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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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FATIMA EL-TAYEB
Vorwort
DIE HERAUSGEBERINNEN
Konzeptionelle Überlegungen
VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die Kritische
Weißseinsforschung?
MAUREEN MAISHA EGGERS
Ein Schwarzes Wissensarchiv
GRADA KILOMBA
Becoming a Subject
SUSAN ARNDT
Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands
PEGGY PIESCHE
Der ›Fortschritt‹ der Aufklärung – Kants ›Race‹ und die Zentrierung des
weißen Subjekts
ARNOLD FARR
Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines
rassifizierten Bewusstseins
MAUREEN MAISHA EGGERS
Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen
Weißseinsforschung in Deutschland.
PAUL MECHERIL
Der doppelte Mangel, der das Schwarze Subjekt hervorbringt
GRADA KILOMBA
No Mask
OBIOMA NNAEMEKA
Bodies That Don’t Matter: Black Bodies and the European Gaze
KIEN NGHI HA
Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft
NICOLA LAURÉ AL-SAMARAI
Inspirited Topography: Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die
Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und
Wissenstraditionen
HITO STEYERL
White Cube und Black Box. Die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs
MAKOTO TAKEDA
Zaubersprüche
AMY EVANS
Achidi J’s Final Hours: This Thing that Happened in Aschaffenburg …
JINTHANA HARITAWORN
»Der Menschheit treu«: Rassenverrat und Multi-Themenpolitik im
derzeitigen Multikulturalismus
RONAMBER DELONEY
Muse:Ich
IYIOLA SOLANKE
Where Are the Black Lawyers in Germany?
REGINA M. BANDA STEIN
Schwarze deutsche Frauen im Kontext kolonialer Pflegetraditionen oder
von der Alltäglichkeit der Vergangenheit
EDDIE BRUCE-JONES
Survived (for Audre Lorde)
NISMA CHERRAT
Mätresse – Wahnsinnige – Hure: Schwarze SchauspielerInnen am
deutschsprachigen Theater
SÉNOUVO AGBOTA ZINSOU
EIN FREMDER, WER’S GLAUBT! Klischees da, wo man sie am
wenigsten erwarten würde
MUTLU ERGÜN
Hayal
ARETHA SCHWARZBACH-APITHY
Interkulturalität und anti-rassistische Weis(s)heiten an Berliner
Universitäten
GBIANGO JUNIOR
Das Auge ist der Zeuge
AISCHA AHMED
»Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen«. Passing in Deutschland –
Überlegungen zu Repräsentation und Differenz
JOSHUA KWESI AIKINS
Wer mit Feuer spielt… Aneignung und Widerstand – Schwarze
Musik/Kulturen in Deutschlands weißem Mainstream
ÜBERGÄNGE
TIMO WANDERT & RANDOLPH OCHSMANN
»Even the rat was white.« Whiteness, Rassismus und ›Race‹ in der
Psychologie
MARÍA DO MAR CASTRO VARELA & NIKITA DHAWAN
Of Mimicry and (Wo)Man: Desiring Whiteness in Postcolonialism
Als im Jahr 2002 Kölner Kanak Attak Aktivisten dem ›Weißen Ghetto‹
Köln-Lindenthal einen Besuch abstatteten, stießen sie auf wenig
Verständnis. Das gleichnamige Kanak TV Video dokumentiert die
verwirrten bis aggressiven Reaktionen der ›bio-deutschen‹ BewohnerInnen,
die von den Kanakstas über ihre mangelnde Integration und Selbst-
Isolierung befragt wurden. Das Video entlarvt auf simple, aber effektive
Weise unhinterfragte Machtstrukturen, indem es die Mehrheit, die
›Normalen‹ zum Objekt des kritisch-ethnologischen Blicks macht. Die
ironische Umkehrung des Integrationsdiskurses legt den Fokus auf
Weißsein als markierter Kategorie und gibt der Minderheit die
Repräsentationsmacht, auf einmal ist es die dominante Mehrheit, deren
Verhalten kritisch an etablierten Normen gemessen wird. Eine Strategie, an
die mehrheitsdeutsche ZuschauerInnen offensichtlich nicht gewöhnt sind
und die ablehnende Reaktionen auch bei denjenigen auslöst, die sich als
sensibilisiert in Rassismusfragen empfinden: die Benennung ›rassischer‹
Unterschiede wird als Tabubruch empfunden, als umgekehrter Rassismus
oder unangemessene Übernahme eines aggressiven US-amerikanischen
Rassendiskurses. Stattdessen erscheint eine so genannte ›Farbenblindheit‹,
ein ›ich sehe keine Unterschiede, für mich sind alle Menschen gleich‹ als
politisch korrekte, kaum anzugreifende anti-rassistische Haltung. Es ist
eben dieser liberale Diskurs, der es verbietet, die Position der dominanten
Mehrheit zu relativieren, indem die Parameter ihrer Dominanz benannt
werden. Rassismus als kritisiertes Phänomen bleibt so gebunden an und
bestimmend für die Existenz von People of Color. Wenn eine
Auseinandersetzung Weißer mit ihrem Weißsein stattfindet, wird sich meist
von einem Rassismus distanziert, der entweder in der Vergangenheit oder
bei anderen, weniger gebildeten/progressiven/weitgereisten Weißen verortet
wird, aber sicher nicht innerhalb eines linken Diskurses oder der eigenen
Identitätskonstruktion.
Das vorliegende Buch stellt sich diesem bewussten Wegsehen entgegen,
indem es die Relevanz rassifizierter Hierarchien für die Struktur der
gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft insgesamt aufzeigt.
›Rassen‹ sind zwar keine biologische Realität, das Rassenkonzept hat aber
soziale, ökonomische, politische, psychologische Fakten geschaffen, hat
nachhaltig und bis in die Gegenwart unsere Wahrnehmung der Welt
strukturiert. Auch wenn die Unhaltbarkeit des Konstrukts menschlicher
›Rassen‹ wissenschaftlich inzwischen unumstritten ist, ist es im Alltag,
auch im akademischen, nach wie vor ein zentrales, wenn auch nicht immer
explizit benanntes Kriterium. Rassische Zuweisungen wirken sich täglich
auf unzähligen Ebenen aus, beeinflussen banale zwischenmenschliche
Interaktionen (und durchaus nicht nur, wenn Nicht-Weiße beteiligt sind),
konstruieren unsichtbare, aber unüberwindliche Grenzen, zeigen sich in als
selbstverständlich begriffenen, nicht einmal als solchen wahrgenommen
Privilegien. Es liegt auf der Hand, dass ein derartig komplexes System nicht
durch einen bloßen Willensakt unwirksam gemacht werden kann, selbst
wenn ein entsprechender Wille vorausgesetzt wird, was durchaus keine
Selbstverständlichkeit wäre. Eine als anti-rassistisch begriffene
›Farbenblindheit‹, die die Negierung von, oft als natürlich
wahrgenommenen, Unterschieden als ausreichende Lösung begreift, ist so
tatsächlich kontraproduktiv. Sie macht es doch zum einen unmöglich, den
Prozess der Erziehung zur Wahrnehmung und Bewertung dieser
Unterschiede zu analysieren und lässt zum anderen keinen Raum zur
Benennung der Ursachen und Konsequenzen von Rassifizierungsprozessen,
die sich nicht auf diese ›Unterschiede‹ zurückführen lassen. Konsequenzen
zudem, die wirkungsmächtig bleiben, auch wenn sich die äußeren Formen
der Implementierung der Rassenhierarchie ändern. Dass diese
›Farbenblindheit‹ schließlich gewöhnlich nur gegenüber Nicht-Weißen ins
Feld geführt wird, macht vollständig ihre Einbindung in den Prozess der
Normalisierung von Weißsein deutlich; ein Normalisierungsprozess, der
immer nur die ›Anderen‹ als rassifiziert wahrnimmt und Rassismus so
letztlich als an die Existenz dieser ›Anderen‹ gebunden betrachtet.
Entgegen der landläufigen Meinung, dass Rassismus nur dann und dort
existiert, wo als Nicht-Weiß Definierte präsent sind, ist es vielmehr die
Präsenz sich als weiß definierender Bevölkerungen, die Rassismus
produziert.
Das ist natürlich alles andere als eine neue Erkenntnis – zumindest für
Minderheiten im weißen Westen, für die die Critical Whiteness Studies eine
notwendige Überlebensstrategie darstellen. Ein ausdifferenzierter
Rassismusbegriff, der Ursprung, Wirkung und veränderte
Erscheinungsformen des Rassendiskurses ebenso analysiert wie er
Verbindungen zu anderen Machtsystemen aufzeigt, ist so zumeist in Texten
von People of Color zu finden. Spätestens seitdem W.E.B. DuBois, einer
der wichtigsten US-amerikanischen Denker des 20. Jahrhunderts, sein
bahnbrechendes The Souls of Black Folk mit einem Aufsatz zu »The Souls
of White Folk« ergänzte,[1] ist eine Dekonstruktion der pseudo-natürlichen
Kategorie Weißsein Teil einer lebhaften intellektuellen Debatte, die bis in
die Gegenwart fast gänzlich vom weißen Mainstream ignoriert wird.
Allerdings hat seit den 1990ern eine unter anderem von Peggy
MacIntoshs Artikel »White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack«
(1989) initiierte Umorientierung des weißen anti-rassistischen Diskurses
weg von einer Identifizierung mit den ›Opfern‹ hin zu einer Analyse der
eigenen Ethnisierung stattgefunden. In ihrem Beitrag in diesem Band gibt
Susan Arndt einen informativen Einblick in die Entstehungsgeschichte und
Methodik dieses neuen Forschungsfeldes, einschließlich der Probleme, die
aus der Auffassung von Weißsein als überwindbarer Kategorie entstehen.
Gutgemeinte Zurückweisungen weißer Privilegien können so, wie Arndt
diskutiert, zu einer Analyse des Rassifizierungssystems führen, in dem nur
die weiß sind, die es auch sein wollen – ein politischer Ansatz, der
ungewollt genau die eigentlich abgelehnten weißen Privilegien fortschreibt.
Trotz dieser methodischen und inhaltlichen Probleme, die zu berechtigter
Skepsis bei TheoretikerInnen und AktivistInnen of Color führten, stellen
die Critical Whiteness Studies einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten
Schritt aus der politischen Sackgasse dar, die Paul Gilroy 1992 als »the end
of anti-racism« beschrieb[2] – besser geeignet, das Rassenkonzept zu de-
essentalisieren, als ein Festhalten am Sprechen für die unterdrückten
›Anderen‹, welches (inner)weiße rassifizierte Dynamiken unhinterfragt
lässt. Trotz des nach wie vor verbreiteten Glaubens, Rassismus sei ein
Phänomen, das für Deutschland, dank der mangelnden Präsenz von People
of Color und der weitgehend fehlenden Kolonialgeschichte,[3] nicht oder
erst seit allerneuestem relevant sei, ist die Kritische Weißseinsforschung
inzwischen auch hier angekommen.[4] Schon seit einiger Zeit sind die
vielfältigen Verbindungen von Weißsein und Deutschsein Thema bei
AutorInnen mit migrantischem Hintergrund.[5] Die Ergänzung dieses
wichtigen Diskurses durch eine kritische weiße Perspektive ist nicht nur
begrüßenswert, sondern überfällig. Allerdings verhindern strukturelle
Rassismen, die von eben dieser neuen Forschung addressiert werden, oft
noch einen gleichberechtigten Dialog, zu leicht werden Beiträge von
Minderheiten sowohl instrumentalisiert als auch marginalisiert. Der
vorliegende Band stellt den bisher deutlichsten Versuch dar, einen solchen
Dialog für den deutschen Kontext zu initiieren. Masken, Mythen und
Subjekte fasst aber nicht nur den Stand der Kritischen Weißseinsforschung
in Deutschland zusammen, sondern schreibt sich auch in internationale
Diskussionen ein. Hito Steyerls Überlegungen zur Farbmetaphysik des
Kunstbegriffs, die um Konnotationen von White Cube und Black Box
kreisen, öffnen ebenso neue Dimensionen des Diskurses um Weißsein wie
Aischa Ahmeds Untersuchung des Themas passing im spezifischen Kontext
der Bundesrepublik oder Nisma Cherrats Erfahrungsbericht einer
Schwarzen Schauspielerin an deutschen Theatern.
Insgesamt lassen sich die AutorInnen nicht auf eine Sicht von Sinn und
Zweck einer Kritischen Weißseinsforschung festlegen, nähern sich dem
Thema aus literarischer, psychologischer oder linguistischer Perspektive. So
folgt etwa Kien Nghi Ha den Traditionslinien des deutschen Kolonialismus
bis in die Gegenwart, während Nicola Lauré al-Samarai eine kulturelle
Topographie des Widerstands nachzeichnet und Jinthana Haritaworn die
Ethnisierungspolitik weißer Queers und Feministinnen untersucht und nach
produktiven Formen des weißen ›Rassenverrats‹ fragt. So bietet diese erste
deutsche Anthologie zum Thema Weißsein Denkanstöße, die in diesen
Zeiten der erneuten Normalisierung weiß-christlich-westlicher Dominanz
mehr als nötig sind.
ANMERKUNGEN
1 DuBois, W. E. B.: The Souls of Black Folk. Chicago: A. C. McClurg & Co., 1903; Ders.: »The
Souls of White Folk.« In: Ders.: Darkwater. Voices From Within the Veil. New York: Harcourt,
Brace & Howe, 1920.
2 Gilroy, Paul: »The End of Antiracism.« In: Donald James & Ali Rattansi (Hrsg.): ›Race‹,
Culture and Difference. Newbury Park, CA.: Sage, 1992, S. 49-61.
3 Inzwischen ist der deutsche Kolonialismus recht gut erforscht, zahlreiche Studien beschäftigen
sich mit verschiedenen Aspekten dieses Herrschaftssystems, und auch wenn in der
Öffentlichkeit nach wie vor kaum ein Bewusstsein der deutschen Kolonialgeschichte,
geschweige denn ihrer Bedeutung für die Gegenwart existiert, werden Jahrestage wie der des
Völkermords an den Herero 1904 zunehmend zur Kenntnis genommen (für einen kritischen
Überblick der Rezeption deutscher Kolonialgeschichte siehe auch Kien Nghi Ha in diesem
Band). Anders sieht allerdings der Umgang mit dem Thema deutsche Minderheiten aus, das in
Öffentlichkeit wie Wissenschaft immer noch ein marginales Dasein führt.
4 Vgl. etwa: Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany.
Ann Arbor: University of Michigan Press, 2002; und: Wollrad, Eske: Weiss-sein im
Widerspruch. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 2005.
5 Eine Anzahl dieser AutorInnen, so Hito Steyerl, Kien Nghi Ha und Peggy Piesche, ist in diesem
Band vertreten.
DIE HERAUSGEBERINNEN
KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN
ANMERKUNG
1 So ist es auch bezeichnend, dass dieser Band vor allem mit Hilfe einer finanziellen
Unterstützung von ADEFRA e.V. (Schwarze Frauen in Deutschland) entstehen konnte, während
sich traditionelle Publikationsförderungen diesem Projekt nicht ohne Weiteres erschlossen. Die
für die Perspektive des vorliegenden Bandes unerlässlichen Übersetzungen konnten schließlich
mit dieser Unterstützung realisiert werden.
VIERSTIMMIGER PROLOG
PEGGY PIESCHE
DAS DING MIT DEM SUBJEKT, ODER: WEM GEHÖRT
DIE KRITISCHE WEIßSEINSFORSCHUNG?
Die zentralen Strategien in der Konstruktion von Weißsein sind bekannt und
vor allem für marginalisierte und ethnisierte Menschen in ihrem
Alltagsleben immer wieder zu dekodieren. Denn, die Prozesse der
Dekonstruktion weißer Normalitäten sind integrierte und essentielle
Bestandteile der vielschichtigen Schwarzen Befreiungs- und
Widerstandskämpfe in weißen hegemonialen Machtzusammenhängen.
Wenn sich die Kritische Weißseinsforschung nunmehr auch in den
deutschen akademischen Diskurs einzuschreiben scheint und der hier
vorliegende Band auch genau dies unter anderem dokumentiert, drängen
sich Fragen nach der Originalität, der Adressiertheit und dem Nutzen dieser
sich nunmehr durchaus etablierenden Disziplin auf. Im Vorfeld und
während der Entstehung des vorliegenden Buches wurde das hier zugrunde
liegende Konzept einer historischen Integrativität Schwarzer Perspektiven
in der Kritischen Weißseinsforschung immer wieder mit Originalitäts- und
Tradierungsansprüchen einer weißen hegemonialen Forschungsperspektive
konfrontiert und herausgefordert. Die Kritische Weißseinsforschung als
Analysekategorie, die in der bisherigen dominanten Rezeption durchgängig
in ihrer englischsprachigen Entsprechung als Critical Whiteness Studies
bereits auf seine angloamerikanische Herkunft verweist, sollte demnach als
Teil eines akademischen Diskurses aus dem US-amerikanischen Kontext
auch im deutschen Diskurs fruchtbar gemacht werden. Dieser
Argumentation folgend wäre die Kritische Weißseinsforschung nunmehr
auch im deutschen Kontext angekommen. Erste Arbeiten dazu sind in der
Tat bereits in den späten 1990er Jahre erschienen. Diese Leseart
vernachlässigt nicht nur bereits früher zu datierende akademische Arbeiten,
sie negiert auch vollständig die tief greifenden und fortlaufenden
Auseinandersetzungen mit den jeweils auch kontextspezifischen
Bedingungen von Weißsein in den politischen und emanzipatorischen
Kämpfen von Schwarzen Menschen und People of Color in Deutschland.
Deren permanente Dekonstruktion und Dekodierung der Mythen im Alltag
stellen eine reichhaltige Quelle für die Kritische Weißseinsforschung dar.
So konfrontiert – ähnlich wie in den USA von Toni Morrison
vorgelegt[1] – wohl die erste Arbeit zum Thema Weißseinsforschung in
Deutschland bereits 1983 die normative Rezeption des Eigenen, mit einer
üblichen Rassifizierung des Anderen, mit eben diesen Gewohnheiten und
markiert Weißsein in seinen kontextspezifischen Bedingungen in einer
Spannbreite vom bundesdeutschen kirchlichen Alltag hin zum universitären
Wissenschaftsdiskurs. Diana Bonnelamé wendet in ihrer Dissertation zu den
Initiationsverfahren weißer deutscher Jugendlicher evangelischen Glaubens
Methoden der Völkerkunde an und fordert so mit ihrer Arbeit die
völkerkundliche Betrachtung auch der weißen Deutschen ein. Die
Schwierigkeiten, denen sie im universitären Diskurs mit einem solchen
Ansatz begegnet, stellt sie schließlich in der Dokumentation »Wie andere
Neger auch«,[2] die die Entstehungsbedingungen ihrer Dissertation
schonungslos aufzeigt, dar. In dieser bemerkenswerten Arbeit, die Einblicke
in die Hierarchien, Diskussionen und Machdynamiken sowohl im
Wissenschaftskontext als auch in den alltäglichen, konfessionsbestimmten
Bedingungen gibt, arbeitet Bonnelamé deutlich die Unterschiede und
Grenzen einer Verfahrensübernahme auf das Thema Weißsein heraus. In der
Einstiegssequenz analysiert sie ein Wandgemälde, welches eine klassische
Kolonialszene darstellt: Umringt von spärlich bekleideten Schwarzen
Menschen sitzt ein weißer Mann mit Notizbuch. Bonnelamé verweist auf
die Selbstverständlichkeit des weißen Ethnologen, der sich der ihm eigenen
Definitionsmacht, der Macht mit seinen Beobachtungen Wissen zu
schaffen, vollständig bewusst ist. Im Unterschied zu ihm muss Bonnelamé
durchaus auf ihre ›Neger hier‹ Rücksicht nehmen, haben diese schließlich
Einfluss darauf, was an die Öffentlichkeit gelangt und was nicht.
Bonnelamé entlarvt bereits in einem prä-postmodernen
Wissenschaftsdiskurs Nicht-Problematisierung eigenen Weißseins und die
Schwarze Statthalterschaft des Abgespaltenen, welches aus weißer Sicht
das verkörpert, was faszinierend und begehrenswert ist, was Lust macht,
aber auch Angst. Mit Schlüsselbegriffen des ethnologischen Diskurses
provoziert Bonnelamé im weißen hegemonialen Blick dieses Unbehagen
der eigenen Differenzmarkierung, die, dem System folgend, ja unweigerlich
mit einer Abwertung verbunden sein müsste. Die von Bonnelamé
angewandten Techniken der Mimikry zeigen Schwarze
Überlebensstrategien im weißen Mainstream auf.
Auch hinsichtlich der Adressiertheit der Analysekategorie Weißsein
haben die Diskussionen um die Entstehung dieses Bandes durchaus
unterschiedliche Positionalitäten aufgedeckt. VertreterInnen der hier
beschriebenen Forschungsperspektive positionierten die
Auseinandersetzung mit der Analysekategorie Weißsein in einem
ausschließlich weißen akademischen Raum, wobei die Partizipation
Schwarzer Perspektiven in der Kritischen Weißseinforschung eher als ein
gewollt politisches Beiwerk, als eine Art ›token‹ verstanden wurde, von
dem es sich vor allem mit dem Wissen um die Machtdynamiken der
Konstruktion von Weißsein abzugrenzen galt. Dabei wurde zwar
vornehmlich auf eben jene weiterhin dominierende weiße Perspektive
gezielt, die Kritik an ihrer Dominanz gern dadurch unterlaufe, dass sie
VertreterInnen bislang ausgeschlossener Gruppen in ihre Reihen aufnimmt
und sich somit moralisch legitimiert, bei gleichzeitiger Beibehaltung
überkommener hegemonialer Strukturen. Damit entzog sich jedoch dieses
›analytisch korrekte Weißsein‹ ganz eloquent den praxis- und
handlungsorientierten lokalen Schwarzen Kritiken und einer dahingehenden
Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein. Vielmehr wurde so einer
Kritik an und der Analyse von Weißsein aus einer Schwarzen
wissenschaftlichen, künstlerischen und aktivistischen Perspektive der
Subjektstatus abgesprochen und in eine – zwar diesmal nicht zu
untersuchende, jedoch für diesen Diskurs – vermeintlich irrelevante
Objektposition verwiesen. Die von Fatima El-Tayeb im Vorwort
beschriebene Gefahr einer wieder alles vereinnahmenden
Selbstreferenzialität des weißen hegemonialen Diskurses zeigt sich hier
bereits auf. Mit Positionen wie ›Wir brauchen keine Schwarzen, um uns
über Weißsein auseinander zu setzen‹ scheint sich dieses ›kritische weiße
Subjekt‹ wieder als Ergebnis asymmetrischer Machtverhältnisse und deren
Zuschreibungspraxen zu situieren, wobei auch hierbei die Positionierung
des Anderen die eigenen Grenzen zu erkennen gibt. Die privilegierte
Position des weißen Subjektes wird so erfolgreich verschleiert.
Wenn Kritische Weißseinsforschung als innerweiße Analyse einer
kollektiven Imagination, welche ausschließlich durch die Existenz der
Anderen definiert werden kann, betrachtet würde und die Fragen nach der
Sichtbarkeit von Weißsein innerhalb verschiedener historischer, kultureller
und biographischer Zusammenhänge nur in diesem Rahmen verhandelt
werden sollte, dann führte diese Kritische Weißseinforschung durchaus zu
einer Re-Zentrierung des weißen Subjekts. Eine solche, vermeintlich
alternative Nischenbesetzung im deutschen akademischen Diskurs
entspräche so jedoch einer Reproduktion der dem Weißsein zugrunde
liegenden Dimensionen der Machtausübung und Gewalt. Diese
symbolische selbstrepräsentative politische Korrektheit läuft dabei der
Dynamik der Dekonstruktion von Weißsein entschieden entgegen. Vor
diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, eine weiße
›antirassistische‹ Kritikelite zu bilden, die ihr eigenes Weißsein analysiert
und von dieser Nische aus Diskurse produziert, die es ihr ermöglichen, sich
wieder in ihrer eigenen weißen Progressivität zu verlieren. Weißsein wird so
nicht dekonstruiert, sondern erhält lediglich eine kritische Verpackung und
die ihr zugrunde liegende tagtäglich realisierte wirk- und
definitionsmächtige Gewalt bleibt ungetastet und normalisiert.[3]
Vor allem auch deshalb steht der vorliegende Band nicht nur für eine,
erstmals auch in Deutschland vorgelegte, Problematisierung der
Normativität von Weißsein als Rassekonstrukt und gewaltvoller
gesellschaftlicher Realität, sondern vielmehr auch für eine explizite
Schwarze Kritik an diesen exklusiven, mächtigen weißen ›kritischen‹
Diskursen für die Selbstrepräsentation eines (antirassistischen) Weißseins.
Dieser Band soll daher auch der Tatsache Rechnung tragen, dass dem
hegemonialen Fokus auf sich selbst, der Selbstmarkierung des Markierers,
der marginalisierte Blick der Markierten voraus ging: Die Analysekategorie
Weißsein wurde nicht zuletzt auch im Kontext Schwarzer Hegemonialkritik
gebildet und ist ebenso Teil einer tradierten Schwarzen Überlebensstrategie
wie auch Schwarzer politischer Bewegungen. Kritische Weißseinsforschung
in Deutschland ist damit keineswegs ein rein akademisches Feld, sondern
auch die alltägliche Reflexion Schwarzen Lebens in einem hegemonialen
weißen Setting. Diese, in diesem Band fruchtbar gemachten Schwarzen
Perspektiven dechiffrieren Weißsein als Bedeutung produzierende
Wirklichkeitskonstruktion mit realen, nicht selten gewaltvollen Realitäten.
Die Repräsentationskritik in so unterschiedlichen Bereichen wie z.B.
kanonisierter Kultur (Schwarze SchauspielerInnen im weißen Theater) oder
historisch uneingebettetes Gesundheitssystem (Schwarze Menschen in der
Pflege) richtet die Analyse auf die soziale Praxis von Weißsein. Gerade
solche Perspektiven tragen dazu bei, die Normalität/Normativität des
hegemonialen Diskurses zu durchbrechen, indem Weißsein ins Zentrum des
Blickfeldes gerückt, explizit benannt und in sozialen Interaktionen
subversiv umgedeutet wird. Die Dekonstruktion der hegemonialen weißen
Positionalitäten benötigt eine Kontextualisierung von Weißsein in historisch
verankerten und reflektierten Zusammenhängen. Die Arbeiten zu einer
Schwarzen Historisierung im weißen Setting, die eine von einer weißen
Definitionsmacht unabhängigen Subjektivität situieren wollen, tragen dazu
bei, die Dialogizität, die der Analysekategorie Weißsein schließlich auch
eingeschrieben ist, aufzuzeigen und eröffnen Wege, Weißsein theoretisch
bzw. methodisch erfassen zu können, ohne dessen Hegemonie zu stützen.
Kritische Weißseinsforschung ist in Deutschland daher nicht ohne Schwarze
Forschungsperspektiven zu denken. Dieser Band stellt dazu eine
Standortbestimmung dar, sondiert sozusagen den Diskurs im deutschen
(akademischen) Kontext und möchte schließlich zu einer
Begriffsmakrotesierung der Kritischen Weißseinsforschung führen. Dabei
tragen gerade die Arbeiten des ›markierten Blickes‹ dazu bei, dass sich die
fragile Komplexität der Instabilität der Konstruktion Weißsein nicht zu
Gunsten einer Aufhebbarkeit des Weißseins verschiebt. Dieses »instabile[s]
Produkt von Kämpfen auf den Bedeutungsfeldern von Rassekonstruktionen
[…]«,[4] das Weißsein als fragilen Besitz zeichnet, kann jedoch nicht
darüber hinweg täuschen, dass Weißsein in seiner sich selbst
eingeschriebenen Essentialität gerade nicht verhandelbar ist. Gerade die
immer wieder betonte (Aus-)Differenzierung des Herrschaftssubjektes in
ein prototypisches – weiß, männlich, heterosexuell besetzt –, die eine
›weniger-weiß-Setzung‹ weißer (deutscher) Frauen propagiert[5] und das
Überwinden von Weißsein mit einschließt, stellt zwar die Diskursivität von
Weißsein in den Fokus der Auseinandersetzung, verschleiert jedoch die
privilegierte Position des weißen sprechenden Subjektes. Vielmehr will der
Band die Positionen dokumentieren, die die Rekonstruktion eines weißen
Subjekts ohne Mantel leistet und Einsprüche gegen populistische Varianten
der Dekonstruktion, die sich unterschiedslos aller Identitäten bemächtigen,
bilden. Geraten nämlich hierbei die gesellschaftlichen Machtgefälle aus
dem Blick, so verwandeln sich die Rekonstruktionen in einen inhaltslosen
Universalismus, der die Unsichtbarkeit und Unterdrückung rassfizierter
Markierungen reproduziert.
ANMERKUNGEN
1 In gleicher Zeit stellt Toni Morrison mit ihrer kleinen Geschichte »Recitatif« die bis dato
gängigen Rezeptionsgewohnheiten US-amerikanischer Literaturgeschichte durch die
Verweigerung konsensgestützter Markierungen radikal zur Disputation. Das eigentlich
Revolutionäre daran ist, wie diese Erzählung gleichsam als Spiegel für die sich anschließende
Diskussion fungierte und hegemoniale Definitions- und Interpretationsstrategien aufdeckte. Vgl.
Morrison,Toni: »Recitatif.« in: Amiri Baraka & Amina Baraka (Hrsg.): Confirmation. An
Anthology of African American Women. New York: William Morrow & Company, 1983, S. 243-
261.
2 Vgl. Bonnelamé, Diana & Peter Heller: Wie andere Neger auch. Dokumentarfilm. BRD 1983.
3 Eine Strategie, die, Coco Fusco folgend, die Verdoppelung der weißen Hegemonie einschließt
und die Machtvermessenheit des weißen Subjektes aufzeigt. Vgl. dazu: hooks, bell: Yearning –
Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1996, S.
180.
4 Wollrad, Eske: »Der Weißheit letzter Schluss. Zur Dekonstruktion von ›Weißsein‹.« In: polylog:
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8(2001): 77-82.
5 Diese Argumentation kann sich bis hin zu einer Metapher für ›nicht-weiß‹ ausweiten. Vgl. dazu
auch den gerade erst erschienenen Band innerhalb des Periodiukms: WerkstattGeschichte
39/2005 (»Die Farbe ›weiß‹«).
MAUREEN MAISHA EGGERS
EIN SCHWARZES WISSENSARCHIV
ANMERKUNGEN
1 Orlando Patterson zit in Mills, Charles Wade: Blackness Visible. Essays on Philosophy and
Race. Ithaca: Cornell University Press, 1998, S. 37.
2 Vgl. hooks, bell: Black Looks. Race and Representation. Boston: South End Press, 1992, S. 165;
und: Boyd-Franklin, Nancy: Black Families in Therapy. New York: Guilford Press, 1989, S. 96.
3 Der ›Maji-Maji Widerstand‹, ein gemeinschaftlich organisierter Befreiungskrieg in
Kolonialtanzania, wird in der Erzählung Kinjeketile überliefert. Er basiert auf eben diesen
diskursiven Techniken. Unter der (spirituellen) Führung von ›Kinjeketile Ngwale‹ werden
unterschiedlichste Gesellschaften in Kolonialtanzania vereint. Sie werden auf der Grundlage
gedeuteter Alltagsbeobachtungen und von Detailwissen kommunikativ in die Struktur der
weißen deutschen Kolonialdiktatur eingeweiht und somit befähigt, effektiv gegen sie
vorzugehen. Vgl. Hussein, Ebrahim N.: Kinjeketile. Nairobi & Dar es Salaam: Oxford
University Press, 1969 (ins Deutsche übersetzt in: Fiebach, Joachim (Hrsg.): Stücke Afrikas.
Ost-Berlin: Henschel, 1974, S. 5-53).
4 Boyd-Franklin: Black Families in Therapy, S. 96; und: Smith, Elsie J.: »Cultural and Historical
Perspectives in Counseling Blacks.« In: Derald Wing Sue (Hrsg.): Counseling the Culturally
Different. New York & Toronto: Wiley Interscience, 1981, S. 153-155.
5 Vgl. BEST, Black European Studies, Research Project an den Universitäten Mainz und
Massachusetts. www.best.uni-mainz.de. Das Projekt trägt Forschungsperspektiven und
Ergebnisse zusammen, die eine lange Geschichte Schwarzer Präsenz in Russland, Rumänien und
weiteren osteuropäischen Ländern belegen.
GRADA KILOMBA
BECOMING A SUBJECT
Why do I write?
‘Cause I have to.
‘Cause my voice,
in all its dialects,
has been silent too long
(Jacob Sam-La Rose)
ANMERKUNGEN
1 The concept of ›becoming‹ has been used within Cultural Studies to elaborate the relationship
between self and other.
2 I write opposition along with reinvention, taking into account bell hooks’ argument, that
opposing is not enough. One cannot simply oppose dominance, she argues, since in the vacant
space after one has resisted »there is still the necessity to become – to make oneself anew«
(hooks, bell: »The Politics of Radical Black Subjectivity.« In: Dies.: Yearning. Race, Gender,
and Cultural Politics. Boston: South End Press, S. 15). In other words, there is still the necessity
to become subjects.
3 hooks, bell: »Choosing the Margin as a Space of Radical Openness«. In: Dies.: Yearning, S. 152.
SUSAN ARNDT
WEIßSEIN. DIE VERKANNTE STRUKTURKATEGORIE
EUROPAS UND DEUTSCHLANDS
ANMERKUNGEN
1 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837).
Stuttgart: Reclam, 1961, S. 162.
2 Frevert, Ute: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.:
Fischer Taschenbuch Verlag, 2003, S. 82.
3 Vgl. Reinhard, Wolfgang: »Die Europäisierung der Erde und deren Folgen.« In: Jörg A.
Schlumberger & Peter Segl (Hrsg.): Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in
interdisziplinärer Sicht. Köln, Weimar & Wien: Böhlau, 1994, S. 76-93.
4 Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt /M.: Suhrkamp, 1996, S. 131.
5 Für diese tautologische Grundformel vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 143.
DER WEIßE FLECK UND DAS
SUBJEKT
SCHWARZE PERSPEKTIVEN ZU
WEIßSEIN IN DEUTSCHLAND
PEGGY PIESCHE
DER ›FORTSCHRITT‹ DER AUFKLÄRUNG – KANTS
›RACE‹ UND DIE ZENTRIERUNG DES WEIßEN
SUBJEKTS
Wenn Girnus und andere[9] – ein jüngeres Beispiel ist Franz Martin
Wimmer[10] – gegen den nationalsozialistischen Rassebegriff vor allem das
Moment der Entwicklung ins Felde führen und dabei versuchen, den
Rassebegriff der Aufklärung dagegenzusetzen, so zielt dies besonders auf
die Fortschrittstheorie, die Kant in seinen geschichtsphilosophischen
Schriften[11] vornehmlich in Abgrenzung zu Rousseaus Konzept der
›Perfektibilität‹[12] entwickelt hat. Eine sich immer weiter entwickelnde
Menschheit, deren Naturgesetz es sei, mit zunehmender ›Entwicklung‹ eine
›zunehmende Zivilisation‹ zu erreichen, lässt das biologistische Konzept
›Rasse‹ durchaus zu und kleidet es gar in ein entwicklungsdynamisch
harmloses Moment. Girnus’ geistige Verwandtschaft mit Kant zeigt sich vor
allem hierin:
Die Rasse ist eine biologische Kategorie, die von der körperlich-seelischen Anlage ausgeht. Die
gesellschaftlichen Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Kultur vollziehen sich aber unter
unseren Augen, d.h. tausendmal und hunderttausendmal schneller als die biologischen (Rasse
[sic!]) Die biologischen Veränderungen ganzer Rassen und Menschengruppen von fortwirkendem
Charakter sind an die Generationen gebunden, die gesellschaftlichen Veränderungen dagegen in
Wirtschaft, Technik, Politik, Kultur vollziehen sich täglich, ja stündlich, also können nur sie die
Ursachen typologischer Veränderungen beim Menschen sein, nicht aber die Rassenumbildungen
Ursache geschichtlicher Veränderungen. Der Einfluss der biologischen Faktoren (Rasse) auf die
geschichtlichen ist den gesellschaftlichen Faktoren gegenüber eine Größe, die man
vernachlässigen kann.[13]
Die immer wieder tradierte These, dass mit Kant zwar ein Rassekonzept
auch in den deutschen Aufklärungsdiskurs Einzug hielt, dieses aber nicht
hierarchisierend, sondern lediglich strukturierend sei, lässt diese m.E.
entscheidende Argumentation außer Acht. Das bis heute den westlichen
Gesellschaften eigene und in Aufklärungstradition selbstbewusst
angeeignete Fortschrittsmoment, welches zu weiten Teilen auf Kant zurück
geht, schreibt demgegenüber eine klare Positionierung der Hierarchien fort:
Völker, die mit dem Begriff der ›Zivilisation‹ verbunden werden, haben
bzw. sind keine ›Rasse‹ oder haben vielmehr dieses Studium überwunden,
sind dieser Stufe quasi entwachsen. Völker, die mit eben jenem Begriff
nicht verbunden werden – man vergleiche den ausschließlichen Verweis auf
die ›Gemüthsfähigkeiten‹ der zitierten afrikanischen Völker, wobei niemals
auf die ›Verstandesfähigkeit‹ verwiesen wird –, verharren gleichsam auf der
ihnen zugeschriebenen Stufe der ›Rasse‹. Die in diesem Zusammenhang
viel beschworene Verschiedenheit unter Gleichrangigen, mit der versucht
wird, das biologistische Konzept von ›Rasse‹ zu retten, verschleiert die
Position des weißen sprechenden Subjektes, welches sich aus der
Perspektive der Zuschreibungsmacht eben jener Begrifflichkeiten
(›Zivilisation‹, ›Volk‹, ›Nation‹ etc) artikuliert.
Die Überführung dieser von Kant wesentlich inspirierten Gleichung
(›Fortschritt‹ = ›Zivilisation‹ = ›Volk‹ versus ›Stagnation‹ = ›Wildheit‹/
›Ursprünglichkeit‹ = ›Rasse‹) in die westliche Geschichtswissenschaft und
die damit verbundene ultimative Einschreibung von ›Wissenschaftlichkeit‹
im Konzept ›Rasse‹ kommt wohl Hegel zu, der in seinen Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte mit ›Afrika‹[14] ein Gegenbild zur
europäischen Fortschrittsdynamik entwirft:
Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische grade, daß ihr Bewußseyn noch nicht zur
Anschauung irgend einer festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei
welcher der Mensch mit seinem Willen wäre, und darin die Anschauung seines Wesen hätte. Zu
dieser Unterscheidung seiner des Einzelnen, und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der
Afrikaner in seiner unterschiedslosen gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das
Wissen von einem absoluten Wesen, das ein Anderes, Höheres gegen das Selbst wäre, ganz fehlt.
Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen
Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem was Gefühl heißt
muß man abstrahiren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche
Anklingende in diesem Charakter zu finden.[15]
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Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der
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Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster: Waxmann 2003, S. 165-177
ANMERKUNGEN
1 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 15.
2 Zu einer Analyse dieser kaum beachteten marxistisch-leninistischen Geschichtsprogrammatik
und deren pamphletische Tendenz vgl.: Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates, S. 64-66.
3 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 11.
4 Eine solche Analyse steht immer noch aus, wäre jedoch für das Verständnis der Aufbauphase
der DDR unverzichtbar.
5 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 429-430.
6 Vgl. dazu z.B. auch: Thom: »Immanuel Kant«, S. 37.
7 Gelegentlich wird auch auf die geschichtsphilosophischen Schriften Kants [hier vor allem Idee
zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und Mutmaßlicher Anfang der
Menschengeschichte (1786)] verwiesen.
8 Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 253.
9 Vgl. hierzu: Aufklärung.
10 Wimmer versuchte in vergleichbarer Weise wie Girnus einen ›Rasse‹begriff weiterhin fruchtbar
zu halten und dessen biologistische Protagonisten Kant und Hegel damit zu rehabilitieren, indem
er in Abgrenzung von nationalsozialistischer Prägung eine positive Definition für den Begriff
Rassismus suchte zu erarbeiten und vor allem auch den Fortschritt bei Hegel betonte. Hierin
zeigt sich, dass diese biologistische Perspektive auch über fünfzig Jahre später noch
ungebrochen weiter tradiert werden kann. Vgl. Wimmer: »Rassismus und Kulturphilosophie«.
11 Vgl. Anm. 7.
12 Die Rousseauische Perspektive begründet sich ja vor allem auf die Umkehrung des Fortschritts
in der Entwicklung der Menschheit.
13 Girnus: Wer macht Geschichte?, S. 15.
14 Dass hier kein geographischer Verweis stattfindet, sondern lediglich eine Imagination
geographisch legitimiert wird, ist m.E. hinlänglich bekannt. Hegels Ausführungen zum
›geschichtslosen Kontinent‹ sollen an dieser Stelle nicht noch einmal bemüht werden, dagegen
verweise ich auf die ausführliche Analyse dazu bei Arnold Farr in diesem Band.
15 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 137.
16 Ebenda, S. 138. Hier folgt Hegel in seiner Argumentation weitestgehend Aristoteles, der bereits
in seiner Politik die naturgegebenen Bedingungen für eine anzunehmende Ungleichheit unter
den Menschen anführte und das darauf aufbauende Entwicklungsmoment, welches dem Prinzip
der Sklaverei mit eingeschrieben sei, explizit zu deren Legitimierung setzte. Vgl. Aristoteles:
Politik (hier vor allem: Pol I 2, 1252 a 30ff/ Pol I 4, 1254 a 14/ Pol I 4, 1253 b 30ff/ Pol I 3,
1252 b 20ff/ Pol I 6, 1255 a 12ff/ Pol I 13, 1260 a 11f/ Pol I 13, 1260 b 18).
17 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 140.
18 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 430.
19 Ebenda.
20 Vgl. dazu meine Anmerkungen in: Das Ding mit dem Subjekt in diesem Band.
21 Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen, S. 430.
22 Diese Verbindung wurde dann ja schließlich auch von Hegel und anderen bereitwillig
aufgriffen.
23 Hier vor allem der bereits erwähnte Wimmer: Rassismus und Kulturphilosophie.
24 Dazu Kant: »Der Mensch war für alle Klimaten und für jede Beschaffenheit des Bodens
bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche anlagen in ihm bereit
liegen, um gelegentlich entweder ausgewickelt oder zurückgehalten zu werden, damit er seinem
Platze in der Welt angemessen würde und in dem Fortgange der Zeugungen demselben
gleichsam angeboren und dafür gemacht zu sein schiene.« Vgl. Kant: Von den verschiedenen
Racen der Menschen, S. 435.
25 Ders.: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse, S. 92-99.
26 Kant macht aus seiner Geringschätzung der Empirik keinen Hehl: »Es liegt gar viel daran, den
Begriff,welchen man durch Beobachtung aufklären will, vorher selbst wohl bestimmt zu haben,
ehe man seinetwegen die Erfahrung befragt; denn man findet in ihr, was man bedarf, nur
alsdann, wenn man vorher weiß, wonach man suchen soll.« Ebenda, S. 91.
27 Hier und im Folgenden: ebenda, S. 441.
28 Ebenda, S. 94.
29 Ebenda.
30 Kant spricht von Schwindsucht und der Vererbbarkeit von ›Schwachsinn‹.
31 Kant: Anthropologische Charakteristik.
32 Ebenda, S. 311.
33 Ebenda, S. 320.
34 Auch hier zeigt sich Kants Geringschätzung der Empirik: »Die angestammten oder durch langen
Gebrauch gleichsam zur Natur gewordenen und auf sie gepfropften Maximen, welches die
Sinnesart eines Volkes ausdrücken, sind nur so viel gewagte Versuche, die Varietäten im
natürlichen Hang ganzer Völker mehr für den Geographen, empirisch, als für den Philosophen,
nach Vernunftprinzipien, zu classifizieren.« Ebenda, S. 312.
35 Damals noch ›Gemüthscharakter‹ genannt. Vgl. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen, S. 245.
36 Ebenda.
37 Vgl. zur Vorgeschichte und Einbettung dieser Kontroverse in den Physiognomischen Diskurs
der Aufklärung vor allem: Zantop: Ansichten und Angesicht.
38 Vgl. Meiners: Briefe über die Schweiz.
39 So heißt es z.B., dass »die Walliser nicht in ihre Häuser hinein gehen, sondern nach Art von
Negern, und meisten Wilden in allen Erdtheilen hinein kriechen wollen.« Ebenda, S. 197.
40 Ebenda, S. 240.
41 Vgl. Forster: Ansichten vom Niederrhein, 1791.
42 Ebenda, S. 250.
43 Ebenda, S. 362.
44 Ebenda, S. 299.
45 Ebenda, S. 232.
ARNOLD FARR
WIE WEIßSEIN SICHTBAR WIRD.
AUFKLÄRUNGSRASSISMUS UND DIE STRUKTUR
EINES RASSIFIZIERTEN BEWUSSTSEINS[1]
Das Ziel der Universalität der Philosophie zwingt sie dazu, auf Einzelheiten
der individuellen Existenz zu verzichten. Die Möglichkeit, ›Perspektive‹ in
die Philosophien einzuführen, unterminiert deren Anspruch auf den
privilegierten Blick von Nirgendwo. Es wird befürchtet, dass, sobald die
Perspektiven verschiedener gesellschaftlicher Gruppen eingeführt werden,
die Philosophie damit zu kämpfen haben wird, den Sinn unangemessener
Wahrheitsansprüche zu verstehen. Doch, wie Outlaw im Anschluss
aufzeigt, sind wir biologische Wesen, unseren biologischen und
geografischen Umständen unterworfen.
Eine der tragischen Vorstellungen westlicher Philosophie ist die, dass wir
philosophische Fragestellungen irgendwie auf eine unbeteiligte Art und
Weise angehen können. Ein zweites Problem ist die Annahme, dass, auch
wenn wir keine unbeteiligte Haltung einnehmen können, unsere Interessen
trotzdem universell bleiben. Der Philosoph/die Philosophin neigt zu der
Annahme, dass seine/ihre Interessen universell sind, ohne die biologische,
geografische, ›rassische‹, kulturelle und klassenbedingte Grundlage für
dieses Interesse genau zu untersuchen. Der Blick aus dem Nirgendwo ist
eine Unmöglichkeit, da dieser Blick durch ein Interesse motiviert ist, das in
der materiellen Welt des Philosophen gründet. Wie Charles Mills dargelegt
hat, gehören wir verschiedenen erkenntnistheoretischen Gemeinschaften an.
Diese erkenntnistheoretischen Gemeinschaften beeinflussen unsere
Interessen und bestimmen ebenfalls, welche Fragen für uns von Bedeutung
sind. Unsere erkenntnistheoretischen Gemeinschaften bieten uns auch die
Grundlage für die Auswertung dessen, was außerhalb unserer
Gemeinschaften liegt.[5]
Die Vorstellung, dass unser philosophisches Forschen innerhalb einer
bestimmten erkenntnistheoretischen Gemeinschaft beginnt, von dieser
Gemeinschaft legitimiert wird und sich durch Einsatz des theoretischen
Werkzeugs dieser Gemeinschaft entwickelt, ist keine, die bisher von
Philosophen positiv aufgenommen wurde. Die Vorstellung, dass
philosophische Prinzipien universell sind und dass die Philosophie selbst
farbenblind ist, ermöglicht es dem Weißsein der traditionellen westlichen
Philosophie, sich unsichtbar zu machen. Dieser Text setzt sich zum Ziel, das
Weißsein der Philosophie sichtbar zu machen. Es gibt viele Wege, dies zu
erreichen, obwohl es im Rahmen dieses Textes nicht möglich sein wird,
jeden davon zu erörtern oder anzuwenden. Daher werde ich mich auf die
Fallstudie von Hegel und das Weißsein des Geistes beschränken.
Der oben zitierte Absatz scheint eine Kritik religiöser Praktiken in Afrika
zu sein. Auf den Seiten, wo sich dieser Absatz befindet, schreibt Hegel über
afrikanischen Kannibalismus und andere beunruhigende/nicht-europäische
Praktiken. Obwohl manche der Praktiken, die Hegel erwähnt, jeden
›zivilisierten‹ Menschen abstoßen würden, hatten viele tatsächlich eine
religiöse Bedeutung. Auch wenn man diese Praktiken nicht gutheißen mag,
kann man aus ihnen nicht eine Verachtung der Menschheit ableiten.
Außerdem, auf welcher rationalen Grundlage kann man, betrachtet man die
schiere Brutalität des Sklavenhandels und der Institution der Sklaverei,
behaupten, dass diese dem Kannibalismus moralisch überlegen sind? Auf
welcher Grundlage kann man behaupten, dass jene mit dem Sklavenhandel
beschäftigte Europäer keine barbarische, vollkommene Verachtung für die
Menschheit hegten? Hegel schreibt weiter:
Etwas anderes Charakteristisches in der Betrachtung der Neger ist die Sclaverei. Die Neger
werden von den Europäern in die Sclaverei geführt und nach Amerika hin verkauft. Trotzdem ist
ihr Loos im eigenen Lande fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sclaverei vorhanden ist;
denn es ist die Grundlage der Sclaverei überhaupt, daß der Mensch das Bewußtseyn seiner
Freiheit noch nicht hat, und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt. Bei den Negern
sind aber die sittlichen Empfindungen vollkommen schwach, oder besser gesagt, gar nicht
vorhanden. Die Eltern verkaufen ihre Kinder, und umgekehrt ebenso diese jene, je nachdem man
einander habhaft werden kann.[15]
Die oben zitierte Textpassage ist ein klassisches Beispiel für einige der
theoretischen Manöver, die Philosophen angewandt haben, um Hegel vom
Rassismusvorwurf zu bewahren. Interessanterweise wird Hegel als
Verfechter der Gleichberechtigung dargestellt. In gewisser Weise haben
McCarney und andere Verteidiger Hegels Recht. Hegels Äußerungen
mögen nicht unbedingt offen rassistisch sein. Im Gesamtschema der Dinge
sollen versklavte AfrikanerInnen irgendwann befreit werden. Insgesamt ist
die Sklaverei nach Hegels Ansicht falsch. Doch während diese
Rettungsversuche Hegels auf einem relativ genauen Verständnis seiner
Intentionen beruhen, sind sie bezogen darauf, dass viele weiße männliche
Philosophen den Rassegedanken internalisiert haben und bezüglich der
gesellschaftlichen und historischen Realität der Opfer von Rassismus,
fehlgeleitet und viel zu vereinfacht. Außerdem ist nicht eindeutig klar, ob
Hegel nicht im altmodischen Sinne einer Überzeugung von der Doktrin der
weißen Überlegenheit ein Rassist war. Ein Schritt zur Verteidigung Hegels
ist zu betonen, dass er sich nicht einem Gedanken der biologischen
Überlegenheit einer ›Rasse‹ verschreibt, sondern dass seine Behauptungen
über Afrika sich auf die Auswirkungen geographischer Bedingungen auf
die Entwicklung von Geist oder Vernunft beziehen. Für diese Ansicht gibt
es gewisse textliche Belege. In seiner Philosophie des subjektiven Geistes
schreibt Hegel: »Der Unterschied zwischen den Menschenrassen ist noch
immer ein natürlicher Unterschied, weil er sich in erster Linie auf die
natürliche Seele bezieht. Als solcher hängt er mit den geographischen
Unterschieden jener Umgebungen zusammen, in denen sich Menschen in
großer Zahl zusammenfinden.«[17] Diese Verteidigung ist jedoch zu
vereinfacht, und Hegel ist damit nicht aus dem Schneider; hier ist es die
Geographie statt der Hautfarbe, die die menschliche Seele formt. Diese
Dichotomie wird jedoch nicht so leicht erreicht. In ihren Anmerkungen zu
diesen Vorlesungen schreiben Kehler und Griesheim:
Die Rassen sind verbunden mit und abhängig von Orten, so dass sich nicht eindeutig bestimmen
lässt, ob es einen ursprünglichen Unterschied zwischen ihnen gab. Die Frage rassischer Vielfalt
zielt auf die Rechte, die man Menschen zugestehen sollte; wenn es verschiedene Rassen gibt, wird
eine die erhabenere sein und die andere muss ihr dienen. Das Verhältnis zwischen Menschen steht
in Übereinstimmung mit ihrer Vernunft. Menschen sind was sie sind durch ihre Rationalität und
deshalb haben sie ihre Rechte, wobei weitere Vielfalt für untergeordnete Beziehungen von
Bedeutung ist. Bestimmte Vielfalt tritt überall zutage, doch solche Überlegenheit ist nur auf
bestimmte Beziehungen beschränkt, und bezieht sich nicht auf das, was Wahrheit und Würde des
Menschen ausmachen. Dies zu untersuchen ist deshalb nicht wichtig oder von wesentlichem
Interesse. Schwarzsein ist die direkte Folge des Klimas, wobei die Abkömmlinge der Portugiesen
so schwarz sind wie die schwarzen Ureinwohner (eingeborenen Neger), jedoch auch durch
Mischung. Keine Hautfarbe ist überlegen, es ist nur eine Frage der Gewöhnung, jedoch kann man
von der objektiven Überlegenheit der Hautfarbe der weißen Rasse gegenüber der des Schwarzen
(Negers) sprechen.[18]
Das obige Zitat ist ein bemerkenswertes Zeugnis von Hegels Überzeugung
von der Überlegenheit einer ›Rasse‹ gegenüber einer anderen. Hegel
legitimiert die Misshandlung so genannter weniger entwickelter Völker.
Entwickelte Nationen – die mit Ausnahme von Amerika zufällig Europäer
sind – sind durch ihren überlegenen Status berechtigt, andere zu versklaven.
In den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist der Staat die
Manifestation des Geistes oder Gottes auf Erden.
Hegels Geschichtsphilosophie macht deutlich, dass sich der Geist in
weißen Völkern verwirklicht hat. Als Träger des Geistes sind weiße
Menschen europäischer Herkunft ganz Mensch und mit der Aufgabe
betraut, den Rest der Welt zu humanisieren. Merkwürdig ist dabei, dass
diese Humanisierung der übrigen Welt durch so unmenschliche
Maßnahmen wie die Sklaverei geschehen kann. Doch eine solche Ansicht
ist unter Denkern wie Kant und Hegel nichts Ungewöhnliches. Es gibt eine
Reihe von Problemen, auf die ich hinweisen möchte. Erstens stellen Hegels
Verteidiger niemals seine Thesen zu Rationalität, Geschichte oder Kultur in
Frage. Hegels Sicht der Weltgeschichte beginnt mit problematischen
Behauptungen und ist von fragwürdigen europäischen Werten geleitet. Wie
Bernasconi betont, war Hegels Sichtweise nicht die einzig mögliche.
Tatsächlich wurden die offen rassistischen Ansichten sowohl Hegels als
auch Kants von einigen ihrer Zeitgenossen in Frage gestellt. Zweitens
stellen Hegels Verteidiger niemals den Zusammenhang zwischen Hegels
Denken über ›Rasse‹ und Afrika und den undenkbaren Erfahrungen von
AfrikanerInnen her, die Opfer des transatlantischen Sklavenhandels wurden.
Sie haben die entmenschlichenden Auswirkungen der Sklaverei und
rassistischer Diskriminierung niemals ernst genommen. Sie berücksichtigen
niemals die Langzeitfolgen von Rassismus und rassistischen
Gesellschaftsstrukturen.
In ihrem Eifer, Hegel zu verteidigen, versuchen seine Ausleger zu
verbergen, wie sich ihr Weißsein auf ihren philosophischen Ansatz
auswirkt. Ihr (bewusstes oder unbewusstes) Ziel ist es, Weißsein unsichtbar
zu machen. Das heißt, in der Philosophie gibt es keine weiße Perspektive,
sondern nur den universellen, unparteiischen, unbeteiligten Blick von
Nirgendwo. Doch für jene, die Opfer von Rassismus und seinen
Langzeitfolgen wurden und sind, ist das Weißsein dieser Ausleger ziemlich
sichtbar. Weißsein wird gerade dadurch sichtbar, dass eine ernsthafte
Berücksichtigung des Problems der ›Rasse‹ in der Philosophie fehlt.
Mills will damit sagen, dass die Position, die man im Leben innehat,
bestimmt, welche Fragen wichtig sind. Die Fragen, die im Allgemeinen von
Philosophen gestellt werden, spiegeln einen gewissen Grad an
gesellschaftlicher Absicherung und die Abwesenheit der unmittelbaren
Bedrohung durch Entmenschlichung wider. Mills und viele Feministinnen
argumentieren, dass wir in bestimmte erkenntnistheoretische
Gemeinschaften hineingeboren werden. Das heißt, dass der kulturelle und
gesellschaftliche Kontext, in den wir hineingeboren werden, bereits von
einem Erfahrungshintergrund geprägt ist, einem bestimmten
Selbstverständnis, einem Netz von Bedeutungen, Erwartungen, Interessen
und Anliegen. Dieser Kontext gibt uns eine bestimmte Fragelaufbahn vor,
die durch unsere Gemeinschaft legitimiert wird.
Die Annahme, dass Philosophen eine farbenblinde Erforschung der
conditio humana unternehmen können, kann nur durch ein Ignorieren der
conditio humana verständlich gemacht werden. Der fragende Blick des
Philosophen muss sich auf den Philosophen selbst richten und untersuchen,
wie unsere Fragen durch unseren gesellschaftlichen Standort bestimmt
werden. Dieser gesellschaftliche Standort wirkt sich auf den Prozess aus,
der uns manche Fragen in unsere philosophische Forschung aufnehmen
lässt, während wir andere ausschließen. Größtenteils haben es weiße
Philosophen versäumt, sich dem fragenden Blick zu unterwerfen, den sie
auf andere gerichtet haben. Dieses Versäumnis, die eigene Frageperspektive
und wie diese Perspektive in Bezug zu anderen steht, zu untersuchen, macht
Weißsein nicht unsichtbar, sondern offenbart die Blindheit des Philosophen.
Die Erfahrung der AfroamerikanerInnen als Opfer der color line bringt
uns in eine gesellschaftlichen Position, die sich von der weißer
PhilosophInnen unterscheidet. Weiße PhilosophInnen haben das Privileg,
sich selbst als Menschen und nicht als rassifizierte Wesen oder als rassische
Kategorie zu erfahren. Sie werden nicht tagtäglich an ihre rassische
Identität erinnert. Die weißen PhilosophInnen sind nicht gezwungen,
aufgrund ihrer ›Rasse‹ ihr Menschsein in Frage zu stellen. Diese Privilegien
erlauben ihnen zu glauben, dass ihre Fragen und Anliegen in keinem
Zusammenhang mit ihren Positionen als rassifizierte Wesen stehen. Wir
sind hier in einen Kreislauf geraten. Der Luxus, sich selbst als Menschen
und nicht als rassifiziertes Wesen zu etablieren, ist von Anfang an das
Ergebnis von Rassifizierung. Das Weißsein der Philosophie wird insofern
sichtbar, dass die conditio humana in Amerika dadurch bestimmt ist, dass
Schwarzen Philosophen dieser Luxus nicht erlaubt ist. Es liegt also auf der
Hand, dass es einen bestimmten Aspekt der conditio humana gibt, den die
traditionelle Philosophie ausgespart hat.
Das Bedürfnis, universelle Behauptungen zur conditio humana
aufzustellen, hat auf zwei Arten rassifiziertes Bewusstsein produziert und
unterstützt. Erstens haben PhilosophInnen europäischer Herkunft zu schnell
die gesamte Menschheit auf ihren theoretischen Rahmen reduziert, ohne
diesen Rahmen zunächst ernsthaft in Frage zu stellen. Diese Philosophen
und Philosophinnen entwickeln ihre ›universellen‹ Prinzipien im
Selbstgespräch und gehen dann davon aus, dass solche Prinzipien oder
Werte angemessen sind, um die Erfahrung nicht-europäischer Völker zu
beschreiben. Wie bei Hegel entspricht der Grad, in dem nicht-europäische
Völker den EuropäerInnen ihre europäischen Werte und Seinsformen nicht
widerspiegeln, dem Grad, in dem sie als untermenschlich betrachtet
werden. Zweitens arbeiten zeitgenössische PhilosophInnen europäischer
Herkunft weiterhin in einem theoretischen Rahmen, der niemals ernsthaft
von nicht-europäischen PhilosophInnen geprüft wurde.
Der Unterschied zwischen historischen Figuren wie Kant und Hegel und
zeitgenössischen PhilosophInnen europäischer Herkunft ist, dass Kant und
Hegel versuchten, ›Rasse‹ in ihre philosophischen Systeme einzubinden,
indem sie eine Rassenhierarchie konstruierten, in der AfrikanerInnen und
ihre Nachkommen auf der untersten Stufe platziert wurden. Zeitgenössische
PhilosophInnen europäischer/angelsächsischer Herkunft versuchen ›Rasse‹
aus ihren philosophischen Systemen auszuklammern und begründen das mit
ihrer Irrelevanz. Das Problem ist jedoch, dass die Jahrhunderte lange
Unterwerfung nicht-europäischer Völker durch weiße Männer eine
Situation entstehen ließ, in der bedeutende Ungleichheiten zwischen
Weißen und AfrikanerInnen geschaffen wurden. Diese gesellschaftliche
Realität hat Auswirkungen auf die Lebensaussichten der benachteiligten
gesellschaftlichen Gruppe. Die Aufgabe für die afrikanische Philosophie ist
es nun, dem vorzeitigen Abschluss der europäischen/angelsächsischen
philosophischen Systeme zu trotzen. Der theoretische Rahmen
europäischer/angelsächsischer Philosophie hat Weißen Vorteile beschert,
während die Kämpfe von Menschen afrikanischer Herkunft ignoriert
wurden. Daher verkörpert die Philosophie ein gewisses Maß an Weißsein,
das hinterfragt werden muss. Europäische DenkInnen der Aufklärung
definierten sich und ihren Ort in der Geschichte vor dem Hintergrund von
Schwarzsein, eine afrikanistische Präsenz. Die Konstruktion von Weißsein
war das unbewusste Ergebnis der Konstruktion von Schwarzsein und seiner
angeblichen negativen Eigenschaften.
Eine Kritik von Weißsein an sich und am Weißsein der Philosophie
impliziert nicht, dass die Fragen, die weiße Philosophen und
Philosophinnen aufwerfen, nicht legitim oder wichtig sind. Es wäre ein
großer Fehler, wenn die afrikanische Philosophie versuche würde, die
traditionelle Philosophie außer Gefecht zu setzen. Die Fragen, die Platon,
Aristoteles, Kant, Hegel, Descartes, Quine und andere gestellt haben, sind
sehr wichtige Fragen. Wenn jedoch das Forschungsobjekt der
PhilosophInnen die conditio humana ist, muss die Forschung
berücksichtigen, dass wir als rassifizierte Wesen angelegt sind und dass die
Zugehörigkeit zu einer ›Rasse‹ Auswirkungen darauf hat, welche
Möglichkeiten wir haben und wie sich unser Selbstbewusstsein entwickelt.
