wird minorisiert.[16] Wenn ich vor diesem Spiegel als Verhörende
sitze, bin ich den Objekten meiner Erkenntnisbegierde nicht
rechenschaftspflichtig. In diesem System bin ich jenen
rechenschaftspflichtig, die mit vergleichbarer Begierde auf meine
Ergebnisse warten, sie taxieren und einordnen, u.a. danach, ob ich sie als
Objekte richtig zurechtgemacht habe,[17] ob mein Herrschaftsblick
gelungen ist, rein[18] ist, nicht unsauber durch einen möglicherweise in
meine Richtung porös gewordenen Spiegel, in dem mir die Blicke der
Verhörten begegnen und mich treffen – berühren – erschüttern – entsetzen
… wenn ich sie nicht abstrafe.
Wenn ich mich als Weiße selbst aus dem Spiel lasse, muss ich meine eigene Verbindung zum
Problem, sei sie biographisch, sei sie aktuell, nicht befragen. Ich kann meinen Herrschaftsblick
noch in eine scheinbar selbstreflexive Betrachtung hinein holen. Am Thema: Ich schreibe aus
einer gleichsam extraterristischen Position über Weiße und nicht als Weiße, wenn es mir nicht
gelingt, zum Wir und zum Ich zu kommen. Die in meiner Generation übliche Zurichtung,
wissenschaftlich nicht Ich sagen zu dürfen, wurde mir mehrheitlich als Bescheidenheits- und
Objektivitätsgestus beigebracht. Das hat mir auch lange eingeleuchtet, bis ich begriff, dass ich
mich damit herrschaftlich im weißen Wissenschaftskartell verstecke. Zugleich habe ich mich von
mir selbst abgeschnitten, konnte nicht meine eigenen Fehler machen und war substantiell
lernunfähig.

Im Zulassen des Rück-Blicks,[19] des Erkennens dessen, was der und die
Minorisierte über sich und auch über mich weiß, in meinem eigenen
Sichtbarwerden und Mich-zeigen wird die Herrschaftssituation
aufgebrochen.[20] In der ungebrochenen Herrschaftssituation gilt Foucaults
Feststellung, dass mein Gegenüber von mir gesehen wird, »ohne selber zu
sehen; er […] Objekt einer Information (ist), niemals Subjekt in einer
Kommunikation«.[21] Eine dekonstruktive Bewegung ist eine Möglichkeit,
mich für den Rück-Blick und eine kommunikative Situation quer zum
hegemonialen Solipsismus (gemeinhin begriffen als Autonomie) zu öffnen.
[22] Der poröse oder auch eingerissene Spiegel meint eine Weichenstellung
in die Radikalisierung der Entmystifizierung dessen, was uns weißen
Menschen möglich ist. Es geht um den Blick auf uns Weiße als strukturell
Verhörende.
Ich hatte zunächst statt Entmystifizierung die Formulierung gewählt
»Aufdecken des Monströsen«. Ich erkenne darin meine Neigung, das, was
wir Weißen jahrhundertelang der Welt angetan haben und noch antun als
monströs von mir zu weisen. Ich bringe es in einen so weiten Abstand von
mir, dass ich es menschlicher und damit meiner Verantwortung und
möglichen politischen Gegenwehr entziehe. Im Spiegelbild: Ich verberge
mich hinter dem einseitig durchsichtigen Spiegel. Mein kritischer Blick
mutiert zum Herrschaftsblick der nicht Involvierten; ich entwickle eine
Immunisierungsstrategie, die mit dem konstruierten Gegensatzpaar des
guten und des bösen Weißen arbeitet.[23]

GRUNDLAGEN WEIßER ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT


Eine entscheidende Voraussetzung für die neuzeitliche weiße
Erziehungswissenschaft ist die Veränderung der Produktionsbedingungen
im Frühkapitalismus. Mit dieser Veränderung einher ging ein neues
Naturverständnis und Menschenbild, u.a. mit der Konstruktion des Normal-
Menschen durch die Ausgrenzung des Anderen. Mitzudenken ist die
Veränderung der Familie mit neuen Geschlechterverhältnissen und
generationalen Verhältnissen; Kindheit wird passend definiert. Die
frühkapitalistischen Produktionsbedingungen erfordern einen neuen
Sozialcharakter, der auf Selbst- und Fremddisziplinierung basiert. Durch die
zunehmende außerhäusliche Erwerbstätigkeit des Normal-Mannes (weiß,
bürgerlich, heterosexuell, gesund) kann dieser nur noch äußerst
eingeschränkt seinen Erziehungsaufgaben nachkommen. Das bürgerliche,
öffentliche Schulwesen kann so auch als väterliche Erziehungsdelegation an
Vater Staat begriffen werden, in deren Folge Lehrerbildung und eine zum
Menschenbild und Sozialcharakter passende Erziehungswissenschaft
entwickelt wurde. Diese Veränderungen sind nicht kurzfristig erfolgt,
sondern über einen mehrere Jahrhunderte andauernden, intern und extern
durchaus gewaltsam vorangetriebenen, komplexen und widersprüchlichen
Prozess.

PRODUKTIONSBEDINGUNGEN
Die grundlegenden Veränderungen der Produktionsbedingungen fanden im
wesentlichen vom 15. bis 18. Jahrhundert statt. Hierzu gehört der Wandel
von der handwerklichen zur industriellen Produktion mit einem Übergang
über das Manufaktur- und Verlagswesen. Dies war insgesamt ein durchaus
gewalttätiger und gewalthaltiger Vorgang mit Vernichtung, Verelendungen
und Ausbeutung von Menschen und ›Natur‹. Durch die gewollte
Bevorzugung des Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert im Interesse
der Kapitalakkumulation kommt es u.a. zur Ressourcenverschwendung.

OKKUPATIVES NATURVERSTÄNDNIS
Um die Natur als Ressource begreifen zu können, ist ein Naturverständnis,
mit dem ›wir‹ von ihrer Beseeltheit und/oder ihrem Eigen-Sinn ausgehen,
konterproduktiv.[24] Nutzbringend ist vielmehr ein Naturverständnis, das
eine ausbeuterische Orientierung durch ›uns‹ legitimiert. Und das gelingt
›uns‹ durch einen mindestens zweifachen Herrschaftszugriff: Natur wird
verrohstofflicht und sie dient ›uns‹ als Metapher für nahezu alles, was es zu
beherrschen gilt, was zugerichtet, domestiziert, kolonisiert und – in der
Regel gewaltsam – geändert werden muss, auch vernichtet werden darf.
Dieses Naturverständnis liegt auch der weißen Erziehungswissenschaft
zugrunde. Die Verrohstofflichung erzwingen ›wir‹ durch Distanzierung,
Entmoralisierung, Entsakralisierung und Dynamisierung.[25]
Es lohnt sich, diese Mechanismen kurz genauer zu betrachten, weil sie
grundlegend für ›unsere‹ herrschaftliche Vernichtung von Eigen-Sinn sind,
wiederum auch bei und in der Erziehungswissenschaft. Alle diese
Mechanismen verdichten ›wir‹ im ›Verhörspiegel‹, dem ›wir‹ die Natur
aussetzen. Distanzierung meint nichts anderes, als dass ›wir‹ für ›unsere‹
Herrschaft Abstand benötigen; über Entmoralisierung konstruieren ›wir‹
eine wertfreie Natur, die erst durch ›unsere‹ verändernde Hinwendung ihren
Wert bekommt; durch Entsakralisierung entzaubern (M. Weber) ›wir‹ die
Natur, und durch diese Profanisierung wird sie für ›unseren‹ Zugriff
geöffnet; ›unsere‹ Zugriffstendenz ist Dynamisierung mit der Behauptung,
dass ›unsere‹ Zugriffe zur Veredelung, Verbesserung, kurz Kulturalisierung
führen.[26] Eine ›unserer‹ entscheidenden Handlungsenergien ist
Rationalität, die Ilse Modelmog als einen »historisch zur Dominanz
gekommenen Affekt (bezeichnet d.Verfn.), der sich selbst als affektfrei
definiert«.[27] Mit diesem Herrschaftsaffekt halten ›wir‹ zugleich das
Naive, Wilde, Chaotische etc., das die Natur repräsentiert, abspaltend von
›uns‹ weg und setzen ihn als Angstkontrollversuch gegenüber der zu
beherrschenden Natur ein. Der Preis, den ›wir‹ als Herrschende dafür
zahlen, ist selbstschädigende Entfremdung von dem, gegenüber dem ›wir‹
Macht ausüben,[28] auch gegenüber ›uns‹ selbst. ›Unser‹ Gewinn ist
Herrschaftsteilhabe und Passung ins weiße System.
Die auf diesem Naturverständnis basierende neuzeitliche weiße
Erziehungswissenschaft und ihre handlungsanleitenden Ausläufer (viele
Erziehungsratgeber und Didaktiken) erweisen sich als Entfremdungs- und
Zurichtungskonstruktionen und -instrumente. Sie ist damit Teil eines
komplexeren Ganzen, in dem ›wir‹ alles als Räume oder Territorien
begreifen, die erobert, besetzt, erforscht und missioniert werden dürfen.[29]
MENSCHENBILD
In der sozialen Konstruktion der Natur hat sich der ›neue‹ Mensch unter der
Hand mit definiert. Indem er die Natur u.a. als rohstofflich und zu
beherrschend bestimmt hat, begründet und legitimiert er seinen
Herrschaftsanspruch über sie. Der Kulturalisierungsbehauptung liegt die
Dichotomie von Kultur vs. Natur zugrunde. Die Kultur soll die Natur
beherrschen, auch die Natur vom Menschen im Menschen selbst. Der
Mensch in diesem neuzeitlichen, in der Aufklärung gebündelten
Verständnis, ist der weiße, bürgerliche, gesunde, erwachsene,
heterosexuelle Mann. Mit der (Selbst)Konstruktion als jener Typus, der die
größte Nähe zur Kultur hat, rechtfertigt er seinen generalisierten
Herrschaftsanspruch. Indem Andere als der Natur näher konstruiert werden,
werden die erstrebten und z.T. bereits gewaltsam hergestellten Dichotomien
legitimiert: Mann vs. Frau, Bürger vs. Vierter Stand, Gesunder vs. Kranker,
Europäer vs. Wilder, Erwachsener vs. Kind etc. Diese – und weitere –
hierarchische Oppositionen waren keineswegs nur das Ergebnis eines
ideellen Gewaltvorgangs, sondern vor allem auch eines materiellen. Unter
anderem haben Inquisition und Hexenverfolgung, Zucht-, Arbeits-, Waisen-
und Irrenhäuser und ›unsere‹ kolonialen Raubzüge bei der gewaltsamen
und mörderischen Herrschaftsbegründung eine entscheidende Rolle
gespielt.[30] Als Weiße[31] müssen ›wir‹ davon ausgehen, dass diese
Gewalt als Teil des Zivilisationsprozesses in ›uns‹ weiter wirkt, u.a. als
Identifikationspotential mit dem Agressor, aber auch als (gewalttätige)
Vorherrschaftsgeübtheit. Weiße Vorherrschaft ist so zugleich meist nicht
mehr von ›uns‹ erkannter Grundbestandteil der neuzeitlichen,
euroamerikanischen Erziehungswissenschaft, und das ist im Kern
demokratiefeindlich.[32]

FAMILIE
Eine weitere Spur zur weißen Erziehungswissenschaft finden wir in den
familialen Veränderungen. Durch die industriekapitalistischen
Produktionsverhältnisse verändert sich die (rasch zur Norm erhobene)
bürgerliche Familie vom Ganzen Haus zur Kern-/Kleinfamilie. Die
räumliche Trennung von Produktion und Reproduktion verändert die
Geschlechterverhältnisse und das generationale Verhältnis; die
heterosexuelle Paarbeziehung wird damit unter der Hand ebenfalls zur
Norm. Und Heterozentrismus oder -normativität gehört auf diese Weise
zum Grundbestand von Weißsein, ist kein lediglich homophober Appendix,
auch nicht in der weißen Erziehungswissenschaft.
Die Anforderungen an den außerhäuslich arbeitenden Mann haben u.a.
eine Teilung des gesellschaftlichen Moralhaushalts zur Folge; diese
erfordert Durchsetzungsfähigkeit vom Mann und delegiert die
gesellschaftlich notwendige Fürsorge projektiv nach unten an die Frau.[33]
Auch hier dient ›uns‹ das Naturverständnis als Folie. Die neue ökonomische
Abhängigkeit der Frau vom Mann wird über die Kultur-Natur-Dichotomie
gerechtfertigt. Sie ist der Natur näher als der Mann – Immanenz ist sie,
Transzendenz er. Auf diese Weise wurde Sexismus ein Grundbestandteil
von Weißsein und der entsprechenden Pädagogik.
Indem ich mich im Geschlechterverhältnis als abgewertet erfuhr, wuchs
mein Wunsch nach Anerkennung. Ich wollte, dass meine Kollegen begreifen
und wertschätzen, was ich denke und schreibe. Es hat eine erhebliche Weile
gedauert, bis ich begriff, dass dieser Wunsch meine Energien
(selbst)entfremdend und -unterwerfend bindet, dass ich damit in eine Falle
laufe. Diese Falle erlebe ich als exemplarisch für das weiße
Wissenschaftssystem. Sie produziert minorisierte, ungehörte Stimmen auf
allen Hierarchieebenen. Und solange ich nicht minorisiert sein will,
identifiziere ich mich mit der Macht, die Andere minorisiert und minorisiere
so selbst.[34]
KINDHEIT
Die Trennung von Produktion und Reproduktion verändert auch die
euroamerikanische Kindheit. Als Normkind ist in nahezu allen
aufklärerischen Erziehungsschriften mit geringem Aufwand und wenig
überraschend der weiße, bürgerliche, gesunde Junge auszumachen. Kinder
waren an der gemeinsamen produktiven Arbeit schlussendlich nicht mehr
beteiligt[35] und ihr Heranwachsen machte sie so eher zu ›passiven Opfern
elterlicher Beeinflussung‹.[36] Auch im neuen Kindheitsverständnis wird
die herrschaftsbeanspruchende Grunddichotomie Kultur : Natur tragend.
Kinder sind noch Natur, folglich in diesem Verständnis noch keine
Menschen, müssen erst durch Erziehung zu Menschen gemacht werden.
Kant: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts
als was die Erziehung aus ihm macht.«[37]
Die gleichen Verrohstofflichungsstrategien wie gegenüber der Natur
setzen ›wir‹ gegenüber ›den‹ Kindern ein: Distanzierung
(Erziehungsgewalt), Entmoralisierung (Kinder verfügen über keinen Eigen-
Sinn mit der Folge der Diskreditierung des Eigen-Willens),
Entsakralisierung (Entzauberung des Wunders des Lebens) und
Dynamisierung (im Sinne von Kulturalisierung). Die unterstellte
Notwendigkeit, aus Kindern erst noch Menschen machen zu müssen,
rechtfertigt eine Verpflichtung zu pädagogischem Handeln, mit dem Ziel
der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und ›Moralisierung‹. So
entsteht in Europa die paradoxe Situation, dass die historische Neuheit,
Kindheit als eigenständige Phase zu begreifen, mit der Hinwendung
zugleich als enteignender Übergriff erfolgt.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der mehrheitlich noch davon
ausgegangen wurde, dass bei kleinen Kindern der Trotz gebrochen werden
muss, und m.W. spricht man auch heute noch von der so genannten
Trotzphase anstatt von einer Zeit, in der Kinder ihren Weltzugang auf neue
Weise erproben. Ich kann mich nicht erinnern, ob das auch das Programm
meiner Eltern war. Sehr wohl aber kenne ich den Spruch: »Kinder mit ’nem
Willen kriegen ›was auf die Brillen‹!« Dadurch wurde mir eine tendenzielle
Unterscheidungsunfähigkeit zwischen Eigen-Willen und Willen zur Macht
beigebracht, die ich bei meinen eigenen Kindern erst mühsam loswerden
wollte. Und nur sie können sagen, ob und wie weit mir das gelungen ist.
Durch die Diskreditierung meines Eigen-Willens und dessen bipolare
Positionierung zum Willen zur Macht meiner Erziehungsinstanzen wurde
aus meiner eigenen Bewegung definitionsmächtig eine Gegenbewegung und
ein ungleicher Machtkampf. Vor allem aber entstand bei mir ein
Verwirrknäuel zwischen Eigenem und Oktroyiertem, und das halte ich für
typisch für die Erziehung in der weißen Dominanzkultur. Es passt gut zum
Programm der (Selbst)Entfremdung.
Eine kaum zu überschätzende Folge davon ist, dass die auf Zukunft
gerichtete Dynamisierung das gegen-wärtige Sein des Kindes, sein Hier und
Jetzt entwertet.[38]
Eine Verbindung zum Weißsein des erzieherischen Zugriffs ist nicht nur
über das Normkind gegeben. Ganz entscheidend ist auch, was Treml die
›Entdeckung‹ der »Einheit der Differenz von Mensch und ›Wilder‹, von
Mensch und ›Kind‹« nennt.[39] Das Kind wurde zum internen Wilden, und
der zivilisatorische Übergriff gegenüber dem externen Wilden ging der
Eroberung des Kindes voraus.[40] Beide – Kind und Wilder – sind
Antonyme für das, wofür der Mensch sich hält. Sie sind nicht nur über die
Kultur : Natur-Dichotomie verbunden, sondern ebenso über den
Erkenntniszugriff und eine Zeitachse.[41] Während ›das (männliche) Kind‹
in Zukunft ein Mensch sein wird, symbolisiert der Wilde in der gleichen
Logik eine Vergangenheit des Menschen. Gemeinsam ist dieser
verzeitlichenden Zuordnung ein hierarchisierendes Stufendenken in der
weißen Erziehungswissenschaft.[42] Besonders in ›unserem‹
euroamerikanischen Entwicklungsverständnis – bezogen auf Individuen
und Kollektive gleichermaßen – wird dies erkennbar.[43]
Das Noch-nicht-Mensch-sein und das mit ihm verbundene
Entwicklungsdenken findet auch seinen Ausdruck in einer zentralen
Kategorie europäisch-emanzipatorischer Pädagogik, jener der Mündigkeit.
[44] ›Wir‹ haben sie mit der nämlichen hierarchischen Opposition versehen,
die für das neuzeitliche weiße Denken charakteristisch ist: Erwachsener =
mündig, Kind = unmündig.[45] ›Wir‹ haben sie damit – hinterrücks – zum
Entmündigungskonzept gemacht. Indem es ›uns‹ u.a. darum geht, das Kind
mündig und redefähig zu machen, missachten ›wir‹ seine vorhandenen,
eigen-sinnigen Stimmen (die der Laute, Mimik und des Körpers), entwerten
sie bestenfalls zu Vorstufen einer angestrebten ›Vervollkommnung‹,[46]
ihre Angewiesenheit wird zum Defizit. Diese Art von Verzeitlichung und
hierarchisierendem Stufenmodell impliziert, dass der Mensch, und damit
›wir‹ weißen ErziehungswissenschaftlerInnen keine Zeitgenossenschaft
außerhalb ›unseresgleichen‹ kennen können.[47] Als zeitliche Antonyme
leben Andere entweder in meiner Vergangenheit oder Zukunft. In ›unserer‹
so gestalteten (erziehungs)wissenschaftlichen Diskurslandschaft dominieren
sterile, monokulturelle, herrschaftliche Selbstgespräche.

SOZIALCHARAKTER
Im disziplinierenden Zugriff auf das Kind wiederholen ›wir‹ an ihm, was
›uns‹ Erwachsenen zur Einordnung in die neuen Produktionsverhältnisse
abverlangt wurde. Sowohl von den Herrschenden als auch den abhängig
Arbeitenden erfordern die industriekapitalistischen Produktionsverhältnisse
Verhaltensveränderungen. Die notwendige Neuformung des
Sozialcharakters erfolgt über Disziplinierung und/oder
Selbstdisziplinierung. Sekundärtugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit,
Sauberkeit und Fleiß werden – zur Not mit Gewalt (Zucht-, Arbeits-, Irren-,
Waisenhäuser), die mögliche Vernichtung einschließt – durchgesetzt. Auch
in diesem Prozess greift die Kultur:Natur-Dichotomie. Die Unangepasstheit
an die neuen Produktionsverhältnisse (Natur) muss durch die Eintreibung
und Internalisierung der Sekundärtugenden gebändigt werden. Es geht
darum, dass ›wir uns‹ die Entfremdung vom Eigen-Sinn zu eigen machen.
Auf diesem Wege erfolgt das, was Identifikation mit dem Aggressor genannt
wird; und das wird zu einer der Grundsäulen von weißer Erziehung und
Erziehungswissenschaft.[48] Dies gilt auch heute noch, ist nur besser
verschleiert.[49] Insofern ist der Terminus Schwarze Pädagogik (Katharina
Rutschky) für diese Zurichtungsdisziplin nicht nur ein einfacher
rassistischer Rückgriff auf die Farbsymbolik weiß = gut, Schwarz = böse.
Wahrscheinlich ist ein wesentlich tiefer greifender Mechanismus, mit dem
es ›uns‹ als SprecherInnen darum geht, das eigene Unerträgliche möglichst
weit weg zu delegieren, und das geht am effektivsten in einer Täter-Opfer-
Umkehr; denn: die so genannte Schwarze Pädagogik ist nachweislich
›unsere‹ eigene weiße Pädagogik.

SCHULE
Eine weitere Spur, der ich folge, ist der Zusammenhang zwischen den
veränderten Produktionsverhältnissen, der daraus folgenden
außerhäuslichen Erwerbstätigkeit des Mannes und der nun nur noch
begrenzt möglichen häuslichen Erziehung durch den Vater. Sie führt
schlussendlich dazu, dass man das bürgerliche Schulwesen und später auch
die Volks- und Industrieschulen als väterliche Erziehungsdelegation an
Vater Staat bezeichnen kann. Auch dies ist ein über längere Zeit sich
hinziehender Vorgang. Indem in Preußen-Deutschland, das als ›Muster‹ für
die Schulentwicklung der deutschen Länder gelten kann, die schulische
Erziehung als staatliche Aufgabe begriffen wurde, rückt das
Nationalstaatskonstrukt und seine »Weißheit«[50] in den Blick. Ich greife
hier nur jene Aspekte eines komplexen Vorgangs stichwortartig auf, die
darauf verweisen, dass das Konstruktionsprinzip des Nationalstaates auf
einer mindestens zweifachen Bewegung beruht. Der europäische
Nationalstaat gründet auf Ein- und Ausschluss und auf interner
(Zwangs)Homogenisierung, u.a. mit dem Ziel einer nationalen
Identitätsbildung. Dabei bilden Vorder- und Rückseite in diesem Prozess
eine Art Vexierbild. Die Vorderseite ist, dass die »Kapitalistischen
Nationalstaaten […] die Individuen als freie und gleiche Marktteilnehmer
und Staatsbürger (anrufen), […] und sie gleichsam rückseitig als
Angehörige eines Geschlechts und einer Nation, bzw. einer Ethnie oder
einer Kultur […] vergemeinschaften.«[51]
Über Ein- und Ausschluss regeln ›wir‹, wer dazu gehört und wer nicht.
Eine interne (Zwangs)Vereinheitlichung vollziehen ›wir‹ meist über das
Merkmalsduo Herkunft (in Deutschland lange ›Bluts‹Herkunft) und
Sprache der dominanten Gruppe. Regionale und kulturelle Differenzen
werden von ›uns‹ in diesem Vereinheitlichungsprozess ›provinzialisiert‹,
proletarisiert, exotisiert etc. und immer auch wieder vernichtet,[52] d.h.
›wir‹ grenzen nicht nur extern, sondern auch intern aus. Dies alles ist
zugleich Grundlage und Ausdruck des europäischen Nationalstaats, dessen
prototypischer Angehöriger historisch der weiße, bürgerliche, besitzende,
heterosexuelle, gesunde Mann ist. Weiße Vorherrschaft ist also kein
Nebenaspekt dieses Nationalstaates, sondern inhärenter Bestandteil.[53]
Dies erklärt auch, warum ›wir‹ im Homogenisierungsprozess zugleich
versuchten, die außereuropäischen ›multikulturellen‹ historischen
Realitäten Europas zu leugnen und/oder zu kappen.[54]
Die lange Zeit gültige und in Deutschland noch nicht restlos aufgelöste
Verbindung von Thron und Altar verweist auf ein anderes Moment. Nahezu
alle europäischen Nationalstaaten begreifen sich als christlich.[55]
Zusammen mit dem weißen homogenisierenden Nationalstaatsverständnis
bildet dies ein antijüdisches und in der Radikalisierung antisemitisches und
antiislamisches Amalgamat,[56] das auch auf Erziehung und
Erziehungswissenschaft nicht ohne Einfluss blieb.[57]
Erziehung als staatliche Aufgabe und eine auf sie bezogene
Erziehungswissenschaft sind an diesem identitätsstiftenden Projekt
beteiligt, einschließlich der es mitbestimmenden Homogenisierungen und
Ausgrenzungen. Für Deutschland ist damit auch erklärbar, warum
Lehrer/innen Beamte, also Staatsdiener sind und entsprechend nur von
deutschen Staatsbürgern mit Abstammungsnachweis gestellt werden
durften/dürfen.

WIE UND WARUM?


Wichtige, im knappen Rück-Blick deutlich werdende
Entstehungsbedingungen und Elemente der neuzeitlichen weißen
Erziehungswissenschaft wirken vordergründig alles andere als einladend,
außer für ZynikerInnen. Wie und Warum funktioniert dieses hegemoniale
System? Welche Antworten führen zu einem genaueren Bild, ohne dass ich
als Weiße in die Ausweichbewegung gehe: »Ich leide so unter meinen
Privilegien«?[58]
Da ist zunächst die Unmarkiertheit/Unsichtbarmachung von Weißsein.
[59] In der Regel vollziehen ›wir‹ die Unsichtbarmachung – auch in der
Erziehungswissenschaft – als (ausgrenzende) Maskerade, etwa jener der
Universalität[60] und damit auch als Selbstbetrug.[61] Die einschlägigen
Lehrbücher nennen ›wir‹ eben nicht »Einführung in eine weiße,
eurozentrische Pädagogik«, sondern in aller Regel, mit totalitärem
Anspruch,[62] »Einführung in die Allgemeine Erziehungswissenschaft«
u.ä. Würden ›wir‹ diese Texte mit ehrlichen Überschriften versehen, würden
›wir‹ die Nichtmitgemeinten nicht unter der Hand zur geistig-seelischen
(Selbst)Vergiftung nötigen.[63] Eine andere Variante der
Unsichtbarmachung durch die Nutzung des einseitig durchsichtigen
Spiegels erfolgt, indem wir Weißen nicht nur ›uns‹ selbst unmarkiert lassen,
sondern alles andere markieren, und auf diese Weise unmarked marker
sind.[64]
Deutlich wird dies in den Erziehungswissenschaften etwa in der
Kompetenzanmaßung durch ›uns‹ weiße deutsche WissenschaftlerInnen
und ›unserer‹ Kompetenzzuweisung an solche ›mit Migrationshintergrund›.
Während ›wir‹ in der Regel Kompetenz für alle Herkunftsgruppen
beanspruchen, gestehen ›wir‹ WissenschaftlerInnen ›mit
Migrationshintergrund‹ in der Regel nur eine Kompetenz für die ›eigene
Gruppe‹ zu.[65] Und auch da geraten Letztere nicht selten unter Verdacht,
selbst zu betroffen zu sein, also nicht stramm genug vor dem Spiegel zu
sitzen. ›Unsere‹ Kompetenzanmaßung und deren Folgen führen dazu, dass
Weißsein in der vorherrschenden (Allgemeinen) Erziehungswissenschaft
kaum untersucht wird,[66] und das hat System.
Ver-rückterweise können ›wir‹ eine solche Verhüllung auch mit einer als
antirassistisch begriffenen Erziehungswissenschaft vornehmen, und zwar
über eine mindestens zweifache Bewegung. Einmal greift hier die bereits
erwähnte Oppositionskonstruktion zwischen guten und bösen Weißen, in
der ›wir‹ insbesondere ›unsere‹ strukturell privilegierte Position als Gute
dethematisieren.[67] Und ›wir‹ vollziehen sie über eine ›Solidarisierung‹
mit den Markierten, hinter denen ›wir uns‹ jedoch auf diese Weise
verstecken.[68] Ich kann also auch – als eine Möglichkeit der Abwehr –
versuchen, mich über eine Identifikation mit den ›Opfern‹ in Sicherheit zu
bringen.[69] So, auf der ›richtigen‹ Seite, muss ich mir selbst nicht auf die
Spur kommen.[70]
Wenn ich meinen eigenen Erfahrungen nachgehe, weiß ich, dass nicht
eingestandene Scham zu einer solchen identifizierenden
Übersprungshandlung führen kann. Und als ich die Scham zu spüren
begann, wurde mir klar, dass ich mich als Weiße nicht auf meine Gefühle
verlassen kann. In dem Zurichtungsspruch »Schäm Dich!« oder »Du
solltest Dich was schämen!« ist mir die Tendenz mitvermittelt worden,
diesem Gefühl auszuweichen, und nicht jene, ihm nachzugehen.
Eine weitere Form von Abwehr nehmen ›wir‹ über eine
Vereindimensionalisierung der Ursachen für weiße Dominanz, derzeit meist
im ›Kulturellen‹ (vgl. Pisa-Studien) vor, anstatt die ökonomischen,
politischen und sozialen Zusammenhänge – um nur die wichtigsten zu
nennen – herauszuarbeiten.[71] Auf diese Weise können ›wir‹ die
Ausgrenzung in die Ausgegrenzten verlagern. Ähnlich wirkt auch ›unser‹
Normalitätsdenken.[72] Macht, die ›wir‹ über Normalität besitzen, nehmen
›wir‹ oft nicht wahr; umso stärker nehmen es die wahr, die über ›unsere‹
herrschaftssichernden Abspaltungen denormalisiert und ausgegrenzt
werden. Unterfüttert wird dies durch die in Bildungsveranstaltungen/-
seminaren durchgängig zu machende Erfahrung, dass ›wir‹ Unrecht, das
›wir‹ anderen zufügen, kaum, eigene Unrechtserfahrungen hingegen
deutlich erkennen und fühlen.[73]
Spaltung als eine der herrschaftsversprechenden und -sichernden
Aneignungs- und Abwehrstrategien liegt auch einem der zentralen Ziele
weißer westlicher Erziehung zugrunde: ›Zivilisierung‹. In diesem Ziel
verschweigen ›wir‹ die zerstörerische Seite des ›Prozesses der Zivilisation‹,
und zwar bis in die Alltagssprache hinein nachweisbar.[74] Historisch
faktisch gehören ›Zivilisieren‹ und Zerstören zusammen, auch, wie gezeigt,
in der Herausbildung der weißen Erziehungswissenschaft. Unbewusst
machen ›wir‹ mit dieser Trennung, dass ›Zivilisation‹ u.a. Ausdruck
›unserer‹ Angst vor ›unseren‹ eigenen ›irrationalen‹, nicht
herrschaftsfähigen Anteilen ist. In diese Angst werden ›wir‹ als Weiße
hineinsozialisiert, und ›wir‹ versuchen, sie über ein inneres ›Herr-Knecht-
Verhältnis‹ selbstdisziplinierend unter Kontrolle zu bringen bzw. zu halten:
eindeutig ein Kontroll-Sucht-System.
Ich kenne die Stimme in mir, die Ausdruck meiner Angst vor
Kontrollverlust etwa bei querliegenden Seminarthemen oder Arbeitsformen
war/ist. Und was nun? Wie weiter? – und auf Antwort drängt. Weißsein
heißt u.a., mit dem Anspruch herumzulaufen: Alles unter Kontrolle. Dabei
ist alles aus dem Ruder. Es war wie eine Kapitulation, als ich nach und
nach merkte, dass ich keine normalen erziehungswissenschaftlichen
Lehrveranstaltungen (mehr) anbieten kann, wenn ich nicht mich und die
Studierenden ver-rückt machen will. Ich benötige auch für mich eine
Erkenntnisbewegung, mit der ich mir auf die Spur kommen kann und
vielleicht auch Studierende sich auf die Spur kommen können –
insbesondere in den herrschaftlichen Verstrickungen. Ich wollte mich auf
das einlassen, was Gerhard Vinnai, die hegemoniale Sicht hineinnehmend,
»die Katastrophen der Befreiung« nennt.[75]
Da ›uns‹ die Kontrolle kaum gelingen kann, wird weiße
Erziehungswissenschaft auf diesem Wege eines der
(Re)Produktionsinstrumente für ›unsere‹ vagabundierenden Ängste aber
auch Sehnsüchte, u.U. gepaart mit Wut auf diejenigen, die wir projektiv als
weniger entfremdet als ›uns‹ selbst wahrnehmen. ›Wir‹ heften dies
externalisierend an jene, die ›wir‹ eigentlich abspaltend von ›uns‹
weghalten. Anstatt diese Gefühle auf ›uns‹ zurückzulenken und damit zu
beginnen, ›unsere‹ kalte, gewalttätige und -haltige, mitleidslose
Gesellschaft – und sei es auch nur punktuell – verändernd zu gestalten,
ernähren ›wir uns‹ vampiristisch auf Kosten anderer. Dabei kannten/kennen
›wir‹ nahezu alle in ›uns‹ eigene minorisierte Stimmen, die – wenn
wenigstens ›wir‹ selbst ihnen zuhören – verlässlicher werden können, als
die entfremdete Herrschaftsstimme.[76] Da im inneren ›Herr-Knecht-
Verhältnis‹ die Kontrollinstanz – in meinem Fall die
Wissenschaftskommunität – bereits in mir ist, ist es allerdings im ersten
Schritt mit der Angst vor der »Zerstörung wesentlicher Anteile des eigenen
Selbst« verbunden, wenn ich mich von dem Herrn in mir befreien will.[77]
Ohne meine Freundinnen, die mich kritisch und unterstützend
herausfordern und begleiten (Danke), hätte ich möglicherweise meiner
Angst vor Einsamkeit nachgegeben. Im Dialog mit ihnen hat sich für mich
die Notwendigkeit (darf im Wortsinne verstanden werden) verschärft, dass
es um ›unsere‹ eigenen Aufgaben geht: bei ›uns‹ selbst zu gucken, dort
endlich ‘mal den Mund zu halten, wo ›wir uns‹ bisher angemaßt haben und
immer noch anmaßen, etwas zu verstehen, wo es ›uns‹ eigentlich um
Definitionsmacht geht, ›uns‹ auf Augenhöhe ansehen zu lassen und das
Entsetzen über ›uns‹, das dann unabweisbar ist, nicht abzuweisen.

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ANMERKUNGEN
1 Zur zweifachen Erkenntnisbewegung vgl. Lühe: Fallanalyse.
2 ›Uns‹ und ›wir‹ setze ich in Anführung, wenn ich ausschließlich ›uns‹ Weiße meine.
3 Vgl. Bahl & Dirlik: »Introduction«, S. 3.
4 Vgl. Behdad: »Pratique Sauvage«.
5 Vgl. Birt: »Bad Faith of Whiteness«, S. 54-56.
6 Es sind m.E. versuchte Enteignungen, weil es hegemoniale Allmachtsphantasien sind, wenn ich
davon ausgehe, eine Enteignung könne mir (meist) vollständig gelingen. Dafür sprechen u.a.
auch ›unsere‹ schier endlosen assimilatorischen aber auch ausgrenzenden Kontrollsysteme mit
z.T. paranoischer Zuspitzung.
7 Vgl. Birt: »Bad Faith of Whiteness«, S. 58.
8 Vgl. Albrecht-Heide: »Friedensunfähigkeit«, S. 207.
9 Vgl. Rieder-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel, S. 45-46. Diese Kritik an europäischer
Pädagogik/Erziehungswissenschaft wurde jedoch eher nicht mit ihrem Weißsein
zusammengedacht (vgl. früh anders: Jouhy: Bleiche Herrschaft und neuerdings ausführlich
Canella: Childhood and Postcolonization).
10 Um keine Missverständnisse zu provozieren: Dies schließt weiße Frauen als Akteurinnen ein.
Ich bewege mich als Gewinnbeteiligte im hegemonialen System.
11 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens.
12 Vgl. Ders.: Überwachen und Strafen, S. 251-271.
13 Vgl. ebenda, S. 257.
14 Vgl. Kappeler: Macht der Darstellung.
15 Vgl. Foucault: »Wahrheit und Macht«.
16 Vgl. Ders.: »Historisches Wissen«.
17 Vgl. Mitchell: »Welt als Ausstellung«, S. 151.
18 Reinheit ist eines der einzuhaltenden, auf Dichotomien gestützten Gebote einer weißen
Wissen(schaft)skultur (vgl. u.a. Said: Kultur und Imperialismus, S. 30 u. 51-56).
19 Vgl. u.a. Kaplan: »The ›Look‹ Returned«.
20 Vgl. auch Fischer-Lichte: »Rite de Passage«, S. 311.
21 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257
22 Das Irritierende bleibt, dass es unter den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen in
meiner Hand liegt, ob ich diese Querbewegung mache. Deutlich ist damit allerdings auch meine
Verantwortung. Zum Elend der Autonomie vgl. Albrecht-Heide: »Friedensunfähigkeit«, S. 216-
217.
23 Vgl. Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 4.
24 Im dekonstruktiven Verständnis geht es u.a. nicht um eine Wahrheitsfrage, etwa: Wie ist die
Natur wirklich? Vielmehr geht es um eine Verantwortungsfrage: Wofür übernehme ich mit
meinem je spezifischen Verständnis von Wirklichkeit die Verantwortung? (vgl. u.a Holland-
Cunz: Soziales Subjekt Natur).
25 Vgl. Treml: Allgemeine Pädagogik, S. 91-96.
26 Vgl. ebenda, S. 92-95.
27 Modelmog: Die zwei Ordnungen, S. 9.
28 Vgl. Horkheimer & Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 15.
29 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 8.
30 Vgl. u.a. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Gstettner: Eroberung des Kindes, Mallet:
Untertan Kind, Münch: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, Todorov: Eroberung Amerikas.
31 Dieses Weiterwirken in ›uns‹ Tätervölkern interessiert mich vor allem in meiner
Auseinandersetzung mit weißer Erziehungswissenschaft. Zum Weiterwirken bei den
überfallenen und ausgeraubten Völkern insbesondere Fanon: Die Verdammten dieser Erde; und:
Ders.: Schwarze Haut, weiße Masken.
32 Vgl. u.a. Cleaver: »Antidemocratic Power of Whiteness«.
33 Mit vergleichbaren projektiven Delegationen bewegen ›wir uns‹ bei nahezu allen anderen
neuzeitlichen, hierarchischen Oppositionen. Diese Abspaltungen dienen vorrangig ›unserem‹
Versuch, Herrschaftsfähigkeit zu sichern, denn abgespalten wird das Schwache, Weiche,
Fließende, Passive, Friedliche, Chaotische, Wilde, Spirituelle etc. (vgl. u.a. Keller: Liebe, Macht
und Erkenntnis, S. 68-72).
34 Zum qualitativen Verständnis von Minorisieren vgl. Chakrabarty: »Minority histories«.
35 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 87.
36 Vgl. Vinnai: Elend der Männlichkeit, S. 205.
37 Kant: »Über Pädagogik«, S. 699.
38 Diese radikale Entwertung wird jedes Mal vorgenommen, wenn eine/r sagt, dass die Kinder
unsere Zukunft seien (vgl. dagegen Janusz Korczaks Gedanke vom »Recht des Kindes auf den
heutigen Tag«).
39 Treml: Allgemeine Pädagogik, S. 97, Hervorh. i. O., vgl. auch Gstettner: Eroberung des Kindes,
S. 85.
40 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 15
41 Vgl. Fabian: Time and the Other.
42 Stufendenken durchzieht nahezu alle neuzeitlichen Mainstream-Wissenschaften.
43 Vgl. Park: »Postcolonial Studies«, S. 43-44; dies.: »Postcolonial Critique und
Identitätskonstrukte«.
44 Vgl. Rieder-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel.
45 Vgl. ebenda, S. 248-249.
46 Vgl. ebenda, S. 248.
47 Vgl. Fabian: Time and the Other, bes. S. 25-35.
48 Vgl. u.a. Gruen: Verrat am Selbst; Miller: Am Anfang war Erziehung.
49 Vgl. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 117.
50 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß.
51 Naumann: »Das umkämpfte Subjekt«, o.S.
52 Vgl. Albrecht-Heide: »Alltagsgewalt«.
53 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß, S. 81-82.
54 Vgl. u.a. Nederveen Pieterse: »Unpacking the West«.
55 Das Christentum kam in eine Vielzahl dieser Staaten – Deutschland eingeschlossen – durch
Zwangsmissionierung und -taufen. Die hierin enthaltene Gewalt wurde vermutlich nicht nur
durch den Deutschen Ritterorden (Richtung Osten) und die Kreuzzüge weitergegeben.
Möglicherweise wurde das Selbsterlittene auch in der den Kolonialismus vorbereitenden,
unterstützenden und begleitenden christlichen Missionierung gelebt – auch in der internen
Mission im »Mutterland«. Wie sich diese Gewalt bis heute auf »die« Kirchen auswirkt, ist m.W.
kaum untersucht (vgl. u.a. Paczensky: Teurer Segen).
56 Vgl. Holz: »Die Figur des Dritten«.
57 Zu einem wichtigen Unterschied zwischen »normalem« weißen Rassismus und Antisemitismus
vgl. ebenda. In ihrer Radikalität ist Weißheit antisemitisch. Es gibt keine militante Gruppe mit
dem Ziel weißer Vorherrschaft, die nicht explizit antisemitisch ist. Ich halte das für die Spitze
des Eisberberges.
58 Mit dieser Abwehrbewegung klage ich über die Last meiner Privilegien, ohne sie in einer sie
infragestellenden Politisierung anzugehen. Allerdings liegt dieser Klage immerhin eine
mögliche abgedrängte Ahnung zugrunde, dass ich die Privilegien u.a. nur erlangen konnte, weil
mir meine mich herrschaftsfähig machende, abschneidende Selbstzurichtung gelungen ist (vgl.
Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 40-41) und weil ich von den mörderischen Raubzügen von
uns Weißen historisch und aktuell profitiere.
59 Vgl. u.a. Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 6; Dies.: »Local Whiteness«, S. 1.
60 Vgl. u.a. Montag: »The Universalization of Whiteness«; Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 1.
61 Vgl. Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 1.
62 Vgl. Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 61.
63 Vgl. Schwarzbach-Apithy: »Migration«, S. 9.
64 Vgl. Frankenberg: »Local Whiteness«, S. 1.
65 Vgl. Wachendorfer: »Soziale Konstruktionen von Weiß-Sein«, S. 52.
66 Vgl. u.a. Frankenberg: »Local Whiteness«, S. 1.
67 Vgl. u.a. Melber: Der Weißheit letzter Schluß, S. 58; Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 4.
68 Vgl. u.a. Clark: »The Secret«; Christine Clark arbeitet mit der u.a. die Strukturen in Rechnung
stellenden Unterscheidung von ›Antirassist‹ (Wunsch/Irrtum oder Lüge) und ›antirassistischer
Rassist‹ (ebenda u. vgl. u.a. auch Wildman & Davis: »Making Systems of Privilege Visible«, S.
317-318).
69 Vgl. Rommelspacher: »Rassismus und Antisemitismus«, S. 9.
70 Vgl. Albrecht-Heide: »Alltagsgewalt«, S. 143-144.
71 Vgl. Dirlik: »Is there History after Eurocentrism?«, S. 30.
72 Wie aus einer quantitativen Größe eine qualitative Norm wird, dazu vgl. Link: Versuch über den
Normalismus.
73 Vgl. Thürmer-Rohr: »Wir und die Anderen«, S. 136-141.
74 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1 u. 2; Foucault: Überwachen und Strafen,
bes. S. 173-291.
75 Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 41.
76 Vgl. Gruen: Verlust des Mitgefühls, S. 19.
77 Vgl. Schwarzbach-Apithy: »Erziehung zur Unmündigkeit«, S. 6.
KATHARINA SCHRAMM
WEIßSEIN ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND.
METHODENREFLEXION UND ›NEUE FELDER‹ IN DER
ETHNOLOGIE

EINLEITUNG
[T]he culturally defined locations to which ethnographies refer
[…], which often come to be identified with the groups that
inhabit them, constitute the landscape of anthropology, in which
the privileged locus is the often unnamed location of the
ethnographer. Ethnography thus reflects the circumstantial
encounter of the voluntarily displaced anthropologist and the
involuntarily localized ›other‹.[1]

Diese Analyse der gängigen ethnografischen Praxis, die 1988 vom indisch-
amerikanischen Ethnologen Arjun Appadurai formuliert wurde,
kennzeichnet eine wichtige Schnittstelle zwischen den Critical Whiteness
Studies und den neueren Methodenreflexionen in der Ethnologie. Beide
Ansätze fokussieren auf die strukturelle Verknüpfung von Wissen und
Macht, durch die die Privilegierung einer weißen hegemonialen
Subjektposition bedingt und aufrechterhalten wird. Zugleich kritisieren sie
die scheinbare ›Neutralität‹ und den Universalitätsanspruch, mit denen
Weiße (und insbesondere weiße WissenschaftlerInnen) ihre eigene
Positioniertheit innerhalb gesellschaftspolitischer Machtgefüge negieren.
Zwar geht Appadurai nicht explizit auf Weißsein ein, aber er benennt sehr
klar die vorherrschende westliche Dominanz innerhalb der Ethnologie, die
dem kritischen Austausch über die Konstruktion (und die notwendige
Dekonstruktion) der so genannten ›anthropological locations‹ bisher
entgegensteht. Die Tatsache, dass die westeuropäische und amerikanische
Ethnologie darüber hinaus nach wie vor überwiegend von weißen
WissenschaftlerInnen praktiziert wird,[2] verdeutlicht die Notwendigkeit
einer grundlegenden Hinterfragung ethnologischer Forschungsprämissen.
Bis in die 1960er Jahre hinein galt die Dyade von westlichem (in der
Regel weißem) Forschersubjekt und dem kulturell ›Anderen‹ als gänzlich
unangefochtene Grundannahme der Ethnologie.[3] Zudem wurde davon
ausgegangen, es sei möglich (und legitim), dieses ›Andere‹ in seinem
Wesen zu erkennen und wissenschaftlich zu interpretieren, wenn auch
verschiedene ethnologische Schulen (vom Evolutionismus des 19.
Jahrhunderts bis hin zum Strukturfunktionalismus) divergierende
Auffassungen über den dafür bestgeeigneten Zugang vertraten. Kritik am
Paradigma dieser westlichen panoptischen Perspektive wurde erst von
ForscherInnen aus den ehemaligen Kolonien formuliert,[4] die die
institutionelle wie diskursive Einbettung der Ethnologie in koloniale
Strukturen aufzeigten und deren Fortwirken im liberalen wissenschaftlichen
Selbstverständnis thematisierten – eine Kritik, die das Fach grundlegend
erschütterte und zunehmend transformierte. In den 1980er und 1990er
Jahren entstanden zahlreiche Arbeiten, die den Zusammenhang von Wissen
und Macht und der Hierarchie (bzw. Hierarchisierung) der
Subjektpositionen im Forschungs- wie im Schreibprozess thematisierten.
Allerdings wurde hier nur bedingt auf die Thematik des Weißseins
eingegangen, die doch eine wichtige Grundlage für die kritische Analyse
von Herrschaftsdiskursen darstellt.
In meinem Beitrag möchte ich daher die Entwicklung der Ethnologie
gerade in Bezug auf den Topos des Weißseins untersuchen. Ausgehend von
der historischen Genese des methodologischen Paradigmas der
Feldforschung werde ich die extrem problematische Verquickung von
Ethnologie und weißer Hegemonie nachzeichnen. Während ich im
Hauptteil des Artikels auf die koloniale Verortung der Ethnologie eingehe,
werde ich am Ende versuchen, auf mögliche Perspektiven zu verweisen, die
für mich mit der Bewusstmachung meines eigenen Weißseins als
gesellschaftlichem Standpunkt im Forschungsprozess einhergehen.

ETHNOLOGIE ALS KOLONIALWISSENSCHAFT


Die Ursprünge der Ethnologie sind auf das Engste mit der westlichen
Expansions- und Kolonialgeschichte und der Wissenschaftstradition der
Aufklärung verbunden. Es waren in erster Linie Anthropologie, Biologie
und Philosophie sowie die Popularisierung der hier debattierten Themen in
der zeitgenössischen Reise- und Abenteuerliteratur, die maßgeblich an der
Produktion von »racial knowledge«[5] mitwirkten und damit die Ideologie
einer weißen europäischen Gesellschaft zutiefst prägten. Hier wurde die
rassifizierte Differenz zum grundlegenden Prinzip einer taxonomischen
Weltordnung erhoben, durch die ein weißes Selbst konstruiert wurde, das
sich in Abgrenzung zu einer Vielzahl von objektifizierten ›Anderen‹
definierte. Dabei wurde in manichäistischer Manier eine ›natürliche‹
Hierarchie der ›Rassen‹ proklamiert, an deren Spitze der weiße Europäer[6]
stand: rational, aufgeklärt, beherrscht; und an deren unterem Ende
Schwarze platziert wurden: irrational, abergläubisch, sexuell promisk und
kannibalisch – ausgestattet mit all jenen Negativattributen, von denen sich
das weiße Subjekt abgrenzen wollte.[7]
Dieser Prozess der Benennung und Fixierung der kulturell ›Anderen‹,
einhergehend mit deren ›rassischer‹ (und rassistischer) Hierarchisierung
diente vor allem der Stützung eines europäischen Herrschaftsanspruches
und der Rechtfertigung des kolonialen Unterfangens. Bereits mit der
Kolonisierung Amerikas wurde den Einheimischen ihr Menschsein
abgesprochen, um die Eroberung des Kontinents zu legitimieren[8] – eine
Tendenz, die im System der Plantagenwirtschaft, das auf der Versklavung
und Ausbeutung afrikanischer Arbeitskräfte beruhte, weiter verstärkt
wurde.
Nach der Abschaffung des Sklavenhandels Mitte des 19. Jahrhunderts
folgte eine zweite Welle der Kolonisierung, die von einer Ideologie der
»white man’s burden« untermauert wurde. Die rassistischen Kategorien
blieben aufrechterhalten, nur die Zukunftsprojektion änderte sich: Der
Unterschied zwischen den EuropäerInnen und den ›Anderen‹ galt nicht
mehr als kategorisch, sondern es wurde nunmehr von der »civilising
mission« gesprochen, durch die Letztere nach und nach auf den Stand der
europäischen ›Zivilisation‹ gebracht werden könnten. Dies implizierte
jedoch keineswegs eine Aufhebung der Rassenhierarchie, sondern der
Maßstab für ›Zivilisation‹ und ›Fortschritt‹ war europäisch und die
Behauptung der Überlegenheit der weißen Kultur wurde weiterhin
perpetuiert. Darüber hinaus wurden unter dem Vorwand der ›civilizing
mission‹ zahllose Verbrechen verübte, die bis zum Genozid reichten, was
die Ideale von ›Aufklärung‹, ›Moderne‹ und ›Zivilisation‹ vollends zur
Farce gerinnen ließ.
In der Ethnologie, die im 19. Jahrhundert bereits als eigenständige
Disziplin etabliert war, fand diese Auffassung in der so genannten
evolutionistischen Schule Widerhall. Deren Vertreter gingen von einer
grundsätzlichen psychischen Einheit der Menschheit aus, wobei jedem
Menschen im Prinzip das gleiche Potential innewohnte – eine Sichtweise,
die sie zunächst vom offenen Rassismus ihrer Zeit unterschied. Ihr eigener
Rassismus war subtiler: Sie vertraten die Ansicht, bei den weltweit
existierenden Kulturen, die als holistische Konfigurationen begriffen
wurden, handele es sich um unterschiedliche Entwicklungsstufen der
menschlichen Gesellschaft, die von der ›Wildheit‹ zur ›Zivilisation‹
voranschreite.[9] Die ›Anderen‹ stünden demnach auf einer unteren Stufe
der ›Zivilisation‹, gleichzusetzen mit einem früheren Stadium der
europäischen weißen Kultur sei. Wie Johannes Fabian es formulierte, wurde
auf diese Weise die Kategorie der Zeit, die als universelles Prinzip begriffen
wurde, verräumlicht und damit wiederum die Distanz zwischen ›Selbst‹ und
›Anderem‹ affirmiert.[10] Durch die Gleichsetzung von Zivilisation und
weißer westlicher Kultur wurde deren universale Gültigkeit normativ
festgeschrieben – ein paternalistisches Prinzip, das sich im heutigen
entwicklungspolitischen Diskurs nach wie vor spiegelt.

»THE NATIVE POINT OF VIEW«:


DAS PARADIGMA DER TEILNEHMENDEN BEOBACHTUNG
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es zu einem entscheidenden
Bruch in der ethnografischen Praxis. Die Anthropologen der früheren
Generation hatten ihre Studien überwiegend auf der Grundlage von
Missionars- und Reiseberichten verfasst und verfügten kaum über
persönliche Kontakte zu den Gesellschaften, über die sie schrieben.
Bronislaw Malinowski, der im Zuge der Kriegswirren mehrere Monate auf
den Trobriand-Inseln im Pazifischen Ozean festsaß, begründete die
teilnehmende Beobachtung als neues Paradigma der Ethnologie.[11] Lokale
Sprachkompetenz und die enge Zusammenarbeit mit einheimischen
›InformantInnen‹ galten nunmehr als die Garanten für ein neues Verständnis
der außereuropäischen Kulturen. Die FeldforscherInnen sahen sich als
ExpertInnen, deren Wahrnehmung und Verständnis des ›Fremden‹ sich in
ihrer ›Wissenschaftlichkeit‹ und ›Objektivität‹ grundlegend von den
partikularistischen Interessen anderer EuropäerInnen, wie Kolonialbeamten,
MissionarInnen oder ReiseschriftstellerInnen, unterschieden. Die
EthnologInnen, die in der funktionalistischen Tradition Malinowskis
standen, widersprachen der Auffassung, ›primitive‹ Kulturen (ein Terminus
der nicht hinterfragt wurde) seien irrational und daher der westlichen Kultur
per se unterlegen. Vielmehr strebten sie danach, die Gesetzmäßigkeiten
jener Kulturen zu studieren und deren innere Logik aufzuzeigen.[12]
Dabei basierte das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung auf der
Annahme, der westliche (weiße) Wissenschaftler (oder in wenigen
Ausnahmen auch die Wissenschaftlerin) könnte ohne Weiteres an allen
gesellschaftlichen Aktivitäten teilhaben und zugleich kritische Distanz und
Beobachterkompetenz bewahren, die den Einheimischen, die zu stark in ihr
eigenes System absorbiert waren, versagt bliebe. ›Objektive‹
wissenschaftliche Kriterien würden den Vergleich zwischen verschiedenen
Kulturen ermöglichen, die als essentielle Einheiten begriffen wurden. In der
Analyse eines bestimmten Brauches könne sich das System der gesamten
Kultur offenbaren. Wie Pels und Salemink schreiben, diente diese
synechdochische Herangehensweise nicht zuletzt der Verschleierung des
tatsächlichen Beziehungsgeflechtes zwischen ForscherIn und Erforschten:
»[The] synechdoche is crucial in establishing the ethnographic object (a
›social whole‹), establishing its subject as an outsider not implicated in it
(the ›observer‹) and erasing the relationships that practically connect the
two.«[13]
Der koloniale Referenzrahmen, innerhalb dessen die Begegnung mit
dem ›Feld‹ stattfand, wurde von den weißen EthnologInnen der
(struktur-)funktionalistischen Schule nicht in ihre Analyse eingebunden.
Weder reflektierten sie ihre Rolle als VertreterInnen des kolonialen Systems
(und damit ihre eigene partikulare intellektuelle und gesellschaftliche
Prägung, die ihre Interpretation wesentlich bestimmte), noch
dokumentierten sie den Einfluss des Kolonialismus auf die von ihnen
untersuchten Gesellschaften. Diese wurden quasi ›eingefroren‹[14] und
ihnen wurde (im Gegensatz zur weiß definierten Herkunftsgesellschaft der
EthnologInnen) jegliches Transformationspotential abgesprochen. Vielmehr
könne gesellschaftlicher Wandel nur durch äußere Einflüsse eintreten.
In Bezug auf den Faktor ›Kolonialismus‹ bedeutete diese Idee der
›reinen‹ fremden Kultur als zentralem Topos der Ethnologie demnach eine
merkwürdige Ambivalenz: Auf der einen Seite wurde die Ethnologie als
Wissenschaft erst durch das koloniale System ermöglicht und getragen (und
zwar sowohl durch die militärische und infrastrukturelle Absicherung des
›Feldes‹ als auch durch die konkrete Finanzierung von
Forschungsvorhaben); auf der anderen Seite trug dieses System (wie auch
die Anwesenheit der EthnologInnen selbst) zur Zerstörung des
selbstdefinierten Gegenstandes der anthropologischen Forschung bei.[15]
Zwar waren EthnologInnen nicht unmittelbar ›HandlangerInnen‹ der
kolonialen Administration, sondern bewahrten vielfach kritische Distanz zu
deren Verwaltungsapparat, aber dennoch waren sie tief in den
kolonialistischen Diskurs involviert und trugen durch ihre Arbeit implizit zu
dessen Verfestigung bei.[16] Der Mythos des ›ersten Kontaktes‹ des
Ethnologen mit einer möglichst ›unverfälschten‹ Kultur war also
keineswegs unschuldig,[17] sondern stützte und legitimierte die weiße
imperialistische Ideologie. Im Ideal des ethnografischen Feldes als
›natürlichem‹ Beobachtungsort für das Studium der ›Anderen‹ manifestierte
sich eine rassistische Haltung, die den weißen Subjekten die Fähigkeit zur
Transgression unterstellte (so z.B. in der weitverbreiteten Metapher der
Feldforschung als ›Initiation‹ in die fremde Kultur), diese Kompetenz den
›Anderen‹ jedoch nicht zugestand. Traten diese aus ihrer ›natürlichen
Umgebung‹ heraus – beispielsweise durch Migration in urbane Zentren – so
wurde dies als Zeichen für ihre ›Degenerierung‹ und ›Korrumpiertheit‹
interpretiert.[18]
Damit definierte sich die Ethnologie als das Studium kleiner, dörflicher
Gemeinschaften, die außerhalb der Geschichte verortet wurden. Das
ethnografische Objekt als das ›Andere‹ schlechthin sollte soweit wie
möglich vom eigenen Selbst entfernt sein. Wie Akhil Gupta und James
Ferguson zeigen, impliziert bereits der Begriff des ethnografischen Feldes
diese Dichotomisierung, die als problematische (und kaum thematisierte)
Grundannahme der Ethnologie somit nach wie vor Bestand hat.[19]
Die komplexe Verschränkung von Wissen und Macht in der kolonialen
Ethnologie ist jedoch nicht allein auf die Ausblendung des kolonialen
Bezugsrahmens oder die Tendenz zur Objektivierung von Kultur als
holistisches Ganzes zurückzuführen. Selbst jene EthnologInnen, die eben
diesen Kontext explizit in ihre Untersuchung einbezogen, blieben der
Annahme ihrer eigenen universal(istisch)en Kompetenz, und damit der
hegemonialen weißen Subjektpositionierung verhaftet.

ETHNOLOGINNEN ALS DIE ›BESSEREN‹ WEIßEN.


DAS RHODES-LIVINGSTON-INSTITUTE
Als Max Gluckman 1945 Direktor des Rhodes-Livingston-Institutes (RLI)
im nördlichen Rhodesien wurde, gehörte die Wanderarbeit in die süd- und
zentralafrikanischen Minen bereits zur Alltagsrealität Tausender
AfrikanerInnen. In den Vorstellungen des nordrhodesischen Gouverneurs,
auf dessen Initiative das Institut 1937 gegründet wurde, spielten diese
Entwicklungen keine Rolle. Vielmehr sollte sich das Institut vorrangig dem
Studium ländlicher Gebiete widmen und durch detaillierte Informationen
über lokale Kultur(en) zu deren besserer Kontrollierbarkeit durch die
weißen SiedlerInnen beitragen. Von Beginn an galt jedoch das Interesse der
am Institut affiliierten EthnologInnen den Wanderarbeitern und ihrer
urbanisierten Kultur. Zum ersten Mal in der Geschichte der Ethnologie
wurde das Phänomen des sozialen Wandels (begriffen als beständige
situative Neuorientierung der jeweiligen AkteurInnen) ins Zentrum des
Interesses gerückt – eine Tendenz, die das Fach grundlegend innovierte.
In seiner berühmten Formulierung: »An African townsman is a
townsman, an African miner is a miner«[20] brach Max Gluckman mit der
Auffassung, der anthropologische Gegenstand sei als das radikal ›Andere‹
und dabei kulturell eindeutig ›Festgelegte‹ definiert. Vielmehr formulierte
er hier die Idee einer afrikanischen Moderne, der die Überzeugung
zugrunde lag, dass neue Kontexte neue Bedürfnisse schaffen und neue
kulturelle Artikulationsformen hervorbringen. Ethnizität, im Sinne der
selbstartikulierten Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, fungiere
dabei als Klassifikationssystem und Orientierungshilfe für die urbanisierten
AfrikanerInnen. Diese Identifizierung sei jedoch kontextuell zu verstehen
und verlöre beispielsweise in Auseinandersetzungen mit weißen
KolonisatorInnen an Bedeutung, da hier die Schwarze Solidarität im
Vordergrund stünde. Vorgänge wie sie in den rhodesischen Minenstädten zu
Tage traten, so Gluckman, seien der Urbanisierung eigen und daher nicht
auf Afrika beschränkt: »Tribalism in the Central African towns is, in
sharper form, the tribalism of all towns.«[21]
In ihrem Studium der Minenkultur konzentrierten sich die RLI-
AnthropologInnen vorrangig auf Prozesse der ›Akkulturation‹ und die
Problematik von Status und Prestige, anhand derer spezifische soziale
Interaktionsfelder determiniert werden sollten. Im Mittelpunkt standen
dabei Fragen nach der Gestalt und Funktion ethnischer Klassifikationen im
urbanen Kontext sowie nach der Bedeutung des europäischen
Referenzrahmens (als europäisierter Lebensstil) für die Identität und
Alltagsorganisation der urbanisierten afrikanischen Arbeiterklasse.
Die EthnologInnen der Manchester School um Max Gluckman sahen
sich als progressive Liberale. Ihr marxistisch geprägtes Interesse an
Konflikt, Rebellion und Wandel; ihre Verankerung im urbanen
Forschungskontext und nicht zuletzt ihre Begeisterung für den
Arbeitersport Fußball trugen zu ihrer Selbstidentifikation als linke
Intellektuelle bei. Die andauernde Förderung des Rhodes-Livingston-
Institutes durch die weiße nordrhodesische Kolonialregierung wurde von
ihnen als gegeben hingenommen, ohne dass sie ihre damit verbundene
Positionierung als Teil des Kolonialsystems reflektierten. Sie nahmen sich
vielmehr als außerhalb des Systems stehend wahr und verorteten sich ›auf
der Seite‹ der AfrikanerInnen. Wenn sie auch nicht offen für die
afrikanische Unabhängigkeit eintraten, so zeigten sie Sympathie für einige
politische Ziele der Schwarzen Bevölkerung, wie beispielsweise die
Formierung von Gewerkschaftsbewegungen. Darüber hinaus wandten sie
sich gegen die Dichotomisierung von ›Tradition‹ und ›Moderne‹, die der
bisherigen professionellen Ausrichtung der Ethnologie als Studium
›traditioneller‹ dörflicher Gemeinschaften zugrunde lag. Die afrikanischen
Arbeiter und StadtbewohnerInnen waren ihrer Auffassung nach durch und
durch modern und rational, ebenso wie der ›Tribalismus‹, der ihr
Zusammenleben in den Minenstädten kennzeichne.
Die RLI-EthnologInnen betrachteten sich als unabhängige
WissenschaftlerInnen, die sich radikal von den sie umgebenden weißen
SiedlerInnen unterschieden. Hatte Malinowski sich in den 1930er Jahren
noch für die so genannte ›Rassentrennung‹ ausgesprochen, wandten die
RLI-EthnologInnen sich gegen das Apartheid-System und protestierten
gegen die schlechten Lebensbedingungen der AfrikanerInnen und die
Vorenthaltung gleicher Bürgerrechte für Schwarze. Mit anderen Worten, sie
nahmen für sich die Rolle als deren FürsprecherInnen in Anspruch. Umso
schockierter reagierten sie auf die scharfe Kritik, mit der der Schwarze
südafrikanische Ethnologe und Historiker Bernard Magubane diese
Selbsteinschätzung demontierte, indem er ihnen vorhielt, nicht nur Teil,
sondern auch Stütze des Kolonialsystems gewesen zu sein.[22]
Magubanes Hauptvorwurf lautet, die RLI-EthnologInnen hätten das
koloniale System nicht wirklich analysiert, sondern als selbstverständlichen
gesellschaftlichen Hintergrund vorausgesetzt, ohne dabei auf die
grundlegende Problematik von weißer Gewalt und Dominanz einzugehen.
Indem sie sich in ihren Analysen vorwiegend auf solche Aspekte wie
europäische Kleidung bezogen, die sie dann als Statussymbole und Indizien
des sozialen Wandels (bzw. der ›Akkulturation‹) interpretierten, hätten sie
das weiße europäische Wertesystem unhinterfragt zum Maßstab ihrer
Gesellschaftswahrnehmung und -analyse gemacht, und seien somit
letztendlich der Ideologie des Imperialismus und der weißen Überlegenheit
verhaftet geblieben. Der Fokus auf Populärkultur und der den RLI-Studien
zu Grunde liegende spezifische Analysestil dienten, so Magubane, der
Verschleierung realer Ausbeutungsverhältnisse und Klassenstrukturen, die
stets mit der Privilegierung einer weißen Subjektposition einhergingen.[23]
Für Magubane stellt die Übernahme europäischer Statussymbole kein
Zeichen für die Kreativität der AfrikanerInnen dar, sondern symbolisiert
vielmehr den Verlust ihrer kulturellen, ökonomischen und politischen
Eigenständigkeit. Es handele sich bei diesen Prestigegütern und Ideen eben
nicht allein um ›moderne‹ oder gar um ›universale‹ Werte, sondern um
weiße und koloniale. Magubane schreibt:
In these writings the supremacy of white values is presented with an aggressiveness which could
only be satisfied finally when the culture of the colonized was reduced to nothing and when the
colonized himself loudly admitted the supremacy of the white man and his values.[24]

Die betroffenen Wissenschaftler reagierten empört: Die Vorwürfe seinen


falsch, emotional und ideologisch. Clyde Mitchell und A.L. Epstein, gegen
die sich Magubanes Kritik explizit richtete, fühlten sich in ihrem
Enagement für die AfrikanerInnen missverstanden und lehnten jegliche
Assoziation mit dem Kolonialsystem ab.[25] Ihr Weißsein war für sie kein
Maßstab für die Beurteilung ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, die allein
auf ›objektiven‹ Kriterien beruhen sollte. Dabei ignorierten sie die Tatsache,
dass AfrikanerInnen auch in ihrem Horizont nicht als eigenständige
Subjekte auftauchten, sondern erneut als Projektionsfläche für eine weiße
ideologische wie wissenschaftliche Positionierung dienten. James Ferguson
charakterisiert die Haltung der RLI-Anthropologen als eine Kombination
aus Paternalismus und »macho-anti-racism«. Sie zeichne sich durch
folgende Dynamik aus: »[R]acism is to be heroically battled, but the battle
is between two white men, one of whom fights ›on behalf of‹ Africans who
are nowhere in sight«.[26]
Damit stehen die Arbeiten der Manchester School exemplarisch für eine
dominante Tendenz innerhalb der weißen (und oftmals auch männlichen)
Ethnologie des 20. Jahrhunderts. Indem Schwarze und People of Color
zwar als ›InformantInnen‹ und ›AssistentInnen‹ auftauchen, ihnen jedoch
die Repräsentation ihrer selbst innerhalb des politischen wie
wissenschaftlichen Diskurses vorenthalten bleibt, werden dominante
Hierarchien reproduziert, die die Privilegierung der weißen Subjektposition
letztlich bestätigen.[27]
In der verletzten Reaktion Epsteins und Mitchells (und mit ihnen auch
einem Großteil der weißen Fachöffentlichkeit) zeigt sich ein Problem, das
auch in den Critical Whiteness Studies thematisiert wird, nämlich die
Tatsache, dass antirassistische Praxis häufig von dem Bedürfnis weißer
Menschen unterminiert wird, »to remain comfortable«:[28] RassistInnen
sind immer nur die anderen (Weißen). Indem Magubane die EthnologInnen
zur Einbeziehung ihrer eigenen, persönlichen Position in ihre
Gesellschaftsanalyse auffordert, stellt er dieses Selbstverständnis
grundlegend in Frage. Sein Beitrag zählt daher nach wie vor zu den
wichtigsten Denkanstößen für eine ›andere Ethnologie‹, wie sie von Talal
Asad programmatisch als »anthropology of Western hegemony«[29]
definiert wurde. Die anthropologische Analyse kolonialer und
postkolonialer Machtverhältnisse, Konflikte und Subjektivitäten in ihrer
ganzen Komplexität schließt demnach die kritische Reflexion über die
eigene wissenschaftliche und gesellschaftliche Positionierung unbedingt
ein.
Im Jahr 1971, in der Magubanes Artikel erschien, gab sich die
Ethnologie im Großen und Ganzen noch resistent gegen die antikoloniale
Kritik, die letztlich zu ihrer Demontage aufforderte. Eine Generation später
begann diese Situation sich zu ändern, wozu eine Verschränkung von
Faktoren beitrug: Erstens brachten sich mehr und mehr Schwarze
WissenschaftlerInnen in den anthropologischen Diskurs ein; zweitens
machten auch die Arbeiten Schwarzer und weißer feministischer
Autorinnen auf die silencing practice der Ethnologie aufmerksam und
drittens gab es innerhalb der dominanten Gruppe der weißen männlichen
Ethnologen ebenfalls Stimmen, die eine schonungslose Kritik des
ethnologischen Othering formulierten.[30] Das Fach war auf dem Weg sich
stärker zu differenzieren.

VON DER OBJEKTIVIERUNG ZUR REFLEXIVITÄT? DIE WRITING CULTURE-


DEBATTE
Eine entscheidende These in Johannes Fabians zentralem Werk Time and
the Other lautet, die ethnologische Schreibpraxis, und insbesondere der
Gebrauch des ethnografischen Präsens, bedeute einen »denial of
coevalness«, »a persistant and systematic tendency to place the referent(s)
of anthropology in a Time other than the present of the producer of
anthropological discourse«.[31] Sei die Situation im Feld durchaus von
einer Atmosphäre des Austauschs und der intellektuellen Ebenbürtigkeit
gekennzeichnet, so ändere sich dies häufig mit der Distanz des
wissenschaftlichen Schreibens und der damit verbundenen Objektivierung
der ›anderen Kultur‹.
Die Beiträge des von James Clifford und George E. Marcus
herausgegebenen Sammelbandes Writing Culture aus dem Jahr 1986 stellen
einen Versuch dar, mit dieser weißen ethnologischen Tradition zu brechen,
indem sie ein radikal subjektives Element in die Ethnologie einbringen und
die Möglichkeiten und Grenzen der kreativen (postmodernen)
Textproduktion in den Mittelpunkt ihrer Diskussion stellen. In seiner
Einleitung betont Clifford den partiellen Charakter jeglichen Wissens und
erkennt dessen Eingebundenheit in (macht-)politische Prozesse an.
Zugleich weist er die Idee eines objektiven wissenschaftlichen
Standpunktes zurück:
[A]ll constructed truths are made possible by powerful ›lies‹ of exclusion and rhetoric. Even the
best ethnographic texts – serious, true fictions – are systems, or economies, of truth. Power and
history work through them, in ways their authors cannot fully control.[32]

Clifford schließt sich der postkolonialen Kritik an der anthropologischen


Repräsentationspraxis zunächst an. Für ihn liegt das Problem vorrangig in
der Dominanz des ethnografischen Blicks. Die visuelle Herangehensweise,
die davon ausgeht, ›Kulturen‹ könnten in ihrer Ganzheit und eigentlichen
Gestalt wahrgenommen oder im Sinne eines ›Textes‹ gelesen und
interpretiert werden, verleugne die spezifischen intellektuellen
Konstruktionsprozesse und politischen Konstellationen, denen die
Repräsentation immer zugrunde liegt. Clifford setzt dieser Auffassung ein
diskursives Paradigma entgegen, das den einzelnen Stimmen der
Kommunikation stärkeren Raum gibt und zugleich von der Erkenntnis
geleitet wird, es handle sich bei diesem polyphonen Kanon stets um das
Zusammenspiel von »positioned utterances«, wobei er jedoch den genauen
Charakter dieser Positionierung unbestimmt lässt – er argumentiert v.a. im
Hinblick auf den fragmentarischen Charakter jeglichen Wissens.[33]
Writing Culture beschreibe einen Wandel in der Ethnologie: Durch die
Aufnahme der Vielstimmigkeit in eine neue Schreibpraxis trete der oder die
AnthropologIn als alleinigeR AutorIn zurück und die bisher unterdrückten
Positionen der ›Anderen‹ gewönnen an Gewicht. Der Interaktionsprozess,
durch den ethnografisches Wissen im Rahmen der Feldforschung und
darüber hinaus produziert wird, müsse sichtbar gemacht werden – dann sei
es möglich, das wissenschaftliche Produkt als ein hierarchisches
Arrangement von Diskursen zu durchdringen. Es sei wichtig, die
Ethnologie als Teil komplexer Machtverhältnisse zu verstehen; zugleich sei
das Fach in seinem Ansatz »potentially counter-hegemonic«.[34] Es gehe
nicht allein um Versionen des ›Anderen‹, sondern immer auch um die
Konstruktion eines ›Selbst‹: »Cultural poesis – and politics – is the constant
reconstitution of selves and others through specific exclusions, conventions,
and discursive practices.«[35]
Das Problem der Macht- und Ausschlussmechanismen, die in der
eigenen Praxis wirksam werden, bleibt von Clifford jedoch unberührt. So
erstaunt die Begründung, mit der das Fehlen feministischer Positionen im
Buch gerechtfertigt wird: Das Writing Culture-Projekt wende sich ja gerade
dagegen, ein holistisches Gesellschaftsbild zu konstruieren. Der
feministische Beitrag zur Ethnologie wird also letztlich darauf reduziert,
dass seine Autorinnen die bisher ausgeblendeten ›weiblichen Räume‹
nunmehr stärker in die anthropologische Praxis eingebunden hätten. Die
Writing Culture-Debatte konzentriere sich jedoch auf eine grundsätzliche
Diskussion der ethnografischen Situation und müsse (bzw. könne) daher auf
diese spezielle Position verzichten.[36]
Die feministische Hinterfragung der bestehenden Machtverhältnissen
und der in diese eingeschriebenen männlichen Dominanz wird dabei ebenso
ausgeblendet, wie die postkoloniale Kritik an eben diesen
Machtverhältnissen und der ihnen zugrunde liegenden weißen Hegemonie,
die sich innerhalb der Ethnologie als silencing practice reproduziert. In
ihrer Interpretation der Umschlaggestaltung des Writing Culture-Bandes
geht bell hooks[37] näher auf diese Problematik ein. Der Vordergrund des
Titelbildes zeigt einen weißen Ethnologen im ›Feld‹: vertieft in seine
Notizen, abgeschottet von seiner Umgebung. Im Hintergrund, kaum zu
erkennen, sitzt eine Schwarze Familie, die ihn beim Schreiben beobachtet.
Das Gesicht der Frau wird von der Schrift des Titels verdeckt und ist somit,
mehr noch als das des Mannes, von jeglicher Kommunikation mit dem oder
der LeserIn abgeschnitten. Für hooks ist dieses Bild imagologisch eindeutig
besetzt: »I look at it and I see visual metaphors of colonialism, of
domination, of racism.«[38] Die Integrität (und als selbstverständlich
angenommene Autorität) des weißen männlichen Forschers bleibt somit
unangetastet – ebenso wie die Dominanz einer weißen westlichen
Leserschaft, die sich mit dem schreibenden weißen Subjekt identifiziert.
Schwarze Stimmen fehlten als wissenschaftliche Instanzen und würden
wieder auf den Status einer »absent presence without voice« reduziert.
Es stellt sich die Frage, ob es die Konzentration auf diskursive Praxis
und poesis, wie sie in Writing Culture angestrebt wird, tatsächlich vermag,
als anti-hegemoniale Kraft wirksam zu werden; oder ob sie nicht vielmehr
den bisherigen status quo zwischen Forschersubjekt und -objekt zumindest
partiell bestätigt. So kritisiert Edward Said[39] den Fokus der Writing
Culture-AutorInnen auf die Krise der Repräsentation, die das weiterhin
existierende politische und ökonomische (wie auch repräsentative) Gefälle
vernachlässigt, das zwischen EthnologInnen als VertreterInnen der
westlichen Dominanzgesellschaft und ihren ›GesprächspartnerInnen‹
(interlocutors) als potentiell von dieser Dominanzgesellschaft
ausgeschlossenen oder gar bedrohten Individuen und Gruppen besteht.
Darüber hinaus zeige sich ein eklatanter Mangel an Reflexion über die
eigene Rolle (als BeobachterIn, ForscherIn, Schreibende) innerhalb dieses
politischen Gefüges: Wer spricht? Für wen? In welchem Kontext? Für Said
kommt die fehlende Thematisierung dieser Fragen einem »[thunderous]
silence«[40] gleich, das ursächlich auf die andauernde Verquickung
anthropologischer und imperialer Diskurse zurückzuführen sei. Mit seiner
Kritik trifft Said einen entscheidenden Punkt: »poetics [is] a good deal
easier to talk about than politics«[41] – umso mehr, wenn die persönliche
Positionierung gefragt ist.[42]
Es geht also, mit Lila Abu-Lughod gesprochen, nicht allein um die
Partialität von Wahrheiten, sondern weit mehr noch um deren Positionalität,
die sich aus historischen und aktuellen Gesellschaftsbezügen ableitet.[43] In
den folgenden Schlussbemerkungen möchte ich versuchen, diese
Positionierung als mögliche Chance für die ethnologische
Wissenschaftspraxis zu interpretieren und dabei Elemente aus den Critical
Whiteness Studies einzubeziehen.

ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVEN
Wenn in den Critical Whiteness Studies von der angenommenen
›Unsichtbarkeit‹ der weißen Subjektposition in der Selbstwahrnehmung von
Weißen die Rede ist, so scheint die Situation der klassischen Feldforschung
diesem Bild zunächst zu widersprechen, sind doch der oder die weiße
ForscherIn innerhalb dieses Kontextes fast immer deutlich als
Außenstehende markiert.[44] Zugleich manifestiert sich in der Geschichte
der Ethnologie aber all das, was in den neueren Arbeiten über Weißsein mit
dieser ›Unsichtbarkeit‹ verbunden wird; und zwar ein Universalitäts- und
Neutralitätsanspruch, der sowohl die Partikularität weißer Identität negiert
als auch den unmittelbaren Zusammenhang von Wissensproduktion und
Herrschaft – also die (macht-)politische Verortung der Wissenschaft –
kaschiert.
Wie ich in meiner bisherigen Diskussion zu zeigen versucht habe, war
die Verquickung von Ethnologie und Kolonialismus keineswegs mit der
formalen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien beendet, sondern sie
gehört vielmehr zu den prägenden Momenten des Faches, die dessen
heutigen Status nachhaltig mitbestimmen – unabhängig von der
individuellen Position(ierung) seiner VertreterInnen.[45] Noch 1989 schrieb
Edward Said:
The native point of view, despite the way it has often been portrayed, is not an ethnographic fact
only […]; it is in large measure a continuing, protracted, and sustained adversarial resistance to
the discipline and the praxis of anthropology (as representative of ›outside‹ power) itself.[46]

Im gleichen Artikel eröffnet er einige Perspektiven, die eine Möglichkeit


bieten, diese strikte Dichotomie zu überwinden. Sie zeigen sich laut Said
zum einen in der Anerkennung bzw. Wahrnehmung und bewussten
Reflexion der imperialistischen Machtverhältnisse; zum anderen in der
Hinterfragung eines ontologischen Kulturbegriffs. Dabei sei die unbedingte
Einbeziehung historischer Prozesse in die Analyse der Konstituierung von
Identität und Kultur erforderlich.[47]
In den anderthalb Jahrzehnten seit dem Erscheinen von Saids Artikel hat
die Ethnologie ihr Gesicht in vielerlei Hinsicht verändert. Vor allem die
kritischen Beiträge des Faches zur Globalisierungstheorie sind hier
hervorzuheben, da sie maßgeblich zur Auflösung des bis dato dominanten
essentialistischen Kulturkonzeptes beigetragen haben.[48] Im Hinblick auf
die kritische Aufarbeitung der Geschichte des Faches aus der
Innenperspektive wurde einiges geleistet.[49] Auch Fragen nach der
Verknüpfung von Wissen und Herrschaft und der spezifischen (und
problematischen) Repräsentationsregimes der Ethnologie wurden
zunehmend thematisiert.[50] Sie bleiben jedoch nach wie vor relevant und
stellen sich in jeder Forschungssituation erneut – für die Forscherin ebenso
wie für ihr(e) Gegenüber.
Während meiner Promotionsforschung über die Repräsentation des
Sklavenhandels im Kontext des homecoming von African Americans nach
Ghana erwies sich dieser Erkenntnisprozess als äußerst schmerzhaft. Es war
die radikale Ablehnung, die mir anfangs von einigen Personen
entgegengebracht wurde, durch die mir die Relevanz meines Weißseins als
Kategorie überhaupt erst bewusst wurde. Zugleich ermöglichten mir diese
Begegnungen ein anderes Nachdenken über die Implikationen des
Sklavenhandels für meine eigene Geschichte.[51]
Wenn Smadar Lavie und Ted Swedenburg also von der Notwendigkeit
sprechen, »fieldwork« durch »homework« zu ergänzen und die Sicherheit
des »Eurocentric home, rooted in whiteness from time immemorial«[52] zu
verlassen, dann bedeutet dies m.E. in erster Linie das Zulassen der
Hinterfragung der eigenen hegemonialen Subjektposition von außen, durch
die verschiedenen Gegenüber der weißen Forschenden. Die Reflexion kann
demnach nicht allein aus dem Selbst heraus geleistet werden,[53] sondern
sie ist das Produkt eines Interaktionsprozesses, der durch vielfältige
Faktoren determiniert wird. Während Lavie und Swedenburg davon
ausgehen, dass einE ForscherIn die Wahl hat, sich zu positionieren (und
zwar im Idealfall außerhalb des hegemonialen Diskurses), so haben die
Arbeiten von Frankenberg, Hall und anderen gezeigt, dass dies nur bedingt
zutrifft:[54] Ich bin einerseits gesellschaftlich geprägt und verortet (u.a.
durch meine Eingebundenheit in die Triade von race, class und gender);
andererseits schließt dies aber nicht aus, dass ich mich als Akteurin
verhalten, einen Standpunkt formuliere und mit anderen in Dialog treten –
allerdings im Bewusstsein der historischen und gegenwärtigen
gesellschaftlichen Verflechtungen, die unsere jeweiligen Beziehung(en)
charakterisieren.
Unabhängig von der intellektuellen Debatte über den Zusammenhang
von Wissen, Macht und Repräsentation ist jedeR individuelle ForscherIn
damit immer wieder aufs Neue konfrontiert und gezwungen, sich mit den
oben skizzierten Fragen auseinanderzusetzen: Aus welcher Position spreche
ich? Wie hängt diese mit der meines Gegenübers zusammen? An wen
richtet sich das ethnologische Schreiben? Wie ist meine Arbeit politisch und
historisch verortet?
Diese Fragen sind keineswegs nur methodologisch relevant, sondern sie
betreffen ganz konkret die Bestimmung des anthropologischen
Forschungsgegenstandes. Dessen Definitionsmacht sollte dabei nicht allein
bei weißen EthnologInnen liegen, sondern in ebenso starkem Maße bei
denjenigen, die in der Ethnologie lange Zeit als passive Objekte
wissenschaftlicher Untersuchung galten. Die existierenden universitären
Strukturen privilegieren jedoch nach wie vor weiße Stimmen und in ihnen
reproduzieren sich hegemoniale Diskurse und gesellschaftspolitische
Marginalisierungen. Es geht also darum, einen grundlegenden Wandel
innerhalb des globalen Wissenschaftsapparates herbeizuführen bzw. einen
solchen Wandel überhaupt zuzulassen. Die Anerkennung von Weißsein als
einer relevanten machtpolitischen Kategorie ist ein erster Schritt in diese
Richtung.
Eine zweite Dimension von »homework« betrifft den analytischen Blick
auf die Herkunftsgesellschaft weißer EthnologInnen. Die Critical Whiteness
Studies in ihrer empirischen Ausrichtung sind ein wichtiges Forum, um die
Konstruktionsprozesse von race und Herrschaft sichtbar zu machen. In
ihrer Ausrichtung auf lang angelegte und detaillierte Studien können
ethnologische Arbeiten dazu beitragen, die Komplexität und die vielfältigen
Ausdrucksformen der Produktion von Weißsein zu verdeutlichen.[55]
Zugleich geht es aber auch darum, unterschiedliche Perspektiven auf
Kolonisierungsprozesse, Macht- und Ausbeutungsverhältnisse im globalen
Kontext zu gewinnen.
Und schließlich gibt es eine dritte Dimension von »homework«, die mit
der Frage verbunden ist, welches Bild von der Ethnologie nach außen
vermittelt wird. Nach wie vor sind die exotistischen und rassistischen
Repräsentationen ›fremder Kulturen‹, gespiegelt im Gegenbegriff einer
nationalen ›Leitkultur‹, allgegenwärtig. Die Ethnologie hat wesentlich zu
deren Entstehung beigetragen. Gleiches gilt für andere kolonialistische
Diskurse, die noch immer gesellschaftlich tief verankert sind. Die starke
Tendenz zur Hinterfragung solcher Konzepte, wie sie heutzutage prägend
für einen Teil der fachinternen Diskussion in der Ethnologie ist, findet kaum
allgemeinen Widerhall. Aufgabe einer modernen Ethnologie sollte es daher
sein, kulturelle Stereotypen öffentlich zu dekonstruieren und sich stärker in
gesellschaftspolitische Debatten einzubringen – und zwar nicht im Namen
›der Anderen‹, sondern auch und gerade im Hinblick auf eine kritische
Reflexion des weißen Selbst.