Vor uns liegt die Aufgabe, philosophische Theorien wirklich universell und
allumfassend zu machen, indem wir berücksichtigen, wo wir als
PhilosophInnen verortet sind. Der Diskurs, den wir Philosophie nennen,
darf sich nicht auf einen einzigen Ort beschränken, sondern muss
ausgedehnt werden, um allen Orten Rechnung zu tragen.
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ANMERKUNGEN
1 Der Beitrag erschien zuerst in: Yancy, George (Hrsg.): What White Looke like. African-
American Philosophers on the Whiteness Question. New York & London: Routledge, 2004, S.
143-158.
2 In ihrem Buch Im Dunkeln Spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination untersucht Toni
Morrison wie weiße Identität im amerikanischen Roman vor dem Hintergrund einer
unsichtbaren afrikanistischen Präsenz konstruiert wird. Schwarzsein wird unsichtbar gemacht,
mit dem Ziel, den weißen Helden des Romans sichtbar zu machen. Allerdings definiert sich der
weiße Held nicht als weiß, sondern als Mensch. Der Sieg des weißen Helden ist der Sieg der
Menschheit. Damit ist auch Weißsein unsichtbar. Morrison und Mills decken den Schwarzen
Hintergrund auf, vor dem weiße Identität konstruiert wird. Ich behaupte, dass mit dem
Sichtbarwerden von Schwarzsein auch die weiße Identität zum Vorschein kommt, die auf seinem
Rücken konstruiert wurde.
3 Mein Versuch, einen Sprachgebrauch zu konstruieren, um über Rassismus zu sprechen und
gleichzeitig die Fallen des Begriffs ›Rassismus‹ zu meiden, wurde von Joel Kovel und Iris M.
Young inspiriert. In ihrem Buch Justice and the Politics of Difference untersucht Young die
Rolle des Körpers in der Herausbildung gesellschaftlicher Gruppen, deren Schikanierung und
Unterdrückung. So wendet Kovels drei Formen von Rassismus auf das Problem der ›Rasse‹ an.
In seinem Buch White Racism argumentiert Kovel, dass es drei Formen von Rassismus gibt. Bei
dominierendem Rassismus wird direkte Herrschaft ausgeübt. Hier ist das Opfer nicht einmal im
Besitz von oder hat die Kontrolle über den eigenen Körper. Aversiver Rassismus manifestiert
sich in der Vermeidung der verhassten ›Rasse‹. Metarassismus ist eine unbewusste Form von
Rassismus. Der/die Metarassist/in hat sich nicht mehr der Ansicht verschrieben, dass seine/ihre
›Rasse‹ anderen überlegen ist. Jedoch ist dem/der Metarassist/in nicht bewusst, wie struktureller
Rassismus tagtäglich seine/ihre Entscheidungen und Interaktionen prägt. Zum Beispiel ist vielen
wohlmeinenden Weißen nicht bewusst, wie sie von ihrem Weißsein profitieren. Sie behaupten
schnell mal, dass wir durch die Illegalisierung und starke Reduzierung von dominierendem und
aversivem Rassismus heute in einer farbenblinden Gesellschaft leben.
4 Outlaw: On Race and Philosophy, S. 9.
5 Man kann weiße männliche westliche Philosophie auch als eine Art Narrativ über Wahrheit,
Vernunft, Menschheit und so weiter betrachten, das alle Personen assimiliert, ohne mit den
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die darin vertreten sind, ernsthaft ins Gespräch zu
kommen. Mensch werden durch ein Herrennarrativ definiert, das Personen entsprechend der
rationalen Sicht des Herren verortet. In ihrem Buch Maternal Ethics and Other Slave Moralities
schreibt Cynthia Willett: »Eine der Hauptzielscheiben der postmodernen Kritik ist das, was
Lyotard als die Herrennarrative der Aufklärung und der europäischen Philosophie des
neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet. Hinter diesen Narrativen steckt die narzisstische
Annahme, dass die eigenen Standards für den ›Fortschritt der Menschheit‹ für die Interpretation
anderer Kulturen angemessen sind. Diese Haltung führt zu der Wahrnehmung von Nicht-
EuropäerInnen als Kinder und/oder untermenschliche Bestien, denen es an der nötigen
Rationalität oder der moralischen Entwicklung fehlt, um als selbständige reife Personen zu
gelten« (S. 97).
6 Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, S. 481.
7 Kant: »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, S. 253.
8 Nisbet: History of the Idea of Progress, S. 276.
9 Bernasconi & Lott: The Idea of Race, S. ix.
10 In mehreren Artikeln untersucht Robert Bernasconi sehr detailliert Hegels Verortung
verschiedener Völker in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Ich bin Professor
Bernasconi sehr dankbar dafür, mir diese Artikel zur Verfügung gestellt zu haben. Siehe
Bernasconi: »Hegel at the Court of the Ashanti«; »With What Must the Philosophy of World
History Begin?«; »With What Must the History of Philosophy Begin?«; »Krimskrams«.
11 Der Kampf zwischen Geist oder Verstand und Natur ist von Anfang an ein problematisches
weißes männliches Konstrukt, das nur zur Rechtfertigung von Rassismus und Sexismus benutzt
wurde. Vgl. Willett: Maternal Ethics and Other Slave Moralities.
12 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 137. Hervorhebung vom Verfasser.
13 Die Tatsache, dass Hegels Ansichten mit der weitverbreiteten Auffassung seiner Zeit im
Einklang sind, stellt keinesfalls ein Argument dafür dar, dass Hegel davonkommen sollte, weil
er ein Produkt seiner Zeit ist. Es gab auch Gegner der rassistischen Ansichten Hegels. Hegels
Hauptgegner war Alexander von Humboldt. Kants Hauptgegner war sein ehemaliger Schüler
Johann Gottfried von Herder. Festzuhalten ist auch, dass Humes Rassismus von seinem
Gesprächspartner James Beatte angefochten wurde.
14 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 139-140.
15 Ebenda, S. 140.
16 McCarney: Hegel on History, S. 144-145. Für ähnliche Strategien unter Berufung auf die
Nutzung kultureller Unterschiede siehe Kapitel 1 von: Houlgates Freedom, Truth and History.
Vgl. auch: Walsh: »Principle and Prejudice in Hegel’s Philosophy of History«.
17 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. Vol. 2, hrsg. und
übers. von M. J. Petry. Dordrecht: D. Reidel Publishing Company, 1978, S. 47-48, übersetzt
nach: Arnold Farr: »Whiteness Visible: Enlightenment Racism and the Structures of Racialized
Consciousness.« In: George Yancy (Hrsg.): What White Looks Like: African-American
Philosophers on the Whiteness Question. New York & London: Routledge, 2004.
18 Ebenda, S. 152.
19 Bernasconi: »With What Must the Philosophy of World History Begin?«, S. 189.
20 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 451.
21 Mills: Blackness Visible, S. 8.
MAUREEN MAISHA EGGERS
RASSIFIZIERTE MACHTDIFFERENZ[1] ALS
DEUTUNGSPERSPEKTIVE IN DER KRITISCHEN
WEIßSEINSFORSCHUNG IN DEUTSCHLAND.
Mills Definition vom ›Racial Contract‹ lässt sich besser unter Hinzuziehung
seiner Kritik an Kants Konzept der moralischen Erziehbarkeit der
verschiedenen ›Menschenrassen‹ verstehen. Die in Kants Arbeiten
aufgeführte Kategorisierung weiße und ›nicht-weiße‹ Menschen
(Markierungspraxis), die Feststellung der ›Andersheit‹ von rassistisch
markierten Menschen (Differenzierungspraxis), die Festlegung der
Minderwertigkeit ihres moralischen Status’ (hierarchische Positionierung)
und schließlich ihr Ausschluss aus dem zivilpolitischen Regulationssystem,
das für Weiße gültig ist – etwa durch ihre Versklavung oder
Kolonialisierung (Ausschlusspraxis), lassen sich wie folgt konkretisieren:
Kant demarkiert und theoretisiert eine farbkodierte, rassifiziert geprägte
Hierarchie. Gegenstand seines Konzepts sind die von ihm eingeschätzten
differentiellen Kapazitäten zur moralischen Erziehbarkeit verschiedener
menschlichen ›Rassen‹. Mills bezieht sich hierbei auf Kants Aufsatz Von
den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) und in Anlehnung an
Emmanuel Eze auch auf die Verbindung zu den beiden Disziplinen der
Anthropologie und der physischen Geographie, welche Kant vierzig Jahre
lang begleitend unterricht hat. Eze und Mills kommen beide zu dem
Schluss, dass für Kant Full Personhood von der Zugehörigkeit des
jeweiligen ›Subjekts‹ zu einer rassifizierten Kategorie abhängig war.[10]
Als Differenzierungsmerkmal nennt Kant »das Talent zur Rationalität«.
Ausgehend von der seiner Ansicht nach am höchsten gestellten weißen
›Rasse‹ (Europäer) begründet er ein Rationalitätskonzept, nach dem Weiße
auf natürliche Weise in der Lage seien, sich selbst zu einer hohen Moral zu
erziehen. Er geht von der Annahme einer weißen moralischen
Überlegenheit aus. In seiner Hierarchie folgt darauf die ›gelbe Rasse‹
(Asiaten), die auch zur Rationalität fähig sei, jedoch laut Kant nicht in der
Lage sei, abstrakte Konzepte zu begreifen. Zu der ›schwarzen Rasse‹ mit
ihrer »angeborenen Faulheit« weiß Kant zu sagen, dass sie immerhin soweit
moralisch erzogen werden könne, um als Sklaven und Dienstboten von
Nutzen zu sein – und zwar mit Hilfe eines gespaltenen Bambus-
Schlagstocks. Der Königsberger Philosoph bietet sogar einige Ratschläge
an, wie man Schwarze effektiv schlagen kann, wenn man das Hindernis
ihrer angeborenen »dicken Haut« berücksichtigt. Die von Kant als ›rote
Rasse‹ bezeichnete indigene Bevölkerung Amerikas (First Nations People
of Americas) sei überhaupt nicht erziehbar und somit praktisch »wertlos für
die Zivilisation«.
Kant hatte offensichtlich ohnehin eine sehr eingeengte Konzeption
davon, von welcher Art Individuen erwartet werden könne, dass sie die
Reife und Autonomie eines politischen Urteils erlangen. Seine Vorstellung
schloss einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus. Weiße Frauen
betrachtete Kant als passive Bürgerinnen, die einen Mangel an ziviler
Persönlichkeit aufweisen, (weißen) Männern ungleich und abhängig von
dem Willen ›Anderer‹ seien. Frauen aus den Gruppen der rassistisch
markierten ›Anderen‹ waren offensichtlich nicht einmal einer Erwähnung
wert.[11]
In Bezug auf Kant und den Wissenschaftsglauben der Aufklärung
können die vier Rassifizierungsebenen am Begriff der ›Vernunft‹
folgendermaßen exemplarisch veranschaulicht werden. Kant setzt
›Vernunft‹ als exklusives Konzept fest. Davon teilweise ausgeschlossen
sind weiße Frauen. Sie werden dennoch innerhalb des weißen Kollektivs
angesiedelt und somit über die konstruierten, rassistisch markierten
›Anderen‹ gesetzt.
Kant markiert die ›anderen Subjekte‹ über phantasierte Eigenschaften.
Im Sinne einer rassifizierten Naturalisierungspraxis werden sowohl die
Eigenschaften des hegemonialen weißen Subjekts (natürliche Begabung zur
Vernunft) als auch die des subalternen Subjekts (angeborene Dienstbarkeit,
angeborene »dicke Haut«) festgelegt und verabsolutiert.
Bezogen auf die Praxis der komplementären hierarchischen
Positionierung sind meines Erachtens zwei Schritte von Interesse. Erstens
ist die lineare Abfolge klar festgelegt (weißer Mann, weiße Frau und dann
die rassistisch markierten ›Anderen‹ Männer und Frauen; Asiatische
Andere; Schwarze Andere und Indigene Amerikanische Menschen als
wertlos, weil „nicht erziehbar“ am Ende der Skala). Da aber nicht nur der
Akt der Hierarchisierung für meine Argumentationslinie wichtig ist,
sondern auch der Aspekt der Komplementarität, ist von Interesse, wie Kant
diese herstellt – nämlich über die (symbolische) Einteilung, wer
»erziehungsbefugt« ist. Kant gibt ›Anweisungen‹ dafür, wie man (also
Weiße) Schwarze Menschen mit Hilfe von Schlägen zu Dienstboten
erziehen kann. Es ist meines Erachtens offenkundig, dass er Schwarze auf
naturalisierte Weise zum Dienst an Weißen in einer symbolischen
Beziehung vorsieht und auch symbolisch positioniert.
Im Sinne des letzten Moments der rassifizierten Ausschluss- oder
Ausgrenzungspraxen funktioniert Kants Anweisung nicht nur als eine
›Empfehlung‹, sondern auch epistemologisch als ›wissenschaftliche‹
Begründung rassenideologischer Differenz und trägt wesentlich zur
Grundlage moderner Rassifizierung bei. Es ist impliziert, dass Schwarze
oder Indigene AmerikanerInnen (First Nations People of Americas) sich
nicht selbst regieren können, weiße Frauen keine vollständige Teilhabe an
der Regierung zusteht, und im Verhältnis zwischen Weißen und asiatisch
markierten ›Anderen‹ sollten Letztere, wenn es darauf ankommt, sich
Weißen unterordnen – oder zumindest der weißen Vernunft und Moral.
Oroonoko ist also in Behns Vorstellung eine Ausnahme, ein durch und
durch ›untypischer Afrikaner‹. Oroonoko gilt als akzeptabel, weil Behn ihn
entlang einer weißen ästhetischen Differenzphantasie (ebenholzfarben, mit
schneeweißen Zähnen und aufsteigender römischer Nase) markiert.
Die in der Erzählung implizierte Gesellschaftskritik scheint sich eher auf
das gewalttätige Verhalten der ›Sklavenhalter(Innen)‹ zu beziehen und
keinesfalls grundsätzlich auf das weiße hegemoniale und imperialistische
System, welches die ›Haltung von Sklavinnen und Sklaven‹ ermöglicht und
sichert. Weißsein wird als humanistisch (in Behns Verständnis für und
Empathie mit Oroonoko und in der Empörung des weißen Publikums über
den dramatischen Ausgang der Erzählung) und wissend (indem Behn
Oroonoko berät und dann als Erzählerin seine ›Sicht‹ dem weißen Publikum
näher bringt) stilisiert. Die Phantasie der weißen Autorin ist dafür die
alleinige Grundlage. Eine fiktive Wahrnehmung fungiert als ›Wissen‹ über
Schwarze Menschen.
Die Verbreitung von phantasiertem ›Wissen‹ als Basis für die Erzeugung
rassistischen Wissens erweist sich als ein äußerst lukratives Geschäft (nicht
zuletzt aufgrund kolonialer Eroberungen). »Oroonoko became one of the
most internationally popular stories of the eighteenth century […] a
prototype for a vast literature depicting noble african slaves.«[17] Das
Stück wurde von Thomas Southerne unmittelbar nach der Publikation 1678
dramatisiert. Die Folgen dieses Theaterstücks waren tiefgreifend. Oroonoko
hat die Theaterlandschaft Londons nachhaltig geprägt. Seit der ersten
Aufführung wurde es zu jeder Saison fast ein Jahrhundert lang aufgeführt.
Mit dem Konzept des rassistischen Wissens soll die Frage beantworten
werden, wie Machtsysteme mit Wissenssystemen verschränkt werden, um
legitimierte, abgesicherte Wissenskomplexe zu erzeugen und einen
rassifizierten gesellschaftlichen, einen weißen Konsens zu etablieren. Mark
Terkessidis beschreibt rassistisches Wissen als gesellschaftlich geteilte
Wissensbestände, in denen eine bestimmte institutionelle Ordnung
erkennbar wird. Als Basis des rassistischen Wissens definiert er Prozesse
der Objektbildung und der Vermittlung von Inhalten über diese
rassifizierten Objekte.[19] Der Informationsgehalt von rassistischem
Wissen scheint sich weitgehend (im Endergebnis) in der Reproduktion eines
hierarchischen komplementären Verhältnisses zu erschöpfen. Die
Herstellung dieser rassifizierten Ordnung wirkt dennoch integrativ. Wie
Daniela Marx feststellt, erkaufen sich weiße SprecherInnen ein durch die
Zustimmung zu und Beteiligung an der Produktion rassistisches Wissens
›Ticket in den Mainstream‹.
Die Anschlussfähigkeit rassifizierter Diskursformationen kann über die
Einhaltung der vier Rassifizierungsebenen beschrieben werden. Wenn
diskursive Inhalte oder Komplexe eine rassifizierte Markierungspraxis, eine
rassifizierte Differenzierungspraxis, eine rassifizierte hierarchische
Positionierungspraxis und eine rassifizierte Ausschluss- oder
Ausgrenzungspraxis aufweisen, dann kann davon ausgegangen werden,
dass sie an den Komplex rassistisches Wissen ›anschlussfähig‹ sind.
Die in der deutschen Sprachkultur weit verbreitete Verwendung des
Ausdrucks ›getürkt‹ oder der Redewendung ›etwas sei getürkt‹ wirkt in
erster Linie als eine rassistische Markierung. Subjekte mit einem türkischen
Hintergrund werden auf implizite Weise als ›unehrlich‹ oder ›schlitzohrig‹
konstruiert (rassifizierte Differenzierungspraxis). Implizit gilt die
unbenannte weiße Kategorie als ehrlich (und somit ›besser-als‹; rassifizierte
hierarchische Positionierungspraxis). Weißsein inszeniert sich als ›ehrlich‹
in Abhängigkeit zu der negativen Positionierung einer rassistisch
markierten Kategorie (Komplementarität). Die Ausgrenzungspraxis kann in
dem implizierten Ausschluss (türkischer Subjekte) aus dem Kollektiv der
›vertrauenswürdigen, ehrlichen (HändlerInnen)‹ verortet werden.
Möglicherweise kann das Folgen für alltägliche Handlungsbeziehungen
haben, etwa dadurch, dass suggeriert wird, dass man sich (in Geschäften)
vorsehen müsse. Die damit verbundene Wissensvermittlung, was ›türken‹
genau bedeutet, welches Wissen dieses über eine ganze Nation bzw. über
einen wesentlichen Teil der damit angesprochenen Gruppe zusammenfasst,
begründet die Anschlussfähigkeit zum Komplex des ›rassistischen Wissen‹.
Die Feststellung von Gloria von Thurn und Taxis in der Sendung
Vorsicht Friedmann hinsichtlich der AIDS-Prävention in afrikanischen
Ländern, man wisse »der Neger schnackselt gerne«, erfüllt nicht nur die
Funktion der Anschlussfähigkeit, sondern auch die der Zentrierung eines
weißen Kollektivs. Vom Bedeutungsgehalt her kann die Aussage kaum als
inhaltlich schwerwiegend bezeichnet werden. Sie ist dennoch zu einer viel
(wenn auch ironisch) zitierten und diskursiv verbreiteten Information in
Deutschland geworden.
In dem Artikel »Botschafter des Genusses« wird über einen
gemeinsamen Besuch Alfred Bioleks und Barbara Beckers in Addis Abeba
und Nairobi berichtet.[20] Beide nahmen in November 2003 an einem
Projekt zur AIDS-Prävention teil, eine Aufklärungsaktion der Stiftung
gegen AIDS und Weltüberbevölkerung. Dazu lautete Bioleks Stellungnahme
»Obwohl die Menschen dort inzwischen ja nicht mehr im Stamm leben,
sondern im Slum, verbieten alte Rituale ihnen immer noch, über Sexualität
zu reden. […]) Wir versuchen vor allem, die 14- bis 15-Jährigen
anzusprechen, bei denen man noch etwas machen kann.«[21] Biolek spricht
als weißer ›Wissender‹ über die Schwarze Bevölkerungen Äthiopiens und
Kenias. Die humanistische Verpackung entpuppt sich als eine weiße
Positionierung, die zeitgenössische afrikanische Lebensarten mittels
kulturalistischer Argumentationen als statisch und somit rückständig
definiert. Zwar wohnen ›die‹ nicht mehr im ›Stamm‹, aber die ›Slums‹ sind
der neue rückständige Lebenszusammenhang Schwarzer Gesellschaften in
afrikanischen Staaten.
Beide diskursive Positionen informieren die weiße deutsche
Bevölkerung über bereits bekannte rassistische Markierungen. Bewertungen
von Schwarzer Sexualität, Bilder sexueller Triebhaftigkeit und Devianz
werden mit implizierter weißer Kontrolle komplementar verbunden
(Überbevölkerungsargument). Die angenommene Differenz (alte Rituale)
wird artikuliert. Die hierarchische Positionierung wird in beiden Positionen
durch die Konstruktion der weißen Wissenden (deutlicher bei Biolek)
suggeriert. Der restliche Teil der Bevölkerung über 15 Jahren wird implizit
als ›verloren‹ (Auschluss) konstruiert – im Gegensatz zu den aufgeklärten
Weißen.
Durch die Beteiligung an rassifizierten Diskursen und der damit
zusammenhängenden Aktualisierung rassistischen Wissens entsteht eine
Verbindung zwischen weißen Sprechenden, die üblicherweise kaum
zusammengedacht worden wären. Gloria von Thurn und Taxis galt lange
Zeit als ein Schreckensgespenst ähnlich wie die Herausgeberin der
Zeitschrift EMMA, Alice Schwarzer.[22] Alfred Biolek firmierte lange als
eine progressiv denkende öffentliche Stimme. Durch die Rassifizierung
ihrer einzelnen Beiträge verbinden sich weiße Diskurspositionen zu einem
Diskursgeflecht und aktualisieren somit einen weißen hegemonialen
Konsens.
Ein Beispiel für die integrative Struktur des rassifizierten Otherings und für
die Aktualisierungsfunktion weißer Beiträge in der (weißen) deutschen
Medienlandschaft ist eine Überschrift auf der Titelseite des Satiremagazins
Titanic zum Thema »Wahl des Bundespräsidenten 2003«. Unter einem Bild
des Schwarzen Entertainers Roberto Blanco ist zu lesen: »Bundespräsident
Blanco: Warum nicht mal ein Neger? Muss es denn immer ein Mann oder
eine Frau sein?« In einer Anzeige zu dieser Titanic-Ausgabe in der taz – die
tageszeitung wird dann unter anderem auf die Größe des Geschlechtsteils
von Herrn Blanco Bezug genommen.[23] Darin steht: »9 Zentimeter sind zu
kurz! Deshalb wird auch nicht Kai Diekmann Bundespräsident, sondern
unser potenter Neger: Roberto Blanco.«
Das Schwarze (männliche) Subjekt wird gewissermaßen einer dritten
›Genderkategorie‹ zugeordnet und somit markiert. Er ist also weder Mann
noch Frau – seine Geschlechtskategorie heißt ›Neger‹. Zur Natur seiner
Gruppe gehört offenbar ein großes Geschlechtsteil, auf jeden Fall ein
größeres als das eines weißen deutschen Mannes (in diesem Fall Kai
Dieckmanns). Darin besteht die Differenzierungspraxis. Implizit lautet die
Aussage weiter: ›andere N…‹ sind ebenfalls weder Mann noch Frau,
sondern ›Etwas‹ anderes. Darin besteht sowohl eine negative
Hierarchisierung und ein Ausschluss aus der Subjektposition weißer
Männer und Frauen.
Ironie wird als Brücke funktionalisiert, um Anschluss an rassifizierte
Diskurse und an der Produktion von rassistischem Wissen zu finden. Eine
(weiße) Satire-Zeitschrift, die sich als ›links‹ versteht, integriert sich in
einen weißen kollektiven Diskurskonsens durch eine scheinbare
Ironisierung, aber gleichzeitige Tradierung rassifizierter Vorstellungen und
Konstruktionen. Die ›erlaubte‹ Vermittlung diskursiver rassifizierter
Differenzbotschaften wird von ihrem ›linken‹ Standpunkt aus durch Ironie
legitimiert. Vor diesem Hintergrund können die rassistischen
Formulierungen sogar penetranter ausfallen als sich das bürgerliche Medien
erlauben würden.
Ein weiteres Beispiel für den integrativen Charakter der Aktivierung
rassifizierter weißer Diskurspositionen ist die öffentliche
Auseinandersetzung mit dem Fall des Vize-Polizeipräsidenten Hessens,
Wolfgang Daschner. Ihm wurde vorgeworfen, am 1. Oktober 2002 Markus
Gäfgen, den Entführer und Mörder des elfjährigen Frankfurter
Bankierssohns Jakob von Metzler, mit Folter gedroht zu haben. Daschner
wollte auf diese Weise den Täter dazu zwingen, das Versteck seines Opfers
zu enthüllen. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Ermittler davon aus, dass der
entführte Junge noch lebte. Daschner soll am Morgen des 1. Oktober 2002
den Hauptkommissar Ortwin E. angewiesen haben, den Jurastudenten
Gäfgen, der zu dieser Zeit als Hauptverdächtiger der Entführung Jakob von
Metzlers galt, zu bedrohen, wenn er nicht aussage, wo der Junge sei.
Das Verfahren gegen Daschner sowie eines weiteren ausführenden
Beamten hat eine bundesweite Diskussion entfacht, ob Folter unter
bestimmten Bedingungen erlaubt sein kann bzw. erlaubt werden dürfe. Vor
dem Frankfurter Landgericht sagte der 29-Jährige Markus Gäfgen, begleitet
von seinem Verteidiger Ulrich Endres als Rechtsbeistand, mit ruhiger
Stimme und in konzentrierten Formulierungen aus. Der ihm unbekannte
Kriminalbeamte E. habe ihm am frühen Morgen des 1. Oktober 2002
erklärt:
Bei weiterer Verweigerung von Angaben würden ihm Schmerzen zugefügt, wie er sie noch nie
erlebt habe. […] Der Beamte sei herangerückt und habe in drastischsten Formulierungen von
sexuellem Missbrauch durch ›Neger‹ in einer Zelle gesprochen. Schließlich habe ihn der
Kriminalbeamte, der jetzt auf der Anklagebank sitze, geschüttelt und auf den Brustkorb
geschlagen.[24]
BIBLIOGRAFIE
Ahmed, Sara: Strange Encounters – Embodied Others in Post-Coloniality. London: Routledge, 2000
Biolek, Alfred: »Botschafter des Genusses.« In: Deutsche Bundesbahn mobil – Was uns bewegt
12/2003
ECRI, Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz: 3. Deutschland-Länderbericht.
Straßbourg: Europäisches Parlament, Juni 2004
Eggers, Maureen Maisha: Rassifizierung und kindliches Machtempfinden. Wie schwarze und weiße
Kinder rassifizierte Machtdifferenz verhandeln auf der Ebene von Identität. Unveröffentlichte
Dissertation an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel, Juli 2005
Marx, Daniela: »Vom ›feministischen Schreckgespenst‹ zur gefragten Expertin. Alice Schwarzers
Islamismuskritik als Eintrittskarte in die Welt der Mainstream-Medien.« Unveröffentlichter
Aufsatz, Berlin 2005
Melbers, Henning: Der Weißheit letzter Schluss. Rassimus und kolonialer Blick. Frankfurt/M.:
Brandes & Apsel, 1992
Mills, Charles W.: Blackness Visible. Essays on Philosophy and Race. Ithaca: Cornell University
Press, 1998
The Racial Contract. Ithaca: Cornell University Press, 1999
Terkessidis, Mark: Psychologie des Rassismus. Opladen & Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998
Ware, Vron: Beyond the Pale. White Women, Race and History. London: Verso, 1996
ANMERKUNGEN
1 Der hier als Analyserahmen zugrunde gelegte Begriff ›rassifizierte Machtdifferenz‹ wurde im
Rahmen meiner Dissertation »Rassifizierung und kindliches Machtempfinden« entwickelt.
2 Die vier Rassifizierungsebenen sind in Auseinandersetzung mit Terkessidis’ Arbeiten zum
»Apparat des Rassimus« entwickelt worden, vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 74-
81.
3 Differenz bezieht sich in diesem Beitrag nicht auf tatsächlich vorhandene Unterschiede
zwischen Menschen und Gruppen, sondern auf die Konstrukthaftigkeit und die
interessensgebundene Aufladung von ›Unterscheidungskriterien‹ und
›Unterscheidungmerkmale‹.
4 Vgl. Mills: The Racial Contract.
5 Vgl. ebenda, S. 11, 18.
6 Ebenda, S. 9.
7 In: ebenda, S. 19.
8 In diesem Beitrag gilt der Fokus dem ›Racial Contract‹, es ist jedoch m. E. weder möglich noch
sinnvoll, einen ausbeuterischen Vertrag isoliert zu betrachten. Vielmehr müssen miteinander
verschränkte ausbeuterische Verträge als einander stützend betrachtet werden. Die Begriffe des
›rassistischen Sexismus‹ oder ›rassistischen Klassismus‹ sind als Ergebnisse solcher ineinander
verwobener Ausbeutungsverträge aufzufassen, die spezifische Folgen für Schwarze Frauen oder
Schwarze politische Systeme haben.
9 Ebenda, S. 11.
10 Vgl. ebenda, S. 71, und: Ders.: Blackness Visible, S. 73-75. (Hegel knüpft auch an Kants
rassifizierte Demarkierung des Rationalitätskonzept an und begründet eine eurozentrische
Hierarchie menschlichen Daseins: »Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den
natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; … es ist nichts an das
Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“ Hegel zit. nach: Melber: Der
Weißheit letzter Schluß, S. 29.) Siehe dazu auch Arnold Farr im vorliegenden Band.
11 Vgl. Mills: Blackness Visible, S. 212-214.
12 Vgl. Ahmed: Strange Encounters.
13 Mills: The Racial Contract, S. 18-19.
14 Vgl. Ware: Beyond the Pale, S. 50.
15 Figuren wie der Schwarze männliche Erwachsene in Robinson Crusoe, genannt ›Man Friday‹
(weil er am Freitag ›gefunden‹ wurde), sind hierarchisch und komplementär positioniert. Ein
weißer Mann kommt an einen Ort an, wo er fremd und offensichtlich verloren ist. Von den
Lebensbedingungen hat er vermutlich keine Ahnung. Dennoch wird er nicht von dem dort
ansässigen Schwarzen Mann unterworfen und zum Dienst als Aushilfe herangezogen, sondern
auf ›selbstverständliche‹ Weise verläuft der Prozess umgekehrt. ›Man Friday‹ wird sogar von
dem weißen Mann benannt und damit nicht nur markiert, sondern bekommt implizierte dadurch
erst eine Identität und wird in Abhängigkeit subjektiviert.
16 Ware: Beyond the Pale, S. 51.
17 Ebenda, S. 50.
18 Diese Überschrift geht auf einen Aufsatz von Daniela Marx zurück, vgl. Marx: »Vom
›feministischen Schreckgespenst‹«.
19 Vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 117-118 (marginalisierte rassifizierte Objekte,
d.h. Gruppen, Systeme, Individuen, Länder, Schwarze Menschen, afrikanische Regierungen,
islamische EinwanderInnen, Gemeinschaften von People of Color, die ersten BewohnerInnen
Australiens und ihre Kultur, etc.).
20 Auf die Rolle Barbara Beckers wird im Text nicht eingegangen. Es wirkt ›logisch‹, dass sie als
Schwarze dabei ist; als Schwarze Deutsche wird sie nicht positioniert und auch als ›Wissende‹
nicht. Sie wirkt wie eine Begleiterscheinung.
21 Biolek: »Botschafter des Genusses«, S. 8.
22 Auf Alice Schwarzers Rolle bei der Aktualisierung rassistischen Wissens wird an späteren Stelle
in diesem Beitrag eingegangen
23 Vgl. Titanic, Das Endgültige Satiremagazin, Oktober 2003, Nr. 10 (erschienen am 29.
September 2003) und: taz – die tageszeitung vom 28. September 2003.
24 Bild-Zeitung vom 25. November 2004: »Jakobs Mörder. Polizisten drohten mit sexuellem
Missbrauch in der Zelle«; vgl. auch u.a.: Der Tagesspiegel vom 25. November 2004;
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. November 2004.
25 ECRI: 3. Deutschland-Länderbericht.
26 Verleugnung von Weißsein in Anlehnung an Susan Arndts Beitrag in diesem Band.
27 tagesschau vom Donnerstag, den 16. Mai 2002, um 20.00 in der ARD.
28 Ein Artikel erschien unter dem Titel: »Alice Schwarzer tingelt durch TV-Shows und warnt vor
der islamistischen Weltverschwörung. Die sei ›gefährlicher als die Nazis‹«. In: junge welt vom
3. Dezember 2004 (Autorin: Christina Fischer). Dieser scheint eine Ausnahme zu sein.
29 Vgl. Marx: »Vom ›feministischen Schreckgespenst‹«.
PAUL MECHERIL
DER DOPPELTE MANGEL, DER DAS SCHWARZE
SUBJEKT HERVORBRINGT
Die diskursive Formation wird somit »weder durch die logische Kohärenz
ihrer Elemente noch durch das Apriori eines transzendentalen Subjekts,
noch durch ein sinnstiftendes Subjekt à la Husserl oder durch die
Einheitlichkeit der Erfahrung vereinheitlicht«.[6] Dem Typus von
Kohärenz, der einer diskursiven Formation zugeschrieben werden kann,
liegt vielmehr allein die Regelmäßigkeit der Verstreuung zugrunde.
Diskursive Zusammenhänge existieren nicht als einfach gegebene und
abgeschlossene Positivitäten,[7] sondern sie sind relational und
unvollständig, kontingent und unbestimmt. Die Unbestimmtheit eines
Diskurses wird nicht durch ein außerdiskursives Moment konstituiert,
sondern durch die Grenze zu dem Außen des Diskurses. Dieses Außen ist
konstitutiv für den Diskurs. Der relativen Unbestimmtheit eines diskursiven
Zusammenhangs, der aufgrund von Regelmäßigkeiten seiner Verstreuung
als ›diskursive Totalität‹ bezeichnet werden kann, muss zugleich aber eine
relative Bestimmtheit korrespondieren. Das Feld der Bedeutungen und
Identitäten ist weder absolut fixiert noch absolut nicht fixiert.[8] »Jedweder
Diskurs konstituiert sich als Versuch, […] das Fließen der Differenzen
aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren.«[9]. Dieser Prozess der Fixierung
von Identitäten kann als Hegemonie bezeichnet werden, wobei der
Hegemoniebegriff, den Laclau und Mouffe entwickeln, nicht darauf
aufmerksam macht, dass soziale Gruppierungen ihre Dominanz
durchsetzen, sondern auf kontingente Verfestigungen, auf den Prozess, der
eine kontingente gesellschaftliche Ordnung zum Ergebnis hat. Der
›Antagonismus‹ verunmöglicht den Abschluss des Sozialen, ›Hegemonie‹
hingegen verhindert den Schwund des Sozialen in dieser Unmöglichkeit.
Die partielle Fixierung von Bedeutung bezeichnen Laclau und Mouffe
als Knotenpunkte. Diesen durch die Praxis der Artikulation hergestellten
Knotenpunkten korrespondieren Subjektpositionen, die insofern als
diskursive Positionen zu verstehen sind. Als diskursive Positionen haben sie
»an dem offenen Charakter eines jeden Diskurses teil; infolgedessen
können die vielfältigen Positionen nicht gänzlich in einem geschlossenen
System von Differenzen fixiert werden.«[10] Das (kollektive oder
individuelle) Subjekt kann hierbei nicht als Ansammlung der Vielzahl von
antagonistischen Subjektpositionen beschrieben werden, weil diese
Auffassung nur einen ›Essentialismus der Trennung‹ befördern würde. Und
insofern sich Subjektpositionen nicht als getrennte Positionen je einzelner
in sich geschlossener Bedeutungen darstellen, ist das Subjekt Ausdruck
eines Mangels: »[T]he subject is the metaphor of an absent fullness.«[11]
Das Subjekt ›entsteht‹ nicht durch Identifikation und Artikulation, es
entsteht nicht durch das Investment und die Anrufung, weil es diese
Identifikation nicht ist, sondern vielmehr die Unmöglichkeit der
Identifikation; aber auch diese Unmöglichkeit ist es, das Subjekt, nicht.
Man könnte also sagen, dass die paradoxe Struktur des Subjektes darin
besteht, dass es mehr und weniger ist als das, womit es sich identifiziert,
dass es das ist, womit es sich identifiziert, und es nicht ist und dass das, was
mehr oder weniger ist, als das, womit es sich identifiziert, fullness,
abwesend ist. Genau diesen Aspekt hat Slavoj Zizek in einer Lacanschen
Interpretation der Laclauschen Überlegungen hervorgehoben: »The subject
is a paradoxical entity which is so to speak its own negative, i.e. which
persists only insofar as its full realization is blocked – the fully realized
subject would be no longer subject but substance.«[12]
Salvoj Zizek erläutert die Mangelhaftigkeit des Subjektes an der
Hegelschen Herr-Knecht-Figur; für den Knecht gilt: »[T]he moment of
victory is the moment of greatest loss.«[13] Der Knecht wird in einer
Struktur konstituiert, in der er nicht, zumindest nicht mit dem Anspruch, zu
sich selbst kommen zu wollen, siegen, den Herrn und die Struktur ihrer
Beziehung besiegen kann. Denn sobald er siegt, wird er sich des Mangels
seiner selbst bewusst. Der Knecht träumt von der Abschaffung des Herr-
Knecht-Antagonismus. Zwar kämpft er für einen Zustand, in dem er zu sich
selbst kommen, er selbst sein kann. Dieser Zustand ist aber unerreichbar.
Insofern stellt der Herr die positive Verkörperung der knechtischen
Unmöglichkeit dar; er ist, Zizek greift den Hegelschen Ausdruck
›Reflexionsbestimmung‹ auf, der positive Spiegel, in dem sich die
Negativität des Knechts spiegelt, die Unmöglichkeit, mit sich selbst
identisch zu sein. Da dies umgekehrt nicht gilt, haben wir es in der Herr-
Knecht-Figur mit einer asymmetrischen Reflexionsbestimmung zu tun.
Diese ist überall dort relevant, wo Subjektpositionen in einem binären
Schema der Über- und Unterordnung verteilt sind: der und die
Heterosexuelle als Reflexionsbestimmung der lesbischen oder schwulen
Position, Whiteness (Europeanness, oder, wenn man so will:
Zivilisationness …) als Reflexionsbestimmung des Schwarzen,
muslimischen Anderen, der Mann als Reflexionsbestimmung der Frau:
»[M]an is the reflexive determination of women’s impossibility of
achieving an identity with herself (which is why woman is a symptom of
man).«[14]
Das Konstatieren des Mangels an fullness, einer Ganzheit, die es nie
gegeben hat, des Mangels, identisch mit sich selbst zu sein und das
Konstatieren des Verlustes des Mangels in der Erfahrung und der Einsicht,
dass das Mit-sich-selbst-identisch-Sein eine Illusion ist (»loss of the loss«)
[15], geht aber mit zwei Verkürzungen einher. Erstens operieren von einer
Lacanschen Psychoanalyse inspirierten Subjekttheorien (Laclau, Zizek) mit
der Unterstellung eines Bedürfnisses nach Komplettierung.
Diese Unterstellung ist nicht deshalb problematisch, weil sie auf einen
(Totalitäts-)Mangel des Subjektes hinweist, der durch die Sprache der
Anderen, das Symbolische eingebracht wird und der die Bedingung für
Subjektivität darstellt (das Subjekt verfehlt sich in der Reflexion).
Schwierig ist vielmehr, dass in universalistischer Manier der Drang nach
Kompensierung des Mangels ubiquitär geltend und allgemein gesetzt wird.
Diese Setzung ist aber nur unter der allgemeinen Voraussetzung plausibel,
dass ein, was immer dies heißen soll, vorsprachliches und ›ungeteiltes Ich‹
die (Erinnerungs-)Spur bezeichnet, auf deren Fährte sich das mangelhafte
Subjekt defizitär begibt. In diesen Zusammenhang passt auch Slavoj Zizeks
in ihrer Undifferenziertheit naive Kommentierung des kolonialen Eingriffs
als einer Intervention, die eine vorhergehende in sich geschlossene Identität
durcheinander bringe.[16] Zizek, Lacan folgend operiert er mit einer
starken Vorstellung von Kontinuität, die ihren paradiesischen Anfang an
einem Zustand vollkommener, deshalb unbenannter Übereinkunft nimmt.
Was aber wäre, wenn ein mögliches Subjekt sich, ohne dass ihm dies
bewusst ist oder auch nur bewusst sein kann, seinem Mangel hingäbe (und
ihn durch Hingabe an den Topos des Mangels aufhöbe, ohne der Illusion
aufzusitzen, der Mangel sei irrelevant) und nicht fortwährend, aber
zuweilen einem vermeintlich ›irgendwie‹ gegebenen und dadurch
relevanten Zustand der Unzerstückeltheit, einem Zustand, der dem
Imaginären und der Zergliederung durch die ›Selbst‹-Gegenüberstellung im
nichtsprachlichen und sprachlichen Reflexiven enteilt ist, nicht
hinterheragiert – sei es in resignierter Haltung oder als Phänomen des
tatsächlich Zur-Sprache-gekommen-Seins, das als prekäres und
undurchschaubares Verhältnis erfahren und praktisch bejaht wird?
Die zweite Verkürzung der Ansätze, die das Subjekt als Mangel denken,
besteht in einer unzureichenden Differenzierung. Die Herr-Knecht-
Dialektik wird von Slavoj Zizek als allgemeine Figur kommentiert, in der
gesellschaftliche Verhältnisse der Über- und Unterordnung nur insofern
bedeutsam sind, als sie einen (asymmetrischen) Raum der Projektion der
Unmöglichkeit abgeben, mit sich selbst identisch zu sein:
[It] is not the external enemy who is preventing me from achieving identity with myself, but every
identity is already in itself blocked, marked by an impossibility, and the external enemy is simply
the small peace, the rest of reality upon which we ›project‹ or ›externalize‹ the instrinsic,
immanent impossibility.[17]
Doch ›der Feind‹ ist nicht allein sublime Referenz einer verlagerten
Verortung subjektiver Unmöglichkeit, er ist auch ›real‹, er (konkretes
Gegenüber wie Struktur eines Raumes) verhindert, verbietet und untersagt.
Um ein Beispiel zu geben: Die rassistische Figuration (weißer Herr,
Schwarzer Knecht) wird nur bedingt erfasst, wenn die Unmöglichkeit, ein
mit sich selbst identisches Subjekt zu sein, nicht mit Blick auf die Spezifität
des rassistischen Komplexes betrachtet wird, der racialised subjects
hervorbringt. Durch das Wissen, ein ›Anderer‹ zu sein, werde ich dem
Wissen und der affektgenerativen Struktur unterworfen, die mich zum
Anderen macht – dieser Andere ist in der rassistischen Figuration aber ein
spezifischer Anderer, der einen spezifisch unmöglichen Traum einer
postrassistischen Identität träumt. Vervollständigt wird dieser
Zusammenhang der Inferiorität/Superiorität durch die spezifische
Angewiesenheit der anderen Seite: »Die Engländer sind nicht deshalb
rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die
Schwarzen nicht wissen, wer sie sind.«[18]
Ansätze, die das Subjekt als prinzipiell defizitäres Phänomen denken,
tendieren dazu, spezifische Mängel, Knappheiten und Unzulänglichkeiten
zu vernachlässigen. Diese Tendenz zur Ausblendung spezifischer
Verhältnisse der Über- und Unterordnung und der Vernachlässigung ihrer
Relevanz für Subjektivierungsprozesse kann in den Zusammenhang der
Dominanz eines Psychoanalytizismus gestellt werden. Zwar kann nicht
bestritten werden, dass ›das Psychische‹ ein bedeutsamer und sozusagen
autopoietischer Zusammenhang der Konstituierung des Subjektes ist. »Aber
dies ist etwas ganz anderes«, so führt Stuart Hall dies im Zuge einer Kritik
am »strukturalistischen Strang« der Cultural Studies aus, »als die
Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse, im Sinne besonderer
Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen, einfach beiseite zu lassen
und sie ausschließlich auf der Ebene unbewusster psychoanalytischer
Prozesse zu lokalisieren.«[19]
In einem doppelten Mangel - dem allgemeinen subjektkonstitutiven
Mangel an fullness und dem spezifischen aus der hegemonialen Struktur
des Rassismus resultierenden Mangel – kommt das Schwarze Subjekt zu
sich und der Welt, einer Welt, die ihm, erst dadurch können wir überhaupt
sinnvoll von ›Subjekt‹ sprechen, einen Spielraum des Handelns, der
Aneignung und Schaffung von Selbstverständnissen, der Gegenwehr und
des Widerstreites zugesteht, der freilich an die Struktur gebunden bleibt, die
ihn hervorbrachte. Das Schwarze Subjekt ist eine Spiegelung und, sobald es
sich selbst erfährt und es erfährt sich immerzu selbst, eine Selbst-
Spiegelung; es ist eine Spiegelung von Spiegelungen von Spiegelungen. Es
kommen Sätze vor, Erinnerungen, vergebliche Versuche, es kommt eine
Bitterkeit vor, die nur aus der Erfahrung rassistischer Herabwürdigung
resultieren kann, deren Subtilität die Sprachen verschlägt, deren
Unverfrorenheit Wut gefriert. Es kommen Sätze über Sätze, Erinnerungen
über Erinnerungen, Sprachlosigkeiten über Sprachlosigkeiten vor, die sich
zu einem Leben aufschichten, das an den Beulen, die es sich in der Praxis
der Gebundenheit zufügt, Befreiung ebenso wie Resignation erfährt, das
gewusst wird, das unerreichbar ist, das sich dem Lebenden entzieht und ihn
als Schwarzes Subjekt in die Welt einführt, ihn in der Welt bestätigt.
Welche Effekte nun aus dem praktischen Leben, den widerständigen
Praxen der intentionalen Gegenwehr oder auch der gleichsam
versehentlichen Verrückung durch illegitime Nachahmung resultieren, wie
sie Bhaba untersucht hat,[20] scheint mir eine sinnvolle Frageperspektive
einer kritischen Wissenschaft zu sein, die unter einer sowohl
Repressionsverhältnisse beobachtenden wie Machtverhältnisse in einer
totalisierenden Perspektive bedenkenden Einstellung die wechselseitige,
gleichwohl ›bivalente‹ Gebundenheit von Schwarz und weiß aufhebt.
BIBLIOGRAFIE
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Revolution of our Time. London & New York: Verso, 1990, S. 249-260
Die Tücke des Subjekts. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001
ANMERKUNGEN
1 Vgl. Hall: »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«.
2 Althusser: Marxismus und Ideologie.
3 Laclau & Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie.
4 Ebenda, S. 157.
5 Ebenda, S. 162.
6 Ebenda, S. 155.
7 Ebenda, S. 162.
8 Ebenda, S. 163.
9 Ebenda, S. 164.
10 Ebenda, S. 168.
11 Laclau: New Reflections, S. 63.
12 Zizek: »Beyond Discourse-Analysis«, S. 254.
13 Ebenda, S. 252.
14 Ebenda, S. 253.
15 Ebenda, S. 252.
16 Ders.: Die Tücke des Subjekts, S. 349-350.
17 Ders.: »Beyond Discourse-Analysis«, S. 252.
18 Hall: »Ein Gefüge von Einschränkungen«, S. 93.
19 Ders.: »Die zwei Paradigmen der Cultural Studies«, S. 38.
20 Vgl. etwa: Bhabha: »Signs Taken for Wonders«.
GRADA KILOMBA
NO MASK
The mask that I want to refer here to, is not the conceptual mask described
by Frantz Fanon, but rather a factual one: the mask of speechlessness. This
mask was a very concrete piece, a real instrument, which became a part of
the European colonial project for more than three hundred years. It was
composed of a bit or a horn, placed inside the mouth of the Black subject,
clamped between the tongue and the jaw, and fixed behind the head with
two strings: one surrounding the chin, and the second surrounding the nose
and the forehead. Formally, the mask was used by white masters to prevent
enslaved[1] Africans from eating sugar cane or cacao beans, while working
on the plantations, but its primary function was to implement a sense of
speechlessness, inasmuch as the sealed mouth was, at the same time, a place
of torture and a place of muteness. The mask represents, in this sense,
colonialism as a whole. It symbolizes its brutal and sadistic politics of
conquest and the white racial fear of dispossession, reminding us of how a
plausible anxiety of speaking might also carve the Black imaginary.
In this article I intend to remember this mask as a symbol of
speechlessness and of violence, and how these are employed within
academic spaces. I begin, therefore, with the question: how come African
and African diaspora people have been so radically disfigured as speaking
subjects? followed by: how is this disfiguration – speechlessness and
violence – performed within scholarship?
Fanon describes how the skin is used by the white subject as a »seal«,[23]
and how difficult it is to escape the body and its racial constructions within
scholarship. The Black subject and its body are perversely constructed as
improper and as incompetent to the academic center, which remains, that
white violent space »where our words would be if we were speaking, […],
if we were there«.[24]
Every semester, on the first day, I always play a quiz with my students. I
start by posing very simple questions such as: Who wrote Black Skin, White
Masks? or »Who was May Ayim?« and conclude with more specific
questions. Most of the white students do not know the answers, while the
Black students answer successfully one question after the other. Suddenly,
those who are usually silent start speaking, while those who always speak
do not have a reply. Those whose history has been hidden, become
represented; while those whose history has been represented, become
speechless. Speechless, not because they do not possess the words, or the
mask, but rather because they do not possess ›that‹ knowledge. At this
moment, the whole class starts visualizing how the concept of knowledge
intrinsically linked with the idea of power and improper bodies, and with
the politics of racial and spatial exclusion. This is also a moment of
empowerment because we are rethinking and rearranging the relationship
between race, place and knowledge. In other words, we are questioning
scholarship, and as I wrote in the title of this article, with ›No Mask‹.
BIBLIOGRAPHY
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Mirza, Heidi Safia: Black British Feminism. A Reader. London: Routledge, 1997
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Press, 1999
Nkweto Simmonds, Felly: »My Body, Myself: How Does a Black Woman Do Sociology?« In: Heidi
Safia Mirza (Eds.): Black British Feminism. A Reader. London: Routledge, 1997, p. 226-239
NOTES
1 I use the term enslaved Africans and not slave, to emphasize the fact that African and African
descent people were not slaves, but made slaves. The term enslavement focuses on this process
of becoming - becoming a slave -, that is, it unfolds the system of de-humanization which
characterized the politics of European Expansion. Because the term slave focuses only on the
individual, and not on the system of Slavery in which the individual lives, it often leads to the
commodious white fantasy that during this period being a slave was not an imposed, but rather a
natural condition for Africans, de-politicizing history. A sentence such as: ›The population was
composed by Europeans and slaves‹ differs from ›The population was composed by Europeans
and enslaved Africans‹. The second sentence implies always the subject of action and, therefore,
it forces us to ask: enslaved by whom? And how?
2 Hall: »New Ethnicities«, p. 252.
3 hooks: Talking Back, p. 42.
4 Ibid.
5 This assumption is expressed in sentences such as: »They are not here, because they are not
interested;« or »They are not here, because they are not that many.« Such sentences reveal a
massive unawareness of what racism is and how it functions.
6 Collins: Black Feminist Thought.
7 Ibid.; Nkweto Simmonds: »My Body, Myself«.
8 Black students routenly come to me and say their works have been rejected by other lecturers,
because the topic does not seem relevant, the literature list is unknown or their writing is not
scientific enough. The chain of metaphores are: too personal, too subjective, too partial, too
much based on experiences, too emotional – »please write something new!«.
9 Derrida: Positions, p. 41.
10 hooks: Yearning, p. 148.
11 Essed: Understanding Everyday Racism, p. 54.
12 Nweto Simmonds: My Body, Myself.
13 hooks: Feminist Theory, p. xvi.
14 hooks: Killing Rage, p. 31.
15 Essed: Understanding Everyday Racism.
16 hooks: Yearning, p. 149.
17 Mirza: Black British Feminism, p. 4.
18 hooks: Yearning.
19 Mohanram: Black Body. Women, Colonialism and Space
20 Ibid., p. 3.
21 Ahmed: Strange Encounters, p. 44.
22 Fanon: Black Skin, White Masks, p. 117.
23 Ibid., p. 9.
24 Hooks: Yearning, p. 151.
OBIOMA NNAEMEKA
BODIES THAT DON’T MATTER: BLACK BODIES AND
THE EUROPEAN GAZE
From his native land of darkness to the country of the free in the
interest of science and of broad humanity brought wee little Ota
Benga dwarfed, benighted, without guile scarcely more than ape
or monkey yet a man a while!
(The New York Times, September 10, 1906)
Focusing on the intersection of history, race and sexuality, this essay seeks
to expose the mind-set, inclinations, and ideologies that produced/produce
mythologies of the abject Black body, examine the mechanisms, agendas,
institutions, and discourses that are deployed to legitimize and sustain
mythologies of the Black world, and explain the inevitability of their
persistence.
In his book, The Anatomy of Racial Inequality, Glenn C. Loury argues
that it is not racial discrimination (i.e. how people are treated) that
marginalizes African Americans and hinders them from achieving their
goals, but rather ›racial stigma‹ which is about whom we understand
African Americans to be. But how do these racial stigma or stereotypes
emerge? They are usually opinions that are sustained not by reason but by
passion. Opinions are dangerous because they are not open to discussion;
they forestall scrutiny and engagement. In his study of anti-Semitism, Anti-
Semite and Jew, Jean-Paul Sartre argues that:
This word opinion makes us stop and think. It is the word a hostess uses to bring to an end a
discussion that threatens to become acrimonious. It suggests that all points of view are equal’s it
reassures us, for it gives an inoffensive appearance to ideas by reducing them to the level of tastes.
All tastes are natural’s all opinions are permitted. Tastes, colors, and opinions are not open to
discussion. In the name of democratic institutions, in the name of freedom of opinion, the anti-
Semite asserts the right to preach anti-Jewish crusade everywhere […] But I refuse to characterize
as opinion a doctrine that is aimed directly at particular persons and that seeks to suppress their
rights or to exterminate them. Anti-Semitism does not fall within the category of ideas protected
by the right of free opinion. Indeed, it is something quite other than an idea. It is first of all a
passion.[2]
The basis for prejudice is often neither empirical nor rational; rather, it is
anchored in mythologies from which pathologies are constructed and acted
upon. The inscription of criminality, immorality, abnormality, and
threatening sexuality on the Black body has a long and enduring history. It
is to the construction of ›Black icons‹ and its consequences that I now turn.
ICONOGRAPHY AS MYTHOLOGY
Studies in iconography show that icons represent the world; they do not
present it. Icons are totalizing constructs that are woven out of pieces of
reality and invested with mythic extension capable of homogenizing,
reifying, and codifying a group, occluding diversity and complexity, and
creating as it were a one-dimensional sketch (›un croquis‹) that lacks depth.
In iconographic constructions, isolated individual idiosyncrasies of
members of a group are projected onto the group-ultimately, essentializing
and/or pathologizing a group through time-specific acts of its individual
members. This mythic transformation of time-specific and location-bound
individual realities into an essentialist, a-historical, and universal collective
identification is mediated by the ideology of the observer/knowledge
producer as Jean-Paul Sartre argues in the case of an anti-Semite:
A young woman said to me: »I have had the most horrible experiences with furriers; they robbed
me. They burned the fur I entrusted to them. Well, they were all Jews.« But why did she choose to
hate Jews rather than furriers? Why Jews or furriers rather than such and such a Jew or such an
such a furrier? Because she had in her a predisposition toward anti-Semitism.[4]
I could not agree more with Alexander von Humboldt. The quasi-
disappearance of man (read ›native‹) is an enduring feature of European
travel writing. In the literature of 19th century imperial adventurism in
Africa, European travelers, and explorers, and missionaries – Mungo Park,
Paul Du Chaillu, David Livingstone, John Speke, Richard Burton, etc. –
mediated knowledge about the ›Dark Continent‹ and fixed Africans in the
European imagination. It is interesting to note that these encounters are
usually described as the Europeans’ ›contact with Africa‹ not ›contact with
Africans‹. Mary Louise Pratt’s study of 19th century travel writing identifies
two categories of texts – the informational text and the sentimental text.
Both created space between the observer and the observed although the
discourse in the latter is more dialogic in the Bakhtinian sense of the word.
According to Johannes Fabian, the physics rule that two bodies cannot
occupy the same space at the same time is applicable to the processes of
›Othering‹. In other words, ›Othering‹ mandates the separation of observer
and the observed. Space is necessary to maintain what Fabian calls the
›denial of coevaleness‹. I argue that the vertical (not horizontal) positioning
of the bodies separated by space inscribes a subject/object hierarchy of
unequal power relations. It is the vertical positioning of bodies that
valorizes both space and bodies.
Competing views on three ›scapes‹ – seascape, landscape, and
bodyscape – mark important differences between Africans and the
Europeans who came to dominate them. In Part I (›Nature of a Continent‹)
of the film series, The Africans, Ali Mazrui argues that Africans value the
sea for the sustenance it yields not the access it provides for dominating
others. Not surprisingly, there are no ›inglorious Nelsons‹ who were
African. In the narratives of European contact with Africa, discourse on
seascape are either absent or marginalized, and understandably so. The sea
has already performed its task – i.e., provide access. Thus, many of the
travelogues begin in medias res, so to speak, and their focus on landscape
and bodyscape are, therefore, understandable.
Narratives of imperial adventurism present tableaux of sites and
encounters but, more importantly, project ideologies of domination and
triumphalism on the canvass. In terms of engendering meaning, ideology is
a double-edged sword – on the one hand reductive in its homogenizing
strategy and on the other hand expansive in its capacity to proliferate
meanings. Thus, the opening up of Africa and Latin American to European
domination and capitalist exploitation positioned European explorers and
travelers as producers of knowledge about indigenous peoples that was
geared towards justifying and legitimating the European project of plunder,
domination, and expansion. Grounded in the ideology that land matters and
Africans don’t count, the literature of imperial adventurism »reverses and
refuses heroic priorities; it narrates place and describes people«.[6]
Nineteenth century narratives about Africa and Latin America usually
constitute a long interplay of multiple discourses – lengthy presentations of
discursively depopulated landscape sprinkled with interludes of descriptions
of bodyscape: »This discursive configuration, which centers landscape,
separates people from place, and effaces the speaking self, is characteristic
of a great deal of [19th century] travel writing, especially the literature of
exploration and especially that which aspired to scientific status.«[7] As it
were, embedded in the narrative of the landscape are textual homelands of
bodyscapes reduced to body parts (often the genitalia) – this clinical
scrutiny is a strategy concocted to deny human reasoning, coherence and
bodily integrity.
The main task of the European travelogues is to produce information in
several domains – agriculture, economy, climate, aesthetics, ethnography,
ecology, etc. But the task is the means to an end – the exploitation and
domination of land and people for economic gain. The two-pronged process
of information gathering and dissemination was geared towards
disseminating knowledge of natural history (what Alexander von Humboldt
called »the problem of the physical description of the globe«) and
expanding capitalist world system (»the spirit of commerce and
adventurous industry«, according to John Barrow).
Often, textual strategies are deployed to occlude or isolate the
ideological underpinnings and economic intent/interest. The narrative
locates the self-effaced observer/narrator at the periphery from where he
gazes at the panoramic view he narrates. Perched as it were on the edge of
an interminable expanse of land, the self-effacing narrator plays the
omnipotent, omniscient hidden god. Furthermore, discussions of capitalist
expansionism are located in the preface, not in the main body of the work.
As Pratt notes, David Livingstone elaborates on the link between landscape
and commercial expansion but locates it in the preface where he admits that
his work »is written in the earnest hope that it may contribute to the
information which will cause the great and fertile continent of Africa to be
no longer kept wantonly sealed, but made available as a scene of European
enterprise«.[8]
As stated earlier, the European authors of travelogues cared about Africa;
they cared less about Africans (except, of course, as ›beasts of burden‹). In
the information texts, the voices of Africans are absent. We get a glimpse
into their lives through the author’s descriptions of manners-and-customs
that are embedded in long narratives of landscape: »the portrait of manners
and customs is a normalizing discourse whose work is to codify difference,
to fix the Other in a timeless present where all ›his‹ actions and reactions
are repetitions of ›his‹ normal habits.«[9] The manners-and-customs
narratives function as a normalizing force legitimized by scientific and
academic discourses. The indigenous people (the ›Other‹) do not tell the
reader who they are; rather the observer/narrator/author creates who they
are through what they did or do. The indigenous people to be ›Othered‹ are
homogenized, a-historized, normalized, naturalized, decontextualized, fixed
in a timeless present, and maintained in an immutable form to be evoked at
will to produce the same meaning. The ideology that homogenizes, herds
contradictions into the same battlefield, normalizes, and names, creates, its
mythology by inscribing unchanging ›subjects‹ that can transcend neither
time nor space. What the imperial eye sees (›eye‹ because it sees one
dimensionally and obsessively) is very much linked to the processes by
which the mythology is formed. The voice (mythmaker) that creates the
›Other‹ in this instance separates indigenous people (body) from their
habitat (landscape):
The normalizing, generalizing, voice that produces the ethnographic manners-and customs
portraits is distinct from but complementary to the landscape narrator. The voice scans the
prospects of the indigenous body and body politic and in the ethnographic present, abstracts them
out of the landscape that is under contention and away from the history that is being made–a
history into which they will later be inserted as an exploited labor pool.[10]
Visitors to the zoo ridiculed, taunted, jeered at the man and once in a while
turned a hose on him – an abuse that infuriated him so much that once he
allegedly attempted to stab one of his keepers, promptly the New York Daily
Tribune of September 26, 1906 to warn the public: »Benga Tries to Kill.«
Often the physical stature and anatomical features of Blacks are marks of
their anomaly and inferiority – they are always ›more than‹ or ›less than‹.
The Hottentot Venus was ›less than‹ in stature and ›more than‹ as far as her
buttocks and ›Hottentot apron‹ go. At 4 feet 11 inches (Samuel P. Verner
put him at 4 feet 8 inches), Ota Benga is ›less than‹. But the questions
remain: Less then what/who? More than what/who? In fact, anthropologists
insisted on quantifying everything about Benga:
His head size, foot size, the distance between heel and toe, nose and forehead, the space between
his eyes. It was considered worthy of scientific note to put a baseball in his hand and find out how
far he could fling it. All these numbers would then be rubbed together, mumbled and jumbled and
chanted over, to determine what a pygmy was…to others what matters most of all was the color of
his skin. In their eyes he was black, or black enough, and that was decisive.