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Williams Jr., Vernon J.: Rethinking Race. Franz Boas and His Contemporaries. Lexington: The
University Press of Kentucky, 1996

ANMERKUNGEN
1 Appadurai: »Place and Voice«, S. 16; meine Hervorhebung.
2 Innerhalb der etablierten deutschen Ethnologie gibt es bisher kaum Reflexionen über dieses
Thema, das im hiesigen Kontext stark mit der Repräsentation bzw. Präsenz von MigrantInnen
innerhalb des Faches zusammenhängt. Die Initiative Berliner Studierender für ein
Diskussionsforum ›Polyphone Ethnologie‹, in dessen Rahmen u.a. gemeinsam mit polnischen
StudentInnen aus Warschau eine Forschung zur EU-Osterweiterung durchgeführt wurde, ist hier
positiv hervorzuheben.
3 Pels & Salemink: »Introduction«, S. 3.
4 Vgl. Said: Orientalism; Asad: Anthropology and the Colonial Encounter; Magubane: Critical
Look.
5 Goldberg: Racist Culture, S. 149. Vgl. Pels & Salemink: »Introduction«, S. 23; Thomas:
Colonialism’s Culture, S. 82; Fabian: Time and the Other, S. 8.
6 Ich verzichte hier bewusst auf die weibliche Form, da Frauen in der Regel nicht in diese
Klassifizierungen eingebunden wurden.
7 In seinem Buch Entzauberter Blick geht der deutsche Ethnologe Karl-Heinz Kohl dem Bild des
Edlen Wilden als einem zentralen zivilisationskritischen Topos der europäischen Renaissance
und Aufklärung nach. Aber auch in dieser Form des Othering verschwindet der Andere als
Subjekt und wird zur bloßen Projektionsfläche des Selbst. Vgl. Hall: »Der Westen und der
Rest«.
8 Vgl. Todorov: Conquest.
9 Vgl. Tylor: Primitive Culture; Morgan: Ancient Society.
10 Vgl. Fabian: Time and the Other, S. 16.
11 Vgl. Malinowski: Argonauts. Vgl. dazu auch: Stocking: »Maclay, Kubary, Malinowski«.
12 Der Strukturfunktionalist Edward Evans-Pritchard demonstrierte diesen Ansatz in seiner nach
wie vor vielrezipierten Studie Witchcraft, Oracles and Magic Among the Azande. Im
amerikanischen Kontext formulierten KulturrelativistInnen um Franz Boas ähnliche Prämissen –
ihrer Auffassung nach konnte eine spezifische Kultur nur aus sich selbst heraus, d.h. aus einer
emischen Perspektive verstanden werden. Für den oder die EthnologIn käme es also darauf an,
den »native’s point of view« zu erfassen und wissenschaftlich zu übersetzen. Auch hier zeigt
sich, dass die Problematik von Wissen, Macht und Repräsentation unhinterfragt bleibt; die
›Anderen‹ können nicht für sich selbst sprechen. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch der
maßgebliche Einfluss Boas’ auch auf Schwarze amerikanische Intellektuelle, wie Zora Neal
Hurston (die bei ihm studierte) oder W.E.B. Du Bois. Vgl. Williams: Rethinking Race, Kap. 2:
»Boas and the African American Intelligentsia«.
13 Pels & Salemink: »Introduction«, S. 34-35.
14 Vgl. Lévi-Strauss: Das Wilde Denken.
15 Vgl. Rosaldo: »Imperialist Nostalgia«.
16 Vgl. Asad: »Afterword«, S. 315; Thomas: Colonialism’s Culture, S. 7.
17 Vgl. Stocking: »Maclay, Kubary, Malinowski«, S. 67. Vgl. dazu auch: Said: »Representing the
Colonized«, S. 213.
18 In seiner Analyse des oskarpremierten Films Der mit dem Wolf tanzt demonstriert Nicholas
Thomas, wie dieses asymmetrische Verständnis von Kultur nach wie vor die liberale weiße
Identitätspolitik prägt, v.a. in Gestalt von Multikulturalismusdiskurs und zeitgenössischem
Primitivismus; vgl. Thomas: Colonialism’s Culture, Kap. 6 »The Primitivist and the
Postcolonial«.
19 Gupta & Ferguson: »Discipline and Practice«, S. 8..
20 Vgl. Gluckman: »Anthropological Problems«, S. 69.
21 Ebenda, S. 76.
22 Vgl. Magubane: »A Critical Look«.
23 Vgl. ebenda, S. 420. Vgl. dazu auch: Lipsitz: Possessive Investment in Whiteness.
24 Ebenda, S. 422. Hier wird Magubanes eigene politische Positionierung und
kulturnationalistische Orientierung deutlich.
25 Vgl. Kommentare in Magubane: »A Critical Look«.
26 Ferguson: Expectations of Modernity, S. 32.
27 Vgl. Trinh: Woman, Native, Other, S. 65.
28 Rasmussen et al: »Introduction«, S. 13.
29 Asad: »Afterword«.
30 Zu wichtigen Studien aus dieser Zeit zählen Trinh: Woman, Native, Other, Moores: Feminism
and Anthropology oder Fabians: Time and the Other.
31 Fabian: Time and the Other, S. 31 (Hervorhebung im Original).
32 Clifford: »Introduction«, S. 7.
33 Vgl. ebenda, S. 12.
34 Ebenda, S. 9.
35 Ebenda, S. 24.
36 Vgl. ebenda, S. 18-19.
37 Vgl. hooks: »Culture to Culture«.
38 Ebenda, S. 128.
39 Vgl. Said: »Representing the Colonized«.
40 Ebenda, S. 212.
41 Ebenda, S. 220-221.
42 In späteren Arbeiten geht Clifford auf die Kritiken an Writing Culture ein und bindet Fragen von
Macht und eigener Subjektposition stärker in seine Analyse ein, vgl. verschiedene Beiträge in
seinem Buch Routes.
43 Vgl. Abu-Lughod: »Writing Against Culture«.
44 Vgl. Loftsdóttir: »Never Forgetting?«. Allerdings ist anzumerken, dass der Außenseiterstatus
des Forschers oder der Forscherin in das Konzept der klassischen Feldforschung eingeschrieben
ist – unabhängig von der Kategorie des Weißseins. Vgl. Narayan: »How Native is a ›Native‹
Anthropology?«.
45 Dies betrifft nicht nur die Arbeit weißer EthnologInnen. In seinem Artikel »Putting Hierarchy in
Its Place« geht Arjun Appadurai auf die multiplen Diskursformationen ein, die die
wissenschaftliche Interpretation sozialer und kultureller Formationen immer mitbestimmen. Ihre
Dekonstruktion, einschließlich der Offenlegung ihrer machtpolitischen Einbettung, gehört für
Appadurai zu den wichtigsten Aufgaben einer zeitgenössischen Ethnologie.
46 Said: »Representing the Colonized«, S. 219-220 (meine Hervorhebung).
47 Vgl. ebenda, S. 224-225. Vgl. dazu auch: Hall: »Cultural Identity«.
48 Zur Gefahr eines strikten Antiessentialismus, wie er häufig im liberalen weißen Diskurs der
color-blindness Verwendung findet, vgl. Werbner: »Essentializing Essentialism, Essentializing
Silence«; zur umfassenden Diskussion des strategischen Gebrauchs von Essentialismen, vgl.
Schramm: Struggling Over the Past, Kap. 5 »Pan-Africanism as a Resource«.
49 Auf einige dieser Arbeiten habe ich mich explizit bezogen; sie seien an dieser Stelle nochmals
erwähnt: Pels & Salemink: Colonial Subjects; Thomas: Colonialism’s Culture; Stocking:
Colonial Situations.
50 Vgl. Moore: Future of Anthropological Knowledge; Gupta & Ferguson: Anthropological
Locations.
51 Vgl. Schramm: »On Being Rejected in the Field«; Dies.: Struggling over the Past.
52 Lavie & Swedenburg: »Introduction«, S. 21.
53 Vgl. Alistair Bonnetts Kritik am »white anti-racist confessionalism«, in: »Constructions of
Whiteness«, S. 208.
54 Vgl. Frankenberg: White Women, Race Matters; Hall: »Cultural Identity«.
55 Für einen entsprechenden Ansatz vgl. das Sonderheft der Zeitschrift Identities zu Whiteness in
the Field, herausgegeben von John Hartigan, Jr. Diese analytische Perspektive richtet sich nicht
allein auf Weißsein, sondern auch auf die Klassenposition der EthnologInnen. Mittlerweile gibt
es mehr und mehr Studien über Angehörige der Mittelschicht und Eliten; das so genannte
studying up stellt eine wichtige Loslösung vom kolonial geprägten ethnologischen Paternalismus
dar.
ANTJE HORNSCHEIDT
(NICHT)BENENNUNGEN:
CRITICAL WHITENESS STUDIES UND LINGUISTIK[1]

Viele der in diesem Sammelband veröffentlichten Artikel beschäftigen sich


auf verschiedene Weisen mit der Relevanz von sprachlichen Handlungen
für die Herstellung und Affirmation von Identitäten. In diesem Artikel
möchte ich versuchen, die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Sprache
beschäftigt auf ihren möglichen Gebrauch im Rahmen von Critical
Whiteness Studies hin zu befragen. Dazu fokussiere ich meine
Ausführungen auf eine wichtige Funktion und Handlungsdimension von
Sprache, sprachliche Benennungen. Diese sind zentral für die
alltagsweltliche und soziale Herstellung und kontinuierliche interaktive
Aushandlung von Identitäten. Um die Relevanz von sprachlichen
Benennungen als Themenstellung zu verdeutlichen, stelle ich zwei eng
miteinander verbundene Forschungsschwerpunkte vor: Zum einen wie
Sprache in Form von sprachlichen Benennungen Wirklichkeiten schafft, die
konstitutiv für Konzeptualisierungen von Weißsein sind, und zum anderen
wie die Linguistik selbst als Disziplin zum europäischen Kolonialismus
beigetragen hat und in dieser Tradition zur Nicht-Markierung von Weißsein
bis heute beiträgt. Das heißt, ich frage sowohl nach den möglichen
Beiträgen einer linguistischen Forschung zum Projekt Critical Whiteness
Studies als auch danach, was Critical Whiteness Studies für eine kritische
Analyse der traditionellen Sprachwissenschaften leisten können. Durch
diese doppelte Perspektive zeige ich zudem, wie grundlegend,
allgegenwärtig und wirkmächtig Benennungspraktiken auf den
verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen und in unterschiedlichen
Diskursen sind.
Das, was ich als Linguistik erlernt habe und folglich mein
Selbstverständnis als Linguistin zunächst formte, hat Whiteness als
Kategorie in keiner Weise thematisiert oder reflektiert. Eine solche
Perspektive ist meines Erachtens bisher nur in Ansätzen bzw. in der
Übertragung von postkolonialer Theorie auf die Frage der Kategorisierung
Weißsein zum Thema geworden. Critical Whtieness Studies auf Linguistik
als Disziplin anzuwenden bedeutet damit, eine kritische Reflexion der als
gegeben genommenen Grundannahmen der Disziplin an den Punkten zu
versuchen, an denen von einem universell gültigen Menschenkonzept
ausgegangen wird. Diese kritische Reflexion konkreter linguistischer
Praktiken muss ein kontinuierlicher Prozess sein, zu dem der vorliegende
Text Impulse bieten soll und nicht den Anspruch vertritt, in irgendeiner
Weise vollständig oder abgeschlossen zu sein.
Die Prämissen der Critical Whiteness Studies, die für meine
Argumentationsführung wichtig sind, sind u.a. von Morrison und
Frankenberg formuliert worden, für die Auseinandersetzung mit dem
deutschsprachigen Raum waren dabei insbesondere auch die theoretischen
Ansätze Ursula Wachendorfers relevant.[2] Weißsein wird in
westeuropäischen Kontexten als universell, neutral und normal erlebt und
u.a. sprachlich in Form von Benennungen bzw. gerade Nicht-Benennungen
als solches reproduziert. Ausgehend von dieser Beobachtung ist ein
zentraler Ausgangspunkt für meine Überlegungen die besonders auch
sprachlich getragene Verschiebung des analytischen Fokus weg vom
›Anderen‹ aus einer unbenannten weißen Perspektive auf das weiße Selbst,
welches so dem kontinuierlichen Prozess der Universalisierung des eigenen
Zentrums enthoben und dezentralisiert werden kann. Dies ist ein wichtiger
Schritt, um auch das Mächteverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie
bzw. Abweichung verschieben zu können. Die verbale Strategie der Nicht-
Benennung wird im Folgenden fokussiert und als zentraler
Gegenstandsbereich linguistischer Forschung im Rahmen von Critical
Whiteness Studies vorgestellt.

FORMEN SPRACHLICHER (NICHT)BENENNUNG VON WEIßSEIN IM


ALLTAGSDISKURS
Unter sprachlichen Benennungen verstehe ich im Folgenden jegliche Form
vor allem verbaler Namensgebung. Dies kann sowohl Objekte ›betreffen‹
als auch – und das ist in dem hier vorliegenden Zusammenhang zentral –
Menschen, darüber hinaus aber auch Handlungen, Eigenschaften, Prozesse,
Gefühle etc. Das heißt, dass jegliche Verwendung von Sprache in dieser
Sichtweise eine sprachliche Benennung ist. Diese Perspektive auf Sprache
bietet die Grundlage dafür, zu fragen, wie etwas benannt wird.
Benennungen sind in keinem Fall neutral oder objektiv, sondern Ausdruck
einer Perspektive, schaffen explizit oder implizit eine Differenzierung und
Bewertung.
Die Annahme, Sprache sei einfach eine simple Beschreibungsformel, verliert im Lichte des
geografischen und historischen Kontextes ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen den
Anschein der Objektivität. Ihre Wirkungsmächtigkeit in der Produktion von Wirklichkeit setzt ein
asymmetrisches Verhältnis fort, das koloniale Bedingungen hervorruft, die eigentlich historisch
und politisch obsolet scheinen. […] Sprache, so die postkolonialen TheoretikerInnen, stellt ein
Repräsentationssystem dar, auf deren Grundlage Räume der Performativität und Akte der
Intelligibilität initiiert und fundiert werden. Die Fragen danach, wer wie spricht, was gesehen und
wie etwas gesehen wird, berühren daher nicht nur die Ebene der Darstellung im Sinne der
Sichtbarmachung, sondern auch die des Sprechens und des Gehörtwerdens.[3]

Diese erkenntnistheoretische Perspektive steht in einem expliziten


Gegensatz zu einem traditionell angenommenen alltagsweltlichen
Sprachverständnis, in dem die Wörter die außersprachliche Realität
lediglich abbilden: Danach würde es die Objekte, Menschen, Handlungen
usw. jenseits der sprachlichen Benennung geben; die Relation von
Außersprachlichem zur Benennung spielt in diesem Modell nur eine
untergeordnete Rolle, ist ein Abbildverhältnis vorgängiger
Kategorisierungen bzw. Wahrheiten. Die Unvereinbarkeit einer Sichtweise
von Benennung als deskriptiv, abbildend bzw. ›lediglich‹ auf
Außersprachliches referierend und die pragmatische Sichtweise auf
Benennung als aktive Konstruktions- und Kategorisierungsleistung führen
entsprechend zu alltagsweltlichen Abwehrstrategien und Leugnungen der
Relevanz der Frage, wie etwas benannt wird. Nur mit einem pragmatischen
Ansatz,[4] in dem Benennungen Kategorisierungen sind, mit denen
Außersprachliches wahrnehmbar und kommunizierbar gemacht oder sogar
als Wahrnehmbares überhaupt erst hergestellt wird, kann der Rassismus von
(Nicht)Benennungen thematisiert werden. Die weiße kolonialistische
Benennung von Menschen als ›Wilde‹ beispielsweise subsumiert diese
unter eine angenommene und negativ belegte Eigenschaft, die zum einen
andere Formen möglicher Kategorisierungen, u.a. jene der Selbstbenennung
ignoriert und unsichtbar macht und zum anderen das Eigene, die
kolonialistische weiße Perspektive nicht benennt, implizit aber als positiven
Gegenpol herstellt.[5] Wie etwas (nicht) benannt wird (als eine Einheit, als
mehrere, mit dem selbst gewählten Namen oder einem anderen), ist nicht
von dem benannten Objekt oder der benannten Person abhängig, sondern
ein Komplex aus kulturellen, sozialen, individuellen und kommunikativen
Bedingungen, die stark von Machtrelationen bestimmt sind und die es
analytisch festzustellen gilt. So führen beispielsweise deutsche staatliche
Reglementierungen dazu, Menschen zu verschiedenen historischen
Zeitpunkten und in unterschiedlichen Situationen beispielsweise in
›GastarbeiterInnen‹, ›AsylbewerberInnen‹, ›Abschiebehäftlinge‹ und
›AusländerInnen‹ zu kategorisieren, die alle eine staatliche Perspektive auf
diese Personen zum Ausdruck bringen und sie auf eine Art kategorisieren,
die in keinem Fall zunächst eine Selbstbenennung gewesen ist. Sie kann im
Prozess der ständigen Anrufung jedoch zu einer werden und so auch zur
Internalisierung rassistischer Strukturen auch durch die Unterdrückten
führen. Ihnen steht jeweils implizit ein ›inländischer‹, nicht in gleicher
Weise benannter Zustand gegenüber, der so als normal und natürlich gerade
in der Nichtbenennung manifestiert wird. Die Perspektive der Benennungen
der Abweichungen stellt sich so als Nicht-Perspektive, als neutrale Position,
besonders machtvoll her. Auf diese Weise entwickeln (Nicht)Benennungen
ein ›Eigenleben‹, die es zum einen im Sozialisationsprozess zu ›verstehen‹
bzw. zu erlernen gilt, worauf ich später noch einmal eingehen werde, zum
anderen nur noch schwer hinterfragt werden können, da sie so vorgängig
erscheinen. Die sprachliche Selbst- und Fremdbenennung von Menschen ist
ein zentraler Mechanismus der Herstellung einer Zugehörigkeit zu oder
Abgrenzung von bestimmten sozialen Gruppen. Diese können global sein,
wenn sich mit Hilfe von sprachlichen Benennungen in der Regel unbewusst
auf umfassendere Verortungen und Wertesysteme bezogen wird, oder auch
lokal und aktiv ausgehandelt werden, wobei sie jeweils eine gesellschaftlich
geprägte Geschichte mit aufrufen. Dazu gibt es aus weißer Perspektive
bisher nur wenig Bewusstsein, die Impulse für diese Denkrichtung stammen
von Schwarzen DenkerInnen wie bell hooks: »Words impose themselves,
take root in our memory against our will.«[6]
Sprachliche Benennung dient grundsätzlich einer Differenzierung, bei
der in den meisten Fällen nur eine Möglichkeit explizit gemacht wird: Sage
ich ›X ist Schwarze Deutsche‹, so differenziere ich implizit zwischen
Schwarze Deutsche und weiße Deutsche, zwischen Schwarze Deutsche und
Schwarze Engländerin, Kongolesin, Japanerin usw. sowie zwischen
Schwarze Deutsche und Schwarzer Deutscher. Das Konzept Schwarze
Deutsche macht nur Sinn als sprachliche Kategorisierung, wenn ich
gleichzeitig auch von einem Konzept weiße Deutsche ausgehe, welches
implizit als Differenzierung mit aufgerufen wird. Letzteres aber stellt im
deutschen gesellschaftlichen Kontext den – gerade durch diese sprachlichen
Handlungen auch immer wieder bestätigten – ›Normalfall‹ dar, der
konventionalisiert in der Regel als so normal empfunden wird, dass er nicht
benannt und damit nicht sprachlich markiert wird. Dies ist die unmarkierte
Selbstverständlichkeit des Denkens im weißen deutschen Kontext. Das
Unbenannte wird dabei gleichzeitig in weitaus stärkere Möglichkeiten der
Konnotationsbildung entlassen als das Benannte, so dass die Nicht-
Benennung als ein extrem machtvoll wirkender Akt sprachlicher Handlung
interpretiert werden kann.
Whatever is unnamed, undepicted in images, whatever is omitted from biography, censored in
collections of letters, whatever is misnamed as something else, made difficult-to-come-by,
whatever is buried in the memory by the collapse of meaning under an inadequate or lying
language – this will become, not merely unspoken, but unspeakable.[7]

Benannt und dadurch markiert wird jeweils nur die Abweichung vom
angenommenen und auf diese Weise tradierten, reproduzierten und immer
wieder bestätigten Normalfall, wie die obigen Beispiele deutlich machen.
Es werden also nicht alle Seiten einer Differenzierung explizit gemacht,
sondern in der Regel jeweils nur diejenigen, die als Abweichung zur so
implizit aufgerufenen Normalität empfunden werden. Natürlich besteht
dabei eine gewisse Variationsmöglichkeit hinsichtlich der Frage, was genau
wie explizit benannt wird. An den sozialen Praktiken und Konventionen
dazu, was von wem in welcher sozialen Position benannt wird, lassen sich
gleichzeitig Normalitätsvorstellungen und auf diese Weise aktiv immer
wieder hergestellte Normalisierungen auch sozialer Positionierungen
ablesen und systematisch analysieren. Ein Forschungsfrage der
linguistischen Beschäftigung mit sprachlichen Benennungen im Rahmen
von Critical Whiteness Studies liegt also auf der Untersuchung, dass und
wie Weißsein in weißen Machtpositionen (die sich so auch jeweils wieder
als Machtpositionen herstellen) jeweils nicht benannt wird, was damit
gleichzeitig machtvoll konnotativ aufgerufen wird, welche Oppositionen
und damit Abgrenzungen implizit und explizit geschaffen werden und
welche Normalisierungsstrategien von Weißsein als unhinterfragte
natürliche Norm damit einhergehen. Wird Weißsein von weißen Positionen
aus benannt, muss ebenfalls genau betrachtet werden, in welchen Kontexten
und mit welchen Konnotationen dies geschieht. Wachendorfer diskutiert für
diese Fragestellung eine interessante Variante der weißen
(Nicht)Benennung, die weiße Benennung als »ich bin nicht Schwarz«. Dies
kann interpretiert werden als die sprachliche Herstellung einer kategorialen
Zugehörigkeit durch Negation einer Zugehörigkeit, welches die Normalität
von Weißsein noch mal verstärkt.
Hier wird aus einer Negation heraus Weiß-Sein entworfen; wie dieses Weiss-Sein aussieht, bleibt
jedoch unsichtbar. Die Weiße Subjektposition wird nicht erhellt und besetzt dadurch einen
universellen diskursiven Raum. Nun erscheint Weiß-Sein nur auf den ersten Blick unsichtbar. Man
erfährt nichts darüber außer, dass die Person nicht Schwarz ist. Dadurch werden jedoch all die
Konnotationen und Imaginationen zu Schwarz-Sein aufgerufen, die als rassistische Denkfiguren
oftmals Bestandteil des Alltagsdiskurses sind. Sie werden nicht unbedingt als solche erkannt, und
dennoch transportieren sie stereotype rassistische Bilder und Beziehungsstrukturen. Ein anderes
Moment, das in dieser Aussage aufscheint, ist die exklusive bipolare und hierarchisch organisierte
Konstruktion, man kann nur Weiß oder Schwarz sein; im historischen Kontext lässt das an
koloniale und an Reinheits-, Blut- und Degenerationsdiskurse erinnern.[8]

Diese Sichtweise geht konform mit der soziologischen Theorie von Berger
und Luckmann, nach der Sprache der Speicher gesellschaftlicher bzw.
sozialer Erfahrungen ist. Eine Wortung ist demnach ein Akt einer
wahrgenommenen Objektivation, die der gesellschaftlichen Verständigung
dient und sich insofern verselbstständigt, als dass die Objektivation den
Anschein vermittelt, dass es sich damit um Wirklichkeit handelt, die
gewortet ist und so auch als Wirklichkeit wahrgenommen wird.[9] Sprache
ist so gesehen das Fundament des kollektiven, angenommenen
Wissensbestandes.
Dieser Speicher versorgt die Nachgeborenen mit Wissen, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum
einen greift das Individuum auf die im Speicher (Wortschatz) bereitliegenden Objektivationen
zurück, wann immer es spricht und damit seine Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken,
Wahrnehmungen objektiviert, sie für sich und andere wirklich werden läßt. Sprache versorge die
Sprachangehörigen gleichsam mit Vorfabrikationen, zwinge sie damit aber gleichzeitig in ihre
vorgeprägten Muster.[10]

Gleichzeitig damit aber werden genau diese ›Vorfabrikationen‹ genannten


Kategorisierungen und Konzeptualisierungen als Wirklichkeit empfunden,
was ihre Bewusstmachung erschwert. In einer Critical-Whiteness-
Perspektive spielt hier insbesondere die Frage eine Rolle, welche
gesellschaftlichen Gruppen unter anderem mit Hilfe sprachlicher
(Nicht)Benennungs- und Normierungspraktiken ihre Sicht auf Wirklichkeit
zu einer allgemeinverbindlichen Norm machen können und wie dieser
Prozess vonstatten geht. Grundlegend aus dieser Perspektive ist die
kontinuierliche Reproduktion einer weißen Machtposition im deutschen
Kontext, unabhängig von sonstigen sozialen Differenzierungen wie
beispielsweise nach Schicht, Bildung, Alter und Gender. Diejenigen, die
bedeutungsherstellende Macht besitzen, versuchen ihre eigenen Ideologien
hinsichtlich bestimmter sozialer Kategorisierungen, die durch eine
bestimmte Benennung ausgedrückt werden sollen, zu naturalisieren.
Naturalisierungen funktionieren, indem Ideologien als natürlich und als
spontane Repräsentationen von Wirklichkeit erscheinen und auf diese Weise
einen Realitätseffekt bewirken.[11] Dominante Ideologien, die naturalisiert
sind, werden zu »wörtlichen Bedeutungen« einer sprachlichen Benennung.
Race, like gender, is ›real‹ in the sense that it has real, though changing, effects in the world and
real, tangible, and complex impact on individuals’ sense of self, experiences, and life chances. In
asserting that race and racial difference are socially constructed, I do not minimize their social and
political reality, but rather insist that their reality is, precisely, social and political rather than
inherent or static.[12]

Die Relevanz bestimmter Formen der sprachlichen Benennung liegt auch in


der Geschichte ihres Gebrauchsmusters in und über verschiedene soziale
Gruppen hinweg und in ihrer Herstellung einer Verbindung mit anderen
Aspekten sozialer Praktiken, aus denen soziale Relationen aufgebaut
werden, die auf diese Weise bewertet, d.h. beispielsweise mit Respekt,
Anerkennung und/oder Zuneigung oder Ekel, Missfallen und/oder
Ablehnung verbunden werden. Respekt, Macht, Nähe und Solidarität sind
dabei wichtige Größen der Differenzierung von Benennungen in Akten der
sprachlichen Adressierung von Menschen. In der Sozialisation werden über
Adressierungen und sonstige personale Benennungen
Normalitätserwartungen erlernt. In der kindlichen Sozialisation wird das
Kind mit Normen, Tabus, Verboten und angemessenen Benennungen
konfrontiert und so in ein gesellschaftliches Ordnungssystem eingeführt.
McConnell-Ginet rechnet hierzu nicht nur die Anredeformen der Eltern an
die Kinder und die Anredeformen der Kinder an die Eltern, sondern auch
ihre Aufnahme, Akzeptanz oder Stigmatisierung durch die Umwelt,
beispielsweise die peer groups der Kinder.[13] Kilomba[14] hat gerade für
den Fall einer kindlichen rassistischen Benennungshandlung und die
Aufnahme dieser durch das soziale Umfeld eindrücklich die Macht von
Benennungen als rassistische Diskriminierungen und die Tradierung damit
einhergehender hegemonialer Wertvorstellungen aufgezeigt[15] und in
diesem wie auch in anderem Zusammenhang auf die eine rassistische
Wirklichkeit herstellende Macht von Benennungen hingewiesen: »Dann
mag das klingen, als ob das Hauptproblem der Marginalisierung die
Unterschiede zwischen Menschen seien bzw. die Präsenz dieser
Unterschiedlichkeit. Tatsächlich ist es umgekehrt: Menschen werden durch
Diskriminierungsprozesse und Ungleichbehandlung zu Abweichenden
gemacht.«[16]
Auch Arndt und Hornscheidt gehen ausführlich auf rassistische
Benennungen von Personen ein.[17] Bei beiden Veröffentlichungen geht es
um dominante Benennungspraktiken der diskriminierenden sprachlichen
Rassifizierung des/der Anderen. Der Rassismus der sprachlichen personalen
Benennung liegt zu einem entscheidenden Teil in der sprachlich
vollzogenen Darstellung als anders und abweichend jenseits dessen, ob
diese Benennung positiv oder negativ belegt, intendiert oder unbewusst
verwendet wird.
Wie also über den Anderen gesprochen wird und warum, folgt nicht nur dem simplen Begehren
nach Erkenntnis und Wissen. Vielmehr wird durch dieses Sprechen erst der Andere geschaffen,
der historisch und gesellschaftlich im Laufe des Kolonialismus, der Sklaverei, des
Antiziganismus, des Antisemitismus und der heutigen rassistischen Politiken sowie Asyl- und
Migrationspolitiken mit den faktischen Gewalteffekten dieser Diskurse, Praktiken und Politiken
zu kämpfen und zu leben hat.[18]

Durch die sprachliche Benennung und damit Herstellung als anders wird
kontinuierlich eine Norm konstituiert und/oder bestätigt, die auch gerade
deshalb so machtvoll wirken kann, da sie unbenannt oder in linguistischer
Terminologie ›unmarkiert‹ bleibt, wie beispielsweise an der Nicht-
Benennung von ›weißen Deutschen‹ gegenüber ›Schwarzen (Deutschen)‹
deutlich wird. In der Regel ist die aufgerufene und teilweise oder ganz
realisierte Opposition hier ›Deutsche‹ und ›Schwarze‹, wodurch ein Bild
von deutscher Identität als weiß normalisiert und gleichzeitig eine
Vorstellung Schwarzer deutscher Identität verunmöglicht wird. Genau diese
Praktiken der Benennung bzw. sprachlichen Herstellung von Weißsein als
Nicht-Benennung und als unmarkierte Norm sind besonders machtvoll für
Alltagsverständnisse und Konzeptualisierungen von Identitäten. Dies
bedeutet für die Linguistik im Rahmen der Critical Whiteness Studies, dass
die systematische Beschäftigung mit der sprachlichen Nicht-Benennung des
hegemonial Dominanten ein wichtiges Forschungsziel ist.
Der Rassismus liegt in der kontinuierlichen Tradierung von
Normalitätsvorstellungen, die durch die Nicht-Benennung als
Selbstverständlichkeiten immer wieder wiederholt und weiter verfestigt
werden. Weißsein wird so nicht nur als Norm kontinuierlich reproduziert,
gleichzeitig auch entgeht es durch die Handlung der Nicht-Benennung
allein schon der Möglichkeit einer Diskriminierung, die bei den
markierenden Benennungen kontinuierlich gegeben ist. Die Nicht-
Benennung sehe ich hier – und das ist zugleich eine wichtige Neuerung für
linguistische Analysen, die auch an diesem Punkt von Critical Whiteness
Studies inspiriert sind – ebenso als eine sprachliche Handlung, und zwar des
Schweigens, Übergehens, Ignorierens an. Es handelt sich in dieser
Sichtweise in dem konkreten Fall der im konventionalisierten
Sprachgebrauch systematischen Nicht-Benennung von Weißsein um eine
extrem wirkmächtige Strategie der Normalisierung von Weißsein, die, wie
weiter oben ausgeführt wurde, strukturell und kognitiv von hoher Relevanz
für die Reproduktion von Weißsein als unhinterfragbarer Norm dient. In
Anlehnung an Irvine und Gal[19] kann hier auch von einem Prozess der
sprachlichen Auslöschung (erasure) gesprochen werden, der dann
stattfindet, wenn eine Ideologie ein soziolinguistisches Feld vereinfacht und
die Aufmerksamkeit auf nur einen Aspekt oder eine Dimension zieht und
dadurch bestimmte sprachliche Formen und Gruppen unsichtbar macht oder
ihr Bild so herstellt, dass es besser zu der herrschenden Ideologie passt.
Jegliche Form von Stereotypisierung kann in dem Sinne als eine
gleichzeitige Auslöschung bezeichnet werden.
Auch eine sprachhistorische Analyse der Genese von
Benennungspraktiken[20] kann wichtige Aufschlüsse über die Tradierung
von Vorstellungen, Stereo- und Prototypisierungen liefern. Eine Analyse
deutscher Benennungspraktiken im öffentlichen Kontext könnte die
Normsetzung von Weißsein und die damit einhergehende De-
Thematisierung weißer Privilegien eindrucksvoll herausarbeiten. In einem
weiteren Schritt kann die Analyse von Argumentationsstrategien im
Umgang mit der rassistischen Nicht-Benennung von Weißsein ein vertieftes
Verständnis zu Abwehr- wie Normalisierungsstrategien einer hegemonialen
Position liefern.[21]
Teilweise Parallelen mit den Argumentationsstrategien gegen eine
feministische Sprachveränderung sind feststellbar, ohne dass diese in allen
Fällen ineinander übertragbar sind bzw. ineinander aufgehen. Die doppelte
Ausgrenzung und Diskriminierung Schwarzer Frauen und die
Differenzierung zwischen einer universalisierten weißen und einer
weiblichen weißen Position in der Nicht-Benennung von Weißsein können
hier weitere wichtige Untersuchungsschwerpunkte für zukünftige
Forschungen sein. Grundlegend zu beachtende analytische
Differenzierungen sind die von Selbst- und Fremdbenennung sowie der
sozialen Gruppe, die Weißsein benennt oder nicht benennt. Schäfer-
Wünsche[22] untersucht die afroamerikanische Praxis des Benennens von
weißen Personen und eröffnet mit dieser Forschungsarbeit eine wichtige
weitere Perspektive auf Benennungspraktiken im Kontext von Critical
Whiteness Studies neben einer Thematisierung hegemonialer Benennungen.
Aus einer so ausdifferenzierten Sichtweise auf (Nicht-)Benennung kann die
hegemoniale weiße Position kritisch hinterfragt, neu kontextualisiert und
positioniert und in ihrer Wirkmächtigkeit aufgelöst werden.
Dass Benennungen aber nicht nur in Bezug auf verschiedene
alltagsweltliche Diskurse und im Hinblick auf die Benennung von Personen
wichtige Themenstellungen sind, die die Linguistik in Critical Whiteness
Studies einbringen kann, soll der nachfolgende Teil des Artikels aufzeigen.
Hier will ich verdeutlichen, dass eine linguistische Perspektive in den
Critical Whiteness Studies auch die Linguistik selbst zum kritisch zu
analysierenden Gegenstand haben muss. Auch hier wähle ich wiederum ein
Beispiel aus dem Bereich der Benennungen, um die inhaltlichen
Überschneidungen und Kontinuitäten deutlich zu machen.
FORMEN SPRACHLICHER (NICHT)BENENNUNG VON WEIßSEIN IN DER
LINGUISTIK
Als Beispiel für die Relevanz einer kritischen Betrachtung der Linguistik
als Disziplin mit Hilfe der Critical Whiteness Studies beziehe ich mich im
Folgenden auf zwei zentrale linguistische Benennungspraktiken, die bis
heute wirkmächtig und weitgehend unreflektiert geblieben sind. Dabei
handelt es sich zum einen um die Annahme der Verbindung zwischen Rasse
und Sprache und zum anderen um die Klassifikation von Sprachen in den
modernen Sprachwissenschaften.

RASSE UND SPRACHE


Innerhalb der einschlägigen kritischen Forschung wird es heute als
unumstritten angesehen, dass die Herausbildung von ›Rassenlehren‹ und –
ideologien eng verknüpft ist mit der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit.
[23] Ein Interesse zum Zusammenhang von Sprache und Rasse innerhalb
der philologischen Wissenschaften begann am Ende des 18. Jahrhunderts
mit der ›Entdeckung‹ der indo-europäischen Sprachfamilie und die damit
einhergehenden Institutionalisierung der Philologien, insbesondere der
vergleichenden und historischen Linguistik. Beide entwickelten sich aus
einem Interesse (und Glauben) an eine Verbindung zwischen essentiellen
kollektiven Identitäten und Sprachen. Die Idee der Sprachverwandtschaften
legte die Auffassung/Wahrnehmung nahe, dass diese biologische und
phylogenetisch-kulturelle Verwandtschaften widerspiegele. Die Diversität
unterschiedlicher Sprachen wurde benutzt, um die Unterschiedlichkeit von
Menschengruppen rassifiziert zu belegen. Philologie/Sprachwissenschaft
wurde so assimiliert zu den Naturwissenschaften, zu einer Hilfsdisziplin der
Naturwissenschaften – und gleichzeitig zu einer Grundlage der Ethnologie
bzw. der Völkerkunde.
Die Idee von Sprachfamilien ist im 18. Jahrhundert beginnend das ganze
19. Jahrhundert hindurch an Menschengruppen gebunden, und mit dieser
Vorstellung werden Sprachen zu einem bestimmenden Merkmal für
rassifizierte Konzepte und Nationen. Die im Zuge des europäischen
Kolonialismus von vor allem christlichen Missionaren angefertigten
ethnologisch interessierten Sprachbeschreibungen waren voller
eurozentristischer Vorurteile. In ihnen wurden Sprachmerkmale neben
stereotypisierenden Wahrnehmungen von Körpern, Produktionsweisen,
gesellschaftlichen und familiären Ordnungen sowie Riten gestellt.
Sie untersuchten die Sprache nicht in Handlungszusammenhängen, sondern erfassten sie rein
formal mit äußerst groben Instrumenten und mit einigen Schlagwörtern über ihren Typ. Die
Sprache bekam daher den Charakter eines Merkmals unter anderen, ja eines physischen Merkmals
und zuletzt eines Rassemerkmals.[24]

Es wird deutlich, dass Forschungen zu Sprache und ›Rasse‹ im westlichen


Denken eine längere Tradition enger Verknüpfung haben. Sie sind im 19.
Jahrhundert in der Regel entsprechend als Synonyme aufgefasst worden.
Aus dieser kritischen Beobachtung lässt sich die These ableiten, dass die
Idee einer rassifizierten Kategorisierung von Menschen nur sprachlich
existiert, das heißt dass sprachliche Benennungen, Klassifizierungen oder
Kategorisierungen eine unabdingbare Voraussetzung für die Annahme von
›Rasse‹ sind.[25] Das verbale Othering ist im Zuge des europäischen
Kolonialismus ein zentrales Instrument zur Projektion des Anderen und
damit zur Herstellung der eigenen Normalität geworden.
The Western self is itself produced as an effect of the Western discursive production of its Others.
This means that the Western self and the non-Western other are coconstructed as discursive
products, both of whose ›realness‹ stand in extremely complex relationships to the production of
knowledge, and to the material violence to which ›epistemic violence‹ is intimately linked.[26]
Römer sieht ausgehend von dieser grundlegenden Annahme drei
fundamentale Irrtümer der Sprachwissenschaft, welche gerade im
Zusammenhang einer kritischen Reflexion linguistischer Praktiken und
Ideologien im Kontext von Critical Whiteness Studies als bedeutsam
angesehen werden können: Sprachverwandtschaft sei
Sprecherverwandtschaft und impliziere Blutsverwandtschaft; Entwicklung
von ›niederen‹ zu höheren und höchsten Stufen einer Sprachentwicklung ist
an den bestehenden Sprachen nachweisbar; Sprachgestalt und Kulturhöhe
oder so genannte Kulturfähigkeit von Sprecher/inne/n wird in eins gesetzt.
[27]

SPRACHE UND DIALEKT


Wie diese Ideologie sich auch in konkrete Benennungspraktiken innerhalb
der Sprachwissenschaft umsetzt, die zu einer weitreichenden und
machtvollen Klassifizierung führen, wird an der sprachlichen
Differenzierung zwischen ›Sprache‹ und ›Dialekt‹ deutlich. Implizit und
explizit wird in der Linguistik zwischen ›Sprachen‹ und ›Dialekten‹ als klar
voneinander getrennte Einheiten differenziert: Dialekte werden häufig als
regionale Varianten einer (Standard)Sprache angesehen. Diese tradierte
Differenzierung hat im Zuge von Kolonialismus jedoch eine entscheidende
Rolle für die Herausbildung eines weißen europäischen, kulturellen
hegemonialen Selbstverständnisses gespielt. In der kolonialistischen Logik
sind Dialekte nichts anderes als beherrschte Sprachen und eine Sprache ist
ein Dialekt, der politisch erfolgreich als dominant durchgesetzt worden ist.
[28] Im europäischen kolonialistischen Diskurs sind alle afrikanischen
Sprachen beispielsweise als Dialekte klassifiziert worden, was seinerseits
eine Voraussetzung dafür gewesen ist, diese als minderwertig und
unzivilisiert zu betrachten und eine Sprachpolitik zu betreiben, die diese
Sprachen systematisch unterdrückt, verändert oder ausgerottet hat. Die
Notwendigkeit einer genauen historiografischen Aufarbeitung weißer
linguistischer Praxis in Bezug auf die Einwirkungen auf die
Sprachenlandschaft der Welt wird hier deutlich.
Kolonialismus ist eine Sprachenvernichtung ersten Ranges gewesen, die damit bis heute
weitreichende Auswirkungen auf die Sprachenlandschaft der Welt hat. […] Die Sprachräume, die
wir heute vorfinden, die Verbreitung des Englischen, des Französischen, des Spanischen und des
Portugiesischen als große Weltsprachen sind ein Ergebnis des kolonisatorischen Zugriffs.[29]

Zusätzlich dazu hat die Differenzierung zwischen mündlichen und


verschriftlichten Sprachen sowie die Verschriftlichung vormals
ausschließlich mündlicher Sprachen in ein weißes westliches Schriftsystem
sowie die Ignorierung anderer Schriftsysteme, die es in Afrika gab, auch
eine entscheidende Rolle für weiße europäische Herrschaftsausbreitung
gespielt und gleichzeitig zu grundlegenden sprachlichen und damit
kulturellen Transformationen geführt. Calvet[30] hat als Konsequenz
vorgeschlagen, statt von Sprache und Dialekt von dominierten und
dominierenden Sprachen zu sprechen – eine Sichtweise, die in der
westlichen Linguistik bis heute nicht adaptiert worden ist.
Neben dieser mit der sprachlichen Klassifizierung, durch
wissenschaftliche Disziplinierung machtvoll geförderten rassistischen
Konzeptualisierung von Menschen wurden aber nicht nur afrikanische
Sprachen und ihre SprecherInnen systematisch unterdrückt, sondern
gleichzeitig auch ideologisch bis heute extrem bedeutungsvoll eine
Vormachtstellung des Englischen in der ganzen Welt etabliert.[31] In einem
weitergehenden Schritt wird heute zwischen Standard-Englisch auf der
einen Seite und verschiedenen weiteren Formen des Englischen
unterschieden, wodurch innerhalb der Machtstellung des Englischen eine
weitere Differenzierung eingeführt wird, die von bell hooks für ihre
Diskriminierung all derjenigen, die nicht Standard sprechen, kritisiert wird:
Standard English is not the speech of exile. It is the language of conquest and domination; in the
United States, it is the mask which hides the loss of so many tongues, all those sounds of diverse,
native communities we will never hear, the speech of the Gullah, Yiddish, and so many other
unremembered tongues.[32]

Diese Tradierung einer klassifizierenden Kategorisierung unterschiedlicher


Sprech- und Schreibweisen des Englischen findet sich bis heute in der
Linguistik und den autorisierenden Werken, die durch die Linguistik
entstehen, wie beispielsweise Wörterbücher. Eine kritische Reflexion
rassistischer TäterInnenschaft linguistischer Forschung und Tradierung
kann ein wichtiges Anliegen von Critical Whiteness Studies sein, da hier
Normalisierungen weißer Perspektiven machtvoll und kontinuierlich bis
heute zu finden sind. Da auch die Theoriebildung stets von Machtstrukturen
geprägt ist und diese wiederum zum Ausdruck bringt und weiter verfestigt
oder verschiebt, ist eine Analyse linguistischer Praktiken aus einer Critical
Whiteness Perspektive umso wichtiger. Dem wissenschaftlichen Diskurs
wird hier als Ort der Theorieentwicklung eine hohe sozial angenommene
Autorität zugeschrieben, wodurch die hier stattfindenden
Normierungspraktiken eine besonders hohe Relevanz auch für
Alltagswahrnehmungen besitzen. Die enge Verbindung zwischen dem
zuvor vorgestellten Bereich der kritischen Analyse alltagsweltlicher
Diskurse und dem wissenschaftlichen Diskurs wird hier deutlich.

SPRACHLICHE BENENNUNG VON WEIßSEIN: VERÄNDERUNGSMÖGLICHKEITEN


UND HANDLUNGSPERSPEKTIVEN

Abschließend möchte ich einen weiteren wichtigen Aspekt der


Beschäftigung mit Sprache im Rahmen von Critical Whiteness Studies
aufzeigen. Dies ist eine Handlungsperspektive, die in den Möglichkeiten
sprachlicher Veränderungen besteht. Diese baut auf den zuvor vorgestellten
kritischen Analysen auf.
Entsprechend der feministisch-linguistischen Auffassung, dass
Linguistik nicht deskriptiv sei und auch nicht nur reflektiert analytisch
agieren könne, sondern sprachkritisch handeln und Sprachveränderungen
vorschlagen müsse,[33] wird diese Idee hier auch für die Linguistik im
Rahmen der Critical Whiteness Studies vorgeschlagen. Dies bedeutet als
konkrete Strategie und alltagspraktische Forderung die konsequente
Benennung von Weißsein. Dadurch wird Weißsein seiner Normalität und
seiner Zentriertheit enthoben und kann zu einer von mehreren möglichen
Differenzierungen werden. »Naming ›whiteness‹ displaces it from the
unmarked, unnamed status that is itself an effect of its dominance.«[34]
Eine solche Benennungspraxis würde zugleich neue Perspektiven
freigeben, weiße TäterInnenschaft offen legen und Normalisierungen
aufdecken und dadurch konzeptuelle Veränderungen ermöglichen. Diese
Strategie wird immer von den Unterdrückten und Diskriminierten initiiert
und weitgehend getragen. In der Frage, ob und inwiefern weiße Personen
bereit sind, ihre eigene Perspektive und Position explizit zu benennen und
die Schwarze Kritik auf sich selbst und kontinuierlich kritisch anzuwenden,
kann sich so auch eine Bereitschaft zeigen, die eigene Machtposition in
Frage zu stellen und aufzugeben.
Auch in diesem Band zeigen sich Praktiken der sprachlichen
strategischen Veränderung, indem eine Großschreibung für Schwarz, eine
Kleinschreibung für weiß gewählt worden ist. Auf diese Weise soll die
Unterschiedlichkeit der mit den Schreibungen Schwarz und weiß
verbundenen Perspektiven, Positionen und politischen Implikationen der
Begriffe Rechnung getragen werden, wie die Herausgeberinnen betonen.
Strategische Sprachveränderungen sind Aneignungsformen von Sprache,
die die normierten Vorstellungen und damit verbundenen
Konzeptualisierungen in Frage stellen können, indem sie einen
Sprachgebrauch initiieren, der quer zu unhinterfragten Vorannahmen liegt.
In einer Analyse von Sprachveränderungen in Bezug auf die
Benennungspraktiken von Personen ist es wichtig, zwischen Selbst- und
Fremdappellationen zu differenzieren. So können ReSignifizierungen
pejorisierender Benennungen nur von den so Diskriminierten initiiert
werden,[35] wohingegen die ReSignifizierung bzw. sprachliche Markierung
der dominierenden Perspektive, die in Bezug auf Weißsein auch von
Schwarzen initiiert ist, ebenfalls von den weißen Dominierenden und
Diskriminierenden geleistet werden kann und muss. Oder anders
ausgedrückt: Es gibt keinen neutralen und unpolitischen Sprachgebrauch,
und es ist für weiße Menschen nicht möglich, sich auf eine Argumentation
des Nicht-Wissens und Nicht-So-Meinens zurück zu ziehen. Ich sehe hier
für weiße Menschen als dominierende Gruppe eine zentrale politische
Verantwortungsübernahme, Reflexions- und Handlungsnotwendigkeit.
Meine eigene Erfahrung mit dem Versuch eines veränderten
Sprachgebrauchs, mit dem Versuch der expliziten Benennung von Weißsein
ist es, dass sich dadurch die eigenen Konzeptualisierungen verschieben und
die eigenen Normalitätsvorstellungen herausgefordert werden und ich so
kontinuierlich mit meinem eigenen Rassismus konfrontiert bin.
Die Aneignung und Veränderung, die De-Zentrierung der dominierenden
Sprache kann jenseits der oben angesprochenen Alltagspraktiken zusätzlich
auch in einer linguistischen Forschung zu Weißsein zu einem Thema
werden, mit der die Selbstverständlichkeit der weißen sprachlichen Norm
auch im wissenschaftlichen Kontext herausgefordert wird.
Über die Ebene der sprachlichen Benennungen hinaus eröffnet eine
linguistische Perspektive weitere Fragemöglichkeiten, beispielsweise in
Bezug auf Sprechstil und Gesprächsverhalten. Traditionelle
soziolinguistische Studien zu weißen und Schwarzen Sprechstilen[36]
werden in jüngerer Zeit durch Untersuchungen zur partiellen Re-
Appropriation Schwarzer Sprechstile durch weiße Personen beispielsweise
im hip hop ergänzt.[37] Im Rahmen einer mit Weißsein beschäftigten
Linguistik können diese neu und kritisch als Aushandlungen einer weißen
Identität und als neue hegemoniale Integrations- sowie
Ausgrenzungsmechanismen gelesen werden. Dies sind Beispiele dafür, wie
eine kritische linguistische Perspektive auf Weißsein nachhaltig eine neue
Sichtweise auf dominante Sprachen und Sprechpraktiken und die
kontinuierliche sprachliche Aushandlung hegemonialer Machtgefüge
eröffnen kann.

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ANMERKUNGEN
1 Ich danke den Herausgeberinnen für ihre kritischen Kommentare zu dem ersten Entwurf des
Artikels, dem ich Anregungen für meine eigene kritische weiße Perspektive verdanke.
2 Vgl. Morrison: Playing in the Dark; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland. Zur
Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität«; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«;
Frankenberg: White Women, Race Matters; Dies.: »Introduction«.
3 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik«, S. 18
4 Dieser wird in allen poststrukturalistischen und sozial-konstruktivistischen Denkrichtungen als
grundlegende erkenntnistheoretische Perspektive unterlegt. Mit der Begrifflichkeit ›pragmatisch‹
beziehe ich mich hier auf eine linguistische Terminologie.
5 Der Idee des »Wilden« steht konzeptuell implizit wie explizit der Terminus »zivilisiert«
gegenüber, der seinerseits konzeptuell stark assoziativ aufgeladen ist, ohne das, was mit
»zivilisiert« konkret gemeint ist, in der Regel zu explizieren. Vgl. hierzu unter anderem
Ashcroft, Griffiths & Tiffin: Post-Colonial Studies, S. 209-210; Arndt & Hornscheidt: Afrika
und die deutsche Sprache. Weitere Beispiele für die abwertende Benennung des Anderen im
kolonialen Kontext und die damit gleichzeitig hergestellte positive unbenannte Normherstellung
des weißen Selbst sind Benennungen wie »Kannibale«, »Primitive« und »Eingeborene«.
6 hooks: »Language. Teaching New Worlds/New Words«, S. 167.
7 Rich: On Lies, Secrets, and Silence, S. 199.
8 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 121-122.
9 Vgl. Berger & Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.
10 Frank: Sprachgewalt, S. 116.
11 Vgl. Hall: »The Rediscovery of ›Ideology‹«
12 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 11.
13 Vgl. McConnell-Ginet: »›What’s in a Name?‹«.
14 Vgl. Kilomba: »Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen«.
15 Zudem wird hier die ›Unschuldsannahme‹ der Nicht-Intentionalität der kindlichen Äußerung
kritisch analysiert und der Mythos so genannter ›positiver‹ Rassismen dekonstruiert.
16 Kilomba: »Die Farbe unseres Geschlechts«, S. 119.
17 Vgl. Arndt & Hornscheidt: »›Worte können sein wie winzige Arsendosen.‹«.
18 Steyerl & Gutiérrez Rodríguez: »Einleitung«, S. 9.
19 Vgl. Irvine & Gal: »Language ideology and linguistic differentiation«.
20 Siehe auch den abschließenden Teil dieses Artikels, in dem es um die ReSignifizierung von
Benennungspraktiken geht.
21 Vgl. entsprechende Ansätze bei Kilomba: »Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des
Schwarzen« zu vor allem psychischen Effekten; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland« zu
politischen Aspekten; Arndt & Hornscheidt: »›Worte können sein wie winzige Arsendosen.‹« zu
sprachlich-politischen Aspekten.
22 Vgl. Schäfer-Wünsche: Wenn von Weißen die Rede ist.
23 Vgl. z.B. einführend: Ashcroft: »Language and Race«; Römer: Sprachwissenschaft und
Rassenideologie.
24 Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 40-41. Römer benutzt den Begriff der
›Rasse‹ unkritisch und unreflektiert in ihrer Monografie, was ein wichtiger Kritikpunkt an ihrer
Studie ist, die ansonsten wichtige Einsichten in die Herstellung eines Zusammenhangs von
Sprache und Rasse in und durch die Sprachwissenschaften liefert.
25 Für eine Genealogie des Begriffs vgl. auch Arndt: »Rasse«.
26 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 17.
27 Vgl. Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 41-42.
28 Vgl. Calvet: Linguistique et Colonialisme, S. 54.
29 Schlieben-Lange: »Einleitung«, S. 8.
30 Vgl. Calvet: Linguistique et Colonialisme, S. 54.
31 Vgl. vor allem Phillipson: Linguistic Imperialism; Pennycook: English and the Discourses of
Colonialism.
32 bell hooks: »Language«, S. 168.
33 Vgl. beispielsweise Schoenthal: »Personenbezeichnungen im Deutschen als Gegenstand
feministischer Sprachkritik«, wo diese Auffassung programmatisch formuliert worden ist.
34 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 6.
35 Siehe z.B. die ReSignifizierung von ›nigger‹ im U.S.amerikanischen Kontext in bestimmten
sozialen Gruppen (Kennedy: Nigger) und von queer (McConnell-Ginet: »›What’s in a
Name?‹«).
36 Vgl. Labov: »Are Black and White Vernaculars Diverging?«.
37 Vgl. Cutler: »Yorkville Crossing«.
JULIA ROTH
»STUMM, BEDEUTUNGSLOS, GEFRORENES WEISS«.
[1]
DER UMGANG MIT TONI MORRISONS ESSAYS IM
WEIßEN DEUTSCHEN KONTEXT

It always seemed to me that the people who invented the


hierarchy of ›race‹ when it was convenient for them ought not to
be the ones to explain it away, now that it does not suit their
purposes for it to exist.[2]

Oppressive language does more than represent violence; it is


violence; does more than represent the limits of knowledge; it
limits knowledge.[3]

Das Schwerpunktthema der Oktoberausgabe (2004) der renommierten


deutschen Zeitschrift Literaturen ist Toni Morrison gewidmet bzw. dem
Thema Liebe, so der Titel ihres neuesten und 2004 auf Deutsch
erschienenen Romans. In Sigrid Löfflers Portrait der Autorin bleibt die
weiße Perspektive unreflektiert. Morrison wird unter dem Titel
»Hohepriesterin eines unsichtbaren Volkes« als Schwarze Autorin und
Agentin in eigener Sache dargestellt (»eine schwarze Hohepriesterin mit
silbernen Dreadlocks […] will mit ihren Romanen eine literarische
Tradition herstellen, die es bisher nicht gab […] indem sie ihren afro-
amerikanischen Lesern die unterdrückte Geschichte ihrer Landsleute von
den Tagen der Sklaverei bis heute erzählt, vor allem deren
allerunsichtbarstes Kapitel – die Geschichte der versklavten Frauen«)[4].
Der Aspekt ›race‹[5] und vor allem dessen Konstruktion, der in allen
Romanen Toni Morrisons eine Rolle spielt, wird nicht erwähnt. Löffler
bezeichnet Love als »vierten Roman, wie Frauen lieben« und verweist
damit auf eine Lesart, die andere Aspekte – etwa die Frage von Identität
und Erfahrung im Spannungsfeld von ›race‹-, class- und gender-Diskursen
– ausspart. Auch blendet sie im gesamten Artikel ihre eigene weiße Position
und die damit verbundene Definitions- und Repräsentationsmacht, die sie
über die afroamerikanische Schriftstellerin ausübt, aus. Sie scheint die in
den Essays diskutierten Diskurse nicht zu kennen bzw. als unwichtig zu
erachten. Das Problem des Rassismus und der Marginalisierung bleibt ein
›Schwarzes‹ und zudem auf den spezifisch US-amerikanischen Kontext
beschränkt.
In Toni Morrisons literaturkritischen Essays geht es darum, den
Zusammenhang zwischen bestimmten Repräsentationsformen des
›Anderen‹ im Bereich der Literaturkritik sowie dem literarischen Kanon
und spezifischen Machtstrukturen innerhalb dieses Bereiches aufzudecken
und in Frage zu stellen. In den USA ist Toni Morrison als Romanautorin
und als public intellectual und Literaturkritikerin bekannt.[6] Ihr Essay
»Unspeakable Things Unspoken: The African-American Presence in
American Literature« und der Essayband Playing in the Dark[7] haben die
US-amerikanische Kanondebatte und das Selbstverständnis der
Literaturkritik der letzten Jahre maßgeblich geprägt.[8] Toni Morrisons
Essays entstanden im Kontext dieser Debatte, in der das Selbstverständnis
des literarischen Kanons und seine Exklusivität hinterfragt und zur
Disposition gestellt wurde. Da der tradierte Kanon sich auf Werke weißer
toter Männer beschränkte, forderten viele – besonders zuvor marginalisierte
– Stimmen dessen Abschaffung.[9] Mit ihren Essays interveniert Toni
Morrison in diese Debatte. Anstatt für die Abschaffung des Kanons und der
pauschalen Ablehnung der darin enthaltenen Texte einzutreten, plädiert sie
für eine neue Lesart der Texte, die die bisher unmarkierte weiße Position
kritisch reflektierend aufnimmt. Rassismus bleibt so kein rein ›Schwarzes‹
Problem, sondern stellt ein Verhältnis dar, das auf einer Ideologie der
binären Opposition basiert, die die weiße Seite privilegiert. Die Essays
verhandeln den Diskurs um die Repräsentations-, Definitions- und
Handlungsmacht marginalisierter Gruppen. Darüber hinaus hinterfragen sie
die herrschenden Machtstrukturen auf der Ebene der Literaturkritik. In den
USA ist es der Autorin gelungen, sich in dominierende Diskurse
einzuschreiben und die Kategorie Whiteness als Analyseinstrument der
Literaturwissenschaften zu etablieren. Die Essays - und das Konzept
Whiteness - sind in den USA fester Bestandteil sowohl der Analyse von
Morrisons Texten selbst[10] als auch der Arbeiten in weiten Bereichen der
Literatur- und Kulturwissenschaften.[11]
In Deutschland ist Toni Morrison nach wie vor nahezu ausschließlich als
Romanautorin bekannt. So wird Toni Morrison in Löfflers Text eine
ambivalente Haltung entgegengebracht. Einerseits erfahren ihre Romane –
wie spätestens seit ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis in ganz
Deutschland – Lob und breites Interesse. Toni Morrisons Interventionen in
dominierende politische und literatur- bzw. kulturkritische Diskurse, wie sie
sie in ihren Essays vornimmt, werden hingegen starke Widerstände
entgegengebracht.
Anhand einer Analyse der Rezensionen von Toni Morrisons Essays in
Deutschland möchte ich untersuchen, inwiefern diese Haltung
symptomatisch ist für den weißen deutschen Diskurs.[12] Folgende
Fragestellungen scheinen mir dabei von Interesse: Wie wurden Toni
Morrisons literaturkritische Essays im weißen deutschen Kontext der
Literaturkritik (und -wissenschaft) rezipiert? Wird Whiteness als
Analysekategorie thematisiert? Gibt es eine Bezugnahme auf das Konzept
Critical Whiteness? Inwiefern findet es Eingang in die Rezeption und
Analyse von Morrisons Romanen? Findet in den Rezeptionen eine kritische
Reflektion der weißen Position statt? Gibt es Rückkoppelungen an den
deutschen Kontext (oder wird Whiteness als spezifisch US-amerikanisches
und an den Kontext der Sklaverei gebundenes Phänomen beschrieben)?
Bestätigt sich der Eindruck, der im eingangs erwähnten Text entsteht,
stellen sich weitere Fragen, die hier nur angerissen werden können. Was
bedeutet es, wenn eine renommierte Autorin wie Toni Morrison, wie es
scheint, zwar für ihr Prosawerk gelobt wird, ihre Essays hingegen nicht
anerkannt werden? Welche Rolle spielt das Genre des Essays dabei?
Welche Interessen stehen hinter einer Tradition, die diesem Genre
ablehnend gegenübersteht? Was sagen die Rezensionen über den weißen
deutschen Umgang mit Weißsein und die Konstruktion weißer deutscher
(speziell weißer deutscher intellektueller) Identität aus? In welchem
Verhältnis stehen ›Deutschsein‹ und ›Weißsein‹ gemäß der dominanten
Vorstellung? Welche Interessen stehen hinter diesem Widerstand, die
afroamerikanische Autorin auch als Literaturkritikerin anzuerkennen?[13]

WÄCHTER DER DEFINITIONSMACHT: WEIßE DEUTSCHE REZENSIONEN VON


TONI MORRISONS ESSAYBAND
Toni Morrison bemerkte 1987 in einem Interview: »Critics generally don’t
associate black people with ideas. They see marginal people; they just see
another story about black folks. They regard the whole thing as
sociologically interesting perhaps but very parochial.«[14] Toni Morrisons
Lesart zielt darauf, den Prozess des Unterscheidens in den Blickpunkt zu
rücken und die Generalisierung und Vereinnahmung der dominierenden
unmarkierten Sprecherposition zu thematisieren. Es geht darum, Weißsein
zu artikulieren, das die Konstruktion von Schwarzsein impliziert und
darüber hinaus die Dichotomie zwischen Theorie und Praxis bzw.
KünstlerIn und KritikerIn aufzulösen. In ihren Essays fordert sie eine
kritische Referenz auf die eigene literaturkritische Praxis. Es geht darum,
die eigene Machtposition und die damit verbundenen Einschluss- und
Ausschlussstrategien zu hinterfragen und sich nicht länger außerhalb dieser
Strukturen zu verorten. Das heißt auch, diese Position und die damit
verbundene Autorität zur Disposition zu stellen. Toni Morrison setzt sich
dafür ein, dass auch zuvor Marginalisierte Zugang zu hegemonialen
Diskursen und den entsprechenden mit dem Zugang zu Öffentlichkeit
verbundenen Positionen erhalten. Durch Einführung ihrer eigenen,
kritischen Stimme sowie ihrer literaturkritischen Lesart transformiert sie
tradierte Formen der Repräsentations-, Definitions- und Handlungsmacht
auf der Ebene der Literaturkritik. »By challenging the boundary between
artist and critic, Morrison creates a legitimate place in critical literary
discourse for her own voice.«[15] Viele weiße US-amerikanische
Rezensenten von Toni Morrisons Essayband Playing in the Dark erkennen
ihre theoretische Arbeit an und beziehen zumindest eine kritische Referenz
auf die eigene literaturkritische Praxis mit ein.[16] So kann McBride in
seiner Untersuchung von Morrisons Essays für den US-amerikanischen
Kontext 1993 zurecht behaupten, »As the academy has moved from the
absence to the presence of African Americans, the emphasis […] progresses
from imagining and theorizing about African Americans to African
Americans imagining and theorizing themselves.«[17] Interessant scheint
hier die Frage, inwiefern dieser Erfolg auf die Wahl des Genres Essays
sowie auf eine spezifische afroamerikanische Essaytradition
zurückzuführen ist. Gerald Early verweist auf den Zusammenhang
zwischen der Wahl des Genres Essay und dem Einfluss auf gesellschaftliche
Prozesse. »[B]lack essays or essay collections have had generally a large, in
some cases an even larger impact on American life and letters than most
successful black novels.«[18] Toni Morrisons Position als erste
afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin und renommierte Autorin
spielt hinsichtlich der Autorisierung ihrer Essays sicher ine entscheidende
Rolle. Der Essay dient ihr so als Rahmen für Sprecheroptionen und als
Zugang zu Öffentlichkeit. Welche Rolle bzw. Tradition wird dem Genre
Essay in dominierenden weißen deutschen Diskursen zugeschrieben?
Welche Rückschlüsse lassen sich aus der ablehnenden Haltung gegenüber
Toni Morrisons Essays auf die Interessen bezüglich bestimmter
Machtverhältnisse im Bereich der weißen deutschen Literatur- und
Kulturkritik ziehen?
Im Großteil der weißen deutschen Rezensionen des Essaybandes Im
Dunkeln spielen wird der Schritt zur kritischen Selbstreflexion nicht
vollzogen. Das in Löfflers Text zu beobachtende Muster des Lobes der
Romane bei gleichzeitiger Nichtanerkennung der Essays zieht sich durch
die meisten Rezensionen. So beschreibt etwa Susanne Weingarten unter
dem Titel »Die Schwarze für Weisse« im Spiegel vom 16. August 1993
Toni Morrison von ihrer vermeintlich zentralen und unmarkierten
Perspektive und bedient sich dabei rassistisch markierender
Zuschreibungen.[19] Toni Morrisons Einfluss im Bereich der Literaturkritik
wird nicht erwähnt, die Essays nur am Rande und in einem Nebensatz:
»Auch den akademischen Jargon beherrscht sie, wie sie neulich mit einem
Band literaturwissenschaftlicher Aufsätze bewiesen hat.« Auch Paul
Ingendaay behält sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 8.
Oktober 2003 den Raum der Literaturbewertung und -kritik lieber selbst
vor:[20]
Bücher zu schreiben und gelesen zu werden: mehr kann eine schwarze Autorin nicht tun. Die
schwarze Literatur, für Toni Morrison ist sie eine offene Tür, durch die auch andere gehen werden.
Es habe sich gezeigt, so sagt sie, daß wir aus einem Raum, den wir einmal betreten haben, nicht
mehr so schnell zu vertreiben sind.

Der letzte Absatz des Artikels ist bezeichnend, insofern er Toni Morrisons
zwar (indirekt) zitiert, sich mit ihren Essays aber nicht inhaltlich
auseinandersetzt. Entsprechend begrenzt sich der Verweis auf Toni
Morrisons literaturkritische Essays auf folgende Bemerkung: »Ihre Essays
zur schwarzen amerikanischen Literatur […] sind einer der klügsten
Beiträge zur political correctness in Amerika, einer Debatte, die unentwegt
mit Scheuklappen und falschen Rücksichten geführt wird.« In der FAZ vom
2. April 1994 erklärt Ingendaay Im Dunkeln spielen unter dem vielsagenden
Titel »Figur im Dunkeln« darüber hinaus zu einem Buch, »auf das die
amerikanische Literaturkritik noch oft zurückkommen wird« (meine
Hervorhebung). Entsprechend habe es »[d]as deutsche Publikum (..) da
schwerer, denn die Übersetzung ist zu einem Drittel akzeptabel und zu zwei
Dritteln eine Zumutung.« Statt eine Rückkopplung an den deutschen
Kontext und die eigene weiße Position zu vollziehen, flüchtet er sich auf
eine andere Ebene. So schließt der Artikel mit einer heftigen Polemik gegen
die Übersetzerinnen.[21]
Auf ähnliche Weise umgeht es Joachim Auch in seiner Rezension des
Essaybandes in der Stuttgarter Zeitung vom 1. Juli 1994, Toni Morrisons
als Literaturkritikerin anzuerkennen.[22] Die Essays werden von vornherein
als nettes aber uninteressantes Beiwerk der »unterhaltsamen« Romane[23]
präsentiert: »Wer aber wissen will, was sich die Dichterin Toni Morrison
beim Dichten gedacht hat, der kann nun auch zu einer Essaysammlung der
Professorin Toni Morrison […] greifen.« Diese bewertet Auch von seiner
unhinterfragten Perspektive eurozentristischer Überlegenheit. Er arbeitet
ungebrochen mit den Mitteln der Exotik, so dass Toni Morrisons Romanen
der Status ethnologischer Texte zugeschrieben wird. Die Ebene der
Literaturkritik behält auch er sich selbst vor. »Dort, wo sich Toni Morrison
[…] auf Metaebenen begibt und etwa eine ›afrikanistische Person‹
konstruiert […], verheddert sie sich […] mehr und mehr in Abstraktionen.
[…] Vielleicht sollte man weiterhin Toni Morrisons Romane einfach so
lesen. Lesen? Ach was, verschlingen.« Diese rhetorische Geste legt
Assoziationen der Einverleibung nahe.
Sven Boedecker liest die Essaysammlung »Im Dunkeln spielen« im
Tagesspiegel vom 12. Juni 1994 als »wertvolle[n] Beitrag zur Betrachtung
der amerikanischen Kulturidentität und damit zu einem zeitgemäßen
Verständnis Amerikas.« Im Anschluss an eine Beschreibung der US-
amerikanischen Kanondebatte verortet er die Essays in diesem kulturellen
Kontext.[24] Eine inhaltliche Auseinandersetzung und eine selbstreflexive
Rückkoppelung an den eigenen Kontext erfolgt auch bei ihm nicht.
Vielmehr klingt eine USA-kritische belehrende Haltung von der Warte
europäischer kultureller Überlegenheit an. Schwarze bzw. weiße
Subjektpositionen markiert er nicht.
Eine Ausnahme bildet Christina Adomakos Rezension der
Essaysammlung in der Kommune Nr. 6/1994.[25] Als einzige deutsche
Rezensentin reflektiert sie ihre eigene Position und thematisiert den eigenen
Rezeptions- und Verstehensprozess beim Lesen der Essays:
Ich habe mich als Schwarze nie gefragt, ob beispielsweise Hemingway oder McCuller rassistisch
geprägt waren, nach Lektüre dieser Essays frage ich mich, ob ich von nun an in der Lage sein
werde, ein von einem/einer weißen AutorIn geschriebenes Buch zu lesen, ohne nach der
›Schwarzen Präsenz‹ zu suchen. […] [N]eue Literaturrezeptionsmöglichkeiten und Anstöße
werden auf jeden Fall geboten.

Sie würdigt die theoretisch-analytische Dimension der Essays und


reflektiert den eigenen Erkenntnisprozess, den das Lesen der Essays bei ihr
ausgelöst hat: »Es mag erstaunen (mich hat es zumindest erstaunt), daß
sogar humanistisch Gebildete und Freidenkende sich diesem Bild des
schwarzen Menschen anschlossen.« Es stellt sich die Frage, inwiefern die
Haltung der Rezensentin im Zusammenhang mit ihrer eigenen
Subjektposition steht. Diese scheint in den Feuilletons der großen deutschen
Zeitungen mit ihrem hegemonialen Anspruch auf die Dominanz
gesellschaftspolitischer und kultureller Diskurse noch immer ›undenkbar‹
zu sein: Die einzige Rezension einer Schwarzen Frau erscheint in einer
kleinen und (für den ›Mainstream‹) relativ unbekannten Publikation.
Als aufschlussreich erweist sich zudem ein Blick in Rezensionen von
Toni Morrisons Essayband, die in der Schweiz erschienen sind. Diese lassen
tendenziell eine größere Bereitschaft erkennen, selbstreflexiven und
differenzierteren Stimmen einen Raum zu bieten. »Dass sie auch eine
hervorragende Essayistin ist, beweist jetzt der Essayband ›Im Dunkeln
spielen‹ […], in dem Morrison die Betrachtung der amerikanischen
Literatur kurzerhand revolutioniert« (meine Hervorhebung), betont Astrid
Deuber-Mankowsky im Lead-In ihrer Rezension von Im Dunkeln spielen in
der Schweizer Wochenzeitung (WoZ) vom 27. Mai 1994. Bereits der Titel
lenkt die Konzentration auf die weiße Seite: »Stumm, bedeutungslos,
gefrorenes Weiss«. Die Bildunterschrift bezieht sich auf die inhaltlichen
Aspekte der Essays: »Toni Morrison: Wo wird Literatur zur Komplizin des
Rassismus?« Anschließend setzt sich die Rezensentin ausführlich mit dem
Inhalt der Essays und dem Konzept Whiteness auseinander. Die
Rezensentin reflektiert ihren eigenen Leseprozess und sieht sich als Leserin
als Teil des Textes:
Es gibt Bücher, die einmal, zweimal, dreimal gelesen sein wollen. Nicht, weil sie schwierig oder
unverständlich geschrieben sind, sondern weil das Erfassen ihrer Bedeutung eine Veränderung bei
den Lesenden erfordert […] Oft sind es Bücher, die ein neues ›Verstehbarkeitsmodell‹ in eine
Wissenschaft oder in unser Selbstverständnis einführen. Toni Morrisons Essaysammlung ›Im
Dunkeln spielen‹ ist ein solches Buch.[26]

Die Rezensentin erkennt Toni Morrison als Literaturwissenschaftlerin und -


kritikerin an und nimmt Bezug auf die Parallelen zum feministischen
Kontext, an den Morrisons Ansatz anknüpft. »Die Konstruktion des
›Schwarzseins‹ funktioniert dabei als Katalysator, und wenn das an die
Funktion des ›Weiblichen‹ erinnert, wie sie in der feministischen
Literaturwissenschaft beschrieben wurde, so ist das kein Zufall.« Durch das
einschließende (mehrfach verwendete) »uns« signalisiert die Rezensentin,
dass sie sich (als Leserin und Literaturkritikerin) persönlich angesprochen
fühlt und die literaturkritische Analyse Morrisons anerkennt. »[D]ie
schwarze Schriftstellerin […] führt uns die Methode der Dekonstruktion in
ihrer gelungensten Weise vor, die Kritik des Rassismus mit jener des
Sexismus verbindend, in der Haltung höchsten Vertrauens in die Literatur
und die Sprache.« (meine Hervorhebung) Dennoch bleibt auch hier
wiederum Feminismus als weiße Praxis unmarkiert. Im letzten Absatz
vollzieht die Rezensentin die Rückkoppelung an die eigene Position und die
Ebene der Literaturwissenschaft und -kritik:
Dabei löst sie auf bestürzende Weise ihr Vorhaben ein, den kritischen Blick vom rassischen Objekt
zum rassischen Subjekt zu wenden. Die Literaturgeschichte wird neu geschrieben werden müssen,
wenn sie sich denn, wie Toni Morrison selbst, der Frage verpflichtet fühlt, wie Wissen von
Invasion und Eroberung zu Enthüllung und Wahlfreiheit umgestaltet werden kann.[27]

Diesen Schritt vollzieht auch Angela Schader in ihrer Rezension in der


Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 22. Juni 1994:
In dieser Defintion des Schwarzen als Projektion erfüllt sich das Programm der Essaysammlung:
das ›Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu
wenden; von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden‹.
[28]

Unter dem pointierten Titel »Literarische Schatten-Existenzen. Toni


Morrison zum schwarzen Hintergrund ›weisser‹ Kultur«[29] beweist sie
eine fundierte Kenntnis des afroamerikanischen Diskurses und setzt diesen
auch bei den Lesenden voraus: »Dass aber freie Kost und Logis in ›Onkel
Toms Hütte‹ nicht unbedingt das höchste Ziel afroamerikanischer
Aspiration repräsentieren, dürfte mittlerweile bekannt sein.« Sie erkennt die
theoretischen Ausführungen als wichtigen Beitrag zu einem offenen,
komplexen Diskurs entgegen dem hegemonialen Anspruch auf
Allgemeingültigkeit an und betont die Prozesshaftigkeit jeglicher Form von
Wissen. Damit folgt sie einem Ansatz vieler afroamerikanischer
feministischer Kritikerinnen.[30]
Auch Bernd Klähn scheint mit dem US-amerikanischen Diskurs vertraut
zu sein. Er nimmt Toni Morrison als Literaturwissenschaftlerin und -
kritikerin ernst. So benennt er in der Einleitung seiner Rezension in der
Basler Zeitung vom 15. April 1994 (Titel: »Das (un)heimliche Schwarze«)
auf Morrisons »Kompetenz im aktuellen Spannungsfeld von ›blackness‹
und ›women studies‹ auf einer Seite und Sujetgestaltung, Stil und
darstellerisches Einfühlungsvermögen […] auf der anderen.«[31] Diesen
Eindruck erweckt auch seine Rezension in der Berner Zeitung Der Bund
vom 28. Mai 1994: »Wer sie als Erzählerin schätzen gelernt hat – und sei es
auch erst nach ihrer Auszeichnung mit dem Literatur-Nobelpreis! – erhält
[…] nun auch Gelegenheit, die Literaturkritikerin Toni Morrison
kennenzulernen.« Klähn erkennt Toni Morrison als ebenbürtige Kritikern an
und gesteht ihr eine eigene Sprecherposition zu. Die kurze Rezension
schließt mit einem Zitat: Toni Morrison »legt überzeugend dar, dass
Schwarz und Weiss die Grösse der amerikanischen Literatur ausmachen
[…]. Das Weiss allein ist stumm, bedeutungslos, unergründlich, zwecklos,
gefroren, verhüllt, verschleiert, schrecklich, sinnlos, unversöhnlich.«[32]
Es stellt sich die Frage, welche Rolle die Wahl des Genres Essay in
Bezug auf die Autorisierung des darin Gesagten sowie auf den Raum, der
deren Rezension eingeräumt wird spielt. Gibt es in der Schweiz eine andere
Essaytradition als in Deutschland?
Die insgesamt sehr viel größere Offenheit für differenziertere und
sachlichere Herangehensweisen in den Schweizer Publikationen lässt
interessante Rückschlüsse auf die dominierende weiße deutsche Haltung
ziehen. Es scheint nicht haltbar, die weiße deutsche Ignoranz gegenüber
Toni Morrisons literaturwissenschaftlichen Essays allein durch den
unterschiedlichen historischen bzw. kulturellen Kontext – etwa durch die
Absenz der Erfahrung der Sklaverei oder die relativ geringe Präsenz
Schwarzer im direkten sozialen Umfeld – zu begründen. Die Rezensenten
in den Schweizer Publikationen zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, sich
in Diskurse aus anderen Kontexten einzuarbeiten und diese auf die eigene
(implizit als weiß gedachte) Position zu beziehen.[33] In den erwähnten
Rezensionen deutscher Publikationen wird fast durchgängig eine konkrete
inhaltlich-kritische Auseinandersetzung mit den Essays und deren
Anerkennung als Beitrag zum literaturkritischen Diskurs verweigert.
Stattdessen lenken sie den Blick auf »Nebenschauplätze« wie etwa das
»Phänomen Morrison«, die amerikanische Geschichte/Kulturlandschaft
oder die Romane. Entsprechend werden die in den Essays entwickelten
literaturkritischen Ansätze in den weißen deutschen Rezensionen von Toni
Morrisons zuletzt erschienenen Romanen nicht berücksichtigt, wie die
folgenden Beispiele belegen.