CONCLUSION
The Black body did not matter centuries ago when Europeans reified it,
fixed it in the present, and implanted it in European imagination. White
supremacist ideology of domination and economic expansion backed by
spurious science and academic discourses demoted Blacks below human
level, justifying and legitimizing their oppression and exploitation. The
problem is not about Benga, Bartman or people who look like them. The
problem is their being pitted against a nebulous, intractable standard that is
imagined to ensure their perpetual ›Otherness‹ and ›anomaly‹, and justify
the notion that there is ›something‹ wrong with ›these people‹. There is
nothing ›wrong‹ with them. If anything is wrong, it is with the invention,
the mythology. Recasting Sartre’s famous phrase – »If the Jew did not exist,
the anti-Semite would invent him«[28] (Si le Juif n’existait pas, l’anti-
Sémite l’inventerait) – I assert that if the Black did not exist, white
supremacist racist would invent him. Poor Ota Benga is not the issue; the
problem is with the imagination and mentality that can evoke him at will,
reified, and beyond the bounds of history. Today, it’s Ota Benga; tomorrow
it’s Sara Baartman; the following day it’s Mgbeke or Mgbafor – it never
ends. The problem lies with the atavism of the mythmaking ideology. In
this sense, the Augsburg Zoo incident in 2005 is a replay of a never-ending
script. Slavery, colonization, Rwanda, and New Orleans are reminders that
so long as white supremacist ideology of Black inferiority exists, our
humanity will remain diminished.
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NOTES
1 ›Völkerschau 2005! Aufruf zum Protest gegen den Augsburger Zoo. Ein offener Brief der ISD
e.V. und ADEFRA e.V.‹, München 18.5.2005, by Peggy Piesche and Nicola Lauré al-Samarai.
2 Sartre: Anti-Semite and Jew, p. 7, 9-10.
3 Ibid., p. 11.
4 Ibid., p. 12.
5 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 205.
6 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 127.
7 Ibid., p. 124.
8 Livingston & Livingston: Narrative of an Expedition, p. 2.
9 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 120.
10 Ibid., p. 126.
11 Ibid, p. 124, my italics.
12 Barrow: An Account of Travel, 1, p. 190, my italics.
13 Pratt: »Scratches on the Face of the Country«, p. 134, my italics.
14 Barrow: An Account of Travel, 1, p. 244, my italics.
15 Humboldt & Bonpland: Personal Narrative, 1, p. 9; my italics.
16 Ibid., p. 1.
17 Gehmacher: »Men, Women, and the Community Borders«, p. 205.
18 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 209.
19 Gould: »The Hottentot Venus«; Gilman: Difference and Pathology.
20 Sharpley-Whiting,: Black Venus, p. 23-24, my italics.
21 Gilman: »Black Bodies, White Bodies«, p. 229.
22 Ibid., p. 223.
23 Giddings: »The Last Taboo«, p. 449.
24 Strother: »Display of the Body Hottentot«, p. 1.
25 Sharpley-Whiting,: Black Venus, p. 19.
26 Abrahams: »Images of Sara Bartman«, p. 225.
27 Cohen: The French Encounter with Africans, p. 241.
28 Sartre: Anti-Semite and Jew, p. 13.
KIEN NGHI HA
MACHT(T)RAUM(A) BERLIN – DEUTSCHLAND ALS
KOLONIALGESELLSCHAFT[1]
Eine andere Strategie, sich der ›Bürde des weißen Mannes‹ zu entledigen,
besteht darin, ihre Bedeutungslosigkeit zu suggerieren und den
Kolonialterror zur Tugend umzudichten. So bezeichnet der Potsdamer
Geschichtsprofessor Manfred Görtemaker »den Umfang und die Bedeutung
des deutschen Kolonialbesitzes als bescheiden.« Sein Fazit lautet:
Bei Licht gesehen, war alles hübsch bescheiden. Nirgendwo ein Indien, ein Indochina oder ein
Kongo. Und keine Reichtümer, keine Schätze. Nur ein bißchen Kupfer und ein paar Diamanten in
Südwestafrika. Nichts, was der deutschen Wirtschaft zu Hause neue Impulse hätte geben können,
wenn sie es gebraucht hätte. Was blieb, waren große Worte.[27]
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ANMERKUNGEN
1 Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der im Panel »Berliner Konferenz und Geopolitik« der
»Plattform III: Eine andere Moderne – Menschenrechte und Terror« im Rahmen der
Veranstaltungsreihe »Black Atlantic« im Berliner Haus der Kulturen der Welt am 13.11.2004
gehalten wurde. Nicola Lauré al-Samarai und Fatima El-Tayeb, die auf unterschiedliche Weise
diese Arbeit ermöglicht haben, danke ich sehr herzlich für ihre Unterstützung.
2 Vgl. Smith: »Colonialism and Colonial Empire«, S. 431-432.
3 Vgl. etwa Ayim, Oguntoye & Schultz: Farbe bekennen; Noyes: Colonial Space; Zantop:
Colonial Fantasies; Friedrichsmeyer, Lennox & Zantop (Hrsg.): The Imperialist Imagination;
Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft; El-Tayeb: Schwarze Deutsche
und Conrad & Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus.
4 Vgl. etwa Kundrus (Hg.): Phantasiereiche.
5 Für eine exemplarische Analyse kolonialer Strukturen und Affinitäten, die vom
Wilhelminischen Kolonialreich bis in aktuelle Debatten reichen, vgl. etwa Ha: »Die kolonialen
Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«.
6 Vgl. die Beiträge in Heyden & Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin. Trotz der intendierten
kritischen Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte vertreten die dort versammelten Beiträge
mit einer einzigen Ausnahme weiße Perspektiven. Diese Marginalisierung spiegelt sich auch in
der Tatsache, dass grundlegende Vorarbeiten aus der Schwarzen deutschen Community ignoriert
werden. So taucht »Farbe bekennen« von Ayim, Oguntoye & Schultz in dem Sammelband von
Heyden & Zeller nicht einmal in den Fußnoten auf. Gerade für die Erforschung der
Kolonialmetropole Berlin leisteten Paulette Reed-Andersons „Rewriting The Footnotes – Berlin
und die Afrikanische Diaspora“ (2000) und Hito Steyerls Dokumentarfilm „Die leere Mitte“
(1998) wichtige Beiträge.
7 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß.
8 Vgl. Jäger u.a. (Hrsg.): Der Spuk ist nicht vorbei; Ha: Ethnizität und Migration RELOADED, S.
23-35.
9 Vgl. hierzu etwa Schwarz: ›Je weniger Afrika, desto besser‹. Leider empfiehlt sich diese Arbeit
aufgrund ihrer unkritischen Analyse nur als Quellensammlung.
10 Vgl. Chickering: We Men who Feel most German.
11 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, und: Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche
Gesellschaft.
12 Vgl. den reich bebilderten Aufsatz von Ciarlo: »Rasse konsumieren«, der einen umfangreichen
Eindruck vom Ausmaß kolonialer Tropen in der deutschen Alltagskultur vermittelt.
13 Ein Überblick bieten die Beiträge zum Thema ›kolonialdeutsche Wissenschaften‹ in: Heyden &
Zeller (Hrsg.): Kolonialmetropole Berlin, S. 97-134.
14 Poeschel, Hans: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles. Dokumente zu ihrer Behandlung.
Berlin 1920, S. 15-17, zit. nach Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet
worden?«, S. 74.
15 Rogowski: »›Heraus mit den Kolonien!‹«, S. 244-245.
16 Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet worden?«, S. 71, 74.
17 Vgl. ebenda und: Timm: »Für 35 Jahre einen ›Platz an der Sonne‹«, S. 67-68.
18 Vgl. auch Heyden: »Afrikaner in der Reichs(kolonial)hauptstadt«.
19 Vgl. Honold: »Afrikanisches Viertel«, S. 314.
20 Vgl. Struck: »Die Geburt des Abenteuers aus dem Geist des Kolonialismus«, S. 270.
21 Vgl. auch Rüger: »Das Streben nach kolonialer Restitution in den ersten Nachkriegsjahren«.
22 Vgl. auch Gall: Das Atlantropa-Projekt; Voigt: Atlantropa.
23 Laak: »Ist je ein Reich, das es nicht gab, so gut verwaltet worden?«, S. 75; Rogowski: »Heraus
mit den Kolonien!«, S. 244-245.
24 Entwicklungspolitische Korrespondenz (Hrsg.): Deutscher Kolonialismus, Rückcover.
25 Feddersen: »Der höfliche Fundamentalist aus Bayern«
26 Albertini: Europäische Kolonialherrschaft, S. 601, zit. nach Börries: »›Hochmut‹, ›Reue‹ oder
›Weltbürgersinn‹?«, S. 158.
27 Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 355.
28 Vgl. Höpker (Hrsg.): Hundert Jahre Afrika und die Deutschen.
29 Zit. nach: Nestvogel & Tetzlaff: »Einleitung«, S. 9.
30 Zit. nach: ebenda, S. 10-11.
31 In der Pressemitteilung der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigten
KriegsdienstgegnerInnen (DFG – VK) vom 21.5.2003 urteilt ihr Bundessprecher Jürgen
Grässlin: »Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Minister Struck heute vorgestellt hat,
stellen das aggressivste deutsche Militärprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg dar«.
32 Diese Vorstöße stellte Struck anlässlich der Feierlichkeiten zum 50jährigen Gründungsjubiläum
der Bundeswehr auf. Vgl. Anonymus: »Struck: Bundeswehr künftig auch im Kriegseinsatz«.
NICOLA LAURÉ AL-SAMARAI
INSPIRITED TOPOGRAPHY:
ÜBER/LEBENSRÄUME, HEIM-SUCHUNGEN UND DIE
VERORTUNG DER ERFAHRUNG IN SCHWARZEN
DEUTSCHEN KULTUR- UND
WISSENSTRADITIONEN[1]
»sie sind die betroffenen und ich bin extrem, was auch immer
sich ihrer betroffenheit entzog, war meine chance, am leben zu
bleiben«
Guy St. Louis, 14. nov. 1994
Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, mich mit einer afrodeutschen
Architektin über die Dimensionen von Spiritualität bei der Kreierung
eigenständiger und selbstbestimmter Schwarzer deutscher kultureller
Räume austauschen zu dürfen. Wir unterhielten uns über die inzwischen
beinahe selbstverständlich scheinenden Errungenschaften einer schwer
erkämpften gemeinschaftlichen Beständigkeit, überlegten, ob und wenn ja
von welchem Geist (spirit) die diversen kulturellen Ausdrucksformen
Schwarzer deutscher Männer und Frauen getragen sind, und wie dieser ein
aus vielen verschiedenartigen und zum Teil widersprüchlichen
Einzelstimmen und -erfahrungen bestehendes Wissen zusammenführt,
beeinflusst und verändert. Es war in der Tat ein inspirited Dialog, den wir
führten, denn der Geist, über den wir gemeinsam nachdachten, lenkte
bereits die Richtung unserer gedanklichen Reise und eröffnete uns eine
re/visionäre Sphäre, in der wir Spiritualität nicht als verflachtes esoterisches
Verdauungsprodukt kultureller Einverleibungen belächelten, sondern sie als
wesentliches Element Schwarzer diasporischer, vor allem aber Schwarzer
deutscher Widerstandskonzepte zu redefinieren und zu replazieren
versuchten.
Die Tatsache, dass wir uns auf eine solche eigenständige Sphäre
überhaupt beziehen konnten, brachte mich zurück zu den diversen
Ausgangspunkten unserer Schwarzen deutschen Kulturproduktion, zu den
im Werden und Wandel befindlichen, mannigfaltigen Strategien
kultur/historischer Verhandlungen, wie sie sich in bislang zugänglichen
Werken theoretischen und autobiographischen Schreibens sowie lyrischer
und visueller Kunst finden, und zu spezifischen Traditionslinien, die
dadurch begründet wurden. Diese Traditionslinien sind Ausdruck eines
Widerstandsprozesses gegen rassistische Gewalt, Ausgrenzung und die
fortdauernde angestrengte Entinnerung und Unsichtbarmachung einer
Schwarzen deutschen Anwesenheit und Geschichtlichkeit. Und sie sind das
Ergebnis zuweilen sehr direkt, zuweilen eher lose miteinander verbundener,
transformativer kreativer Impulse, vermittels derer sich Schwarze deutsche
Männer und Frauen die Möglichkeit schaffen, ihre Geschichten und
Gegenwarten mit einem eigenständigen Plot zu versehen. Diese, sich auf
eine subversive expressive Gegenintelligenz gründende, bewusste Setzung
einer historischen Handlung (historical emplotment), die charakterisiert ist
von der selbstermächtigenden Einschreibung einer re/visionären
Gegengeschichte und Gegenerinnerung, beschreibt Houston Baker als spirit
work.[2]
Spirit work konvertiert das widerständige Begehren eines historischen
und gegenwärtigen Sich-Verwurzeln-Wollens in einen vielstimmigen
couragierten Sound und in unablässige Bewegung. Sound und Bewegung,
Erinnerung und Rückforderung, Rekonfiguration und Rekontextualisierung
sind demnach Schlüsselbegriffe im Kampf um eine selbstbestimmte
Schwarze Subjektivität, in dem KulturproduzentInnen eine besondere Rolle
zukommt. Mit ihrer theoretischen und künstlerischen Vorstellungskraft
begründen sie distinkte Artikulationspraxen und nehmen sowohl in weißen
deutschen wie auch in Schwarzen diasporischen Kontexten grundlegende
Neubestimmungen sozialer, politischer und kultur/geschichtlicher
Repräsentationsfelder vor. Diese Praxen sind Teil einer im Entstehen
befindlichen kulturellen Topographie, die ich im Folgenden einkreisen
möchte. Mich interessieren die darin zu lokalisierenden Rahmensetzungen
und Themen, Orte und Stimmen, Kontinuitäten und Brüche, kurz: die
vielfältigen Versuche, die unternommen wurden und werden, um die
gewaltvolle Allgegenwärtigkeit weißer Dominanz aufzubrechen und zu
verhandeln und um eine Schwarze deutsche Präsenz in ihrer eigenständigen
Raum/Zeit[3] zu beheimaten.
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unserer eigenen Feder. Amsterdam: blue moon press, 1999, S. 4-6
»Ain’t no gap.« In: Olumide Popoola & Beldan Sezen: Talking Home. Heimat aus unserer
eigenen Feder. Amsterdam: blue moon press, 1999, S. 8-9
Wright, Michelle M.: Becoming Black. Creating Identity in the African Diaspora. Durham &
London: Duke UP, 2004
Yakpo, Kofi a.k.a. Linguist: »Denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen. Afrodeutsche
Rapkünstler in der Hip Hop Gründerzeit.« In: ADB Köln & cyberNomads (Hrsg.):
TheBlackBook. Deutschlands Häutungen. Frankfurt/M. & London: IKO, 2004, S. 332-339
ANMERKUNGEN
1 Mein Dank geht an Tazalika te Reh, die die Rahmensetzungen dieses Beitrags grundlegend
inspir(it)iert hat, an Paul Beatty, Junot Diaz und Patricia Saad für ihre entfernt-verbundene
Präsenz und Diskussionsbereitschaft, an Yvonne Buntrock und Stephen Lawson für gemeinsame
Gespräche und die Erlaubnis, einige ihrer Gedanken und Werke veröffentlichen zu dürfen, sowie
an Regina Stein und Markus Schmitz für Anregungen und Materialien.
2 Vgl. Baker: Afro-American Poetics, S. 5.
3 Raum/Zeit meint im Folgenden eine Sphäre, in der eine fragmentierte und desintegrierte
Schwarze deutsche Räumlichkeit und Zeitlichkeit im Zuge der Re-Konstruktion einer
eigenständigen Gegengeschichte wieder-angeeignet und mit Kontinuität versehen wird. Das
Streben nach Kontinuität darf in diesem Zusammenhang keinesfalls als lineare Fixierung einer
minoritären Geschichtlichkeit missdeutet werden, sondern kennzeichnet eine Entwicklung, die
Schwarze Deutsche zunehmend in die Lage versetzt, die gekappten Verbindungen zwischen
historischen und gegenwärtigen Orten, Zeiten und darin befindlichen Schwarzen Präsenzen
wieder-herzustellen.
4 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 15.
5 Vgl.: Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen.
6 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 75.
7 Ich verwende die Begriffe Rasse/rassisch ohne Anführungszeichen auf deutsch in
Kursivsetzung. Letztere soll den wissenschaftlichen und politischen Konstruktcharakter sichtbar
machen. Die Ersetzung der deutschen durch die englischen Termini race/racial halte ich für
wenig hilfreich, weil auf diese Weise das deutsche Problem - transportiert in einen anderen
Sprachzusammenhang - entnannt wird. Die Kontaminationen unseres sprachlichen Reservoirs
sind der gegenwärtige Ausdruck einer historischen Verfasstheit, die zu respektieren auch das
bewusste Unbehagen über die Bedeutungskontexte bestimmter Begrifflichkeiten einschließt.
Diese zum Schweigen zu bringen, indem man sie nicht benutzt, kommt meiner Ansicht einer
semantischen Erinnerungsabwehr gleich. Zudem folge ich El-Tayeb: »Die Erkenntnis, dass
[›Rasse‹ als biologische Realität] nicht existiert, kann […] nicht allein durch die Vermeidung
jeder Referenz auf Rassenkonzepte zum Allgemeingut werden. Denn so werden einerseits die
enormen politischen und ökonomischen Ungleichheiten, die die soziale Wirksamkeit der
Rassenhierarchien mit sich brachte und noch bringt, ignoriert, d.h. struktureller Rassismus kann
nicht adäquat analysiert werden. Andererseits wird das Widerstandspotential sozialer
Gruppenidentitäten, die sich als Reaktion auf rassische Zuschreibungen bildeten, negiert.« El-
Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 138, Anm.1.
8 Vgl. Collins: Black Feminist Thought, S. 209.
9 Vgl. hooks: »marginality as a site of resistance«, S. 341.
10 Vgl. Kilomba (Ferreira): »Die Kolonisierung des Selbst«, S. 146.
11 Sandjon: »sinnend ICH sein«, S. 87.
12 Vgl. McClintock: »The Very House of Difference«, S. 198. AutorInschaft stammt aus der selben
etymologischen Wurzel wie Autorität und trägt Konnotationen von Meisterschaft und Eigentum
in sich.
13 Vgl. ebenda, S. 222. Der Begriff Fiktion bezieht sich an dieser Stelle auf den kreativen Prozess,
ein Schwarzes Selbst autobiographisch und/oder poetisch zu re-konstruieren und/oder zu re-
imaginieren.
14 Vgl. Baker: Workings of the Spirit, S. 39.
15 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 51.
16 Said: Beginnings, S. 358.
17 Lorde: »Gefährtinnen, ich grüße euch«, S. 14.
18 Hartwig: Ich möcht’ noch so viel tun, S. 36.
19 Hügel-Marshall: Daheim unterwegs, S. 17.
20 Huber: Ein Niederbayer im Senegal, S. 9.
21 Vgl. Soost: Heimkind-Neger-Pionier, S. 220.
22 Hartwig: Ich möcht’ noch so viel tun, S. 38.
23 Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 198.
24 Baker: Workings of the Spirit, S. 12.
25 Wright: Becoming Black, S. 191.
26 Lauré al-Samarai: »Neither Foreigners nor Aliens«, S. 172.
27 Vgl. Glissant: Zersplitterte Welten, S. 87.
28 Vgl. dazu genauer Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«, S. 200-206.
29 Dent: »Black Pleasure, Black Joy«, S. 7.
30 Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 88.
31 Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home, S. 1 (meine Hervorhebung).
32 Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 88.
33 Lubinetzki: Tagebuch des Logik Verfalls, S. 30.
34 Wiedenroth: »Vorwort«, S. 5-6.
35 Vgl. Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home.
36 Vgl. Piesche (Hrsg.): May Ayim Award.
37 Vgl. Lorde: »Dichtung ist kein Luxus«, S. 89.
38 Vgl. Mercer: Welcome to the Jungle, S. 11.
39 Ayim: blues in schwarz weiß, S. 61.
40 Vgl. Popoola & Sezen (Hrsg.): Talking Home, S. 1.
41 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 238.
42 (Do): »Weisse sprache«, S. 13.
43 Vgl. Jank: »Schwarz-weise Spitzen«, S. 23.
44 Glissant: Zersplitterte Welten, S. 164-165.
45 Der Terminus ›nomadisch‹, wie er hier verwendet wird, gründet im Konzept einer von
Schwarzen KünstlerInnen und TheoretikerInnen entwickelten ›nomadischen Ästhetik‹,
vermittels derer nicht nur die konzeptionellen Gemeinsamkeiten indigener und diasporischer
Schwarzer Lebenswelten bewusst und differenziert aufgegriffen werden, sondern die eine
wesentliche Inspiration darstellt, aus dem ansonsten häufig verweigerten globalen kulturellen
Erbe zu schöpfen und dessen Elemente kreativ aufzunehmen und zu transformieren. Vgl. dazu
Gabriel: »Thoughts on Nomadic Aesthetics«.
46 Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 201.
47 Yakpo: »Denn ich bin kein Einzelfall«, S. 335.
48 Vgl. Wiedenroth: »Ain’t no gap«, S. 9.
49 Vgl. Yakpo: »Denn ich bin kein Einzelfall«, S. 334.
50 Vgl. Glover: »Adinkra Motive«, S. 129.
51 Ayim: blues in schwarz weiss, S. 29.
52 Nagl: »Fantasien in Schwarzweiß«, S. 298.
53 Vgl. ebenda.
54 Vgl. Wallace: Dark Designs, S. 341.
55 Della: »Schwarze KünstlerInnen«, S. 331.
56 Yvonne Buntrock (Malerin); Auszug Interviewtranskript.
57 Stephen Lawson (Bildhauer); Auszug Interviewtranskript.
58 Vgl. Khayati, »Representation«, S.1.
59 El-Tayeb & Maccarone: Alles wird gut, Vorspann (o.S.).
60 Yvonne Buntrock (Malerin); Auszug Interviewtranskript.
61 Vgl. Fusco: English is Broken there, S. 33.
62 Vgl. Alles wird gut, Regie: Angelina Maccarone; Skript: Fatima El-Tayeb, 1997; Zurück auf los,
Regie und Skript: Pierre Sanoussi-Bliss, 2000; Tal der Ahnungslosen, Regie und Skript:
Branwen Okpako, 2003.
63 Mercer: Welcome to the Jungle, S. 214.
64 Diskussion Schwarzer Künstler/innen im Rahmen des Black Atlantic in Berlin 11/2004,
Mitschrift.
65 Stephen Lawson (Bildhauer); Auszug Interviewtranskript.
66 Piper: »Sind nicht alle Räume transkulturell?«, S. 287.
67 Vgl. Morrison: »Rootedness«, S. 343.
68 Gabriel: »Thoughts on Nomadic Aesthetics«, S. 402.
HITO STEYERL
WHITE CUBE UND BLACK BOX. DIE
FARBMETAPHYSIK DES KUNSTBEGRIFFS
»Warum weiß?« Mit dieser Frage beginnt der Autor Mark Wigley ein Buch,
das sich mit der simplen Frage beschäftigt, warum die meisten Wände weiß
sind.[1] Eine Tatsache, die so selbstverständlich ist, dass sie kaum jemand
auffällt. Weiße Wände sind ebenso allgegenwärtig wie unsichtbar,[2] sie
werden als neutrale, leere Flächen wahrgenommen. Was aber hat es damit
auf sich, dass der größte Teil des sozialen und privaten Raums, der uns
umgibt, weiß gestrichen ist? Wie wirkt sich diese allgegenwärtige Weißheit
auf Konzepte von Raum, Visualität, ja überhaupt auf soziale Verhältnisse
aus? Was für Konsequenzen hat dies auf Definitionen von Kunst und
Ästhetik? Und warum ist ausgerechnet die Farbe weiß so allgegenwärtig?
Diese Frage stellt sich zwar für den gesamten sozialen Raum – sie
verdichtet sich jedoch besonders an einem Ort an dem sich ästhetische,
architektonische und andere Diskurse überkreuzen: dem so genannten
White Cube. Der White Cube bezeichnet den modernen Galerie-, Museums-
oder Ausstellungsraum. Im Gegensatz zu früheren Modellen der
Ausstellung ist der White Cube möglichst leer, möglichst weiß. Nichts soll
von der Wirkung der Kunst ablenken, alles Überflüssige wird von
blendend-weißer Leere überstrahlt, so die unterschwellige, von
modernistischen Diskursen gespeiste Annahme.[3] Im White Cube werden
weiße Wände gleichzeitig als Nicht-Orte und als perfekte Orte gedacht – als
selbstauslöschendes Vakuum, als neutraler Hintergrund, tabula rasa und als
ästhetische Abgrenzung zum farblich ambivalenten Durcheinander der
profanen Außenwelt. Der White Cube stellt somit einen fast schon sakralen
Raum dar, in dem alle Aufmerksamkeit auf die Kunst selbst gerichtet
werden soll.
Aber ist dieses Raumkonzept wirklich nur ein bescheidenes Hilfsmittel
um Kunstwerke zur Geltung zu bringen? Oder funktioniert dieser
evakuierte Raum nicht eher als eine Produktionsstätte von Kunst? Nicht
etwa dadurch, dass dort Kunstwerke entstünden – nein, sie verwandeln sich
– so der Autor Brian O’Doherty - in einer Art alchemistischen Prozess in
dem Moment zur Kunst, in dem sie die Schwelle des White Cube
überschreiten und seiner gleißenden Weißheit ausgesetzt werden. Obgleich
der White Cube sich als neutral und leer inszeniert, stellt er auf den zweiten
Blick eine Technik der Installation dar, die Anleihen bei den autoritativen
Raumkonzepten von Kirchen, Gerichtssälen und Laboratorien nimmt.[4] In
diesem Raum werden Tätigkeiten durchgeführt, die über das Alltägliche
erhaben sind. Der White Cube legt jedoch nicht nur ästhetische Richtlinien
fest – er funktioniert selber als eine ästhetische Richtlinie. Durch die
Inklusion in einen bestimmten Kanon wird dort letztendlich auch definiert
was Kunst ist. Die Aufnahme in den White Cube verleiht dem Werk nicht
nur die Aura der Kanonisiertheit – sie entscheidet letztendlich auch über
dessen Wert im Kunstsystem. Anstatt eines neutralen, im Dienste der Werke
stehenden leeren Containers, funktioniert der White Cube also als Maßstab
der Kunst, als Technik ihrer Sakralisierung und als Produktionsort ihres
Kanons.
WARUM WEIß?
Mit diesen Feststellungen ist die Eingangsfrage jedoch noch nicht
beantwortet. Warum muss diese Kammer unbedingt weiß sein? Warum hat
ausgerechnet die Farbe Weiß jene seltsame Eigenschaft, einerseits
ungesehen zu bleiben und andererseits zum universellen Maßstab moderner
Ästhetik zu werden? Und wie wirkt sich diese Weißheit auf die Frage aus,
ob etwas Kunst ist oder nicht?
Kehren wir zu Wigleys Studie über weiße Wände zurück. Der Autor
argumentiert, dass deren Weißheit der unbewusste Nenner ist, der dem
größten Teil der Architektur der Moderne ihre Identität verleiht. Aber die
Verständigung auf die Farbe Weiß als Träger der Eigenschaften der
modernen Architektur kam erst nach einer über einer vierzigjährigen
Debatte zustande.[5] Erst um 1930 hatte sich die Farbe weiß als Insignium
moderner Architektur endgültig durchgesetzt. Einer der Meilensteine dieser
hochideologischen Debatten um Weißheit war die Schrift Le Corbusiers
L’art decoratif d’aujourd’hui von 1925. Dort argumentiert Le Corbusier
nicht nur, dass Architektur nur dann modern ist, wenn sie weiß ist. Weißheit
wird in diesem Text nicht nur als eine Frage der Ästhetik betrachtet,
sondern erhält auch eine ethische, funktionale und technische Dimension.
[6] Die weiße Farbe wird als moralisch bezeichnet, als Insignium der
Reinheit und hochstehender Sittlichkeit. Ja, es wird ihr sogar zugetraut,
polizeiliche Aufgaben zu übernehmen: »Whitewash is extremely moral.
Suppose there were a decree requiring all rooms in Paris to be given a coat
of whitewash. I maintain, that this would be a police task of real stature and
a manifestation of high morality […]«[7]
Der Hintergrund solch weitreichender Aussagen war ein drastischer
Richtungswechsel architektonischer Ästhetik seit Anfang des 20.
Jahrhunderts. Ein wesentlicher Beitrag dazu war die Veröffentlichung von
Adolf Loos’ Essay »Ornament und Verbrechen« (1908). Der Text richtet
sich gegen alles Ornamentale in Architektur und Alltagskultur. Jegliche
Dekoration, alles nicht Funktionale sei nicht nur überflüssig, so Loos,
sondern stelle einen Verrat an den Werten der Moderne dar. Das Ornament,
so Loos, sei primitiv, weiße Wände hingegen ein Zeichen der Zivilisation.
Loos entwirft ein binäres Paradigma, in dem das Ornament für die
Vergangenheit steht, für das Sinnliche, Konkrete, während die Entfernung
der Ornamente Zukunft, Fortschritt und Abstraktion verheißt. Das
Ornament markiert ein Zeitalter, das überwunden werden muss – »umso
tiefer die Kultur steht, umso offensichtlicher das Ornament«. Aber Loos
bemüht nicht nur evolutionstheoretische Metaphern, sondern bedient sich
auch ethnologischer und sozialdarwinistischer Diskurse: »Der Papuaner und
der Kriminelle verzieren ihre Haut […] Aber das Fahrrad und die
Dampfmaschine sind frei vom Ornament. Das Vordringen der Zivilisation
befreit systematisch Gegenstand um Gegenstand von ihrer
Ornamentierung.«[8] Rassistische und sozialdarwinistische Diskurse
werden überblendet, um einen Paradigmenwechsel in der Architektur zu
begründen. Das Ornamentale wird somit eindeutig dem kulturell Anderen
und Devianten zugeordnet, wobei beide auf einer niedrigeren
Entwicklungsstufe verortet werden. Das strahlende Beispiel der Zivilisation
hingegen sind – weiße Wände.[9] Die Weißheit der Wände bezeugt ihre
Säuberung von allem Ornamentalen und somit Primitiven, Kriminellen,
Zurückgebliebenen.
Le Corbusier nimmt diese Argumentation in L’art decoratif
d’aujourd’hui wieder auf. Auch in diesem Text wird Zivilisation als
Eliminierung des Dekorativen und Überflüssigen verstanden und als
Konzentration auf das ›Wesentliche‹. Le Corbusier beschreibt Zivilisation
ebenfalls als Prozess des Fortschritts vom Sinnlichen zum Intellektuellen,
vom Taktilen zum Visuellen. Und dieser Fortschritt ist dann vollzogen,
wenn alle Dekoration aus dem Raum verschwindet und von einer Schicht
weißer Farbe ersetzt wird.[10] Die Weißheit der Wände wird somit zu
einem Merkmal von Zivilisation an sich – und diese Zivilisation wird als
Überwindung des kulturell oder sozial Anderen definiert. Besonders
drastisch wird diese Vorstellung von Weissheit dann artikuliert, wenn die
Schicht weißer Farbe mit der Haut des Gebäudes verglichen wird. Im
Gegensatz zum vormodernen Gebäude, das von Ornamenten verhüllt wird,
ist das moderne Bauwerk nackt, es stellt seine Funktion direkt aus, verhüllt
nur von einer Schicht als Haut vorgestellter weißer Farbe. Diese
unterschwellige Verbindung zwischen Weißheit und Nacktheit prägt, so
Wigley, die gesamte moderne Architektur.[11] Die tätowierte Haut des
Papuaners und des Kriminellen werden somit der weißen nackten Haut des
modernen Gebäudes gegenübergestellt. Während die erstere Verworfenheit,
Barbarei und Rückständigkeit bezeugen, strahlt die weiße Haut der
modernen Architektur im Lichte von Fortschritt und Zivilisation.
BLACK BOX
Aber nicht nur auf der Ebene ihrer Farbigkeit ist die Black Box – oder der
Kinoraum – ein visueller Apparat, der genau gegenteilige Assoziationen
zum White Cube hervorruft. Verkürzt gesagt wird der White Cube mit dem
apollinischen Prinzip assoziiert, die Black Box mit dem dionysischen. In der
Black Box wird das Publikum Leidenschaften und Trieben ausgesetzt, derer
es sich kaum erwehren kann. Während der White Cube als kontemplativer
Tempel einer Visualität beschrieben werden kann, die über das bloß
Sinnliche triumphiert hat und in dem das Gesetz der Sublimierung herrscht,
wird vor allem in der Filmtheorie die Black Box häufig als
Wunschmaschine gedacht, die von unbewussten Begehren, Trieben und
libidinösen Identifikationen durchdrungen ist. Im White Cube ist das
Publikum bewusstes, aktives Subjekt, autonomes Individuum, es verfügt
über einen distanzierten Blick, der dem Objekt gegenüber souverän ist. In
der Black Box hingegen wird es – etwa laut den Thesen der so genannten
Apparatustheorien der 1970er Jahre[19] – zum mehr oder weniger hilflosen
und passiven, gleichsam gefesselten[20] Objekt einer ideologischen
Wunschmaschine, die seine Affekte manipuliert und in unbewusste und
unkontrollierbare Dynamiken verwickelt. Obgleich diese psychoanalytisch
geprägten Theorien vor allem in den siebziger Jahren formuliert wurden
und mittlerweile durch Konzepte größerer Handlungsfreiheit der Zuschauer
ersetzt wurden, herrscht nach wie vor die Auffassung, dass die Black Box
vor allem ein affektiver Raum ist – eine Vorstellung, die sich auch in einer
traditionellen Farbmetaphysik niederschlägt, die die Farbe Schwarz mit
Sinnlichkeit, Affektivität, Magie und Irrationalität verknüpft. Die Black Box
wird etwa in der psychoanalytischen Filmtheorie der Siebziger als Ort
voyeuristischer Lust beschrieben, als Schattentheater der Sexualität.[21]
Aber sie wird auch gegenwärtig als Ort eines affektbetonten Spektakels
verstanden:
Die Black Box fasziniert durch eine Magie ganz anderer Ordnung. Sie bezieht ihre Kraft aus der
Wiederbelebung einer Reizästhetik, die tendenziell auf die Immersionseffekte des Spektakels
zurückgreift und mit der theatralischen Verführungskraft des Unbekannten, des Unermesslichen
lockt, dessen Schwelle die Betrachter überschreiten können, ohne ihre physische Sicherheit beim
Eintauchen in die Illusionswelten der Videoräume zu gefährden.
Black Box ist Ort der Illusion, des Reizes, des Unechten, Ort einer
Überwältigung. Sie ermöglicht »mit der Ästhetik der neuen Technologien
die Wiederkehr des Unterdrückten«.[22] Verführung, Fesselung, Magie,
Spektakel, unterdrücktes Unbewusstes – das Vokabular, mit dem die Black
Box beschrieben wird, ist der technizistischen, gesäuberten, idealistischen,
sublimierenden und aufgeklärten Vorstellungswelt des White Cube
diametral entgegengesetzt.
Auch das Verhältnis zur Wirklichkeit ist in beiden Raummodellen ein
anderes. Wie Joachim Paech ausführt, ermöglicht die Black Box, »dass die
Projektion von bewegten Bildern […] wie ein Blick hinaus in eine
vorgestellte Wirklichkeit erfahren werden kann.«[23] Während der White
Cube sich durch seinen pseudosakralen Charakter von der Profanität der
Wirklichkeit abzuheben sucht, dafür aber deren Essenz zum Vorschein
bringt, ist die Black Box Erscheinungsraum einer zugleich profanen und
illusorischen Wirklichkeit. Der White Cube versucht die Wirklichkeit zu
transzendieren – die Black Box hingegen versucht, sie vorzugaukeln. Der
White Cube schließt die profane Wirklichkeit aus, um deren Essenz zu
gewinnen, während die Black Box der Projektion eben jener profanen
Wirklichkeit dient – die allerdings nur eine inauthentische, spektakelhafte
Illusion darstellt. Das Eindringen von Wirklichkeit in den Ausstellungsraum
wird als Einbruch der Mächte des Falschen erlebt. Bewegte Bilder – so
etwa Boris Groys – konfrontierten den Zuschauer immer wieder mit dem
Gefühl, sich im »wirklichen Leben« und somit am falschen Ort zur falschen
Zeit zu befinden.[24] Rohe Wirklichkeit gegen hehre Essenz – was auch
immer sich in der Black Box befindet, kann demnach nie und nimmer jenen
Status von Kunst erreichen, den die Aufnahme in den White Cube
garantiert.
In dieser – schon von Le Corbusier artikulierten – binären Logik gehört
die Black Box somit der Ordnung dekorativen Scheins an, ebenso wie dem
profan Wirklichen und gleichzeitig dem Unechten und Nicht-
Authentischen. Obwohl sie laut Groys den Zuschauer auf beunruhigende
Weise entortet, wird sie gleichzeitig auch als Ort seiner Stillstellung
beschreiben, ja, sogar als diktatorischer Ort seiner Unterwerfung. Die Black
Box ist Abkömmling der so genannten Camera Obscura, deren
zentralperspektivische Konstruktion das Publikum wie mit einer
Schraubzwinge in einer ideologischen Konstruktion fixieren soll.[25]
Während die White Box als Wandelhalle begriffen wird, in der das
Publikum sich frei bewegen kann, herrscht laut dieser Theorien in der Black
Box die Unterordnung in eine vorgegebene Ordnung des Sehens und oft
auch – durch die dortige Vorführung zeitbasierter Arbeiten – in eine von
vornherein festgelegte Zeitökonomie. Während im White Cube das
Publikum meist selbst entscheiden kann, wie viel Zeit sie einer bestimmten
Arbeit widmet, führt dasselbe Verhalten gegenüber einem Video meist dazu,
dass nicht das ganze Werk gesehen – und somit beurteilt werden kann.[26]
Die Black Box wird daher – vor allem in der gegenwärtigen Kunstkritik –
oft als Souveränitätsverlust erlebt, als unbewältigbare Aufgabe, als
Höhlensystem das einen Gesamtüberblick über eine Ausstellung verweigere
und den Zugriff auf ihre Totalität verwehre.[27] Sie wird zum Bestandteil
von unübersichtlichen Ausstellungslabyrinthen, sie überfordert, ja, sie
verwandelt sogar die hellen Räume in Fremdkörper:
Wenn es gelegentlich doch eng wird […] liegt es weniger an der Übermasse des Publikums als an
den labyrinthischen Gehäusen […]. Die große Zahl der Videoinstallationen verlangt räumlich
ihren Preis. Es ist eng und dunkel in diesen Schaukästen, nur ganz selten und dann als
Fremdkörper wirkend, dürfen Bilder oder Skulpturen in einem hellen, weiten Raum auf sich
aufmerksam machen.[28]
Die Black Box innerhalb des Museums ruft angeblich eine spezifische
Angst im Betrachter hervor, da er sich dort nicht entscheiden kann, ob er
bleiben oder weitergehen soll.[29] »Video and film installations have now
introduced deepest night or dusk in the museum«,[30] schreibt etwa Boris
Groys. Groys sieht geradezu das Ende des White Cube Modells
heraufdämmern, denn es sei nicht mehr länger das Museum, das die
Kontrolle über die Beleuchtung seiner Räume habe, sondern der Künstler.
Damit nicht genug, sind auch noch Klassenaspekte mit dem
Ressentiment gegen die Black Box im Ausstellungsraum verknüpft. Wie
Mark Nash argumentiert, verbindet sich immer noch der Ruch des
Populären mit dem Kinoraum, während der White Cube mit der eher
elitären Welt des klassischen Ausstellungsbetriebs verbunden wird.[31]
Zusammenfassend wird die Black Box immer wieder als bedrohliche
Konkurrenz zum White Cube Modell wahrgenommen. Und in den immer
wieder laut werdenden Ressentiments gegen die Black Box spiegelt sich ein
Bedrohungsszenario, das an Le Corbusiers Visionen heraufdämmernder
Dekadenz und überbordender Weltlichkeit durch die pathologische Kraft
des Kinos erinnert. Sie macht gleichzeitig passiv und ortlos, sie überwältigt
und unterfordert, sie bringt trotz ihrer diktatorischen Anordnung
letztendlich alles durcheinander. Es ergibt sich also ein fast schon
manichäisches binäres Modell, in dem der schwarze und der weiße
Ausstellungsraum einander gegenübergestellt werden – meist zu Ungunsten
des ersteren.
Vor allem im Bereich der Gegenwartskunst koexistieren beide Modelle
der Ausstellung jedoch immer häufiger. Und dort geraten ihre
verschiedenen Ökonomien von Zeit und Raum in einen Konflikt, der zu
einem großen Teil von den bislang dargelegten Grundannahmen über White
Cube und Black Box geprägt wird.
BIBLIOGRAFIE
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Paris: Albatros, 1978
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von Dan Graham, Steve McQueen, Douglas Gordon, Doug Aitken, Eija-Liisa Ahtila, Sam
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Simulation.« In: Christa Blümlinger (Hrsg.): Der Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen
zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien: Sonderzahl, 1990
Wigley, Mark: White Walls Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Boston: MIT
Press, 1995
ANMERKUNGEN
1 Vgl. Wigley: White Walls Designer Dresses, S. XIV.
2 Ebenda.
3 Erster und wichtigster Theoretiker dieses Raums ist O’Doherty: In der weißen Zelle.
4 Ebenda, S. 9.
5 Vgl. Wigley: White Walls Designer Dresses, S. XIV.
6 Vgl. ebenda, S. XVI.
7 Ebenda.
8 Zit. in: ebenda, S. 9, 10.
9 Vgl. ebenda.
10 Ebenda, S. 2-3.
11 Ebenda, S. XVIII.
12 Zit. in: ebenda, S. 3: (»Everything is shown as it is.«).
13 Ebenda, S. 8.
14 Vgl. ebenda, S. XXIII.
15 Ebenda, S. 8.
16 Vgl. ebenda, S. 30.
17 Vgl. ebenda, S. 8.
18 Zit. in: ebenda, S. 30.
19 Paradigmatisch dafür etwa Baudry: »Effets ideologiques produits par l’appareil de base«.
20 Vgl. Paech: »Rette sich wer kann«, S. 34.
21 Etwa in: Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«.
22 Frohne: »›That’s the only now I get‹«.
23 Paech »Rette sich wer kann«, S. 33.
24 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
25 Vgl. Paech »Rette sich wer kann«, S. 36-37.
26 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
27 Vgl. z.B. Hablützel: »Diskurse der guten Absichten«.
28 Ebenda.
29 Vgl. Groys: »On the aesthetics of video installations«, o. S.
30 Ebenda.
31 Vgl. Nash: »Art and Cinema«, S. 129.
32 Vgl. in: ebenda, S. 130.
33 Ebenda, S. 129.
34 Vgl. ebenda, S. 132-133.
35 Vgl. Buergel: DIE REGIERUNG. o. S.
MAKOTO TAKEDA
ZAUBERSPRÜCHE
inwendig zu leernende
zaubersprüche gegen s(pr)achschäde(l)n
(nota bene kein tippbefehler: keine saubersprüche)
für alle menschen, die diese sprache reden
mit der helzrichen ermuntigung
um ihre weiterfüürung
und mit der freundlichen empfehlung
um ihre intergration in die kursbücher für DAV
natürlich abkürzung für
deutsch als vatersprache
mit der weiteren freundlichen empfehlung
um ihre einnahme in dulden und brickhaus
damit beim tippen keine dieser verdammt irritierenden
autokorrekturlinien unterschwellig uns auferziehen
mit der glücklichen fforderung
um ihre ständige aufnahme in alle doitsche anthologien deutscher
dichtungen
als autorennahmenloses rekordgelück mit der längsten und aufdringlichsten
unterschrift
selbstverständlich biounlogisch
warß und schweiz
schweiß und warz
scheiß und scharz
arz und eiß
geiz und garß
barz und beiß
heiß und harz
schwelb und garz
garb und schwelz
schelz und gwarb
arz und elb
kerz und kalb
darl und derz
herz und harl
welb und geiß
geib und welß
gelß und weib
elb und eiß
teiß und telb
peib und pelß
helß und heib
und.oder.oder.und
eur.odd.ordnun.de
o.droun.der.duden
undo.deud.r.orden
AMY EVANS
ACHIDI J’S FINAL HOURS: THIS THING THAT
HAPPENED IN ASCHAFFENBURG …
INTRODUCTION
In July 2001, a call to demonstrate was circulated so extensively that in a
matter of days only a few in the Black Community in Germany could claim
not to have heard about the two police officers in Aschaffenburg who had
allegedly used expanding full metal jacket ammunition[1] to subdue a
young African woman.[2] Initial reports issued by the police authorities of
Aschaffenburg[3] described Mareame N’Deye Sarr as ›physically superior‹
to her husband and ›outraged‹ beyond an ability to react reasonably to
police instructions. The same reports neglected to include the fact that
Alexander Wegener, Sarr’s estranged husband, had earlier that week
managed to gain sole custody of the couple’s two-year-old son without
Sarr’s knowledge or permission. In Sarr’s case, her effort to defend herself
against three men, two of them armed and in uniform, transformed her from
a young mother panicked over the loss of her child into a woman so
threatening that a type of bullet once banned by the Hague[4] for its
destructive potential was the only option the police could see to use.[5]
During the demonstrations that took place in Aschaffenburg, key
organizers introduced the idea of using performance as a way to pay tribute
to those whose lives had been lost as well as to comment upon racially-
motivated brutality in Germany. The result was a three-year development
process culminating in the world premiere of Achidi J’s Final Hours in
London, England.[6] What follows are four excerpts from that play.
ACHIDI J’S FINAL HOURS
CHARACTERS
ISA, a Black woman in her mid-twenties, Senegalese
AWA THIAM, Isa’s friend, a Black woman in her thirties, political refugee,
Senegalese
ACHIDI J, young Black man, nineteen, seeking asylum from Cameroon
GUY, friend and colleague of AWA, early thirties, political refugee from
Cameroon
ALEX, Isa’s husband, late twenties, White German
ANDY, ALEX’s friend and co-worker, early to mid twenties, White German
JÜRGEN F (Officer 1), a White German man in his early forties
STEPHAN S (Officer 2), young White German man, twenty
CIVIL SERVANT, a White German man in his early to mid forties
SETTING
A city near Frankfurt/Main, 1999-2001. Dates indicated here are used to
clarify time sequence for the benefit of the company, and may or may not
be made explicit to an audience.
Scene 17
A rally outside the police station.
AWA: want safe there is no safe back to the place we risked our lives to
leave risked lives to save lives shelter asylum shelter no asylum ›home‹ not
home like a prison not protection skins do the job that home office can’t do
ministry of interior can’t do call it accident call it youth out of control but I
call it murder all the same
keep the home office clean police station clean politicians clean come and
take take take all the industry machine laser oil motor raw materials we
industrialized Europe we industrialized this continent the cars run on Africa
it’s Africa on the operating table Africa in the morning coffee Africa at the
bottom of the river Africa in the hospital dead what great ›economic
burden‹, what ›socio-economic crisis‹ show me the gold in ›golden exile‹
police you murder politicians you murder home office you murder the same
accident again and again the same mistake over and over see it happen over
and over it’s murder to kill a man it’s murder for the love of god murder!
murder! murder!
Scene 18
Immigration office. ALEX sits at the table. CIVIL SERVANT sits across
from him.
SERVANT: You understand the situation in this country.
ALEX: Yes.
SERVANT: The implications. (Awkward pause – ALEX clearly doesn’t
understand.) You’re unemployed.
ALEX: I know. But –
SERVANT: You’re obviously not incapable.
ALEX: Incapable?
SERVANT: I don’t believe, from what you’ve told me, that you are a lazy
person. I know Lazy People. Unemployed because they are incapable.
Incapable because they are selfish. Selfish because they simply don’t want
to work. I’ve had them in my office, sitting where you are now. They call
themselves all sorts of things, but in the end they really are the same.
ALEX: I have a son.
SERVANT (opening his dossier): How old is he?
ALEX: Thirteen months …
SERVANT (reading): Here it is. April, millennium baby … no luck on the
German market?
ALEX: The contractor went bankrupt …
SERVANT: Your wife’s from Senegal
ALEX: yes.
SERVANT: Senegal is a very long way from Germany
ALEX: yes …
SERVANT: How could such an ambitious, capable young man land so far
outside of this country’s society?
ALEX: Is this … part of the interview?
SERVANT (brightening): Would you like a cup of coffee?
ALEX: No. Thanks.
SERVANT: Do you mind if I drink mine while we talk?
ALEX: Of course not.
SERVANT: Don’t you get tired?
ALEX: Of what?
SERVANT: All this. Bureaucracy.
ALEX: I suppose it’s necessary
SERVANT: but it must exhaust you. Reinventing yourself again and again
…
ALEX: reinventing what?
SERVANT: What if she’s told me that her husband can’t resist a good cup
of coffee? You don’t trust her. So you sit there. Dying for a cup –
ALEX: I said I’m fine
SERVANT: you’re sure? It’s only in the next room.
ALEX: No. Thank you.
SERVANT: So your wife works.
ALEX: I’ve heard her talk about starting a business
SERVANT: a what?
ALEX (sensing that he’s slipped up): It’s talk. That’s all.
SERVANT: Does your wife speak German?
ALEX: Yes
SERVANT: and do you speak Senegalese?
ALEX: There is no ›Senegalese‹
SERVANT: a few words? Something she taught you?
ALEX: I know a little French
SERVANT: demonstrate.
ALEX: Bourde … ta … mère
SERVANT: and what does she think she could sell?
ALEX: I don’t know.
Pause.
SERVANT puts a cigarette in his mouth and offers one to ALEX. ALEX
accepts. SERVANT lights his cigarette and then lights ALEX’s.
SERVANT: Alex. Can I call you Alex?
ALEX: Yes …
SERVANT: Nobody has a problem with you. I want to make that clear. I
know that this atmosphere, the circumstances, can lead one to believe that
we’ve got a problem with you. I want to make it as explicit as possible that
this is not the case. Yeah?
ALEX: Yes.
SERVANT: Wouldn’t you like to go into business?
ALEX: It’s not my thing.
SERVANT: Right, what is your ‘thing’?
ALEX: I’m looking –
SERVANT: You’re not looking, you’re smoking! In Senegal. And waiting
for returns on an investment that once it turns eighteen will leave you right
back where it all started. Sitting on your ass and smoking
ALEX: Look, can’t I smoke a cigarette?
SERVANT: Go right ahead
ALEX: You offered it to me. I took it because you offered.
SERVANT: What else would you take if I offered it to you?
ALEX: This is bullshit!
SERVANT (as if ALEX has finally seen the light): YES.
ALEX (thrown off by such hearty agreement): I don’t know how to say this,
but –
SERVANT: yes?
ALEX: my
SERVANT: yes?
ALEX: my son is all I have.
Slowly SERVANT begins to applaud. ALEX starts to get up.
SERVANT: Have a seat, please.
ALEX: Look, I don’t have to –
SERVANT: SIT DOWN. (ALEX sinks back into his seat.) What kind of
mother is your wife?
ALEX: Huh?
SERVANT: Is she a good mother? Caring, attentive? Is she shit?
ALEX: She’s good.
SERVANT: Could she be better? Look.
SERVANT rolls up the leg of his pants and shows ALEX a scar.
My dog did this. She used to attack me if I came too close to her puppies. I
got this the day I finally sold them. But you realize that the predicament
you’re in is very different. Everyone loves puppies, even cross-bred pit
bulls. Cross-bred people don’t enjoy the same kind of attention/
ALEX: My son is not a puppy.
SERVANT: Of course he’s not –
ALEX: He’s human. My wife / is human too.
SERVANT: Right, I’m only trying to point out that /
ALEX: What are you trying to point out?
SERVANT: No matter how you see / them
ALEX: Yeah?
SERVANT: … well … frankly, Alex …
ALEX: What?
SERVANT: Fatherhood is the only job you’ll have forever. The pay is quite
bad, but it’s better than nothing.
Scene 19
Early July 2001.
ALEX’s apartment, late evening.
GUY, AWA and ISA are seated on the sofa. ISA is holding her son.
GUY: The way she climbed the steps – like an Olympic runner going to
light the torch except slow motion, and imagine the torch is a microphone.
And people clapping like rain crashing down, stamping feet and singing
songs, the men first, then the women shouting back, and then all one on top
of the other and the crowd looks like it’s churning ocean water and they’re
chanting and it seems as if nothing can stop them! But when she – she
there, yes – when she takes the microphone in her hand – there’s a crack –
feedback squealing, ooh, it hurt – and the rest of us down on the ground
thought noooo, it’s always like this, always such moments technology is
destined to fail
AWA: nobody checks these things.
GUY: Awa!
AWA: 27, 582 students Isa
GUY: Awa listen
AWA: and who among them can repair a broken microphone?
GUY: That was not the problem
AWA: what was the problem then?
GUY: We concluded it was Awa’s magnificent voice
AWA: ah!
GUY: that had short-circuited the cables in the sound system. It seemed that
all was lost. But then something incredible happened, I will never forget it
as long as I live. Silence. Like the top of a mountain, silent. Thousands and
thousands of people, ever heard a place where there are people and they’re
all still? It’s like the ground is breathing is what it sounds like. The sound
before an earthquake is how it feels
AWA: you were never in an earthquake, Guy
GUY: like a storm speaking, if thunder had a tongue. Everybody listened.
And then when she was done – you hear this one big breath – 27,000 lungs
filling up with air – and then an explosion of chanting, a cloud of dust and
for a moment it seemed there was no oxygen left in the air – and I still
remember how the dust stung my eyes, and how the crowd became a blur of
faces --
AWA: It wasn’t the dust that made you cry.
GUY: You should never interrupt someone who is singing your praises.
AWA (to ISA): Give him to me.
AWA takes the baby from ISA and exits off.
GUY: That was before the massacre – her children were still alive, she and
Alain were always together – they’d never spent a day apart. So on
occasions like these, when I want to cheer her, I remind her of who she used
to be. You know she’s due in court in a few week’s time?
ISA: What happened?
GUY: She said some words she shouldn’t have said. I tried to warn her –
it’s like trying to warn a bird not to fly.
ISA: It’s going to get her killed.
GUY: I don’t think so.
ISA: If something were to happen to her …
Pause.
GUY: You know your eyes. They’re very big. They take up the whole of
your face. You look like a baby antelope. And the shade of your lipstick is
not one I would choose. In fact you’d look better without it. You should
emphasize your natural beauty more. And you don’t talk very much,
although I can see in your big eyes that you have plenty to say and your
voice is not bad, why don’t you say a bit more? Look at Awa, how she goes
on and on and
ISA: is that the way you talk to a woman in her own home?
GUY: I’m trying to flirt with you. Am I succeeding?
AWA returns, ready to go.
AWA: Is he telling you more about the mountains he’s climbed?
GUY: I’ve climbed many mountains
AWA: ignore him, Isa
GUY: you see she always interrupts at the point where I am about to sing
her praises
AWA (ushering him out): It’s after midnight already. Goodnight, Isa
GUY: Isa … Isa … I did climb a mountain once. Horrible – alone, I was
dizzy, my stomach was weak, my knees – but at some point there’s no more
choice of direction – if you’re afraid, well, you take your fear with you –
and the view, such a view – but better than the view is the silence – thick,
round, and gentle – I thought this must be the sound of death –
GUY opens the door and finds himself face to face with ALEX.
After a beat, GUY realizes, lets ALEX in.
ALEX (to ISA): Are you leaving?
This dialogue runs simultaneously over the lines that follow it:
_____________________________________________________________
__
GUY: who … ?
AWA: Her man
GUY: should we
AWA: no
GUY: leave them alone
AWA: no
GUY: but
AWA: not alone with him.
_____________________________________________________________
___
Scene 20
July 2001, a week later. Scene split to reveal on one side the unemployment
office waiting room and on the other AWA’s apartment. ALEX and ANDY
sit in the waiting room; AWA’s apartment is completely empty.
VOICEOVER: 589.
ANDY: Christ Alex.
AWA enters.
AWA: I don’t like it
ANDY: you could press charges. Assault. Kidnapping
ISA enters, following AWA, her baby in her arms.
ISA: can’t you wait until I’m through the door?
ANDY: I mean, what can she do? Alone? With a kid? You hear me, Alex?
Alex!
ALEX: yeah
ISA: you have to negotiate these things, Awa. But I suppose negotiating
isn’t something you do
AWA: we’re not in Dakar
ISA: not yet
ANDY: go to the child protection agency, the police, get a lawyer
ISA: I did her hair once. She’s fine, just young
AWA: young and stupid
ISA: Would you rent a shop to a single woman wheeling a baby around?
AWA: I would, in fact
ISA: you are a sorry excuse for a businesswoman, all of you ‘activists’ are
ANDY: Are you listening to me?
ALEX: yes!
ANDY: so what do you think?
VO: 590.
AWA: I would feel better if we had something. Documents. Signatures
ISA: No one can take a nursing baby away from his mother.
AWA: He won’t be nursing forever
ISA: I know men who nurse for decades –
ANDY: I’m not trying to tell you what to do.
AWA: Security. Custody, Isa
ISA: I’m his mother
AWA: I’ve heard stories you wouldn’t believe
ISA: about men who breastfeed? Does the German man have tits?
AWA: He has citizenship.
ISA (the baby has bitten her again): Ah, hey!
ANDY: But get someone
ALEX: yeah
ANDY: knowledgeable on your side
ALEX: ‘someone knowledgeable on my side’
ANDY: yeah!
ISA: you’re jealous
ALEX: yeah how?
AWA: shut up, girl
ANDY: Chris … Chris must know people, she knows people like that …
ISA: Nothing I could do to tempt you away from your precious meetings.
But still you mix your business with mine, always telling me to be serious
and criticizing what I do, why? But I figured it out. It’s his face you keep
coming back for. To look at him makes you feel that the world is on your
side – even though it’s not on your side at all. Go on to your hearing. Stop
trying to live everyone’s life but your own
ANDY: Forget how! Fuck how! I’d fucking do it if I could, toss her off the
next bridge, if it were me
ALEX: it’s not ‘you’, is it?
ISA: Guy told me about your children.
AWA: Guy is full of talk!
ANDY: I know that, I’m only saying –
ALEX: good.
ISA: Tears don’t frighten me –
AWA: there’s a box on the landing
ANDY: For fuck’s sake, Alex
VO: 591.
ANDY gets up.
ANDY: If there’s anything we can do, just –
AWA: are you coming? I can’t carry it alone.
AWA exits.
ALEX extinguishes his cigarette and slowly stands.
He crosses to AWA’s apartment.
He collects the baby gently and hushes it as he carries it off.
ISA: I can see him. There he is in front of me, his red face, his cigarettes, I
can see him, he’s saying I’m his father, we’ll be back in an hour, and she’s
looking at her watch and she’s letting him go … you were right, Awa, you
should’ve left it at ›embrace‹ because that’s murder that’s what murder
means, yes Awa, come here, let’s work on your German, you come from a
place where a kiss is a kiss and a slap is a slap but here, ha, you need an
extra stamp in your passport if you want to speak your mind, yes, Awa, let
everyone hear, say murder loud, say it, Murder!
PLAYWRIGHT’S NOTE
Achidi J’s Final Hours was first performed on 6 May 2004 at the
Finborough Theatre in London. The cast and creative team were as follows:
BIBLIOGRAPHY
Appiah, Kwame & James Tutu: »Police kill Senegalese woman in Aschaffenburg.« In: The African
Courier 4(2001): 21
Diederichs, Otto: »Neue Geschoss für die Polizei.« In: die tageszeitung, 26. 5. 2001
Orick, Michael: »Federal’s EFMJ: Expanding Full Metal Jacket.» In: Calibers,
http://www.greent.com/40Page/general/EFMJ.html (17.3.2002)
Polizieidirektion Aschaffenburg, Pressebericht: »Polizeilicher Schusswaffengebrauch in Nothilfe
endete tödlich«, 14. Juli 2001
Smith, Claudia E.: »Bullets.« In: Stop Gatekeeper: The California Rural Legal Assistance
Foundation’s Border Project, http://www.stopgatekeeper.org/English/bullets.htm (17.3.2002)
NOTES
1 Diederichs: »Neue Geschoss für die Polizei«.
2 Appiah & Tutu: »Police kill Senegalese woman in Aschaffenburg«.
3 Polizieidirektion Aschaffenburg Pressebericht: »Polizeilicher Schusswaffengebrauch«.
4 Smith: »Bullets«.
5 According to Otto Diederichs’ article (see above footnote), expanding metal jacket ammunition
was introduced to police forces in Bavaria in October 2000, about ten months prior to the
shooting incident in Aschaffenburg. Regarding the advantages of using this ammunition,
Michael Orick writes: »Expanding bullets are less likely to ricochet after striking hard objects,
and less likely to go too deep and exiting [sic] soft objects, hitting unintended objects who then
call lawyers (this may also not be a real problem depending on your point of view, hit ratio, and
budget).« Orick: »Federal’s EFMJ: Expanding Full Metal Jacket«.
6 Special thanks to the African Refugees Association of Hamburg, Black Students Organisation,
Aischa Ahmed, ADEFRA Berlin, Nicola al-Lauré Samarai, Marcy Arlin at the Immigrant
Theater Project of New York, Rose Ekoule-Djengue, Grada Kilomba, Timothy Hughes,
Initiative Schwarze Deutsche, Caroline Jackson-Smith, Rotraut Junker, Al Laufeld, Jelka
Lehmann, Rebecca Manson-Jones, Sipua Ngnoubamdjum, David Roderick, Otana Thiede, Ché
Walker, and an exceptional company of actors and artists for allowing this story to be told.
Finally, very special thanks to the memory of Dr. Slayton A. Evans, Jr. for making it all possible.
Dedicated to the memory of Mareame N’Deye Sarr and countless others who have suffered at
the hands of racist violence and police brutality.
JINTHANA HARITAWORN
»DER MENSCHHEIT TREU«: RASSENVERRAT UND
MULTI-THEMENPOLITIK IM DERZEITIGEN
MULTIKULTURALISMUS[1]
Gerade wurde ich zum dritten Mal innerhalb von wenigen Monaten gefragt,
wem meine Tasche gehöre. Man wisse nie, sagt die Bibliothekarin, es könne
ja eine Bombe darin sein. Ihre forschenden Augen brennen Wut in mein
multi-ethnisiertes[2] Gesicht. Ich streite mit ihr, ohne ihre Konstruktion
meines Phänotyps als ›muslimisch‹ und somit ›terroristisch‹ anzufechten.
Die Terrorisierung der Bevölkerung im Namen der öffentlichen Sicherheit
macht mich unsicher – und wütend – und ängstlich um die, die sich im
Zweifelsfalle nicht auf eine Verwechslung berufen können.
Ich schreibe in einer Londoner Universitätsbibliothek im März 2005, zur
Zeit der islamophoben Konsolidierung und der Taschen-Hysterie. »Guilty
until proven innocent«, warnt der linke Bürgermeister ›Red Ken‹
Livingston die U-Bahn-Passagiere der multi-ethnischen Hauptstadt auf dem
Weg zur Arbeit voreinander. Über diverse Herkünfte hinweg ebnet der
englische Sinn für Humor unser Verständnis, dass wir im ›Krieg gegen den
Terror‹ keine Rechtsstaatlichkeit erwarten können. So gehen nicht wenige
der Aufforderung auf dem steckbriefartigen Plakat mit den verschieden
farbigen Taschen nach, diese als »Guilty until proven innocent« zu
behandeln, sie weder zu »ignorieren« noch zu »berühren«, und sofort das
Personal oder die Polizei zu benachrichtigen, wenn sie ihnen »verdächtig«
vorkommen.
Mein transnationaler Kontext ist auch der des rassistischen Schlages
nach dem Mord an Hatun Sürücü.[3] Der liberale Diskurs des
›Ehrenmordes‹ ethnisiert häusliche Gewalt als ein kulturelles, angeblich
›muslimisches‹[4] Phänomen. Dies erfolgt in einem Kontext, wo anti-
rassistische, feministische, sexuelle Befreiungs- und andere progressive
Diskurse unter Mottos wie »Multikulturalismus ist schlecht für Frauen«[5]
gegeneinander ausgespielt werden. Die Vielzahl der Parteien, die an
Sürücüs Tod ein Interesse behaupten, von assimilierten Migrantinnen bis
hin zu mehrheitsdeutschen Schwulen, zeigt den Bedarf nach einer Multi-
Themen-Politik,[6] die die Überlappungen der großen sozialen
Bewegungen anerkennt und sich für die parteiisch zeigt, die ihrer
Konkurrenz üblicherweise zum Opfer fallen.
Ich illustriere dies der feministischen und sexuellen
Befreiungsbewegungen, die sich trotz ihrer ›Bündnis‹-Rhetorik gegenüber
anti-rassistischen Interventionen resistent gezeigt haben. Im Gegensatz
hierzu fordert kritische Weißseinsforschung nicht nur eine Bündnisarbeit
zwischen scheinbar trennbaren Gruppen wie ›Frauen‹ (weiß),[7]
›Migranten‹ (männlich) und ›Schwulen und Lesben‹ (weiß), sondern eine
ehrlich positionierte Verbündetenarbeit, welche einen sozialen Kontext wie
die Frauenbewegung bereits als Koalition zwischen unterschiedlich
positionierten Frauen erkennt und durch konkrete Umverteilungsakte zu
verändern sucht. Besonders vielversprechend erscheint mir das Konzept der
›verräterischen Identität‹, die ihre Treue zur Menschheit durch den Verrat an
der eigenen dominanten Gruppe beweist. Doch muss auch dies positioniert
werden. Ist Dominanz aus einer dominanten Perspektive erkennbar,
geschweige denn verratbar? Sind die Prozesse, durch die dominante und
minorisierte Leute zu VerräterInnen werden, dieselben? Wie ich jetzt zeige,
sind die ersten, denen Verrat vorgeworfen wird, oft nicht Verbündete,
sondern Überlebende[8] von Gewalt.
»IS MULTICULTURALISM BAD FOR WOMEN?«
SEXISTISCHE GEWALT UND RASSISTISCHER BACKLASH[9]
Tod im Sand: Der Sandstrand in der Morecambe Bucht, welcher gestern auf schockierende Weise
neunzehn weitere Leben nahm, ist für seine trügerische Natur berüchtigt, aber zumindest ist seine
Tödlichkeit weit bekannt. Dasselbe kann man nicht über die schlangenartigen, verborgenen Pfade
sagen, die unterbezahlte ausländische Arbeiter in solch tödliche Beschäftigungen ziehen. Diese
erfordern dringend Nachforschung und scharfe Regulierung.[10]
›Dieses Denken [dass verwestlichte Frauen wie Hatun Sürücü den Tod verdienen, Anm. d. Verf.]
ist tief in den Köpfen [der Schüler],‹ sagte der Direktor einer weiteren hauptsächlich türkischen
Ausländer [Englisch: immigrant]-Schule im Stadtteil, welcher bat, nicht namentlich erwähnt zu
werden. Ihre Bemerkungen, sagte er, erinnerten ihn an die spontanen ›Siegestänze‹, welche
ausländische Schüler nach den Anschlägen des 11. Septembers auf New York und Washington
aufgeführt hatten.[11]
Es ist länger als ein Jahr her, seit in der nordenglischen Morecambe-Bucht
am 5. Februar 2004 einundzwanzig chinesische MigrantInnen bei ihrer
unterdokumentierten Muschelsammelarbeit im Meer ertranken, und wenige
Wochen seit dem Mord an Hatun Sürücü am 7. Februar 2005, für den ihre
Brüder verdächtigt werden. Mit dem als ›Morecambe Tragödie‹
naturalisierten Ereignis reiße ich die weitere Orientalisierung von Gewalt
an. Für den ›Menschenhandel‹ sollen chinesische ›Schlangenköpfe‹ und
›Gangmeister‹ verantwortlich sein, für den ›Ehrenmord‹ ein als ›türkisch‹
und somit ›islamisch‹ ethnisiertes Geschlechtersystem, das synonym gesetzt
wird mit häuslicher Gewalt.
Bemerkenswert ist hierbei die Leichtigkeit, mit der diese
Repräsentationen – im Gegenteil zu den so Dargestellten – im vereinten
Nordwest-Europa reisen. Patersons oben zitierter Artikel »How many more
women have to die before this society wakes up?« schließt
MehrheitsbritInnen mit Mehrheitsdeutschen in die eine anständige, mutige
Gemeinschaft zusammen: »this society«, die es politisch korrekten
MultikulturalistInnen zum Trotz wagt, in das Leiden von ›Frauen‹
einzugreifen. Dieser problemlose Identifikation mit dem einstigen
Kriegsgegner steht die Unfähigkeit gegenüber, jegliche Ähnlichkeiten mit
als ›muslimisch‹ konstituierten BritInnen zu erkennen. Diese werden
weißen BritInnen unähnlicher als Mehrheitsdeutschen, deren ›Probleme mit
ihren MuslimInnen‹ man gut versteht. Schließlich inszenierte man seine
eigene ›honour-crimes‹-Diskussion und sein eigenes islamophobes Drama.
Hier explodierte der Diskurs mangelnder Integration noch vor dem
gemeinhin als Auslöser bezeichneten 11. September 2001.
Bezeichnenderweise wurden die nordenglischen Unruhen des Sommers
2001 jedoch nicht als ›türkisch‹ rassifiziert, sondern als ›asiatisch‹.
Tatsächlich galten MigrantInnen aus der Türkei in Britannien bis zu ihrer
relativ jungen Entdeckung für die Asyldebatte als ›weiß‹ und relativ
unproblematisch. Die derzeitige Identifikation weißer BritInnen mit weißen
Deutschen ist das letzte Kapitel einer orientalistischen Geschichte, in der
sich der ›zivilisierte Westen‹ über historische, nationale und ethnische
Unterschiede hinweg gegen den ›barbarischen Orient‹ vereint.
Dieser Weißseinsdiskurs homogenisiert nicht nur seine Anderen, sondern
auch die eigenen Widersprüche von Klasse und Geschlecht. Sein Subjekt
vergisst im Akte der Ethnisierung, wie die eigene Kultur Gewalt
normalisiert und als akzeptable Praktik an mehrheitsdeutsche und
ethnisierte Kinder weitergibt. Klassen- und häusliche Gewalt gibt es nur in
südlichen Kulturen, die die Migrierten unverändert eingeführt haben sollen.
Es ist nicht gewalttätig, sondern normal, wenn Weiße ihre PartnerInnen
erniedrigen und Kinder missbrauchen. Und nicht Klassenunterdrückung,
sondern ›Arbeitsplatz-Beschaffung‹, wenn in Armut lebende Menschen
durch die Hartz-IV Arbeitsmarkt- und Sozialhilfereform in 1-Euro-Jobs
gezwungen werden; nicht Ausbeutung, sondern ›Ausländerfreundlichkeit‹,
wenn einzig der eigene wirtschaftliche Nutzen als Argument zugunsten von
MigrantInnen verbleibt.
Normalisiert wird auch die Art von Gewalt, der Ethnisierte beständig
ausgesetzt sind. Wir erfahren nichts über die Migrationsregime, die heutige
ArbeitsmigrantInnen strukturell unterdokumentieren und so ausbeutbare
Hierarchien in Beziehungen, am Arbeitsplatz oder auf dem Migrationswege
erst erzeugen. Oder über die einleitend illustrierten ›Anti-Terror‹-
Maßnahmen, die die als ›muslimisch‹ Ethnisierten zu Zielscheiben
staatlicher und ziviler Gewalt machen.
Im deutschen Diskurs geht die Machtnegierung,[12] mit der Gewalt
externalisiert wird, noch weiter. Die Aufforderung, in häusliche Gewaltakte
zwischen Ethnisierten ›einzugreifen‹, hat Übertöne mit der öffentlichen
Kampagne für ›Zivilcourage‹, durch die ›anständige Deutsche‹ das
Eingreifen in ›ausländerfeindliche‹ Gewaltakte erlernen sollen.[13] Dies
verschiebt die Frage von TäterInnenschaft von Mehrheitsdeutschen auf ihre
Opfer, gegen deren patriarchale Kultur ›Gutmenschen‹ aus Angst vor
Rassismusvorwürfen zu tolerant geworden seien.[14] Nicht nur sind anti-
rassistische Interventionen nicht mehr vonnöten; sie sind sogar gefährlich.
Im Nicht-Einwanderungsland wird die Forderung laut, Multikulturalismus
noch vor seiner Einführung abzuschaffen. Wie andere Darstellungen des
ethnisierten Sexismus[15] entlastet der ›Ehrenmord‹-Diskurs den liberalen
Mainstream von seiner eigenen Abscheu gegenüber einer multi-ethnischen
Gesellschaftsvision.
Anti-Rassismus wird im Namen von Frauenrechten diskreditiert.
Dominante Feministinnen nehmen hierin eine aktive Rolle an. Die
Entdeckung der ›häuslichen Gewalt‹, dem traditionellen einen Thema des
dominanten Feminismus, durch die Mainstream-Politik ermöglicht es
weißen Frauen wie Susan Okin und Alice Schwarzer, als ebenbürtige
Partnerinnen in diese einzutreten.[16] Dies ist keine neue Entwicklung,
legitimierten doch schon im 19. Jahrhundert weiße Feministinnen den
Kolonialismus als angebliches Werkzeug gegen ethnisierten Sexismus.[17]
Mit der formellen Gleichstellung weißer Frauen mit weißen Männern fragt
sich jedoch, wie ›die Muslime‹ bzw. ›der Multikulturalismus‹ zum
eigentlichen Täter geworden sind. Verkörperten früher militaristische
Regierungen ›das Patriarchat‹, ist die dominante feministische Kritik an
ihnen nunmehr, dass sie ›das eigentliche Patriarchat‹ nicht genügend
bekämpfen. Am deutlichsten wurde dies im Angriff Afghanistans, der durch
die ›Befreiung‹ afghanischer Frauen gerechtfertigt wurde. Anti-Sexismus
wird so zum schlagendsten Argument für kollektive Gewaltakte, die
Männer und Frauen gleichermaßen viktimisieren. Wie Sherene Razack
zeigt, zwingt der Rechtsruck weißer Feministinnen im Dienste des
islamophoben Backlashes gerade als ›muslimisch‹ ethnisierte
Feministinnen, die »Bürde der Repräsentation«[18] häuslicher Gewalt
allein zu tragen:
Wie ist es möglich, patriarchale Gewalt innerhalb muslimischer Communities anzuerkennen und
zu konfrontieren, ohne in Argumente über kulturelle Defizite zu verfallen (sie sind allzu
patriarchal und grundauf unzivilisiert), und ohne extreme Maßnahmen der Stigmatisierung,
Überwachung und Kontrolle auszulösen, die nach den Ereignissen des 11. September 2001 so
zugenommen haben? In diesem Artikel suche ich einen Standort, an dem ich weder Bomben noch
die Faust eines Mannes im Gesicht einer Frau akzeptiere.[19]
Ignatievs Verrat ist erfreulich radikal, aber auch auffällig unpositioniert. Ich
lese ihn als einen ›Menschen‹ in mehr als einem Sinne – nicht nur weiß,
sondern auch nicht-queer, nicht-trans, nicht-behindert, männlich und
Mittelklasse –, der sich den Konflikt mit staatlichen Institutionen wie dem
Gefängnis oder der Psychiatrie aussuchen kann. Auch interpretiere ich sein
Politikverständnis wie viele dominante Anti-Rassismen als maskulinistisch.
Ignatievs authentisches anti-rassistisches Subjekt ist jung, männlich und
gewaltbereit.
Dagegen positionierte Minnie Bruce Pratt ihre Bewusstwerdung
innerhalb des amerikanischen weiß- und nicht-jüdisch-dominierten
lesbischen Feminismus der 70er und 80er Jahre. Institutionen wie die
Gerichte traten in ihrer Erzählung zunächst als sexistisch und homophob
hervor. Nach ihrem Coming Out verlor Pratt nicht nur ihr Kind, sondern
zunächst auch ihre Familie, die lieber keine als eine ›unanständige‹ Tochter
wollte. Sie suchte Zuflucht in der Frauenbewegung, welche sich rasch als
eigener Ort der Gewalt erwies. Pratt wurde mehrfach zur ›Verräterin‹ – als
Rebellin gegen das Patriarchat, aber auch als Verbündete gegen Rassismus
und Anti-Semitismus, die ihre Sisterhood verraten musste, um ihr wirklich
treu zu werden:
Was passiert, wenn ich sage, ich will, dass das anders wird? Werde ich als nächstes hier
unwillkommen sein? Dann kommt die Furcht, nirgends mehr hin zu können – keinem alten
Zuhause bei der Familie – keinem neuen bei Frauen wie uns – und keiner Zugehörigkeit, die man
von Leuten erwarten kann, die systematisch aus unserem [Zuhause, Anm. d. Verf.] ausgeschlossen
worden sind.[40]
Wie ethnisierte Feministinnen vor mir fühle ich mich durch diese Worte
berührt. Pratt würdigt ihre politische Schuld bei widerständigen Jüdinnen
und Frauen of Colour und solidarisiert sich mit Leuten diverser Herkünfte.
Ihre Ehrlichkeit, ihr Mut und Wille, aus paradoxen Machtverhältnissen Sinn
zu machen, erhält besondere Relevanz in der derzeitigen Realpolitik von
Gender-Mainstreamung und Anti-Diskriminierung, in der die
privilegiertesten aller ›Frauen‹, ›Schwulen‹ und ›Migranten‹ auf dem
Rücken ihrer diskriminiertesten Mitglieder um öffentliche Anerkennung
und Ressourcen ringen.
Pratts aufrichtig positionierte Multi-Themen-Politik liefert eine
Alternative sowohl zur wehleidigen Selbstgerechtigkeit der Unterdrückten
als auch zum machtnegierenden Relativismus vieler PostmodernistInnen.
Ihr Frausein ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer Politik, welche
emanzipatorische Räume für möglichst viele öffnen will. In einem Kontext,
in dem sich transsexuelle Frauen den Zugang zu ›Frauen‹-Räumen wie dem
Michigan Women’s Music Festival und dem Lesbenfrühlingstreffen
wörtlich erkämpfen müssen, ist dies wichtiger denn je.
Pratts Verbündetenarbeit stärkt meine Anfechtung von Ein-Thema-
Politiken wie den weißen feministischen, schwullesbischen und queeren
Bewegungen. Ihre Bereitschaft, mit ihren Schwestern zu ringen, inspiriert
auch meine Versuche, Verbündetenarbeit zu leisten. Wenn lesbische
Migrantinnen und Schwarze Frauen mir sagen, der Einschluss
transsexueller Frauen gefährde ›unsere Sache‹, erinnere ich mich daran,
dass Transphobie eine Sache ist, die dringend verraten werden muss. Doch
›beschmutze‹ ich ›Nester‹, die bereits vielfach umkämpft sind. Ich bringe
mit mir Geschichten von Multiethnisierten, denen der Verrat ins Gesicht
geschrieben stand, auf der Zunge lag und im Blut; von Bisexuellen, die ihre
Geliebten verleugneten. Dies stellt besondere Herausforderungen an meine
Versuche, der Menschheit treu zu werden. Dominante und minorisierte
Positionen von Verrat und Treue werden nicht in luftleeren Räumen
verhandelt, sondern vor dem Hintergrund traumatischer Geschichten wie
dieser.
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ANMERKUNGEN
1 Dieser Artikel wurde vor den Anschlägen auf das Londoner Transportsystem des 7. Juli 2005
geschrieben, auf die eine weitere Potenzierung des hier diskutierten Backlashes gefolgt ist. Am
22. Juli wurde Jean Charles de Menezes, ein nicht-muslimischer brasilianischer Migrant, zum
ersten Opfer der ›Shoot to kill‹-Politik. Obwohl sich Menezes’ Lesung als »Terrorist« schnell als
»Verwechselung« herausstellte, und obwohl in Großbritannien ein vergleichsweise großes
Bewusstsein über Polizei-Rassismus herrscht, genießt diese Politik breite Akzeptanz. Der Tod
Menezes’ bezeugt einerseits das Weiterbestehen eines biologischen, auf phänotypisierenden
Zuschreibungen beruhenden Rassismus. Andererseits unterstreicht er die Notwendigkeit einer
Koalitions- und Solidaritätspolitik, welche über die größeren diasporischen Bewegungen
hinausgeht.
2 Ethnisierung beschreibt einen Grenzziehungs- und Hierarchisierungsprozess, der neben
›kulturellen‹ und ›nationalen‹ Konstrukten wie Name und Staatsangehörigkeit auch
›phänotypische‹ wie Hautfarbe, Gesichtszüge und Körpergröße mobilisiert (vgl. Miles: Racism
after Race Relations). Mein südostasiatisches Mixed Race Beispiel zeigt, dass ›Phänotyp‹ kein
objektiv ablesbares biologisches Faktum ist, sondern sozial konstruiert und umfochten, zugleich
aber reale Auswirkungen hat, die in Deutschland in der Regel abgestritten werden. Ethnisierung
kann Menschen majorisieren oder minorisieren. Das Adjektiv ›ethnisiert‹ benutze ich als
koalitionären Überbegriff für Schwarze, asiatische, migrantische, jüdische und andere
minorisierte Leute.
3 Der Mord an Sürücü am 7. Februar 2005, für den ihre Brüder verdächtigt werden, wird in der
Presse als tragischer ›Ehrenmord‹ an einer, im Gegensatz zu anderen Migrantinnen türkischer
Herkunft, verwestlichten und daher ›emanzipierten‹ Frau beschrieben.
4 ›Muslimisch‹ ist in diesem Zusammenhang ein ethnisierender Diskurs, welcher wenig über die
Selbst-Identifikation der so Konstituierten aussagt. Vgl. Razack: »Imperilled Muslim Women«.
5 Okin: Is Multiculturalism Bad for Women?
6 Ich definiere Multi-Themen-Politik im Gegensatz zu ›Single-Issue‹-Politiken wie viele
dominanten feministischen, die die Interessen der privilegiertesten Frauen auf Kosten
ethnisierter, Arbeiterklasse-, behinderter und transsexueller Frauen vertreten (z.B. Moraga &
Anzaldúa: This Bridge Called My Back, Hügel et al.: Entfernte Verbindungen, Morris: Pride
Against Prejudice, Wilchins: Read My Lips).
7 Diese Schreibweise von ›weiß‹ stammt nicht von mir, sondern folgt dem Konzept dieses
Buches.
8 ›Überlebende‹ oder Survivors beschreibt Leute, die Beziehungs-, familiäre, sexuelle oder andere
Gewalt überlebt haben. Ich weite den Begriff auf andere, überlappende Arten von Gewalt aus,
z.B. gegen Ethnisierte und Transleute. Die Bezeichnung macht nicht nur die primäre Gewalt,
sondern auch die sekundäre Gewalt erkennbar, welche Überlebenden ihr Widerstandspotential
abstreitet. So wird Überlebenden unterstellt, die Gewalt ausgelöst zu haben oder hilflos und
verrückt zu sein.
9 Meine Gedanken zum Mord an Hatun Sürücü sind in Zusammenarbeit mit Jennifer Petzen und
Esra Erdem entstanden. Vgl. Erdem, Haritaworn & Petzen: The Politics of Migrant Women’s
Rights.
10 »Death on the Sands.« In: Guardian 7.2.2004, S. 1 Die auf Englisch angeführten Texte sind von
mir übersetzt. Meine Übersetzungen verwenden anti-sexistische Formen wie das ›große I‹ nur
bei offensichtlich anti-sexistischen VerfasserInnen.
11 Paterson: »How Many More Women Have to Die.« In: Telegraph 27.2.2005, o.S, meine
Übersetzung.
12 Mein Konzept der ›Machtnegierung‹ ist an Ruth Frankenbergs Konzept der power evasiveness
angelehnt und beschreibt Diskurse und Praktiken, durch die sich relativ dominante Personen der
Verantwortung für ihre Dominanz entziehen (Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 14).
13 Vgl. Meyer et al.: Zivilcourage lernen.
14 Vgl. Zucker: »Die Macht der Mütter«.
15 Z.B. ›Beschneidung‹ und zuletzt ›Zwangsheirat‹ (Esra Erdem, persönliche Mitteilung).
16 Vgl. Schwarzer: »Augen fest verschlossen«.
17 Vgl. Bush: Edwardian Ladies and Imperial Power.
18 Mercer: »Black Art and the Burden of Representation«.
19 Razack: »Imperilled Muslim Women« S. 129, 131.
20 MacGuire zitiert in: Mama: The Hidden Struggle, S. 165.
21 Aktaþ: »Türkische Frauen sind wie Schatten«, S. 57, Anm. 1, S. 57-58.
22 Southall Black Sisters (SBS): »Domestic Violence«, o.S.
23 Vgl. Dobash & Dobash: Women, violence and social change.
24 Vgl. Razack: »Imperilled Muslim Women«.
25 Vgl.: Feddersen : »Was guckst du? Bist du schwul?«.
26 Vgl. die Auszüge aus den offenen Briefe der Gruppe Gays and Lesbians aus der Türkei, dem
englischen Safra Project für muslimische LBTQ-Frauen, İpek İpekçioğlu und der Queer und
Ethnisiert Konferenz im Sommer und Herbst 2003, in: Haritaworn: »Nicht in unserm Namen!«.
27 LSVD: »Migranten müssen Verhältnis zu Homosexualität klären«.
28 LSVD: »Mahnwache für Hatin (sic) Sürücü«, o.S.
29 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«.
30 Z.B. LSVD: Muslime unter dem Regenbogen, welches angesichts der Missrepräsentationspolitik
des Verbandes von anti-rassistischen ethnisierten AutorInnen boykottiert wurde. Sowohl auf
Channel 4 als auch auf Arte werden diesen Sommer Programme über als ›muslimisch‹
ethnisierte Schwule und Lesben erscheinen. Die muslimisch-kanadische Lesbe Irshat Manjit,
welche ähnliche Thesen wie Seyran Ateº verbreitet, findet weiten Anklang. Nicht-muslimische
Ethnisierte bleiben dagegen völlig uninteressant.
31 Vgl. Said: Orientalism.
32 Petzen: »Wer liegt oben?, o.S.
33 Wie ich anderswo ausführe, scheitert der queere Anspruch auf Multiplizität im Kern an seiner
Zelebrierung von Dekonstruktion und Transgression und seiner Pathologisierung von
Gerechtigkeit und Positionalität. Vgl. Haritaworn: »Queerer als wir?«
34 Seidman: Beyond the Closet, S. 57. Rivera: »›I’m Glad I was in the Stonewall Riot‹«, o.S.
35 Spade: »Remarks at Transecting the Academy Conference«.
36 Die vorsichtigen und leichtsinnigen Hoffnungen in diesem Teil verdanke ich jenen, die mir auf
unwahrscheinliche, wundersame und großzügige Weise Vertrauen geschenkt haben, sowie
denen, die mutig meine Seele berühren.
37 Vgl. Harding: Whose Science?
38 Vgl. Miles: Racism After Race Relations; Ignatiev: »Treason to Whiteness«, S. 611.
39 Ebenda.
40 Pratt: »Identity«, S. 50.
41 Vgl. Frankenberg: White Women, Race Matters.
42 Vgl. Woo: »Three Decades of Class Struggle on Campus«.
RONAMBER DELONEY
MUSE:ICH
INTRODUCTION
The legal profession is a broad field. It encompasses diverse activities and
engages numerous personnel both within court institutions and outside of
them, including not only judges, advocates and clerks, but also academics,
researchers, and reporters. Thus although the title refers specifically to
lawyers, the question applies to the whole sphere of activities conducted
within the legal profession. This paper is concerned with the overwhelming
whiteness of the German legal profession.
The presence of Black people in a legal profession has been promoted
for a variety of reasons. Paramount amongst these is the need to maintain
the trust of the public in the legal system. In a multicultural society, the
absence of diversity in the legal profession leads to a perception of bias
which can undermine the trust held by parts of the public – especially
historically disadvantaged groups - in the justice system. In order to
maintain the confidence of the public, the legal system therefore needs to
reflect diversity in society. The maintenance of the public perception of
fairness is crucial to an effective legal system.[1]
Statistics on the legal profession in the United Kingdom (UK) indicate
that persons of African, Asian or Caribbean origin comprise: 5% of
solicitors with practising certificates, 9% of barristers, and 2% of Queens
Counsel (QC’s). In relation to the judiciary, there are no Lord Justices, no
High Court judges and just five out of 561 circuit judges.[2] As government
Minister David Lammy has recently said: »It is truly astonishing that in the
twenty-first century, in a country as proudly diverse as Britain, there are no
black High Court judges.«[3]
The absence of people of colour in the legal profession in Germany is
even more pronounced. In contrast to the UK, little attention has been paid
to this since Rueschmeyer highlighted the ethnic homogeneity of the
German legal profession in the 1970s.a The details of this absence are vague
because similar data does not exist: it is unlawful to collect data stratified
by race in Germany, a prohibition which originates not only from the so-
called Census judgement (›Volkszählungsurteil‹)[4] but is also contained
within federal data protection law (Bundesdatenschutzgesetz 2003, BDSG)
[5]. Consequently whilst it is known how many foreigners live and work in
Germany, it is unknown how and where Germans of colour live and work.
This absence of data points to the need for more attention to be paid to this
question.
The origins of my question lie in observations made whilst working as a
legal researcher in Berlin. I was often struck by the fact that I was the only
Black woman in law seminars or at law conferences. Where I did meet
another legal scholar of colour, she or he was also only temporarily in
Germany. My lack of interaction with any other Black legal professionals
may have simply been due to missed opportunities or bad timing, but I
often wondered why there was an absence of colour in law faculties and at
legal conferences both in Berlin and elsewhere.
This paper articulates my ruminations as to why this may be. In some
respects it is a study of absence – the invisibility of Black people in the
German legal profession. My intention in discussing this phenomenon is not
to give a definitive answer: my interest is more to highlight potential
structural origins of this phenomenon and in so doing open avenues for
more empirical research. I do this by drawing upon concepts in sociology
and psychology.
THE STUDY OF ABSENCE
An easy way to dismiss my concern is to base an answer on ethnic
demography: there are too few people of colour in Germany for any
significant presence in the legal profession. An alternative way of phrasing
the question would be to instead ask, why are the majority of legal
professionals in Germany white?
There are advantages to this formulation, the main one being the way in
which it foregrounds whiteness and makes it necessary to thematise
whiteness as an ethnic identity. White is often seen yet unarticulated, or as
Flagg puts it, it is externalised:
White people externalise race. For most whites, most of the time, to think or speak about race is to
think or speak about people of colour […] Whites consciousness of Whiteness is predominantly
unconsciousness of whiteness. We perceive and interact with other whites as individuals who have
no significant racial characteristics […] Whiteness attains opacity […][6]
White women may ignore their racial identity as it is primarily their sexual
identity which is seen as getting in the way.[8] However, it has been argued
that both Whiteness and hetero-sexuality are as privileged in the workplace
as they are in society.[9]
Critical Race Theory, or CRT, performs this interrogation of whiteness.
CRT has been described as a >>collection of critical stances against the
existing legal order from a race-based point of view. Specifically, it focuses
on the various ways in which the received tradition in law adversely affects
people of colour not as individuals but as a group. Thus CRT attempts to
analyse law and legal traditions through the history, contemporary
experiences and racial sensibilities of racial minorities…The question
always lurking in the background of CRT is this: what would the legal
landscape look like today if people of colour were the decision makers?
<<[10]
Critical race theorists have argued that it is impossible to understand the
social and economic circumstances of people of colour without explaining
whiteness which, they argue, operates as a harmful fiction.
CRT challenges accounts which place the experience of whites as the
normative standard, choosing instead to base its concepts and analytical
framework in the particular experiences of people of colour, hoping from
this purview to expose and topple the normative supremacy of whiteness in
American law and society.[11] CRT therefore insists upon a critical-legal
and race-conscious perspective.[12] CRT insists that the social and
experiential context of racial oppression is crucial for understanding racial
dynamics, »particularly the way that current inequalities are connected to
earlier, more overt, practices of racial exclusion.«[13] Communities of
colour are thereby centred as subjects of the law and theory is built around
their experience.
Why then, are the majority of legal professionals in Germany white? Or
rather what can explain the invisibility of Black people in the German legal
system? In this paper I will focus on two factors. The first is drawn from the
sociology of the professions, and focuses on the absence of opportunity for
Black people to pursue legal training. One issue could be that persons of
colour do not have access to appropriate educational opportunities. Patterns
of recruitment may make gaining entry to training for a career in law
difficult. There may be a number of structural impediments specific to the
black experience which are difficult to overcome.
The second factor looks beyond social structural issues to psychology. I
suggest that ›micro-aggression‹ operates to keep Black people out of the
German legal field. The experience of ›micro-aggression‹, a specific form
of everyday racism that is hostile, unspoken and unseen, turns persons of
colour away from seeking intellectual interaction and vocational fulfillment
in the legal profession.
CONCLUSION
Both Germany and the UK are multi-cultural societies which, for the
reasons stated in the introduction above, demand diverse legal professions.
[33] In this short paper I have suggested two factors which may with further
research be able to explain the whiteness of the German legal system from a
race critical perspective. The first assertion was that the absence of Black
people is caused by an absence of opportunity embedded within structural
flaws in patterns of recruitment to higher education. The second assertion
was that the experience of micro-aggression makes the legal profession into
a hostile location for people of colour where subtle statements of inferiority
are conveyed and exclusion is perpetuated.
These assertions need further examination. Is racial inequality really
embedded in the German educational system? Do Black Germans really
experience micro-aggression? Their validity can be ascertained by
conducting surveys on the educational aspirations of young Black Germans
and the fate of these ambitions during formal education. Further research
can also be conducted on the patterns of inter-action between Black
Germans and the legal justice system – is the German legal system seen to
deliver justice by and to Germans of colour?
These are questions which must be asked and addressed at all levels of
the legal system – from the law faculties of universities to the constitutional
court – if it is to be seen as just and fair by all and not just white German
society. It may require a sensitisation of the current legal corps to issues
such as micro-aggression for a real change to take place. But more
importantly it requires the practical involvement of and engagement with
Black Germans. Just as white women began to make inroads in German law
when more white women were active in the legal field, it is necessary for
people of colour to be actively engaged with the German legal profession
before German law recognizes their interests.
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ANMERKUNGEN
1 Cf. Chin: »Fairness or Bias?«, p. 181.
2 Cf. Migdal: »Go forth and diversify«, p. 1.
3 Holloway: »Lammy challenges legal profession over racism«, p. 1.
4 Cf. Bundesverfassungsgericht, 15.12.1983, BverfGE 65, 1.
5 Cf. Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) of 14 January 2003.
6 Flagg: »Transparently White Subjective Decision Making«, p. 85.
7 Grover: »Growing up in White America?«, p. 34.
8 Cf. Edmonson Bell & Nkomo: Our Separate Ways, p. 216.
9 Cf. Wildman: »Privilege in the Workplace«, p. 534.
10 Valdes, McCristal Culp & Harris (Eds.): Crossroads, p. 1.
11 Cf. ibid., p. 4.
12 Cf. Brown: »Confronting Racelessness«, p. 644.
13 Taylor: »A Primer on Critical Race Theory«, p. 122.
14 However, recent research has shown that the study of law does not guarantee a career practising
the law. Research by Carr and Tunnah demonstrate that many Black Caribbean may study the
law at university but are under-represented as practising certificate holders. Carr & Tunnah:
Examining the Effectiveness of the Undergraduate Law Curriculum.
15 Rueschemeyer: Lawyers and their Society, p. 58.
16 Ibid., p. 96.
17 Cf. ibid., p. 100.
18 Cf. ibid., p. 102.
19 Cf. ibid., p. 103-104.
20 Krieger: »The Content of our Categories«.
21 Cf. Teo & Mecheril (Eds.): Psychologie und Rassismus.
22 Cf. Bollwahn, Barbara: »Eine haarige Angelegenheit«. The case before the Labour Court in
Berlin concerned a student who had been fired from her job as a waitress at one of the top Hotels
in Berlin due to her ›non-average‹ European appearance. It was eventually settled out of court.
23 Cf. Deutscher Bundestag, 198th Sitzung, Bonn, Mittwoch 12.3.52, p. 8504-8509.
24 Cf. Linke: German Bodies, p. 115-144.
25 Layton-Henry & Wilpert: Discrimination, Racism and Citizenship, p. 4.
26 There are more than 350,000 foreigners in retirement age who have no intention of leaving the
land where their children and grand-children are. Meier-Braun: »40 Jahre ›Gastarbeiter‹ und
Ausländerpolitik in Deutschland«, p. 41.
27 Cf. Ayim: Grenzenlos und unverschämt.
28 Cf. taz, 19.8.2002.
29 Davis: »Law as Microaggression«, p. 1559.
30 Ibid., p. 1560.
31 Cf. ibid., p. 1561.
32 Landgericht Berlin, 13. Zivilkammer, Beschluss vom 16. Dezember 2003 (Aktenzeichen: 13 O
605/ 03). Richter am Landgericht: Dedner.
33 Cf. Migdal: »Go forth and diversify«, p. 2.
ENDNOTES
a Anita Böcker & Leny de Groot-van Leeuwen, Ethnic Minority Representation in the Judiciary:
Diversity Among Judges in Old and New Countries of Immigration, JUD. Q. (2007), available at
http://www.rechtspraak.nl/NR/rdonlyres/D4F40740-87CE-4B4D-85F6-
70B3A5541599/0/RVR_RECHTSTREEKS_ENGELS_BW3.pdf (last visited June 19, 2008).
b Essed, Philomena (1991)
REGINA M. BANDA STEIN
SCHWARZE DEUTSCHE FRAUEN IM KONTEXT
KOLONIALER PFLEGETRADITIONEN ODER VON DER
ALLTÄGLICHKEIT DER VERGANGENHEIT
1. die Dimension der historischen Schuld, die sich zwar nicht mit der
deutschen Kolonialherrschaft, aber mit den Folgen des
Nationalsozialismus in Verbindung bringen lässt und vor deren
Hintergrund das Ansehen Deutschlands wiederhergestellt werden
sollte;
2. der permanente Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern, der nach
dem Zweiten Weltkrieg zu neuen Arbeitskraftbeschaffungskonzepten
in der Pflege führte und einen Transfer von Pflegepersonal auch aus
dem Ausland einleitete,[22] so dass Schwarze deutsche Frauen nicht
nur gebraucht, sondern möglicherweise als ›weniger fremd‹
wahrgenommen wurden;
3. die Tatsache, dass Krankenpflege gekennzeichnet war – und noch
immer ist – durch soziale Nichtanerkennung und ökonomische
Unterbewertung, also einen im Grunde unterprivilegierten Beruf
darstellt, der für Schwarze deutsche Frauen und Migrantinnen als
›angemessenes‹ professionelles Feld erscheint; sowie
4. die patriarchale Konstruktion einer ›natürlichen‹ Eignung von Frauen
für die Krankenpflege.
SCHWARZE DEUTSCHE FRAUEN IN DER PFLEGE
Die real existierende, bis in die Gegenwart andauernde Präsenz kolonialer
Wahrnehmungs- und Handlungsmuster kennzeichnet eine spezifische
postkoloniale Situation, in der sich alle Schwarzen Menschen in
Deutschland – also auch Schwarze deutsche Krankenschwestern befinden.
Um diese Situation für ein spezielles Berufsfeld einzukreisen und um
gemeinsam darüber nachzudenken und nach widerständigen
Überlebensstrategien zu suchen, brauchen Schwarze deutsche
Krankenschwestern ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen, ihre
unterschiedlichen Lebensgeschichten und ihre verschiedenartigen
Reflexionen. Sie brauchen eine dialogische Kommunikation, in der das
vereinzelte ExpertInnentum vieler zu einer Zusammenschau verschmelzen
kann. Erst in einer solchen Zusammenschau, die gelebte Erfahrungen
zusammenführt und einen kollektiven Rahmen eröffnet, kann Erinnerung
als kraftspendende Ressource für eine diasporische Schwarze deutsche
community nutzbar gemacht werden.
Welche Bedeutung aber haben Schwarze deutsche Krankenschwestern
im Kontext Schwarzer Geschichte in Deutschland? Wie und wo lassen sie
sich verorten? War das Aufwachsen in der DDR und der BRD von
unterschiedlichen Erfahrungen geprägt? Finden sich Parallelen zwischen
Kindheit/Jugend und der Wahl des Berufes? Wie erleben Schwarze
deutsche Frauen ihren beruflichen Werdegang? Wurden rassistische
Handlungen immer auch als solche empfunden und wie wurden diese
verhandelt?
Diese Fragen deuten darauf hin, dass gravierende Leerstellen vorhanden
sind, die sich nicht nur auf den Krankenpflegebereich beziehen, sondern
generations- und systemübergreifend ihre historische Relevanz haben. Die
respektvolle Anerkennung und konsequente Einbeziehung der gelebten
Erfahrung Schwarzer Menschen stellt folglich einen integralen Bestandteil
des entstehenden Schwarzen deutschen Geschichtsverständnisses dar.
Damit befindet es sich ethisch, erkenntnistheoretisch und methodisch in der
Tradition anderer Schwarzer Geschichtsschreibungen.
Die Annäherung an die Interpretationen erfahrener Lebensrealitäten
Schwarzer deutscher Frauen kann meines Erachtens nur erfolgen, indem die
Theoriebildung Schwarzer feministischer Geschichtsschreibung als
Grundlage verwendet wird. Wesentliche Impulse einer methodischen
Vorgehensweise im Sinne Schwarzer feministischer Geschichtsschreibung
vermittelt Gwendolyn Etter-Lewis Text »Black Women’s Life Stories:
Reclaiming Self in Narrative Texts«.[23] Charakteristisch für Schwarze
feministische Geschichtsschreibung ist die Analyse nach Gesichtspunkten
von ›Rasse‹, Gender und Klasse.[24] Duale Denksysteme einer weißen
feministischen Forschung sind hier nicht hilfreich, weil sie Menschen,
Dinge und Sachverhalte systematisch ein- oder ausschließen. Oral history
zum Beispiel reflektiert eine Vielzahl von Erfahrungen und Weltsichten,
wobei insbesondere gelebte Erfahrungen als Wissenskriterium Schwarzer
Frauen als fundamental betrachtet werden.[25] Wissen, Weisheit und
Klugheit sind nach Patricia Hill Collins lebensnotwendig für Schwarze
Frauen, denn ein Wissen ohne Weisheit können sich Subordinierte nicht
leisten. Erfahrung als dritte Größe neben Weisheit und Wissen birgt nach
Collins ein Widerstandspotential in sich und kann durch eine formale
Ausbildung nicht ersetzt werden.[26] Nach Collins kann Wissen nicht von
Einzelpersonen hervorgebracht werden, sondern es steht in der
Verbundenheit – connectedness - von Schwarzen Frauen und dem
Austausch untereinander: es steht in der Tradition des Dialogs.[27]
Das Eintreten in einen Dialog setzt voraus, dass ein Wissen über die
Bedeutung der eigenen Geschichte besteht und dass dieses Wissen zumeist
nur dann präsentiert werden kann, wenn in Kommunikation getreten wird.
Die an anderer Stelle von mir geführten, aufgezeichneten und
transkribierten Gespräche stehen in der Tradition der oral history, eine der
wesentlichen Formen Schwarzer Geschichtsschreibung, tradierte
Erinnerung(en) zu bewahren und festzuschreiben.
Die Entscheidung, Gespräche, Analyse und Interpretation in der
Tradition der Schwarzen feministischen Geschichtsschreibung zu führen,
begründeten sich darin, dass es Schwarze deutsche Frauen sind, die sich
erinnern, dass Schwarze deutsche Frauen eine andere Welt erfahren, als
diejenigen, die nicht Schwarz, deutsch und weiblich sind. Meines Erachtens
ist es nur so möglich, den biographischen Erinnerungen gerecht zu werden.
Das erfordert auch, die Geschichten der Frauen nicht objektivierend
auseinander zu reißen, sondern sie weitestgehend im Fluss zu halten und,
wie es Hill Collins treffend formuliert, ihnen aus tiefster Überzeugung zu
glauben, statt sie als Wissenschaft zu bewundern.[28]
Die biographischen Erinnerungen Schwarzer deutscher
Krankenschwestern dokumentieren eine besondere Begegnung mit und
innerhalb weißer deutscher Geschichtsschreibung, denn sie erhellen eine
alternative Erinnerungs- und Wissenskultur, die aufs engste mit einer
spezifischen, minoritären Geschichtlichkeit verknüpft ist. So konnten an
anderer Stelle die Erinnerungsräume von fünf Schwarzen deutschen
Krankenschwestern dokumentiert werden.[29] Drei von den fünf befragten
Schwarzen deutschen Frauen begannen ihre Ausbildung zu
unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten, an konfessionellen
Häusern in der Bundesrepublik. Während der Ausbildungszeit hatten sie
keine Möglichkeit, ihre Erfahrungen auszutauschen, denn sie waren die
einzigen Schwarzen deutschen Schwesternschülerinnen in einem weißen
christlichen Umfeld. Die neuen Abhängigkeiten, die sich für sie daraus
ergaben, können nicht nur im Kontext der Ausbildung gesehen werden. Alle
drei hatten eine christliche Sozialisierung erfahren, waren an diese Werte
und Normen gebunden und als Schwarze deutsche Frauen in Positionen, die
es ihnen nicht erlaubte, diese machtvollen christlichen, weißen Strukturen
zu hinterfragen beziehungsweise sich dagegen aufzulehnen.
Überlebensnotwendig war, sich in diese Strukturen assimilativ einzufügen,
ohne sich ganz zu verlieren. In den Gesprächen mit den zwei Schwarzen
deutschen Krankenschwestern, die in der DDR ihre Ausbildung
absolvierten, werden andere Strukturen sichtbar. Immer als ›die Andere‹
wahrgenommen zu werden und sich über die erfahrenen Kränkungen nicht
äußern zu dürfen, offenbart noch mal ein anderes Abhängigkeitsverhältnis
innerhalb der Ausbildungs- und Lebensstrukturen in der DDR.
Hineingeboren zu werden in eine Gesellschaft, in der ein »sozialistisches
Nationalbewusstsein wächst, in dem sich sozialistischer Patriotismus und
proletarischer Internationalismus organisch verbanden«,[30] gewährte
keinen Raum, verbale und physische rassistische Übergriffe festzustellen
oder zu ahnden. Eine Kritik diesbezüglich hätte eine Kritik am real
existierenden Sozialismus und dessen Ideologie bedeutet. Gemäß den
Vorstellungen über die ›sozialistische Lebensweise‹, wurde die
›sozialistische Moral‹ als höchster Ausdruck gewertet; gleichzeitig
markierte der vermeintliche Neubeginn eine Weitertradierung rassistischer
Strukturen in der Geschichte der Krankenpflegeausbildung und
Krankenpflege im Osten Deutschlands, die nicht zur Kenntnis genommen
wurde. Auch wenn eine Trennung zwischen christlicher und staatlicher
Berufsausbildung in der Krankenpflege in der DDR durchgesetzt und das
Fach Berufsethik[31] den kirchlichen Einrichtungen überlassen wurde,
muss konstatiert werden, dass christliche Moralvorstellungen latent weiter
tradiert wurden, überformt von einer ›sozialistischen Ethik‹.
Wenn Schwarze deutsche Frauen sich ihrer Geschichte erinnern, brechen
sie ein dominantes gesellschaftliches Schweigen, das jeden Lebensbereich –
folglich auch den beruflichen – umfasst und begeben sich in situative
Erinnerungsmomente, deren Erfahrungswerte deshalb so schmerzvoll und
widersprüchlich sind, weil sie in einer schmerzvollen und
widersprüchlichen Anwesenheit verwurzelt sind. Alle Schwarzen deutschen
Krankenschwestern teilen gemeinsame Erfahrungen mit einem häufig
offenen Rassismus im größeren gesellschaftlichen und im privaten Kontext.
Die Ausschlussmechanismen, denen Schwarze deutsche Frauen in ihrem
sozialen Umfeld begegnen und ausgesetzt sind, erfahren sie in besonderer
Weise in ihren beruflichen Zusammenhängen. Diese Tatsache macht es
deshalb schwierig, von einer allgemein zu definierenden Berufssozialisation
zu sprechen, denn dies würde nichts anderes bedeuten, als eine herrschende
Berufskultur mit ihren hegemonialen Werten, Normen und Mythen auf
marginalisierte Personen innerhalb dieser Kultur zu übertragen und so ihre
spezifischen Geschichten einzuebnen und erneut unsichtbar zu machen. Die
Gratwanderung, die Schwarze Krankenschwestern jeden Tag aufs neue
zwischen einem weiß gedachten Pflegealltag und ihrer konkreten
Schwarzen Pflegeerfahrung zu unternehmen gezwungen sind, erfordern
Überlebens-Strategien nicht nur in der Begegnung mit weißen deutschen
KollegInnen, sondern auch mit weißen deutschen PatientInnen. Auffallend
ist, dass Schwarze deutsche Krankenschwestern im Umgang mit Letzteren
sehr genau darauf achten, diesen trotz möglicher grenzverletzender
Situationen dennoch Schutz zu gewähren, indem solche Überschreitungen
häufig relativiert oder sogar kommentarlos hingenommen werden.
PatientInnen sollen und dürfen keine Aufregung erfahren, weil sie
krankheitsbedingt eine Ausnahmesituation erleben. Das heißt, ein
eventueller Kontrollverlust könnte zur Eskalation der Situation führen und
aus Erfahrung wissen Schwarze Deutsche, dass Diskussionen über
Rassismus zumeist negative Sanktionen zur Folge haben.
Ein solcher situativer Selbstschutz ist ebenso in der Begegnung mit
weißen KollegInnen zu verifizieren. Die Strategien sind hierbei jedoch
weiter gefächert: sie umfassen Anpassung und Verdrängung, aber auch
offene Auseinandersetzung und gezieltes Verhandeln der Situation.
Insbesondere Schwarzen deutschen Krankenschwestern, die bewusst für
sich die Chance ergriffen, sich mit ihrer Gemeinschaftsgeschichte
auseinander zu setzen und ein kommunales Selbstverständnis zu
entwickeln, gelingt es eher, rassistisches Verhalten zu kommentieren, zu
analysieren und auf der Grundlage ihres Wissens konkrete und
situationsbezogene Grenzen zu setzen. Trotz positiver Erfahrungen und der
schon stattfindenden Sensibilisierung weißer deutscher KollegInnen scheint
es dennoch, dass widerständiges Verhalten oftmals als individualisiert (also
sehr persönlich) angesehen wird und vor diesem Hintergrund als
unprofessionell geahndet werden kann. Offene Auseinandersetzungen in
Pflegeteams im Zusammenhang mit rassistischen Übergriffen durch
PatientInnen oder KollegInnen bilden folglich die Ausnahme. Es scheint in
dominanten Kontexten eher die Regel zu sein, rassistische Strukturen zu
tabuisieren, um eigenen individuellen und politischen Verantwortlichkeiten
nicht begegnen zu müssen.
Eine professionelle Zukunft der Pflege würde sich, angesichts der real
existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse daher auch dadurch
auszeichnen, dass Pflegeteams Strukturen schaffen, Schwarzen deutschen
und anderen marginalisierten, etwa migrantischen, Pflegeerfahrungen Raum
zu geben. Eine solche Entwicklung würde voraussetzen:
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Zache: In: Paul Rohrbach & Ernst Jaeckh (Hrsg.): Das größere Deutschland 1914. Wochenschrift für
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ANMERKUNGEN
1 Sartre in seinem Vorwort zu: Fanon: Die Verdammten dieser Erde, S. 21.
2 Siehe das Quellenmaterial bei: Panke-Kochinke: Die Geschichte der Krankenpflege.
3 »Die Politik der Dissimilation folgte also der Vorstellung einer nach anthropologischen
Kriterien gegliederten Ständegesellschaft mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen, ganz im Sinne
eines ›aufgeklärten‹, autokratischen Systems, das einer ›weißen‹ Oligarchie gesellschaftlichen
und politischen Vorrang einräumten«. Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche
Geschichte in Deutschland, S. 28.
4 »Heilen wird in zwei Bedeutungskategorien unterteilt. 1. heil machen, heil werden und 2.
kastrieren, zahm und brauchbar machen, die Wildheit nehmen«. Kluge: Etymologisches
Wörterbuch, S. 401-402.
5 Visser & de Jong: Kultursensitiv pflegen, S. 7.
6 Ebenda, S. 8.
7 Mamozai verwendet den Arbeitsbegriff systemstabilisierende Fürsorge im Kontext der
nationalsozialistischen Fürsorge. Vgl. Mamozai: Komplizinnen, S. 125. Auch im kolonialen
Kontext kann und muss von systemstabilisierender Fürsorge gesprochen werden.
8 Rodenwaldt: »Geburtenhilfe für Eingeborene in den Schutzgebieten«, S. 746.
9 Mamozai: Schwarze Frau, Weiße Herrin, S. 75.
10 Bruno Engel: »Abstammungsnachweis für die Krankenpflege«, S. 259, zit in: Steppe:
Krankenpflege im Nationalsozialismus. S. 89.
11 Ayim: »Weißer Streß und Schwarze Nerven«, S. 121-122.
12 Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, S. 45.
13 Debatten über den Berufseinstieg führten Fürsorgeeinrichtungen, Pädagogen, die AWO und
nicht zuletzt wurde in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen über die
Fähigkeiten Schwarzer deutscher Jungen und Mädchen debattiert. Diese Diskussionen wurden
zu Beginn der 60er Jahre wieder aufgenommen, als die erste unmittelbare Nachkriegsgeneration
ins Berufsleben eintreten sollte. Vgl. ebenda, S. 178-179.
14 Ebenda, S. 179-180.
15 Ebenda, S. 182.
16 Ebenda, S. 182.
17 Auszug Interviewmanuskript in: Stein: Schwarze deutsche Frauen in der Pflege.
18 Lemke Muniz de Faria: Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, S. 186-187.
19 Ebenda. Kursawe: Ȇberlegungen zur dauerhaften Aussiedlung afrodeutscher Menschen
(Rheinland-Kinder) oder ihre Ermutigung zur freiwilligen Auswanderung (Nachkriegskinder)
durchziehen von der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre die immer wieder
aufflammenden praktischen Überlegungen und ›Lösungsvorschläge‹, die ihrerseits beweisen,
dass Schwarze Deutsche als nicht nach Deutschland gehörig betrachtet werden.« In: ebenda, S.
187-188.
20 Ebenda, S. 188.
21 »Ein Kurs dauerte nicht länger als 6 Monate und neben dem obligatorischen Verbandskurs
wurden die zukünftigen HeilgehilfInnen im einfachen Gebrauch von Medikamenten und in
pflegerischen Handreichungen eingewiesen. Angestellt wurden die sie danach in Einrichtungen,
die nur der afrikanischen Bevölkerung zugänglich waren.« Bauer: Geschichte der
Krankenpflege, S. 259-260.
22 Aufgrund des Pflegenotstandes wurden schon Ende der 1950er Jahre Frauen aus Korea und
dann Mitte der 1960er verstärkt Krankenschwestern aus Indien, Korea und den Philippinen in
die Bundesrepublik geholt. Vgl. Beneker & Wichmann: Grenzüberschreitende Dienstpläne, S.
35-36.
23 Etter-Lewis: »Black Women’s Life Stories«, S. 43.
24 Ebenda, S. 43.
25 Ebenda, S. 56.
26 Collins: Black Feminist Thought, S. 257.
27 Ebenda, S. 261.
28 Collins: »Die gesellschaftliche Konstruktion Schwarzen feministischen Denkens«, S. 29.
29 Stein: Schwarze deutsche Frauen in der Pflege.
30 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 78.
31 Das Fach Berufsethik wurde 1985 in den kirchlichen Einrichtungen der DDR implementiert.
Wolf (Hrsg.): Studien zur deutschsprachigen Geschichte der Pflege, S. 259.
EDDIE BRUCE-JONES
SURVIVED (FOR AUDRE LORDE)
Wenn das Telefon klingelt und sich ein Regisseur meldet auf der Suche
nach einer Schwarzen[1] Schauspielerin, fängt mein Herz nervös an zu
klopfen. Ich lasse alles stehen und liegen und das kleine Tier in mir,
Leidenschaft genannt, fängt an, sich zu regen. Im Laufe des Gespräches
stellt sich sehr schnell heraus, dass wieder ein Theater sich in den Kopf
gesetzt hat, im Sinne der ›Völkerverständigung‹ und der schon seit
fünfhundert Jahren überfälligen multikulturellen Toleranz, eine Schwarze
Darstellerin einzusetzen. Anfangs war ich noch guter Hoffnung, dass es sich
dieses Mal um ein Konzept handelt, bei dem sich die Verantwortlichen
jeder im Stück vorgegebenen Schwarz-Weiß-Tradierung entgegenstellen
und dies in ihrem Rollenangebot zum Ausdruck bringen. Leider ist dieses
Bewusstsein eine Ausnahmeerscheinung. Zwar hat auch das
deutschsprachige Theater begriffen, in Anlehnung an die Kollegen in
England, Frankreich und den USA, dass mit einer gewissen
Aufgeschlossenheit die Notwendigkeit einhergeht, sich einen ›Alibi-Neger‹
(es kann auch ein ›Asiate‹ sein) ins Haus zu holen. Aber reicht das wirklich
aus, um einen umfassenderen Spiegel unserer Gesellschaft wieder zu
geben?
Für Schwarze KünstlerInnen ist es besonders schwer, sich außerhalb der
gängigen Klischees zu bewegen, da wir meistens dann zum Einsatz
kommen, wenn es darum geht, politische oder soziale Missstände
aufzuzeigen. Dadurch konnte sich ein Konzept der Stereotype etablieren,
das eng mit bestimmten Vorstellungen von Schwarzen Bildern und deren
Ausdruck verknüpft ist. Da selbstverständlich davon ausgegangen wird,
sich bei Rollenbesetzungen an der weißen Norm zu orientieren, kommen
Schwarze DarstellerInnen von vornherein nur selten vor, es sei denn, die
Charaktere sind durch äußere Merkmale markiert.[2] Im folgenden Essay
setze ich mich damit auseinander, was diese Herangehensweise in der
Konsequenz für mich als Schwarze Spielerin bedeutet. Meiner Meinung
nach reicht es nicht aus, eine/n Schwarze/n SchauspielerIn mit einer Rolle
zu besetzen, um sich damit die Genugtuung zu geben, man sei international
eingestellt und habe keine Vorurteile. Ausnahmeerscheinungen, wie das
Schauspiel Köln, das ›gleich‹ zwei Schwarze Darstellerinnen in seinem
Ensemble hat, werden in den Medien derzeit besonders hervorgehoben. Das
hat den Auslöser, mich dankbar fühlen zu müssen für etwas, was nur
deshalb einer Betonung bedarf, weil es eben nicht der Regel entspricht.
Auf der Suche nach einer Agentur habe ich oft zu hören bekommen, dass
man ja schon eine ›farbige‹ Schauspielerin unter Vertrag habe und sich
daher keine weitere leisten könne. Es sei schon schwer genug, diese eine
unterzubringen, auch wenn die betreffende Kollegin und ich uns in unseren
Ausdrucksmöglichkeiten vehement unterscheiden. Diese Aussage
verdeutlicht sowohl auf sehr einfache Weise, wie unreflektiert
fremdbestimmte Begriffe übernommen werden, als auch die Tatsache,
automatisch von weißen Besetzungen auszugehen.
Sehr beliebt bei weißen Autoren ist ebenfalls die literarische Darstellung
von Schwarzen, in denen diese einerseits das Wohlwollende und das Böse,
andererseits das Spirituelle und das lüstern Sinnliche symbolisieren. Mit
dieser Konzentration auf ›das Fremde‹, ›das Andere‹ umgeht der Autor die
Auseinandersetzung mit historisch verinnerlichten Rassismen und überträgt
selbstverständlich den Gebrauch von Schwarzen Bildern auf Schwarze
Menschen. Die kritische Hinterfragung der dabei entstehenden
Assoziationen werden häufig mit persönlichen Schutzhaltungen und
Rechtfertigungsstrategien kompensiert. Auf ähnliche Weise sind
rassistische Begrifflichkeiten wie z.B. ›Neger‹ und ›Mischling‹ vorbehaltlos
in den Sprachgebrauch eingebunden und werden nicht auf ihren Sinngehalt
im literarischen Kontext überprüft.
In dem 1998 uraufgeführten Stück Hechinger von Christian Schröder[3]
etwa bezeichnet der Sohn eines Deutschen und einer Afrikanerin seine
Mutter als ›Negerin‹ völlig herausgelöst aus dem faktischen Kontext. Die
Szene beschreibt folgende Situation: der in Afrika (das Land wird
interessanterweise nicht genannt) sozialisierte Jugendliche, der mit seinen
Eltern in eine süddeutsche Kleinstadt gezogen ist, verbietet seiner Mutter,
der ›Negerin‹, die Tür zu öffnen, vor der seine weißen Mitschülerinnen auf
ihn warten. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Anrede an die Mutter
bewusst verletzend gemeint ist, beinhaltet die Spielsituation folglich auch,
dass sie ihrerseits dementsprechend darauf reagiert, nämlich mit einer
Ohrfeige.[4] Ein Kind, das in einem afrikanischen Land aufgewachsen ist,
würde seine Mutter niemals als ›Negerin‹ bezeichnen, weil derartige
kolonial-rassistische Begriffe in dortigen Sprachkontexten für
Familienangehörige keine Verwendung finden.
Die Regie wollte sich in dem Zusammenhang weder mit literarischen
Inhalten, noch mit meinem Spielangebot auseinandersetzen und hat mir die
Ohrfeige einfach verboten. Diese Reaktion wird weder dem Autor, noch der
Authentizität der zu spielenden Figur gerecht, sondern transportiert
lediglich, wie leichtfertig eine Spielsituation ad absurdum geführt werden
kann. Sprechtheater und deren Regie gibt sich also nur dann mit Sprache
ab, wenn sie deren Wertung als wichtig genug erachtet. Daraus folgt, dass
das Publikum den Umgang mit diskriminierender Sprache ebenfalls als
gegeben hinnimmt.
Mir ist es an deutschen Theatern selten begegnet, dass die Besetzungen
der Stücke dem eigentlichen Sinne der Schauspielerei Rechnung tragen,
dass demnach Schwarze SchauspielerInnen, unabhängig von Bewertung ein
Anrecht auf alle Rollen - auch auf die nicht eindeutig markierten – haben
und dafür eingesetzt werden. Und zwar aufgrund ihres Talentes und ihres
Könnens, weil sie interessante und vielseitige SchauspielerInnen sind, und
nicht aufgrund ihrer äußeren Merkmale und mit dem Hintergedanken
versehen, dass sich über die Hautfarbe etwas ganz bestimmtes erzählen
lässt.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Vorsprechen, das ich
an einer namhaften Bühne Hamburgs hatte. Dort liefen mir in der
hauseigenen Kantine mehrere Schwarze Schauspielerinnen afrikanisch-
deutscher bzw. arabisch-deutscher Herkunft über den Weg, die alle für die
Besetzung der Hauptrolle in ein und dem selben Stück erschienen waren:
Die schöne Fremde von Klaus Pohl. Es wirkte schon recht befremdlich auf
mich, wie wir da alle auf unseren Auftritt warteten, vielleicht, weil mir das
erste Mal so richtig bewusst wurde, dass wir vornehmlich für Schwarze
Rollen eingesetzt werden. Durch diese Tatsache eingeschränkt, bietet sich
zwar augenscheinlich einerseits die Möglichkeit, das Klischee der
›Schwarzen Frau‹ zu durchbrechen, andererseits sind wir jedoch
gezwungen, theatrale Übersetzungen für eine Überlebensstrategie zu finden,
die uns unsere Realität aufgrund rassistischer Erfahrungen tatsächlich
abverlangt. Das heißt im Klartext, dass wir die ganze Arbeit machen
müssen! Außerdem stehen Schwarze Schauspielerinnen durch solche
spezifischen Besetzungen unter ungeheurem Konkurrenzdruck, weil es
unter dem funktionalisierten, auf Wirkung abzielenden Aspekt viel zu
wenige Rollen gibt.
Im Alter von ca. vierzehn Jahren heiratet sie John Indien, den Sohn eines
Arawaks[24] und einer Nago[25] und wird mit ihm gemeinsam nach Salem,
an den fanatischen Puritaner Samuel Parris verkauft. ›Sünde‹, ›Böses‹,
›Satan‹ und ›Dämon‹ sind immer wiederkehrende Begrifflichkeiten, mit
denen alle im Hause Parris’ Lebende konfrontiert werden. Sinnliche
Vergnügungen jeglicher Art, wie zum Beispiel Spaziergänge am Meer,
tanzen oder das Lösen der starren Kopfhauben, war den Kindern strengstens
untersagt.