WIDER DEN ESSAYISTISCHEN GEIST


»In any case, as far as the future is concerned, when one writes, as critic or
as author, all necks are on the line«,[34] lautet das Fazit von Toni Morrisons
Essay »Unspeakable Things Unspoken. The Afro-American Presence in
American Literature«. Mit der Wahl des Genres Essay richtet sich Toni
Morrison implizit gegen ein System, das auf der Einteilung in Sparten und
den damit verbundenen Hierarchisierungen und Ausgrenzungen beruht. Die
offene Form des Essays und seine Stellung zwischen wissenschaftlichem
und nichtwissenschaftlichem Schreiben steht für eine kritische Haltung
gegenüber tradierten Grenzziehungen.[35] Die meisten weißen deutschen
Rezensionen von Toni Morrisons Essays lassen einen starken Widerstand
gegen die Anerkennung des Konzepts Whiteness und der damit
verbundenen Auflösung der binären Opposition, die die weiße Seite
privilegiert, erkennen. Matthias Wegner scheint die Auflösung der
Dichotomie zwischen AutorIn und KritikerIn zu widerstreben. Er kritisiert
in der Rezension des Romans Jazz in der FAZ vom 30. März 1993, in der
New York Times würden »wichtige Neuerscheinungen oft nicht von
Kritikern, sondern von Schriftstellern beurteilt«. Entsprechend verweist er
Toni Morrison klar in die begrenzte Nische der Literatur: »Toni Morrison
[…] ist der Beweis dafür, daß in den Vereinigten Staaten die höchsten
Ränge im literarischen Leben längst auch schwarzen Autorinnen offen
stehen.« Die literaturkritischen Essays, deren Anerkennung eine
Autorisierung ihrer literaturkritischen Stimme bedeuten würde, tut er ab in
dem kurzen Satz »Toni Morrison hat kluge Essays über die ›weiße‹
Literatur Amerikas veröffentlicht und mit ihrer Verteidigung des Begriffs
›Nigger‹ bei Mark Twain auch Kritik provoziert.« Ein Bezug zwischen den
Inhalten der Essays und den Romanen wird nicht hergestellt.
Auch die Rezension des Romans Paradies im Spiegel vom 19. Januar
1998 lässt einen starken Widerstand gegen die Auflösung der Grenzen
zwischen ›Theorie‹ und ›Praxis‹ respektive ›Literatur‹ und ›Kritik‹
durchblicken: »Morrison kommt ihr Drang, als Erzählerin zugleich
Aufklärerin sein zu wollen, in die Quere.« Toni Morrisons Erfolg wird vom
Blickpunkt europäischer Geringschätzung zum Resultat US-amerikanischer
Massenkultur degradiert: »Die komplizierte Dichterin wird in den USA zur
Heldin der Massenkultur. […] In Deutschland wäre diese Verquickung von
›High‹ und ›Low‹ undenkbar.« Andere Aspekte als das kulturelle
›Phänomen‹ Toni Morrison werden ausgeblendet.[36] Auch die deutschen
Rezensionen von Toni Morrisons zuletzt erschienenem Roman Liebe lassen
keinerlei Auseinandersetzung mit der theoretischen Arbeit der Autorin,
geschweige denn dem Konzept Whiteness, erkennen, wie schon der
eingangs erwähnte Text von Sigrid Löffler zeigt. Die einseitige
Konzentration auf das Thema ›Liebe‹ lässt sich besonders in den
Rezensionen von Liebe auch in fast allen deutschen Frauenzeitschriften
beobachten.[37] Entsprechend wird Toni Morrison im Interview in der
BRIGITTE vom 18. August 2004 unter dem Titel »Romantische Liebe ist
sexuelle Liebe. Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison über das größte der
Gefühle« ausschließlich zum Thema Liebe befragt. Zudem wird die
Thematik im überwiegenden Teil der deutschen Rezensionen
essentialistisch-pauschalisierend auf ›die Frauen‹ beschränkt.[38] Hier wäre
zu fragen, inwiefern dies auf die wesentlich später und in weitaus
geringerem Umfang erfolgte Institutionalisierung der Frauenforschung in
Deutschland einerseits und die Unkenntnis bzw. Ignoranz gegenüber der
Diskurse Schwarzer Feministinnen andererseits zurückzuführen ist. Die
wiesen in den USA schon in den 1980er Jahren auf die Vereinnahmung und
Essentialisierung weiblicher Erfahrung von Seiten weißer Feministinnen
hin und stießen so die Debatte um die differences within und die Pluralität
von Identitäten und Erfahrungen maßgeblich an und verwiesen auf die
essentialistische Vereinnahmung durch weiße Feministinnen.[39] Auch in
Deutschland gab es entsprechende Debatten.[40] Diese wurden bisher
jedoch nicht auf breiter Ebene wahrgenommen, wie die Rezensionen in den
Frauenzeitschriften exemplarisch belegen. Es findet keine
Auseinandersetzung mit anderen Identität stiftenden Aspekten, geschweige
denn der eigenen hegemonialen Subjektpositionen statt. Die Ablehnung der
Anerkennung von Toni Morrisons Essays und deren Inhalt in den weißen
deutschen Rezensionen von Morrisons Romanen verweisen auf einen
immensen Widerstand, die eigene Machtposition zu reflektieren und zur
Disposition zu stellen und für andere zu öffnen sowie ein Interesse, an
tradierten Grenzziehungen und Hierarchien im Bereich der Literatur- und
Kulturkritik festzuhalten.

WEIßE VERWEIGERUNG
Wenn die Buchrezensionen in den Feuilletons namhafter Zeitungen Einfluss
auf den Verkauf haben, ist es nicht verwunderlich, dass Toni Morrisons
Essayband Im Dunkeln spielen in Deutschland nur noch antiquarisch
erhältlich ist. Der Umschlagtext der deutschen Ausgabe des Essaybandes
Im Dunkeln Spielen weist darauf hin, dass »Die Rassenfrage [sic], so Toni
Morrison in diesen glanzvollen Essays, […] zur Metapher geworden [ist],
mit deren Hilfe weiße Autoren über gesellschaftliche und ökonomische
Probleme wie auch über private Ängste reden konnten, ohne sich selbst
gemeint zu fühlen.« Die meisten erwähnten Rezensionen deuten zum
gegenwärtigen Zeitpunkt darauf hin, dass dies für den weißen deutschen
Kontext der Literaturkritik – zumindest für die anerkanntesten und
einflussreichsten Publikationen – noch immer gültig zu sein scheint.[41] In
einer Vielzahl der Rezensionen finden sich rassistische Markierungen.
Keine der Rezensionen geht explizit auf die Kategorie Whiteness ein. Die
US-amerikanische Kanondebatte, im Rahmen derer die Essays entstanden,
wird nur von wenigen und dort lediglich am Rande erwähnt. In Deutschland
hat eine Kanondebatte in dieser Form nie stattgefunden. Hier gab es weder
mit der Bürgerrechtsbewegung noch mit der feministischen Bewegung
(Black Aesthetic Movement bzw. Feminist Movement) vergleichbare
politischen Bewegungen, geschweige denn deren institutionelle
Verankerung wie dies an US-amerikanischen Universitäten geschehen ist.
Dies lässt sich maßgeblich durch das Unsichtbarmachen von Interventionen
von den Rändern erklären. Zudem spielen Faktoren wie die zugegebener
Maßen problematische Übersetzung, der spezifische historische und sozio-
kulturelle Kontext oder die Ungleichzeitigkeit der Diskurse sicherlich eine
Rolle. Dazu gehört auch eine andere Essaytradition. Wie Adorno betont, ist
der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen […] es [gebricht] an überzeugender Tradition
der Form […]. Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch
draußen zu halten. […] In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des
Geistes mahnt.[42]

Während in den USA die (essayistischen) Interventionen Schwarzer


Stimmen den literarischen Kanon und die literaturkritischen Diskurse
beeinflusst und verändert haben, wird solchen Ansätzen von dominierender
weißer deutscher Perspektive weiterhin Ignoranz und Widerstand
entgegengebracht.
Wie gezeigt beweist ein Blick in die Schweizer Presse, dass sich diese
Tatsache nicht allein aus der Unterschiedlichkeit der Diskurse erklären lässt.
Welche Rolle spielt die weiße deutsche Geschichte, speziell die nicht
aufgearbeitete Teilhabe am Kolonialismus? Welche ein bestimmtes weißes
deutsches Kultur- und Selbstverständnis sowie eine dominierende und auf
den Machterhalt der eigenen hegemonialen Position ausgerichtete Praxis
der Literaturkritik? Wie erklärt sich der Widerstand gegenüber einer
anderen Deutung und Bewertung der eigenen Literaturgeschichte und der
eigenen weißen Position als Kritiker? Welche Folgen hätte die Anwendung
von Toni Morrisons literaturkritischen Ansätzen für die Praxis der
deutschen Literaturkritik und -wissenschaft? Das zu beobachtende
Erstarken der Critical Whiteness Studies in Deutschland lässt darauf hoffen,
dass auch hier Nationalideologien und hegemoniale Hierarchisierungen
mehr und mehr in Frage gestellt werden und der Diskurs um alternative
Stimmen und Identitätskonzepte erweitert wird.[43] Ein Schritt in diese
Richtung könnte beispielsweise die Wiederauflage der inzwischen
vergriffenen Essaysammlung Im Dunkeln spielen sein – diesmal
vorzugsweise ohne die kategorische Zuweisung in die Sparte ›Neue Frau‹.
[44] Bisher werden die Essays im weißen deutschen Kontext als zu
vernachlässigendes Beiwerk einer Romanautorin gelesen. Einer inhaltlichen
Auseinandersetzung mit dem Konzept Critical Whitenss und somit einer
kritische Reflexion und Problematisierung der eigenen hegemonialen
Position verweigern sich die meisten Rezensenten. Erst wenn sich dies
ändert, und wir auch hier unsere weiße literaturkritische Praxis und die
damit verbundenen Machtpositionen und Ein- und Ausschlussstrategien
kritisch hinterfragen und uns nicht länger außerhalb dieser Strukturen
verorten, wird sich Toni Morrisons Prognose auf den deutschen Kontext
übertragen lassen: »[N]o one believes the body of literature and criticism
will ever be again what it was in 1965: the protected preserve of the
thoughts and works and analytical strategies of whitemen.«[45]

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»Nobel Lecture, Stockholm 8.12.1993.« In: Nancy J. Peterson (Hrsg.): Toni Morrison. Critical
and Theoretical Approaches. Baltimore & London: John Hopkins, 1993
Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt, 1994
Peterson, Nancy (Hrsg.): Toni Morrison. Critical and Theoretical Approaches. Baltimore; London:
John Hopklins University Press, 1997
Piesche, Peggy: »Identität und Wahrnehmung in literarischen Texten Schwarzer deutscher
Autorinnen der 90er Jahre.« In: Cathy S. Gelbin, Kader Konuk & Peggy Piesche (Hrsg.):
Aufbrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in
Deutschland. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer, 1999, S. 195-206
Rody, Caroline: »Toni Morrisons’s Beloved. History, ›Rememory‹, and a ›Clamor for a Kiss‹.« In:
American Literary History 7.1(1993): 92-119
Schwenk, Kathrin: Politik des Lesens. Stationen der feministischen Kulturkritik in den USA.
Pfaffenweiler: Centaurus, 1996
Showalter, Elaine: »A Criticism of Our Own. Autonomy and Assimilation in Afro-American and
Feminist Literary Theory.« In: Robyn R. Warhol (Hrsg.): Feminisms. An Anthology of Literary
Theory and Criticism. New Brunswick, N.J.: Rutgers, 1997, S. 213-233 (Erstveröffentlichung
1991)
Spelman, Elizabeth: Inessential Woman. Problems of Exclusion in Feminist Thought. Boston:
Beacon, 1988
Spillers, Hortense: »Interstices. A Small Drama of Words.« In: Carole Vance (Hrsg.): Pleasure and
Danger. Exploring Female Sexuality. London: Pandora Press 1984, S. 73-100
Tally, Justine: Paradise Reconsidered. Toni Morrison’s (Hi)stories and Truths. Hamburg: LIT, 1999
Wachendorfer, Ursula: »Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden
Normalität.« In: Susan Arndt (Hrsg.): Afrikabilder. Studien zu Rassismus in Deutschland.
Münster: Unrast, 2001, S. 87-101
Walgenbach, Katharina: »›Whiteness‹ und Weiblichkeit.« In: alaska, URL:
www.linksnet.de/artikel.php?id=324 (12.1.2005)

ERWÄHNTE REZENSIONEN:
Aachener Nachrichten, 2.10.2004
Baseler Zeitung, 15.4.1994
Berliner Zeitung, 2.12.2004
Brigitte, 18.8.2004
Buchjournal, Herbst 2004
BücherPick, Winter 2004
Cosmopolitan, Oktober 2004
Die tageszeitung, 6.10.2004
Der Bund, 28.5.1994
Der Stern, 30.9.2004
Der Spiegel, 16.8.1993; 19.1.1994
Der Tagesspiegel, 12.6.1994
Die Zeit, 8.10.1993
Emma, November/Dezember 2004
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1983; 16.1.1990, 2.4.1992; 30.3.1993; 8.10.2003; 6.10.2004;
8.12.2004
Frankfurter Rundschau, 8.12.2004
Freundin, 15.9.2004
Focus, 4.10.2004
Kommune, 6/1994
Literaturen 2, Oktober 2004
Mannheimer Morgen, 2.10.2004
Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1994
Plan 7 (Beilage der Hamburger Morgenpost), 23.-29.9.2004
Petra, Oktober 2004
Süddeutsche Zeitung, 26.10.1994
WochenZeitung, 27.5.1994
Stuttgarter Zeitung, 1.7.1994

ANMERKUNGEN
1 Astrid Deuber-Mankowsky, in: Wochenzeitung (WoZ) vom 27. Mai 1994.
2 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«.
3 Dies.: »Nobel Lecture«.
4 Literaturen 10 (Oktober 2004), S. 6 ff.
5 Ich setze den Begriff ›race‹ in Anführungsstriche, um hervorzuheben, dass es sich dabei um
eine soziale Konstruktion handelt, die mit einer Hierarchisierung verbunden ist. Es handelt sich
um einen politischen und historisch belasteten Begriff, der nicht von dem des Rassismus zu
trennen ist (vgl. hierzu Frankenberg: White Women, Race Matters).
6 Sie nimmt bereits seit Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin an gesellschaftlichen Debatten
teil, so z.B. 1971 mit ihrem im New York Times Magazine erschienenen Essay »What the Black
Woman Thinks about Women’s Lib« oder dem später von ihr herausgegebenen Band Race-ing
Justice, En-gendering Power, zu dem sie auch die Einleitung schrieb.
7 Morrison: Playing in the Dark.
8 Dies sind die bekanntesten und einsflussreichsten Essays der Autorin. Im Folgenden werde ich
mich auf den Essayband Im Dunkeln Spielen (Playing in the Dark) beschränken, da nur dieser
ins Deutsche übersetzt wurde. Die Essays basieren auf den William E. Massey Sr. Vorlesungen,
die Toni Morrison an der Harvard University hielt. Weitere Essays von Toni Morrison, auf die
ich verweisen werde, sind »Unspeakable Things Unspoken«, »The Site of Memory« und
»Rootedness«.
9 Einen guten Überblick über die US-amerikanische Kanondebatte bietet: Schwenk: Politik des
Lesens.
10 Vgl. hierzu z.B. Mori: Toni Morrison and Womanist Discourse, insbesondere das Kapitel zu
»Morrison’s Theorizing of Narratives«; Tally: Paradise Reconsidered, hier besonders das
Kapitel »The Canonical« sowie Lanser Sniader: Voice, S. 120-140; McBride: »Speaking the
Unspeakable«; Rody: »Toni Morrisons’s Beloved«.
11 Ihre literaturkritischen Essays werden in theoretischen Arbeiten über ihre Romane und die
anderer Autoren zitiert. Deutlich wird dies z.B. anhand der Anzahl der Titel der elektronischen
Datenbank der Modern Language Association (MLA), die Ausdrücke aus ihren Essays enthalten
(Vgl. MLA). Ferner trägt die »Fourth Biennial Conference« der Toni Morrison Society (2005)
den Titel eines Essays: »Toni Morrison & Sites of Memory«.
12 Diese Auseinandersetzung führe ich von meiner Position als weiße deutsche Amerikanistin. In
dem Bewusstsein, dass meine Position (besonders in Bezug auf den Umgang mit Texten einer
afroamerikanischen Autorin) die Gefahr der Vereinnahmung birgt, werde ich versuchen, mich an
einem Modell der Differenz im Sinne Elizabeth Abels zu orientieren. Um einen erweiterten
Dialog »across, as well as about racial boundaries« zu ermöglichen, schlägt Abel vor »[to] (…)
produce our readings cautiously and locate them in a self-conscious and self-critical relation to
black feminist criticism (…)« (Abel: »Black Writing, White Reading«, S. 843).
13 Mein Dank gilt Susann Neuenfeldt und Prof. Dr. Renate Hof für wertvolle Gespräche und
hilfreiche Anregungen zur Strukturierung dieses Textes. Carsten Junker bin ich dankbar für
wichtige Diskussionen zu meiner eigenen Positionierung und dafür, dass er mich auf meine
Blindstellen aufmerksam gemacht hat.Hark Machnik danke ich für die Ermunterung, das
Potenzial des Essays »als kritische Form par excellence« stärker herauszuarbeiten.
14 Morrison, zit. in: Peterson, S. 128.
15 McBride: »Speaking the Unspeakable«, S. 136.
16 Z.B. »A profound redefinition of American cultural identity […] Her Method of reading […]
inevitably revises what American literature means today.« (Philadelphia Inquirer, zitiert auf
dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen); »[Toni Morrison’s] argument is
lucid and eloquent; its paradigm-shattering implications are profound. Morrison succeeds in
mapping a new critical geography for American literary study.« (Journal of American History,
zitiert auf dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen); »Essential reading for
anyone interested in American literature and in the ways in which racial thinking is everywhere
embedded in cultural production. Morrison is vividly sketching a new way to read American
literature and enabling us to see the hard racial truths that it contains.« (In these Times zitiert
auf dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen).
17 McBride: »Speaking the Unspeakable«, S. 145.
18 Early: »Introduction«, S. ix.
19 Vgl. dazu: »Klein und breit hinter ihrem Schreibtisch thronend. […] Sie hat die stolze
afrikanische Stammeskönigin drauf, die sonore Intellektuelle und die sinnliche Black Mama.«
20 In seiner Rezension von Morrisons Romans Menschenkind in der FAZ vom 16. Januar 1990
setzt sich Ingendaay vehement für die literarische Anerkennung der Autorin ein: »Ein Etikett
wie ›Frauenliteratur‹ oder gar ›schwarze Frauenliteratur‹ sieht besonders gegen ihren neuen
Roman ›Menschenkind‹ sehr blaß aus. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, daran zu erinnern, daß
hier, ohne Kistchen und Schubladen, moderne Weltliteratur zur Debatte steht.« Auch die
Subsumierung unter dem Etikett ›Weltliteratur‹ stellt eine Vereinnahmung dar.
21 Diese äußert sich u.a. wie folgt: »deutsche Sprachruinen«, »Albernheiten wie ›Studentinnen und
Studentinnen‹, wo im Original natürlich students steht«, »Der Leser bleibt ratlos zurück. Die
Leserin auch. Wo war der Lektor? Und wo die Lektorin?« Die »Übersetzung« der theoretischen
Ansätze wird nicht thematisiert. Die Polemik gegen die nichtdiskriminierende Schreibweise auf
der gender-Ebene deutet darüber hinaus auf eine Ablehnung hin, die männliche Position und die
damit verknüpften Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren.
22 Der bezeichnende Titel »Mrs. Afroamerika. Toni Morrisons Essays« erinnert an die
Reduzierung der Autorin auf ihr Äußeres als Schönheitskönigin ihrer High School in einer
Rezension in der FAZ vom 29. März 1983, bevor Morrisons Auszeichnung mit dem
Literaturnobelpreis ihr weltweit Autorität verschaffte.
23 Er bezeichnet sie als »Toni Morrisons Sklavenromane und Sklavensagas«.
24 Der Titel lautet bezeichnenderweise »Das beunruhigende Anderssein. Toni Morrisons Essays
zur amerikanischen Kulturidentität«.
25 Ich möchte darauf hinweisen, dass ferner auch Elisabeth Wehrmann in der ZEIT vom 8. Oktober
1993 eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umgang Toni Morrisons in FAZ und SPIEGEL
führt. »›Rassismus ist heute so vital wie zur Zeit der Aufklärung‹, sagt Toni Morrison.
Offensichtlich nicht nur in der Neuen Welt und nicht nur unter deutschen Skinheads.« Auch
dieser Text stellt jedoch weniger eine Rezension der Essays als vielmehr eine Polemik gegen die
vorhergehenden diffamierenden Texte dar. Obwohl sich Susanne M. Roth in der Süddeutschen
Zeitung (SZ) vom 26. Oktober 1994 auf eine Analyse der Essays und der darin dargelegten
Konzepte konzentriert, werden diese als spezifisch US-amerikanisches Phänomen behandelt. Ein
Transfer auf die eigene Position und den deutschen Kontext findet nicht statt.
Untersuchungsgegenstand bleibt das afroamerikanische Andere: »(Man könnte an diese Fragen
nun die Frage anschließen, ob nicht das Konstrukt einer afrikanistischen Persona wiederum auf
schwarze Autoren und schwarze Kritiker Einfluß genommen habe.)« Roth erkennt Toni
Morrisons Position als Kritikerin an, obwohl auch sie sie hauptsächlich als Romanautorin preist.
26 Wochenzeitung (WoZ) vom 27.6.1994.
27 Ebenda.
28 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 22.6.1994.
29 Das »weissen« setzt sie hier in Anführungsstriche, im Rest des Textes jedoch nicht mehr.
30 Vgl. z.B. Christian: »The Race for Theory«; McDowell: »Recycling«; McKay: »Reflections on
Black Women Writers«; Showalter: »A Criticism of Our Own«; sowie die britische Kritikerin
Carby: »The Canon«.
31 Der Rezensent ist der einzige, der sich näher mit den ›non-fiktionalen‹ Werken Morrisons
auseinandergesetzt zu haben scheint und darauf verweist, dass sie auch früher schon Essays zu
aktuellen sozio-politischen und literaturwissenschaftlichen Themen geschrieben hat.
32 Der Bund, 28.5.1994.
33 Ich möchte betonen, dass es mir keinesfalls darum geht, ›nationale Eigenschaften‹ aufzuzeigen.
So handelt es sich bei einigen Rezensenten in den Schweizer Publikationen um deutsche
Staatsbürger. Es geht mir vielmehr darum, gewisse diskursive Unterschiedlichkeiten
aufzuzeigen, also zu fragen, welcher Raum und welcher Stellenwert bestimmten Haltungen in
verschiedenen diskursiven Kontexten eingeräumt wird.
34 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«, S. 34.
35 Adorno (»Der Essay als Form«, S. 39) nennt den Essay »die kritische Form par excellence«,
Good (»The Essay and Criticism«) spricht vom Essay als Kulturkritik, Boetcher-Joeres &
Mittmann bezeichnen ihn als »written form resembling the speech« (»An Introductory Essay«,
S. 19), ein »›anti-genre‹, a site for critical reflection, for subversive – precisely because it is non-
systematic, unscientific – thought« (ebenda, S. 12).
36 Eine profunde inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Roman fehlt bzw. beschränkt sich auf
die Pauschalisierung: »Ihre sieben Romane kreisen um schwarze Geschichte und Gegenwart –
und diese Treue zum Thema wird offenbar von Lesern und Zuschauern [des Films ›Beloved‹]
anerkannt. […] Auch mit ›Paradise‹ mutet Morrison ihren Lesern einiges zu.«
37 Vgl. etwa die Freundin 15. September 2004, Petra Oktober 2004, Cosmopolitan Oktober 2004.
Differenzierter liest sich Alice Schwarzers Rezension in der Emma (November/Dezember 2004)
unter dem Titel »Von Liebe und Hass«: »Von ihr, die heute afroamerikanische Literatur in
Princeton lehrt, stammt der noble Begriff der ›Kreolisierung der Kultur‹, einer Kultur also, die
weder weiß noch schwarz, weder männlich noch weiblich, sondern zutiefst menschlich ist. So
wie diese bittersüße Geschichte über den real existierenden Hass und den Traum von der Liebe.«
Die Bezeichnung »nobel« legt Assoziationen mit dem Begriff des »noble savage« (des »edlen
Wilden«) nahe. Das Ausblenden von Differenzen (auf denen Toni Morrison explizit beharrt) und
die essentialistische Annahme einer gemeinsamen »Menschlichkeit« birgt die Gefahr der
Wiedereinschreibung der dominierenden Position der Rezensentin
38 Bezeichnend hierfür ist z.B. die Rezension von Jenny Schmetz in den Aachener Nachrichten
vom 2. Oktober 2004: »[S]ie erzählt ihre Geschichte weiter – von der Geschichte der Schwarzen
und der Frauen. […] Ein ›Frauenroman‹ eben. Obwohl. Die Autorin führt keck ein mit dem
Satz: ›Die Beine der Frauen sind weit geöffnet.‹ Vielleicht will sie ja doch ein paar Männer zum
Lesen verlocken« (meine Hervorhebungen). Differenziertere Bewertungen bieten die
Rezensionen in der tageszeitung (taz) vom 6. Oktober 2004: »Da ist die unüberbrückbare Kluft
zwischen Mann und Frau, zwischen Arm und Reich und Schwarz und Weiß, das Grundthema,
das sich durch alle Bücher Toni Morrisons zieht«, sowie in der Berliner Zeitung vom 2.
Dezember 2004: »Von wegen Liebe: Toni Morrison erzählt von Geschlechterkampf und
Rassismus«.
39 Vgl. z.B. Morrison: »What the Black Woman Thinks about Women’s Lib«; Spillers:
»Interstices«; Spelman: Inessential Woman; Frankenberg: »Whiteness and Americanness«.
40 Vgl. z.B. Bröck: White Amnesia –Black Memory?; Hetzfeld, Schäfgen & Veth (Hrsg.):
Geschlechter Verhältnisse (darin besonders auch die Übersetzung von Ruth Frankenberg ins
Deutsche); Walgenbach: »›Whiteness‹ und Weiblichkeit«.
41 Ein Beispiel für eine marginalere Publikation ist die erwähnte Rezension in der Kommune.
42 Adorno: »Der Essay als Form«, S. 9-10.
43 Vgl. z.B. Arndt: »Impressionen«; Ayim: »Die afro-deutsche Minderheit«; Bröck: »Wird der
weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«; Melber: Der Weissheit letzter Schluss;
Gelbin, Konuk & Piesche (Hrsg.): Aufbrüche; Piesche: »Identität und Wahrnehmung in
literarischen Texten Schwarzer deutscher Autorinnen«; Wachendorfer: »Weiß-Sein in
Deutschland«. Die meisten deutschen Texte zu Critical Whiteness beziehen sich (zumindest am
Rande) auf Toni Morrisons Publikationen.
44 Darüber hinaus könnte eine Übersetzung des rhetorisch überzeugenden Essays »Unspeakable
Things Unspoken« ins Deutsche zu einer erweiterten Kanondebatte anregen.
45 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«, S. 2.
JULIANE STROHSCHEIN
ALS WEIßE STUDIERENDE IN EINER WEIßEN
UNIVERSITÄT:
ERSTE POSITIONIERUNG

WIE KOMME ICH DAZU, MICH ZU POSITIONIEREN?


In meinen ersten Semestern an der Universität[1] stand die
Auseinandersetzung mit der Kategorie gender und heteronormativen
Machtstrukturen für mich im Vordergrund. Meine Kritik und Reflexion
richtete sich auf maskuline und heterosexuelle Hegemonien in einer
sexistischen und homophoben Gesellschaft. Weißsein und Rassismus
erschienen mir für die Analyse nicht von Bedeutung. Mein Selbstbild als
›Unterdrückte‹, die um politische Ermächtigung ringt, unterstellte, dass ich
selbst nicht an Unterdrückung und Ausbeutung teil habe. Ich interessierte
mich nur für die Dominanzverhältnisse, von denen ich mich direkt negativ
betroffen empfand. Weißsein hatte für mich genauso wenig wie Rassismus
etwas mit mir zu tun. Ich hätte meine Identität als Weiße – die
Zugehörigkeit zur Machtposition in rassistischen Strukturen – nicht
gesehen, sondern bestritten und mich damit im Recht gefühlt.
Erst nach Interventionen von Schwarzen und People of Color begann ein
Prozess, die Bedeutung von Weißsein und Rassismen für mich
anzuerkennen und mich damit auseinander zu setzen. Schwarze und People
of Color haben durch die Einforderung ihrer Rechte die Thematisierung von
Rassismus und Weißsein angestoßen und vorangetrieben.
In diesem Prozess der Bewusstwerdung stellte sich die Frage, was
Weißsein eigentlich genau ist. Was bedeutet es für mich, weiß zu sein?
Welche Privilegien habe ich als Weiße? Wie reproduziere und schütze ich
rassistische Strukturen zu meinem Vorteil? Warum wird Weißsein meist
nicht markiert? Wo sind meine Grenzen als weiße Frau, Weißsein kritisch
begreifen zu können? Ist alles, was ich denke, sage, schreibe und tue,
unreflektiert weiß? Wo ist meine Position im Weißsein?
Das Projekttutorium ›kritisches Weißsein und Schwarze Geschichte –
Macht und Widerstand‹ entstand – in meiner Perspektive – aus dem
Bedürfnis heraus, Weißsein zu thematisieren und um einen Raum, zur
studentischen Auseinandersetzung zu schaffen. Im Verlauf des Tutoriums
wurde ich von den Schwarzen Tutorinnen auf die Verbindungen meiner
Weise zu fühlen, zu denken, zu handeln und mich selbst zu empfinden mit
Funktionsweisen von Kolonialismus, Rassismus und weißer Hegemonie
gestoßen. Von diesen Erfahrungen möchte ich im Folgenden aus (m)einer
weißen Perspektive schreiben.

WOHER KOMMT WISSEN ÜBER WEIßSEIN?


Ich habe von der Arbeit von People of Color und Schwarzen profitiert und
auf ihre Kosten gelernt, was Weißsein ist. Das ist nicht zufällig so, sondern
es ist eine Struktur. Es fängt an mit dem weißen Privileg, mich nicht mit
Rassismus auseinandersetzen zu müssen, wenn ich das nicht möchte. Ich
bin nicht rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt. Mein Profit von
Rassismus ist als ›normal‹ unsichtbar gemacht oder/und verdrängt. Das
Nicht-Bewusstsein über mein Weißsein und das Nicht-Konfrontiertsein
bzw. Nicht-Wissen über Rassismus ist schon Teil der Struktur.
Wenn ich in einen ›antirassistischen‹ oder ›kritisch weißen‹ Kontext
gehe, um über Rassismus und Weißsein zu lernen, bestehen die Strukturen
weiter[2]: zumeist bestimmen Weiße die Veranstaltung. Mein Mitmachen
bei, Schweigen zu und/oder Nicht-Einschreiten gegen unmarkiert weiße
Normsetzungen (wie z.B. dass die Auseinandersetzung mit Rassismus für
alle eine freie Wahl sei) reproduziert strukturelle Rassismen. Erst wenn
People of Color und Schwarze auf die normative Gewalt aufmerksam
machen, begreife ich die rassistischen Mechanismen, die ich ausübe. Es ist
Gewalt, wenn in einer rassistisch hierarchisierten Gesellschaft einer Gruppe
die spezielle Perspektive der hegemonialen Gruppe aufgedrückt wird. Diese
Verletzungen sind die Kosten für mein Begreifen, dass und wie ich weiß
bin, die nicht ich bezahlt habe.
Wissen über Weißsein ist kein Wissen, das ich mir einfach so aneignen
kann. Es steht immer in einem bestimmten Kontext – z.B. wenn ich von
rassistischen Verletzungen, die ich ausübe und von der Reflektiertheit
rassistisch Diskriminierter lerne.
Bell hooks schreibt vom Wissen über Weißsein, das als
überlebensnotwendige Technik entstand, um dem Alltag angesichts
rassistischer Repressionen und Gewalt von Weißen bewältigen zu können:
Schwarze in den Vereinigten Staaten haben sich niemals als EthnologInnen und/oder
EthnographInnen in einer eigenen Institution zusammengefunden, um das Weißsein zu studieren.
Doch seit der Zeit der Sklaverei haben sie untereinander in Gesprächen ihr jeweiliges ›spezielles‹
Wissen über Weißsein ausgetauscht, das sie durch unmittelbares und scharfes Beobachten der
Weißen gewonnen haben. Es galt als ›speziell‹, weil diese Art Wissen nirgendwo ausführlich
nachzulesen war. Sein Sinn bestand darin, Schwarzen zu helfen, in der weißen herrschenden
Gesellschaft den Alltag zu bewältigen und zu überleben.[3]

Was bedeutet es, wenn weiße Menschen in dieses Wissen mit einbezogen
werden? Welchen Sinn hat es für Weiße? Was bedeutet es, wenn sie sich in
eigenen Institutionen zusammenfinden, um das Weißsein zu studieren? Wer
lehrt? Wer hat das Wissen zu lehren? Wer hat den Zugang und die
Privilegien sich zu professionalisieren? Was passiert, wenn Weiße
akademisch zu kritischem Weißsein arbeiten? Bedeutet die Tatsache, dass
es kritisch intendierte Bücher über Weißsein geben kann, das rassistische
Strukturen so gut strukturell verankert sind, dass critical whiteness studies
keine Bedrohung für weiße Vorherrschaft darstellen, sondern sie mittragen?
Im Unterschied zum Wissen über Weißsein, wie bell hooks es beschreibt,
sind critical whiteness studies, die ohne Black Studies gar nicht möglich
gewesen wären, strukturell in unmarkiert weißen zumeist Weißseins-
unkritischen Universitäten verankert. Welche Konsequenzen hat das?
Welche neuen Institutionen werden innerhalb rassistischer Strukturen auf
Studien über kritisches Weißsein aufbauen? Ist schon die Beibehaltung des
englischen Idioms ein Abwehrmechanismus, der die Auseinandersetzung
mit Weißsein in einem räumlich und/oder sprachlich distanzierten
Verhältnis fern der deutschen Kolonialgeschichte hält? Deshalb verwende
ich im deutschen Kontext statt critical whiteness studies den Begriff
›kritisches Weißsein‹.
Von bell hooks aus dem Kontext der Vereinigten Staaten lässt sich auf
Deutschland übertragen, dass kritisches Wissen über Weißsein von
Menschen geschaffen wird, die mit den Rassismen und der aktiven
Ignoranz Weißer konfrontiert sind. Welches Wissen haben Weiße über
Weißsein? Kann von Weißen ein kritisches Wissen über Weißsein kommen?
Es ist ein Unterschied, wenn weiße Personen in das Wissen über
Weißsein einbezogen werden. Ich habe als eine weiße, strukturell
rassistische Frau eine andere Position und ein anderes Interesse an diesem
Wissen. Ich betrachte nicht die, die mich dominieren, um meinen Alltag
bewältigen zu können. Vielmehr lerne ich über mich selbst und decke
verdrängte Anteile von mir auf. Es geht um meine Beteiligung an
Ausbeutung und meinen Profit von Rassismus; darum mir mein
Nichtwissen bewusst zu machen, Respekt zu lernen und aus einem
übergriffigen Verhalten in angemessenere Grenzen zurück zu treten.

DAS PROJEKTTUTORIUM
Basierend auf der Ansicht, dass es für weiße Personen wichtig ist, über ihr
Weißsein zu lernen und mit dem Anspruch einen Raum zu schaffen, in dem
es keine rassistischen Übergriffe gibt bzw. indem sie durch Reflexion
gebrochen werden, begann im Wintersemester 2003/04 das zweisemestrige
Projekttutorium ›kritisches Weißsein und Schwarze Geschichte – Macht
und Widerstand‹ als Zusammenarbeit von Schwarzen und weißen deutschen
Studierenden. Ich werde mich im Folgenden nur auf das erste Semester zu
kritischem Weißsein beziehen. Um einen Einblick in das Projekttutorium zu
gewähren, möchte ich aus dem gemeinsamen Konzept des Projekttutoriums
zitieren:
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für dieses Projekttutorium war für uns, dass es eine
gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen weißen und Schwarzen[4] Studierenden ist, um
struktruelle Ungleichheit von Anfang an auszuschließen. Dieser Ausgangspunkt soll einen
gleichberechtigten Lehr- und Lernraum für alle bilden, der nötig ist, um sich überhaupt ernsthaft
mit critical whiteness und black history auseinander setzen zu können. […] Der Focus bei critical
whiteness wird auf der Konstruktion von Weißsein und dessen Umsetzung liegen. Allgemein
beziehen wir uns dabei auf die historische und gegenwärtige Erziehung zum Weißsein, die mit der
Übernahme von Definitions- und Kontrollmacht einher geht und sich auf der politischen,
ökonomischen, sozialen wie auf der kulturellen Ebene widerspiegelt. Dabei wird es unser
besonderes Anliegen sein, dass die Studierenden beginnen, das theoretisch Gelernte in ihren
Alltag einzubeziehen. […] Zum einem erscheint es uns wichtig, dass die Teilnehmenden erstens
lernen, weiße Machtstrukturen zu erkennen, zu analysieren und zu reflektieren. Zweitens sollen
demokratische Handlungskompetenzen und Veränderungspotentiale entwickelt werden, um
eigenverantwortlich und menschlich agieren zu können. Zu unserer Zielsetzung gehört
insbesondere das Bewusstwerden über uns Menschen als nicht nur individuelle, sondern ebenso
als kollektive Wesen.[5]

Als es um die konkrete Planung und Durchführung der Sitzungen ging,


brachte ich immer wieder unmarkiert weiße Strukturen ein und wurde dann
von den Schwarzen Tutorinnen konfrontiert: Ich ging davon aus, anderen
Studierenden beibringen zu können, weiße Strukturen zu brechen, ohne
selbst Erfahrungen und Fähigkeiten dazu zu haben. Im Wissen über
Weißsein fühlte ich mich kompetent und stellte meine Position als Weiße
dazu nicht in Frage. Ich wählte nicht ›Weißsein‹, sondern ›kritisches
Weißsein‹ als Titel, um eine positive Identifikation für Weiße zu
gewährleisten. Ich stellte Text und Themen zu Weißsein zusammen, ohne
mich dabei unbedingt mit der Dominanzposition von der sie handelten zu
identifizieren. Es erschien mir nicht als Vereinnahmung, Texte von Audre
Lorde und afrikanisch-deutschen Frauen für meine Interessen zu nutzen,
ohne die Tiefe der Aussagen der Autorinnen in Bezug auf meine Position zu
reflektieren.

WER BIN ICH IN RASSISTISCHER HINSICHT?


Ruth Frankenberg schreibt über weiße Identität: »Weiß-Sein [ist] ein
Konstrukt oder eine Identität […], das/die von ›rassistischer‹ Dominanz
kaum getrennt werden kann.«[6] In ihrer Arbeit legt sie dar, »wie
unangemessen es ist, die weiße Komplizenschaft mit dem Rassismus und
Kolonialismus bloß auf absichtliche Akte der Diskriminierung zu
begrenzen.«[7] Es geht um eine strukturelle Ebene, auf der Rassismus in die
weiße Identität hineingewebt ist. Ruth Frankenberg arbeitet heraus, dass
Weiße nicht wissen, wer sie in rassistischer Hinsicht sind.
Die Frage ›Wer bin ich in rassistischer Hinsicht?‹ stellen zu müssen und
keine Antwort zu wissen, legt ein Defizit an Kenntnis über mich selbst
offen. Welches Wissen haben Weiße über Weißsein? Wissenschaftliche
Rassekonstruktionen, die die Legitimierung verschiedenster Rassismen
lieferten, haben ihren Ursprung in Europa. Europa blickt auf eine lange
Geschichte des Rassismus und der Aufwertung von EuropäerInnen zurück.
Die Erziehung von Menschen, die fähig sind, weitere Menschen als weniger
menschlich als sich selbst zu empfinden und zu behandeln, hat einige
Jahrhunderte gedauert.
Dieses Wissen über Weißsein ist mir in Form weißer Sozialisation[8]
zum Profit von Rassismus und zur Reproduzierung dieser unmarkierten
normativen Hegemonie eingeschrieben und ich lebe darin/davon. Ziel der
Sozialisation ist, zu wissen, wie ich mich im Sinne der Aufrechterhaltung
von Weißsein zu verhalten habe, dass ich nicht rebelliere, dass ich weiße
Dominanzstrukturen reproduziere und Privilegien schütze und gleichzeitig
Weißsein als Norm in ›Unsichtbarkeit‹ verstecke. Dieses ›Wissen‹ über
Weißsein ist nicht benannt oder kritisch reflektiert.
Ich lerne Abwehr- und andere Mechanismen, die mir ermöglichen, den
Widerspruch zwischen Gleichheitsgedanke und strukturellem Rassismus in
meiner Identität zu verdrängen, um ein Selbstbild von mir als modern und
nicht rassistisch aufrecht zu halten. Um unfähig zu sein, die rassialisierte
Gewalt, die ich tagtäglich ausübe, wahrzunehmen und gleichzeitig fähig zu
sein, eben von dieser Gewalt zu profitieren, bedarf es einer Abspaltung und
Verdrängung innerhalb des Subjekts.[9]
Um das Bewusstwerden meiner strukturellen Beteiligung an rassistischer
Gewalt und der Widersprüche in meinem Selbstbild als aufgeklärt, modern
und nicht rassistisch zu verhindern, werden sie von umfassenden
Abwehrmechanismen geschützt.
Zum Beispiel die Selbstverständlichkeit, als Weiße alles erlernen und
verstehen zu können: Meine Kompetenz als weiße Frau, die gerade im
universitären Rahmen beginnt, über Rassismus nachzudenken, gegenüber
Schwarzen Frauen, die Erfahrungen mit Rassismus haben und Weißsein
reflektiert haben, erschien mir nicht fragwürdig. Mit dieser
Selbstverständlichkeit gekoppelt mit dem Zugang zu Ressourcen, den ich
auf Grund weißer Privilegien und nicht auf Grund von Kompetenz habe,
stelle ich rassistisch diskriminierende Strukturen neu her.