Man stellte sich vor, dass die Unterdrückung des Geschlechtlichen, die Gleichsetzung des
Sinnlichen mit dem Teufel, wie sie sich seit dem Puritanismus immer mehr ausbreiteten, in den
allgemein als ›Teufelsdienerinnen‹ verdächtigten Frauen eine Fülle von erotisch-sexuellen
Wunschträumen erzeugten.[26]
Das Buch von Maryse Condé ist in zwei Teile gegliedert und enthält eine
Fülle von komplexen Themenbereichen, die alle zu dem Gesamtbild Tituba
beitragen. Teil I setzt sich mit ihrer Kindheit und Jugend auf Barbados
auseinander und beschreibt detailliert ihren kulturellen Hintergrund. Teil II
erzählt unter anderem von den Ereignissen in Salem, ihrer Heimkehr und
ihrem Leben unter Rebellen zur Zeit des Sklavenaufstands, das die Geburt
eines Sohnes nach sich zog. Titubas ausgeprägte Spiritualität, die ihr oft das
Leben rettete, verbunden mit Würde und Stolz, haben mich am meisten
fasziniert. Ohne die ›lebendige‹ Verbindung zu den Seelen ihrer Ahnen und
der Ausübung ihrer Heilkünste wäre es ihr nicht möglich gewesen,
Sklaverei, Entwurzelung und den Verlust sämtlicher Bezugspersonen zu
verkraften. Ihre unabweichliche Authentizität und ihre klare Haltung all
dem gegenüber, an das sie glaubte, trugen ebenso dazu bei. Tituba war
keine Frau, die ihren ›Herren‹ nach dem Mund geredet oder ihre Seele
verkauft hat (im Gegensatz zu ihrem Mann). ›Schwarze Leibeigene‹ waren
nicht nur, wie oft fälschlicherweise angenommen, von der Willkür des
›Sklavenhalters‹ abhängig, sondern verdankten ihr Überleben in
verstärktem Maße ihrem eigenen Lebenswillen und ihrer Selbstliebe.
Eigenschaften, die bei Tituba ihre Entsprechung fanden. Die praktische
Anwendung von Ritualen zum eigenen Schutz und die Zwiesprache zu
Seelenverwandten – tot oder lebendig – spielten dabei eine
überlebenswichtige Rolle. Schwarze Menschen haben von jeher
Möglichkeiten gefunden, sich für oder gegen das Leben zu entscheiden.
Wenn es sein musste durch regressive Methoden wie den Freitod oder
überlieferte Rezepte von Mixturen, die unfruchtbar machten. Dadurch
sicherten sich die ›Sklaven‹ ihre eigene Autonomie und lösten ihre
Ohnmacht auf, indem sie den Machthabern etwas entgegensetzten.
Im Roman tötet Tituba ihr Kind. »Für eine Sklavin bedeutet die
Mutterschaft kein Glück. […] Während meiner ganzen Kindheit hatte ich
gesehen, wie die Sklaven ihre Neugeborenen töteten, indem sie ihnen einen
langen Stachel in die noch weiche Hirnschale bohrten […].«[27] Kleine
Kinder gingen nach ihrer Geburt automatisch in den Besitz des jeweiligen
Plantagenbesitzers über, spätestens jedoch sobald sie arbeitsfähig waren,
und wurden der Pflege der Mutter brutal entrissen. Ergo sahen jene
Schwarze Frauen den ›Kindsmord‹ als einzige Möglichkeit an, ihre
Nachkommen vor Knechtschaft und Vergewaltigung zu bewahren.
Geprägt durch das gespaltene Verhältnis, das ihre Mutter Abena zu deren
Lebzeiten mit Tituba verband – wie eingangs erwähnt war Tituba das
›Produkt‹ einer Vergewaltigung –, ist auch die vermeintlich tragische
Entscheidung seine Säuglinge zu töten, eine Form von weiblicher
Selbstbestimmung.
Des Weiteren verkörpert Tituba ein Lustprinzip, das in enger Verbindung
zu ihrer Spiritualität steht und wichtiger Bestandteil ihres Daseins ist.
»Flügel waren mir an den Füßen gewachsen. Meine Hüften und meine
Taille waren geschmeidig. Eine seltsame Schlange beherrschte meinen
Körper.«[28] Allen Warnungen Man Yayas und ihrer Mutter zum Trotz
verliebt sie sich in John Indien und fühlt sich das erste Mal von einem
Mann sexuell so angezogen, dass sie sich ihm und ihrer Lust nicht
entziehen kann. Tituba ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt, nach
dortigem Maßstab eine erwachsene Frau. Sie konzentriert sich mit ganzer
Kraft darauf, ihn zu erobern und wartet nicht darauf, erobert zu werden. Die
Schwarze Hexe teilt im Verlauf ihres aufreibenden Lebens mit einigen
Männern ihr Bett, wenngleich John Indien ihre ›große Liebe‹ bleibt. Sie
liebt Sex, übt ihn oft und gerne und bis ins hohe Alter aus. »Was gibt es
Schöneres als den Körper einer Frau! Vor allem wenn die Begierde eines
Mannes ihn adelt …«[29]
Indem Tituba ihre sexuelle Energie ausdrückt, erhöht sich für sie die
Möglichkeit, sich besser zu spüren und dadurch den Kontakt zu sich nicht
zu verlieren. Gelebte Lust als Bestandteil ihrer Überlebensstrategie. Durch
die genaue Kenntnis ihres Körpers und die Sensibilität darüber, was er
braucht, erhält sie sich eine Form von Unabhängigkeit und innerer Stärke,
die ihr dabei helfen, ihr eigenes Leben zu schützen. Der Zugang zur Natur
und die mit ›ihrer‹ Religion zusammenhängenden Riten und Gebräuche (in
Form von Gesängen, Gebeten, Gerichten) stehen dazu in Verbindung. Das
können die Reinigung eines Hauses mit bestimmten Kräutern sein, bevor
man es neu bezieht, oder das Schlachten eines Opfertieres, um einen
befriedigenden, erfolgreichen Kontakt zu den Seelen der Toten her zu
stellen. Die Bestimmung der Pflanzen, ihre Anwendung und Vorbeugung
bei Krankheit etc. ermöglichen ihr, sich ihre kulturelle Identität als
Schwarze Frau zu bewahren, das heißt: die zerstörerische Realität
auszuhalten und mit ihren Mitteln um zu gestalten. Sie entwickelt
anrührende Methoden, ihren Schmerz konstruktiv umzusetzen und schafft
sich so innere Bilder, um den Zugang zu ›ihrer Welt‹ nicht zu verlieren.
Gegen ihr verzehrendes Heimweh stellt sie sich zum Beispiel eine Schale
mit Wasser ans Fenster und schließt darin ihr Barbados ein.
»Wenn ich die Menschen auch schlecht erkennen konnte, so sah ich doch
die Hügel, die Hütten, die Zuckermühlen und die Ochsenkarren deutlich vor
mir.«[30] Den Umstand, dass Tituba im Haus bzw. für den Haushalt und die
Kinderbetreuung verantwortlich war, könnte sie unter anderem auch der
Tatsache zu verdanken haben, dass sie eine hellere Haut hatte als andere
Sklavinnen und damit der harten Feldarbeit im Freien entging.[31] So
genannten hellhäutigen Schwarzen Frauen wurden oftmals ›bessere‹
Lebensumstände ermöglicht als ›dunkleren‹ Schwarzen Frauen. Der
›Colorismusdiskurs‹, worunter die Bevorzugung oder die Benachteiligung
von Angehörigen der eigenen ›Rasse‹ nur aufgrund der Hautfarbe gemeint
ist, ist in den USA auch heute noch tief verhaftet.
Wie Juliette ist Tituba eine gebende Person mit einer ungemein hohen
emotionalen Kraft und einer ausgeprägten Leidensfähigkeit mit dem
Unterschied, dass es den Menschen um Tituba nicht gelungen ist, sie zu
brechen. – Und sie hätte ›weiß Gott‹ gute Gründe gehabt, dem Wahnsinn zu
verfallen. – Trotz all der Verluste, Enttäuschungen und Lebenskrisen, die
sie fortwährend erfährt – sie wird durch die Aussagen ihres Mannes schwer
belastet und verraten –, ist sie in der Lage Mitleid zu empfinden. Zu
pflegen, zu lieben. Endlos.
Auch wenn, wie Maryse Condé schreibt, der bewusste oder unbewusste
Rassismus der Historiker derart ausgeprägt war, dass ihr Werdegang nach
1693 nicht mehr genau nachvollzogen werden kann,[32] hat Tituba den
Wahnsinn nicht gelebt, sondern überlebt. In Condés Erzählung hat Tituba
im Gefängnis eine für sie einschneidende Begegnung mit Hester, einer
weißen Feministin, die wegen Ehebruchs verurteilt werden soll. In ihren
Unterhaltungen setzen sie sich mit Frauenthemen und ihren
unterschiedlichen Weltauffassungen auseinander. Daraus entwickelt sich
trotz ihrer Unterschiede eine enge Beziehung. Sie beratschlagen
gemeinsam, wie sich Tituba während ihres Prozesses verhalten und was sie
zu ihrer angeblichen ›Teufelsbeziehung‹ aussagen soll. Indem Tituba die
verqueren Teufelsphantasien der Ankläger bedient und den Eindruck
entstehen lässt, sie sei wahnsinnig geworden, rettet sie geschickt ihr Leben.
Arthur Miller erwähnt die Schwarze Hexe in zwei Szenen, dem
›Verhörprotokoll‹ und der ›Gefängnisszene‹.[33] In Anlehnung an das
englische Original spricht Tituba in der verwandten Übersetzung in
gebrochenem Deutsch, was ihr den Anschein einer ›leicht verblödeten‹
Schwarzen gibt. Ich hatte diesbezüglich während der Proben am Theater
große Mühe, den Regisseur davon zu überzeugen, diese Szenen auf
Hochdeutsch sprechen zu dürfen, um kein Stereotyp zu bedienen. Die
theatrale Niederschrift der Gefängnisszene enthält zwar eine gewisse
Komik, entspricht aber nicht im Entferntesten den inhaltlichen
Möglichkeiten. Der Autor reduziert eben genannte Szene auf einen
Minidialog zwischen Sarah Good, einer trinkfreudigen älteren Frau, und
einer cleveren, jedoch insgesamt wenig aussagekräftigen Tituba. Miller hat
in seinem Drama die Schwerpunkte auf die schwelende Entwicklung von
fanatischen Glaubensauswüchsen und deren Folgen gesetzt und das Ganze
mit ein bisschen Rassismusproblematik gewürzt.
Die Schwarze Hexe Tituba steht hier zwar für ein Paradebeispiel von
historisch verinnerlichtem Rassismus, wird jedoch meiner Meinung nach in
der Interpretation Millers bedauerlicherweise nach Belieben umgedeutet
und missbraucht.
BIBLIOGRAFIE
Bauer, Wolfgang et al: Lexikon der Symbole. München: Heyne, 1997
Condé, Maryse: Moi, Tituba, sorcière…Noire de Salem. Paris: Mercure de France, 1986
Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem. München: Droemer Knaur, 1988
Kemper, Hella: Kein Klischee wird ausgelassen. Schwarze Schauspielerinnen haben es nicht leicht
auf deutschen Bühnen, WDR 3, Mosaik am 8.9.2004.
Lange, Chris: Evatöchter wider Willen. Feministinnen und Religion, in: Ika Hügel et al: Entfernte
Verbindungen. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993, S. 95-109
Lausund, Ingrid: Hysterikon. Berlin: Henschel Verlag, 2001
Mann, Klaus: Mephisto. München: Heinrich Ellermann, 1980
Miller, Arthur: The Crucible. A Play in Four Acts. New York: Viking Press, 1953
Hexenjagd. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1987 (Erstveröffentlichung auf Deutsch 1958)
Mnouchkine, Ariane: Le roman d‘une carrière d‘après Klaus Mann. Edition Solin et Théâtre du
Soleil, 1979
Mephisto-Roman einer Karriere nach Klaus Mann. München: Heinrich Ellermann, 1980
Morrison, Toni: Im Dunkeln spielen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002
Schröder, Christian: Hechinger. Köln: Jussenhofer & Fischer, 1998
ANMERKUNGEN
1 Schwarz (wie folgt groß geschrieben) beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Hautfarbe,
sondern ist als Ausdruck der multikulturellen Herkunft zu sehen und schließt alle von Rassismus
betroffenen Minderheiten ein.
2 Vgl. Lausund: Hysterikon.
3 Vgl. Schröder: Hechinger.
4 Diese Option war ein Spielangebot und ist nicht als die einzig gültige anzusehen.
5 Vgl. Morrison: Im Dunkeln spielen, S. 13.
6 Vgl. Mann: Mephisto.
7 Vgl. Miller, Arthur: Hexenjagd; Ders.: The Crucible.
8 Mann: Mephisto, S. 64, 66.
9 Ebenda, 64, 67.
10 Ebenda, S. 66.
11 Ebenda, S. 69.
12 Ebenda.
13 Ebenda, S. 250.
14 Ebenda, S. 71.
15 Ebenda, S. 193.
16 Ebenda, S. 279.
17 Mnouchkine: Mephisto-Roman einer Karriere nach Klaus Mann, S. 94; vgl. auch: Dies.: Le
roman d‘une carrière d‘après Klaus Mann.
18 Vgl.: »›Das westliche Christentum versah bestimmte Farben mit einer Reihe von zusätzlichen
Bedeutungen, so dass es schließlich zu einem Farbsymbolismus gelangte, welcher den der
antiken Welt widerspiegelte.‹ […]. Die Zuordnung des Teufels zur Farbe Schwarz, ›wobei sie
[die frühen Christen, C.L.] an die dunklen Bewohner Äthiopiens als irdisches Ebenbild dachten‹
, und der Engel zur Farbe Weiß, das für die ›zukünftige Welt, die Reinheit der Auserwählten
steht‹ , erscheint heute noch selbstverständlich.« Lange: Evatöchter wider Willen, S. 98.
19 Vgl. Condé: Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem; Dies.: Moi, Tituba, sorcière… Noire de
Salem.
20 Ashanti, auch Asante, Gesellschaft, deren Sprecher der Akan-Sprachfamilie zuzuordnen sind.
Die heute mehr als zwei Millionen Ashanti leben vorwiegend in der Region Ashanti in Ghana.
Vgl. Incarta.
21 Condé: Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem, S. 9.
22 Ebenda, S. 21-22.
23 Ebenda, S. 34.
24 Arawak oder Aruak, eine der ursprünglich größten Sprachfamilien Südamerikas. »Sie
besiedelten Küstengebiete des heutigen Florida, die Antillen und die südamerikanische Küste bis
in den Süden Brasiliens. Die Arawak waren das erste indigene […] Volk, mit dem Christoph
Kolumbus in Amerika in Kontakt kam.« Encarta 2005.
25 Vgl. http://www.lexikon.mynetcologne.de/kapitel/n/nago.htm.
26 Bauer: Lexikon der Symbole, S. 248-249.
27 Conde, S. 88.
28 Ebenda, S. 33.
29 Ebenda, S. 76
30 Ebenda, S. 108.
31 Diese Annahme ist jedoch spekulativ und durch nichts bewiesen (Anm. N. Ch.).
32 Der Schwarzen Romanautorin Anne Petry zufolge wurde sie an einen Weber verkauft und starb
in Boston. »Eine vage Überlieferung besagt, dass sie an einen Sklavenhändler verkauft wurde,
der sie wieder nach Barbados brachte.« Condé, S. 284.
33 Die Originaldokumente dieses Prozesses werden in den Archiven der Grafschaft Essex
aufbewahrt. Eine Kopie davon befindet sich im Essex County Court House in Salem,
Massachusetts. Vgl. ebenda, S. 178.
34 Vgl. Radiosendung, WDR 3, Mosaik: Hella Kemper: Kein Klischee wird ausgelassen. Schwarze
Schauspielerinnen haben es nicht leicht auf deutschen Bühnen, am 8.9.2004.
SÉNOUVO AGBOTA ZINSOU
EIN FREMDER, WER’S GLAUBT!
KLISCHEES DA, WO MAN SIE AM WENIGSTEN
ERWARTEN WÜRDE
DIE SPIELREGELN
Wenn jemand darüber klagt, Opfer von Rassismus zu sein, erscheint es als
eine im ersten Hinblick einfache und dennoch nach gründlicherer Analyse
komplexe Angelegenheit. Was erfassen wir letztendlich pauschal unter dem
Oberbegriff ›Rassismus‹, ohne viel darüber nachzudenken? Wenn im
Ausland, insbesondere in Deutschland, jemand über mich, ein Mitglied
meiner Familie oder generell über einen Schwarzen etwas Abwertendes
beziehungsweise Diskriminierendes sagt, um ihn zu beleidigen, stelle ich
mir immer die Frage, ob es nicht auch bei uns vorkommt, dass wir
gegeneinander dieselbe beleidigende Sprache verwenden, obwohl wir im
selben Dorf leben und Bürger desselben Staates sind. Solche Ausdrücke
sind selbstverständlich klischeehaft. Sie sind teils humorvolle
Redewendungen, teils Spiegelbild der Beziehungen zwischen
freundschaftlich rivalisierenden Familien, Clans, benachbarten und nicht
benachbarten Stadtvierteln und Dörfern. Jeder möchte den anderen
überlegen sein, aber oft glaubt man selber an die eigene Vormachtstellung
nicht, so dass man diese demonstrieren muss, nicht wahr? »Wer über einen
Blinden in einem Lied schlecht spricht, tut seinem eigenen Dorf etwas an.«
Wenn man ein Dorf beschimpfen will, braucht man infolgedessen nur einen
Invaliden in diesem Volk aufzufinden, um sich darüber zu freuen, dass kein
solcher ›Krüppel‹ zum eigenen Volk zählt. Auf dieser Weise kann man die
Selbstsicherheit haben, die man gegenüber jenen Menschen empfindet,
deren körperliche Erscheinung nicht dem klassischen Bild entspricht, die
als erbärmliche, in Elend verkommene und genau deswegen als verfluchte
Wesen erscheinen, weil sie einen schwerwiegenden Fehler begangen haben:
sie haben einen Invaliden beherbergt. Es ist zwar eine Vereinfachung, aber
funktionieren Klischees nicht ebenfalls so?
Wenn eine Gesellschaft die Anwesendheit von Blinden toleriert, beweist
sie, dass sie zwei, drei, sogar Tausende Blinde aufnehmen kann,
beziehungsweise, dass die gesamte Gesellschaft aus Blinden besteht.
Anderenfalls würden die MitbürgerInnen den Blinden aufspüren und ihn
beseitigen. Sei es, dass man erkennt, dass es einen Buckligen gibt, wo es
kein Blinder ist und dass es einen Hinkenden gibt, wo kein Buckliger ist,
und dass es einen Tauben gibt, wo kein Hinkender zu finden ist … Aber
unsere Annahme, die Annahme einer jeden Gesellschaft ist es, zu glauben
und glauben zu machen, dass, es gäbe ›daheim‹ weder Blinde noch
Bucklige und auch keine Hinkenden und Tauben … Zumindest in
bestimmten Gesellschaften versucht man, auf Blinde, Bucklige usw. bei den
anderen hinzuweisen, wobei die Spielregel, nach der die anderen
gleichermaßen Anspruch darauf haben, den in der eigenen Gesellschaft
versteckten Invaliden aufzuspüren, anerkannt wird. Daraus ergibt sich ein
Wortgefecht und Gesangsduell mit Einhaltung bestimmter Spielregeln, wie
bereits erwähnt: Das beginnt im Dorf selber, auf dem Markplatz, wo jede
Gruppe mit Trommelband, Sängern, Tänzern mit eigener sorgfältig
ausgewählter Tracht auftritt und sich der anderen stellt. Es geht nicht nur
darum, dem Gegner Schaden zuzufügen, indem man auf seine
Schwachstellen genau hinweist, beziehungsweise ihn zu verspotten, ihm
seine Arroganz und seinen Hochmut zu berauben, sondern gleichzeitig auch
ihn zurechtzuweisen, wenn der Eindruck entsteht, dass er sich anmaßt
jemand zu sein, der er in Wirklichkeit nicht ist. Es geht darum, als Sieger
anerkannt zu werden. Das bedeutet, dass man dem Gegner überlegen ist,
dass man mehr Traute und mehr in der Hose hat:
Ich lasse die Tatsache bei Seite, dass in diesem Artikel die Frage der
Ehrlichkeit der moslemischen Verantwortlichen an der Seite ihrer
christlichen und anderen MitbürgerInnen in diesen Krisenzeiten keine
eindeutige Antwort findet; die Journalisten haben die Aufgabe, Fragen zu
stellen und uns dazu zu bringen, über diese Frage nachzudenken. Aber der
Ausdruck »die Bärtigen der UOIF« ist an sich merkwürdig: die
Gleichstellung Bärtige = Fundamentalisten = Unterstützer / oder sogar
Befürworter von Osama bin Laden = Terroristen kann leicht aus dem
erzielten Stileffekt abgeleitet werden. Und führte etwa der Patriot Act, der
in den USA nach dem 11. September 2001 in Kraft getreten ist, zu der
willkürlichen Festnahme von amerikanischen Bürgern, die Bart und Turban
trugen? Andere Stileffekte sind einiger Überlegungen wert:
Die Religion, die am Hexagon krankt (unter der kranken Religion ist der Islam zu verstehen und
Frankreich wird auch das Hexagon, d.h. der Sechseck genannt) hat sich im nationalen Konsens
eingenistet. ›Ihr Kleidungsstil stört mich, aber ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind‹, sagte
eine brave ›diskrete katholische Dame‹ zu drei Müttern in Hidjab[6] , am Montag Nachmittag auf
dem Trocadero Platz in Paris, während der Demonstration.[7]
POSITIVE KLISCHEES?
Der Verfasser und Regisseur vom Ring der Niederungen legt in einem
Artikel, der angeblich als Loblied auf mich gedacht war, Zeugnis für mein
Talent ab. Der Titel lautete: »Everding von Lomé. Der afrikanische
Theaterstar Sénouvo Zinsou«[8]: »[…] Er bewegt sich mit der
Geschmeidigkeit eines Afrikaners auf der Bühne.« Wenn das kein Lob ist!
Das einzige ist, dass das Konzept der Geschmeidigkeit eines Afrikaners
noch zu definieren wäre. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob es
überhaupt möglich ist, etwas anderes über einen afrikanischen Schauspieler
zu berichten angesichts der Tatsache, dass alle AfrikanerInnen vom Senegal
bis nach Südafrika (vielleicht mit Ausnahme der weißen AfrikanerInnen)
dasselbe Maß an Geschmeidigkeit aufweisen. Infolgedessen ist es weder
notwendig, einen afrikanischen Darsteller auf der Bühne zu erleben, noch
ihn überhaupt kennen zu lernen, um ihn zu loben (denn sie sind alle gleich):
diese Beschreibung ist genau zutreffend, sobald bekannt ist, dass es sich um
einen Afrikaner handelt. Meine Ehegattin ist eine Togolesin und hat eine
Ausbildung gemacht, bei der sich die SchülerInnen zu strengen
Gymnastikübungen zwingen mussten: Der Sportlehrer war davon
überzeugt, dass meine Frau sich anders bewegte als die anderen
SchülerInnen. Sie wurde nicht müde zu wiederholen, sie sehe keinen
Unterschied, was die anderen SchülerInnen ebenfalls bekräftigten;
vergeblich; der Lehrer hat immer recht, zwangsläufig. Das wesentliche
Problem ist, dass sich niemand umstimmen lässt, wenn er Recht hat.
Diejenigen, die in Klischees ›denken‹, haben immer Recht. Man muss es
ihnen zugestehen, um seine Ruhe zu haben.
Der Schurke begeht nicht nur das Verbrechen, sich nicht auf die für ihn
vorgesehene Rolle zu beschränken, er will sogar noch wie die echten Fische
sein, obwohl er weder Schuppen noch Flossen hat, nicht schwimmen kann,
als illegaler Einwanderer hier lebt, und daher keine Befugnis hat,
irgendetwas zu tun. Und auch, wenn er über das alles verfügen sollte …,
›auch mit der Schule …‹, bleibt er ein ›seltsamer Vogel‹, ein Schubiack.
›Schubiack‹ (›racaille‹) reimt sich auf Französisch auf den von Aimé
Césaire verwendeten Begriff ›négraille‹ (etwa ›Negersack‹) in Et les chiens
se taisaient.
Würde der Schubiack an der ihm zugewiesenen Stelle bleiben, würde er
eigentlich niemanden stören. Das Verbrechen der Schnecke ist zu
behaupten, er könne dem kleinen Fischmädchen einiges über das
Universum, das sie kennt und viel breiter ist als sich die Bacheinwohner
vorstellen können, lehren. Der Bach fließt in den Fluss, mündet ins Meer
und schillert im Ozean, so dass sich der Horizont von Ninive mit jeder
Etappe der Initiationsreise unter der Führung der Schnecke zwangsläufig
erweitert. Die Mutter von Ninive erteilt ihr dann die eine Lektion: »Die
Welt ist das, wo wir uns befinden. Weitere Welten gibt es nicht.«[11]
Eines meiner Figuren aus Médicament (Medikament) namens La
Citoyenne (Die Staatsbürgerin) wiederholt es stolz: »Nur Deutsch!«
ANMERKUNGEN
1 Nordbayerischer Kurier vom 17.7.1995, S.10.
2 Nordbayerischer Kurier vom 29.9.1995, S. 14.
3 Ralf Ziegoleit in Frankenpost, vom 4.7.1994.
4 Laizität: in Frankreich, grundsätzliche Neutralität des Staates allen Religionsgemeinschaften
gegenüber N.d.Ü.
5 Askolovitch, Claude: Islam et République: les noces d’Août, in: Le nouvel Observateur, 2-8
September 2004, S. 28.
6 Hijab: »moslemische Kleidung«, die nach dem Koran, die Blicke auf weibliche Reize abhält.
N.d.Ü
7 Ebenda.
8 Nordbayerischer Kurier, vom 28.-29.5.1997
9 Sénouvo A. Zinsou: On joue la comédie, éd. RFI, Paris 1975, éd. Haho, Lomé 1984, S. 47.
10 Sénouvo A. Zinsou, nach Samad Bérangi, in Swahili von Ebrahim Hussein und ins Französische
von Alain Ricard übersetzt, Ninive la Petite fille poisson in: Französichlehrer Fortbildung,
Bayreuther Frankophonie Studien, Beiheft 2, János Riesz/ Véronique Porra ( Hg.) Palabres éd.
Bremen, 1999, S. 142-143.
11 Ebenda, S. 141.
12 S. 235-236 wurden von Beeke Dummer übersetzt.
MUTLU ERGÜN
HAYAL
CHARAKTERE
HAYAL, ist Mitte 20, er ist ein alevitischer Anatolier, der in Europa
geboren und aufgewachsen ist.
SCHWARZE PROPHETIN, ist eine Schwarze Frau, Mitte 30, es ist nicht
bekannt, woher sie kommt und wo sie aufgewachsen ist.
HAN, sie ist Anfang 50, sie ist eine Gelehrte aus der Mongolei, kam mit
Ende 20 nach Europa und entwickelte sich zur Kämpferin.
Er sah sich um. Seine Füße berührten den Boden, doch sein Geist schien in
weiter Ferne zu verweilen. Er ging geradeaus, wich den Leuten nicht aus.
Sie sahen ihn nicht. Zumindest taten sie so. Doch keiner berührte ihn, alle
wichen sie ihm aus. Immer einen kurzen Augenblick, bevor es zu einer
Berührung kam. Er ragte nur ein kleines bisschen über die meisten hinweg.
Die Köpfe waren wie eine Woge, unregelmäßig, chaotisch, doch eine
kosmische Ordnung widerspiegelnd, nach der er sein ganzes Leben gesucht
hatte.
Autos fuhren an ihm vorbei. Sie fuhren langsam, ihre Fahrer hatten die
Straße kaum im Auge. Sie suchten, sie suchten nach Antworten, sie suchten
nach Fragen, sie suchten nach Sinn. Der Boden vibrierte, bebte sanft, wie
ein menschlicher Körper nach einer sanften Berührung.
Es war, als wäre die Zeit in ein weiches Kissen eingebettet. Gleitend, wie
in Zeitlupe, widerstandslos, und doch aufreibend.
Die Autos verschwanden hinter einer Kurve. Mit ihnen die Fahrer mit
den merkwürdigen Sonnenbrillen. Merkwürdig, weil die Sonne nicht
schien.
Ein Duft riss ihn in eine andere Welt. Er sah Bilder und hörte Stimmen
aus dieser Welt. Fühlte, wie sie ihn riefen, sich nach ihm sehnten. Auch er
sehnte sich nach ihnen, doch er wusste, dass er taub war für ihre Sehnsucht,
und auch für seine eigene.
Eine Hand holte ihn zurück. Die Hand gehörte zu einer Stimme, die sich
mit Millionen anderer Stimmen vermischte und seinen Kopf in ein
Schlachtfeld verwandelte. Alles schrie, die Wände, die Straße, die Häuser,
die Fenster, die Dächer, die Menschen, die Kinder, seine Haare und seine
Augen.
Etwas auf seiner Zunge verwandelte sich in eine Illusion. Oh Gott, sie
schmeckte so süß, so süß.
Aber es war einfach zu kalt. Das wusste er. Und er wusste auch, warum.
Ich lebe mitten unter Menschen, die in den Tod verliebt sind. Ich bin unter
ihnen aufgewachsen, war einer von ihnen und war es doch nicht. Haben die
Oasen, in die ich zurückkehren konnte, mich gerettet?
Er sah aus dem Fenster. Die Menschen konnten ihn nicht fühlen, nicht zu
diesem Augenblick, doch der Tag würde kommen …
Seine Hand machte eine Pause, und er dachte, mache ich Literatur – oder
macht die Literatur mich?
Auf seinem Weg durch die Wüste erreicht Hayal einen Berg. Viele
Menschen haben sich dort versammelt. Er mischt sich unter das Publikum
und lauscht den Worten einer Frau, die mit klarer und kräftiger Stimme den
Menschen zuwendet.
Die Schwarze Prophetin spricht:
UYAN!
Erwacht! Denn wenn ich mit Euch fertig bin, werdet Ihr nicht mehr
dieselben sein. Ihr werdet Euch verändern und es wird kein Zurück mehr
geben. Seht Ihr nur einmal den Ort, an den meine Worte Euch tragen,
werdet Ihr nicht mehr von dort entfliehen können. Alles wird sich
verändern. Nichts mehr wird so sein, wie es einmal war. Ihr werdet Dinge
sehen, die Ihr bereits seht, aber nicht wahr haben wolltet. Sie werden wahr
werden, weil sie sind, weil sie existieren.
Ich werde Euch den Pfad zeigen, den Pfad der Dornen und des
Schmerzes. Und Ihr werdet mir folgen, weil Ihr ahnt, wer ich bin und was
ich weiß. Meine Stimme ist die Geburt und der Tod. Sie macht Euer Dasein
zu Licht, sie macht Euer Licht zu Feuer, das Euch verbrennt. Nur Eure
Asche kehrt zurück in die Dunkelheit des Wassers. Meine Stimme ist das
Boot, das Euch hilft den Fluss zu überqueren. Jenen Fluss, welcher Euer
Bewusstsein von der Welt trennt. Ihr werdet sehen, Freunde sind Feinde,
Gelehrte sind unwissend, Bindungen werden zu Ungleichgewicht. Jeder
steht für sich – allein. Kein Halt, jede Stange, an der Ihr Euch festhalten
konntet, schmilzt bei dem Klang meiner Stimme. Die Illusion der
Sicherheit, ich nehme sie Euch, die Illusion der Wahrheit, ich nehme sie
Euch, die Illusion der Endlichkeit, ich nehme sie Euch. Ich sehe Eure
Hände, die Ihr mir entgegenstreckt, in der Hoffnung, dass ich Euch etwas
gebe, etwas neues, an das Ihr Euch klammern könnt. Und nur die wenigsten
werden begriffen haben, was ich ihnen gab und was nicht, während die
anderen suchen, aber an falschen Orten.
Ich bin nicht Eure Mutter, ich bin nicht Euer Lehrer oder Euer Vater. Ich
lasse Euch allein mit der Verantwortung über Euch selbst. Ich lasse Euch
allein mit dem Wissen der Unvernunft. Ihr glaubt in mir die Ursache für
Eure Resignation und Eure Euphorie zu sehen, doch der Ursprung seid Ihr
selbst und Euer Herz. Ja, Ihr habt mich gerufen, Ihr habt Euch nach mir
gesehnt. Doch ich bin nicht das, für was Ihr mich haltet. Ich bin nur ein
Spiegelbild dessen, was Ihr in mir sehen wollt. Doch bin ich das
Spiegelbild, das in Eure Augen blickt und den Spiegel in Euch zerstört.
Wie ein durchsichtiger Dämon durchdringe ich jede Faser Eures Ichs,
bestimmend, dass Bitterkeit und Süße sich ablösen. Euch führend an den
Ort des Schulterzuckens, der Moment der endlosen Gleichgültigkeit, spürt
Ihr, dass selbst das, was ich euch gab, nichts ist. Und das, was ich Euch
nahm, noch viel weniger. Denn auch ein Dämon ist ein Engel.
Ich lasse Euch allein, stehend am Rand der Dinge, des Lebens und Eures
Selbst. Ich führe Euch nicht um den Abgrund herum. Ich lasse Euch davor
stehen. Und nun entscheidet Ihr selbst, was Ihr und dieser Abgrund seid.
Dort habe ich schon alles erlebt, starke Stimmen, die mit mir sprachen
und sich sehnten nach Frieden und Tod. Doch ist es nicht meine Aufgabe
über Euch zu richten, Ihr sollt nicht einmal richten über Euch selbst. Ich
sehe Euch dort stehen, lange in den Abgrund blickend, fern von Euch selbst
und dem, was Ihr einst gewesen. Ich sehe Euch blicken in die Nebel der
Tiefe, sehe Eure Angst und Eure Furcht. Sehe Euch nackt, sehe das Kind
und den Greis. Und ich sehe, dass Ihr sie seht. Die Augen, tief verborgen in
dem Abgrund, die Euch anstarren, und die Ihr anstarrt, weil Ihr wisst und
nicht wisst, was sie sind. Gebannt von ihrem Blick und den Dingen, die sie
sagen, könnt Ihr nicht mehr wegsehen, habt Ihr sie erst einmal erblickt.
Unausweichlich ist der Tag, an dem diese Augen aus Euch herausblicken.
Nach den bewegenden Worten der Schwarzen Prophetin begibt sich Hayal
auf die Suche. Dabei begegnet er Menschen, die sich im Widerstand
befinden. Sie bekämpfen einen Machtapparat, der sich als Das Organ
bezeichnet. Sie selber nennen sich der Organische Widerstand. Sie erhoffen
sich von Hayal, dass er für sie auf die Suche nach Visionen geht, um
Antworten über die Zukunft zu erhalten. Doch Hayal begegnet nur dem
Ende der Welt. Als er von seiner Vision zurückkehrt, trifft er auf die Han,
eine der Führerinnen der Widerstandsgruppe. Er hat Fragen an sie, über Das
Organ und auch über den Organischen Widerstand
Han erzählt …
Sie machte eine Pause. Sie wurde nachdenklich, ihre Augen blickten
glasig in die Dunkelheit.
Nach dem Gespräch mit ihr bringt die Han Hayal mit einer Heilerin
zusammen. Sie versetzt ihn in Hypnose, dabei träumt er, dass er aus einem
Traum erwacht. Er kommt in einen Klassenraum, aber alle Menschen
schlafen. An der Tafel entdeckt er eine Formel.
PHANTOM
dumpfe klänge
gesichter die sich verändern
nicht kennen
nicht wissen
verlorenes licht
rückkehr zu verlorenen gedanken
leben
leben wie schatten
schatten der lebt
lebt durch licht
stirbt durch licht
wissen oder keines
das sich verändert
nicht lieben
nicht hassen
Hayal berührt einen der schlafenden Schüler. Dabei teilen sie eine Vision.
DIE HEILUNG
Ich sah mich selbst in der U-Bahn sitzen. Ich begleitete meine Freundin zu
einem wichtigen Vorstellungsgespräch. In den Fenstern des Waggons
spiegelte sich mein Gesicht. Es war nicht wirklich mein Gesicht, es war das
Gesicht eines anderen, aber irgendwie war es meins.
Da kam ein etwas älterer Mann auf uns zu. Auf seinen Schultern hatte er
einen Vogel, der neugierig um sich blickte und fröhlich zwitscherte. Der
Mann sah mich an, ich lächelte freundlich und er lächelte zurück.
Schließlich sprach er mich auf türkisch an.
Nasýlsýn?
Ich antwortete, Saðol, iyiyim. Siz nasýlsýnýz? Er nickte sanft mit dem
Kopf. Ich war neugierig. Sie haben da einen wunderschönen Vogel. Fliegt
der Ihnen nicht weg?
Er schüttelte den Kopf. Dieser Vogel, sprach er ruhig, ist kein normaler
Vogel. Er ist etwas ganz Besonderes. Ich blickte in das Gesicht meiner
Freundin. Ihre Augen strahlten mich an. Dieses kleine Lebewesen hier, er
zuckte mit der Schulter und der Vogel verstummte augenblicklich, hat in
den brennenden Dornbusch gesehen, durch den Gott zu Moses sprach. Er
ließ seine Worte wirken. Seine Seele entbrannte in der Liebe des ewigen
Mysteriums. Dadurch wurde er unsterblich. Und nun verkündet seine
Stimme von diesem Feuer.
Er streichelte sanft das kleine Köpfchen des Tieres und sah uns beide an.
Dann setzte er den Vogel auf seine Hand und reichte ihn mir rüber. Hier,
sagte er, ich schenke ihn Dir.
Ich war überrascht und zögerte. Natürlich glaubte ich nicht so ganz an
seine phantasievolle Geschichte, trotzdem wirkte das Geschenk so kostbar,
dass ich es nicht annehmen wollte. Dem Vogel war es jedoch egal. Er
flatterte munter auf meinen Kopf und krabbelte schließlich auf meine
Schulter.
Seine Hand berührte mein Bein, er sprach mit sanfter Stimme. Du wirst
es nicht einfach haben, mein Sohn. Ich sehe einen Krieg in Deinem Leben.
Doch er, damit deutete er auf den Vogel, wird Dir den Weg weisen.
Die U-Bahn hielt. Er nickte mir zu und verschwand. Meine Freundin und
ich sahen uns verdutzt an. Ich nahm den Vogel mit zu mir nach Hause.
Einen Käfig hielt ich für unnötig. Er flog nicht davon.
Es war ein sehr lebendiges Tier. Lange Zeit suchte ich nach einem
Namen, doch irgendwann gab ich es auf. Ich sprach oft mit dem Vogel und
fragte ihn herausfordernd, wo denn mein Krieg geblieben sei. Dann tanzte
er wild umher und zwitscherte völlig aufgeregt. Ich fand das lustig, ich
lachte über ihn, so wie über die Worte des alten Mannes.
Doch er behielt Recht. Kurz nach dieser seltsamen Begegnung führte ich
einen Krieg. Gegen den Weißen Tod. Die Jahre vergingen, doch ich hielt am
Leben fest. Ich wollte mich nicht besiegen lassen.
Traf ich Freunde, erschraken sie, wenn sie mich sahen. Ich war blass
geworden, hatte abgenommen, meine Augen wirkten müde und meine
Zunge wurde langsam.
In meiner Wohnung erdrückte mich die Fremde. Nur der Gesang des
Vogels und sein weiches, seidiges Federkleid drangen zu mir durch.
Trotzdem verzweifelte ich schier an meinem Hass, ich drohte daran zu
ersticken. Wohin hatten mich all meine Gedanken und Gefühle geführt?
Fragend sah ich den Vogel an. Er sang ein seltsames Lied, das mich zu dem
Kern aller Dinge führen sollte.
Die Stimme des Vogels brachte mich in das geheimnisvolle Land. Ich
sah das Weinen der Wolken, lauschte den Gesprächen des Waldes, sang
Lieder mit der Erde und küsste das Meer. In einem grünen Tal trank ich aus
der Quelle des Seins. Ein großer Felsen ragte aus der Mitte empor.
In seinem Inneren begegnete ich den Katzen. Ich fragte sie nach dem
Leben und sie antworteten: Erkenne die Seelen.
Ich ging weiter und traf auf Drachenechsen. Ich fragte sie nach dem
Leben und sie sagten: Erkenne den Kampf.
Ich drang immer tiefer in die Welt, und mein Weg kreuzte sich mit einem
Schwarm fliegender Fische und ich fragte sie nach dem Leben und sie
sprachen: Erkenne das Licht.
Als ich in die Ferne blickte, wusste ich, was mich dort erwarten würde.
Und ich kannte die Antwort, noch bevor sich die Frage stellte.
In der Ferne erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes: Und nun
verkündet seine Stimme von diesem Feuer. Das Feuer der Wahrheit. Was ist
die Wahrheit?
Die alten Weisen sagen, der Mensch sei gar nicht in der Lage, die
Realität zu erkennen. Sie ist viel zu groß und nicht fassbar für seinen
Verstand. Sie sagen, der Mensch ist wie ein Blinder, der mit seinen Sinnen
die Welt erfassen kann, doch seine Augen sehen nur das Nichts. Dieses
Nichts ist das Ich. Wenn das Ich stirbt, stirbt mit ihr das Nichts und in den
Augen spiegelt sich das Licht der Wahrheit.
Wahrheit. Was weiß ich schon darüber. Ich bin nur ein einfacher Mensch
aus der Wüste. Die Sterne sind meine Führer, die Sonne ist meine Liebe und
das Wasser ist mein Gold. Der Wind erzählt mir Geschichten und der
Wüstensand … jedes Sandkörnchen ist ein Planet voller Leben und die
Wesen dieser Welt fragen sich: Was ist Zeit? Wo endet die Unendlichkeit?
Und wann hat sie angefangen?
In den Augen meiner Geliebten bin ich jenseits von Zeit und Raum. Hier
verliert alles seine Bedeutung. Ich fühle die Einheit mit allen Dingen. Nein,
mein Ich löst sich auf und wird eins mit dem Universum.
Und da wurde es mir bewusst. Ich sah in das klare Gesicht meiner
Freundin.
Ohne ein Wort gab ich ihr den Vogel zum Geschenk. Und ohne zu zögern,
ließ sie den Vogel aus dem Fenster fliegen. Sie schenkte ihm die Freiheit.
Ich hatte den Krieg gewonnen. Der Weiße Tod war besiegt.
Erwarte das Unerwartete. Wenn ich das Unerwartete erwarte, ist es dann
noch unerwartet? Vielleicht bin ich am Ende meines Lebens überrascht,
weil nie etwas Unerwartetes eintraf? Zieht sich das Schicksal durch mein
Leben wie eine Linie? Eine Linie wie der Scheitel einer Düne? Oder ist das
Leben so unvorhersehbar wie die Reise eines Vogels?
Manchmal träume ich von der Wüste. Viele Menschen sind dort in den Tod
gegangen. Dann sehe ich einen Vogel aus schwarzem Feuer. Und dann weiß
ich, ich werde leben. Die Wüste ist mein Freund.
ARETHA SCHWARZBACH-APITHY
INTERKULTURALITÄT UND ANTI-RASSISTISCHE
WEIS(S)HEITEN AN BERLINER UNIVERSITÄTEN
1. Zur Inhaltsebene
Als ich in einem Seminar zu Interkulturalität auf die Kolonialgeschichte
Deutschland aufmerksam machte, erhielt ich von der Professorin die
Antwort: »Na – das bisschen Ostafrika.« Diese Antwort steht entsprechend
der Autorität der Dozierenden hoch; sie muss Aussagekraft besitzen bzw.
einen Wahrheitsgehalt in sich tragen. Viele von uns Schwarzen
Studierenden fühlen sich verpflichtet, auf solche Art gravierende ›Fehler‹
hinzuweisen, und zum Hauptbestandteil ihres Denkens werden Fragen wie:
Was hinterlässt dieser Satz bei den anderen Studierenden des Seminars?
Dieser Bereitschaftsdienst formt sich zu einer Art Dozierenden-Status um,
der jedoch nicht real vorhanden ist. Die Unkenntnis weißer Lehrender
verursacht eine Kette an Reaktionen, mit denen sich Schwarze Studierende
allein wieder finden. Da kolonialer Geringschätzung Unkunde immanent
ist, beginnt ein Wissenskampf, der ein Positionierungskampf und ein
Kampf um Definitions- und Wissensmacht ist.
Im Afrikawissenschaftlichen Institut (im Übrigen ein recht guter Ort, um
weiße exotische Sehnsüchte erfüllen zu können mit gleichzeitiger Kontrolle
über das zu keiner Zeit um Erlaubnis gefragte Angeeignete wie Literatur,
Historie, Kleidung u.v.m.) wurden die Forderung von Schwarzen und
People of Color-Studierenden nach Eigenbenennung und Positionierung des
Professors von diesem als faschistoid bezeichnet. Auf den Einwand einer
Schwarzen Studentin, dass sich mit der Weigerung der Benennung von
Schwarz oder weiß keine 500 Jahre unterdrückende Geschichte wie auch
Gegenwart wegwischen lassen, erhielt sie von dem gestandenen Historiker
die Antwort: »Na, bei 500 Jahren haben sie sich ja gut gehalten« – begleitet
mit einem männlich-süßem Lächeln. Die Gruppe an Schwarzen und PoC-
StudentInnen war anwesend, um eine Schwarze Studentin, die eigentlich
das Seminar allein belegte und sich dort die Begrifflichkeiten ›Stamm‹ und
›Neger‹ anhören musste, zu unterstützen. Ihr Intervenieren wurde als
›übertrieben‹ abgetan und – wie die meisten Schwarzen Menschen kennen
werden – wurde ihr erklärt, was es für eine Bewandtnis mit den beiden
›Definitionen‹ hat. Im Prinzip hätte sich die weiße Solidaritätsgemeinschaft
auch auf den Beschluss vom Dezember 2003 des Landgerichtes Berlin
beziehen können, wo dem Wort ›Neger‹ Objektivität und Wertneutralität
bescheinigt wurde. Bezogen wurde sich dabei auf den aktuellen Duden wie
auf das Sprachverständnis des Gerichtes und auf das seines Volkes.
Interessanterweise erkennt das Gericht – und überschätzt die Elite der
Nation – AkademikerInnen als Ausnahme an und vermutet, dass »Neger
[…] lediglich (von) dem Sprachgebrauch intellektueller Bevölkerungskreise
und Mitglieder der erzieherischen und spracherziehenden Berufe« als
»Unwort« angesehen wird. Das ist ein Auszug aus der Perspektive weißer
Richter aus Berlin;[3] aus der Perspektive der Schwarzen Psychologin
Kilomba liest sich dies folgendermaßen:
Das Wort ›Neger/in‹ ist also in der Geschichte der Versklavung und Kolonisierung situiert, d. h. es
ist ein Begriff, welcher mit Unterdrückung, Brutalität, Verwundung und Schmerz einhergeht […]
Menschen der Afrikanischen Diaspora sind damit tagtäglich konfrontiert. […] In diesem Sinne
verstehe ich Alltagsrassismen als Reinszenierung kolonialer Szenen…da der Begriff die
Beziehung zwischen weißen und Schwarzen beschreibt, welcher seine Wurzeln in einer […]
(Meister-Sklave) Dichotomie hat.[4]
Die Schwarze Studentin, als einzige widersprechend, fing mit der Zeit vor
Einflusslosigkeit an zu zittern, da sie (für sie) Offensichtliches nicht
verständlich machen konnte, aber ebenso aufgrund von Wut und
Verletzung, sich in dieser ausweglosen rassistischen, auf Wissen pochenden
Gruppierung weißer Studierender mit ihrem Dozenten zu befinden.
Während der nachfolgenden längeren Alleinauseinadersetzung zwischen
dem Dozenten und dieser Gruppe fühlten sich die weißen Studierenden
unwohl, und ins Feldlager ihres sympathischen Dozenten tendierend
verfolgten sie angespannt den Schauplatz. Die Dynamiken solcher und
ähnlicher Erlebnisse sind in ihren Auslösern, in ihrer zustimmenden oder
schweigenden Begleitung durch weiße Studierende bzw. DozentInnen, in
ihrer Haltung gegenüber Schwarzen Menschen, die sich weigern,
rassistische Begrifflichkeiten oder einseitige Darstellungen zu verwenden,
geradezu identisch. Das gelernte (Kolonial-)Wissen auf universitärem
Niveau bildet das Potenzial, mit welchem nicht wenige dieser Studierenden
glauben, bereits während oder nach ihrer Studiumszeit ›Entwicklungs- und
Konfliktlösungen‹ (Zivilisationsmodelle?) für Afrika, das heißt gleichfalls
für uns Schwarze Menschen, konzipieren zu können. Mit diesen Zielen
stellen sie keine neue ›Albert-Schweizer-Elitetruppe‹ dar, sondern nur
ZeitgenossInnen und Nachkommen weißer Vorbilder. Die betreffende
Studentin ist nur eine von mehreren Schwarzen Studierenden, für die
kolonial-rassistische Studienerfahrungen am Afrikainstitut der HU die
Auslöser waren, ihr Studium dort abzubrechen, um es im Ausland erneut zu
beginnen. Mit Nachdruck: derartige (nicht wortgleiche) Ereignisse sind
keine Ausnahmen, sondern waren selbstverständlicher Bestand in den
meisten von mir belegten Seminaren an unterschiedlichen Instituten.
Lehrende werden sich nicht nur der Hinterfragung ihrer sozialen und
politischen Position als weißer Mensch gegenüber sehen. Es muss
gleichfalls nach ihrer Beziehung zu ihrem Wissen und Handeln gefragt
werden.
Man kann sich sogar fragen, ob die Europäer je ihre Zweifel am Menschsein der Schwarzen
überwunden haben, nachdem sie diese über dreieinhalb Jahrhunderte lang ununterbrochen wie
Tiere behandelt hatten […] Sie weichen aus und maßen sich das Recht an, anstelle der Opfer ihre
eigenen Verbrechen selbst zu definieren und zu entscheiden, welche historische Bedeutung ihnen
beizumessen ist oder auch nicht.[5]
2. Zur Herrschaftsebene
Das Aufwachsen in herrschaftlichen/weißen Strukturen formt Menschen
und lässt weiße Deutsche unbestreitbare Verhaltensmuster zulegen, da sie
sich in ihren Kindergärten, in Schulen, Universitäten, Ausbildungsstätten, in
den Medien, auf den Strassen, in den Verkehrsmitteln, in den staatlichen
Institutionen, kurz: in allen Bereichen und Lebenssphären – auch mit
Konfrontationen oder Ablehnungen – spiegeln und wiederfinden können.
Mitzubedenken ist gleichfalls der enorme Einfluss, den sie über die
unsäglichen Bilder des Kontinentes Afrika und/oder von Schwarzen
Menschen von Angehörigen ihrer Gruppe erhalten, der ihr zwar hinfälliges,
aber dennoch aufgeblähtes Selbstbild beständig nährt. Es sind Welt-
Geschichten (siehe auch: ›Weltgeschehen‹), die sich weiße Menschen
gegenseitig erzählen und aufnötigen. Das Dramatischste daran ist nicht
einfach die Täuschung anderer, sondern die Eigenblendung; sie scheint es
nahezu unmöglich zu machen, sich adäquat in Beziehung zu anderen
Menschen zu setzen; auch aus dem Grund, da weiße Menschen – stets nur
angehalten, sich mit ihren Gruppengedanken zu beschäftigen – annehmen,
das Schwarze Menschen sie und die Gesellschaft in der sie leben, so sehen
und wahrnehmen, wie sie sich selber wahrnehmen! Unter anderem ist es
dieser Trugschluss, der zu den verheerenden Auseinandersetzungen in
Universitäten zwischen Schwarzen und weißen Menschen führt. Die
eingleisige und fragmentarische weiße Persönlichkeitsentwicklung entpuppt
sich als derart abgeschlossen, dass sich anderem, gar Entgegengesetzem
nicht, nur auf Umwegen oder mit großen emotionalen Schmerzen und
enormen kognitiven Anstrengungen genähert werden kann. Herrschaftliches
Hörverständnis, herrschaftliche Argumente, herrschaftliches Verhalten
Schwarzen Menschen gegenüber ist internalisiert und schließt das
Schreiben über Weißseins-Theorien, das Initiieren ›Kritischer Weißseins-
Tagungen‹ oder ein scheinbar freundschaftliches Verhältnis zu Schwarzen
Menschen keineswegs aus. Herrschaftliches Hörverständnis umfasst
gleichwohl den plakativen Ausdruck ansonsten intellektueller Menschen:
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen« oder lässt weiße erkennen, dass
Schwarze ›zu‹ viel oder ›zu‹ laut sprechen. Herrschaftliches
(Nicht-)Verstehen heißt zu ›wissen‹, dass alles, was nicht der eigenen
weißen Perspektive entspricht, als nicht ›verbürgt‹ gilt, da es in weißen
Texten nicht nachweisbar ist. Der Kolonial-Kreislauf wird deutlich, da ein
Vorweisen schwierig sein dürfte, wenn selbstbestimmte Schwarze
Perspektiven in der BRD kaum oder gar nicht anerkannt werden; generell
nicht anerkannt als kolonisierte AfrikanerInnen unter deutscher
Okkupation, noch als Schwarze Deutsche während und nach der NS-Zeit
und auch nicht als Schwarze Deutsche in der BRD. Und 99 % (wenn nicht
100%) aller Verlage dürften wohl in der Kontrolle, in der Obhut und im
Besitz weißer Dominanz liegen.
3. Zur Disziplinarebene
Im Zentrum stehen hier das Auftreten, die Sprechweise, die Arroganz, die
Unverschämtheit, die Aggressivität, die schlechte Erklärweise, das
Polarisieren oder der Ton Schwarzer Studierender. Auf Thesen, Beweise
oder Diskurse, die von Schwarzen Studierenden zweifellos auf
akademischer Ebene formuliert werden, aber keinem klassischem weißen
Hintergrund entstammen oder der Auffassungsgabe weißer ZuhörerInnen
nicht angepasst werden können, wird auf einer bevormundenden und
drohenden ErzieherInnenebene reagiert. Dazu gehören Reaktionen wie:
»Aber nun begeben Sie sich außerhalb des Dialogs« bzw. »Sie wollen ja gar
keinen Dialog« (Angehörige der Dominanzkultur bestimmen, wo und wann
Dialog beginnt und wo und wann er endet, und sie wissen aus innerer
Eingebung heraus ebenfalls, wie ein Dialog durchgeführt wird). »Sie sind
so arrogant, so aggressiv, so eingebildet; was denken Sie, wer Sie sind?«,
»Von Ihnen ist bekannt, dass Sie jedes Seminar sprengen«. Oder milder
formuliert: »Das gehört jetzt nicht hierher«. Diese Zurechtweisungen
werden nicht erteilt, weil tatsächlich von Studierenden der Seminarverlauf
mit unflätigem Verhalten aufgehalten wird. Es sind disziplinierende
Verweise. Andererseits: wer definiert ›Aggressivität‹? Wer hat den Maßstab
dafür? Was würde denn geschehen, wenn ›arrogant‹ gesprochen würde? Ist
dies tatsächlich das Argument weißer Intellektueller, aufgrund dessen sie
ausgegrenzte historische/aktuelle Perspektiven nicht in die Interpretationen
über unsere Umwelt mit aufnehmen? Und wäre es nicht – gemäß unser aller
Geschichte und Gegenwart ein zu erwartendes Verhalten, ausgrenzende
(Seminar-)Situationen zu ›sprengen‹? Wird dies nicht von unseren
PolitikerInnen beherzt als ›Zivilcourage‹ bezeichnet? Konstruktiven
Argumenten zu Rassismus oder der Hinweis auf verfälschte Illustration
(neo-)kolonialer Strukturen sollen jede (wissenschaftliche) Grundlage und
Berechtigung entzogen werden, und der häufige Verfall in Maßreglungen
gegenüber Schwarzen Studierenden reduziert deren Argumente zu einem
Häufchen Belästigung. Unabhängig von unterschiedlichen Möglichkeiten
an Disziplinierung transportieren sie alle immer auch eine Warnung: die
›störenden‹ Diskurse sollen nicht wiederholt werden. Es handelt sich dabei
nicht nur um eine Herabsetzung nicht zur dominanten Gruppe zählender
Menschen und deren Verstand, sondern demonstriert einen
außerordentlichen Grad Entwertung und Zurechtweisung, der mit der
Zelebrierung eigener Ignoranz zusammen läuft.
SCHUTZRÄUME
Schutzräume sind ein heikles Thema, da deren Notwendigkeit von den
meisten weißen VeranstalterInnen oder DozentInnen nicht nur nicht
verstanden wird, sondern zum Teil – ungeachtet kolonialer Dynamiken im
Raum – abgelehnt wird. Neben bzw. aufgrund des bereits erwähnten
ominösen Dozierenden-Status geraten Schwarze Studierende in das
Schussfeld der Diskussionen. In der Realität bedeutet dass, sie müssen
augenblicklich gegenüber dreißig oder mehr weißen Studierenden Rede und
Antwort stehen. In aller Regel können diese mehr oder weniger flink eine
Front bilden und werden von den Lehrenden unterstützt. In diesen Fällen
würden Schwarze Studierende mit einer Verschwörungstheorie weitaus
besser umgehen können (und für die beteiligten weißen Personen wäre dies
noch der ›bessere Vorwurf‹), doch es muss wohl davon ausgegangen
werden, dass sich vor diesen Zusammenhalten eben nicht abgesprochen
wurde. Das könnte die Empörung weißer Menschen verständlich machen,
wenn sie mit einer politischen Konstellation wie der eines weißen
Kollektives vertraut gemacht werden sollen. Auf diesem Hintergrund sollte
der weitere Verlauf solcher Debatten und auch die fast schon
bewusstseinsgespaltenen Muster begreiflicher werden:
1. Obwohl sie von keiner Zugehörigkeit zu einem weißen
Kollektiv/Verständnis hören wollen, da alle Menschen, so die immergleiche
(also nicht-individuelle) Antwort individuell sind – wird von (fast) allen nur
die Schwarze Person nicht verstanden. 2. Verteidigt werden Privilegien, die
vermeintlich aber nicht bekannt sind. 3. Geleugnet werden
Verhaltensweisen weißer Menschen, derer sich gleichzeitig bedient wird. 4.
Erhalten wird damit eine weiße dominante Situation, die angeblich nicht
verstanden wird.
Auf dieser Etappe sind Schwarze Menschen noch nicht mal mehr
unbezahlte Dozierende, von denen gelernt werden kann. Vielmehr werden
sie als Unterwanderer weißer Behaglichkeit oder als Radikale betrachtet.
(Wobei der Begriff der Radikalität in der BRD meist nur als Negativum
bekannt ist.) Wenn die (oft) einzige Schwarze Person alle von ihr
vertretenen Theorien, Hinterfragungen und Richtigstellungen in Situationen
beweisen muss, in der es zur (von weißen bestrittenen) Polarisierung
zwischen Kolonisierte und Kolonisierende, zwischen Schwarz und weiß,
zwischen Ausgegrenzte und Ausgrenzende und auch zwischen Minderheit
und Mehrheit im nationalen Kontext kommt, ging es von Beginn an nicht
einen Moment um die Stichhaltigkeit ihrer Beweise. Ein Gerichtssaal dürfte
diesen Prozessen wohl eher dienlich sein. Um den ungleichen Status zu
komplettieren, wird weißen Studierenden zugestanden, in universitärer
Lehre ihre eigene ›freie‹ Meinung zu äußern, die es dann – z.B. in Reaktion
auf Diskriminierung an Schulen – »so nicht sehen kann« oder »nicht
glauben kann«; folglich hängt die ›Wahrheit‹ und Nachweisbarkeit einer
systematischen Benachteiligung von Minderheiten an deutschen Schulen
davon ab, inwiefern weiße Menschen es glauben (wollen). Im Gegensatz
dazu haben es sich viele Schwarze Menschen innerhalb oder außerhalb des
universitären Raums zu Eigen gemacht, ohne Vorbereitung stets Daten,
Theorien, Ereignisse, Verknüpfungen etc. verteilen zu können. Ein solch
eigenständiger Wissensstand (also kein ›Meinungs- oder
Befindlichkeitsstand‹), der eher anerkannten DozentInnen zugedacht wird,
muss für viele Schwarze Studierende bereits innerhalb ihres Studiums
erreicht werden, um nur einigermaßen den weißen Anwesenden standhalten
zu können – die Dialektik weißer Diskutierender besitzt mit steigender
Einfalt ihren ganz eigenen Schwierigkeitsgrad.
Ein Schutzraum ist vorhanden, wenn die jeweiligen DozentInnen ihre
auch pädagogische Aufgabe kennen und die Position übernehmen, sich den
Runs weißer Dominanzkultur zu stellen. Dies ist nur schwierig für sie,
solange sie ähnliche bis gleiche unreflektierte Ansichten wie ihre
Studierenden vertreten oder wenn sie sehr wohl ›etwas ungutes‹ verspüren,
aber weder inhaltliches Instrumentarium noch menschliche Stärke besitzen,
um sich letztlich gegen eine Übermacht im Seminar zu stellen – (weiße
DozentInnen und StudentInnen scheinen gegenseitig Angst (?) voreinander
zu haben). Die Behauptung, all dies sei geplant gegen Schwarze Menschen,
ist eher sekundär. Primär ist hier das Resultat, was sich aus Zufall oder
Absicht kontinuierlich ergibt. Universität ist somit kein universeller =
allseitiger Ort des Lernens, sondern verwandelt sich zur Absicherung
weißer Privilegien, wozu neben anderem die Erhaltung der
Definitionsmacht weißer Menschen zählt und folglich die Unterdrückung
und Ausgrenzung bestimmter Menschen und deren Perspektiven
kontinuierlich festgeschrieben wird. Vor einer solchen rassistischen
Lernsituation müssen (nicht nur) Schwarze Studierende geschützt werden.
Das Privileg der Unsichtbarkeit
I think whites are carefully taught not to recognize white privilege […] I have come to see white
privilege as an invisible package of unearned assets […] White privilege is like an invisible
weightless knapsack of special provisions, maps, passports, codebooks, visas, clothes, tools, and
blank checks.[6]
BIBLIOGRAFIE
Asante, Molefi: »The Afrocentric Idea in Education.« In: Hord Fred Lee (Mzee Lasana Okpara) &
Scott Lee Jonathan (Hrsg.): I Am Because We Are – Readings in Black Philosophy. Amherst:
University of Massachusetts Press, 1995, S. 338-349 (Erstveröffentlichung 1991)
Kilomba, Grada: »Don‘t You Call Me Neger! – Das N-Wort, Trauma und Rassismus.« In: ADB &
cyberNomads (Hrsg.): TheBlackBook. Deutschlands Häutungen. Frankfurt/M.: IKO Verlag,
2004, S. 91-115
Gruen, Arno: Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta, 2000
McIntosh, Peggy: »White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack.« In: Wellesley College
Center for Research on Women (Hrsg.): White Privilege and Male Privilege.: A Personal
Account of Coming to See Correspondences Through Work in Women’s Studies. Working Paper
No. 189, 1988
Plumelle-Uribe, Rosa Amelia: Weisse Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis.