ABWEHRMECHANISMEN
Mit dem Selbstbild ›kritisch weiß‹ zu sein, stellte ich mich zur ersten
Sitzung nach vorne und machte die Einführung zu dem Semester über
kritisches Weißsein. Es war eine große Zahl weißer Studierender
gekommen, und ich versuchte, meine Sache so gut wie möglich zu machen.
Ich stellte das Konzept und den Seminarplan vor. Meine Nervosität und
Unsicherheit versuchte ich, durch kleine Scherze aufzulockern. Das ging
sehr gut. Ich wurde entspannter und freute mich über die außergewöhnlich
vielen gemeinsamen Lacher. Ich fühlte mich in meiner Autorität als Tutorin
bestätigt.
Was passierte in dieser Situation? Ich erklärte einerseits die Ziele des
Projekttutoriums, Weißsein zu reflektieren und rassistische Strukturen zu
brechen. Andererseits machte ich gleichzeitig durch das unter Weißen
gemeinschaftsstiftende Lachen klar: keine Sorge, unsere
Dominanzstrukturen werden nicht wirklich in Frage gestellt. Ich entschärfte
den kritischen Ansatz gleich wieder durch Beruhigung, Abschwächung,
Ablenkung und Ungenauigkeit. Da wurde sich niemand rassistischer
Privilegierung von Weißen bewusst, sonst hätte es nicht so ein geselliges
Zusammensein geben können. Die Stimmung war gerade nach der
Verunsicherung durch das Ansprechen und Markieren von Weißsein
besonders ›solidarisch‹: die Verunsicherung wurde mit extra Versicherung,
Rückbestätigung und Rezentrierung der weißen Dominanz im Raum
überdeckt und entschärft. Das Lachen funktionierte in diesem Moment als
Abwehr der kritischen Auseinandersetzung mit Weißsein.
Des Weiteren machten die Schwarzen Tutorinnen mich darauf
aufmerksam, dass ich in bestimmten Situationen viel Energie und Gedanken
in Formalitäten steckte: die Zeitplanung, didaktische Methoden, die
Reihenfolge der Abläufe… Die Hektik, die ich damit machte, funktionierte
als Abwehr und Dethematisierung, indem ich durch formale Fragen die
Auseinandersetzung mit Weißsein abbrach und ablenkte.
Mit diesen Abwehrmanövern schützte ich mich und die anderen weißen
Studierenden im Raum davor, weiße Strukturen zu markieren und
Verantwortung übernehmen zu müssen. Weiße konnten sich zurücklehnen,
auch wenn es um Weißsein ging, weil ich die Auseinandersetzung
verhinderte. Abwehrmechanismen in Redebeiträgen der Teilnehmenden
habe ich durch kommentarloses Abnicken und Nicht-Eingreifen unterstützt.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder bei mir selbst noch bei anderen weißen
Personen Weißsein klar reflektiert. Ich hatte keine eigene Position, von der
ich unabhängig von weißer Machtaufrechterhaltung unmarkierte weiße
Strukturen hätte benennen können. Dennoch sah ich keinen Widerspruch
darin, anderen weißen Studierenden etwas über Weißsein beibringen zu
wollen.

VERUNSICHERUNG VON WEIßSEIN UND EINGESTEHEN VON GRENZEN


Die Schwarzen Tutorinnen konfrontierten mich damit, dass ich in den
ersten Sitzungen des Tutoriums, die ich alleine leitete, einen ›Schutzraum‹
für Weiße herstellte. Es ging um meine Selbstüberschätzung, meine
Begrenztheit im Thema Weißsein und meine Verweigerung, Verantwortung
dafür zu übernehmen. Nach einigen Auseinandersetzungen – vor allem mit
meinen Widerständen – veränderten wir die Struktur des Projekttutoriums.
Ich blieb dabei, aber trat in eine angemessenere Rolle zurück, d.h. ich
versuchte nicht länger die Rolle der Lehrenden, die über Weißsein Bescheid
weiß, einzunehmen. Ich war weiter bei den Vorbereitungstreffen und der
Durchführung der Sitzungen zu Weißsein beteiligt und brachte mich von
meiner Position aus ein. Diese Position – entgegen dem unmarkiert weißen
›nirgendwo und überall‹ – beruhte auf tatsächlichen Fähigkeiten bzw.
Grenzen in Kenntnissen über Weißsein. Unter der kompetenten Leitung der
Schwarzen Tutorin ging der Prozess der Auseinandersetzung mit Weißsein
im Folgenden intensiv voran.
Der Strukturänderung ging bei mir ein Prozess von Verunsicherung zu
Veränderung voraus. Durch die Konfrontation im Rahmen des
Projekttutoriums mit meiner Verantwortlichkeit in einer rassistischen
Gesellschaft brachen tiefgehende Widersprüche auf. Ich stelle mein
Selbstbild grundlegend in Frage. Wozu halte ich mich für kompetent, wenn
ich es nicht bin? Ist das bei allen Themen so? Wie kommt es, dass ich
gerade bei Weißsein meine Grenzen nicht sehe? Versuche ich mehr zu sein
als ich bin? Was bringt mich dazu, an der Position des Wissens und der
Autorität festhalten zu wollen, obwohl ich sie nicht erfüllen kann?
Ursula Wachendorfer schreibt über Verunsicherung als eine wichtigen
Phase in der Reflexion weißer Sozialisation und zur Entwicklung neuer
Beziehungsstrukturen:
Lässt man sich auf das Thema [Rassismus, J.S.] ein, so wird man auf Grund der gesellschaftlichen
Tabuisierung von Rassismus mit großer persönlicher Verunsicherung rechnen müssen – eine
Verunsicherung, die […] eine notwendige Phase in der Entwicklung der Weißen ist. Diese
Verunsicherung ist notwendig, um alte Einstellungs-, Gefühls-, und Verhaltensmuster
aufzubrechen und neue zu entwickeln. [10]

Die Verunsicherung weißer Selbstverständlichkeiten war notwendig, um


Veränderung auf der Ebene des Projekttutoriums und auf der persönlichen
Ebene zu ermöglichen.
Stellt man sich diesen Verunsicherungen, können in aller Regel neue Selbst- und
Fremdwahrnehmungen und damit auch neue Beziehungsstrukturen entstehen. Dabei kann einem
das eigene Nicht-Wissen bewusst werden, ohne dass man die vertrauten energieaufreibenden
Tabuisierungen beziehungsweise Abwehrstrategien mobilisieren muss. So kann man zunehmend
auch die Fähigkeit entwickeln, die Sicht der ›Anderen‹ zu akzeptieren, und ihre Wahrnehmungen
als notwendige Perspektive auch zum Verständnis der eigenen Position zu begreifen.[11]

Im Grunde zu verstehen, was das Konzept Weißsein ist, ist gar nicht so
schwierig. Was viel Zeit, Energie und Reflektion braucht, ist die
Auseinandersetzung mit mir selbst und meinen Abwehrmechanismen. Es
läuft gegen den Strich weißer Sozialisation, unverdiente Privilegien
loszulassen. Auch wenn ich weiß, dass ich Gefahr laufe zu reproduzieren,
was ich brechen will, mache ich trotzdem weiter. Begründung: ›Das es eben
ein so schwieriges Problem, da gibt es nun mal leider keine bessere
Lösung‹. Ich kann mir die Argumente zurechtlegen, dass kritisch weiße
Prozesse leider absolut nicht möglich seien ohne einen gewissen Anteil
rassistischer Reproduktion und kolonialistischer Ausbeutung von People of
Color und Schwarzen. Es ist brutale Normalität, dass ich in Momenten über
mein Weißsein gelernt habe, als Schwarze und People of Color, auch durch
mein schweigendes Mittragen und aktives Ausüben weißer Gewalt, verletzt
wurden. Das ist Realität, nicht Notwendigkeit.
Meine Grenzen und mein Nicht-Wissen zu erfahren, zu begreifen und
anzuerkennen ist notwendiger Bestandteil des Prozesses. Außerhalb der
weißen Allmachts- und Universalismusphantasien bin ich begrenzt und
habe eine partikulare Perspektive. Um lernen zu können, muss ich mir
meinem Nichtwissen klar sein.
Bei der Strukturänderung im Projekttutorium ging es für mich darum,
mir meine Grenzen einzugestehen und eine meinem Wissens- und
Fähigkeitsstand angemessene Position einzunehmen. Subjektiv empfand ich
es schmerzhaft, anzunehmen, dass wir nicht alle gleich sind, dass ich
rassistische Privilegien habe, und dass ich nicht einfach alles verstehen und
über alles reden kann. Die Aussagen ›wir sind alle gleich‹, ›ich habe keinen
rassistischen Privilegien‹, ›ich kann alles verstehen und über alles reden‹
sind Phantasien, an die ich glauben will. Alles verstehen zu können, ist eine
Allmachtsphantasie. Wäre es so, dass ich keine rassistischen Privilegien
hätte, warum ist es dann wichtig, es zu erwähnen? Wenn wir alle gleich
wären, warum muss es dann noch festgestellt werden? Weil es nicht so ist.
Weil ich verdränge, dass es innerhalb einer rassistisch hierarchisierten
Gesellschaft nicht so ist. Ich fühle mich irritiert und angegriffen, wenn
meine verdrängten Anteile aufgedeckt werden und meine Maske fällt.

BIBLIOGRAFIE
Frankenberg, Ruth: »Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus.« In:
Brigitte Fuchs & Gabriele Habinger (Hrsg.): Rassismus & Feminismus. Differenzen,
Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Wien: Promedia, 1996, S. 51-66
hooks, bell: Black looks. Popkultur – Medien – Rassismus. Berlin: Orlanda Verlag, 1994
(Erstveröffentlichung auf Englisch 1992)
Pajaczkoska, Claire & Lola Young: »Racism, Representation, Psychoanalysis.« In: James Donald &
Ali Rattansi (Hrsg.): Race, Culture and Difference. London: Sage, 1992, S. 198-219
Redzewsky, Patricia, Aretha S. Schwarzbach-Apithy, Cornelia Rothkegel & Juliane Strohschein:
Konzept zur Beantragung des Projekttutoriums: ›kritisches Weißsein und Schwarze Geschichte –
Macht und Widerstand‹ Wintersemester 2003/2004 bis Sommersemester 2004. Berlin: Humboldt
Universität, 2003 (unveröffentlicht)
Wachendorfer, Ursula: »Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden
Normalität.« In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland.
Münster: Unrast, 2001, S. 87-101

ANMERKUNGEN
1 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf das Umfeld der Gender Studies an der Humboldt-
Universität zu Berlin.
2 Hier geht es um eine bestimmte Situation, die ich erlebt habe, in der vieles zusammenkommt,
was sich in der Struktur in anderen Situationen immer wieder wiederholt hat.
3 hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 204.
4 Der Begriff Schwarz wird als politische Definition bzw. soziales Konstrukt im Text groß
geschrieben und nicht als biologische Entität betrachtet.
5 Redzewsky, Schwarzbach-Apithy, Rothkegel & Strohschein: Konzept zur Beantragung des
Projekttutoriums, S. 1-2.
6 Frankenberg: »Weiße Frauen«, S. 53-54.
7 Ebenda, S. 61.
8 Weiße Sozialisation lässt auch als eine Erziehung hin zu Abhängigkeit und Phantasielosigkeit,
Situationen anders zu gestalten, verstehen und erhöht insofern die Akzeptanz von Pseudofakten
wie: ›Es war schon immer so. Es geht nicht anders. Es ist eben so.‹
9 Vgl. Pajaczkoska & Young: »Racism, Representation, Psychoanalysis, S. 213-214.
10 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 98-99.
11 Ebenda.
DAGMAR SCHULTZ
WITNESSING WHITENESS – EIN PERSÖNLICHES
ZEUGNIS[1]

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN
Ich wurde 1941 in Berlin geboren. 1943 hatte mein Vater beantragt, aus der
Wehrmacht entlassen zu werden und seine zivile Arbeitsstelle wieder
antreten zu dürfen. Als dies erfolglos blieb, kehrte er verspätet als Soldat
nach Russland zurück, wo er als Deserteur verurteilt wurde und sich
erschoss. Ich wuchs mit meiner Großmutter, meiner Mutter und meiner
jüngeren Schwester auf. Drei Generationen von Frauen. In meiner
Schulklasse hatten dreiviertel der Mitschülerinnen keinen Vater.
Meine Schwester war leicht geistig behindert. Sie fing sehr spät an zu
laufen und zu sprechen und wurde nach dem ersten Schuljahr für
schulunfähig erklärt. Meine Mutter fand eine pensionierte Privatlehrerin für
sie. Dann folgte die Sonderschule und eine Reihe von Heimen. Wir
wohnten in der Villa meiner Großmutter, in der auch meine Mutter und ihre
Geschwister aufgewachsen waren. Bis auf vier Zimmer waren alle Räume
vermietet. Unsere finanzielle Situation war nicht besonders gut; die
Mieteinnahmen waren niedrig und meine Mutter führte zehn Jahre lang
einen Prozess um die Witwen- und Waisenrente, die ihr verweigert wurde,
weil mein Vater Selbstmord begangen hatte. Dennoch ging es uns im
Vergleich zu vielen anderen gut: Das Haus war unversehrt geblieben – wir
waren ›zu Hause‹, und wir hatten einen Garten, in dem wir Gemüse
anpflanzen konnten.
In diesem Beitrag will ich versuchen den Prozess nachzuzeichnen, durch
den ich mir ›meiner Hautfarbe‹ - meine Positionierung als Weiße und ihrer
Bedeutung bewusst wurde. Da meine Erfahrungen in den USA hierfür
grundlegend waren und das emotionale und intellektuelle Fundament für
meine politische Entwicklung bilden, liegt der Schwerpunkt auf den Jahren,
die ich in den USA und in Puerto Rico verbracht habe. Vorbilder für diese
Art von biographischem Text sind mir vor allem Schriften von Minnie
Bruce Pratt,[2] Dichterin und Aktivistin aus den Südstaaten der USA, und
der Schriftstellerin Adrienne Rich.[3] Beide haben für mich in
beeindruckender Weise persönliche Erfahrungen mit historischen und
politischen Entwicklungen verbunden. Biddy Martin und Chandra Talpade
Mohanty zeigen in ihrer kritischen Analyse von Pratts Essay, in welcher
Weise die Autorin interpersonale und politische Zusammenhänge in
Beziehung zueinander setzt und dabei die Idee, dass das Persönliche
politisch sei, anders konzipiert.[4]

KINDHEIT UND JUGEND IN DEUTSCHLAND


Ich blättere in dem Fotoalbum, das ich als 14-Jährige angelegt hatte. Wo
gibt es Anzeichen für erste Auseinandersetzungen mit meinem Weißsein?
Dafür sind Begegnungen mit Menschen und Dingen ausschlaggebend
gewesen, die mir meine Positionierung hätten bewusst machen können.
1954 Fotos von Nachbarkindern mit Mitgliedern einer indischen
Tanzgruppe, die während ihres Auftritts in Berlin in unserer Strasse
wohnten. Überschrift »Die Inder«, Fotounterschriften: »Der kranke Gomis,
der sich so gern photographieren ließ, auf einem Roller« und »wir
bekommen Autogramme«. Eine aufregende Begegnung mit Menschen aus
einem fernen Land.
1955 ein Aufenthalt in einem bayrischen Kinderheim, organisiert für
bedürftige Berliner Kinder. Fotos von den Rote-Kreuz-Schwestern, die uns
betreuten. »Schwester Dorle ruft vor der Veranda die Kinder zum Essen« –
Schwester Dorle ist eine Afro-Deutsche, was mir damals nicht bewusst war.
Erst 30 Jahre später werde ich durch die Begegnung mit Afrodeutschen
und die Arbeit an dem Buch ›Farbe Bekennen. Afro-deutsche Frauen auf
den Spuren ihrer Geschichte‹[5] vertraut mit der Geschichte von Schwarzen
Menschen in diesem Land. Erst dann lerne ich von May Ayims
Forschungsarbeiten, dass nicht nur die Kinder von Schwarzen US-Soldaten
in Deutschland aufwuchsen, sondern dass Generationen von Schwarzen in
Deutschland leben. Wenn Schwester Dorle Anfang der 1930er Jahre
geboren wurde, so wahrscheinlich in einer Familie, in der der Großvater
aus einer der deutschen Kolonien in Afrika kam. Der Generation von
Kindern aus Verbindungen zwischen deutschen Frauen und Schwarzen
Soldaten der französischen Armee Ende des Ersten Weltkriegs, den so
genannten ›Rheinlandbastarden‹[6] konnte sie nicht angehören.
1955 Fotos von einem Schulausflug. Neben mir liegt ein afro-deutsches
Mädchen, Karola im Gras. Karolas Mutter war weiße Deutsche,
alleinerziehend – wir hatten eine Vorstellung, dass ihr Vater ›etwas
Besonderes‹ sein musste, aber wir fragten nicht nach ihm. Da gab es wohl
doch eine Hemmung, ihr zu nahe zu treten. Und schließlich hatten viele von
uns keinen Vater im Haus. Auf einer Mauer sitze ich mit Karola und mit
Sigrid. Sigrid hat tiefschwarzes glänzendes Haar und eine hellbraune
Hautfarbe. Irgendwann erzählt sie mir, dass ihr Großvater ein
amerikanischer ›Indianer‹ sei. Auch bei Sigrid, mit der ich etwas enger
befreundet war, sah ich nie einen Mann in der Familie.
Viele Jahre später, 1994, treffe ich mich mit Joy Harjo, Native American
Dichterin und Musikerin in Berlin. Wir reden über das Buch ›Farbe
Bekennen‹. Joy fragt mich, wie es denn mit Native Americans in der US-
Army gewesen sie. Gäbe es nicht auch Kinder aus Verbindungen zwischen
ihnen und weißen deutschen Frauen? Erst da taucht Sigrid wieder vor
meinem inneren Auge auf. Ich finde keine Anhaltspunkte in meinen
Erinnerungen, die mir etwas darüber sagen würden, wie wir weißen
Schülerinnen das ›Anderssein‹ von Karola und Sigrid erlebten. Noch
weniger, wie Karola und Sigrid unser Weißsein erlebten.
Als Kinder treffen wir uns, um ›Schutztruppe‹ zu spielen – ein altes
Quartett, das Episoden aus der deutschen Kolonialzeit in verklärter Weise
darstellt – ein Kapitel deutscher Geschichte, das in unserem Schulunterricht
nicht behandelt wird, schon gar nicht im Ausmaß seiner Brutalität.
Ich gehe in den 1950er Jahren zur Schule, der Ära des Kalten Krieges, in
der das ›Wirtschaftswunder‹ im westlichen Teil Deutschlands mit Hilfe des
Marshall-Plans konstruiert wird. Wir nehmen im Unterricht zwei Mal die
Weltgeschichte durch, und zwei Mal halten die Lehrer beim Jahr 1930 an.
Bei Gelegenheit fragen wir uns, was dieser Lehrer oder jene Lehrerin wohl
in den 1930er und 1940er Jahren gemacht haben. Doch das Schweigegebot
ist zu groß – im Unterricht stellen wir die Frage nicht. Wir lernen auch fast
nichts über die politischen Bewegungen der Zeit, zum Beispiel die
Bewegung gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik. Wir müssen
uns dieses Wissen selbst aneignen und sehen, wie wir mit der Schuld
und/oder den Schuldgefühlen unserer Lehrerinnen und Lehrer, unserer
Eltern und Großeltern umgehen können.
1959 mache ich mein Abitur. Nach einem ›au pair‹-Aufenthalt in
Frankreich besuche ich eine Sprachschule und freunde mich mit meinem
Englischlehrer, einem US-Amerikaner an. Ich bewege mich jetzt in einer
Szene von älteren Berliner Schriftstellern und jungen linken StudentInnen,
SchauspielerInnen, Deutschen und Griechen. Bertolt Brecht ist unser Idol.
Der Eichmann-Prozess ist Thema nächtlicher Diskussionen.
1961 erfülle ich mir meinen Traum, Studentin zu werden. An der Freien
Universität Berlin studiere ich Publizistik, Nordamerikanistik und
Romanistik. Ich will in die USA und dort Rundfunk und Fernsehen
studieren, bekomme jedoch kein Stipendium. Der Vater meines Freundes
erklärt sich bereit, mein Bürge zu sein und ich beantrage ein
Einwanderungsvisum. Im Juni 1963 begeistert Präsident Kennedy die
Berliner anlässlich seines Besuchs. Im Juli erhalte ich das Visum für die
USA. Meine Mutter begleitet mich im September nach Amsterdam, von wo
ich nach Ann Arbor an die University of Michigan in die USA fliege. Vor
dem Abflug besuchen wir beide das Anne-Frank-Haus. In Berlin gibt es
kein Museum, das uns die Verfolgung von Juden in dieser Weise nahe
gebracht hätte.

ERFAHRUNGEN IN DEN USA


Erste Begegnungen mit Verhandlungen von Weißsein US Style: Es ist 1964,
der Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. Mit neuen FreundInnen gehe
ich zu Veranstaltungen von CORE (Congress of Racial Equality). Als mein
Bürge von meinen Kontakten hört, sagt er mir, ich solle nicht mit einem
Schwarzen Freund in ein Restaurant gehen, weil dann alle dort denken
würden, dass ich mit ihm schlafe. Ich bin empört und sage ihm das auch.
Die Antwort ist, wie schon so oft, dass ich noch nicht lange genug im Land
sei, um zu verstehen. Was soll ich verstehen? Dass Weiße im Norden
besessen sind von sexuellen Vorstellungen, wenn sie einen Schwarzen
Mann und eine weiße Frau zusammen sehen? Ich fange an zu verstehen,
welche vielfältigen Dimensionen der Rassismus auch im Norden hat und
beginne, mich im Bewusstsein meines Weißseins zu bewegen: ich lerne,
›meine Hautfarbe‹ als Phänomen mit vielfältigen materiellen und
emotionalen Auswirkungen zu begreifen, lerne, dass ich weiß bin und als
Teil des weißen Kollektivs angesehen werde, ob ich will oder nicht. Ich übe
mich darin, weiß zu sein in Abgrenzung zu Weißen, deren Ansichten ich
nicht teile.
Mit dem Freund besuche ich seine Familie auf dem Land. Ich bin die
einzige weiße Person im Kreis von vielen seiner Verwandten, Kindern und
Alten. Seine Mutter begrüßt mich freundlich. Zum ersten Mal spüre ich
meine Haut und ihre Farbe wie ein eigenes Wesen. Ich frage mich, ob ich
für die Menschen etwas Unangenehmes ausstrahle oder ob es meine eigene
Befangenheit ist. In jedem Fall bin ich erleichtert, dass man mir nicht viel
Aufmerksamkeit schenkt. Bills Familie hat mich willkommen geheißen,
aber was haben sie wohl gedacht, als er mit einer weißen deutschen Frau
auftauchte?
Viele Jahre später fahre ich mit meiner afro-deutschen Freundin nach
Chicago zu ihrem Vater, den sie mit 45 Jahren ausfindig gemacht hat. Er
lebt in einer Gegend, die nur von Schwarzen bewohnt wird. Wie meine
Freundin werde ich von der ganzen Familie und den Nachbarn mit großer
Selbstverständlichkeit und Herzlichkeit willkommen geheißen. Es tut weh,
mir vorzustellen, wie eine weiße deutsche Familie reagieren würde, wenn
eine bis dahin unbekannte Schwarze Tochter auftauchen würde.
Ich arbeite mit an der Kampagne für die Mississippi Freedom Democratic
Party, einer Partei von vornehmlich Schwarzen, die die Bürgerrechtsideen
vertritt. Wir machen Lobbyarbeit bei Convention der Demokratischen Partei
in Michigan und fahren zu einem Kongress der MFDP in Washington, D.C.
Die Zusammenarbeit zwischen Schwarzen und weißen AktivistInnen läuft
gut. Ich lerne viel über die Geschichte von Schwarzen und Weißen in den
USA. Als Deutsche bin ich in gewisser Weise Außenseiterin und doch
akzeptiert als Fürsprecherin und Mitstreiterin.

Bewusstmachung des Deutschen: Bei einem Besuch in New York City


treffe ich viele jüdische Verwandte und FreundInnen meiner Freundin
Marian. Mein Deutschsein kommt mir in dieser Stadt noch einmal ganz
anders zu Bewusstsein. Später schreibe ich in einem Gedicht[7]:
›Deutschland bekommt Atomwaffen!‹
Ich höre die Nachricht in einer New Yorker U-Bahn
Aus dem zornigen Mund eines älteren Mannes
Und mir wird heiß und kalt.

Eine jüdische Frau fragt mich


Was mich am meisten beeindruckt hat in den USA
Ich antworte ›Das Rassenproblem‹ – sie erwidert
›Deutschland löste das vor zwanzig Jahren.‹

Diese Frau treffe ich bei einer Familienfeier von Marian. Sie gehört der
Generation meiner Mutter an und ist mir sehr sympathisch. Ihr Satz
überflutet mich. Wer bin ich denn, um als Deutsche einer US-
amerikanischen Jüdin gegenüber das ›Rassenproblem‹ der USA zu
beklagen? Ich denke mir, sie hat Recht, ich mache es mir vielleicht zu
einfach, bin in Gefahr, der Versuchung nachzugeben, den Blick auf die
Verbrechen der anderen zu richten und mich dadurch in Bezug auf meine
Vergangenheit (und Gegenwart) zu entlasten. Eine halbe Stunde später
kommt sie auf mich zu, um mir zu sagen, dass dies keine Art sei, mit dem
Problem umzugehen. Was meint sie damit? Dass sie zu aggressiv zu mir
war? Ich fühle mich wie ein Kind, dem ein Pflaster auf eine Wunde geklebt
wird und weiß gleichzeitig, dass ich mir den Schmerz genau ansehen muss.
›The politics of location.‹ Adrienne Rich schreibt über die Politik der
Verortung bezugnehmend auf Virginia Woolfs Feststellung »als Frau habe
ich kein Land, als Frau möchte ich kein Land haben. Als Frau ist die ganze
Welt mein Land.«[8] Rich’s Antwort: »Als Frau habe ich ein Land; als Frau
kann ich mich nicht einfach von diesem Land lossagen, indem ich seine
Regierung verurteile…«, und sie beginnt mit der Verortung bei dem eigenen
Körper:
Mich in meinem Körper verorten heißt mehr als verstehen, was der Besitz von Schamlippen und
Klitoris und Uterus und Brüsten für mich bedeutet hat. Es heißt, die weiße Hautfarbe
wahrnehmen, die Orte an die sie mich geführt hat, und die Orte, an die sie mich nicht gehen ließ
[…] Der Körper, in den ich hinein geboren wurde, war nicht nur weiblich und weiß, sondern
jüdisch – für einen geographischen Ort ausreichend, um in jenen Jahren eine entscheidende Rolle
gespielt zu haben […][9]

Ich bin weiblich, weiß, deutsch, nicht-jüdisch. Zum ersten Mal begegne ich
Jüdinnen und Juden, die mir, der deutschen Nicht-Jüdin der
Kriegsgeneration, sagen, was sie Deutschen gegenüber empfinden, die ihr
Misstrauen nicht verbergen, vielleicht in der Erwartung, dass ich als
Deutsche einer neuen Generation anders denke und handle.
In der Begegnung mit Schwarzen spielt die Frage, wie ich zum
Nationalsozialismus stehe, weniger eine Rolle. Das Misstrauen gilt eher der
weißen Frau. Dass ich nicht US-Amerikanerin bin, schafft eine Distanz zu
der historischen Last in Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen:
paradoxerweise öffnet es mir Türen, die mir als weißer US-Amerikanerin
vielleicht verschlossen geblieben wären.
Sommer 1965: Ich beschließe, mich um eine Lehrstelle an einem
College für Schwarze im Süden zu bewerben. Die Zusage kommt vom Rust
College in Holly Springs, Mississippi.[10]
Ich bin die einzige europäische und mit 24 Jahren die jüngste Dozentin
an dem College. Und ich bin eine der Wenigen, die sich im Freedom House,
das gegenüber vom College Eingang liegt, engagiert. Schon am ersten
Abend meines Aufenthaltes fahre ich mit mehreren Mitgliedern der MFDP
zu einem Landkreistreffen. In dem Holzgebäude, das auch als Kirche
benutzt wird, eröffnet der Vorsitzende das Treffen. Eine Schwarze Frau tritt
in das trübe Licht, ihre klare, volle Stimme erhebt sich mit dem Lied Oh
Freedom, oh Freedom, oh Freedom over me … Ich stehe hier in den Reihen
der Menschen und sehe, dass uns Welten trennen: wie gut geht es mir als
weißer Person, nichts in meinem Leben kommt der Wirklichkeit der
Menschen hier nahe, für die es um Essen oder Hunger, Resignation oder
Gefängnis, Hoffnung oder Verzweifeln, Leben oder Tod geht. Nun frage ich
mich, was mein Beitrag hier wohl sein kann. Gleichzeitig wird mir ein
essentieller Unterschied zwischen Weißsein und Schwarzsein klar: ich kann
wählen, ob, wann und wie lange ich mich diesem System aussetzen will.
Neben meiner Lehrtätigkeit helfe ich zusammen mit MitarbeiterInnen im
Freedom House Gemeindemitgliedern beim Ausfüllen bürokratischer
Anträge für Programme im Rahmen des ›War on Poverty‹. Mit den
Studierenden forme ich eine Theatergruppe, und wir führen das am College
höchst umstrittene Stück Die ehrbare Dirne von Jean Paul Sartre auf. In
diesen Monaten habe ich mit Weißen nichts zu tun, außer in Läden, an
Tankstellen, mit Polizisten und Sheriffs.
Zwei Jahre später beschloss das Student Nonviolent Coordinating
Committee (SNCC), Weiße aufzufordern, die Organisation in Schwarzen
Gemeinden den Schwarzen zu überlassen und sich auf anti-rassistische
Arbeit in den eigenen weißen Gemeinden zu konzentrieren. Dies war ein
wichtiger Schritt in der Entwicklung einer eigenständigen, unabhängigen
Schwarzen Bewegung. Die lange Zeit der bösartigen Diskriminierung
verlangt nach innerer und äußerer Befreiung – dazu gehört die Loslösung
und Abgrenzung von politisch motivierten Weißen, die doch immer wieder
dominante Stellungen einnehmen. Für Weiße eine nicht so angenehme
Entwicklung – wer wollte sich schon mit dem Rassismus in den eigenen
Reihen auseinandersetzen?
Mein Deutschsein war auch in der Zeit im Süden von Bedeutung. So
schrieb ich in dem angegebenen Aufsatz:
Ich kam nach Mississippi mit einem Kopf voll von Zeitungsartikeln und Diskussionsargumenten.
Ich verließ es mit einem Herz voll von schmerzhaften Erinnerungen. Ich war ein Außenseiter, als
ich ankam, und ich war ein Zugehöriger, soweit es ein weißer Besucher sein kann, als ich wegfuhr
[…] Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Hitlers Deutschland und Mississippi sind oft
disputiert worden, aber ein gemeinsames Ergebnis ist sicher: die Ausübung eines Systems, das auf
Rassenherrschaft begründet ist, wirkt sich verheerend sowohl auf Individuen als auch auf die
Menschheit im allgemeinen aus. Ich selbst habe die Hitler-Herrschaft nicht mitgemacht, ich war
zu jung; die ersten Monate, die ich in Amerika verbrachte und die Begegnung mit vielen
Amerikanern fügten meinen Gefühlen über die Untaten von damals die Frage über eine kollektive
Schuld hinzu […][11]
Konfrontation mit Kolonialismus: 1966 fahre ich nach Puerto Rico und
arbeite dort für das Office of Economic Opportunity (OEO), das die so
genannten anti-poverty programs, den War on Poverty organisiert. Der
Spanische Club in Old San Juan lässt nur Weiße als Mitglieder zu. Das
Buch des Anthropologen Oscar Lewis La Vida: A Puerto Rican Family in
the Culture of Poverty – San Juan & New York, das von dem Leben einer
Familie in der favela La Perla in Old San Juan handelt, erscheint 1966. Ich
komme morgens zur Arbeit und eine puerto ricanische Kollegin sagt
aufgebracht: ›Ja, wusstest Du nicht, dass wir unsere Kinder im Meer
ertränken? Ist alles bei Oscar Lewis dokumentiert.‹ Das Buch wird heftig
kritisiert für seine Stereotypisierung insbesondere puerto ricanischer
Frauen. Durch die Bemerkung der Kollegin fühle ich mich unerwartet auf
die andere Seite gestellt, die Seite der Kolonisatoren. Ich weiß, dass sie
weiß, dass ich ihre Meinung teile und habe das Bedürfnis, das Gemeinsame
zwischen uns zu klären. Gleichzeitig spüre ich, dass unsere so
unterschiedlichen Geschichten Raum für emotionale Differenzen fordern.

Bewusstwerdeung von Zusammenhängen zwischen Rassismus und


Sexismus: 1967 kehre ich in die USA zurück. In Madison schreibe ich
meine Dissertation zum Thema Arbeiterbildung,: ›The changing political
nature of workers education: A case study of the Wisconsin School for
Workers.‹ Trotz meiner Bewusstwerdungsprozesse unterläuft mir hier ein
gängiger Fehler in dem Kapitel ›Attitudes toward women and Black
workers‹, den ich Jahre später in einem Aufsatz unter der Rubrik
›unzulässige Vergleiche‹ so analysiere:
In dem Kapitel sind die Einstellung zu Frauen und zu Schwarzen Arbeitern und die damit
verbundene Politik der Wisconsin School for Workers fein säuberlich getrennt, obwohl der Fall
rassistischen Vorgehens, den ich in dem Teil über Schwarze Arbeiter beschreibe, eine Frau betrifft.
Sie wird durch meine Vorgehensweise gewissermaßen geschlechtslos. Ich […] hätte sicher zu
differenzierteren Schlüssen kommen können, wenn mein Erkenntnisinteresse und mein
Bewusstseinsstand es mir erlaubt hätten, nach den Zusammenhängen zwischen Sexismus und
Rassismus, zwischen weißen Frauen und Männern und Schwarzen Frauen und Männern zu
suchen.[12]

1969 nehme ich eine Stelle als Dozentin am Columbia College in Chicago
an. Ich unterrichte Seminare zu Sociology of Women, Sexism in the Media
und History of Radical Ideology, in denen ich die Rolle von Schwarzen und
weißen Frauen und Schwarzen und weißen Bewegungen behandle. Die
Frauenbefreiungsbewegung steckt jetzt in ihren enthusiastischen Anfängen.
Die Chicago Women’s Liberation Union, der ich von 1969 bis 1971
angehöre, hat durchaus ein Bewusstsein von Klassenunterschieden und
Rassismus. Ich zitiere in Auszügen aus ihren politischen Prinzipien: »Die
Befreiung von Frauen ist für die Befreiung aller unterdrückten Menschen
notwendig. Wir werden gegen Rassismus, Imperialismus und Kapitalismus
kämpfen und wollen ein Bewusstsein von deren Wirkung auf Frauen
entwickeln […]« (Übers. D.S.)
Die Organisation stellt sich selbstkritische Fragen: Warum ist unsere
Bewegung vornehmlich weiß? Können wir für Schwarze Frauen relevant
sein? Können wir einen Bezug zur Schwarzen Befreiungsbewegung
herstellen?
In meinen Seminaren diskutieren wir ähnliche Fragen: Wie sieht es mit
der Beziehung zwischen Schwarzen und weißen Frauen aus? Sollten
Schwarze und weiße Frauen in derselben Organisation zusammen arbeiten?
Was bedeutet die Entdeckung von Geschlecht für Schwarze Mädchen und
Frauen im Vergleich zu Weißen im Hinblick auf den Kampf gegen die von
Weißen dominierte kapitalistische Gesellschaft? Wie kommen Klasse,
Unterschiede zwischen Afro-AmerikanerInnen und migrierten Schwarzen,
sexuelle Orientierung beim Aufbau von einer sozialen Bewegung zum
Tragen? Die Diskussionen sind oft geladen und schmerzhaft. Als Lehrende
bin ich ständig am Lernen und sehe meine Aufgabe darin, ein möglichst
offenes Forum und Zugang zu Hintergrundinformationen zu schaffen.
Rückblickend sage ich zu der Entwicklung der
Frauenbefreiungsbewegung in den USA und ihrer Beziehung zu Schwarzen
Frauen: Schwarze Frauen bildeten durchaus ihre eigenen Gruppen und
Organisationen und konnten dabei auf vielerlei Erfahrungen und Netzwerke
zurückgreifen.[13]
Dass die weiße Frauenbewegung eine Massenbewegung werden konnte,
die auch in verschiedensten institutionellen Bereichen Aufsehen erregte und
Gehör fand, hatte nicht nur mit der Wirkungsweise ihrer eigenen
Infrastruktur zu tun, sondern auch mit der gesellschaftlichen Position
weißer Frauen. Weiße Frauen hatten von den Kämpfen Schwarzer
Menschen gelernt und profitiert, die in den USA die Grundlage für alle
anderen progressiven politischen Bewegungen bildeten. Keine andere
weibliche Bevölkerungsgruppe hatte jedoch den notwendigen Zugang zu
Universitäten, Verlagen, Medien und GeldgeberInnen. So schreibt die
Schwarze Literatur- und Sozialwissenschaftlerin bell hooks: »Hätten
Schwarze Mittelklassenfrauen eine Bewegung angefangen, in der sie sich
selbst als ›unterdrückt‹ bezeichnet hätten, niemand hätte sie ernst
genommen […] Sie wären von allen Seiten kritisiert und angegriffen
worden.«[14] Weiße Frauen schaffen sich hier ebenso wie weiße Männer
ökonomische und politische Vorteile - der Soziologe George Lipsitz nennt
dies ›possessive investment in whiteness‹,[15] – wobei die Frauen durch
ihre Partnerschaft mit Männern, ihre mehr oder weniger freiwillige
Unterwerfung, an der strukturellen Macht teilhaben. In den Worten der
Psychologin Aida Hurtado: »Weiße Frauen werden, als Gruppe, durch
Verführung unterworfen, women of color, als Gruppe, durch
Abweisung.«[16]