Zürich: Rotpunktverlag, 2004 (Erstveröffentlichung 2001 auf Französisch)
Wachendorfer, Ursula: »Weiß-Sein – (k)eine Variable in der Therapie.« In: Psychologie und
Gesellschaftskritik, Nr. 93, 2000/1: 55-68
ANMERKUNGEN
1 Wenn nicht ausdrücklich anders angegeben, sind im Folgenden weiße DozentInnen bzw.
StudentInnen gemeint.
2 Gruen: Der Fremde in uns, S. 191.
3 Das Landgericht Berlin reagierte mit diesem Beschluss auf die Klage der Initiative Schwarze
Deutsche (ISD e.V.), die aufgrund der rassistischen Begrifflichkeit eine einstweilige Verfügung
gegen die Aufführung Kampf des Negers und der Hunde (2004) an der Volkbühne in Berlin
erreichen wollte.
4 Kilomba: »Don‘t You Call Me Neger!«, S. 173-174.
5 Plumelle-Uribe: Weisse Barbarei, S. 76.
6 McIntosh: »White Privilege«, S. 148.
7 Vgl. Wachendorfer: »Weiß-sein – (k)eine Variable in der Therapie«.
8 Vgl. ebenda.
9 Asante: »The Afrocentric Idea«, S. 340.
10 Black Holocaust bezieht sich auf die millionenfache Verschleppung, Versklavung und
Ermordung afrikanischer Menschen in arabische Gebiete und insbesondere nach Amerika,
Europa und in die Karibik (Middle Passage); auf die in Afrika stattgefundenen Genozide wie der
an den Namas und Hereros (1904) unter deutscher Kolonialdiktatur oder an zehn Millionen
Kongolesen unter dem Kolonialregime von Belgien mit Unterstützung der USA, Deutschland,
Frankreich u.a. weißer Nationen; auf den Völkermord an den Schwarzen Menschen in
Tasmanien; auf die Ausrottung der Kori in Australien; auf den ostafrikanischen Sklavenhandel;
auf alle Schwarzen Todesopfer weißer Polizeigewalt; auf die Schwarzen Lynchopfer weißer
Bevölkerungsteile in allen weißen Nationen und auf die sog. Black on Black Crimes.
11 Ich danke allen Schwestern und Brüdern, Freunden und Bekannten, mit deren Unterstützung ich
lernen konnte, meine/unsere Erfahrungen zu reflektieren, zu nutzen und niederzuschreiben.
Insbesondere danke ich den Studierenden der Schwarzen Studiumsgruppe.
GBIANGO JUNIOR
DAS AUGE IST DER ZEUGE
die rassistische Aufteilung der Erde (ich bin der Herr über diese Erde
und über alles, was zu ihr gehört);
die Konstruktion universeller und rassistischer Gesetze, z.B. die
Erklärung der Menschenrechte – in denen ein Artikel bedeutet: alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
REISEN
Reisen ist den Gefangenen untersagt. Jeder Ortswechsel ist zu melden, um
den Reisezweck zu überprüfen!
SCHWIERIGER MOMENT:
Wenn man Ihnen einen Brief schickt, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Antrag
laut Asylgesetz abgelehnt wurde; dass Sie in diesem Land kein
Aufenthaltsrecht mehr haben. Jetzt beginnt eine mörderische Zeit im Leben
eines Asylsuchenden.
Sie können entscheiden, je nach Ermessen und Gemütszustand, dass Ihre
Präsenz einen Monat, zwei Monat oder zwei Woche auf dem Territorium
geduldet wird. Es könnte aber auch sein, dass Sie von der Polizei entführt
werden, genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sie zu den Ausländerbehören
gehen, um Ihren Aufenthalt zu verlängern. Niemand in ihrem Familien-
oder Bekanntenkreis wird erfahren, wo Sie sich aufhalten! Wenn jemand
unter Ihnen schnell handelt, wird man Wege suchen, um Ihren Anwalt zu
verständigen. Der Anwalt wird Kontakt mit dem Grenzschutz und den
Ausländerbehörden aufnehmen, um zu erfahren, wo Sie sich befinden. Das
ist für das Leben des Einzelnen ein historisches Datum: viele Menschen
werden abgeschoben und sind nach der Rückkehr in ihre Heimat ums Leben
gekommen; andere wurden in diesem Rechtsstaat physisch und geistig
krank.
Deswegen sagen wir: der heutige Tag ist nicht der morgige Tag; die starke
Hand ist diejenige, die das Eisen bricht.
Nach einem der beiden Interviews, die ich für diesen Artikel führte, zeigte
mir meine Gesprächspartnerin ein Bild ihrer afrodeutschen Mutter aus dem
Jahr 1933. Zu sehen waren zwei kleine Mädchen um die drei Jahre alt im
Vordergrund und ein älteres Mädchen im Hintergrund. Die beiden vorderen
umarmen sich und blicken in die Kamera. Aus einer dominanzorientierten
Perspektive heraus sieht die eine wie ein weißes Mädchen, die andere wie
ein Schwarzes Mädchen aus. Eine hat blonde Locken und helle Haut, die
andere braune Locken und dunkle Haut. Beide sind Schwarze Deutsche.
Die Mutter meiner Freundin gemäß dieser weiß als normativ setzenden
Perspektive visuell erkennbar, die andere nicht. Was bedeutete es damals,
was bedeutet es heute, in dieser Gesellschaft Schwarz zu sein und doch als
solches nicht erkannt zu werden? Wie hat dieses blonde Mädchen, das die
Mutter meiner Freundin umarmt, die Zeit bis 1945 erlebt? Hat sie überlebt?
Die Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung von Differenz ist mit
bestimmten Erwartungshaltungen verbunden, die sich auf der visuellen
Ebene besonders ausgeprägt zeigen. Wie umfassend und durchdringend
Differenzmarkierungen in Form von ›Othering‹ (Ver-Andern)[1]
funktionieren soll im Folgenden anhand eines Phänomens diskutiert
werden, das im US-amerikanischen Sprachgebrauch als passing bekannt ist.
Passing bedeutet, als jemand anders zu passieren,[2] als jemand anderes
wahrgenommen zu werden oder auch irgendwo durchzukommen, an
Grenzen, bei Auswahlverfahren etc. Passing im ersten Sinne könnte auch
als Wechsel des Repräsentationsregimes[3] oder Ausbruch aus demselben
verstanden werden. In den letzten Jahren ist das Thema für die
unterschiedlichsten Bereiche, in denen dieser Wechsel möglich ist,
diskutiert worden: zum Beispiel in Bezug auf Gender, auf sexuelle
Orientierung, auf Religion und in Bezug auf Rasse.[4] Passing in diesem
letzteren Sinn hängt eng zusammen mit der Schaffung rassifizierter Körper,
die für die Diskurse der Differenz und des ›Othering‹ grundlegend sind.
Stuart Hall betont in diesem Zusammenhang »die Verbindung zwischen
visuellem Diskurs und der Produktion von (rassisiertem) Wissen«.[5]
Soziokulturelle Unterschiede wurden im Zuge der Ausweitung solcher
Disziplinen wie der Anthropologie und Ethnologie in Körper
eingeschrieben:
Der Körper selbst und seine Unterschiede waren für alle sichtbar, und lieferten auf diese Weise
den ›unwiderlegbaren Beweis‹ für eine Naturalisierung rassischer Differenz. Die Repräsentation
von ›Differenz‹ durch den Körper wurde zum diskursiven Ort, über den ein Großteil dieses
›rassisierten Wissens‹ produziert und in Umlauf gebracht wurde.[6]
Und K., die sich schon in ihrer Kindheit Schwarz[33] positioniert hat,
antwortet auf die Frage, wie weiße Menschen auf sie reagieren:
Na ja, dadurch, dass ich da nie ’nen Hehl daraus gemacht habe [Schwarz zu sein] und das immer
fröhlich rum erzählt habe: mit Unwohlsein meistens. Fast immer mit Unwohlsein. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass irgendjemand im Kindergarten oder in der Schule – ’ne weiße Person –
das einfach so hingenommen hat und gesagt hat ›Ja schön‹ oder wie auch immer. Sondern es war
immer verbunden mit irgendwelchen komischen Blicken oder ›Na ja, musst ja nicht so sagen, bist
ja gar nicht so schwarz‹ und ›Du bist doch so schön blond.‹ Damit war das halt immer verbunden
und auch mit vielen Repressionen, was ich aber später erst überhaupt kapiert habe. Dass das
dadurch kam, dass die dieses Wissen über mich hatten.
Auch K. kennt diese erste Reaktion auf ihre Person, wenn auch mit einigen
Differenzierungen:
Und ansonsten, glaube ich, dass ich fast immer als Weiße gesehen wurde, also auch von
Schwarzen. Die Einzigen, die da ein anderes Bewusstsein meiner Meinung nach haben, waren
immer Afroamerikaner/innen gewesen, das waren die Einzigen, die mich immer angeguckt haben.
Im weiteren Verlauf des Interviews ergänzt K., dass sie dieses Bewusstsein
auch bei Schwarzen Menschen aus der Karibik und Großbritannien
wahrgenommen hat. Mit der Zeit änderte sich ihr eigener Umgang mit
Reaktionen auf ihre Person.
Ich habe mich einfach mitgemeint. Wenn mein Bruder gegrüßt wurde, und das hat ja was bedeutet
für mich, dass es da Schwarze Menschen gibt, die dich grüßen. Dass es Schwarze Menschen gibt,
die zu anderen Schwarzen Menschen eine Verbindung herstellen wollen. Dass es Schwarze
Menschen gibt, die nicht zu Weißen eine Verbindung herstellen wollen, sondern zu Schwarzen.
Das war ja schon mind-blowing. Alle, die ich kannte, wollten ja nur zu Weißen eine Verbindung
herstellen.
Beide Frauen haben schon sehr früh Erfahrungen mit den spezifischen
Wahrnehmungen und den damit verbundenen Einordnungen ihrer Person
gemacht und auf unterschiedliche Art und Weise Schwarzsein verhandelt.
Was beide betonen, ist, dass es schon von Kindheit an ein Bewusstsein für
die eigene Herkunft gab. M. erzählt:
Ich glaube, bewusst ist es mir vorher [i.e. vor der Schulzeit] geworden. Nämlich, wenn ich mit
meiner Mutter auf der Straße lief und irgendwelche Leute mich ansprachen und mir sagten, ich
dürfte doch nicht mit der fremden Frau mitgehen. Wobei - was heißt gewusst. Ich habe das nicht
verstanden als Kind, dafür war ich zu klein. Ich habe nur immer gedacht, was wollen die
eigentlich von mir mit ›der fremden Frau‹, also woher wollten die wissen, dass das für mich ’ne
fremde Frau war. Ich konnte es aber vorher … also, das konnte ich als Kind nicht sehen. Ich habe
da im Alter von drei oder vier nicht gesehen, dass sich das auf die Hautfarbe von meiner Mutter
oder so bezog, dass die der Meinung sind, ich gehe da mit irgendjemanden mit. Das ist ja nicht nur
einmal vorgekommen, das ist ja schon ab und zu gewesen. Und da hat meine Mutter auch eher
drauf reagiert. Das ist bei mir aber eher so schemenhaft hängen geblieben.
K. beschreibt auch, wie sie den Blick auf ihre Person strategisch einsetzte:
Ich hatte ein sehr hohes Bewusstsein. Mein Bruder zum Beispiel war dunkler und ich wusste, der
hat dadurch mehr Probleme. Ich habe das auch selber manchmal genutzt, dass ich hell bin, dass
ich als Weiße durchgehen kann und solche Sachen. Habe das auch genutzt. War auch manchmal
fies gewesen, weil ich genau wusste, o.k., da kann ich ihn treffen. Also, ich habe sehr wohl ein
Bewusstsein darüber gehabt, was es bedeutet, wie du wahrgenommen wirst und was das für
Konsequenzen hat, wie du wahrgenommen wirst. Und ich denke, egal, wie politisch korrekt man
wird, das ist immer da, dieses Bewusstsein. … Also, wenn ich mit Schwarzen unterwegs bin, bin
ich diejenige, die angesprochen wird - von Weißen. Und von Schwarzen, da ist es genau
umgekehrt. Das ist wirklich so ’ne Frage – das macht emotional auch was ganz anderes.
KÖRPERPOLITIKEN
In den bisher genannten Beispielen sind Irritationen meist im
gemeinschaftlichen Zusammenhang oder durch ein Vorwissen, das andere
Personen über die beiden Frauen hatten, beschrieben worden. Es ist zwar
auch die Rede von dem Blick, der etwas zu erkennen scheint. Die Frage ist,
was »die Leute dann gesehen haben wollen«, welche rassifizierten
Zuschreibungen es für Frauen gibt, die als weiß durchgehen könnten. K.
bemerkt:
Also, meine Erfahrung – kennst du bestimmt auch selber – ist die Erfahrung, sehr hell zu sein und
eigentlich fast keinen Rahmen zu haben, um über Rassismus zu sprechen. Weil, der ist so wenig
existent mit konkreten Erfahrungen verbunden, also mit konkreten Sprüchen verbunden.
Erfahrungen ja, aber die sind auf einer ganz subtilen, emotionalen Ebene. Also, so erleb’ ich das.
ANMERKUNGEN
1 Es gibt keine hundertprozentige Übersetzung von ›Othering‹. Ver-Andern soll darauf hinweisen,
dass es sich um einen macht- und häufig auch gewaltvollen Prozess der Differenzmarkierung
handelt. Auf der Konstruktion von Rasse basierende Differenzmarkierungen sind zum Beispiel
Hautfarbe, Haare und andere phänotypische Merkmale, denen als Teil eines rassistischen
Diskurses eine soziokulturelle Bedeutung eingeschrieben wird.
2 Im Folgenden wird passing/to pass konsequent mit passieren übersetzt, um die
Konzepthaftigkeit zu betonen und herauszustellen, dass es kein einfaches Durchgehen ist, wenn
eine Schwarze Person sich als weiß identifiziert, sondern dass durch diese Entscheidung etwas
passiert.
3 Vgl. Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 115.
4 Neuere Publikationen zum Thema Passing sind u.a.: Bennett: The Passing Figure; Sánchez &
Schlossberg: Passing; Wald: Crossing the Line.
5 Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 128.
6 Ebenda.
7 Vgl. Piper: »Passing for White«, S. 305.
8 Vgl. Brodzki & Schenck (Hrsg.): Life/Lines; Berger & Gluck (Hrsg.): Women’s Words; Etter-
Lewis & Foster (Hrsg.): Unrelated Kin.
9 Vgl. Hill Collins: Black Feminist Thought, S. 19.
10 Vgl. Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation«, S. 32.
11 Vgl. Hill Collins: Black Feminist Thought.
12 Einen kritischen Überblick zu literarischen Werken, in denen passing thematisiert wird, vom
ausgehenden 19. Jahrhundert über die so genannte Harlem Renaissance bis in die Gegenwart,
findet sich bei Bennett: The Passing Figure.
13 Ebenda, S. 36.
14 Vgl. die Diskussion bei Wald: Crossing the Line, die auch Beispiele des passing for black
aufführt. Zum ›Unfreiwilligen passing‹, d.h. der Vereinnahmung Schwarzer Personen durch
einen normativen weißen Diskurs, der sie als weiß einordnet, siehe Piper: »Passing for White«.
15 Vgl. zur so genannten one-drop-rule: Bennett: The Passing Figure, S. 5.
16 Zack: »Race and Philosophic Meaning«, S. 33.
17 Vgl. Piper: »Passing for White«, S. 278-279.
18 Vgl. ebenda, S. 284.
19 Vgl. Bernal: Schwarze Athene.
20 Vgl. Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen.
21 El-Tayeb: »Black Atlantic in Berlin?«, S. 401.
22 Vgl. Piesche: »Black and German?«.
23 El-Tayeb: »›Blood is A Very Special Juicey‹«, S. 166. Vgl. auch Lauré al-Samarai: »Neither
Foreigners Nor Aliens«.
24 Vgl. Piesche: »Identität und Wahrnehmung«, S. 195.
25 Vgl. Ha: Ethnizität und Migration, S. 35.
26 Wollrad: »Der Weißheit letzter Schluss«, S. 6. Vgl. Frankenberg: »Introduction«, S. 1-33.
27 Vgl. Tate: »Widerstand und Shade«.
28 Ebenda, S. 168.
29 Ebenda, S. 183.
30 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation«, S. 30.
31 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe bekennen.
32 Die im Folgenden verwendeten Interviewpassagen entstammen Gesprächen, die am 03.03.05
(M.) und am 5.3.05 (K.) stattfanden.
33 Auf meine Nachfrage, ob sich K. in ihrer Kindheit wirklich auch als Schwarz bezeichnet hat,
antwortete sie: »Ja, immer. Also früher hatten wir andere Bezeichnungen, ›farbig‹ und diese
Sachen, aber letztendlich Schwarz, ja, letztendlich Schwarz, immer schon, ja.«
34 Für einen derartigen Referenzrahmen bedürfte es einer Zusammenführung und Dekonstruktion
aller körperpolitischen Images, die in Deutschland verwendet werden. Ein solcher Rahmen
würde es ermöglichen, die Hierarchie der Images zu entflechten, innerhalb derer Schwarze
Menschen aus einer hegemonialen Perspektive heraus, phänotypischen Merkmalen zugeordnet
werden.
JOSHUA KWESI AIKINS
WER MIT FEUER SPIELT…
ANEIGNUNG UND WIDERSTAND – SCHWARZE
MUSIK/KULTUREN IN DEUTSCHLANDS WEIßEM
MAINSTREAM
Auch hier zeigt sich in der Positionierung des Künstlers gegen den
afrodeutschen HipHop Zusammenschluss Brothers Keepers – »Keine
Brothers Keepers, er ist DER NEGER! Ein neuer Weg für Rap in
Deutschland. Jetzt kaufen« –, welche Zielgruppe angesprochen werden soll.
Während die Brothers Keepers Rassismus gesellschaftlich verorten und
eine positive afrodeutsche Selbstidentifizierung präsentieren, wird B-Tight
als klassisches Klischee des Tragic Mulatto vermarktet. Hier wird Schwarze
Identität als individuelles Problem dargestellt und bewusst gegen andere
Schwarze Deutsche Künstler positioniert – ein eindeutiges Angebot an all
jene, die Rap ohne HipHop Kontext, ohne politische Schwarze Deutsche
Perspektiven, dafür jedoch mit demonstrativer Bestätigung aller
verfügbaren Klischees über Schwarze Menschen konsumieren wollen. Ein
weiterer Grund für den Erfolg von B-Tight und weiterer Aggroberlin-
Rapper ist die Vermarktung ihrer vermeintlichen Ghettoherkunft – das
Märkische Viertel, ein Sozialbauviertel im Norden Berlins, dient dabei als
Kulisse für Videos und als Beweis für Authentizität. Hier wird in
Anlehnung an Images und Assoziationen aus US-Rapvideos ein ›Ghetto‹
konstruiert, das als sozialer Brennpunkt Aggressivität, Sexismus und
Rassismus der Texten in den Augen von JournalistInnen zu »schockierender
Sozialkritik« der »Unterschicht« werden lässt. Diese fabrizierte Street
Credibility ist so überzeugend, dass sie Kritik an Aggroberlin-Künstlern wie
B-Tight erschweren: Nachdem ich mich in einem Stadtsoziologie und -
politikseminar an der Humboldt-Universität zu Berlin kritisch zu B-Tight
geäußert hatte, wurde ich dafür von einem weißen Kommilitonen kritisiert.
Er wies mich darauf hin, dass ich »zwar auch Schwarz« sei, aber dennoch
nicht das Recht hätte, so über B-Tights Texte und Videos zu urteilen. Zwar
sei darin manches unerfreulich und politisch unkorrekt, allerdings sei dies
»nun mal die Realität in so einem Ghetto«. Ich als privilegierter Student mit
behüteter Kindheit dürfe mich nicht zu einer Bewertung aufschwingen, da
dies einer »Klassendiskriminierung« gleichkäme. Ich konnte zwar dieses
Gespräch abkürzen, indem ich meinen Kommilitonen darauf hinwies, wo
ich aufgewachsen bin – im Märkischen Viertel. Dennoch zeigt diese
Argumentation, wie erfolgreich die beschriebene Repräsentation
rassistische und klassische Klischees verbindet, um Authentizität zu
konstruieren. Diese nimmt auch ein weiterer Aggroberlin-Künstler für sich
in Anspruch: Der weiße MC Fler profiliert sich mit nationalistischen
Metaphern und Symbolen als »der erste Deutsche, der richtig Welle
schiebt«. Das Album »Neue Deutsche Welle« wurde mit dem
abgewandelten Hitler-Zitat »Ab 1. Mai wird zurückgeschossen« beworben.
Dass Fler in rechtsgerichteten Internetforen lobend erwähnt wird, belegt,
dass die Entkoppelung von Rapmusik und HipHop-Kontext so vollständig
ist, dass auch dieser Schwarze Musikstil nun zum Medium für
nationalistische Inhalte werden kann, ohne dass darin ein Widerspruch
gesehen wird. Flers Beteuerungen in Interviews und im Lied »NDW 2005«,
[18] er sei ein Verfechter von ›Multi-Kulti‹, können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier eine Vermarktung durch Provokationen
stattfindet, die sich gegenseitig ausgleichen sollen. Flers ehemaliger
Labelkollege B-Tight liefert durch gemeinsame Songs und die
Veröffentlichung auf demselben Label den ›Beweis‹ für Flers
Harmlosigkeit. B-Tight wird als Schwarzer Künstler im doppelten Sinne
instrumentalisiert. So sollen sich zwei Extreme die Waage halten – letztlich
basieren jedoch beide auf rassistischen Images, die das Label Aggroberlin
explizit als Ware anbietet. Da der kommerzielle Erfolg als Künstler im
Rapbereich häufig auch Produzententätigkeit nach sich zieht, kann davon
ausgegangen werden, dass die Aggroberlin-Künstler ihr Erfolgsrezept
fortsetzen und bei entsprechender Marktsättigung auch verschärfen werden.
BIBLIOGRAFIE
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Müller, Eggo: »Populäre Visionen. Ein Sampler zur Debatte um Musikclips und Musikfernsehen in
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Savishinsky, Neil J.: »African Dimensions of the Jamaican Rastafarian Movement.« In: Nathaniel
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Babylon – The Rastafari Reader Philadelphia: Temple Universtiy Press, 1998
DISKOGRAFIE
Afrob & D-Flame: »Öffne die Augen«, auf dem Album Made in Germany, Afrob, Four Music 2002
B-Tight: »Der Neger in mir«, auf dem Album Der Neger (in Mir), B-Tight, Aggro Berlin2002
Dezarie: Gracious Mama Africa, Dezarie, I Grade Records 2003
Gentleman: »Runaway«, auf der Runaway EP, Gentleman, Four Music 2004
KRS-One: Videostatement auf dem Album I got Next, Jive, Zomba 1997
Morgan Heritage: »Love Reggae Music« Irie & Mellow Riddim, Kickin Production 2001
N’Dour, Mbegane: African Consciences, MbeganeN’Dour, Columbia Records 2002
Patrice: »Blue Overtones«, Bonustrack auf dem Album How Do You Call It? Yomama Sony BMG
2003
Queen Omega: Destiny Queen Omega, Nocturne Rough Trade 2005
Sisters Keepers:»Sister«, Lied 9 auf dem Album Brothers Keepers – Lightkultur Downbeat Warner
2001
Sizzla Kalonji:»Beautiful«, auf dem Album African Consciences, Mbegane N’Dour, Columbia
Records 2002
Sizzla Kalonji: »No Bad Mind, no red eye«, auf dem Album Burning Fire, Sizzla Kalonji,
Penitentiary 2005
ANMERKUNGEN
1 Hall: »The After-Life of Frantz Fanon«, S. 16.
2 hooks: Black Looks, S. 5.
3 Ich verwende den englischen Begriff Image, weil darin nicht nur das Bild an sich, sondern auch
die individuelle und kollektive Vorstellung, das Bild des und der ›Anderen‹, dass sich immer
auch mit einer Wertzuschreibung verbindet , enthalten ist (siehe dazu Hall: »The Spectacle of
the ›Other‹«, S. 234-236).
4 Wer die Schwarze Urheberschaft von HipHop und Reggae betont, wird schnell als
›essentialistisch‹ kritisiert (siehe Müller: »Populäre Visionen«, S. 73). Im Folgenden geht es
jedoch nicht um eine essentialistische Beweisführung, sondern das Identifizieren einer
Schwarzen Ästhetik und Perspektive, die von einer historischen und gegenwärtigen
Unterdrückungserfahrung sowie von dem Versuch geprägt ist, sich gerade gegen den
Essentialismus weißer Vorherrschaft zur Wehr zu setzen.
5 Vgl. Balzer: »Kaum noch Krise in der Musikindustrie«, S. 36.
6 Dies gilt in Deutschland für viele internationale Schwarze KünstlerInnen durch die
›Vorauswahl‹ durch die US-Nachfrage und die erneute Selektion auf dem deutschen Markt in
doppelter Hinsicht. Sind die nachgefragten Images so erst einmal dominant geworden, schaffen
sie gerade im Bereich Musik Identifikationsfiguren, die auch eine Schwarze Nachfrage nach sich
ziehen.
7 Diese Anspielung auf einen gleichnamigenm Spike Lee Film und eine Rede von Malcolm X
stellt die beschriebene Erfahrung in Deutschland in den größeren Kontext der afrikanischen
Diaspora und verweist auf eine Tradition Schwarzer (Medien)Kritik: ›Bamboozled‹ bedeutet
›verwirrt, hereingelegt‹.
8 Sisters Keepers: »Sister«.
9 KRS-One: Videostatement auf dem Album I got Next.
10 Bei diesem African American Reimspiel geht es darum, in einem lyrischen
Improvisationskampf die scherzhaften bis derben Beleidigungsreime der Gegenspieler in einem
Duell zu übertreffen – Improvisation und Spontaneität sind dabei ebenso wichtig wie die
Einhaltung des Dozen Reimschemas. Siehe dazu Gates: The Signifying Monkey, S. 71-73.
11 Im US-Kontext ist die häufige Verwendung von Ebonics, dem Schwarzen Englisch der USA, in
Rap-Songs bereits unabhängig vom Inhalt des Textes eine Aussage, die das Vorhandensein
Schwarzer Ausdrucksformen auch nach Jahrhunderten der versuchten Zwangsassimilierung
zelebriert.
12 Dieser Begriff wurde von Angela Davis geprägt, um die Verflechtung wirtschaftlicher Interessen
und rassistischer Justiz in den USA zu beschreiben. Die strukturelle Gewalt, die von diesem
System ausgeht, hat u.a. zur Folge, dass in den USA viermal so viele Schwarze Männer im
Gefängnis zu finden sind wie an den Colleges und Universitäten (siehe Davis: »Masked
Racism«). Aufgrund von geringen Löhnen sind Gefängnisse in den USA inzwischen
Produktionsstandorte für Firmen wie Microsoft oder auch Nordstroem Stores, in denen ›Prison
Blues‹ Jeans mit dem Slogan »made on the inside to be worn on the outside« verkauft werden.
Auch in Deutschland wird das Klischee von People of Color als Kriminellen, die im Gefängnis
laut Online-Werbetext »authentische Jailwear« fertigen, verwendet: Die Firma Haeftling warb
2004 mit einer entsprechenden Plakatkampagne für ihre in Berliner Gefängnissen hergestellte
Kollektion.
13 Loh: »1000 Jahre Deutscher Hiphop«.
14 Vgl. Güngör & Loh: Fear of a Kanak Planet, S. 111-114.
15 Diese Entwicklung wurde für den US-Kontext als »captur[ing] the authenticity without the
militancy« beschrieben, vgl.: Chang: »Stakes is high«.
16 Loh: »1000 Jahre Deutscher Hiphop«.
17 Aggroberlin: »Aggrostarz: B-Tight«.
18 Dort heisst es: »Das ist Schwarz- Rot- Gold, hart mit stolz/ Man siehts mir nicht an, doch glaub
mir, meine Mum ist deutsch(…)/ Das ist normal, das hier ist Multi-Kulti, meine Homies
kommen von überall/ Ihr holt die Bullen, wir sind die Aussenseiter, wir sind Aggro Berlin/
Schwarz; weiß- egal, jeder ist hier Aggro in Berlin/ Mit dem Basie in der Hand, so crazy ist der
Mann/ Ihr habt es nicht geschafft, doch ich hab jetzt das Game in meiner Hand«.
19 Sizzla Kalonji: »Beautiful«, Lied 9 auf dem von Mbegane N’Dour produzierten Album African
Consciences. Dieses Musikprojekt, bei dem HipHop- und ReggaekünstlerInnen aus Afrika (Côte
d’Ivoire, Senegal, Mali) und der Diaspora (Brasilien, Jamaika, USA, Deutschland) zu
Variationen eines Riddims ihre Songs geschrieben haben, verdeutlicht musikalisch und textlich
sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Zusammengehörigkeit über den Black Atlantic. Mit
Bantu ist dabei auch eine Gruppe aus der afrodeutschen Diaspora vertreten.
20 Das Rastafari-Movement griff Elemente des Garveyismus und Ethiopianismus auf und verband
sie zu einer neuen Bewegung, bei der die Befreiung Schwarzer Menschen von mentaler
Sklaverei im Mittelpunkt steht (siehe Ennis B. Edmonds: »Dread »I« in-a-Babylon«, S. 23-25).
21 Für eine ausführliche Analyse der »multiple levels of significance« der Rastafari-Symbolik
siehe: Edmonds: »Dread ›I‹ in-a-Babylon«, sowie: Savishinsky: »African Dimensions of the
Jamaican Rastafarian Movement«.
22 Der Nazarite Vow, der Bund der Nazoräer in 4. Mose 6.
23 Eine Unterhaltung auf einem Dance in Berlin führte mir recht früh vor Augen, wie wenig selbst
begeisterte ReggaehörerInnen die grundlegenden Botschaften ihrer Lieblingsmusik verstehen:
Eine enthusiastische weiße Partygängerin vertraute mir an, dass ihr Lieblingsdeejay Buju Banton
sei. Sie besäße alle seine Alben und hätte jedes Konzert in Deutschland miterlebt. Nur Haile
Selassie wäre wohl ein noch besserer Sänger gewesen. Auf meine erstaunte Frage, wie sie
darauf käme, antwortete sie geduldig und etwas überrascht von meiner Unkenntnis: »Na, die
singen doch alle immer von ihm! Also muss er ja der größte Reggaesänger von allen gewesen
sein. Aber er ist ja leider schon tot!«
24 Wie Ebonics im US-Kontext ist die Verwendung von Patwa ein widerständiges Statement: Die
in Vokabeln und Grammatik der Sprache erhaltenen Elemente verschiedener westafrikanischer
Sprachen (besonders des Twi der für den antikolonialen Widerstand auf Jamaika wichtigen
Akan-Kultur) sind auch hier unabhängig vom Inhalt ein Verweis auf erfolgreiche Verweigerung
kultureller Assimilation.
25 Dazu hieß es in der Ausgabe vom 7. November 2003: »When you listen closely, however, a
trace of a less discernable accent creeps in on some words. ›I jus’ don’ like ‘ow German soun’ in
music,‹ Gentleman says. ›Mi love patois and mi love ow mi cyan express miself. It’s a language
straight from the heart,‹ he continued.«
26 Köhlings & Lilly: »Die Reise zu Gentleman«, S. 64.
27 Gentleman betont diesen Einfluss immer wieder in Interviews, so auch im Gespräch mit laut.de:
»Ich habe einen tierischen Respekt vor Sizzla, und er hat mich über die Jahre unglaublich
inspiriert. Ich muss ehrlich gestehen, dass über 80 Prozent des Reggae, der bei mir lief, Sizzla-
Tunes waren. Weil ich zum Beispiel ›Da real ting‹ rauf und runter hören konnte. Das hatte ich
schon lange nicht mehr bei einem Album. Der Typ ist unglaublich, was seine Power, seine
Stimme und seine Lyrics angeht.«
28 Gentleman & Christini: »Struggle and Faith«, Issa Char Riddim.
29 Cornell West, zitiert in: Lagace: »Keeping the Blue Note«.
30 Reid: »Capleton: Fire is he Ultimate«.
ÜBERGÄNGE
TIMO WANDERT & RANDOLPH OCHSMANN
»EVEN THE RAT WAS WHITE.«[1]
WHITENESS, RASSISMUS UND ›RACE‹ IN DER
PSYCHOLOGIE
Die Psychologie als akademische Disziplin hat einen wichtigen Beitrag zur
Konstruktion eines sich selbst als wissenschaftlich verstehenden Rassismus
geleistet. Insbesondere auf dem Gebiet der Intelligenzforschung wurden
Instrumente, Methoden und Argumente entwickelt und erprobt, die bis
heute eine gewichtige Rolle bei der Rassifizierung von
Gruppenunterschieden spielen. Den Autoren ist es aufgrund ihres
Hintergrunds – beide sind im akademischen Bereich tätige Psychologen –
und der Geschichte der Psychologie wichtig, zu Beginn festzuhalten, dass
eine Kategorisierung von Menschen in ›Rassen‹ keinerlei biologische
Grundlage besitzt und mit der sozialen Konstruktion von ›Rassen‹ immer
auch Diskriminierung verbunden ist. Bei der Konstruktion von ›Rassen‹
werden in einem weißen hegemonialen Prozess anhand zumeist
körperlicher Merkmale Individuen zu Gruppen zusammengefasst, denen
essentialistische Eigenschaften unterstellt werden und deren Existenz als
transhistorisch angenommen wird. Obwohl Ergebnis eines
Konstruktionsprozesses kann ›Rasse‹ jedoch nicht als bedeutungslos und
ohne Wirkungsmacht gesehen und entsprechend ignoriert werden, da mit
dieser Klassifizierung gesellschaftliche und politische Realitäten geschaffen
werden, in denen weiß die hegemoniale Position und deren Akteure
bezeichnet und Schwarz diejenigen, die rassistische Diskriminierung
erfahren müssen. Durch die Festlegung einer Differenz und die damit
verbundenen sich unterscheidenden Erfahrungen und Wahrnehmungen
wurden und werden unter weißer Hegemonie Schwarze und weiße
Identitäten geschaffen. Um diesen gesellschaftlichen Realitäten Rechnung
zu tragen und um sie benennen zu können, ist es notwendig, mit der
Kategorie ›Rasse‹ zu arbeiten. Da im deutschsprachigen Kontext der
Begriff ›Rasse‹ allerdings immer auf seine Verwendung im
Nationalsozialismus referiert, wird der Begriff ›Race‹ verwendet – in
Anführungszeichen gesetzt, um die Konstruiertheit von ›Race‹ kenntlich zu
machen.
Es erscheint notwendig, diese Bestimmung von ›Race‹ dem Text zweier
Psychologen über ›Race‹ und Rassismus voranzustellen, da die Psychologie
nicht nur von den rassistischen Diskursen ihrer Gründungszeit geprägt
wurde und diese perpetuierte, sondern darüber hinaus bis heute ihren Anteil
an der Konstruktion von ›Race‹ als sozialer Kategorie hat. Der
Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Zeit von der Etablierung der
Psychologie als akademischer Disziplin in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts bis zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Psychologie
war in ihren Anfangstagen eine weiße westliche Wissenschaft mit Zentren
in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten,
die in einem engen Austausch standen. Zu jener Zeit war das allgemein
geteilte Verständnis von ›Rasse‹ in deutschsprachigen Ländern und ›Race‹
in englisch- bzw. französischsprachigen innerhalb der Psychologie sehr
ähnlich und durchgängig ein biologistisches. Ab etwa den 30er Jahren
wurde dieses Verständnis von ›Race‹ verstärkt in Frage gestellt, so dass es
seitdem keine einheitliche Definition des Begriffs ›Race‹ innerhalb der
Psychologie mehr gibt. In den USA und in Großbritannien spielen
Klassifizierungen nach ›Race‹ eine wichtige Rolle, während sie in
Deutschland selten vorgenommen werden und in der deutschsprachigen
Psychologie der deutsche Begriff ›Rasse‹ aufgrund seiner Verwendung im
und Diskreditierung durch den Nationalsozialismus so gut wie nicht mehr
verwendet wird. Die mit ›Race‹ verbundenen Vorstellungen gehen zwischen
einzelnen PsychologInnen sehr weit auseinander. Einige weisen explizit auf
die soziale Konstruktion von ›Race‹ hin und erklären ausdrücklich ihre
Verwendung des Begriffs und die damit verbundene Kategorisierung.[2]
Andere hingegen verstehen und verwenden ›Race‹ in einem eindeutig
biologistischen Sinn.[3] Unabhängig von dem zugrunde liegenden
Verständnis zeigt die Psychologie durch ihre Methodik allerdings die
Tendenz, ›Race‹ als Kategorie zu reifizieren, wenn die untersuchten
Personen nach ›Race‹ klassifiziert und dann Gruppenunterschiede bei
bestimmten Eigenschaften festgestellt werden. Dem Ergebnis solcher
Untersuchungen lässt sich nicht entnehmen, mit welchem Verständnis von
›Race‹ die Gruppen gebildet werden. Es gibt die beobachteten
Gruppenunterschiede mit vermeintlicher Objektivität wieder und rassifiziert
diese durch das Anheften von Labels wie ›schwarz‹ oder ›weiß‹. Eine
Studie, die beispielsweise Einkommensunterschiede zwischen weißen und
Schwarzen Menschen feststellt, läuft immer Gefahr so interpretiert zu
werden, dass eine beobachtete Differenz auf ›Race‹ als Ursache
zurückgeführt wird, während politische und soziale Ursachen der
beobachteten Unterschiede – beispielsweise ein strukturell rassistischer
Arbeitsmarkt – außer Acht gelassen werden.
Die Verbindung von Psychologie und ›Race‹ wird im Folgenden unter
zwei verschiedenen Gesichtspunkten untersucht.[4] Zuerst wird näher auf
den Beitrag der weißen hegemonialen Psychologie zur Konstruktion von
›Race‹ eingegangen.[5] Besonderes Augenmerk wird dabei auf Francis
Galton gelegt, der durch seine Forschung eine Richtung in der Psychologie
vorgab, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Race
Psychology ihren Höhepunkt finden sollte und deren Vorgehen vor allem
darin bestand, mit psychologischen Tests Gruppenuntersuchungen
durchzuführen und beobachtete Gruppenunterschiede zu rassifizieren. Im
zweiten Teil soll mithilfe des Ansatzes der Black Psychology der Blick auf
den impliziten Rassismus der weißen akademischen Psychologie gerichtet
werden. Diese ist sich ihrer eigenen Whiteness nur selten bewusst, die sich
zum Beispiel darin äußert, dass klinische Diagnosesysteme das Verhalten
und Empfinden weißer Menschen als Norm nehmen und universalisieren.
Verhaltensmuster, Wahrnehmungen oder Empfindungen Schwarzer
Menschen drohen in den vorherrschenden weißen Diagnosesystemen der
Psychologie pathologisiert zu werden.
WEIßE PSYCHOLOGIE
Ohne an dieser Stelle die Entwicklung des Begriffs ›Race‹ bis ins 19.
Jahrhundert ausführlich darzustellen, sollen kurz zentrale Merkmale des
prä-darwinistischen, vorwissenschaftlichen Rassismus jener Zeit aufgeführt
werden.[6] Im Kontext der imperialistischen und kolonialistischen
Expansion wurde die Menschheit im Blick eines weißen Europas verstärkt
als verschieden wahrgenommen. ›Race‹ war das zentrale Konzept zur
Beschreibung und Erklärung dieser ›Verschiedenheit‹ und, gekoppelt an die
Eroberung und Ausbeutung nicht-europäischer Regionen, wichtigstes
Argument für deren Rechtfertigung. Mit der Vorstellung von ›Race‹ waren
zwei wichtige Aspekte verbunden: biologische Differenz und
unterschiedliche Wertigkeit. Die Vorstellung einer grundlegenden
biologischen Differenz stand in enger Verbindung mit Ängsten vor der
Vermischung verschiedener ›Races‹. Diese Ängste äußerten sich in
Befürchtungen vor vermeintlichen medizinischen Beeinträchtigungen so
genannter ›Mischlinge‹, insbesondere aber waren sie mit der Vorstellung
einer ›Degeneration‹ der ›höherwertigen‹ ›Race‹ verbunden. Im Bezug auf
eine unterschiedliche Wertigkeit gab es aus europäischer Sicht so gut wie
keine Kontroversen um eine hierarchische Anordnung der ›Races‹ – mit
einem sich ausschließlich als weiß verstehendem und definierendem Europa
an der Spitze. Wenig Einstimmigkeit herrschte allerdings darüber, welche
›Nation‹, welches ›Volk‹ Europas die ›Krone der Schöpfung‹ tragen sollte
und in welcher Reihenfolge die folgenden Plätze zu vergeben seien. Die
Herkunft eines Autors sagte meist viel über die Platzierungen aus – nicht
nur, welcher Teil Europas ganz oben stand, sondern auch, welchen ›Races‹
besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Im kolonialen England
konzentrierten sich die Diskurse auf nicht-europäische ›Races‹, in
Deutschland wurden stattdessen die ›Rassen‹ Osteuropas sortiert.
Uneinigkeit gab es ob der Erklärung dieser Hierarchie. Eine zentrale
Auseinandersetzung war die Frage, ob es einen gemeinsamen Ursprung
aller ›Races‹ gäbe, ob, im biblischen Sinn, alle Menschheiten auf einen
Adam zurückgingen oder ob verschiedene und getrennte Schöpfungsakte
stattgefunden hätten. Sind einzelne ›Races‹ erst nach der Schöpfung
verdammt worden oder wurden sie ursprünglich als verschieden und
ungleich geschaffen?[7] Darwins Evolutionstheorie von 1859 lieferte die
theoretischen Mittel, um diese Kontroverse um den ›monogenetischen‹ oder
›polygenetischen‹ Ursprung des Menschen und damit die Diskurse um
›Race‹ auf eine neue Stufe zu heben. Es war nun eine gemeinsame
Abstammung des Menschen vorstellbar und dennoch möglich,
Unterschiede zwischen verschiedenen ›Races‹ zu behaupten, ohne auf einen
intervenierenden Gott referieren zu müssen.
Mit Darwin im Gepäck konnte das System des Scientific Racism
entwickelt werden, ein Rassismus, der sich vermeintlich wissenschaftlich
legitimieren konnte. Seine Evolutionstheorie, die Aussagen zu der
Entwicklung von Arten über Zeiträume von Zehntausenden von Jahren
macht, wurde auf menschliche ›Races‹ übertragen. Ein Übertrag, der nur
aufgrund der Konstruktion von ›Race‹ als biologischer Kategorie
funktionieren konnte und jeglicher Grundlage entbehrt. Während die
Evolutionstheorie die Entwicklung von Arten als fortwährende Anpassung
an die Umwelt beschreibt und entsprechend die gelungenste Anpassung das
Auswahlkriterium der Evolution ist, nahm der Scientific Racism als
Messlatte seiner Hierarchisierung der ›Races‹ die weiße europäische Kultur,
und die wahrgenommene Distanz bestimmte die Positionierung gemäß des
Scientific Racism. In dessen Sprache wurde behauptet, dass sich zu
verschiedenen Zeiten in der Evolution des Menschen einzelne ›Races‹ von
einem Hauptstamm der Entwicklung abgespalten hätten und nun auf ihrem
Entwicklungsstand verharren würden. Dieses Bild war keineswegs neu,[8]
doch wurde es durch die Übertragung der Evolutionstheorie möglich, die
einzelnen Teile miteinander in Verbindung zu setzen. Der Prozess der
Rassifizierung und die Hierarchisierung menschlicher ›Races‹ musste nicht
mehr mit der Bibel gerechtfertigt werden, sondern ließ sich jetzt mit der
anderen aufstrebenden Religion jener Zeit, den Naturwissenschaften,
legitimieren. Nicht mehr Gott setzte fortan im Scientific Racism die
verschiedenen ›Races‹ auf ihre Plätze, sondern diese befanden sich in einem
fortwährenden evolutionären Wettkampf um das survival of the fittest. Der
weltweite Siegeszug des Imperialismus, das Bewusstsein, fast die gesamte
Welt zu beherrschen, war Europas Beweis, diesen imaginierten Wettlauf
gewonnen zu haben. Im Denken jener Zeit war es in Europa kaum möglich,
nicht von der Unterlegenheit anderer ›Races‹ überzeugt zu sein, zu
offensichtlich schien die globale Überlegenheit der imperialen Mächte, zu
beherrschend waren die Diskurse um ›Race‹.
Vor diesem Hintergrund etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts die Psychologie als eigenständige akademische Disziplin.
Wichtige anfängliche Tätigkeitsfelder waren psychometrische Messungen
und die Entwicklung einer adäquaten technischen und statistischen
Methodik. Auf Ausstellungen konnten sich BesucherInnen in Laboratorien
psychophysikalisch vermessen lassen: bestimmt wurden zumeist
sensorische Reizschwellen aller Sinnesmodalitäten und Reaktionszeiten.
Aus den gesammelten Daten wurden zum einen Gesetze über den
Zusammenhang von physischen Reizen und ihrer Wahrnehmung aufgestellt,
zum anderen ließen sich aus ihnen Normen und Gesetze der sensorischen
Funktionen bestimmen. In der Geschichtsschreibung der Psychologie wird
bis heute der Engländer Francis Galton (1822-1911) als einer der
bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit geführt, der grundlegende
Methoden und statistische Techniken entwickelt und in die Disziplin
eingeführt hat. Sein Beispiel zeigt die Verknüpfung der jungen Psychologie
mit dem zu jener Zeit virulenten Scientific Racism. Galton ist erst recht spät
in seinem Leben zur Psychologie gekommen, nachdem er sich vorher als
Reiseschriftsteller und durch ethnographische Beobachtungen hervorgetan
hatte. Seine Ansichten über ›Races‹, die Evolutionstheorie seines Cousins
Charles Darwin und ein Interesse an Statistik und ihrer Anwendung waren
wichtige Quellen seiner psychologischen Forschung über die Erblichkeit
geistiger Eigenschaften. Im Vorwort seines Buches Hereditary Genius
schrieb Galton: »The idea of investigating the subject of hereditary genius
occurred to me during the course of a purely ethnological inquiry, into the
mental peculiarities of different races.«[9] In diesem, wie in weiteren später
verfassten Werken, erarbeitete er eine Methodologie, mit der er den Anteil
des genetischen Erbes an der Intelligenz bestimmen wollte. Zum einen
entwickelte Galton ›anthropometrische Tests‹, die Kopfgröße,
Reaktionszeiten und Genauigkeit der Wahrnehmung maßen, in der
Annahme, damit ererbte angeborene mentale Fähigkeiten erfassen zu
können. Um den Anteil der Vererbung zu bestimmen, schlug Galton zum
anderen vor, die Fertigkeiten mono- und dizygoter Zwillinge miteinander zu
vergleichen. Er entwickelte mit der Korrelation, die später von seinem
Schüler Pearson weiter ausgearbeitet wurde, ein statistisches Werkzeug, um
den Grad der Übereinstimmung zweier Merkmale zu quantifizieren. Damit
schuf Galton ein bis heute gültiges Paradigma: Um den jeweiligen Anteil
von Vererbung und Umwelt an einer Eigenschaft zu bestimmen, werden die
Testergebnisse von Verwandten miteinander verglichen, die ein
unterschiedliches Ausmaß gemeinsamen Erbguts besitzen – wie
beispielsweise ein- und zweieiige Zwillinge. Zu beobachtende Unterschiede
bei dizygoten Zwillingen wären dieser Logik folgend bei gleicher Umwelt
genetisch zu erklären.
Galton skizzierte die Übertragung seiner Verfahren auf den Vergleich
von Gruppen, wobei er, wie oben stehendes Zitat deutlich macht,
vornehmlich ›Races‹ im Blick hatte. Die Anwendung seiner Verfahren
überließ er anderen, deren Ergebnis nahm Galton jedoch schon theoretisch
vorweg. Galton führt in Hereditary Genius die Vorstellung normalverteilter
Eigenschaften in die Psychologie ein, d.h. die Fähigkeiten einzelner
Mitglieder einer Gruppe häufen sich um einen statistischen Mittelwert,
über- wie unterdurchschnittliche Ausprägungen werden mit zunehmender
Entfernung vom Mittelwert immer seltener. Die graphische Darstellung der
Normalverteilung ergibt eine Glockenkurve. Die Verteilungen
verschiedener Gruppen besitzen unterschiedliche Mittelwerte und
überlappen sich je nach deren Differenz. Gruppen können durch diese
Neuerung Galtons hinsichtlich eines Merkmales miteinander verglichen
werden, indem die Differenz der Mittelwerte in den Gruppen betrachtet
wird. Galtons Ansatz sah vor, die miteinander zu vergleichenden Gruppen
zuerst als ›Races‹ zu klassifizieren und beobachtete Differenzen dann als
Folge der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ›Race‹ anzusehen.
Beobachtete Differenzen wurden innerhalb dieses Paradigmas rassifiziert
und implizierten eine Reifizierung der Kategorie ›Race‹, da diese als
untersuchte Einheit und Ursache der Unterschiede von vornherein von
Galton festgelegt worden war. Eine Betrachtung der in diesem Paradigma
verwendeten und getesteten Merkmale zeigt deutlich die rassistische
Grundstruktur der Methodik. Insbesondere jene Tests wurden verwendet,
mit denen sich eine ›Überlegenheit‹ der weißen ›Race‹ konstruieren ließ, da
bei vielen der von Galton vorgeschlagenen Verfahren – Reaktionszeiten,
Gedächtnisleistung und Reizschwellen – keine Gruppenunterschiede zu
beobachten waren. Auf diese Umsetzung der Ideen Galtons im Bereich der
Intelligenztestungen wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Für ihn
stellten sich Fragen der praktischen Umsetzung weniger, da es ihm reichte,
ohne den Umweg über experimentelle Arbeiten gehen zu müssen, die
Ergebnisse möglicher Untersuchungen einfach am Schreibtisch
festzusetzen. Ähnlich zum Scientific Racism bestand das Vorgehen Galtons
darin, die eigenen rassistischen Annahmen durch angeblich
›wissenschaftliche‹ Methodik und Befunde als objektiv und neutral
auszugeben. In Hereditary Genius stellte Galton in dem Kapitel The
Comparative Worth of Different Races seine eigene Rangreihe auf. Galton
war so überzeugt von der ›Wissenschaftlichkeit‹ seines Vorgehens, dass er
als Beleg und Stütze seiner Argumentation seine eigenen Schätzungen
verwendete. Als Kriterium seiner Hierarchisierung nahm er die »Anzahl
eminenter Personen« innerhalb der von ihm als ›Races‹ kategorisierten
Gruppen. Als eminent sah er beispielsweise herausragende
WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen oder PolitikerInnen an. Nachdem
er die Anzahl ›eminenter‹ Personen für jede ›Races‹ selbst geschätzt hatte,
konnte er sie anschließend anhand dieser Schätzung hierarchisieren.
Galtons Berechnungen und die Verwendung der Normalverteilung für seine
Schätzungen sollten sein Garant für ein ›wissenschaftliches‹ Vorgehen sein,
ihre eigentliche Funktion war es aber, darüber hinwegzutäuschen, dass
Galtons Hierarchisierung nur seine eigenen rassistischen Annahmen
wiedergab.
Zu den evolutionstheoretischen Anleihen des Scientific Racism gehörte
die Vorstellung eines Wettkampfs der ›Races‹. Ein zentraler Bestandteil des
damit verbundenen Diskurses war die Annahme, dass den meisten der
nicht-europäischen ›Races‹ die geistigen Voraussetzungen für das Erreichen
von ›Zivilisation‹ fehlten und sie daher de facto den Wettkampf schon
verloren hätten und dem Untergang, dem Aussterben geweiht seien (so
genannte doomed races). Dieses Denken war eine nachgeschobene
ideologische Rechtfertigung für das während der Kolonialisierung
begangene Massenmorden und eine Verkehrung der tatsächlichen
Verhältnisse. Die Ermordung von unzähligen Menschen in den Kolonien
erschien in diesem Denken nicht mehr als Verbrechen, sondern die
kolonialen und imperialen Mörder konnten sich als Erfüllungsgehilfen der
Natur betrachten, da sie mit Vernichtung der doomed races der Evolution
nur vorzugreifen schienen. Zur Vorstellung des Wettkampfs der ›Races‹
gehörten neben der Vernichtung anderer auch die Verbesserung der eigenen
weißen ›Race‹ und Diskurse und Praktiken um so genannte
›Rassenvermischung‹. Galton spielte in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle, indem er ein Programm skizzierte, um dass menschliche
Erbmaterial durch selektive Zucht zu verbessern. Mehrere Jahre lang suchte
er nach einem treffenden Namen für dieses Unternehmen, um es 1883
schließlich als Eugenics zu bezeichnen. Seine Ideen zielten in erster Linie
auf in seiner Sichtweise ›degenerierte‹ und auf ›überlegene‹ weiße
Gruppen. In dem biologistischen Denken Galtons – welches das Verhalten
eines Menschen vor allem in ›natürlichen‹ Faktoren begründet sah – musste
die Reproduktion der ersteren möglichst eingeschränkt, die der Letzteren
gefördert werden. Galton äußerte aber auch seine Vorstellung bezogen auf
Schwarze Menschen. In einem Brief an die Times aus dem Juni des Jahres
1873 schrieb er:
[the] average negroes possess too little intellect, self–reliance and self–control […] to sustain the
burden of any respectable form of civilisation. […] I wish to see a new competitor introduced
[into Africa] – namely the Chinaman. The gain would be immense to the whole civilised world if
he were to outbreed and finally displace the negro.[10]
Kaum versteckt ist in diesem Brief der Wunsch nach der Vernichtung
Schwarzer Menschen enthalten. Galton identifiziert ›Races‹ als die
grundlegenden Träger von civilisation, die für Galton mit weißer westlicher
Kultur übereinstimmt, und rassifiziert von ihm wahrgenommene kulturelle
Unterschiede. Da er dem ›negro‹ per definitionem abspricht, eine
›civilisation‹ – aufrechterhalten zu können, spricht er ihm das Recht seiner
Existenz ab. Seine Begründung dieser genozidalen Gedanken ist »the gain
[…] to the whole civilised world«, d.h. das Wohl der weißen westlichen
Kultur – ein deutlicher Ausdruck der rassistischen Vorstellung vom
Wettkampf der ›Races‹. Der ›Chinaman‹, den Galton näher an der
›civilisation‹ sieht und der von ihm daher ein Recht zu existieren
zugesprochen bekommt, soll das Werkzeug der Vernichtung werden. Im
Sinne seiner Begeisterung für ›Eugenics‹ schlägt Galton vor, nicht auf die
Waffenkraft kolonialer Armeen zu setzen, sondern auf
Reproduktionskontrolle. Seine Skizzierung eines eugenischen Programms
bot in den folgenden Dekaden eine Reihe von Anknüpfungspunkten für
Diskurse um die Vernichtung Schwarzer und anderer als ›degeneriert‹
definierter Menschen und fand seine Umsetzung schließlich in der
›Rassenpolitik‹ des nationalsozialistischen Deutschlands.[11]
Der eugenische Diskurs war eng verbunden mit Diskursen um
›Mischlinge‹, die auch in der Psychologie aufgegriffen wurden. Das
typische Vorgehen psychologischer Untersuchungen zu diesem Thema
bestand darin, dass die a priori angenommenen negativen Konsequenzen
von ›Rassenmischungen‹ mithilfe von Tabellen, Statistiken und Graphiken
belegt werden sollten. Auch hier waren die Ergebnisse schon vor den
Untersuchungen in den Köpfen der ForscherInnen vorhanden und diese
bemühten sich, nun jene Tests oder Experimente zu finden, welche diese
auch reproduzierten. Manchmal musste nicht einmal dieser Anschein von
›Wissenschaftlichkeit‹ aufrecht erhalten werden: Charles Davenport, ein in
Harvard ausgebildeter Zoologe und führender Befürworter der Eugenik,
veröffentlichte 1917 den Artikel »The Effects of Race Intermingling«, in
dem er versuchte, die negativen medizinischen und psychologischen
Ergebnisse von ›Rassenmischungen‹ nachzuweisen, ein Vorhaben, dass er
auch in seinem bekannterem Buch Race Crossing in Jamaica verfolgte. Um
seine Argumentation zu stützen, reichte es Davenport, oftmals nur auf
Hörensagen basierende Berichte anzuführen. Ähnliche Untersuchungen
wurden auch von dem deutschen Mediziner Eugen Fischer, dem späteren
Leiter der eugenischen Programme des nationalsozialistischen
Deutschlands, und dem Amerikaner Raymond B. Catell, der hier aufgrund
seiner Bekanntheit in der Psychologie namentlich genannt sei, konzipiert
und durchgeführt.
Um die Jahrhundertwende begannen PsychologInnen, das von Galton
und anderen skizzierte Programm umzusetzen. Nennenswerte erste
Unternehmungen waren die Cambridge Torres Straits Expedition von 1898
und die St. Louis Ausstellung von 1904, auf der das 100jährige Jubiläum
des Erwerbs Louisianas begangen wurde. Die groß angelegte
Feldexpedition hatte die Untersuchung der Bevölkerung der Inseln der
Torres Straits zum Ziel. Auf der St. Louis Ausstellung wurden anwesende
Menschen aus Asien, Afrika und Amerika getestet, laut UntersucherInnen
Angehörige mehrerer nicht-weißer ›Races‹, und die Ergebnisse mit denen
nordamerikanischer weißer Menschen verglichen. Untersucht wurden in
beiden Fällen einfache psychophysikalische Funktionen, beispielsweise
Reizschwellen, Genauigkeit der Wahrnehmung und Reaktionszeiten. Die
Ergebnisse widersprachen den erwarteten rassistischen Annahmen der
Untersuchenden, da im Wesentlichen keine Gruppenunterschiede zu
beobachten waren. Die im Scientific Racism vorausgesetzte Differenz und
Hierarchie von ›Races‹ wurde davon jedoch nicht berührt oder in Zweifel
gezogen. Diese Annahmen waren vorwissenschaftlich und waren weder
darauf angewiesen, bewiesen zu werden, noch konnten sie durch
gegenteilige Befunde widerlegt werden. Nicht den Annahmen des Scientific
Racism entsprechende Ergebnisse wurden größtenteils ignoriert, zu
beherrschend waren die rassistischen Diskurse, als dass sie von
widersprechenden Beobachtungen in Frage gestellt werden konnten.
Stattdessen wurde nach anderen Methoden gesucht, mit denen sich die dem
Scientific Racism entsprechenden Gruppenunterschiede konstruieren ließen.
Wie diese beiden Beispiele zeigen, war die vermeintliche
›Wissenschaftlichkeit‹ des Scientific Racism ein Legitimationsmythos. Die
zentrale Aussage des Scientific Racism war, die Existenz und Hierarchie
von ›Races‹ ›wissenschaftlich‹, was in dem Verständnis jener Zeit objektiv
und neutral hieß, beweisen zu können. Zu jenem Zweck, zum Beweis und
als Bürge der ›Wissenschaftlichkeit‹ wurden statistische Berechnungen
sowie Seiten voller Tabellen und Abbildungen angeführt. Den eigenen
Ansprüchen an ›Wissenschaftlichkeit‹ folgend hätten die Grundannahmen
des Scientific Racism aufgrund der Ergebnisse von St. Louis und Torres
Straits in der Psychologie und anderen Sozialwissenschaften in Frage
gestellt werden müssen. Da die vermeintliche ›Wissenschaftlichkeit‹ jedoch
vorrangig der Legitimation der rassistischen Annahmen des Scientific
Racism diente, konnten diese auch nicht durch gegenteilige Befunde
widerlegt werden. Das Interesse an derartigen Untersuchungen nahm
allerdings unseres Erachtens wahrscheinlich aufgrund dieser nicht den
Erwartungen entsprechenden Ergebnisse für einige Zeit wieder ab.
Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einem fast
explosionsartigen Anwachsen der Forschung im Bereich der damals so
genannten Race Psychology, die, konzeptuell im Scientific Racism
verankert, in erster Linie auf die USA begrenzt war. Während der Scientific
Racism des 19. Jahrhunderts als Rechtfertigung kolonialer Eroberung, von
Ausbeutung und Massenmorden entstanden war, muss die Race Psychology
eher im Kontext der Rechtfertigung der Segregation und Diskriminierung
Schwarzer Menschen in den USA gesehen werden. Typische
Untersuchungen der Race Psychology waren beispielsweise so angelegt,
dass sie Ergebnisse produzierten, die eine getrennte Beschulung weißer und
Schwarzer Kinder zu befürworten schienen. Ausgelöst wurde dieser Boom
durch die Entwicklung des Simon-Binet Intelligenztests (1905) in
Frankreich und dessen Adaptierung und Weiterentwicklung in den USA als
Stanford-Binet Intelligence Scale (erste Version von 1916; neuere Versionen
sind bis heute in Verwendung). Im Gegensatz zu den früheren
psychometrischen Instrumenten basierte die Skala von Binet zu einem
großen Teil auf sprachlichen Verfahren und testete Fähigkeiten wie
›Schlussfolgerung‹ und ›Problemlösen‹. Diese Tests waren weitaus stärker
von Schulbildung und Erziehung abhängig und auf Angehörige einer
europäisch-amerikanischen Kultur zugeschnitten als die ihnen
vorausgehenden psychometrischen Verfahren. Ihre Ergebnisse produzierten
Unterschiede in der Intelligenz verschiedener ›Races‹, da ihre Konzipierung
Angehörige einer weißen Kultur deutlich bevorteilte. Die Theorien und
Konzepte von Intelligenz, auf denen diese Tests basieren, sind innerhalb
einer weißen Kultur entwickelt worden, spiegeln diese wieder und
beinhalten – sofern sie auf Angehörige einer anderen Kultur bezogen
werden – die Annahme der Universalität weißer Auffassungen von
Intelligenz. Es ist beispielsweise leicht nachzuvollziehen, dass Personen,
die jahrelang in der Schule unter Zeitdruck schriftliche Tests bearbeitet
haben, allein schon aus diesem Grund bei auf Stift und Papier basierenden
Intelligenztests im Vorteil sind. Des Weiteren werden Tests oftmals so
konstruiert, dass sie schulischen oder akademischen Erfolg möglichst genau
vorhersagen können, d.h. sie messen Fähigkeiten, die Inhalt schulischer
Erziehung sind und dort trainiert werden.[12] Schließlich werden in
Intelligenztests nicht die unterschiedlichen Lebensbedingungen und
differierenden sozioökonomischen Situationen weißer und Schwarzer
Menschen berücksichtigt.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Race Psychology entstand in
der Psychologie zugleich auch eine kritische Gegenbewegung, welche die
zentralen Annahmen von Race Psychology und Scientific Racism in Frage
stellte. Wie die Race Psychologie war auch ihre Opposition vornehmlich in
den USA zu finden. Sie war heterogen zusammengesetzt und die Kritik
unterschiedlich motiviert, formuliert und begründet.[13] Zur Vereinfachung
lässt sie sich zu vier, zum Teil auch widersprüchlichen Argumenten
zusammenfassen: Erstens können Unterschiede jedweder Art auf einen
Einfluss der Umwelt zurückgeführt werden. Zweitens ist die Gleichheit
aller Menschen ein moralischer Imperativ, der über empirischen Befunden
steht. Drittens gab es methodologische Einwände gegen vergleichende
Untersuchungen von ›Races‹ und viertens wurde ›Race‹ schließlich als ein
soziales und kulturelles Konstrukt betrachtet, als Mythos um Ungleichheit
und Diskriminierung zu rechtfertigen. Insbesondere dieses Argument führte
dazu, dass gegen Ende der 30er Jahre die Race Psychology in den USA so
gut wie verschwunden war. Gestützt wurde diese Sicht sowohl durch neuere
Erkenntnisse der Genetik als auch durch das abschreckende Beispiel der
›Rassenpolitik‹ des nationalsozialistischen Deutschlands. Darüber hinaus
hatte die in den später 20ern und 30ern erstarkte Schwarze
Bürgerrechtsbewegung einen großen Anteil an der veränderten
Thematisierung von ›Race‹. Mit dem Verschwinden der Race Psychology
vollzog sich ein Paradigmenwechsel in der Psychologie. Diese wandte sich
ab den späten 20er Jahren vermehrt der aus der Sozialpsychologie und
Soziologie kommenden Einstellungs- und Vorurteilsforschung zu. Nun
wurden Vorurteile als Ausgangspunkt ›rassischer‹ Konflikte und
Spannungen angesehen. Im Mittelpunkt psychologischer Untersuchungen
standen nun die Natur von Vorurteilen, ihre Veränderbarkeit und die
Auswirkungen auf ihre Opfer. Dieser Umschwung fand zuerst und am
deutlichsten in den USA statt, wurde später aber auch in Europa vollzogen.
Das Beispiel Galtons zeigt, dass Teile der Psychologie unter dem
Einfluss des Scientific Racism entstanden waren und die Psychologie
gleichfalls einen Beitrag zur Ausgestaltung des Scientific Racism leistete.
Galtons zentrales Thema war die Erblichkeit von Eigenschaften und vor
allem der Intelligenz. Mehrere seiner methodischen Neuerungen – so die
Entwicklung der Korrelation und die Einführung der Normalverteilung –
sind vor diesem Hintergrund entwickelt worden, oft mit konkreten
Vorschlägen, wie sie einzusetzen seien. Er skizzierte ein Programm, das
darauf hinauslief, Gruppenunterschiede zu erfassen und zu rassifizieren.
Zentrale Annahmen des Scientific Racism – Existenz und Hierarchie
biologisch fundierter ›Races‹ vor einem evolutionstheoretischen
Hintergrund – wurden in die Psychologie übernommen und in von ihr zu
untersuchende Fragestellungen umgesetzt. Die Psychologie besaß zur Zeit
ihrer Etablierung noch kein abgestecktes Forschungsgebiet, sie war noch
dabei, ihre Aufgaben und Inhalte zu finden und zu bestimmen. Es war
keineswegs festgelegt, dass ›Race‹ und die Beschäftigung mit
Gruppenunterschieden im Allgemeinen dazu gehören und Teil der
Psychologie sein würde. Der oftmals als Begründer der Psychologie
bezeichnete Wilhelm Wundt, Zeitgenosse Galtons, vertrat eine andere
Position und betrachtete die Untersuchung von Gruppenunterschieden als
nicht zur Psychologie gehörig. Wundt unterteilte die Psychologie in zwei
Bereiche: die allgemeine oder Individualpsychologie und die
Völkerpsychologie, die trotz ihres Namens keine völkervergleichende war,
sondern ›Erzeugnisse‹ – wie Religion oder Sprache – zum Inhalt hatte, »die
aus der Gemeinschaft des menschlichen Lebens hervorgehen, und die nicht
aus den Eigenschaften des einzelnen Bewußtseins allein zu erklären sind,
weil sie die Wechselwirkung vieler voraussetzen.«[14] Die Rassifizierung
von Gruppenunterschieden in der Gründerzeit der Psychologie und durch
die Race Psychology wirkt bis heute nach und findet ihre Nachfolger. Die
Frage nach dem Anteil des Einflusses von Erbe und Umwelt auf Intelligenz
und andere Eigenschaften ist eine zentrale Fragestellung innerhalb der
Psychologie, und es finden sich immer wieder PsychologInnen, die dieser
Frage mit Blick auf ›Races‹ nachgehen. Ein Beispiel ist Arthur R. Jensen,
der 1969 im Harvard Educational Review einen Artikel veröffentlichte, in
dem er behauptete, dass der IQ unter genetischer Kontrolle stehe und
deshalb zu beobachtende IQ-Unterschiede zwischen ›Races‹ auf genetische
Faktoren zurückgingen. Ein weiteres, aktuelleres Beispiel ist das Buch The
Bell Curve von Herrnstein und Murray, in dem in der Tradition der Race
Psychology Intelligenz, ›Race‹ und Genetik zusammenführt werden. Der
Scientific Racism hat seine Spuren in der Psychologie hinterlassen, die sich
bis heute in den Fragestellungen und der Methodik der Psychologie wieder
finden lassen.[15]
BLACK PSYCHOLOGY
Das Beispiel der bei Intelligenztests oftmals zu beobachtenden Differenzen
zwischen ›Races‹ zeigte, dass in der Psychologie existierende Konzepte und
Normen zu einem hohen Maße kulturabhängig sind, allzu schnell aber als
allgemeingültig angesehen werden. Die Universalität psychologischer
Erkenntnisse ist nicht nur im Bereich der Intelligenzforschung mehr als
fragwürdig. Weiße Normen und Konzepte für Kognitionen, Affekte und
Verhaltensmuster können keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Wie
andere Sozialwissenschaften ist die Psychologie zu einem hohen Maße weiß
und eurozentrisch ausgerichtet und interessiert sich kaum für den Einfluss,
den ›Race‹, eine soziale Realität weiß dominierter Gesellschaften, auf
bewusstes und unbewusstes Denken weißer und Schwarzer Menschen
ausübt. Die Erfahrungen und Empfindungen Schwarzer Menschen finden
keinen Niederschlag im Mainstream der Psychologie. Auf Grundlage dieser
Kritik wurde Ende der 60er Jahre der Ansatz der Black Psychology von
Schwarzen US-amerikanischen PsychologInnen ins Leben gerufen, um die
Erfahrungen der Schwarzen Bevölkerung der USA in den Mittelpunkt zu
rücken und eine diesen gerecht werdende Psychologie zu entwickeln. Zu
den Faktoren, welche sowohl Schwarze und weiße Erfahrung voneinander
unterscheiden als auch prägend für Schwarze Lebensrealitäten sind, zählen
Geschichte und Erfahrung der Sklaverei, der fortdauernde Rassismus und
der Einfluss Schwarzer Kultur.[16] Die drei Aspekte existieren nicht
unabhängig voneinander, sondern sind im Gegenteil eng miteinander
verknüpft – Schwarze Kultur in den USA ist kaum ohne Berücksichtigung
der Erfahrung der Sklaverei und fortgesetzter Diskriminierung denkbar. Aus
europäischer Perspektive sollte einschränkend ergänzt werden, dass die
Black Psychology eine US-amerikanische Disziplin ist und aufgrund der
unterschiedlichen Geschichte und unterschiedlicher Lebensrealitäten
Schwarzer AmerikanerInnen und Schwarzer EuropäerInnen ihre
Erkenntnisse nicht ohne Weiteres nach Europa übertragen werden können.
Der Psychologie – insbesondere der klinischen – ist bewusst, dass ein
Störungskonzept immer nur durch Abgrenzung zu einer definierten
Normalität möglich ist, die sich meistens aus allgemeinen gesellschaftlichen
Werten und Normen ergibt. Entsprechend besitzen Gesellschaften mit
unterschiedlichen Normen ein unterschiedliches Verständnis davon, was
abweichend oder gestört ist. Die akademische Psychologie kann als fast
ausschließlich weißes westliches Produkt betrachtet werden, das aus einer
europäischen Tradition heraus entstanden ist, sich bis heute vor allem in
Europa und Nordamerika weiterentwickelt hat und dessen
Untersuchungsobjekt weiße Menschen in europäisch-nordamerikanischen
Gesellschaften sind. Dies gilt insbesondere für die empirisch-quantitativ
ausgerichtete Psychologie, wie sie an den Universitäten Europas und
Nordamerikas gelehrt wird und kann für davon differierende Psychologien
anders aussehen. Die aus der akademischen Psychologie weitgehend
verdrängte Psychoanalyse ist beispielsweise in Südamerika fest verankert
und in diesem Kontext weiterentwickelt worden. Die Konzeptualisierung
Schwarzer Kultur und die damit verbundene Bestimmung Schwarzer
Normen und Werte werden in der Black Psychology auf unterschiedliche
Art und Weise in Angriff genommen. Zwei wesentliche Ansätze sind zum
einen der psychologische Afrozentrismus und zum anderen die Betonung
von erlebtem Rassismus und erfahrener Diskriminierung für die
Psychologie Schwarzer AmerikanerInnen. John S. Mbiti nennt in African
Religions and Philosophy Religion, Geister, Vorfahren und mystischen
Glauben als wichtige Bezugspunkte afrozentrischen Denkens. Joseph A.
Baldwin, Autor der African Consciousness Scale, spricht von verschiedenen
›Kosmologien‹, innerhalb derer die Psychologien weißer und Schwarzer
AmerikanerInnen funktionieren. Diese kosmologischen Systeme »therefore,
represent fundamentally different ontological systems and cultural
definitions, which reflect their distinct approaches to conceptualizing,
organizing and experiencing reality«.[17] Er führt beispielsweise an, dass
die weiße europäisch-amerikanische Kultur geprägt sei von einem Streben
nach Herrschaft und Kontrolle, einer Ethik des ›Überleben des Stärkeren‹,
Zukunftsorientierung, Individualismus, Materialismus, Künstlichkeit,
Aggression, weißer Vorherrschaft und Rassismus. Die afrozentrische
Kosmologie ist dem entgegen ausgerichtet auf Harmonie und Einheit mit
der Natur, Kollektivismus, Gleichheit, Spiritualität und Rituale. Die beiden
»Kosmologien« besitzen unterschiedliche Normen und entsprechend
differierende Definitionen davon, was abweichend oder ›gestört‹ ist.
Verhalten, Affekte und Einstellungen Schwarzer Menschen wurden
oftmals maßgeblich durch Auseinandersetzungen mit und Widerstand gegen
eine dominante weiße Gesellschaft geprägt. Die beiden Schwarzen
Psychiater William H. Grier und Price M. Cobbs geben in ihrem 1968
erschienenen Buch Black Rage eine narrative Beschreibung der
psychologischen ›Schwarzen Norm‹. Zusammengefasst sprechen sie von
einer Tendenz Schwarzer Menschen, ablehnend und rebellisch gegenüber
einem sozialen System zu sein, dass sie in weiten Teilen und auf
verschiedene Arten benachteiligt und diskriminiert. Sie entwickeln ein
tiefsitzendes Misstrauen weißen Menschen gegenüber und versuchen, sich
durch ständige Aufmerksamkeit und Wachsamkeit vor Demütigungen und
Misshandlungen zu schützen. Diese Einstellungen stehen in Verbindung mit
der Erfahrung Schwarzer Menschen, auf unbedeutende und ›Minderheiten‹-
spezifische Rollen in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde oder der
Gesellschaft als ganzer beschränkt zu sein. Die Psychotherapeutin Betty
Davis sieht die Wut Schwarzer Menschen als Reaktion auf Rassismus und
Unterdrückung:
As a consequence of racial roles in society, it is normal for Blacks to express anger as a healthy
response to oppression and racism, better known as sublimation. Psychotherapists must begin to
recognize and accept this anger as a healthy cultural response and assist Black clients to find
constructive outlets for these feelings, instead of labelling them pathological. The clients’
responses to stressors and/or behaviours through self-actualization may be a valuable means of
support in working through the reactions to feelings of anger or aggression.[18]
BIBLIOGRAFIE
Akbar, Na’im: Chains and Images of Psychological Slavery. Jersey City: New Mind Productions,
1984
Baldwin, Joseph A.: »The African Self-Consciousness Scale. An Africentric Personality
Questionnaire.« In: The Western Journal of Black Studies 9(1985): 61-68
Davenport, Charles: »The Effects of Race Intermingling.« In: Proceedings of the American
Philosophical Society 56(1917): 364-368
Morris Staggerda: Race Crossing in Jamaica. Washington, DC: Carnegie Institute of
Washington, 1929
Davis, Betty: »Anger as a Factor and an Invisible Barrier in the Treatment of Black Clients.« In: The
Western Journal of Black Studies 40(1980): 29-30
Galton, Francis: Hereditary Genius. An Inquiry into Its Laws and Consequences. London: Fontana,
1869
Graumann, Carl Friedrich: Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin: Springer Verlag, 1985
Grier, William H. & Price M. Cobbs: Black Rage. New York: Basic Books, 1968
Guthrie, Robert V.: Even the Rat was White. A Historical View of Psychology. New York: Harper &
Row, 1976
Helms, Janet, Maryam Jernigan & Jackquelyn Mascher: »The Meaning of Race in Psychology and
How to Change it.« In: American Psychologist 60(2005): 27-36
Herrnstein, Richard J. & Charles Murray. The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in
American Life. New York: Free Press, 1994
Jensen, Arthur: »How much can we boost IQ and educational achievement?« In: Harvard
Educational Review 39(1969): 1-123
Klineberg, Otto: Race Differences. New York: Harper, 1935
Lombroso, Cesar: The Female Offender. London: T. Fisher Unwin, 1895 (Erstveröffentlichung 1892
in Italienisch)
Mbiti, John S.: African Religions and Philosophy. Garden City, NY: Anchor Books, 1970
Mosse, George L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt/M.: Fischer, 1996
Pearson, Karl: The Life, Letters and Labours of Francis Galton (Bd. 1-3). Cambridge, UK:
University Press, 1914-1930
Richards, Graham: ›Race‹, Racism and Psychology. Towards a Reflexive History. London:
Routledge, 1997
Row, Daniel: »IQ, Birth Weight, and Number of Sexual Partners in White, African American, and
Mixed-Race Adolescents.« In: Population 23(2002): 513-524
Weingart, Peter, Jürgen Kroll & Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und
Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988
Winston, Andrew: Defining Difference. Race and Racism in the History of Psychology. Washington:
American Psychological Association, 2004
Wundt, Wilhelm: Elemente der Völkerpsychologie. Leipzig: Alfred Kröner, 1912
ANMERKUNGEN
1 Mit Even the Rat was White ist ein Buch von R.V. Guthrie betitelt, das die Ausgrenzung
Schwarzer PsychologInnen sowie ihren Beitrag zur Psychologie zum Inhalt hat. Der Titel
bezieht sich auf klassische Experimente der Lernpsychologie, in denen mit Vorliebe weiße
Ratten verwendet wurden.
2 Vgl. Helms, Jernigan & Mascher: »The Meaning of Race in Psychology and How to Change it«.
3 Ein Beispiel bildet Rowe: »IQ, Birth Weight, and Number of Sexual Partners in White, African
American, and Mixed-Race Adolescents«.
4 Die Ausführungen zur Geschichte der Psychologie stützen sich im Wesentlichen auf Richards:
›Race‹, Racism and Psychology und Winston: Defining Difference.
5 Der Schwerpunkt des vorliegenden Textes liegt auf der Zeit von 1870 bis 1930. Das für
Deutschland wichtige Thema der rassistischen Psychologie während des Nationalsozialismus
wird deshalb nicht behandelt. Einen Einstieg bietet das 1985 erschienene Buch Psychologie im
Nationalsozialismus von C.F. Graumann, welches – über 40 Jahren nach Kriegsende – das erste
in Deutschland zu diesem Thema veröffentlichte war.
6 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa.
7 Aus traditioneller christlicher Sicht wurden Schwarze AfrikanerInnen als Nachkommen
Kanaans – ein Sohn Hams – betrachtet, von dem die Bibel berichtet, dass er von Noah verflucht
wurde, da er seinen unbekleideten Vater angeschaut hatte.
8 Ein früheres Modell war die Great Chain of Being, die auf Plotinus (205–270) zurückgeht und
während der Renaissance durch den Neoplatonismus weiterentwickelt wurde. In ihrer
naturalisierten Version war sie eine scala naturae, ein Ranking von Tieren und Menschen, das
auch Races hierarchisierte.
9 Galton: Hereditary Genius, S. 23
10 Nachdruck des Briefes in Pearson: The Life, Letters and Labours of Francis Galton (Bd. 2), S.
33.
11 Vgl. Weingart, Kroll & Bayertz: Rasse, Blut und Gene.
12 Der Intelligenzforschung ist die Kulturabhängigkeit von Intelligenztests durchaus bekannt,
woraufhin versucht wurde kulturunabhängige Tests zu entwickeln. Ein Beispiel ist der Cultural
Fair Intelligence Test, der ohne sprachliche Aufgaben auskommt. Allerdings wird auch dieser
Test auf Papier dargeboten und die Aufgaben – z.B. Reihen erkennen oder Symbole
manipulieren – weisen eine hohe strukturelle Ähnlichkeit zu in der Schule vermittelten
Fertigkeiten auf.
13 Als ein wichtiger Kritiker der Race Psychology sei der Sozialpsychologe Otto Klineberg von der
Columbia University genannt. Zu seinen zentralen Beiträgen gehört die Monographie Race
Differences.
14 Wundt: Elemente der Völkerpsychologie, S. 11.
15 Race war nur eine von mehreren prominenten Kategorien, nach denen Gruppen eingeteilt und
miteinander verglichen wurden. Diskurse um die Bewertung von Races unter dem Gesichtspunkt
ihrer geistigen und charakterlichen Eigenschaften waren mit ähnlichen Diskursen um Gender,
Klasse oder Delinquenz verbunden, die sich oftmals gegenseitig ergänzten und stützten, wie in
dem Buch The Female Offender von Cesar Lombroso: »the primitive type of a species is more
clearly represented in the female« (S. 109).
16 Vgl. Akbar: Chains and Images of Psychological Slavery.
17 Baldwin: »The African Self-Consciousness Scale«, S. 62.
18 Davis: »Anger as a Factor«, S. 29.
MARÍA DO MAR CASTRO VARELA & NIKITA DHAWAN
OF MIMICRY AND (WO)MAN:
DESIRING WHITENESS IN POSTCOLONIALISM
»Fair and Lovely«, one of the largest selling skin-lightening creams in the
world, was first manufactured in post-independence India and is now
exported to 38 countries around the world. On its website the
manufacturing company calls its product, »the miracle worker«[67]; with
its revolutionary breakthrough in skin-lightening technology it is »proven to
deliver one to three shades of change«. Frequently aired ads promoting
»Fair and Lovely« in India typically show a depressed woman with bleak
prospects, gaining a ›brighter‹ future by attaining a boyfriend or job after
becoming markedly ›fairer‹ (emphasized by several silhouettes of her face
lined up dark to light).[68] In one of the popular television ads two
attractive young women are having an intimate conversation. The ›lighter-
skinned‹ woman has a boyfriend and, consequently, is happy. The ›darker-
skinned‹ woman, without a boyfriend, is dejected. Her friend’s advice? Use
»Fair and Lovely« to attract men. Another ad portrays a young woman,
whose father lamented not having a son to support the family, landing a
well-paying job after using the product[69]. Thus, the use of the fairness
soap promises to wash away the ›dark skin‹ thereby guaranteeing
professional and personal success.[70] Recently the »Fair and Lovely
Foundation«[71], was launched in India that claimed to encourage
economic empowerment of women across India by providing resources in
education and business. The company’s skincare marketing Manager
announced that the company believed millions of women »who, though
immensely talented and capable, need a guiding hand to help them take the
leap forward«. »Presumably into a fairer future«.[72]
Similarly Nivea has recently launched its »fair range« in the African
market. As the title of the online article »Nivea entdeckt Africa«[73] (Nivea
discovers Africa) suggests, the continuity of the colonial metaphors and
politics are reinforced in neo-colonialism. The route of the ›fairness market‹
can be traced from India through the Arab world stretching into Africa.
Moritz Klämt, the product manager of Nivea Beiersdorf in East Africa
emphasizes that their fairness products contain sun-control filters and plant
extracts that reduce pigmenting. He remarks that most women long for the
skin they had as children before it got ›darker‹.[74] Accordingly, the
marketing slogan says »Bewahre Deine natürliche Hautfarbe« (Keep your
natural skin colour).[75]
As the names of creams like »Fairever« and »Fair and Lovely« suggest,
being ›fair‹ is considered in many postcolonial contexts synonymous with
being beautiful. Here, the colonial definition of white as ›pure‹ and ›good‹
is reproduced, which is, furthermore, typical for the western visual aesthetic
representation of the feminine.[76] This can be further combined with the
Christian idea of the ›holy‹, ›pure‹ and white Virgin Mary. Thus, whiteness
comes to symbolize all that is positive and desirable. The production of the
white body as ›superior‹ and the denigration of the non-white body within
the colonial discourse has crucial consequences for postcolonial contexts,
whereby »the colonial representations of race construct both whiteness and
Blackness, and the concomitant sets of values, dispositions and attitudes
associated with such discursively produced racial identities and racialized
bodies«.[77]
The construction of the colonized people’s culture and body images as
›uncivilized‹, ›dirty‹ and thereby ›ugly‹ has been central to the colonial
discourse of white supremacy, thereby legitimising the necessity to ›purify‹
the ›unclean‹ non-white body.[78] Correspondingly, the image of the ›fair‹
and ›translucent‹ woman is the hallmark of the imperialist representations
of beauty, whereby women being the locus of racial reproduction, all
attempts are made to ensure that she appear as white as possible.[79] This
white supremacist aesthetic standard is the one against which all other
women are measured and judged and is also the standard against which
women of colour who bleach their skin often measure their own sense of
feminine beauty.[80] Despite attempts to resist these racist standards of
beauty and celebrate non-white bodies within postcolonial discourses, the
practice of skin-whitening continues to flourish. In a postcolonial country
like India, the ›fairness industry‹ accounts for 60 percent of skincare sales,
bringing in $140 million a year. The biggest manufacturer of these products
is the Indian subsidiary of Unilever PLC, based in London, yet another
colonial link. Despite strong criticisms from feminist groups and the
growing warnings of the medical community regarding the health hazards
of skin-bleaching, the »fairness craze« in postcolonial contexts like India
continues.[81] This poses a big challenge to the process of decolonizing
whiteness.
The continuity and reproduction of this desire for whiteness can be
witnessed in various forms in several postcolonial contexts. For example, a
mere glance through the matrimonial columns of any of the leading Indian
newspapers, one reads hundreds of advertisements soliciting ›fair‹,
educated girls from decent families for eligible men[82]. In fact, the desire
for whiteness goes so far that often caste[83] is considered no bar and even
dowry is waived if the girl is ›fair‹ enough.[84] No wonder, millions of
women are ready to put their bodies in danger (sometimes fully aware of
the risks) in order to get a ›fairer‹ complexion, which is considered to be an
›asset‹ that brings privileges with it.[85]
In this context »mimicking whiteness« must not only be seen within the
contemporary socio-political and economic conditions within which it takes
place, but also as a consequence of centuries of colonial domination. As
McClintock demonstrates, whiteness functions as a commodity spectacle of
capitalist production and as a central ideological precept around which the
European imperial conquest of non-white cultures and peoples has been
justified.[86] In this context, as a capitalist commodity, whiteness can be
possessed potentially by everybody with the right exchange value. On the
other hand, as the organizing principle of European colonial conquest,
whiteness must be denied to those who must be exploited, subjugated, and
dominated, because they are not-white.[87]
Skin lightening as a form of gendered postcolonial mimicry manifests
itself at the intersection of race, gender, class and sexuality. Skin-bleaching
chemicals are used in the hope that one is able to ›pass‹ as white making it
impossible to distinguish between those who are ›really‹ white, and
›impostors‹.[88] This desire to be white/›fair‹ in the case of this form of
gendered mimicry is ›written on the body‹. But unlike Bhabha’s notion of
mimicry and similar to that of the Caribbean thinker Wilson, this form of
gendered mimicry functions at the cost of harming one’s self. The process
of transforming the non-white female body into a white one as a form of
gendered postcolonial mimicry is not a »subversive mimesis«, rather it
entails self-mutilation. Here, mimicry can hardly be seen as a resistance
strategy produced from within dominant discourses, but a violence on the
body of the one who mimics that is a result of internalised colonial regimes
and racism. The »mimic woman«, a concept alien to Bhabha’s theory, is not
subverting the dominant discourse in her attempt to become white, but her
body functions as an ideological playing-ground for the intersection of
capitalism, racism and (hetero-)sexism. Similar to the colonial situation, the
body of the non-white woman is vulnerable to both the racist imperialist as
well as the native patriarchal discourses. The desire for whiteness is
persistently (re)produced within the indigenous as well as imperialist
(hetero-)sexist structures. The body of the woman of colour becomes the
site of reproduction of a mythical beauty norm, which is a desire produced
within the colonizing logic that no woman of colour can attain even as she
is shaped by it.
Colonization is not merely an act of plundering and economic
exploitation, but also entails a violent value coding á la Spivak of the
desires of the colonized subject. In trying to ›become white‹ or at least ›fair‹
by means of skin-whitening, the postcolonial woman of colour hopes to
enter the privileged space of power (and beauty). Skin-whitening functions
as a form of ›camouflage‹ that may guard against certain forms of
discrimination. But in »mimicking whiteness« the postcolonial »mimic
woman« risks stabilizing its hegemonic power.
Women have been considered as markers of culture by the colonizers as
well as the anticolonial nationalist movements, whereby even as they
represent tradition, their identities and bodies become the ideological
battleground for competing masculinities. Thus paradoxically even as the
native woman is expected to be ›authentic‹ African or Indian (for example)
it is at once demanded from within the hetero-patriarchal system that she
also be as white as possible. Moreover, ›fairness‹ in the case of women is
also associated with being from the non-working class. Within the Indian
context, for example, this becomes an issue of status symbol, whereby a
›fair‹ wife is a sign of prosperity for she does not need to go out in the sun
to work!
This desire to be white is produced as well as sustained within the field
of capitalist exploitation. The (hetero-)sexist capitalist order is clearly a
racist order: As Audre Lorde explains, according to the hegemonic mythical
norm, to be beautiful is to be young, thin, without a disability and white.
[89] Mire writes »Whiteness is consumed, in order to shore up the white
supremacist cultural, economic and political domination of non-white
cultures, economies and modes of production«.[90] Despite the prevailing
white supremacist medical establishment’s attempts to underplay the health
implications of skin-bleaching, Mire demonstrates that it is an extremely
damaging practice which threatens the psychic and bodily integrity of those
who, in order to get a bit of whiteness, risk their physical and emotional
well-being.[91] She recommends that in order to confront this devastating
phenomenon, it is necessary to interrogate the medical, social, political and
economic discourses which construct, sustain and legitimise the global
system of capitalist white supremacy. It is only by taking this integrated
approach that one might be able to confront the destructive practice of skin-
bleaching.[92]
DECOLONISING WHITENESS
In our paper, we have attempted to examine the link between the processes
of colonization and the discourse of whiteness and its continuity into neo-
colonial times and spaces. In doing this we have tried to show how by
virtue of our »entangled histories« and the neo-liberal processes of
globalisation, the consequences and connections between different
postcolonial contexts and discourses is more complex than a
straightforward colonizer/colonized relation. We have also attempted to
unfold the limits of Bhabhian mimicry as a strategy of resistance and to
demonstrate the drawbacks it poses for a postcolonial queer feminist
politics. Let us now briefly turn our attention to the challenges involved in
the project of decolonising whiteness.
The postcolonial feminist Gayatri Chakravorty Spivak warns that the
white supremacist domination is not to be resisted by what she terms as the
politics of »chromatism«, which merely reverses the Black/white hierarchy
without displacing it. Spivak argues that this ›alternative‹ does not
challenge the dualism itself. In fact, Spivak goes so far as to reject the label
of ›woman of colour‹, which according to her, merely reproduces white as
›transparent‹.
Chromatism seems to have something like a hold on the official philosophy of U.S. anti-racist
feminism. When it is not ›third world women‹, the buzzword is ›women of color‹. This leads to
absurdities. Japanese women, for instance, have to be coded as ›third world women!‹ Hispanics
must be seen as ›women of color‹ and postcolonial female subjects, even when they are women of
the indigenous elite of Asia and Africa, obvious examples of Ariel’s mate, are invited to
masquerade as Caliban in the margins. This nomenclature is based on the implicit acceptance of
›white‹ as ›transparent‹ or ›no-color‹ and is therefore reactive upon the self-representation of the
white.[93]
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NOTES
1 Bhabha does not entirely agree with Fanon that the psychic choice is to »turn white or
disappear« (Fanon cit. in Bhabha: Location of Culture, p. 120). Instead, he proposes »the more
ambivalent, third choice: camouflage, mimicry, black skins/white masks« (ibid.).
2 The term postcolonial remains controversially discussed, whereby both the notion »colonial« as
well as the prefix »post« are intensely contested. For more on the debate on the notion of
postcolonial refer to Appiah: »Is the Post in Postmodernism the Post in Post-colonialism?«,
McClintock: Imperial Leather, Shohat: »Notes on the Postcolonial«. It is important to note here
that not only for example, countries like South Africa and Brazil are postcolonial, but also
countries like Thailand and Iran, which were never ›formally‹ colonised, are deeply informed by
processes of colonialism. By virtue of our, what Shalini Randeria calls »entangled histories«
(Conrad & Randeria: »Einleitung. Geteilte Geschichten«, p. 17), it is impossible to reduce
postcolonial analysis to national boundaries, for these boundaries are itself a product of colonial
discourses. To talk of the German context in isolation from other contexts is to substantiate these
hegemonic discourses, for Germany and the German discourse do not exist in a historical and
socio-political vacuum.
3 Bhabha: Location of Culture, p. 121.
4 Ibid., p. 56.
5 Postcolonial queer feminism marks the intersection of postcolonial critique with queer feminist
theory to unfold the consequences of hetero-patriarchal colonialism. For more on postcolonial
queer feminism refer to Vanita: Queering India, Alexander: »Erotic Autonomy«, Castro Varela
& Dhawan: »Spiel mit dem Feuer«.
6 The related practices of dyeing black hair blonde and of wearing coloured contact lenses (also
extremely popular with women of colour) are equally symptomatic of the desire for whiteness.
7 Nivea was founded in 1911 in Hamburg and is one of the oldest and biggest personal care
brands in the world selling its products in 150 countries around the world.
8 Refer to the official website of Nivea under http://www.nivea-me.com/frameset.php and look
under products for the »fair range«.
9 Mire gives the example of how »in 1996, the United States Environmental Protection Agency
(EPA) published a paper urging the United States Department of Defence (DoD) to suspend the
sale of mercury to the third world. According to the EPA, from 1989 to 1993, the United States
Department of Defence had sold 2,350 metric tons (5.18 million lbs.) of mercury to the third
world. Further, the EPA stated that the use of mercury in the third world included the production
of skin-bleaching creams. In 1996, more then 400 Mexican-American women and men living in
Arizona, California, New Mexico and Texas got mercury poisoning after using a skin-bleaching
cream called ›Crema de Belleza-Manning‹ made in Mexico and imported to the United States
illegally. ›Crema de Belleza-Manning‹ contains roughly 15 percent by weight of mercury
chloride or calomel« Mire: »Skin-Bleaching«, p. 20.
10 Ibid., p. 13.
11 Ibid., p. 18.
12 Ibid., p. 19.
13 Ibid.
14 Due to the efforts of Amina Mire and her colleague, Abdi Jowhar, the import of the skin-
bleaching cream »Diana«, which is made in Lebanon and distributed world wide by a company
called »Diana de Beauté«, was banned in Canada by the Canadian Ministry of Health. However,
Mire regrets that mercury-based skin-bleaching soaps, creams and ointments with different
brand names are still available in Canada (ibid., p. 35). The same holds for the European
context.
15 For example, in millions of beauty parlours all over India, it is possible to get a ›skin bleach‹,
the process itself requiring a few minutes.
16 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 190.
17 Ibid, p. 118.
18 McClintock: Imperial Leather, p. 33.
19 Ibid, p. 214.
20 Ibid.
21 Bhabha: Location of Culture, p. 75.
22 Bhabha: Remembering Fanon, p. ix.
23 Bhabha: Location of Culture, p. 88.
24 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 117.
25 Bhabha: Location of Culture, p. 78.
26 Ibid.
27 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 117.
28 Ibid, p. 118.
29 Bhabha: Location of Culture, p. 82.
30 Young: White Mythologies, p. 183.
31 Ibid, p.187.
32 Bhabha: Location of Culture, p. 92.
33 Ibid, p. 86.
34 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 120.
35 Cit. in Bhabha: Location of Culture, p. 87.
36 Ibid.
37 Ibid, p. 85.
38 Ibid, p. 87.
39 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 120.
40 Bhabha: Location of Culture, p. 86.
41 Ibid, p. 88.
42 Ibid, p. 86.
43 Ibid.
44 Ibid, p. 89.
45 Young: White Mythologies, p. 188.
46 Loomba: Colonialism/Postcolonialism, p. 178.
47 Bhabha: Location of Culture, p. 88.
48 Young: White Mythologies, p. 192.
49 Bhabha: Location of Culture, p. 85.
50 Ibid, p. 112.
51 Irigaray: This Sex Which is Not One, p. 78.
52 Ibid, p. 76.
53 McClintock: Imperial Leather, p. 62.
54 Ibid.
55 Ibid, p. 64.
56 Ibid, p. 64-65.
57 Ibid.
58 Bhabha: »Difference, Discrimination and the Discourse of Colonialism«, p. 205.
59 Moore-Gilbert: Postcolonial Theory, p. 181.
60 Ibid.
61 Ibid.
62 Foucault: »The Subject and Power«, p. 208-210.
63 Bhabha: Location of Culture, p. 89.
64 Gandhi: Postcolonial Theory, p. 95-96.
65 Bagchi: »Re-packaging fairness«.
66 An interesting example of the politics of translation, whereby the ›original‹ German term
»hübscheste« (prettiest) became »fairest« in the English version.
67 See: http://www.hll.com/HLL/knowus/personalpro_skincare_fairnlovely.html.
68 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
69 This particular ad was withdrawn after strong protests from the AIDWA (All India Democratic
Women’s Association). But other ads continue to be aired.
70 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
71 See: http://www.hll.com/hll/archivecontent/PressRelease/PRFLFoundation.html.
72 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
73 http://www.n-tv.de/300178.html, 03.02.2005.
74 Ibid.
75 Ibid.
76 Dyer: White, p. 70-75.
77 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 14.
78 McClintock: Imperial Leather, p. 226.
79 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 26.
80 Ibid, p. 22.
81 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
82 Nair: »Gender, Genre and Generative Grammar«, pp. 227-254. In the last few years that has
been a virtual explosion of these matrimonial sites on the internet. There are a number of sites
that specially cater to migrant and NRIs (Non Resident Indians). The advertisements on these
websites are no different from the ›traditional‹ matrimonial columns. The demand for ›fair‹
brides persists the world over within the migrant Indian community and this holds for the
migrant community in Germany too.
83 The sanskrit word for caste is varna which also means ›colour‹. Precolonial ›Indian‹ society was
structured by the hierarchical caste system, whereby discrimination on the basis of caste is
inextricably linked to colour politics. This precolonial regime of power was further consolidated
in the racist context of British India.
84 Leistikow: »Indian Women Criticize ›Fair and Lovely‹ Ideal«.
85 Ibid.
86 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 16.
87 Ibid.
88 Ibid, p. 26.
89 Audre Lorde: Sister Outsider, p. 116.
90 Mire: »Skin-Bleaching«, p. 16.
91 Ibid, p. 34.
92 Ibid.
93 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 165.
94 Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 319.
95 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 191
96 Spivak: »Resident Alien«, p. 60.
97 Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 242-243.
98 Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 319-320.
99 McClintock: Imperial Leather, p. 121-122.
[100] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 322.
[101] Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 414, 169.
[102] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 320.
[103] Chow: Writing Diaspora, p. 13.
[104] Spivak: »Discussion: An Afterword on the New Subaltern«, p. 333.
[105] Spivak: Critique of Postcolonial Reason, p. 143.
[106] Castro Varela & Dhawan: Postkoloniale Theorie, p. 137.
[107] Ibid, p. 290.
Hier deutet sich eine wichtige Ursache dafür an, warum Weiße nicht über
Weißsein reflektieren: Weißsein zu sehen und es kritisch zu reflektieren,
bedeutet »to deny the imperial epistemological and ontological base from
which it sees what it wants (or has been shaped historically) to see«.[41]
Die zeitversetzte und noch immer zögerliche Reflexionsarbeit hängt
ursächlich damit zusammen, dass die Archivierung von weißem Wissen, das
diskursiven Internalisierungsprozessen zugrunde liegt, zwar von Schwarzen
kritisch reflektiert, kommentiert und herausgefordert wurde, Weiße jedoch
gern auf ihr Privileg verließen, dies zu ignorieren und dem weißen
Wissenssystem unbeirrt weiter unkritisch zu vertrauen. Das bedeutet eben
auch, dass es keine weißen Erinnerungsorte und Diskurse gibt, an die Weiße
bei einer kritischen Reflexion von Weißsein anschließen könnten. Folglich
muss die Erinnerungsarbeit auch Auseinandersetzungen mit dieser
Ortlosigkeit im weißen Wissensarchiv einschließen – und den daraus
folgenden Irritationen und Verunsicherungen, die in einem breiten
Spektrum von Gefühlen resultieren können: in Frustration, Empörung und
Wut sowie auch Schamgefühlen, die sich etwa auch in einer Rhetorik von
Be-Schweigen als Verweigerungsmuster manifestieren. Diese Gefühle
schützen Weiße davor bzw. hindern sie daran, Weißsein kritisch zu
reflektieren und zu beginnen, es anders zu sehen und die Archivierung
weißen Wissens zu resituieren. Das zeigt, dass nicht nur die rhetorische
Figur des »blaming the victim« (diese seien selbst schuld, überempfindlich,
hätten etwas (absichtlich) missverstanden etc.), sondern auch die Rhetorik
des Beschweigens als (aggressive) Verweigerungsmuster zu verstehen sind.
Toni Morrison betont zudem, dass diese Verweigerungshaltung eben
gerade noch dadurch verkompliziert werde, dass »the habit of ignoring race
is understood to be a graceful, even generous, liberal gesture«.[42] Dabei ist
es eben nicht problematisch, eine bestehende Differenz zu benennen,
sondern sie zu ›entnennen‹. Denn dies verhindert einen »adult discourse«
(im Sinne einer verantwortungsbewussten und -orientierten
Auseinandersetzung), der dem »black body a shadowless participation in
the dominant cultural body«[43] aufzwinge.
Gesellschaftliche, politische und kulturelle Formationsprozesse fußen
auf einem historischen Rassialisierungsprozess, bei dem Weißsein eine
hegemoniale Rolle zukommt. Diese Hegemonien und die Differenzen
können nicht einfach nur dadurch überwunden werden, dass sie negiert oder
ignoriert werden. Im Gegenteil: Wenn Weißsein entnannt wird, werden auch
die sozialen Positionen, Privilegien, Hegemonien und Rhetoriken
verleugnet, die an Weißsein gebunden sind, und wird den Ausgrenzungs-
und Gewalterfahrungen, die Schwarze und People of Color durch Weiße
real erleben, keine Rechnung getragen. Dadurch wird Weißsein nicht nur
verstärkt und naturalisiert,[44] zudem bleibt sein Status als »unmarked
marker« und »unsichtbar herrschende Normalität« unerschüttert.
In Anlehnung an Morrisons Begriff der ›evasiveness‹ werde ich im
Folgenden von der ›Weißseins-Verleugnung‹ sprechen. Diesen Terminus
finde ich präziser als die allgemeineren Begriffe der ›Machtverleugnung‹
oder auch ›Machtvermeidung›, weil es ja um eine spezifische Machtform
(weiße Hegemonie) geht und (wie in Bezug auf ›Machtvermeidung‹ zu
sagen bleibt) nicht um eine ›Vermeidung‹ von Macht, sondern die
Verleugnung der Tatsache, dass die Macht eben gerade nicht vermieden
wird/vermeidbar ist. Zudem setze ich mich auch von dem problematischen
Begriff der ›colour-blindness‹ ab. Zum einen euphemisiert er den
eigentlichen Gegenstand dieser Verleugnung. Die ›Hautfarbe‹, auf die
dieser Begriff rekurriert, ist nichts anderes als ein rassialisierendes
Konstrukt, eine biologistische Konstruktion zur Herstellung von ›Rassen‹.
Letztlich geht es um die der rassialisierten Differenz eingeschriebene
Macht. Zudem geht es nicht um ›Blindheit‹ (eine problematische
Aneignung der gleichnamigen physischen Beeinträchtigung), sondern um
eine mehr oder minder bewusste Verweigerungshaltung.
Während die rhetorische Figur der ›Weißseins-Verleugnung‹ auf die
Tendenz rekurriert, dass Weiße ihr Weißsein nicht reflektieren, gibt es eine
verwandte rhetorische Figur, die ich als ›Weißseinshierarchisierung‹
bezeichne. Diese Figur, die gerade auch kritische weiße Perspektiven
innerhalb der Weißseinsforschung diskursiv prägt, baut zum einen auf der
These auf, dass Weißsein verhandelbar, temporär und reversibel ist. Es kann
einem abgenommen werden und ist in logischer Konsequenz auch aus einer
kritischen ›Gutmensch-Perspektive‹ heraus überwindbar (»Ich bin eine gute
Weiße. Ich bin nicht mehr weiß«). Ich nenne dies Traktabilität. Zum
anderen stellt sich die ›Weißseinshierarchisierung‹ über die These her, dass
sich Weißsein nicht nur mit anderen Strukturkategorien verschränkt,
sondern sich dabei auch relativieren, wenn nicht gar aufheben lässt (»Ich
bin nicht so weiß wie ihr, weniger weiß als andere«). Diese sich
wechselseitig bedingenden Strategien möchte ich im Folgenden erörtern.
Weißsein als Diskurs, als »Fluss von Wissen durch die Zeit«,[53] kann sich
nicht seiner Präsenz entziehen, wohl aber seiner Präsenz stellen. Das weiße
Subjekt mag seine Privilegien und Machträume teilen können, doch es
vermag es nicht, diese in ihrer Komplexität zu verlassen. Es agiert
ausgehend von einer Freiwilligkeit des Handelns, die ihrem Wesen nach
immer rudimentär bleibt.
Diskursiv gereicht es sich nicht als Zufall, dass insbesondere die
VerfechterInnen des New Abolitionism in reziproker Perspektive das
argumentative Muster überstrapazieren, dass Weißsein verhandelbar,
temporär und reversibel ist, man/frau Weißsein erwerben und es einem auch
verweigert werden kann. Weißsein, so die These, sei nicht einfach nur ein
biologistisch konstruiertes Erbe, sondern auch davon abhängig, ob man sich
mit seinen Kodes identifiziere und ihnen entsprechend performe.[54] Als
Beleg dafür werden immer wieder die irischen und osteuropäischen
MigrantInnen in den USA im 19. Jahrhundert[55] oder auch die
›verkafferten‹ weißen deutschen Kolonialisten angeführt, die weiße
Privilegien einbüßten und damit angeblich belegen würden, dass die
Möglichkeit der Grenzüberschreitung zwischen den binär verfassten
Kategorien Schwarz und weiß besteht und selbst ein Kolonisator zum
›Anderen‹ werden konnte.[56]
Kurtz’ in Joseph Conrads Heart of Darkness ist das wohl prominenteste
Beispiel für das, was im rassistischen Kolonialjargon als ›verkaffert‹
bezeichnet wird: Sie sind alkoholabhängig, mit Schwarzen Frauen
verheiratet, kreolisieren ihre Muttersprache und/oder (was auf Kurtz nicht
zutrifft) verarmt. Im deutschen Koloniallexikon ist nachzulesen, dass ein
»verkafferter Europäer« ein »verlorenes Glied der weißen Bevölkerung« ist.
[57] Ganz prominent regierte dieser Begriff auch die kolonialistische
Propaganda des Deutschen Frauenbundes. Hier scheint er der Angst
Ausdruck zu verleihen, dass lange Zeit als Junggesellen in Afrika lebende
Männer ähnlich wie Tarzan kulturell degenerieren würden – und ähnlich
wie Jane nur die weiße Frau den Sieg der Natur über die Kultur verhindern
könne. Aber gerade das Beispiel Tarzan zeigt ja auch, dass die
kolonialistische Mentalität Weißsein als ›Natur‹ (im Sinne Roland Barthes’)
setzt und daher ihrer eigenen Logik gemäß zwar überlagert, nicht aber
verloren gehen kann. Und genaugenommen sagt das Koloniallexikon eben
dies. Ein ›verkafferter‹ Weißer ist ein verlorenes Glied der weißen
Bevölkerung, nicht aber einer, der sein Weißsein verloren hat oder verlieren
wird. Er ist ein reversibel für die weiße Herrenmenschenideologie verloren
gegangener Weißer, der doch den Großteil weißer Macht und Privilegien
beibehält und daher auch im Kontext kolonialistischer Macht und Gewalt
um nichts weniger weiß ist als andere Weiße. Hinzukommt, dass er jederzeit
aufgrund seiner ›biologischen Abstammung‹ und der rassistischen
Konstruktion und Kodierung seiner ›Hautfarbe‹ als gänzlich
gleichberechtigtes Glied der weißen Bevölkerung rehabilitiert werden kann.
Gerade im Kontext des Kolonialismus, der sich auf Rassentheorien
gründete, scheint es wenig sinnvoll, zu argumentieren, dass es soziale
Bedingungen gibt, unter denen das biologisch geerbte Weißsein verloren
gehen und ein Weißer Schwarz werden kann. Dabei bleibt aber die Frage
interessant, aus welchem Grund diese Männer von Weißen im Zentrum als
»kulturell degeneriert« imaginiert wurden und worin die Ursache für diese
Veränderung liegt. Mit Conrad kann dabei die These vertreten werden, dass
dies eher eine logische Folge der Perversion des Kolonialismus, deren
Praxis stets dem proklamierten Mythos von der ›Bürde des weißen Mannes‹
widersprochen hatte, war, als ein Ergebnis der Nähe zu afrikanischen
Kulturen.
Auch im Fall der Polen und Polinnen wird oft die Frage aufgeworfen, ob
sie tatsächlich als Weiße zu positionieren seien. Dafür werden vor allem
zwei historische Kontexte als Referenzrahmen herangezogen, die
historische Ausnahmeräume darstellen – die nationalen Formationsprozesse
in den USA im späten 19. und vor allem frühen 20. Jahrhundert sowie der
Nationalsozialismus. Zunächst zum US-amerikanischen Kontext. Auch
wenn Rassialisierungsprozesse und rassistische Ideologien für die weißen
ImmigrantInnen aus Europa nicht grundsätzlich neu waren und sie von
europäischen Rassentheorien diskursiv geprägt worden waren, war es
dennoch eine deutlich weitgehendere Erfahrung, in eine Nation zu kommen,
in der Weiße obsessiv rassialisierten und segregierten. Die europäischen
MigrantInnen mussten sich stets dringend und schnell einen Platz in der
symbolischen Ordnung von Rasse suchen, weil dieser Platz eben etwa auch
Zugänge zu ökonomischen Resourcen (etwa die Art der Arbeit, die Höhe
der Löhne, Wohnorte, Zugang zu Gewerkschaften etc.) eröffnen oder
verschließen konnte. Diese Ordnung war als stark binnendifferenziert
erfahrbar, wobei sich diese Hierarchisierungen maßgeblich entlang von in
Europa präsenten Machtverhältnissen vollzogen, bei denen die Kategorie
Nation(alität) eine zentrale Rolle spielte. Zudem herrschte auch das »Recht
der Rechtzeitigkeit«: Die älteren MigrantInnengenerationen positionierten
jeweils die gerade neuen Generationen in der Hierarchie unter sich, so etwa
im frühen 20. Jahrhundert auch die IrInnen, die mehrheitlich bereits in den
1840er und 1850er Jahren in die USA gekommen waren, die PolInnen.[58]
Entsprechend der allgemeinen Dominanz der Kategorie ›Rasse‹ in den USA
wurde diese Nationenhierarchie[59] dann in diesem konkreten Zeitraum in
Dynamiken übersetzt, die oft als rassialisiert interpretiert werden. »In 1926
Serbo-Croatians ranked near the bottom of a list of forty ›ethinc‹ groups
whom ›white American‹ respondents were asked to order according to the
respondents’ willingness to associate with members of each group. They
placed just above the N., Filipinos, and Japanese. Just above them were
Poles.«[60] Roediger vertritt dabei die These, dass diese »literal
inbetweenness of new immigrants on such lists« belege, dass »[t]the state of
whiteness was approached gradually and controversially.«[61] Mir scheint
es dagegen plausibel, dass hier deutlich wird, dass die PolInnen und
anderen neuen weißen europäischen ImmigrantInnen zu keinem Zeitpunkt
ihr Weißsein verloren, sondern nur an die Peripherie des Weißseins
delegiert wurden. Dabei blieben sie stets ein Teil des weißen Gefüges.
Dafür spricht etwa, dass sich für polnische und andere ›neue
ImmigrantInnen‹ der Weg ins Mainstream-Weißsein in der Regel deutlich
schneller zu einer US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ebnete – und
selbst diese konnten weiße ImmigantInnen aus Europa vergleichsweise
kurzfristig erlangen (hier wurde ihr Weißsein dann besiegelt), was in
starkem Kontrast zu den Erfahrungen nicht-europäischer MigrantInnen
steht.[62] Dabei war es ein wichtiger Meilenstein des Weges, rassialisiertes
Denken und Agieren als wichtige gesellschaftliche Konstituente zu
erkennen und sich unmissverständlich und irreversibel als weiß zu
positionieren – und diese Option stand eben den weißen europäischen
ImmigrantInnen anders etwa als den AfroamerikanerInnen oder den
chinesischen oder indischen usw. MigrantInnen auch offen. Hinzu kommt,
dass die europäischen ImmigrantInnen auch zu keinem Zeitpunkt Opfer der
Jim Crow Gesetze, die der Verschärfung rassistischer Segregation in allen
Lebensbereichen dienten, wurden und es für die NachfahrInnen der
SklavInnen letztlich keinen Unterschied darstellte, ob ein gerade
angekommener polnischer Immigrant oder eine bereits verwurzelte weiße
US-Amerikanerin sie rassistischer Gewalt aussetze. Hier zeigt sich, dass es
möglich sein mag, für den historischen Moment der Ankunft polnischer und
anderer neuer europäischer ImmigrantInnen in den USA zu postulieren,
dass Weiße ausgehend von in Europa geltenden Nationalitäts-Hierarchien
hierarchisiert wurden und dabei auch als »inbetween races« hergestellt
wurden, doch heißt das nicht, dass sie als Nicht-Weiße konstruiert wurden
und schon gar nicht, dass es politisch oder theoretisch plausibel ist, sie auch
heute noch als Nicht-Weiße oder als Schwarze/People of Color zu
positionieren.
Für den deutschen Kontext stellt sich die Situation partiell anders da. Im
Kontext von Kolonialismus und Nationalsozialismus und seiner
rassistischen Ideologiegebilde – prominent auch vertreten in Wissenschaft
und Literatur –[63] hat sich in Deutschland eine strukturelle und diskursive
Kongruenz von Deutschsein, christlicher Religion und Weißsein formiert.
In Korrespondenz mit der prinzipiellen Willkürlichkeit, mit der
Rassentheorien ökonomischen, politischen und militärischen Interessen
angepasst wurden, sind Theorien der vermeintlichen ›rassischen
Minderwertigkeit‹ von PolInnen im Nationalsozialismus (in Rückgriff auf
die Tradition des Antislawismus und auch frühere Rassentheorien)
weiterentwickelt worden. Dennoch scheint es unerlässlich, zu
berücksichtigen (das Beispiel des Warschauer Ghettos macht dies
exemplarisch deutlich), dass der nationalsozialistische Rassenwahn einen
deutlichen Unterschied machte zwischen jüdischen und christlichen
PolInnen und daher auch die Analyse zwischen Opfern der Shoa und
Opfern von Krieg, Verschleppung und Zwangsarbeit unterscheiden muss.
Es steht nicht zu bezweifeln, dass weiße christliche Polen in Deutschland
komplexen Positionierungs- und Gewaltformen ausgesetzt waren und noch
immer sind und die nationalsozialistischen Konzepte, die bis heute
diskursiv fortwirken, dabei konstituierend wirk(t)en. Doch es ist theoretisch
und politisch wichtig, zwischen Antislawismus einerseits und Rassismus
und Antisemitismus andererseits zu differenzieren – zwischen den
strukturellen und diskursiven Positionierungs- und Gewaltmustern, denen
einerseits weiße christliche PolInnen ausgesetzt sind, und andererseits
jenen, die Schwarze PolInnen (wie auch andere somatisierend und/oder
religiös markierte EuropäerInnnen wie z.B. TürkInnen) und Juden/Jüdinnen
in Deutschland sowie auch in Europa im Allgemeinen erfahren.
Im Vergleich der beiden diskutierten Kontexte scheint es mir historisch
und um so mehr für die Gegenwart am treffendsten, mit dem Konzept der
›Ethnisierung‹ zu arbeiten. Dies hieße, PolInnen als ›Ethnisierte‹ zu
beschreiben – und sie als Weiße zu positionieren.
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ANMERKUNGEN
1 Barthes: Mythen des Alltags, S. 131. Für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem
rassitischen Mythos und seinen Figuren der Altersierung, Identifikation, Machtverleugnung und
Tautologie vgl. Arndt: »›The Racial Turn‹«.
2 Für diese tautologische Grundformel vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 143.
3 In meinem Beitrag arbeite ich mit dem von Nicola Lauré Al-Samarai entworfenen Begriff der
›Entnennung‹, um auf den komplexen Prozess der Dehistorisierung, Depolitisierung und
Dethematisierung von Weißsein und rassialisierter Differenz zu verweisen. Siehe dazu den
Beitrag von Lauré Al-Samarai in diesem Band.
4 Fanon: Peau noir, masques blancs, S. 7.
5 Barthes: Mythen des Alltags, S. 147.
6 Der Begriff ›Rasse‹ (lat. ratio ›Ordnung, Kategorie, Spezie‹) tauchte zuerst im Zusammenhang
mit der Klassifizierung von Tier- und Pflanzenarten auf. Er bezeichnete Gruppen, die sich von
anderen derselben Art durch konstante und vererbbare Merkmale unterscheiden. 1684 benutzte
der französische Arzt und Reisende François Bernier erstmals den Schlüsselbegriff »Rasse« zur
Unterteilung der Menschheit. Nach Deutschland kam der Begriff ›Rasse‹ 1775 durch Immanuel
Kant. Von Anfang an ging die Klassifizierung von Menschen nach ›Rassen‹ mit biologistischen
Verallgemeinerungen, Verabsolutierungen, Wertungen und Hierarchisierungen einher. Für eine
gute Zusammenfassung der Konstituierung der biologischen Kategorie »Rasse« vgl. etwa:
Geiss: »Rassismus«.
7 Vgl. Memmi: Rassismus, S. 164-178.
8 Fanon: Die Verdammten dieser Erde, S. 34. Markierte Übersetzungsänderung von mir.
9 JanMohamed: Manichean Aesthetics, S. 4
10 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 5.
11 Vgl. Memmi: Rassismus, S. 164-178.
12 Vgl. ebenda, S. 164-178. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit
Rassialisierungsprozessen, vgl. auch: Eggers: Rassifizierung und kindliches Machtempfinden,
bes. S. 73-124.
13 Eine Vielzahl von Begriffen, die in der Alltagssprache und zum großen Teil auch in
Schulbüchern und Wörterbüchern unkritisch Verwendung finden, basieren auf der
Grundannahme der Existenz menschlicher »Rassen«, dazu zählen neben dem N-Wort, u.a.
Begriffe wie »Mohr«, »Farbige«, »Mischling«, »Mulatte«, »Bastard«, »Stamm«, »Ethnie«,
»Häuptling«, »Eingeborene«, »Busch«, »Buschmann«, »Hottentotten«, »Pygmäe«, »Kaffer«,
»Hamit«, »Schwarzafrika«, »schwarzer Kontinent«, »Naturvölker«, »Naturreligion«. Vgl. dazu
Arndt & Hornscheidt (Hrsg.): Afrika und die deutsche Sprache; Kilomba: »›Dont’ you call me
Neger!‹«.
14 Vgl. Knußmann: Vergleichende Biologie des Menschen. 1998 erschien ein Buch mit
ausführlicheren Beiträgen zur Humanbiologie in Hamburg, vgl. Deine Knochen – deine
Wirklichkeit; ein Jahr später sind die Beiträge einer kritischen Ringvorlesung zur
Humanbiologie, die im Sommersemester 1997 in Hamburg stattfand, publiziert worden, vgl.
Kaupen-Haas & Saller (Hrsg.): Wissenschaftlicher Rassismus. Dass dieser von Knußmann
vertretene Ansatz aber kein Einzelfall in der deutschen Wissenschaftslandschaft ist, stellte jüngst
Prof. Andreas Elepfandt von Institut für Biologie in der Humboldt-Universität zu Berlin unter
Beweis, der in einer Lehrveranstaltung im Wintersemester 2004/2005 nicht nur die These von
der Existenz menschlicher »Rassen« lehrt, sondern auch rassentheoretische Intelligenztheorien
verteidigt haben soll. Er soll Studierenden, die ihn als Rassist bezeichneten, gedroht haben,
gegen sie juristisch vorzugehen. Quelle: OFFENER BRIEF der Studierenden.
15 Vgl. z.B. Cavalli-Sforza & Cavalli-Sforza: Verschieden und doch gleich; Dies.: The Great
Human Diasporas; Olson: Herkunft und Geschichte des Menschen.
16 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 2.
17 Guillaumin: Racism, Sexism, Power and Ideology, S. 107.
18 Raman: »The Racial Turn«, S. 255.
19 Shankar Raman hat 1995 den methodologischen Begriff des ›racial turn‹ in wenigen Sätzen
entworfen. In meiner Arbeit zu Weißsein habe ich diesen Begriff aufgegriffen und dabei
theoretisch ausdifferenziert und erweitert, vgl. dazu z.B.: Arndt, Susan: »Weißsein – zur Genese
eines Konzepts. Von der griechischen Antike zum postkolonialen ›racial turn‹.«; Arndt: »The
Racial Turn. Kolonialismus, Weiße Mythen und Critical Whiteness Studies«.
20 Diese These geht auf Aimé Cesaire zurück und ist später auch von (westlichen) Intellektuellen
wie Hannah Arendt (Elemente und Ursprünge) und Robert Young (White Mythologies)
aufgegriffen worden. Theoretisch ausdifferenziert behandelt wird diese Forschungsperspektive
etwa bei Enzo Traverso (Moderne und Gewalt), Zimmerer (»Die Geburt des ›Ostlandes‹ aus
dem Geiste des Kolonialismus«), Plumelle-Uribe (Weiße Barbarei) oder Madley (»From Africa
to Auschwitz«).
21 Vgl. auch: Wollrad: Weißsein im Widerspruch.
22 Hall: »Die Frage der kulturellen Identität«, S. 217.
23 Clifford und Gilroy haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, den der Diaspora tradiert
eingeschriebenen Begriff der »roots« um den Begriff der »routes« zu ergänzen, der den Aspekt
des historischen Gewordenseins und Werdens der diasporischen Identität in sich trägt. Dieser
Ansatz kann auch auf prinzipiell auf die Konstituierung von Schwarzen Identitäten übertragen
werden (vgl. Clifford: Routes; Gilroy: The Black Atlantic).
24 hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 204.
25 Vgl. dazu den Reader: Roediger (Hrsg.): Black on White.
26 Aidoo: Our Sister Killjoy, S. 12.
27 Ebenda, S. 12-13.
28 Ebenda, S. 76.
29 Ebenda, S. 13-16.
30 Vgl. dazu: Roediger (Hrsg.): Black on White. James Baldwin und Toni Morrison sind wichtige
literarische Repräsentant/innen dieser literarischen Strömung. Vgl. Baldwin: Giovanni’s Room;
Ders. »On Being ›White‹«; Morrison: Jazz; Dies.: Song of Solomon; Dies.: The Bluest Eye. Für
den bundesdeutschen Kontext vgl. jüngst: Piesche, Küppers, Ani & Alagiyawanna-Kadalie
(Hrsg.): May Ayim Award und dazu: Piesche: »Identität und Wahrnehmung«.
31 Vgl. etwa Fanon: Peau noire, masques blancs; Memmi: Portrait.
32 Morrison: Playing in the Dark, S. 90. Hier entwickelte sie Thesen weiter, die sie bereits in
einem früheren Aufsatz entwickelt hatte, vgl. Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«.
33 Stowes Aufsatz »Uncolored People« sowie Fisher Fishkins bibliographisches Essay
»Interrogating ›Whiteness‹« geben einen ersten Einblick in die Genese der Whiteness Studies.
34 Braidotti & Griffin: »Whiteness and European Situatedness«.
35 Vgl. etwa: Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe Bekennen; Schultz: »Kein Ort nur für uns
allein«.
36 Vgl. hooks: »Representations of Whiteness«; Frankenberg: White Women, Race Matters;
Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«.
37 Vgl. Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 88; Dies.: »Soziale Konstruktion von
Weiß-Sein«.
38 Diesen Hinweis verdanke ich Ohad Parnes und Robert Stockhammer, vgl. dazu ausführlich:
Arndt: »›The Racial Turn‹«.
39 Barthes: Mythen des Alltags, S. 141.
40 Vgl. hooks: »Representations of Whiteness«, S. 167-168.
41 Yancy: »Introduction«; McIntyre: Making Meaning of Whiteness, S. 13.
42 Morrison: Playing in the Dark, S. 9-10.
43 Ebenda.
44 Vgl. Stowe: »Uncolored People«, S. 68.
45 Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347.
46 Jones: »The impairment of empathy«, S. 72; vgl auch: Thagard & Barnes: »Empathy and
analogy«.