WEIßSEIN IM KONTEXT DER FRAUENBEWEGUNGEN IN DEUTSCHLAND


1973 kehre ich nach Deutschland zurück und versuche, möglichst schnell
Kontakte zur deutschen Frauenbewegung zu finden und mir ein eigenes
Bild davon zu machen. Die neue Frauenbewegung der Bundesrepublik
findet ihr kulturelles und strukturelles Zentrum in den weißen
intellektuellen, mittelständischen Frauen, die sich aufgrund sexistischer
Erfahrungen aus den Zusammenhängen linker Organisationen und der
Studentenbewegung herausgelöst haben und einen eigenen kollektiven
Handlungszusammenhang entwickeln. Auf theoretischer Ebene bringen
weiße Frauen ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus der linken Bewegung
mit, aber die direkte Auseinandersetzung mit Rassismus und der
persönliche Kontakt mit betroffenen Frauen/Menschen fehlt weitgehend.
Frauen der unteren Schichten und Immigrantinnen bleiben somit außerhalb
oder am Rand der Bewegung. Schwarze und jüdische Frauen rücken
überhaupt erst in den achtziger Jahren auf eigene Initiative ins Blickfeld.
Ich komme 1973 zurück in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin.
Am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der Freien
Universität Berlin erhalte ich eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin
und führe dort Frauenstudien im Rahmen der Lehrerausbildung ein. Ich
suche Kontakt zum Frauenzentrum und werde Mitglied der ›§218‹ Gruppe.
1974 gründe ich zusammen mit einigen Frauen den Orlanda Verlag.[17]
In demselben Jahr bilden einige von uns die erste Selbsthilfegruppe, die
sich mit mit Selbstuntersuchung, alternativen Behandlungsmethoden und
mit Gesundheitspolitik auf nationaler und internationaler Ebene befasst.
1975 veröffentlichen wir die Ergebnisse unserer Arbeit in dem Buch
Hexengeflüster, von dem wir innerhalb von einigen Monaten 10.000
Exemplare verkaufen. Wir sind eine Gruppe von weißen deutschen Frauen.
Zwei von uns sind lesbisch und stellen bei Durchsicht des frisch gedruckten
Buches fest, dass wir kein Wort über Lesben in dem Buch verloren haben.
Wir setzen uns mit den anderen zusammen und sind erleichtert, dass alle
damit einverstanden sind, zwei Seiten zu schreiben, die sich an Lesben
wenden. Diese Seite wird von Hand in 10.000 Bücher eingeklebt, und so
gibt es in der ersten Ausgabe des Hexengeflüsters zwei mal die Seite 7/8!
Die Methoden und Auswirkungen von Bevölkerungs- und
Familienpolitik auf Migrantinnen und Frauen aus sozial benachteiligten
Schichten und auf Frauen in der so genannten ›Dritten Welt‹ sind uns sehr
bewusst, und wir stellen sie in dem Buch, und ab 1976 in der Zeitschrift
CLIO, deutlich dar. So schreiben wir im Hexengeflüster, dass ausländische
Arbeitnehmerinnen in der BRD eher einen Schwangerschaftsabbruch
erhalten als bundesdeutsche Staatsbürgerinnen und dass Frauen aus sozial
benachteiligten Schichten nach einer Abtreibung eher zu einer Sterilisation
geraten wird.[18] Wir sind sehr international ausgerichtet, aber es gelingt
uns nicht, bzw. wir machen es uns nicht zur Priorität, den Kontakt zu
Migrantinnen in Berlin zu finden – weder als Nutzerinnen in dem
Feministischen Gesundheitszentrum, das wir 1974 gründen, noch als
Mitarbeiterinnen.
Wie in den USA formen migrierte Frauen ihre eigenen Gruppen und
initiieren soziale Projekte für Immigrantinnen, in denen auch weiße
deutsche Frauen arbeiteten.[19] Aus der Perspektive der weißen
Frauenbewegung bleiben diese Projekte marginal. Dies gilt ebenso für die
feministische Forschung: Forschung über oder von Migrantinnen wird
weitgehend dem Bereich der sozialen Arbeit zugeschrieben und nicht in
feministische Theorien integriert. In diesem Land, in dem Juden und
Jüdinnen, MigrantInnen, Schwarze Deutsche in den 1970er Jahren Weiße
nicht konfrontiert haben, wird es weißen Frauen einfach gemacht, nicht
über ihre Kreise hinaus zu blicken. Je klarer mir wird, dass die Abwesenheit
von Schwarzen und jüdischen Frauen bestimmend für das Selbstverständnis
der Bewegung ist, desto unwohler fühle ich mich.
Gleichzeitig sehe ich meinen eigenen Anteil: ich habe mich der
Notwendigkeit, mich in Deutschland wieder zurechtzufinden und die hier
weiße Frauenbewegung dabei als Bezugspunkt zu haben, zu lange
hingegeben. Als eine meiner Mitarbeiterinnen im Gesundheitszentrum auf
die Wahrnehmungen einer US-amerikanischen Jüdin von Antisemitismus in
unserem Land mit den Worten reagiert: ›Ich will mir keine Schuldgefühle
über etwas machen lassen, womit ich nichts zu tun hatte. Ich muss auch
Prioritäten setzen, ich kann mich nicht um alles kümmern,‹ bin ich
schockiert – nicht so sehr von ihrer Reaktion wie von der Tatsache, dass ich
nie vermutet habe, dass sie sich so äußern würde. Mir wird klar, dass ich
innerhalb meiner unmittelbaren politischen Bezugsgruppe nicht genug
gedacht, geredet und gehandelt habe, um von dieser Einstellung nicht
überrascht zu werden. Aber warum? Viele Frauen suchen in der Bewegung
ein neues Zuhause, so auch ich mit meinem Neuanfang in Deutschland.
Kaum jemand ist interessiert an meinen Erfahrungen und Freundschaften in
den USA. Mit meinen regelmäßigen Besuchen in den USA verdecke ich
zunächst, was mir in der deutschen Bewegung fehlt.
1980 begegne ich Audre Lorde auf der Weltfrauen-Konferenz in
Kopenhagen. Ich bin begeistert und tief berührt von ihrer Lesung und der
anschließenden Diskussion und ich weiß, dass ich diese Frau in
Deutschland haben will. 1981 erlebe ich Audre Lorde und Adrienne Rich
auf der Jahreskonferenz der National Women’s Studies Association und
beschließe, ihre Reden zu veröffentlichen. Ich schreibe einen Bericht über
die Tagung in der Zeitschrift Courage unter dem Titel ›Dem Rassismus in
sich begegnen‹, in dem ich dazu auffordere, uns in Deutschland intensiver
mit Rassismus und Antisemitismus auseinander zu setzen. 1983 bringe ich
den Band Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und
Adrienne Rich heraus. Das Buch hat die von mir intendierte Wirkung, die
Diskussion über Rassismus und Antisemitismus in der Frauenbewegung
anzufachen.
Am John-F.-Kennedy-Institut schlage ich Audre Lorde als
Gastprofessorin vor und kann sie einladen. Sie erklärt sich bereit, im
Sommersemester 1984 zu kommen. In demselben Jahr lerne ich May Opitz
(später Ayim) auf dem Kongress Sind wir uns denn so fremd. Ausländische
und deutsche Frauen im Gespräch in Frankfurt/M. kennen. Sie schreibt ihre
Diplomarbeit über die Geschichte und Gegenwart von Afro-Deutschen und
zieht nach West-Berlin. Aus Audre Lordes Kontakten mit Afro-Deutschen
entsteht die Idee für das Buch Farbe Bekennen. In zweijähriger Arbeit
stellen wir die Texte von Frauen aus drei Generationen zusammen und
verbinden sie mit den Forschungen von May Opitz (Ayim).
In diesem Zusammenhang ergeben sich meine ersten intensiven
Kontakte mit Afro-Deutschen. Und ich setze mich zum ersten Mal mit der
Kolonialgeschichte Deutschlands und ihrer Wirkung bis in die Gegenwart
auseinander. Ich lerne, mich auf andere Weise als weiße Deutsche zu
begreifen. Das Gefühl der Unfähigkeit, konstruktiv mit der ungeheuerlichen
Zerstörungskraft der weißen nicht-jüdischen Deutschen umzugehen, wird
brüchig: Ich habe es nun mit Menschen zu tun, die Überlebende sind und
ihr Recht, in diesem Land zu leben und sich Deutsche zu nennen, in
Anspruch nehmen. Woher nehme ich die Arroganz zu meinen, ich könne
diesem Land – wohlgemerkt aufgrund meines Privilegs, im Besitz eines
US-Einwanderungsvisums zu sein, ein Privileg, das sicher mit meinem
Weißsein zu tun hat – jederzeit den Rücken kehren und mich der
Verantwortung entziehen, die mir aus meiner nationalen und kulturellen
Herkunft erwachsen ist? Stimmt es wirklich, dass ich in den USA politisch
wirkungsvoller arbeiten konnte? Ich denke zurück an die Forderung von
SNCC in den sechziger Jahren, dass Weiße ihren Anteil an antirassistischer
Arbeit in den eigenen weißen Gemeinden weißen Gemeinden leisten
sollten. Sinn und Notwendigkeit dieser Forderung waren mir sehr klar.
Zwanzig Jahre später hilft mir diese Einsicht. Ich richte meinen Blick nicht
zuerst auf ›die anderen‹ in Beurteilung ihrer Situation und Erwartung ihrer
Forderungen, sondern auf mich und die weiße Gesellschaft im Gewahrsein
von Dominanzstrukturen und -verhalten. Das bedeutet, dass ich mich
eindeutiger in Deutschland verorten und gleichzeitig meine politischen
Erfahrungen besser nutzen kann.[20]
Audre Lorde kommt von 1986 bis 1992 jedes Jahr für mehrere Wochen
bzw. Monate nach Berlin und macht hier eine biologische Krebstherapie,
häufig begleitet von ihrer Partnerin Gloria I. Joseph. Wir veröffentlichen
mehrere Bücher von Audre Lorde, und Gloria Joseph gibt im Orlanda
Verlag den Band Schwarzer Feminismus. Theorie und Politik afro-
amerikanischer Frauen heraus. Meine Freundin Ika Hügel-Marshall und ich
besuchen Audre und Gloria regelmäßig in St. Croix in der Karibik. Die
lange Freundschaft mit Audre Lorde hat einen tiefen und entscheidenden
Einfluss auf meine fortwährende Auseinandersetzung mit Rassismus und
meine politische und menschliche Entwicklung. In der Begegnung mit ihr
erfahre ich, dass mein Bewusstsein über mein Weißsein Voraussetzung für
eine Vertrauensbasis zwischen uns ist. Dem Verlagsteam ist Audre Lorde
eng verbunden und unterstützt uns, z.B. indem sie Manuskripte und Bücher
für uns liest und begutachtet. Sie gibt unermüdlich Lesungen in der BRD, in
der Schweiz und nach der Wende auch im Osten Deutschlands und ermutigt
zur Zusammenarbeit von, in ihren Worten, ›Bindestrich-Menschen‹. Für
Schwarze Deutsche wird sie eine wichtige Bezugsperson. Sie rüttelt weiße
Menschen auf: für diese bedeutet die Begegnung mit Audre Lorde von
Angesicht zu Angesicht, ihr Weißsein nicht mehr ignorieren zu können.
Adrienne Rich spricht von einem ›weißen Solipsismus‹, d.h. einer weißen
Selbstbezogenheit und der Tendenz »zu denken, Vorstellungen zu
entwickeln und zu sprechen, als wenn Weißheit die Welt beschreibt.«[21]
Judith Butler beschreibt Weißsein als eine »Macht, die ihren Namen nicht
zu nennen braucht«[22], Ruth Frankenberg als »die Erfahrung, dass die
eigene Person neutral, normal und normativ ist«.[23] In der Konfrontation
mit Audre Lorde und mit Schwarzen Deutschen kann das Weißsein nicht
mehr in dieser Weise unsichtbar bleiben, und Weiße sind gefordert, sich
Gedanken zu machen, wie sie die Macht und Privilegien, die ihnen durch
ihre Hautfarbe zukommen, nutzen können.[24] Dies ist eine der
nachhaltigsten Lehren, die ich aus den Worten und Werken von Audre
Lorde gezogen habe. Audre Lorde betonte immer, dass jede Person,
gleichgültig welcher sozialen Positionierung oder Herkunft, über ein Stück
Macht verfügt und lernen muss, diese zu nutzen; anderenfalls würde sie
irgendwann gegen sie eingesetzt werden.[25]
Für manche weiße Frau ist die Begegnung mit Afro-Deutschen bei
Lesungen aus Farbe Bekennen zu viel. Sie fühlen sich angegriffen, brechen
in Tränen aus, und werden oft eilends von einer ganzen Gruppe weißer
Frauen getröstet. Die Flucht in den Opferstatus ist scheinbar der einfachere
Weg. Katharina Oguntoye, die Schwarze deutsche Autorin und Aktivistin,
sagte einmal vor einem weißen deutschen Publikum einen Satz, der für
mich vieles auf den Punkt bringt: »Was ich mir wünsche ist, dass ihr uns
nicht aus Schuldgefühlen einbeschließt, sondern weil wir euch fehlen.«
Wir beschließen, dass wir unser Team im Orlanda-Verlag verändern
wollen, d.h. Schwarze Frauen und/oder migrierte Frauen und jüdische
Frauen als Mitarbeiterinnen gewinnen wollen. Es geht nicht an, dass wir
Bücher von Schwarzen Autorinnen und zu Anti/rassismus und
Antisemitismus veröffentlichen und dabei ein weißes deutsches Team
bleiben. Aufgrund all meiner Erfahrungen ist mir klar, dass wir sowohl in
unserer Arbeit wie auch persönlich davon profitieren werden, wenn wir ein
›integriertes Team‹ sind. 1987 stellen wir die erste afro-deutsche Kollegin
ein. Im Lauf der Jahre sind zwei von vier Mitarbeiterinnen Afro-deutsche,
und wir haben mehrere Migrantinnen und Schwarze Frauen als
Praktikantinnen. Die alltägliche Zusammenarbeit beinhaltet durchaus
Konflikte, so z.B. dass weiße Kolleginnen auf eine Auseinandersetzung mit
einer Schwarzen Kollegin mit Nichtbeachtung reagieren, was eine
grundsätzlich unzulängliche Umgangsweise ist, aber bei einer Schwarzen
Frau an alltägliche rassistische Erfahrungen von Ausgrenzung und
Nichtwahrnehmung rührt. Die Schwarzen Kolleginnen betonen jedoch, dass
sie den Verlag als relativ rassismusfreien Arbeitsplatz erleben und auch
erwarten können, dass die weißen Kolleginnen für die Auseinandersetzung
mit allen möglichen Facetten von Rassismus und Vorurteilen offen sind. Bei
der inhaltlichen Arbeit ist es nun selbstverständlich, Texte auf Klischees
und rassistische und antisemitische Strukturen in Sprachgebrauch und
bildlichen Darstellungen zu untersuchen. Wir reflektieren politische
Intensionen von Manuskripten in einer für alle von uns fruchtbaren Weise.
Dabei wünschten wir uns die finanziellen Möglichkeiten, um unser Team
um migrierte Frauen und Jüdinnen erweitern zu können im Bewusstsein,
dass dies auch eine Erweiterung unserer Perspektiven und Kompetenzen,
unseres Programms und unserer LeserInnenschaft bedeuten würde.
In der Verlagslandschaft bleiben wir fast die einzigen, die Schwarze
Mitarbeiterinnen haben, was sich wiederum z.B. auf der Frankfurter
Buchmesse dahin gehend auswirkt, dass Besucherinnen die Schwarzen
Kolleginnen am Stand nicht als Mitarbeiterinnen identifizieren und immer
wieder nur die weißen ansprechen.
Auch nur wenige Frauenprojekte machen Bemühungen, migrierte und
Schwarze deutsche Frauen zu integrieren. Die Diskussionen dazu laufen
heiß, sowohl bei einer Serie von Konferenzen, die Ende der 1980er Jahre zu
Rassismus und Antisemitismus stattfinden, wie im Berliner Arbeitskreis
Autonomer Frauenprojekte. In Letzterem diskutieren die Frauen jahrelang,
ob eine Quotierung von weißen und migrierten Frauen in den Projekten
eingeführt werden soll – ein absurder Vorgang angesichts der Tatsache, dass
weiße Frauen die Erfahrung haben, eine Quote von Männern einfordern zu
müssen.[26] Die Mehrzahl der von weißen Frauen geleiteten Projekte wehrt
sich gegen eine Quotierung,[27] und als schließlich 1995 eine halbwegs
positive Entscheidung getroffen wird, setzt der Senat Sparmaßnahmen
durch, die neue Stellenausschreibungen weitgehend ausschließen. In den
folgenden Jahren ändert sich die Personalpolitik etwas, jedoch vornehmlich
in den Projekten, die in wachsendem Maße mit Migrantinnen zu tun haben,
wie z.B. den Frauenhäusern. Antisemitismus und rassistische Gewalt
eskalieren mit der so genannten ›Wende‹. 1989/90 bin ich in einer
politischen Gruppe, die international zusammengesetzt ist und sich
›Interkulturelles Feministisches Antirassismus Forum‹ nennt. Eine
Schlüsselfrage, die uns beschäftigt und zu der wir auch eine Veranstaltung
anbieten, ist: ›Ist der Feminismus weiß?‹ Unsere Diskussionen sind geprägt
von der Aufbruchstimmung in der Bewegung der späten 1980er Jahre.
Migrantinnen erleben Angst, Distanz und Konkurrenz als charakteristisch in
den Beziehungen von weißen Frauen zu Women of Color und
argumentieren, dass sie zu ›Ausländerinnen‹ gemacht werden. Wir sind
entschlossen, uns endlich mit diesen Verhältnissen auseinander zu setzen.
Diese politische Arbeit realisieren wir auf verschiedenen Ebenen: In den
1990er Jahren bieten Ika Hügel-Marshall[28] und ich Antirassismus-
Workshops für Frauengruppen an. Zwei Jahre lang arbeiten wir in einer
Herausgeberinnen-/Autorinnengruppe an dem Buch Entfernte
Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung.[29]
1991 bewerbe ich mich erfolgreich für eine Professur an der Alice-
Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ich frage
mich, ob eine Migrantin oder eine Schwarze Deutsche die Stelle bekommen
hätte. Schwerpunkte meines Unterrichts sind interkulturelle und
frauenspezifische Themen. Am Soziologischen Institut der Freien
Universität bin ich Privatdozentin und biete in den Seminare zu Themen
wie Women and the Color Line, Rassismus und Sexismus: Vergleich USA-
BRD an, die immer sehr intensive Auseinandersetzungen beinhalten.
1992 verabschiedet der Akademische Senat der ASFH den Beschluss,
bei zukünftigen Stellenausschreibungen folgenden Zusatz zu machen:
»Angehörige ethnischer Minderheiten werden besonders aufgefordert, sich
zu bewerben, weil die ASFH ihren Anteil im Lehrkörper bzw. in der
Verwaltung erhöhen möchte.« Damit ist die ASFH die erste und wohl
weiterhin einzige Hochschule, die dies in Stellenausschreibungen
einbeschließt. 1994 stellt die ASFH mit May Ayim[30] die erste Schwarze
Deutsche mit einer halben Stelle als Studienberaterin ein. 1999 werden die
ersten und bis 2005 m.W. einzigen Migrantinnen, Dr. Dolly Conto und Dr.
Tahereh Agha, als Gastprofessorinnen mit halben Stellen eingestellt. Dies
ist zunächst möglich, weil ein Kollege und ich unsere Stellen reduziert
haben und ich bestimmen kann, wer den Anteil meiner Stelle übernehmen
soll. Beide unterrichten die rechtlich mögliche Zeit von dreieinhalb Jahren.
Dr. Agha wird 2004 zur Professorin an der Fachhochschule Dortmund
berufen und ist damit eine der ganz wenigen MigrantInnen, die eine
Professur besetzen.
Die Personalpolitik an Hochschulen ist weiterhin ein Problem, das die
beruflichen Möglichkeiten und die materielle Absicherung der Frauen
entscheidend einschränkt. Darüber hinaus haben Studierende weiterhin
kaum Möglichkeiten der Begegnung mit Persons of Color als
HochschullehrerIinnen oder auch Verwaltungspersonal – ein großes Manko
in einer Gesellschaft, die sich als multikulturell begreifen und rassistischer
Ausgrenzung entgegenwirken will. Leider bietet die verhältnismäßig neue
Politik des gender mainstreaming in dieser Hinsicht m.E. keine positiven
Aussichten: in ihrem Programm tauchen MigrantInnen und People of Color
nicht als signifikante AdressatInnen und AkteurInnen auf.
Einiges hat sich jedoch geändert: In wachsendem Maß schreiben
Schwarze Deutsche und migrierte Frauen, treten in der Öffentlichkeit auf
und können in (feministischen) akademischen Kreisen nicht mehr ignoriert
werden. Die Bündnispolitik, um die Schwarze und weiße Frauen in den
1980er und 1990er Jahren gerungen haben, ist in Deutschland auf
organisatorischer Ebene nur ansatzweise verwirklicht. Eine wachsende
Anzahl weißer Frauen hat aber gelernt, dass weiß nicht die Norm ist. Dieses
Verständnis kann hoffentlich zur Entwicklung einer internationalen,
interkulturellen Frauenbewegung auf globaler und lokaler Ebene beitragen.

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ANMERKUNGEN
1 Ich danke Maisha Eggers und Susanna Stern für wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung.
2 Pratt: »Identity: Skin Blood Heart«.
3 Rich: »Notizen unterwegs zu einer Standortbestimmung«.
4 D.h. dass das Politische nicht in dem Persönlichen aufgeht bzw. dadurch ersetzt wird, sondern
dass die Interaktion und die Spannung zwischen den beiden erhalten wird, indem Pratt in ihrer
Selbstreflektion und durch Wahrnehmung von Unterschieden die Geschichte von anderen
erkundet, um damit die eigene Geschichte und Identität rückhaltlos zu konfrontieren. s. Martin
& Talpade Mohanty: »Feminist Politics: What’s Home Got to Do with it?«.
5 Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe Bekennen.
6 Vgl. Pommerin: Sterilisierung der Rheinlandbastarde.
7 Schultz: »Mein Deutschland«, S. 106.
8 Woolf: Drei Guineen, S. 151.
9 Rich: »Notizen«, S. 107-108.
10 An anderer Stelle habe ich über meine Zeit in Mississippi geschrieben. Hier nur einige der
Erfahrungen, die mit der Wahrnehmung des Weißseins und Deutschseins zu tun haben. Vgl.
meinen Aufsatz über meine Erlebnisse in Mississippi: »Seltsam schönes Land«.
11 Ebenda, S. 634.
12 Dies.: »Unterschiede zwischen Frauen«, S. 52.
13 Die folgenden Ausführungen zu den USA sind ebenda, S. 45-47 entnommen.
14 hooks, Feminist Theory. ›From Margin to Center, S. 6 (übers. D.S.)
15 Lipsitz: »The Possessive Investment in Whiteness«.
16 Hurtado: »Relating to Privilege«, S. 844.
17 Der Verlag hieß zunächst Frauenselbstverlag, dann bis 1986 sub rosa Frauenverlag.
18 Ewert, Karsten & Schultz: Hexengeflüster, S. 34.
19 So z.B. das heute älteste Migrantinnenprojekt TIO in Berlin für türkische Frauen.
20 Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«, S. 159-160.
21 Rich: »Disloyal to Civilization«, S. 299.
22 Butler: Körper von Gewicht, S. 240, zit. in: Stötzer: InDifferenzen, S. 174.
23 Frankenberg: »Weiße Frauen, Feminismus«, S. 55.
24 Vgl. Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«.
25 Lorde: Auf Leben und Tod; Schultz: »Audre Lorde«.
26 Concha Pineda & Dastmalchi: Anfang der Weisheit; Teimoori (Hrsg.): duell in schwarz/weiß.
27 Heinrich: »Jede Aktion bringt entweder Erfolge oder Erfahrungen«.
28 Hügel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben.
29 Hügel, Lange, Ayim u.a. (Hrsg.): Entfernte Verbindungen.
30 Ayim: Grenzenlos und Unverschämt; Dies.: Blues in Schwarz Weiss; Dies.: Nachtgesang.
URSULA WACHENDORFER
WEIßE HALTEN WEIßE RÄUME WEIß

»Warum thematisierst Du überhaupt Weißsein?« Ohne die Antwort


abzuwarten, wird dieser Frage oft noch der warnende Hinweis
nachgeschoben, dass man damit ja rassistische Kategorien fortschreibe und
so leicht rechten Ideologien Vorschub leiste.
Wer ist der/die Frager/in? In der Regel eine weiße Person. Und die/der
weiße Adressant/in muss sich unversehens legitimieren. Sie oder er muss
erklären, warum sie der weiße Amnesieraum irritiert. Das ist eine
intellektuelle und emotionale Herausforderung, bei der sie nicht auf einen
breit verankerten Diskurs zurückgreifen kann. Die weiße Person, die ihr
Weißsein nicht reflektiert, steht jedoch nicht auf dem Prüfstand, sondern
diejenige, die den weißen Konsens des Beschweigens und Dethematisierens
stört. Denn die Norm ist hier: Weißsein nicht zu thematisieren! Wer
dagegen verstösst, muss sich rechtfertigen. Dieser Legitimationsdruck dient
wiederum dazu, die Norm aufrecht zu erhalten.
Was würde es bedeuten, Weißsein sichtbar zu machen, zu bestimmen
und aus seiner historischen Amnesie zu holen? Die Frage ist, ob der Begriff
der Amnesie hier angemessen ist. Er kommt aus dem Bereich der
Pathologie, des Krankhaften und signalisiert damit eine eingeschränkte
Verantwortlichkeit. Darüber hinaus, und das erscheint mir mindestens
genauso wichtig, entspricht dieser Begriff nicht dem bei Weißen
vorhandenen Wissen um das Weißsein. Weißsein wird ständig in
gesellschaftlichen Praxen und zwischenmenschlichen Beziehungen
hergestellt. Es wird ins Weißsein investiert, ohne sich darüber Rechenschaft
zu geben.[1] Von Weißen! – Auf dieser Personengruppe soll hier der Fokus
liegen.
Natürlich wird der oder die mit sozialwissenschaftlichen Kenntnissen
ausgestattete weiße Akademiker/in darauf hinweisen, dass es bei der
Konstruktion von Weißsein um interpersonale Prozesse geht, an dem auch
Schwarze und People of Color beteiligt sind, dass also keineswegs nur
Weiße Weißsein herstellen. Dieser Verweis verstellt jedoch den Blick
darauf, dass es sich dabei um eine weiße Strategie handelt, die hegemoniale
Machtstrukturen zum Verschwinden bringt. Eine etwas andere Variante
dieser Strategie finden wir in der Forderung nach Einnahme einer
universalistischen Perspektive nach dem Motto: Alle Menschen sind an der
Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse beteiligt und dementsprechend
auch dafür verantwortlich. Eine Binsenweisheit, die gesellschaftliche
Strukturen gleichzeitig unsichtbar macht.
Wenn Weiße ihre Energien nicht in die Abwehr, hier die
Dethematisierung von Weißsein stecken – eine übrigens durchaus öde,
intellektuell und emotional beschränkende Tätigkeit –, werden sich ihnen
schnell die verschiedenen Bedeutungen von Hegemonie und die
Herstellung von gesellschaftlichen Macht-Beziehungen im Kontext von
Weißsein erschließen – sei es im familialen Nahbereich, in der
Öffentlichkeit, den Medien sowie in politischen Räumen und nationalen
und globalen Kontexten. Das wäre ein Anfang.

KONSTRUKTION WEIßER RÄUME MIT WEIßEN AKTEURINNEN


Ich gehe mit einer Schwarzen Kollegin in Berlin spazieren. Mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird eine Touristin, die nach dem
Weg fragen will, mich ansprechen. Das heißt sie bestätigt mich als Weiße,
die kompetent ist, die sozusagen in Berlin, in Deutschland beheimatet ist; ja
irgendwie muss sogar die Sprache weiß sein, könnte man annehmen. Und
wenn im Krankenhaus auf der Entbindungsstation mein Schwarzer Kollege
nach der Zimmernummer seiner Schwarzen Frau fragt, die gerade
entbunden hat, und die weiße Krankenschwester sich in ihrer Antwort in
Blick, Gestik, Mimik und Sprache automatisch an mich wendet, spätestens
dann muss ich wissen, dass ich mich in einer weißen Solidargemeinschaft
befinde: hier unterminiert die weiße Krankenschwester die Autorität und
den Subjektstatus des Schwarzen Ehemannes. Trotz besseren Wissens
grenzt sie ihn gedanklich, emotional und sprachlich aus. Und ich erlange
und verfestige, wenn ich nicht aufpasse, unversehens und doch so vertraut
den Status von Wissen und Zugehörigkeit allein auf Grund meines
Weißseins. In diesen beiden Situationen werden unversehens
Weißseinsdiskurse mit Nationalitätsdiskursen,[2] Wissensdiskursen und
Zugehörigkeits- bzw. Ausgrenzungsdiskursen verhandelt. Diese Aussage
scheint für uns Weiße eine Zumutung zu sein, zumindest ist sie so störend,
dass wir gleich auf die Suche nach ›rettenden‹ Gegen-Argumenten gehen.
Z.B. verbuchen wir Weißen die Situation als eine einmalige: Es gäbe auch
den umgekehrten Fall. Oder: Ich bin nur zufällig angesprochen worden,
zufällig habe ich freundlich geguckt, vielleicht lag es an meiner Kleidung,
Frisur, Alter wäre in meinem Fall auch immer ein fast überzeugendes
Argument etc. Wir entwickeln an der Stelle eine erstaunliche Phantasie, und
es folgt dann meist noch die Bemerkung, dass wir ja auch Schwarze
kennen, die auch schon mal nach dem Weg gefragt oder auch direkt
angesprochen worden seien, oder dass auch mal eine weiße Freundin nicht
angesprochen wurde. Wir Weißen bieten in diesem Kontext gerne
anekdotische Erzählungen als Erklärung an. Auf alle Fälle wird das
Ereignis singularisiert, zum Zufall oder zur Ausnahme erklärt. Für meine
Schwarze Kollegin und für meinen Schwarzen Kollegen sind diese
Situationen jedoch alltäglich und auch unsere weißen Gegen-
Argumentationen sind ihnen allzu vertraut.
WEIßSEIN ALS UNSCHULDSVERMUTUNG
Irgendwie muss mein Weißsein mir so etwas wie ein angeborenes nicht
ausgesprochenes Recht auf Unschuldsvermutung verleihen. Wie kann ich es
mir sonst erklären, dass ich im Unterschied zu meinem Schwarzen Kollegen
sichtbar weniger kontrolliert werde in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim
Ein- und Ausreisen an Flughäfen, bei Verkehrskontrollen, beim Aussuchen
der Kleidung in Geschäften etc. Verlassen meine Schwarze Kollegin und
ich ein Geschäft und die Kontrollsirene wird in Gang gesetzt, wissen wir
beide, wer zuerst in Verdacht gerät und ins Visier genommen wird.
Während ein weißer Professor der Sozialpsychologie abends in einem
Sparkassenraum wartet, dass eine ihm unbekannte Schwarze Professorin
der Kulturwissenschaften ihre Geldtransaktionen am Geldautomaten tätigt,
kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen: er kann ans Abendessen
denken, an einen bevorstehenden genussvollen Theaterbesuch. Dass sich
die Schwarze Professorin durch ihn als Weißen beunruhigt fühlen könnte, ja
in ihrem Wohlbefinden, in ihrer Sicherheit, ihrer Unversehrtheit
beeinträchtigt, käme ihm mit Sicherheit nicht in den Sinn. Sein Weißsein
signalisiert ihm: unschuldig. Aus der weißen Perspektive. Und er kann,
wenn er will, am nächsten Morgen in seinem Seminar über Rassismen
theoretisieren, ohne auch nur an die Situation des Vorabends denken zu
müssen und sie im Kontext von Rassismus zu thematisieren bzw. zu
theoretisieren.
Versuchen wir einmal die in den USA praktizierten affirmative action
und die heftige Kritik, die von vielen Weißen daran geübt wird, mit dem
weißem Anspruch auf Unschuldsvermutung und dem qua Weißsein
verliehenen Besitzstand von Kompetenz und Wissen in Verbindung zu
bringen. Hier soll explizit nicht von der Kritik Schwarzer an den affirmativ
action die Rede sein. In einer Annäherung an das Thema können wir uns
die alltägliche Erfahrung auf dem US-amerikanischen Campus anschauen.
Weiße StudentInnen äußern häufig ihre Befürchtungen, dass sie alleine auf
Grund ihres Weißseins eine schlechte Note bekommen würden. Schwarze
StudentInnen hingegen würden ihre guten Noten auf Grund ihrer
›Bevorzugung‹ als Schwarze erhalten. In jedem Fall wird von den weißen
StudentInnen unterstellt, dass das Leistungsprinzip nicht mehr gilt.
Zugleich scheinen sie anzunehmen, dass die eigene weiße Leistung
selbstverständlich gut und ihrer Kompetenz und Intelligenz zuzuschreiben
sei. Das vermuten sie hingegen bei ihren Schwarzen MitstudentInnen nicht.
Das wird bestätigt durch eine Untersuchung von John F. Dovidio und
Samuel L. Gaertner zum aversivem Rassismus: » […] although whites may
accept that a black person is intelligent on an absolute dimension, white
participants are reluctant to believe that a black person is higher or equal in
intelligence compared to themselves.«[3] Auf diesem Hintergrund lässt sich
die Kritik vieler Weißer an der affirmative action sehr wohl erklären.
Ausgehend von dem weißen Selbstentwurf einer höheren weißen
Intelligenz, an dem Generationen von Weißen gearbeitet haben, zusammen
mit der Vorstellung, dass Schwarze sehr viel eher an Missgeschicken schuld
seien, ergibt sich ›logischerweise‹ die Folge, dass die affirmative action
nichts anderes seien, als ›leistungsschwachen‹ Schwarzen unverdient zu
Ansehen zu verhelfen und dabei Weiße zu übervorteilen und das
Leistungsprinzip außer Kraft zu setzen. Und hier finden wir dann die
bekannten und beliebten Opferdiskurse von Weißen. Dass es dann noch
einmal eine ganz andere Ebene gibt, auf der sich nämlich die Frage nach
den Inhalten und Formen des transportierten Wissens – nach dem weißen
Curriculum – stellt, dass es zu analysieren zu bestimmen und zu entmachten
gilt, das wäre dann die grundsätzliche Herausforderung.
Mit der Dethematisierung des Weißseins und gleichzeitigen
Universalisierung der herrschenden Curricula, der Kritik an den affirmativ
action, und der Selbstinszenierung als Opfer verleugnen Weiße, dass
rassistische Traditionen soziale Ungleichheit re/produzieren, die sich
ebenso in unterschiedlichen Statuspositionen von Weißen und Schwarzen
niederschlagen wie auch in weißen Selbstbildern sowie in ihrer Projektivität
Schwarzen[4] gegenüber. Würden Weiße die Perspektive wagen,
affirmative action als eine Reaktion auf historisches Unrecht und auf
gegenwärtig individuelle, kulturelle und strukturelle rassistische
Diskriminierungen zu sehen, würde das zu einer Infragestellung ihrer
Privilegiensysteme, ihrer Vorstellungen von einer egalitären Gesellschaft
und einem demokratischen Selbstbild führen. Eine emotionale und
intellektuelle Herausforderung, die dann auch noch die Aufforderung nach
Verhaltensänderungen nach sich ziehen könnte.

THEMATISIERUNG VON SCHWARZSEIN – DETHEMATISIERUNG VON WEIßSEIN[5]


Wie erkläre ich mir folgende Situation: Auf der Straße nehme ich wahr,
dass mir eine Schwarze Frau/ein Schwarzer Mann begegnet. Bei einer
weißen Person ist ihr Weißsein für mich kein Thema. Ich beschreibe die
Person vielleicht als eine Frau, ich könnte ihre Kleidung beschreiben …
alles mögliche würde mir einfallen, ihr Weißsein gehört mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu. bell hooks schildert dazu
folgende Erfahrung einer weißen Feministin auf einem internationalen
feministischen Kongress: Ihre Schwarze feministische Kollegin erlebt sich
als Schwarze Frau, sie selbst beschreibt und erlebt sich als Frau, während
ihr weißer männlicher Kollege sich als Mensch sieht, wie er ihr nach dem
Kongress mit Beschämung mitteilt.
George Yancy berichtet, wie er als Professor der Philosophie von seinem
weißen Kollegen darauf hingewiesen wird, dass seine Beschäftigung mit
afrikanisch amerikanischer Philosophie doch eher ein Spezialthema sei,
durch das er sich selbst einengen würde – man könnte hier auch lesen, dass
er so das Eigentliche der Philosophie verfehlen würde.[6] Ein
wohlmeinender Rat eines weißen Philosophieprofessors, der sich um die
akademische Laufbahn seines Schwarzen Kollegen besorgt zeigt, könnte
man meinen. Seine eigene Beschäftigung mit europäischer und anglo-
amerikanischer Philosophie erscheint ihm hingegen keineswegs als
begrenzt oder einengend. Hier zeigen sich zwei gedankliche Bewegungen:
Die Partikularität der weißen Position wird verleugnet und eine
Universalisierung europäisch, anglo-amerikanischer Philosophie
vorgenommen, auf der Folie der Partikularisierung afro-amerikanischer
Philosophie. Und in einer damit verknüpften weiteren Bewegung erfolgt die
übliche Hierarchisierung. Und noch ein anderer Aspekt wird hier deutlich:
selbst so prominente Wissenschaftler wie Yancy werden im Zweifelsfall
von Weißen in intellektuell und emotional aufreibende
Rechtfertigungsdiskurse gezwungen. Ihre Zeit wird eingeschränkt und ihre
Energien werden vergeudet. Im akademischen Konkurrenzkampf vielleicht
un-bewusst auch als eine weiße Strategie zu lesen.
Diese Beispiele zeigen Konfliktlinien auf, denen wir in den
verschiedensten gesellschaftlichen Situationen – weißen Räumen –
begegnen. Wir haben unsere Positionen in diesen Räumen, wir können sie
aufrechterhalten oder auch verändern.

WEIßE RÄUME WERDEN WEIß GEHALTEN


In einem Auswahlverfahren zur Therapieausbildung sprechen die weißen
AusbilderInnen einen Schwarzer Ausbildungskandidat im Laufe eines
längeren Gesprächs auf das Thema Rassismuserfahrung an. Der Bewerber
findet sich damit unversehens in einer ihm recht vertrauten, für eine weiße
Bewerberin nicht vorstellbaren und nicht vorgesehenen Situation: Seine
Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft mit rassistischen
Diskriminierungen und Stigmatisierungen stehen auf dem Prüfstand. Er
muss wiederholt erklären, was er darunter versteht. Ja, es wird ihm durch
intensives Nachfragen zu verstehen gegeben, dass die weißen
AusbilderInnen seine Darstellungen weder nachvollziehen noch sie ihm
glauben können. Und er sieht sich darüber hinaus der Frage ausgesetzt, ob
er es auf Grund seines Schwarzseins – hier wird vorsichtiger mit dem
Minoritätenstatus argumentiert – nicht als ein Problem ansehe, als
Therapeut später Objektivität zu bewahren und Distanz zu den KlientInnen
zu halten. Dies ist für ihn eine no-win Situation: Einmal wird ihm
unterstellt, weißen KlientInnen gegenüber voreingenommen zu sein,
bestehe doch die Gefahr, dass sie seine Rassismuserfahrungen zu spüren
bekommen, und zum anderen den Schwarzen KlientInnen gegenüber zu
nahe zu sein und sich zu stark mit ihnen zu identifizieren. Beide Male wird
seine Neutralität und Professionalität allein auf Grund seines Schwarzseins
in Frage gestellt.
Die weißen AusbilderInnen produzieren hier eine paradoxe Situation: Sie
nehmen das Schwarzsein ihres Gegenübers wahr, es scheint eine Bedeutung
für sie zu haben, da sie sich darauf beziehen. Gleichzeitig gehen sie aber
auch von einem universalistischen Menschenbild aus, das alle Menschen zu
gleichen macht. Ein weiterer Widerspruch besteht darin, dass sie sich selbst
nicht als weiße Personen wahrnehmen. Fragen nach eigenen weißen
Positionen innerhalb rassistischer Beziehungsstrukturen oder auch Fragen
nach einer zu großen Nähe zu ihrem weißen Klientel, oder aber auch zur
Bedeutung ihres Weißseins innerhalb eines therapeutischen Settings mit
Schwarzen KlientInnen, sind entweder tabu, werden verdrängt, oder sie
sind einfach nicht vorstellbar. Natürlich aus weißer Perspektive.
Kommen wir auf unser Beispiel mit dem Schwarzen
Ausbildungskandidaten zurück: Ihm wird signalisiert, hier herrschen weiße
Regeln. Der Schwarze Bewerber muss sich positionieren oder/und wird
positioniert. Er muss sich ausweisen, seine Erfahrungen darlegen, die durch
die weiße Definitionsmacht ständig in Frage gestellt werden kann. Sein
Subjektstatus wird labilisiert und zur Disposition gestellt. Sollte sich der
Schwarze Ausbildungskandidat als widerständig erweisen und auf die
Unwissenheit der weißen Ausbilder und ihre geringe Selbstreflexivität
hinweisen und sich dabei gar auf internationale Forschungen zu weißen und
Schwarzen Identitätsmodellen in der Psychologie und zur Bedeutung von
Weißsein in der therapeutischen Beziehung beziehen,[7] passiert folgendes:
Er kehrt die Positionen um. Der Auszubildende klärt den Ausbilder auf. Er
hat mehr Wissen und übt Kritik am Ausbilder – eine in diesem setting nicht
vorgesehene Situation. Da in der Auswahlsituation wie in jeder
gesellschaftlichen Situation Machtstrukturen greifen, wird er mit Abwehr
rechnen müssen. Hinzu kommt, dass es auch in Deutschland mit seinen
post/kolonialen Beziehungs- und Machtstrukturen nicht vorgesehen ist, dass
Schwarze mehr Wissen haben, oder Weiße kritisieren und von ihnen mehr
Intellektualität einfordern. Hat der Ausbildungskandidat eine eher
psychodynamische Ausbildungsrichtung gewählt, wird seine Kritik
vermutlich als Widerstand interpretiert werden, und ihm vielleicht gleich
angeraten, sich mit seinen persönlichen Problemen doch noch intensiver
auseinander zu setzen – eine gängige weiße Abwehrstrategie! Isolierung,
Verschiebung des Phänomens und Pathologisierung der Schwarzen Person.
Rassistische Gesellschaftsstrukturen werden somit individualisiert und
zu einem psychodynamischen Problem gemacht. In der Verschiebung des
Problems auf die Schwarze Person wird diese zugleich rassifiziert, während
der weiße Standpunkt ›neutral‹ und zugleich wohlmeinend bleibt. Er ist,
wie wir bereits gesehen haben, kein Thema und wird nur indirekt über die
Fokussierung auf den ›Anderen‹ mitverhandelt und dies nach dem Muster:
Zelebrierung und Zementierung der weißen ›göttlichen‹
Zivilisationsgeschichte durch die Konstruktion der Schwarzen Anderen.
Damit wird die post/koloniale Beziehungsgeschichte von Weißen und
Schwarzen ver- und beschwiegen. Das ist für liberale Weiße umso eher
möglich, als Weißseinsdiskurse bisher in Deutschland kaum zu finden sind
– von explizit rassistischen Diskursen im rechtsextremen Spektrum
abgesehen. Und selbst dort, wo Weißsein sich ganz offenkundig in seiner
Gewalttätigkeit zeigt, z.B. bei rassistischen Gewalttaten weißer
Jugendlicher gegenüber Schwarzen Männern, Frauen und Kindern, entleert
sich das Weißsein und erscheint als allgemein menschliches Verhalten, das
nach allgemeinen universalen Regeln erklärt werden kann: Frustration führt
zu Aggression; oder eigene abgelehnte Impulse werden auf ›Andere‹
projiziert, um dann an ihnen bekämpft zu werden; Unsicherheit und Angst
spielen bei den Erklärungen auch immer eine Rolle. Wer kennt sie nicht!
Und wie wenn das noch nicht genügen würde, wird wieder einmal auf die
genetische Veranlagung zur ›Fremdenangst‹ verwiesen, die diese Gewalt
am besten erklären könne.[8] Bei so vielen interessanten
Argumentationsmustern wird auch eine wohlmeinende weiße Person leicht
davon abgehalten, sich einer intellektuell und emotional anspruchsvollen
Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein auszusetzen.
Kommen wir noch einmal auf das Ausbildungsbeispiel zurück: Für den
Schwarzen Ausbildungskandidaten sind die Rahmenbedingungen seiner
möglichen Ausbildung klar. Er wird mit überwiegend weißen Frauen und
Männern zusammenarbeiten müssen, mit denen sich ähnliche
Beziehungs-/Aktionsmuster herstellen, wie im Auswahlverfahren. Dazu
kommt dann noch, dass die weißen AusbilderInnen Modelle und Verstärker
für die weißen Beteiligten sind. Welche Kosten, von den finanziellen ganz
abgesehen, kommen also auf ihn zu, wenn er sich in einen weißen
therapeutischen Ausbildungsraum hinein begibt? So werden weiße Räume
weiß gehalten.

WOHLMEINENDER RASSISMUS: WIR SIND DOCH ALLE MENSCHEN


In einem Seminar über Vorurteile versucht ein weißer Pädagogikprofessor
seine StudentInnen über die Problematik von Rassismusdiskursen
aufzuklären. Zur Veranschaulichung fordert er sie auf, sich folgende
Situation vorzustellen: Sie sitzen in einer Bar und richten den Blick auf eine
Person, die ihnen gegenübersitzt. Sie sollen nun diese Person beschreiben.
Anschließend sollen sie sich noch einmal dieselbe Situation vorstellen.
Allerdings führt er nun eine Variante ein, diesmal handelt es sich um zwei
Personen, eine Schwarze und eine weiße. Diese sollen sie wiederum
beschreiben. Die StudentInnen ahnen schon, welche Antwort die ›richtige‹
ist: ›Wir sehen Menschen!‹
Einer Schwarzen Studentin, die im Unterschied zu ihren weißen
KommilitonInnen durchaus eine Schwarze und eine weiße Person sieht,
wird beschieden, dass ihre Antwort ja schon ganz gut, ihre Perspektive
jedoch eingeschränkt sei. Sie muss nun, da sie sich als einzige Schwarze
Studentin in einem von Weißen besetzten Raum aufhält, sich äußerlich und
vielleicht auch innerlich der weißen Perspektive unterordnen, oder es folgen
die üblichen Ausschlussstrategien. Es ist die weiße Sichtweise, die sich hier
wieder zu einer universalen erklären möchte und damit die anderen als
partikulare ausgrenzt. Dabei wirkt diese weiße Perspektive eigentümlich
flach. Sie glaubt eigens feststellen zu müssen, dass es sich hier um
Menschen handelt.
Dieses Beispiel kann auch als ein identitätsstiftender Diskurs für die
weiße Selbstdefinition und Kommunikationsgemeinschaft gelesen werden.
Eine Kommunikationsgemeinschaft, in der Interpretationsexperten
Deutungshoheit haben, die ihr Weißsein seiner historisch, gesellschaftlichen
Beziehungsstruktur entleeren und durch ihre Universalisierung exklusiv den
dominanten Ort besetzen.
Einen intellektuellen, emotionalen und handlungsrelevanten Gewinn
verspräche es in diesem Zusammenhang hingegen, das dominante Wissen
als ein weißes zu analysieren und dem nicht archivierten Wissen um
Schwarze und weiße Positionen nachzuforschen, um so auch einen
persönlichen Zugang zur eigenen weißen Sozialisation zu finden.

INTELLIGENZDISKURSE IN WEIßEN AKADEMISCHEN RÄUMEN


In den 1990er Jahren entbrannte in den USA eine heftige Debatte um die
Publikation der weißen US-amerikanischen Wissenschaftler Charles Murray
und Richard Herrnstein,[9] die eine ›andere‹ mindere Intelligenz von
Schwarzen ›entdeckt‹ zu haben glaubten. Die Intelligenzunterschiede
zwischen Schwarze und weißen AmerikanerInnen, so ihre Behauptung,
hätten genetische Ursachen. Sowohl Schwarze als auch weiße
SozialwissenschaftlerInnen reagierten auf diese Publikation mit einem
Sammelband,[10] in dem sie auf grundsätzliche Fragen hinsichtlich der
Konstruktion von Intelligenztests, ihrer Validität und Reliabilität eingingen.
Zugleich, und das erscheint mir als der wesentliche Gewinn, wurde die
Frage nach der gesellschaftspolitischen Funktion dieser in bestimmten
Abständen immer wiederkehrenden Intelligenzdiskurse erörtert. Die
Schwarzen und weißen AutorInnen stimmten darin überein, dass hier
wieder rassistische Diskurse aufgegriffen werden, die in einer langen
abendländischen Tradition der Konstruktion von Weißen und Schwarzen
steht. Hier zelebrieren sich Weiße in redundanter Art als Träger der
Zivilisation sprich hier der Intelligenz, und legitimieren damit gleichzeitig
je nach zeitlichem und räumlichen Kontext missionarische und
paternalistische Bevormundung, Unterwerfung, Ausbeutung und
Vernichtung Schwarzer.
Die von Herrnstein und Murray publizierten Untersuchungsergebnisse
aus dem Jahr 1994 können auch noch in einer anderen Variante gelesen
werden und zwar auf dem Hintergrund einer sozialpolitischen Diskussion in
den USA, bei der es um die Rechtfertigung von Kürzungen und
Einsparungen von Förderungsmitteln für Schwarze ging. Und so ist nach
dem afrikanisch amerikanischen Psychologieprofessor Robert L. Williams
Das Hauptthema der großen IQ-Kontroverse zwischen Schwarz und Weiß […] nicht die Frage, ob
IQ-Tests denn auch kulturneutral genug seien, es ist nicht die Frage, wie Intelligenz wirklich
aussieht oder ob der IQ vererbbar ist. Das Hauptthema ist: Wer wird als Bürger erster Klasse in
den USA zugelassen und wer nicht. IQ-Tests und Leistungstests sind nichts anderes als moderne
Versionen jener Schilder in den Südstaaten, auf denen stand: Nur für Weiße.[11]

WIE SIEHT DIE DISKUSSION IN DEUTSCHLAND AUS, ODER WIE KÖNNTE SIE
AUSSEHEN

Rassistische Intelligenzdiskurse werden in Deutschland in


unterschiedlichen akademischen Räumen geführt und können ebenfalls auf
eine lange historische Tradition zurückgreifen.[12] Stellen wir uns einen
Intelligenzdiskurs an einer deutschen Universität vor, indem die
Konstruktion einer höheren Intelligenz von Weißen vom Professor
diskutiert und gelehrt wird. Die StudentInnen können opponieren und den
weißen Dozenten/Professor als rassistisch benennen. Diese Zuschreibung
führt in Deutschland bei weißen Männern und Frauen meist reflexhaft zu
heftigen Abwehrreaktionen. In diesem Fall ist es naheliegend, dass mit
starken Sanktionen gedroht wird. Hier ist es sogar möglich, dass der weiße
Professor so außer sich gerät, dass er den StudentInnen die Exmatrikulation
androht, was rechtlich sicherlich nicht haltbar wäre. Nun kann die Fakultät,
an der sich dieses Ereignis abspielt, entweder das Thema aufgreifen und
produktiv angehen, also die intellektuelle Chance ergreifen, sich über
Rassismen, ihre deutschen Geschichten, ihre Wirkmechanismen im
nationalen/globalen Kontext, und speziell hier über
philosophische/wissenschaftliche Traditionen rassistischer
Intelligenzdiskurse aufzuklären. Sie kann von anderen, im dominanten
Wissenskanon nicht archivierten Schwarzen Geschichten erfahren und so
die ›Weißheit‹ des akademischen Curriculums erforschen und verändern.
Oder sie kann in vorauseilendem Gehorsam alle Seminarthemen, die auch
nur im Entferntesten an diese Themen rühren, verbieten, bzw. da es sich ja
um eine ›demokratische‹ Fakultät handelt, sie einfach nicht mehr
finanzieren. Das wäre eine weiße intellektuelle Bankrotterklärung, das weiß
halten eines weißen akademischen Raumes und dazu noch ein Abkoppeln
von internationalen akademischen Diskursen.
Interessant wären auch die Auswirkungen auf alle die weißen
StudentInnen, PromoventInnen und HabilitantInnen, die sich schon mit viel
Energie dem Thema Weißsein im Kontext von Rassismus gewidmet haben:
Wie lange werden sie bei all den zu erwartenden Widerständen bei diesem
Thema bleiben, oder wird es für sie dann nur eine akademische Episode
bleiben?

BIBLIOGRAFIE
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Cernovsky, Zack Z.: »Pseudowissenschaftliche ›Rasseforschung‹ der Gegenwart.« In: Paul Mecheril
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Gaertner, Samuel L. et. al.: »Does White Racism Necessarily Mean Antiblackness? Aversive Racism
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Yancy, George: »Introduction Fragments of a Social Ontology of Whiteness.« In : Ders. (Hrsg.):
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ANMERKUNGEN
1 Gaertner: »Does White Racism«.
2 Vgl. Katharina Walgenbachs Beitrag in diesem Band.
3 Dovidio & Gaertner: »On the nature«, S. 20.
4 Projektivität kann als kulturelles Muster, eine soziale Konstruktion gesehen werden, negative
und gefährliche Impulse auf die Außenwelt bzw. bestimmte Personengruppen zu übertragen. Der
psychodynamische Mechanismus: Projektion.
5 Zu Auswirkungen und Funktion im therapeutischen setting siehe Wachendorfer: »Soziale
Konstruktionen von Weiß-Sein«; Dies.: »Weiß-Sein – (k)eine Variable in der Therapie«.
6 Vgl. Yancy: »Introduction«.
7 Vgl. Helms (Hrsg.): Black and White Racial Identity; Dies.: »An Update«; Carter: The Influence
of Race; Mohamed & Smith: »Race in the therapy relationship«.
8 Vgl. etwa: Wahl (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer.
9 Vgl. Herrnstein & Murray (Hrsg.): The Bell Curve.
10 Vgl. Kincheloe, Steinberg & Gresson (Hrsg.): Measured Lies; siehe auch: Howitt & Owusu-
Bempah: The Racism of Psychology; Thomas & Sillen: Racism and Psychiatry. Zur deutschen
Diskussion vgl. Cernovsky: »Pseudowissenschaftliche ›Rasseforschung‹ der Gegenwart«; Wolf
(Hrsg.): Neue Grenzen, darin der Beitrag »Intelligenzforschung und Rassismus« am Beispiel des
Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (S. 41-79). Siehe zudem Anmerkungen zu
›wissenschaftlichem Rassismus‹ in der Humanbiologie/Soziobiologie in Susan Arndts Beitrag in
diesem Band.
11 Williams: »Der leise Betrug«.
12 Siehe dazu Susan Arndts Beitrag in diesem Band.
ANGABEN ZU DEN HERAUSGEBERINNEN

Susan Arndt, Dr. phil., geb. 1967 in Magdeburg, studierte Anglistik,


Germanistik und Afrikawissenschaften in Berlin und London; promovierte
1997 mit einer Arbeit über Literaturen in Nigeria; lehrte und forschte am St.
Antony’s College in Oxford, der Humboldt-Universität zu Berlin, dem
Zentrum für Literaturforschung sowie der Goethe-Universität Frankfurt am
Main. Zur Zeit vertritt sie die Juniorprofessur für afrikanische Literaturen
an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Buchpublikationen zählen
u.a.: African Women‘s Literature. Orature and Intertextuality (Bayreuth
1998); The Dynamics of African Feminism (Trenton, Asmara 2002);
AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland (Münster 2001); (Hrsg.
mit Antje Hornscheidt) Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches
Nachschlagewerk (Münster 2004); (Hrsg. mit Katrin Berndt) Worlds and
Words. African Writers on Literature, Theatre und Society. (Trenton,
Asmara 2007), (Hrsg. mit Marek Spitczok von Brisinski) Africa, Europe
and (Post-)Colonialism. Racism, Migration and Diasporas in African
Literatures (Bayreuth 2005); (Hrsg. mit Marek Spitczok von Brisinski)
Popular Cultures and Performance. Orature, Theatre and New Media in
Africa (Bayreuth 2006); (Hrsg. Robert Stockhammer & Dirk
Naguschewski) Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur (Berlin
2006); sowie weitere Publikationen zu Intertextualität; Oraturen und
Literaturen in Westafrika; Performance und populärer Kultur in Afrika;
Gender, Frauenliteratur und Feminismus in Afrika; sowie Rassismus und
Weißsein. Zurzeit arbeitet sie an einer Habilitationsschrift zum Thema
Konstruktionen von Weißsein in Literaturen aus und über Afrika.
Maureen Maisha Eggers, geboren 1973 in Kisumu, Kenia.
Erziehungswissenschaftlerin (Diplom-Pädagogin, Diplom-
Sozialpädagogin). Dissertation zum Thema: Rassifizierung und kindliches
Machtempfinden, mit einem Stipendium der Heinrich Böll Stiftung
(Christian Albrechts-Universität zu Kiel, Juli 2005). Studium der Pädagogik
an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel (1996-2001), Studium der
Sozialpädagogik an der Staatlichen Fachhochschule Kiel, Fachbereich
Sozialwesen (1992-1995). Hauptamtliche Mitarbeiterin in der
Beratungsstelle des Autonomen Mädchenhauses Kiel (1996-2001).
Gründung des Unternehmens authentic solutions - Maximierung von
Lösungskompetenzen im sozialen Bereich (in einem Dreierteam, 09/05).
Lehrbeauftragte and der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitfrau bei
Adefra, Schwarze Frauen in Deutschland e.V. seit 1993. Lebt in Berlin und
arbeitet als transkulturelle Beraterin, Workshop Facilitator und Supervisorin
für drei norddeutsche Frauenprojekte.

Grada Kilomba, with origins in the West African islands São Tomé e
Príncipe, Kilomba was born in Lisbon, where she studied clinical
psychology and psychoanalysis. Early on she started publishing her literary
work in the form of Essays and Poetry approaching remembered stories of
slavery, colonialism and everyday racism. Her publications have been
described as a mixture of academic writing and lyrical narrative. She is the
author of the book Plantation Memories (Unrast 2008), a compilation of
episodes on everyday racism written in the form of short stories. She holds
a Doctorate from Freie Universität in Berlin, and has been teaching in the
frame of postcolonial studies and performing arts on slavery, memory,
trauma, gender and decolonization at universities in Germany and Ghana.
Peggy Piesche, geb. 1968 in Arnstadt (DDR), Literatur- und
Kulturwissenschaftlerin, Vassar College, New York (German, Africana und
Women Studies); Mitbegründerin des Internationalen Forschungsprojektes
›Black European Studies‹ (BEST) an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz in Kooperation mit der University of Massachusetts, Amherst.
Studium in der DDR und UdSSR und in Tübingen; war als DAAD-Lektorin
an der Universität Utrecht/NL tätig; Seit 1990 Mitfrau bei ›ADEFRA‹ e.V.,
Schwarze Frauen in Deutschland. Sie publizierte über die Entwicklung des
modernen Subjekts im 18. Jahrhundert und dem deutschen Bildungsroman,
Transethnizität und literarische Marginalisierungen. Aus ihren
Veröffentlichungen: (Hrsg. mit Cathy S. Gelbin & Kader Konuk)
AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen Schwarzen und
jüdischen Frauen in Deutschland (Königstein/Ts. 1999); »Black and
German? East German Adolescents before 1989 – A Retrospective View of
a ›Non-Existant Issue‹ in the GDR.« In: Leslie Adelson (Hrsg.): The
Cultural After-Life of East Germany. New Transnational Perspectives.
Washington, D.C.: AICGS, 2002, S. 37-59; »Das Schwarze als Maske.
Images des ›Fremden‹ in DEFA-Filmen.« In: iz3w, April/Mai 2004; (Hrsg..
mit Michael Küppers, Ekpenyong Ani & Angela A.-Kadalie) May-Ayim-
Award. Erster internationaler schwarzer deutscher Literaturpreis 2004
(Berlin 2004). »Museum. Raum. Geschichte: Neue Orte politischer
Tektonik. Ein virtueller Gedankenaustausch zwischen Belinda Kazeem,
Nicola Lauré al-Samarai und Peggy Piesche« In: schnittpunkt
ausstellungstheorie & praxis (Hg.), Das Unbehagen im Museum.
Postkoloniale Museologien, Wien: Turia + Kant 2008.
ANGABEN ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

Aischa Ahmed, Jahrgang 1973, Geschichts- und


Kulturwissenschaftlerin, Schwerpunkt arabische Literatur und Geschichte.
Promoviert derzeit im Fach Neuere Geschichte zum Thema Arabische
Präsenzen in Deutschland von 1871 bis in die Gegenwart. Eine Studie zu
Migration, Ethnizität und Gender. Diverse Tätigkeiten in den Bereichen
Öffentlichkeitsarbeit und Medien, Übersetzungen vom Arabischen ins
Deutsche für die Zeitschrift diwan. Von Januar bis Mai 2005 Stipendiatin
des Berliner Programms zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in
Forschung und Lehre (Humboldt Universität zu Berlin).
Joshua Kwesi Aikins, Student der Politikwissenschaft an der Freien
Universität Berlin, Mitarbeit bei den Community Media Projekten ›Blite –
eine Zeitschrift von Schwarzen Jugendlichen; SFB – Schwarzes Fernsehen
Berlin‹, Multimediavorträge zu den Themen ›Die alltägliche Gegenwart der
kolonialen Vergangenheit‹ (u.a. auf dem Ökumenischen Kirchentag und als
Referent der AfriCome-Reihe der Bundeszentrale für politische Bildung,
Artikel zum Thema in: TheBlackBook - Deutschlands Häutungen, 2004)
›Haut zu Markte tragen – Vermarkteter Rassismus im deutschen Pop‹ und
›Keepin’ it real: Rediscovering Black Cultural Symbols‹, journalistische
und politische Praktika in Ghana, Benin und Nigeria, aktiv im ISD Bund
e.V.
Astrid Albrecht-Heide, geb. 1938, bis 2004 Professorin für
Sozialisationsforschung an der TU Berlin und langjährig Chefredakteurin
einer Kulturzeitschrift, seither freie Autorin und Lehrende in der
internationalen DozentInnenfortbildung. Forschungs-, Lehr- und
Veröffentlichungsschwerpunkte u. a. Bildungs(un)gerechtigkeit,
Friedensforschung (in diesem Zusammenhang Anfang der 1990er Jahre
Vorsitzende der deutschsprachigen FriedensforscherInnenkommunität),
(Zwangs)Migration (u. a. Dean of the Faculty of Migration of the
International Women’s University „Technology and Culture“ 2000 in
Hannover), Nationalsozialismus, Rassismus/Weißsein,
erkenntnistheoretische Grundlagen der weißen Erziehungswissenschaft,
transgenerationale Sozialisationsforschung.
Ekpenyong Ani, 1966 in Calbe/Saale geboren. Aufgewachsen in Ost-
und Westdeutschland sowie in Nigeria und Jamaika. Diplom-Übersetzerin
und seit 1994 Lektorin beim Orlanda Frauenverlag in Berlin. Engagiert sich
seit ca. zehn Jahren bei ADEFRA - Schwarze Frauen in Deutschland e.V.
Seit 2002 Mitkoordinatorin des ›Black Community Congress‹.
Veröffentlichungen in der Zeitschrift The African Courier sowie in
AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und
jüdischen Frauen in Deutschland (Hrsg. Cathy S. Gelbin, Kader Konuk &
Peggy Piesche, Königstein/Ts. 1999).
Marianne Ballé, Diplom-Dolmetscherin, Universität Mainz in
Germersheim, Koordinatorin der Pan-African Women’s Liberation
Organisation (PAWLO) Deutschland, Vertreterin verschiedener NGO’s auf
UN-Konferenzen, unter anderem auf der Weltkonferenz gegen Rassismus in
Durban im September 2001.
Eddie Bruce-Jones earned a B.A. in Social Anthropology and Afro-
American Studies from Harvard University in 2002. Since then, he has
studied at the Institut für Europäische Ethnologie at Humboldt University in
Berlin and is currently writing his Magister thesis on activist work around
HIV prevention in Berlin prisons. His academic interests include: human
rights, strategizing and negotiating concepts of race, gender and sexuality
and culture, trans-nationalism / border crossing and multicultural
democracy. He will begin legal studies at Columbia Law School in the fall
of 2005.
María do Mar Castro Varela, Dr. rer. soc., ist Professorin für Gender und
Queer Studies an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Im Wintersemester
2006-2007 war sie Maria-Goeppert-Mayer Gastprofessorin am Institut für
Politikwissenschaft der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Arbeits-
und Forschungsschwerpunkte: Migrationsforschung, Gender, Queer und
Postcolonial Studies. Zentrale Publikationen: Unzeitgemäße Utopien:
Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung Bielefeld:
transcript (2007); Soziale (Un)Gerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf
Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung. Münster: LIT (im
Erscheinen); Gastherausgeberschaft des Schwerpunktheftes: »Feministische
Postkoloniale Theorie: Politikwissenschaftliche Perspektiven«. Femina
Politica - die Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft (zusammen
mit Nikita Dhawan) 2/2009.
Nisma Cherrat, 1969 in Casablanca geboren, im Schwarzwald
aufgewachsen, 1989-1992 Schauspielausbildung in München/Neue
Münchner Schauspielschule Ali Wunsch-König. Seit 1992 Engagements in
zeitgenössischen Stücken und Klassikern in Deutschland, Österreich und
der Schweiz, Arbeiten im Hörbuch und Synchronbereich. 2003 Hauptrolle
in dem Spielfilm Tal der Ahnungslosen, u.a. Internationales Filmfestival
Toronto, Berlinale 2004. Mätresse – Wahnsinnige – Hure ist ihre erste
Publikation.
Nikita Dhawan, Dr. phil., ist Juniorprofessorin für Gender/Postcolonial
Studien an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Wintersemester 2006-2007
war sie Maria-Goeppert-Mayer Gastprofessorin am Institut für
Politikwissenschaft der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Arbeits-
und Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Gender, Queer und
Postcolonial Studies. Zentrale Publikationen: Postkoloniale Theorie: Eine
kritische Einführung (zusammen mit María do Mar Castro Varela)
Bielefeld: transcript (2005); Impossible Speech: On the Politics of Silence
and Violence. Sankt Augustin: Academia (2007).
RonAmber Deloney (Flow), native of Dallas, Texas, lived in Berlin for
3.5 years before relocating to New York where she completed an MA in
Arts Politics at NYU. Her arts activist and professional work has included
organizing poetry events in Berlin, working as a freelance agent with The
Last Poets and completing a spoken word album, Of Brickwalls and
Breezeways, with friends and colleagues Philipp Köpsell and Takeshi Beats.
Her latest project entitled “A Love Poem for Tattoos” - a blend of
photography and poetry, examines how violence, territory and pride as
themes in Black American culture become a part of an individual’s
emotional and political campaign with the body as its canvas.
Anette Dietrich lebt und arbeitet in Berlin. Sie promoviert zum Thema
Imaginationen Weißer Weiblichkeit. Postkoloniale Perspektiven in der
deutschen Rassismusforschung. Sie beschäftigt sich dabei vor allem mit
Diskursen der historischen Frauenbewegung und untersucht, inwieweit
diese mit kolonialen Diskursen verwoben sind. Zudem arbeitet sie zu
Rassismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Geschlechterforschung.
Publikation u.a.: Differenz und Identität im Kontext Postkolonialer Theorien
(Berlin 2001).
Fatima El-Tayeb, Historikerin aus Hamburg, ist Assistant Professor for
African American Film and Literature an der University of California San
Diego. Veröffentlichte ein Buch zu afro-deutscher Geschichte, »Schwarze
Deutsche. ›Rasse‹ und nationale Identität 1890-1933« (Frankfurt/M. 2001),
und zahlreiche Artikel zur Interaktion von race, gender und nationaler
Identität. Arbeitet zurzeit an einem Buch zu Ethnizität und Populärkultur in
der Bundesrepublik. Ausserdem Ko-Autorin des Spielfilms Alles wird gut
(mit Angelina Maccarone).
Mutlu Ergün ist 1978 in Berlin geboren. Er selbst bezeichnet sich als
Person of Color anatolisch-alevitischer Herkunft. An der Freien Universität
Berlin studiert er Erziehungswissenschaften und Neuere deutsche Literatur.
Er arbeitete als Musik- und Kulturredakteur für verschiedene deutsch-
türkische Zeitschriften und Zeitungen. 2001 wurde er aktives Mitglied im
PHOENIX e.V. für eine Kultur der Verständigung und ist seit 2004 Trainer
für HipHop-Trainings, White-Awareness und Empowerment. Momentan ist
er im sozialen Sektor beschäftigt und arbeitet zusammen mit Jugendlichen
vorrangig mit Migrationshintergrund. Außerdem erscheinen regelmäßig
seine Essays und Kurzgeschichten im Kultur- und Gesellschaftsmagazin
freitext, mit dessen Herausgeber Deniz Utlu er zusammen die Lesung
›tausend worte tief‹ veranstaltet, in der vor allem für P.O.C.-AutorInnen ein
Forum geschaffen werden soll.
Amy Evans completed a Master’s degree in Writing for Performance at
Goldsmiths College in London in 2002 and went on to collaborate with
Context Theatre Company, the Tricycle Theatre and the Red Room on
various projects before returning to Berlin to teach a playwriting seminar as
a guest lecturer at Humboldt University. Her award-winning first play,
Achidi J’s Final Hours, had its world premiere at the Finborough Theatre of
London in May 2004. Based on the true story of a young Senegalese
woman who was shot to death by German police officers in 2001, Achidi J’s
Final Hours is the first in a trilogy of plays addressing the issues of
displacement, movement and motherhood around the globe. She is currently
based in New York City where she continues to write plays and teach.
Arnold Farr is Associate Professor of Philosophy and Director of
Africana Studies at Saint Joseph’s University in Philadelphia PA. He has
written and published on Kant and Fichte, critical theory, and the
philosophy of ›race‹. Among his book publications: (together with Yolanda
Estes, Patricia Smith, and Clelia Smyth): Marginal Groups and Mainstream
American Culture. Currently, he is working on a book entitled Critical
Theory and the Democratic Vision. On Herbert Marcuse and Recent
Liberation Philosophies.
Sander L. Gilman, Distinguished Professor of the Liberal Arts and
Sciences and Medicine; 1960-1963 Germanistikstudium an der Tulane
University, anschließend u.a. Studienaufenthalte in München und West-
Berlin, 1968 PhD an der Tulane University; 1969-1995 Cornell University,
1994-2000 University of Chicago, 2000-2004 University of Illinois at
Chicago; 2004-2005 St. Anne’s College Oxford, seitdem Emory University
Atlanta; zahlreiche Gastprofessuren im In- und Ausland, Mitglied
zahlreicher akademischer Gremien und Institutionen, ist mit vielen
Auszeichnungen und Stipendien für sein Werk ausgezeichnet worden, die
Universität Toronto ehrte ihn mit der Würde eines Dr. h.c. Er ist Autor von
etwa 35 Monographien, Herausgeber von etwa ebenso vielen
Sammelwerken sowie Verfasser von annähernd 200 wissenschaftlichen
Aufsätzen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. deutsche Literatur
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Psychiatrie- und
Sexualitätsgeschichte, Rassismusforschung, Antisemitismusforschung,
Judaistik sowie weitere Themen der Kulturgeschichte (siehe Bibliographie
seiner Arbeiten unter: http://www.uic.edu/depts/hist/Faculty/gilman.htm).
Kien Nghi Ha arbeitet als Politikwissenschaftler in Berlin.
Veröffentlichungen: Ethnizität und Migration (Münster 1999), Ethnizität
und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im
postkolonialen Diskurs (Berlin 2004), Hype um Hybridität. Kultureller
Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im
Spätkapitalismus (Bielefeld 2005). Außerdem hat er zahlreiche Aufsätze
über kulturelle Entgrenzung, Identitätspolitik, koloniale Präsenzen und
Rassismus veröffentlicht. Arbeitsschwerpunkte: Postkoloniale Kritik,
Migration, Rassismus und Cultural Studies.
Jinthana Haritaworn, Jinthana Haritaworn hat eine Doktorarbeit über
Multiethnisierung und thailändische Geschlechtsidentitäten geschrieben.
Sie ist Anti-Rassistin und Feministin, lebt derzeit in London und arbeitet
intellektuell, politisch und kreativ zu den Überschneidungen von Ethnizität,
Geschlecht und Sexualität.
Antje Hornscheidt, geb. 1965; 1985-1991 Studium der Anglistik,
Skandinavistik und Germanistik in Kiel; 1986/87 Studienaufenthalt in
Sunderland/England; 1989/90 Studien-/Forschungsaufenthalt in Göteborg;
1991 Dr. phil. an der Christian-Albrechts-Universität Kiel; von 1994 bis
1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin, von 1997 bis 2004
Hochschulassistentin für Sprachwissenschaft am Nordeuropa-Institut der
Humboldt-Universität zu Berlin, Habilitation 2004. Gastprofessouren in
Graz, Österreich, und Örebro, Schweden. Arbeitet derzeit als
Oberassistentin für Sprachwissenschaft und Gender Studies an der
Humboldt-Universität zu Berlin, ab Januar 2006 Tätigkeit als Dozentin für
Sprache und Kultur an der Hochschule Södertörn, Stockholm.
Forschungsschwerpunkte in Pragmatik, Sprache und Identität, Sprache
und/als Kultur, kulturwissenschaftliche Linguistik; jüngere
Veröffentlichungen u.a.: Sprachliche Genderkonzeptualisierung. Ein Modell
personaler Appellation und seine theoretische Überprüfung. Erscheint im
Januar 2006 im deGruyter-Verlag; (Hrsg. mit Susan Arndt) Afrika und die
deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk (Münster 2004).
Gbiango Junior, war Justizbeamter in Zaire. Lebt in Berlin. Mitarbeit u.a.
in der Flüchtlingsinitiative Brandenburg.
Carsten Junker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für English Speaking
Cultures/American Studies an der Universität Bremen. Er war DFG-
Stipendiat am Graduiertenkolleg Geschlecht als Wissenskategorie der
Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Dissertation mit dem Titel Framing
Friction: Essays in Dialogue, 1920-1970 beschäftigt sich mit dem Genre des
Essays als einem Instrument der Hegemonie- und Kulturkritik. Gegenwärtig
arbeitet er an einem Projekt zu transatlantischen Debatten über
Abolitionismus im 18. Jahrhundert.
Nicola Lauré al-Samarai, Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin,
promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin
über Schwarze Deutsche in der DDR, sie arbeitet an einem
Zeitzeugenprojekt mit vor 1945 geborenen Afrodeutschen. Sie publizierte
eine quellenkritische Studie über Frauenbiographien in der mittelalterlichen
islamischen Historiographie sowie diverse journalistische Beiträge zu
afrodeutscher Geschichte.
Paul Mecheril, Dr. phil., Hochschuldozent an der Fakultät für Pädagogik
der Universität Bielefeld. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Cultural
Studies; Interkulturelle Erziehungswissenschaft; Migrationsforschung;
Methodologische und methodische Aspekte qualitativ-interpretativer
Forschung; Konzepte forschenden Lernens; Pädagogisches Handeln unter
Bedingungen von Differenz. Letzte Buchveröffentlichungen: Politik der
Unreinheit. Über die Anerkennung von Hybridität (Wien 2003); Prekäre
Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit
(Münster 2003); Einführung in die Migrationspädagogik (Weinheim 2004).
Deborah G. Moses-Sanks, geboren 1949 in Washington D.C., Fotografin
und Fotojournalistin. Studium der Fotografie in New York und New Jersey,
Mitarbeit an den Ausstellungen: Heimat Berlin? Fotographische
Impressionen und Grenzen überqueren: Migranten in Europa; Museum
Europäischer Kulturen/Staatliche Museen zu Berlin (2002-2004). Mehrere
Auftragsarbeiten, darunter: fotografische Dokumentation über die Schwarze
Bevölkerung in Purta Cabezas, Nicaragua und fotografische Dokumentation
von Auswirkungen des Bürgerkriegs auf die Zivilbevölkerung Angolas.
Obioma Nnaemeka is Professor of French, women’s studies, and
African/African Diaspora studies and a former Director of Women’s Studies
at Indiana University, Indianapolis. She is the President of the Association
of African Women Scholars. A former Rockefeller Humanist in Residence
(University of Minnesota), Edith Kreeger-Wolf Distinguished Visiting
Professor (Northwestern University), and Verne Wagner Distinguished
Visiting Professor (University of Kansas), Professor Nnaemeka has taught
in several institutions in Africa and the USA. She is the recipient of
numerous national and international awards and serves on the Board of
Trustees of many international non-governmental organisations and on the
editorial board of several scholarly journals. She has published extensively
on literature, women’s studies, development, and African/African Diaspora
studies.
Randolph Ochsmann ist Professor für Psychologie an der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz, Leiter der Abteilungen Sozialpsychologie
und Psychologie für Pädagogen. Er leitet das Forschungszentrum ›Black
European Studies‹, das aufgrund der Bewilligung eines Forschungsprojekts
(Piesche, El-Tayeb, Lennox und Ochsmann) durch die Volkswagen-
Stiftung im Oktober 2004 an der Mainzer Universität eingerichtet wurde.
Sabinah Odumosu, geboren in Hamburg/Barmbek in 1975.
Aufgewachsen in Hamburg, Lagos und London, lebt und arbeitet in Berlin.
1997-2002 Studium der Freien Kunst an der Hochschule für bildende
Künste, Hamburg, Abschluss mit Auszeichnung. 2004 Arbeitsstipendium
der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Berlin.
Gruppenausstellungen: 1999, Afrika in Essen; 2001, ››re//MIR‹‹; Borey Art
Gallery, St. Petersburg; ››re//MIR‹‹II; Art Agents Gallery, Hamburg. 2003,
Farafina, Gallery Nord, Berlin.
Viola Prüschenk, studierte Afrikawissenschaften und Vergleichende
Musikwissenschaft in Berlin. Derzeit arbeitet sie an ihrer Promotion über
die literarische Verarbeitung von Musik in (post-)kolonialen Romanen des
frankophonen afrikanischen und karibischen Raumes.
Julia Roth, geboren 1976 in Heidelberg, Studium der
nordamerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften, Spanisch und
Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin, in Kassel,
London und Madrid. Magisterarbeit zu Toni Morrisons Essays als
Interventionen in literaturkritische Diskurse. Derzeit Doktorandin im
Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der HU Berlin und
dem Potsdamer Graduiertenprogramm „Cultures in/of Mobility“.
Redakteurin der Zeitschrift polar, Vorstandsmitglied des Netzwerks
polarkreis e.V. und Mitglied der Toni Morrison Society. Arbeit in einem
internationalen Workcamp in Spanish Harlem, NYC, USA und am Goethe-
Institut Buenos Aires. Teilnahme an internationalen Konferenzen in
Deutschland, den USA und Lateinamerika. Arbeitsschwerpunkte:
Postcolonial/Decolonial Studies, Critical Whiteness Studies, kritischer
Okzidentalismus, Gender Studies, Cultural Studies, Feminst Criticism,
afroamerikanische und lateinamerikanische Literaturen und Kulturen.
Katharina Schramm hat in Berlin Ethnologie und Afrikanistik studiert
und im Fach Ethnologie mit einer Arbeit über die Rückkehrbewegung von
African Americans nach Ghana promoviert (Struggling Over the Past: The
Politics of Heritage and Homecoming in Ghana. Walnut Creek / Oxford
2009). Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar
für Ethnologie der Martin-Luther-Universität Halle. Sie ist Herausgeberin
von Violence and Memory: Anthropological Perspectives on
Intergenerational Transmission. Oxford 2009 (mit Nicolas Argenti), sowie
Identity after DNA: Re/Creating Categories of Difference and Belonging.
New York 2010 (mit David Skinner und Richard Rottenburg).
Dagmar Schultz war Professorin an der Alice Salomon-Fachhochschule
in Berlin von 1991 bis 2004. Von 1963 bis 1972 studierte und arbeitete sie
in den USA. Ihr Studium schloss sie mit einer Dissertation über
Arbeiterbildung ab. Von 1973 bis 1986 lehrte sie am John F. Kennedy-
Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin und habilitierte 1989 am
Soziologischen Institut der FU Berlin. Sie war Mitbegründerin und
langjährige Mitarbeiterin des Feministischen Frauengesundheitszentrums
Berlin und des Orlanda Frauenverlags. Ihre Lehr- und
Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Sozialarbeit, Frauen- und
Genderstudien und politische und kulturelle Kompetenz in der
psychosozialen und psychiatrischen Versorgung von MigrantInnen und
Minderheiten.
Aretha Schwarzbach-Apithy, gelernte Erzieherin, Stipendiatin der
Friedrich-Ebert-Stiftung. Studium der Erziehungswissenschaften an der TU
und Gender Studies an der HU Berlin, Magisterarbeit zum Thema: Die
Erfindung als Anti-Rassist – aus afrozentristischer Perspektive.
Arbeitsaufenthalte u.a. in Zambia und Bolivien mit den Schwerpunkten
Empowering und Dekolonisation im Kinder- und Jugendbereich. Aktivistin
in der Black Community, Mitbegründerin der Schwarzen Studiumsgruppe.
Iyiola Solanke is currently Lecturer at the School of Law, University of
East Anglia in Norwich. She conducted her doctoral research at the London
School of Economics on the role of social action in the evolution of anti-
racial discrimination law in the UK, Germany and the EU. She currently
teaches European Union Law and Discrimination Law. Her research
interests include social action, comparative anti-racial discrimination law,
critical race theory, critical race feminism, sociology of the legal profession
and cause lawyering.
Regina M. Banda Stein, Diplompflegewirtin, 1963 in Treffurt (Deutsche
Demokratische Republik) geboren und sambisch-deutscher Herkunft.
Erlernter und ausgeübter Beruf: Krankenschwester. Politisch aktiv in der
Schwarzen deutschen community u.a. bei ADEFRA e.V.
Arbeitsschwerpunkt: Schwarze deutsche Krankenpflegegeschichte und
koloniale weiße Pflegegeschichte. Veröffentlichungen: In: Wege zu
Bündnissen. Dokumentation (Berlin:1992); Mitherausgeberin und Autorin
der Dokumentation: 22. Feministischer Frauentherapie-Kongress (Berlin
1999).
Hito Steyerl, geb. 1966, Filmemacherin, Journalistin und Autorin,
Promotion über Dokumentarismus im Kunstfeld. Lehrt gegenwärtig am
Goldsmiths College London. Schwerpunktthemen: kulturelle
Globalisierung, globaler Feminismus, Kultur und Migration im Rahmen
einer Übertragung postkolonialer Kritik in den deutschsprachigen Kontext;
mehrere Auszeichnungen für Filme.
Juliane Strohschein, seit Wintersemester 2001/02 Studium der Gender
Studies und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Hochschulpolitisch aktiv zu Weißsein und Gender sowie in der Fachschaft
frauenpolitische Referentin im Asta und der Gemeinsamen Kommission der
Gender Studies. Im Wintersemester 2003/04 Mitorganisierung des
Projekttutorium Kritisches Weißsein. Stipendiatin der Heinrich-Böll-
Stiftung. Auslandsstudium in Montreal. Publikation: Queer in den
Fallstricken weißer Dominanz und aktiver Ignoranz. In: Elahe Haschemi
Yekani & Beatrice Michaelis (Hg.): Quer durch die Geisteswissenschaften.
Perspektiven der Queer Theory. Berlin (2004).
Makoto Takeda, papa von malaya-stern und hillel aki nicholas. lebt in
berlin. sein leib ist 34 jahre alt, geboren wurde er von seiner mutter. spricht
japanisch, auch kansai-ben und shinshu-ben. verdient geld als übersetzer
und dolmetscher.
Ursula Wachendorfer, geb. 1942, Diplom-Psychologin, Therapeutin in
freier Praxis in Berlin, Tätigkeit in der Erziehungsberatung, im
sozialpsychiatrischen Dienst und in verschiedenen Praxis- und
Forschungsprojekten; Lehraufträge zu den Themen Antisemitismus,
Rassismus und Weiß-Sein. Publikationen u.a. Soziale Konstruktionen von
Weiß-Sein. Zum Selbstverständnis weißer TherapeutInnen und
BeraterInnen. In: Maria del Mar Castro Varela u.a. (Hrsg.):
Suchbewegungen. Interkulturelle Beratung und Therapie (Tübingen 1998);
Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden
Normalität. In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in
Deutschland. Münster (2001).
Katharina Walgenbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Universität Gießen. 2004-2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum
für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt Universität zu
Berlin. Promotion an der Universität Kiel (2004). MA in Gender and
International Development (University of Warwick, GB) und
Erziehungswissenschaftliches Diplom (Universität Kiel). Lehraufträge an
der Universität Kiel (1996-2001) und Innsbruck (2005).
Forschungsinteressen: Critical Whiteness Studies, Geschlechterforschung,
soziale Ungleichheit und Jugendpädagogik.
Timo Wandert lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Eske Wollrad ist Weiße feministische ev. Theologin und arbeitet als
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen-
und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg. Sie promovierte zu afrikanisch amerikanischer feministischer
Theologie und forscht zu Rassismus, den Critical Whiteness Studies,
Weißsein und Postkolonialismus. Ihr Buch mit dem Titel „Weißsein im
Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und
Religion“ erschien im Frühjahr 2005.
Sénouvo Agbota Zinsou, geb. 1946 in Lomé, Studium der Literatur- und
Theaterwissenschaften in Lomé, Paris und Bordeaux, 1978 bis 1993 Leiter
des Togoer Theaterensembles; 1989 Promotion an der Universität
Bordeaux, 1987 bis 1990 Präsident der Association Togolaise des Gens de
Lettres, lebt seit 1993 als politischer Flüchtling in Bayreuth, dort
wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter des Internationalen Atelier
Theaters der Universität Bayreuth. Zahlreiche Veröffentlichungen,
Theaterstücke und Theaterinszenierungen, z.B.: On joue la comédie (Paris
1975); La tortue qui chante (Paris 1987); Le Médicament (Paris 2003).
Über ihn sind mehrere Arbeiten erschienen, siehe z.B.: Sélom Komlan
Gbanou: Un theatre au confluent des genres (Frankfurt/M. 2002).

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