47 Dagmar Schultz hat die kritische Auseinandersetzung mit dem weißen deutschen Feminismus
bereits zu Beginn der 1990er Jahre angestoßen, vgl. etwa: Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«;
Dies.: »Unterschiede zwischen Frauen«. Vgl. auch: Rommelspacher: »Das Selbstverständnis des
weißen Feminismus«; Gutiérrez Rodríguez: »Frau ist nicht gleich Frau«; Broeck: »Wird der
weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«; Dietze: »Wie viel ›Race‹ ist in den
Gender Studies«.
48 Jones: »The impairment of empathy«, S. 73.
49 Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 349. Vgl. auch: Roediger: Towards the
Abolition of Whiteness.
50 Vgl. Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347-348.
51 Yancy: »Introduction«, S. 8-9.
52 Ebenda, S. 17. Vgl. auch »One can cease to cooperate with structures of white power, cease to
perform white racist acts; and hence, help to dismantle structures of white power. Whites must
come to see how they have become seduced by whiteness, and how they make choices based
upon that seduction … Although I reject the notion of racialized whiteness as an actual entity
that constitutes an ontological substratum, a fixed essential thing that makes whites into
naturally occurring racial kinds, it does not follow that whiteness is not devoid of reference«
(ebenda S. 9, 14).
53 Jäger: Kritische Diskursanalyse, S. 129.
54 Vgl. etwa: Garvey & Ignatiev: »Toward a New Abolitionism«, S. 347-348.
55 Vgl. Ignatiev: How the Irish Became White; Jacobsen: Whiteness of a Different Color;
Guglielmo & Salerno: Are Italians White.
56 Vgl. zur diesbezüglichen Interpretation der ›Verkafferung‹ etwa: Axter: »Die Angst vor dem
›Verkaffern‹«; Walgenbach: »Zwischen Selbstaffirmation und Distinktion«; auch ihr Aufsatz in
diesem Band.
57 Schnee: »Verkafferung«, S. 606.
58 Vgl. Roediger: »Toward Nonwhite Histories«, S. 144-146. Inwiefern dabei auch noch
innereuropäische Machtkonstellationen sowie die Hegemonie der englischen Sprache zum
Tragen kam, obliegt einer weiterführenden Forschungsfrage, der hier nicht nachgegangen
werden kann.
59 In diesem Rahmen kann das Problem der Konstruktion und Erfindung von Nationen, auch und
gerade als Macht- und Herrschaftsfaktoren, nicht erörtert werden, vgl. aber: Anderson: Imagined
Communities.
60 Vgl. Roediger: »Toward Nonwhite Histories«, S. 144, meine Abkürzung des N-Wortes im Zitat.
61 Ebenda, S. 144.
62 Vgl. ebenda.
63 Vgl. etwa Deutschlands ›Nationendichter‹ Johann Gottlieb Fichte und Ernst Moritz Arndt.
64 Yancy: »Introduction«, S. 8.
65 Vgl. Smith McKoy: When Whites Riot.
66 Vgl. Krikler: White Rising.
67 Seshadri-Crooks: Desiring Whiteness, S. 4.
68 Fisher Fishkin: »Interrogating ›Whiteness‹«, S. 429.
ANETTE DIETRICH
KONSTRUKTIONEN WEIßER WEIBLICHER KÖRPER
IM KONTEXT DES DEUTSCHEN KOLONIALISMUS
Der Körper stellt einen zentralen Bezugspunkt für den weißen deutschen
Feminismus dar. In den feministischen Kämpfen um mehr
Selbstbestimmung spielt(e) der weibliche Körper eine wichtige Rolle Dabei
wurde der Begriff der ›Kolonisierung‹ der Frau oder des weiblichen
Körpers verwendet – ohne dabei natürlich den (deutschen) Kolonialismus
mitzudenken.[1] Dieser Zusammenhang soll im Folgenden hergestellt
werden:
Zunächst geht es in diesem Artikel um den weiblichen Körper innerhalb
der (weißen) feministischen Theoriebildung. Im Anschluss beschreibe ich
den Körper als Ort der Einschreibung kolonisierender und rassifizierender
Praxen, um die Konstruktion weißer Körperkonzepte im Kontext des
Kolonialismus nachzuvollziehen. Dabei richte ich den Blick vor allem auf
Diskurse der Ersten Frauenbewegung im Deutschen Reich und deren
Beteiligung an der Konstruktion weißer Körperlichkeit.
Die Frauenbewegung kritisierte die Reduzierung von Frauen auf ihren
Körper. Zugleich blieb der Körper ein wichtiger Ort, Weiblichkeit,
Sexualität, das ›Private‹ politisch zu besetzen und positiv umzudeuten. Die
Geschlechterdifferenz war dabei positiver Bezugspunkt und der Körper
wurde in seiner differenten Materialität zunächst biologisch vorausgesetzt.
›Körper‹ werden in der feministischen Forschung mittlerweile u.a. im
Anschluss an Foucault politisiert und historisiert.[2] Die Materialität des
Körpers steht damit zur Disposition, die biologistische Grundlage wird dem
Körper entzogen. Die Materie des Körpers gilt in dekonstruktivistischen
Theorien als von Herrschaftsmechanismen durchzogen und geformt, sie
stellt eine Wirkung von Machtdynamiken dar. Es sind »die regulierenden
Normen des ›biologischen Geschlechts‹, die in performativer
Wirkungsweise die Materialität der Körper konstituieren und, spezifischer
noch, das biologische Geschlecht des Körpers, die sexuelle Differenz im
Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs
materialisieren.«[3] Auffällig in der beschriebenen Historisierung und
Politisierung des Körpers jedoch ist das Verharren bei der
Geschlechterdifferenz: Problematisiert wird insbesondere die Produktion
der gesellschaftlichen Zweigeschlechtlichkeit, der daran gebundenen
vereindeutigten Geschlechtsidentitäten sowie die zugrundeliegende
heteronormative Matrix. Diese Prioritätensetzung zieht weitreichende
Verdrängungen, Ausschlüsse, und ›weiße Flecken‹ in der feministischen
Theoriebildung nach sich. Der weiße Feminismus geht mit der
Privilegierung der Kategorie Geschlecht davon aus, dass es
gesellschaftliche Bereiche gibt, die nicht rassistisch codiert und markiert
sind, sondern nur von der Geschlechterdifferenz – die so als weiße gesetzt
wird – als elementar zugrundeliegender gesellschaftlicher Struktur geformt
sind. Weißsein bleibt damit unmarkiert und wird nicht als Positionierung
innerhalb einer rassifizierten Gesellschaftsstruktur betrachtet.[4] Körper
werden selten im Zusammenhang rassifizierender[5] Praxen gesehen: so
lange es sich um den weißen Körper handelt.[6] Schwarze Körper werden
als sexualisiert und rassifiziert analysiert, während der weiße (weibliche)
Körper lediglich als sexualisiert betrachtet wird.[7] Der weiße Körper ist
dabei scheinbar farblos und nicht rassifiziert: er bleibt unmarkiert, die
unangetastete Norm, das definierende Zentrum. So reproduziert die
feministische Forschung mit der Fokussierung auf die Kategorie Geschlecht
die Annahme, weiße Körper seien die Norm und der Andere Körper die
Devianz. Ausgeblendet wird dabei die Positionierung als Weiße in einer
postkolonialen Gesellschaftsformation. Eske Wollrad kritisiert diese
Ausblendungen der Genderforschung, in der Weißsein als Positionierung
diskursiv ausgelöscht wird und die von einem Rassismus ohne handelnde
Subjekte ausgeht. »Die Unterschlagung dieser Fabrikation als Produkt der
eigenen partikularen und innerhalb der Matrix rassistischer Dominanz
privilegierten Position ermöglicht es den Weißen Forschenden […], sich
selbst als objektiv Analysierende und neutral Außenstehende zu
platzieren.«[8] Zwar hat sich die Einsicht in die Differenzen unter Frauen
mittlerweile durchgesetzt - different sind allerdings immer nur die
›Anderen‹. Dass Deutschland, und damit auch weiße deutsche
Feministinnen eine Kolonialgeschichte haben, bleibt meist ausgeklammert
bzw. ignoriert[9] – der deutsche Kolonialismus ist nach wie vor nicht im
gesellschaftlichen Wissen präsent.[10] Der in Deutschland noch
vorherrschende Blick auf die Konstruktion von Fremdheit und des
›Anderen‹ schreibt Fremdheit fort und lässt die Subjekte des Rassismus
unmarkiert. Weiße sind jedoch ebenso von rassistischen Strukturen geprägt:
Auch Weißsein ist eine ›Rassenkonstruktion‹. Hier zeigt sich, wie wichtig
ein Perspektivenwechsel für den deutschen Kontext ist, der u.a. von Critical
Whiteness-Ansätzen eingefordert wird, um eine »stubborn white
identity«[11] auch in der deutschen feministischen (Gender-)Forschung zu
verändern. Dabei geht es auch darum, sich als weiße Wissenschaftlerin mit
in den Prozess einzubeziehen, die eigenen Rassismen aufzuspüren, eigene
Gewissheiten zu dekonstruieren und das eigene Weißsein für sich sichtbar
zu machen.
Die Unsichtbarkeit von Weißsein für Weiße verschleiert und sichert
zugleich Macht und die daran geknüpften Privilegien.
Bei der Beschäftigung mit whiteness ergibt sich nicht nur die Schwierigkeit, daß sich der weiße
Körper als Norm hartnäckig der Betrachtung und somit einem kritischen Diskurs entzieht, sondern
daß whiteness nur implizit zu existieren scheint, das heißt, daß ihre Qualität nur im Kontrast zu
dem in Erscheinung tritt, was sie nicht ist.[12]
Auch Toni Morrison verweist auf die zentrale Bedeutung Schwarzer
Repräsentation für die Konstruktion weißer Identität.[13] Eine koloniale
Bilderwelt schwingt in den Repräsentationen von Weißsein immer mit.
Richard Dyer warnt jedoch davor, das nicht-weiße Subjekt nur in dessen
Funktion für das weiße Subjekt zu betrachten. »Yet this emphasis has also
worried me, writing from a white position. If I continue to see whiteness
only in texts in which there are also non-white people, am I not reproducing
the relegation of non-white people to the function of enabling me to
understand myself?« In seiner Untersuchung weißer Repräsentationen im
Film versucht er, das Andere nicht nur als unbekanntes, »forbidden self«
weißer Identität zu Grunde zu legen, denn »it is not the whole story and
may reinforce the notion that whiteness is only racial when it is ›marked‹ by
the presence of the truly raced, that is, non-white subject.«[14] Die
Konstruktionen weißer Repräsentationen finden sich demnach auch ohne
Nicht-Weiße. Dennoch bleibt die koloniale Bilderwelt – auch ohne direkte
Bezugnahme – als zentraler Entstehungskontext weißer Identität in sie
eingeschrieben.
DEUTSCHLAND (POST)KOLONIAL
Insbesondere Schwarze deutsche Feministinnen begannen Mitte der 1980er
Jahre, aktuelle Rassismen und Stereotypen von Schwarzen (Frauen) in den
Kontext der kolonialen Vergangenheit Deutschlands zu stellen und damit
eine postkoloniale Perspektive zu eröffnen.[27] Dies steht im
Zusammenhang mit den Rassismusdebatten innerhalb der Frauenbewegung,
in denen der Feminismus westlicher Prägung als Interessensvertretung der
weißen bürgerlichen Frau kritisiert wurde. Schwarze Frauen, Migrantinnen
und Women of Color thematisierten den kolonisierenden,
universalisierenden und ausgrenzenden Gestus weißer Feministinnen, die
die eigene Verstricktheit in Herrschaftsverhältnisse und ihren Profit daran
durch einen entlastenden Opferdiskurs ausblendeten und verdrängten.
Der deutsche Kolonialismus stellt ein Strukturierungspotential für die
deutsche Moderne, die Herausbildung des deutschen Nationalstaates und
die Vorstellung eines nationalen homogenen weißen Raumes dar. Der
Kolonialismus bot eine Folie für die Konstruktion nationaler Identität,
insbesondere für entstehende ›Rassediskurse‹ in Deutschland. Er schlug
sich im gesellschaftlichen Selbstverständnis nieder; und damit auch in der
deutschen Frauenbewegung.
Unter Frauen(-verbänden) dominierte eine breite Unterstützung des
Kolonialismus.[28] Frauen engagierten sich auf unterschiedlichen Ebenen
für den Kolonialismus und wollten die Kolonien mit aufbauen und
gestalten.[29] Nicht nur für nationalistische, konservative und
kolonialbegeisterte Frauen(verbände) stellten die Kolonien einen wichtigen
Bezugspunkt ihrer Aktivitäten dar, auch für Feministinnen dienten die
Kolonien als Projektionsfläche für – im Deutschen Reich bislang
fehlgeschlagene – Emanzipationsphantasien für weiße Frauen.[30]
Diskurse der Frauenbewegung im Deutschen Reich wurden bislang
kaum im Kontext von Kolonialdiskursen des imperialen Deutschen Reichs
betrachtet. Selbst in der expliziten Beschäftigung mit Rassismus in der
deutschen Frauenbewegung finden sich selten Bezüge auf den deutschen
Kolonialismus.[31] Wie überschneiden sich Diskurse über Sexualität und
Körperlichkeit mit kolonialen Praxen? Wie haben Diskurse der
Frauenbewegung dazu beigetragen, Vorstellungen von weißer
Körperlichkeit zu prägen?
WEIßE KÖRPERKONZEPTE
Neben dem Kolonialismus und Rassismus benennt Richard Dyer als drittes
konstitutives Element des weißen Körpers das Christentum. Diese Elemente
geben dem Denken und Fühlen des weißen Körpers nicht nur ein
theoretisches Gerüst, »but also their forms and structures, the cultural
register of whiteness.«[32] Der Körper stellt ein zentrales Konzept für das
Christentum dar. Der darin konzeptionierte Dualismus zwischen Körper und
Geist verdammt den Körper als minderwertig und schwach, während der
Geist nach Reinheit und Transzendenz strebt. Der christlich konzeptionierte
Körper geht also über den Körper hinaus, es findet sich etwas darin, »that is
in the body but not of the body.«[33] Der Geist verleiht die Möglichkeit,
den Körper zu transzendieren.
Dieser Dualismus ist auch für den christlichen bürgerlichen
Geschlechterdiskurs zentral, wobei den Geschlechtern dabei
unterschiedliche Verhältnisse zu ihrem Körper und Geist zugesprochen
werden. Während weiße Männlichkeit um das Verhältnis zwischen Körper
und Geist ringt – wie auch später im Kontext der Auseinandersetzungen um
die so genannte ›Rassenmischung‹ in den Kolonien zu sehen ist – ist die
komplementäre (passive) weiße Weiblichkeitskonstruktion von triebhafter
Körperlichkeit, Begehren und Sexualität bereinigt. Körper verfügen also
eine unterschiedliche ›geistige‹ Qualität, die Dyer als zentral für die
Konzeptionierung von Differenzen – vergeschlechtlichte und rassifizierte –
erachtet. [34] »All concepts of race, emerging out of eighteenth-century
materialism, are concepts of bodies, but all along they have had to be
reconciled with notions of embodyment and incarnation. The latter become
what distinguish white people, giving them a special relation to race.«[35]
Schwarze Menschen werden in rassistischen Kontexten u.a. auf ihren
Körper und ihre ›Rasse‹ reduziert, während Weiße über ihre ›Rasse‹, über
ihren Körper hinausgehen, transzendieren können. »Above all, the white
body could both master and transcend the white body, while the non-white
soul was a pry to the promptings and fallibilities of the body.«[36]
Heterosexualität ist dabei zentrales Konzept zur Reproduktion der
imaginierten weißen ›Rasse‹, zugleich gefährdet es sie jedoch. Die weiße
Frau erweist sich als eine instabile Basis für die Reproduktion der weißen
›Rasse‹ dar, daher ist ihre Position stark symbolisch aufgeladen. »Die
›Frau‹ verkörpert auf ambivalente Weise das Bedrohungs- und
Produktivitätspotential der Moderne.«[37] Da diese Grenze an den
Machterhalt geknüpft ist, stellt sie einen Knotenpunkt weitreichender
Ängste, aber auch von Begehren dar.[38] Dies verdeutlicht sich in einer
Tabuisierung der so genannten ›Rassenmischung‹ und der deutschen
›Rassenpolitik‹. Die so genannten ›Mischehendebatten‹ spielten eine
zentrale Rolle in der (kolonialen) ›Rassenpolitik‹.[39] In den
Mischehendebatten ging es u.a. darum, eine weiße Vorherrschaft und Macht
in den Kolonien zu sichern und klare Grenzen zwischen Schwarz und weiß
zu ziehen. ›Mischehen‹ wurden in den Kolonien schließlich verboten bzw.
bereits geschlossene Ehen annulliert.[40] Bevölkerungs- und
>rassen<politische Fragen verbanden sich mit einer Regulierung von
männlicher Sexualität.[41] Hier deutet sich ein Zusammenhang mit den
Geschlechter- und sexualpolitischen Debatten um Sittlichkeit im Deutschen
Reich an.
Der Widerspruch im weißen Körperkonzept liegt nach Dyer in der
Notwendigkeit der Reproduktion: Körperlichkeit und Sexualität als den
rassifizierten Anderen von Weißen zugeschrieben ist notwendig für die
eigene Reproduktion.[42] »Whites must reproduce themselves, yet they
must also control and transcendent their bodies. Only by (impossibly) doing
both can they be white.« Dies stellt nach Dyer die weiße Körperkontrolle
und Transzendenz in Frage, denn »the means of reproducing whiteness are
not themselves pure white.«[43] Die Angst vor einer ›Rassenmischung‹
verweist auf den möglichen Verlust von Weißsein, der machtvollen,
privilegierten gesellschaftlichen Position. Die ›Mischehendebatte‹ eröffnete
einen Deutungsraum für Ängste des politischen Kontrollverlusts und für
Untergangsphantasien.
Frauenverbände entwickelten sich zu erbitterten Gegnern von
›Mischehen‹. In der ›Mischehenfrage‹ standen Konzepte bürgerlicher
Sexualmoral gegen grundsätzliche bevölkerungspolitische,
›rassenpolitische‹ Ziele. Durch die ›Mischehenverbote‹ in den Kolonien
wurde erstmals ein Verhaltenskodex für Männer im Sinne einer
›Rassenmoral‹ erlassen.[44] Die ›Mischehendebatte‹ bewegte sich damit im
Widerstreit zwischen rassistischer Ideologie und bürgerlich-christlicher
Moral – dem Schutz der Institutionen Ehe und Familie – sowie zwischen
Appellen an das ›Rasseempfinden‹ und dem von Männern reklamierten
Recht auf sexuelle Freiheit.
Innerhalb der Debatten um die Problematik der ›Mischehen‹ erlangte das
Postulat der ›Rassenreinheit‹ Priorität vor der Einheit der Familien und zog
eine gesellschaftliche Eingrenzung männlicher Sexualität nach sich. Diese
Priorität konnte sich jedoch in der Reichsgesetzgebung nicht durchsetzten,
sondern blieb auf die Kolonien beschränkt: Im Konflikt zwischen
männlicher sexueller Autonomie und einer ›reinen weißen Rasse‹ setzte
sich zunächst die bürgerlich-patriarchale Geschlechterordnung durch.
Themen der von der heterogenen Frauenbewegung geführten
Sittlichkeitsdebatten erwiesen sich auch für die Kolonien als Bedeutsam.
Diskurse um Hygiene, weiblicher (weißer) Kultur und Sittlichkeit trugen zu
einer Distinktion und Herstellung weißer Überlegenheit und Zivilisation
bei. Die Sittlichkeitsdebatten, so zeigt sich im Folgenden, korrespondierten
mit den ›Mischehendebatten‹ im kolonialen Kontext.
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ANMERKUNGEN
1 In patriarchatskritischen Texten wurde häufig von der ›Kolonisierung der Frau‹ im ›Patriarchat‹
geschrieben und Frauen als gleichermaßen unterdrückt wie ›Natur‹ und ›Kolonisierte‹ begriffen,
z.B. in einem Aufsatz von 1991: Albrecht-Heide: »Militär und Patriarchat«, S. 111.
Insbesondere in vom Ökofeminismus beeinflussten Debatten wurden Sexismus und Rassismus
als Herrschaftsverhältnisse gleichgesetzt. Die Ausbeutung und Unterwerfung der Kolonien und
der Frau unterstehen demnach derselben Herrschaftslogik, in der die Frau zum universalen
Patriarchatsopfer stilisiert wird. Diese Gleichsetzung blendet aus, dass auch weiße Frauen in
einem (rassistischen) Herrschaftsverhältnis positioniert und privilegiert sind. Vgl.
Rommelspacher: »Fremd- und Selbstbilder«, S. 35. Zur Thematisierung des Körpers in
feministischen Kontexten vgl: Villa: Sexy Bodies, S. 53-55.
2 Vgl. Schwerpunktheft der Femina politica 8.2(1999).
3 Butler: Körper von Gewicht, S. 22.
4 So z.B. in der feministischen Psychoanalyse, die vielfach die sexuelle Differenz allem Sprechen
als Grammatik zugrundelegt und die sexuelle Differenz damit als elementarer ansieht als eine
rassifizierende Markierung. »Dieses Geltendmachen des Vorrangs der sexuellen Differenz vor
der rassischen Differenz hat den psychoanalytisch geprägten Feminismus in weiten Teilen als
weißen Feminismus ausgewiesen, denn hier wird nicht nur davon ausgegangen, daß die sexuelle
Differenz grundliegender ist, sondern daß es eine ›sexuelle Differenz‹ genannte Beziehung gibt,
die selbst von der Markierung durch Rasse frei bleibt. Daß das Weißsein von einer solchen
Perspektive nicht als eine rassische Kategorie verstanden wird, ist eindeutig; es ist noch eine
weitere Macht, die ihren Namen nicht zu nennen braucht. Zu behaupten, die sexuelle Differenz
sei grundlegender als die rassische Differenz, bedeutet letzten Endes, davon auszugehen, daß die
sexuelle Differenz eine weiße sexuelle Differenz ist und daß das Weißsein keine Form einer
rassischen Differenz ist.« Ebenda, S. 251.
5 ›Rassifizieren‹ begreife ich als einen Prozess des Markierens über ›Rassenkonstruktionen‹.
Auch in neueren Entwürfen von Körper und Leib ist die Rassifizierung nur selten berücksichtigt.
6 Zu einem Überblick aktueller Forschung über Körpertheorien siehe die Sammelrezension von:
Ellerbrock: »Körper-Moden«.
7 In den folgenden Abschnitten greife ich Ansätze auf, die die Rassifizierung von Körpern
berücksichtigen bzw. die Privilegierung der Kategorie Geschlecht in Frage stellen.
8 Wollrad: »Körperkartographien«, S. 192.
9 Auch wenn es mittlerweile einige Arbeiten über weiße deutsche Frauen im Kolonialismus gibt,
bleibt das Wissen darum marginal und spielt keine Rolle in der Analyse gegenwärtiger
gesellschaftlicher Verhältnisse. Vgl. Mamozai: Schwarze Frauen, Walgenbach: »Rassenpolitik
und Geschlecht«, Wildenthal: German Women
10 Insbesondere im Gedenkjahr 2004 zum 120. Jahrestag der Berliner Afrikakonferenz, bei der
Afrika unter den europäischen Kolonialmächten ›aufgeteilt‹ wurde, erlangte der deutsche
Kolonialismus erstmals breitere öffentliche Aufmerksamkeit. Es stellt sich jedoch die Frage,
inwieweit dieses Gedenken an die Jahrestage gebunden ist und ob jenseits dieser Gedenktage
das gesellschaftliche Wissen um eine deutsche Kolonialherrschaft und deren Folgen präsent
bleibt.
11 Wildenthal: German Women, S. 151.
12 Rosenthal: »Die Kunst des Errötens«, S. 98.
13 Vgl. Morrison: Playing in the Dark. Toni Morrison bezieht sich hierbei auf den US-
Amerikanischen Kontext, insofern wäre zu fragen, wie dieser Schwarz-weiß-Dualismus auf den
deutschen Kontext zu übertragen wäre. Vgl. Fußnote 42.
14 Dyer: White, S. 13-14.
15 Hall: »Wann war ›das Postkoloniale‹?«, S. 231.
16 Zur Verknüpfung moderner Geschlechterverhältnisse mit Rassekonstruktionen siehe Zantop:
Kolonialphantasien, S. 15, Stoler: Race, S. 27. Pascal Grosse betont, dass es jedoch keine
geradlinigen Verbindungen eugenischer Diskurse zur kolonialen Politik und Praxis gibt, sondern
dass es eher ambivalente, spezifische Berührungspunkte sind. Grosse: Kolonialismus, S. 41.
17 Wollrad: »Körperkartographien«, S. 184.
18 Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, S. 87.
19 Dies wird z.B. in Studien über die so genannte ›Hottentottenvenus‹ Saartje Baartman, deren
angeblich überdimensionierten Geschlechtsmerkmale präpariert und ausgestellt wurden,
deutlich.
20 El Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 152-153.
21 Deutlich auch in den rassistischen Hetzkampagnen zur ›Schwarzen Schmach‹ am Rhein, die
sich gegen den Einsatz Schwarzer Kolonialtruppen Frankreichs bei der Besetzung des
Rheinlandes im Zuge des Ersten Weltkrieges wandten. Zentral war in den Kampagnen das Bild
der weißen deutschen Frau als Opfer von Vergewaltigungen und sexueller Übergriffe seitens der
Schwarzen Soldaten. Vgl. El Tayeb: Schwarze Deutsche.
22 Dyer: White, S. 26.
23 Ebenda, S. 39.
24 Yuval-Davis: Geschlecht und Nation, S. 79.
25 Jansen: Schädlinge, S. 13.
26 Vgl. Dietrich: »Konzepte«.
27 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe bekennen.
28 Dazu Mamozai: Schwarze Frau, S. 212-218.
29 Wildenthal: German Women, Mamozai: Schwarze Frau. Die deutsche Kolonial- und
›Rassen‹politik gestaltete sich in den verschiedenen Kolonien jedoch unterschiedlich. Das
kolonisierte ›Deutsch-Südwestafrika‹, heute Namibia, war die einzige Siedlungskolonie und
stellte daher Hauptbezugspunkt kolonialer Debatten dar. Daher beziehe ich mich im Folgenden
vor allem auf ›Deutsch-Südwestafrika‹.
30 So engagierte sich Minna Cauer, eine zum radikalen Flügel der Frauenbewegung gezählte
Feministin, bereits Ende der 1890er Jahre für die Auswanderung weißer Frauen in die Kolonien
und erhoffte sich eine Möglichkeit, über den Kolonialismus Fragen der Berufstätigkeit
bürgerlicher weißer Frauen und der gesellschaftlichen Stellung von weißen Frauen generell neu
zu verhandeln. Zudem existieren personelle und organisatorische Überschneidungen zwischen
der bürgerlichen Frauenbewegung, z.B. des Bund Deutscher Frauenvereine und dem
Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft. Vgl. Dietrich: »Konstruktionen«, Wildenthal:
German Women, S. 131-171.
31 Encarnatíon Gutiérrez Rodríguez kritisiert zudem, dass im deutschen Kontext kein Bezug
zwischen postkolonialen Theorien und antirassistischer Kritik und Schwarzem Feminismus
hergestellt wird. Damit bleiben postkoloniale Ansätze meist dekontextualisiert. Gutiérrez
Rodríguez: »Fallstricke des Feminismus«.
32 Dyer: White, S. 14.
33 Ebenda.
34 Das Christentum ist Dyer zufolge jedoch nicht grundsätzlich weiß. Jedoch rassifizierten schon
die Kreuzfahrer das Christentum, der manichäische Dualismus zwischen schwarz und weiß ist
eine zentrale Grammatik für die christliche Religion.
35 Ebenda.
36 Ebenda, S. 23.
37 Bublitz: »Einleitung«, S. 14.
38 Vgl. Young: Colonial Desire.
39 Walgenbach: »Rassenpolitik und Geschlecht«, S. 165. In der ›Mischehenfrage‹ ging es vor
allem um den Status der Nachkommen aus ›Mischehen‹ zwischen weißen Männern und
Schwarzen Frauen aus den Kolonien. Da die Staatsangehörigkeit nach dem Prinzip des ius
sanguinis über den deutschen Vater bestimmt wurde, eröffneten ›Mischehen‹ für diese
Nachkommen die Möglichkeit, deutsche Bürger zu werden. Männliche Kinder aus ›Mischehen‹
waren aus juristischer Sicht wehrpflichtig und fähig, öffentliche Ämter zu erlangen. Die weiße
Vorherrschaft in den Kolonien, aber auch im Reich, schien gefährdet und es wurde versucht,
diesem ›Problem‹ gesetzlich zu begegnen.
40 Dabei gibt es Unterschiede zwischen denverschiedenen deutschen Kolonien. Das Kolonialrecht
annullierte in Deutsch-Südwestafrika Ehen, die vor 1905 geschlossen worden waren, ab 1908
konnten Männer, die mit afrikanischen Frauen verheiratet waren oder offen zusammenlebten, die
bürgerlichen Ehrenrechte verlieren: Es drohte der Entzug des Wahlrechts, Grundbesitz konnte
nicht mehr erworben werden, eine Folge konnte auch der Ausschluss aus Vereinen und dem
Sozialleben in den Kolonien sein. Gerade im rechtlichen Bereich wird eine Rückwirkung der
kolonialen auf die deutsche Gesellschaftsordnung deutlich: Im Zuge der ›Mischehendebatten‹
versuchte die Kolonialverwaltung ›rassische‹ Kriterien in einer Neufassung der
Staatsangehörigkeit zu verankern. Die Kolonialverwaltung war bestrebt, systematisch
›rassische‹ Kategorien in das Gefüge der deutschen Gesellschaftsordnung einzupassen. Als eine
(wenn auch umstrittene) Lösung der ›Rassenmischung‹ in den Kolonien setzte sich zunehmend
die Einwanderung weißer Frauen durch – sowohl von Frauenverbänden als auch in den
Kolonialverbänden.
41 Dazu Kundrus: Moderne Imperialisten, Grosse: Kolonialismus, El Tayeb: Schwarze Deutsche.
42 Dyer bezieht sich in seiner Untersuchung auf den US-Amerikanischen Kontext. Daher müsste
für die Analyse von Weißsein und weißer Körperkonzepte im deutschen Kontext u.a.
Antisemitismus, Antislawismus und Orientalismus stärker einbezogen werden. Eine Analyse zu
deren Verhältnis und Wirkungsweise untereinander steht jedoch noch aus.
43 Dyer: White, S.30.
44 Die ›Mischehenverbote‹ verhinderten die staatsbürgerliche Gleichstellung Schwarzer Ehefrauen
weißer deutscher Männer und gemeinsamer Nachkommen, nicht aber die ›Rassenmischung‹ an
sich.
45 Grosse: Kolonialismus, S. 156.
46 Meyer-Renschhausen: Weibliche Kultur, S. 243.
47 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 273.
48 Wischermann: Frauenbewegungen, S. 87.
49 Omran: Frauenbewegung und ›Judenfrage‹, S. 135.
50 Die Sittenpolizei des Deutschen Reiches verhaftete ›verdächtige‹ Frauen auf der Straße und
konnte eine Zwangsuntersuchung auf Geschlechtskrankheiten verordnen. Diese Praxis wurde
immer wieder von Frauen(-verbänden) geschildert und skandalisiert.
51 Wischermann: Frauenbewegungen, S. 65.
52 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 290.
53 Ebenda, S. 314.
54 ›Verkaffern‹ bezieht sich auf einen zentralen kolonialen Diskurs, in dem versucht wurde, weiß
und Schwarz klarer zu definieren, Grenzen zwischen Schwarz und weiß zu ziehen und diese
Rassenkonstruktionen abzusichern. Kolonialengagierte Frauen bezogen sich auf die Gefahr des
›Verkafferns‹ des weißen Mannes um die Einwanderung von weißen Frauen mittels deren
angeblichen Kultureinfluss zu legitimieren und eine ›Verkafferung‹ – und damit der Niedergang
deutscher Kultur und weißer ›Rasse‹ zu verhindern. Vgl. Walgenbach: »Rassenpolitik und
Geschlecht«, S. 173-176.
55 Sie konnten aus dem sozialen Leben in den Kolonien ausgeschlossen werden und ihre
Bürgerrechte verlieren.
56 Grosse: Kolonialismus, S. 156.
57 Vgl. Herlitzius: Frauenbefreiung und Rassenideologie.
58 Bublitz: »Die Gesellschaftsordnung«, S. 312.
59 Vgl. Omran: Frauenbewegung und ›Judenfrage‹.
KATHARINA WALGENBACH
›WEIßSEIN‹ UND ›DEUTSCHSEIN‹ – HISTORISCHE
INTERDEPENDENZEN
AUSBLICK
In meinem historischen Rückblick habe ich lediglich eine Auswahl
wichtiger Momente deutscher Geschichte diskutieren können, die zu einem
Verständnis der Interdependenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹
beitragen. Auch fehlt es aufgrund der gebotenen Kürze an dialektischen
Momenten, an Gegendiskursen und Traditionen des Widerstands. Darüber
hinaus müssten zu einem historischen Verständnis von ›Whiteness‹ im
deutschen Kontext ganz sicher weitere Diskurse wie etwa deutsche
Versionen des Orientalismus oder Antisemitismus berücksichtigt werden.
Hier besteht noch ein großes Forschungsdesideratum. Der Artikel sollte
zunächst eine Idee davon vermitteln, wie sich in Deutschland ein
integrationsresistentes (da biologisch definiertes bzw. rassifiziertes)
Nationenkonzept etablieren konnte, das ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹ so
eng miteinander verknüpft.
Die eingangs erwähnte Verleugnung der Relevanz der Critical Whiteness
Studies für den deutschen Kontext liegt u.a. daran, dass der Begriff ›Rasse‹
heute weitgehend tabuisiert ist. Explizit möchten viele weiße Deutsche sich
von der ›Rassenideologie‹ der Nationalsozialisten absetzen. Dennoch lebt
die Idee von ›Rassen‹ weiter. Die Tabuisierung macht es für die kritischen
Whiteness Studies in Deutschland so schwierig, ihr Anliegen vorzubringen
und sich gegen angeführte Argumente zu behaupten. Doch da die Idee von
›Rassen‹ weiterhin soziale Realitäten strukturiert, ist es notwendig, sich
auch künftig mit dem Begriff zu beschäftigen. Nicht um diese Idee zu
reproduzieren, sondern um sich wirklich endgültig von ihr zu
verabschieden.[75]
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ANMERKUNGEN
1 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 46.
2 Neben den Bemühungen nachzuweisen, wie Deutschland weiß konstruiert und gehalten wurde,
sollte allerdings der Einwand von Ruth Frankenberg nicht vergessen werden, dass weiße Räume
immer nur scheinbar exklusiv weiß sind (Frankenberg: »Weiße Frauen, Feminismus und die
Herausforderung des Antirassismus«). So findet sich auch in Deutschland eine lange Tradition
Schwarzer deutscher Geschichte, welche im öffentlichen weißen Bewusstsein verdrängt wurde
und seit einigen Jahren durch die Selbstorganisation Schwarzer Deutscher und Projekte der
›Gegenerinnerung‹ präsenter werden. Vgl. Campt: Other Germans; Oguntoye, Optiz & Schultz:
Farbe bekennen; Haus der Kulturen der Welt, Campt & Gilroy: Der Black Atlantic.
3 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 29-42.
4 Eine Einschränkung im Hinblick auf EU-BürgerInnen muss an dieser Stelle allerdings gemacht
werden, denn es lassen sich in der konfliktreichen Geschichte zwischen Deutschland und Polen
durchaus Diskurse ausmachen, in denen PolInnen von der deutschen Dominanzgesellschaft
rassifiziert wurden. Es wäre allerdings eine interessante Forschungsfrage, ob und durch welche
sozialen Prozesse PolInnen mittlerweile weiß geworden sind (vgl. dazu etwa: Ignatievs: How the
Irish Became White). Des Weiteren richtete sich rechtsextreme Gewalt zum genannten Zeitpunkt
ebenfalls gegen weiße Obdachlose. Eine Politik, die mit der Ideologie des Nationalsozialismus
übereinstimmt, wie noch gezeigt werden wird.
5 Da Fragestellungen, Interpretationen und Forschungsinteressen durch die Subjektposition der
ForscherInnen beeinflusst werden (Harding: Das Geschlecht des Wissens), soll diese im
Folgenden transparent gemacht werden. Die Autorin ›spricht‹ von einer Position, welche durch
rassistische Strukturen privilegiert ist (zur Diskussion von Sprechpositionen siehe Spivak: »Can
the Subaltern Speak«; Haraway: »Situiertes Wissen«; Steyerl, Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.):
Spricht die subalterne deutsch?). Diese Position schließt eine kritische Perspektive auf weiße
Dominanz allerdings nicht aus. Vielmehr geht es um die erkenntnistheoretische Einsicht, dass
Wissensproduktion stets situiert verläuft.
6 Siehe dazu ausführlicher Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 29-34
und S. 194-209.
7 Weitere Beispiele wären die koloniale Praxis der ›Naturalisation‹ und das Phänomen des
Passing as White.
8 Im Englischen spricht man auch von ›racialized identities‹, um den Prozesscharakter von
Identitätsformationen herauszustreichen. Für die Übertragung auf den deutschen Kontext siehe
auch Müller: »White Germanness, German Whiteness«.
9 Möhle: »Die Sklavenhändler«, S. 12.
10 Vgl. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland. Vgl. dazu auch Gründer:
Geschichte der deutschen Kolonien, S. 15.
11 Zur historischen Entstehung der Idee von ›Rassen‹ siehe z.B. Geiss: Geschichte des Rassismus.
In diesem Artikel wird allerdings ein Schwerpunkt auf den wissenschaftlichen Rassismus im 18.
und 19. Jahrhundert gelegt, da dieser im hier relevanten Zeitraum bereits an Hegemonie
gewonnen hatte.
12 In diesem Artikel wird der Begriff ›Rasse‹ in Anführungsstrichen verwendet um
herauszustreichen, dass es sich bei diesem Konzept um eine soziale Erfindung handelt, welche
Machtverhältnisse legitimieren soll und das jeder biologischen Grundlage entbehrt: vgl. Hanke:
»Zwischen Evidenz und Leere«.
13 Vgl. Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene; Conze & Sommer: »›Rasse‹«; Mosse:
Geschichte des Rassismus in Europa.
14 Vgl. Walgenbach: »Weiße Dominanz« und Wollrad: Weißsein im Widerspruch, S. 62-67.
15 Analog zum Begriff ›Rasse‹ wird der Begriff ›Volkstum‹ in Anführungszeichen gesetzt, um sich
von biologischen Definitionen abzugrenzen.
16 Vgl. Plessner: Die verspätete Nation.
17 Historisch besetzt der Begriff ›Volk‹ sehr unterschiedliche Bedeutungsfelder: er konnte eine
politische Einheit umschreiben (populus, natio, patria), er konnte religiös definiert sein
(Gottesvolk) oder militärisch (Kriegsvolk), eine quantitative oder soziale Größe umfassen
(Bevölkerung, Masse, Pöbel, soziale Unterschicht), demokratische Systeme bezeichnen
(Volksherrschaft), kulturelle Entitäten definieren (›Kultur- und Sprachgemeinschaft‹) oder
biologische Homogenität behaupten (›Stammesverwandtschaft‹). Aufgrund dieser Pluralität von
Bedeutungsinhalten erscheint es nicht verwunderlich, wenn er in historischen Quellen manchmal
synonym für andere Begriffe wie ›Nation‹ oder ›Rasse‹ verwandt wird.
18 Vgl. Werner: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 238.
19 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 149. Vgl. auch: Arendt: Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 365.
20 Auch die Vorstellung eines ›deutschen Stammes‹, welche eine gemeinsame biologische
Verwandtschaft behauptete, war in ihrer heutigen Bedeutung eine Erfindung des 19. Jahrhundert.
So wurden Franci, Alamanni, Saxones, Baiuuarii rückwirkend zu ›deutschen Stämmen‹ ernannt,
um die Existenz eines kohärenten ›germanisch-deutschen Volkes‹ zu deklarieren. Dabei übersah
man geflissentlich, dass Teile der Franken und Sachsen Mitbegründer anderer Großnationen wie
Frankreich oder England gewesen waren, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt dem, was später
›deutsches Volk‹ genannt werden sollte, anzugehören. Die generelle Bezeichnung dieser Völker
als ›deutsche Stämme‹ ist demnach ein Produkt spätnationaler Geschichtsdeutungen. Vgl.
Werner: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 174-176.
21 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 149.
22 Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 365.
23 Wie Mathias Bös anhand der Geschichte der Staatsbürgerschaft in Deutschland, England,
Frankreich und den USA herausarbeitet, finden sich seit dem 18. Jahrhundert in allen Staaten
Kombinationen beider Prinzipien. Die Privilegierung eines Prinzips zu einer bestimmten Periode
ist dabei abhängig von bevölkerungspolitischen Interessen, Migrationsbewegungen,
Kooperationen oder Konflikten zwischen Staaten und Folge des zunehmenden
Identitätsmanagements von modernen Gesellschaften in Europa. Dabei konstatiert Bös für alle
untersuchten Staaten in der angegebenen Periode einen Trend zum ius sanguinis. Vgl. Bös:
»Ethnisierung des Rechts?«, S. 634.
24 Vgl. ebenda, S. 622. Hier und im Folgenden wird bewusst die männliche Form gewählt, da sich
die Debatten und die staatsbürgerlichen Rechte primär am männlichen Subjekt orientierten.
25 Zu den süddeutschen Staaten gehörten: Bayern, Würzburg, Hessen, Darmstadt, Nassau, Baden,
Westfalen, Frankfurt. Auch das nördliche Preußen verfolgte gemäß seiner Verordnung von 1818
zu dieser Zeit noch das ius soli. Vgl. ebenda, S. 625.
26 Vgl. ebenda, S. 624.
27 Ebenda, S. 626. Die Einführung des ius sanguinis war allerdings nicht allein durch nationale
Schließungsprozesse motiviert, vielmehr muss man sich vergegenwärtigen, dass Deutschland zu
diesem Zeitpunkt ein Auswanderungsland war und man somit seine ›Mitglieder‹ auch im
Ausland an die deutsche Nation binden wollte (ebenda, S. 637). Dies deutet bereits darauf hin,
wie komplex die historischen Prozesse der Interdependenz von ›Weißsein‹ und ›Deutschsein‹
verlaufen.
28 1884 wurde Südwestafrika (Namibia), Ostafrika (Tanzania), Togo und Kamerun, sowie eine
Reihe pazifischer Inseln (Kaiser-Wilhelmsland, Neuguinea, Bismarck-Archipel, Salomon- und
Marshall Inseln) unter ›deutschen Schutz‹ gestellt. 1898 kam Kiautschou als Handelskolonie in
China hinzu, sowie weitere Inseln in der Südsee (Samoa, Marianen- Karolinen und Palauinseln).
29 Vgl. Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, S.51.
30 Vgl. Kundrus, Koloniale Behauptungen, S. 9 und S. 80.
31 Vgl. ebenda, S. 136-139.
32 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹; El-Tayeb: Schwarze
Deutsche; Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft.
33 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 162-168 und 210-235.
34 Zum Begriff ›Weiße Selbstaffirmation‹ vgl. Dies.: »Zwischen Selbstaffirmation und
Distinktion«.
35 Allgemeiner zu Geschlecht, Körper und ›Weißsein‹ vgl. Lorey: »Fetisch Körper und Weißsein«.
36 In diesem Artikel wird davon ausgegangen, dass ›Rassen‹ nicht biologisch vorgegeben sind,
sondern als soziale Konstruktionen analysiert werden müssen. Die Idee, dass ›Rassen‹ sich
›vermischen‹ können, rekurriert demnach auf biologistische Vorstellungsmuster. Aus diesem
Grund werden die Begriffe ›Mischehen‹ und ›Mischlinge‹ in Anführungszeichen gesetzt.
37 Wie im Folgenden deutlich wird, handelt es sich ebenfalls bei dem Begriff ›Verkafferung‹ um
eine rassistische Terminologie. Zum Begriff vgl. auch Machnik: »›Kaffer/Kafferin‹«, S. 155.
38 Schnee: »Verkafferung«.
39 Vgl. dazu ausführlich: Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹ und Dies.:
»Zwischen Selbstaffirmation und Distinktion«. Umgekehrt gab es für ›Schwarze‹ aufgrund des
rassistischen Subsystems keine Möglichkeit der ›Weißwerdung‹. Eine Ausnahme stellt hier
lediglich die koloniale Praxis der ›Naturalisation‹ dar, welche für eine exklusive Gruppe von
Nachkommen deutsch-afrikanischer Ehen reserviert war, die als besonders ›ehrbar‹ galten
(bspw. Missionsehen). Auf diese Praxis kann hier leider nicht weiter eingegangen werden. Vgl.
bspw. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 97; Becker: Rassenmischehen-Mischlinge-
Rassentrennung.
40 Vgl. Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft.
41 Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, S. 189 und S. 203;
Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, S. 121; Zimmerer & Zeller (Hrsg.): Völkermord in
Deutsch-Südwestafrika.
42 Vgl. etwa Rohrbach: Deutsche Kolonialwirtschaft.
43 Grosse: Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft, S. 97.
44 Existenzsichernde Rechte wie Viehbesitz oder Jagdrecht wurden drastisch eingeschränkt.
Folglich waren die Kolonisierten gezwungen, ihre Arbeitskraft an weiße SiedlerInnen und
Unternehmer zu verkaufen. Über Kontrollinstrumente wie Dienstbücher, Passmarken oder
Landstreicherverbote wurde ein System des Arbeitszwangs etabliert. Mit der Verordnung, dass
nicht mehr als zehn afrikanische Familien an einem Ort unter Aufsicht eines weißen
Grundstückbesitzers leben durften, sollten alte Gesellschaftsordnungen und traditionelle
Organisationsformen zerstört werden. Schließlich wurden alle Kolonisierten juristisch für
unmündig erklärt, womit die deutschen KolonistInnen ihnen jegliche Rechtsgeschäfte
verweigerten. Vgl. dazu: Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika,
S. 192; Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, S. 122; Zimmerer: »Der koloniale
Musterstaat?«, S. 34.
45 Vgl. Kundrus: Koloniale Behauptungen, S. 247 und S. 256; Grosse: Kolonialismus, Eugenik und
bürgerliche Gesellschaft, S. 149-150 und 163; Essner: »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹«, S.
147.
46 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S.168-171 und 185-209.
47 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 103.
48 Leipziger Neueste Nachrichten 08.03.1906.
49 Vgl. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S.94.
50 Vgl. ebenda, S. 136
51 Vgl. Essner: »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹«, S. 148.
52 Im Folgenden werden nationalsozialistische Terminologien, welche zu Pogromen,
Ghettoisierung, Sterilisation, Deportation und systematischen Ermordung von Millionen
Menschen führten, ebenfalls durch Anführungsstriche angeführt.
53 Vgl. Hitler: Mein Kampf, S. 420.
54 Rosenberg war ›Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und
weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‹.
55 Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 81.
56 Vgl. Kammerer & Bartsch: Nationalsozialismus, S. 133.
57 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 238; Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹,
S. 17.
58 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 418.
59 Vgl. Conze & Sommer: »›Rasse‹«, S. 159 und 176; Kammerer & Bartsch: Nationalsozialismus,
S. 19.
60 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse«‹, S. 418.
61 Vgl. Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland, S. 145.
62 Die Tatsache, dass die hier angegebenen ›Rassen‹ heute keine Ordnungsbegriffe mehr hergeben,
zeigt erneut, dass ›Rassen‹ nichts anderes als public fictions sind, die im Laufe der Geschichte
auftauchen und wieder verschwinden. Vgl. Jacobsen: Whiteness of a Different Color, S. 10 und
S. 137.
63 Hitler: Mein Kampf, S. 439.
64 Auf interne Differenzierungen zwischen den angeblich ›minderwertigen Rassen‹ und den damit
verbundenen politischen Interessen der NationalsozialistInnen (wie etwa die Wiederbesetzung
deutscher Kolonien, welche zu einer gesonderten Politik gegenüber Schwarzen
KolonialmigrantInnen führte) kann aufgrund des Fokus auf ›Weißsein‹ nicht näher eingegangen
werden.
65 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 14.11.1935.
66 Vgl. Walgenbach: ›Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur‹, S. 81.
67 Hitler: Mein Kampf, S. 357. Wie Sander Gilman zeigt, findet sich die Gleichsetzung von Juden
und Schwarzen ebenfalls bei Chamberlain, dem bevorzugten Rassentheoretiker Hitlers.
Identifizieren lässt sich diese Assoziation nach Gilman allerdings schon vor dem 19.
Jahrhundert, insbesondere in christlichen Mythen. Vgl. dazu: Gilman: Rasse, Sexualität und
Seuche, S. 25-31.
68 Vgl. Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus; Mosse: Die Geschichte des Rassismus
in Europa, S. 253. Fatima El-Tayeb weist darauf hin, dass auch Afro-Deutsche im
Nationalsozialismus sterilisiert wurden. El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 188.
69 In den Entbindungsheimen des ›Lebensborns‹ sollten unverheiratete Mütter unter dem Schutz
der NationalsozialistInnen auch heimlich ihre ›erbbiologisch wertvollen‹ Kinder zur Welt
bringen können. Vgl. Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹, S. 16-31, 42-58 und 152-155.
70 Vgl. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 254; Lilienthal: Der ›Lebensborn e.V.‹,
S. 20 und 33-34.
71 Mit der Kategorie ›Staatsangehörige‹ wurden Juden/Jüdinnen, Schwarze und Sinti und Roma zu
BürgerInnen zweiter Klasse degradiert. Dies hatte drastische Folgen, welche vom Verlust
bürgerlicher Rechte und Freiheiten, über das Einziehen des deutschen Passes bis zur
Internierung und Ermordung in Konzentrationslagern reichen konnten. Vgl. Morgenstern:
Rassismus - Konturen einer Ideologie, S. 223; El-Tayeb: Schwarze Deutsche S. 178-200.
72 Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre. Reichsgesetzblatt (1935), Teil. 1, Sp. 1146.
73 Vgl. Koselleck: »›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹«, S. 418.
74 Vergleichbar gab es in den besetzten osteuropäischen Ländern ›deutsche Staatsangehörige auf
Widerruf‹ (ebenda, S. 420). Solche Definitionen unterstützten die soziale Kontrolle und
Willkürherrschaft der NationalsozialistInnen.
75 Den Mitgliedern des Berliner Whiteness-Kolloquiums danke ich für ihre inhaltlichen
Anregungen.
SANDER L. GILMAN
DIE JÜDISCHE NASE: SIND JUDEN/JÜDINNEN WEIß?
ODER: DIE GESCHICHTE DER NASENCHIRURGIE[1]
Wo und wie eine Gesellschaft den Körper definiert, reflektiert wie diese
Gesellschaft sich selbst definiert. Dies trifft besonders auf
›wissenschaftliche‹ oder pseudo-wissenschaftliche Kategorien wie ›Rasse‹
zu, welcher außergewöhnliche Bedeutung bei der Gestaltung beigemessen
wird, wie wir alle uns selbst und gegenseitig verstehen. Seit Ende des 19.
Jahrhunderts wurde der Idee der ›Rasse‹ sowohl eine positive als auch
negative Bedeutung zugeteilt. Für viele Gruppen gelten die Aussagen »Wir
gehören einer ›Rasse‹ an« und »Unsere Biologie definiert uns« ebenso als
richtig wie das Gegenteil: »Du gehörst zu einer ›Rasse‹ und deine Biologie
schränkt dich ein.« Rasse ist eine konstruierte Kategorie sozialer
Organisation so viel wie sie eine Reflexion einiger Aspekte biologischer
Wirklichkeit ist. ›Rassen‹-Identität war eine mächtige Kraft, um das
Verständnis unserer selbst am Ende des 20. Jahrhunderts zu formen –
oftmals uns selbst zum Trotz. Beginnend im 18. Jahrhundert und bis heute
andauernd gab und gibt es eine wichtige kulturelle Antwort auf die Idee der
›Rasse‹, eine Antwort, welche die Einzigartigkeit des Individuums über die
Einheitlichkeit der Gruppe stellt. Wie Theodosius Dobzhansky 1967
bemerkte:
Jede Person hat einen Genotyp und eine Lebensgeschichte, die sich von jedem anderen Wesen
unterscheiden, sei es von einem Mitglied der Familie, des Clans, der Rasse oder der Menschheit.
Über die universellen Rechte aller menschlichen Wesen hinaus (was eine typologische
Zuschreibung sein kann!), sollte eine Person aufgrund seiner eigenen Verdienste bewertet werten.
[4]
Das aber war die Position einer Minderheit. Für den Wissenschaftler des 18.
und 19. Jahrhunderts war die ›Schwärze‹ des Juden/der Jüdin nicht nur ein
Marker seiner ›rassischen‹ Minderwertigkeit, sondern auch ein Indikator
der erkrankten Natur des Juden/der Jüdin. Der ›liberale‹ bayrische
Schriftsteller Johann Pezzl, welcher in den 1780ern nach Wien reiste,
beschrieb den ›typischen‹ Wiener Juden seiner Zeit so:
In Wien schweben ungefähr fünfeinhalbhundert Judenseelen. Ihr einziger und ewiger Beruf ist zu
mauscheln und schachern und Geldmäkeln und zu betrügen, Christen, Türken, Heiden, ja sogar
sich selbst untereinander. […] Dies ist indessen bloß der bettelhafte Troß aus Kanaan, der an
Schmutz, Unsauberkeit, Gestank, Ekelhaftigkeit, Armut, Schelmerei, Zudringlichkeit und, was
etwa sonst noch die Eigenschaften des auserwählten Volkes sein mögen, nur noch von dem
Gesindel der zwölf Stämme aus Galizien übertroffen wird […] Die indischen Fakire abgerechnet,
gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang-Utan näher kommt,
als einen polnischen Juden. […] Vom Fuß bis zum Hals voll Kot, Schmutz und Lumpen, in einer
Art von schwarzem Sack steckend, der um die Mitte mit einem Gürtel gebunden ist, woran ein
schmieriges Stück Riemen und einige Schnüre hängen […] der Hals offen und von der Farbe der
Kaffern, das Gesicht bis in die Augen verwachsen von einem Bart, der selbst dem hohen Priester
im alten Tempel Grausen erregen würde, die Haare büschelweise verdreht und in Knoten geknüpft
um die Schulter triefend, als ob sie alle die polnische Plika hätten …[9]
Das Bild des Wiener Juden ist das des Ostjuden (›the Eastern Jew‹), der an
den Krankheiten des Ostens leidet, so wie der ›Judenkrätze‹, der frei
erfundenen Haut- und Haarkrankheit, die auch den Polen unter der
Bezeichnung ›plica polonica‹[10] zugeschrieben wird. Die ›jüdische
Krankheit‹ steht auf der Haut geschrieben. Die Erscheinung, die
›Hautfarbe‹, die äußeren Kennzeichen des Juden/der Jüdin markieren den
Juden/die Jüdin als abweichend. Für einen nicht-jüdischen Besucher in
Wien steht außer Frage, beim ersten Anblick des Juden/der Jüdin zu sehen,
dass der Jude/die Jüdin am Jüdischsein leidet. Der interne, moralische
Zustand des Juden/der Jüdin, die dem Juden/der Jüdin eigene Psychologie,
manifestiert sich im krankhaften Äußeren des Juden/der Jüdin. Die ›plica
colonica‹ ist (…)[11] tatsächlich ein dermatologisches Syndrom. Es
resultiert aus dem Leben in Dreck und Armut. Aber es wurde auch mit der
unhygienischen Natur des Juden/der Jüdin assoziiert und, in der Mitte des
19. Jahrhunderts, mit der besonderen Beziehung des Juden/der Jüdin zur der
erschreckendsten Krankheit der damaligen Zeit, der Syphilis.[12] Für den
Nicht-Juden spiegelte der Anblick des Juden/der Jüdin die populären
Vermutungen über die dem Juden/der Jüdin inhärente, essentielle Natur
wider. Pezzls Zeitgenosse, Joseph Rohrer, betonte die »ekelerregenden
Hautkrankheiten« des Juden/der Jüdin als ein Zeichen der allgemeinen
Gebrechlichkeit dieser Gruppe.[13] Und für Pezzl ist der essentielle Jude
der galizische Jude, der Jude/die Jüdin aus den östlichen Reichweiten des
Habsburger Reiches.[14] (Diese Ansicht des späten 18. Jahrhunderts über
die Bedeutung ›der Hautfarbe des Juden‹ wurde nicht nur von Nicht-Juden
aufrechterhalten. Der Aufklärer und jüdische Arzt Elcan Issac Wolf befand
diese ›schwarz-gelbe‹ ›Hautfarbe‹ als pathognomonisches Zeichen des
krankhaften Juden.[15]) Der humoralen Theorie der damaligen Zeit
zufolge, äußerte sich James Cowles Pritchard (1808) über das jüdische
»cholerische und melancholische Temperament, das dazu führt, dass ihre
Gesichtsfarbe im Allgemeinen eine Schattierung dunkler ist als die der
Engländer […].«[16] Die Anthropologie des 19. Jahrhunderts äußerte sich
bereits durch die Arbeit von Claudius Buchanan über die
›Minderwertigkeit‹ ›Schwarzer‹ Juden/Jüdinnen aus Indien.[17] In der
Mitte des Jahrhunderts wurden Schwarzsein, Jüdischsein, Kranksein und
›Hässlich‹sein unerbittlich miteinander in Verbindung gebracht. Alle
›Rassen‹ wurden, übereinstimmend mit der damalig aktuellen Ethnologie,
mit Begriffen der Ästhetik beschrieben – als entweder ›hässlich‹ oder
›schön‹.[18] Die Schwarzen in Afrika, insbesondere die als ›Hottentotten‹
konstruierten Völker Südafrikas, wurden, wie ich andernorts gezeigt habe,
zur Verkörperung der ›hässlichen Rasse‹.[19] Und hässlich zu sein war, wie
ich ebenfalls andernorts dargelegt habe, nicht nur eine ästhetische Frage,
sondern ein deutliches Zeichen der Pathologie, der Krankheit. Schwarz zu
sein hieß dabei eben nachgerade nicht schön zu sein. In der Tat wurde die
Schwärze des Afrikaners und der Afrikanerin, ebenso wie die Schwärze des
Juden/der Jüdin, als Zeichen eines pathologischen Wandels der Haut
gedeutet, als das Resultat angeborener Syphilis. (Und, wie wir sehen
werden, wurde der Syphilis auch die Verantwortung für die Formung der
Nase zugeschrieben.) Man übertrug die Zeichen des erkrankten Status auf
die Anatomie und, in Ausweitung, auch auf die Psyche. All diese Zeichen
verwiesen Juden/Jüdinnen darauf, Mitglied einer der ›hässlichen‹ (und nicht
einer ›schönen‹) ›Rassen‹ der Menschheit zu sein. Der Körper des
Juden/der Jüdin wurde durch die Leugnung jeglicher Verbindung zu
Schönheit und Erotik verunglimpft.[20]
In der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts bedeutete ›Schwarz‹-sein, dass
Juden/Jüdinnen rassialisierte Grenzen überschritten hatte. Die Grenzen
zwischen den ›Rassen‹ waren eine der mächtigsten sozialen und politischen
Unterteilungen, entwickelt in den Wissenschaften dieser Zeit. Statt
aufgrund endogener Ehen als reine ›Rasse‹ zu gelten, wurden
Juden/Jüdinnen gerade aus diesem Grund vielmehr als einer unreinen
›Rasse‹ angehörig betrachtet und damit als latent krankhaft. Diese
Unreinheit sei in der Physiognomie festgehalten. Houston Stewart
Chamberlain zufolge gehören Juden/Jüdinnen einer »bastardierten« (und
eben nicht einer gesund ›gemischten‹) ›Rasse‹ an, welche mit
AfrikanerInnen Inzucht betrieben hätten während der Zeit des Exils in
Alexandria.[21] Die ›jüdische Rasse‹ »ist […] eine durch und durch
bastardierte, welche diesen Bastardcharakter bleibend bewahrt.«
Juden/Jüdinnen hätten mit Schwarzen im alexandrinischen Exil
›hybridisiert‹. In einer ironischen Rezension zu Chamberlains Arbeit
schrieb Nathan Birnbaum, jener wienerisch-jüdische Aktivist, welcher das
Wort ›Zionist‹ prägte, dass die Ursprünge dieser »Bastardrasse« in ihrer
Neigung zum Inzest und sexueller Selektivität zu finden wären.[22]
Juden/Jüdinnen trügen das Zeichen von Schwarzen, »der afrikanische
Charakter des Juden, sein maulartig geformter Mund und sein Gesicht
entfernen ihn von bestimmten anderen Rassen […]«, wie Robert Knox in
der Mitte des Jahrhunderts notierte.[23] Die Physiognomie des Juden/der
Jüdin gleiche der des Schwarzen:
[…] die Kontur ist konvex; die Augen lang und fein, die äußeren Gesichtswinkel verlaufen bis zu
den Schläfen; die Brauen und Nase neigen dazu, eine einzige konvexe Linie zu bilden; die Nase
vergleichsweise schmal an der Wurzel, die Augen folglich eng nebeneinander; die Lippen sehr
voll, der Mund vorspringend, kleines Kinn und die ganze Physiognomie, wenn wie so oft
schwärzlich, hat ein afrikanisches Aussehen.[24]
Nicht nur die ›Hautfarbe‹ ist folglich für die Wissenschaft Ausschlag
gebend, um den Juden/die Jüdin als Schwarz anzusehen, sondern auch die
verwandten anatomischen Zeichen, wie die Form der Nase. Juden/Jüdinnen
werden absolut buchstäblich als Schwarz gesehen. Adam Gurowski, ein
polnischer Adeliger, »hielt jeden hellhäutigen Mulatten für einen Juden« als
er in den Vereinigten Staaten in den 1850ern Jahren ankam.[25]
Wenn Deutsche (Arier) eine ›reine‹ ›Rasse‹ darstellen – und das ist für
die Wissenschaft zur Jahrhundertwende eine positive Eigenschaft – dann
können Juden/Jüdinnen nicht Mitglied einer ›reinen Rasse‹ sein. Aber was
passiert, wenn der Jude/die Jüdin versucht, kein Jude/keine Jüdin mehr zu
sein und außerhalb seiner/ihrer ›Rasse‹ heiratet? Sein/Ihr Jüdischsein wird
weniger abgeschwächt, denn verstärkt. Sein/Ihr Status als
Angehöriger/Angehörige einer gemischten ›Rasse‹ wird im Sinnbild des
›Mischlings‹ veranschaulicht, dem Mitglied der ›gemischten Rasse‹.[26]
Der Begriff ›Mischling‹ referiert im späten 19. Jahrhundert in der
Rassenlehre auf die Nachkommen eines jüdischen und eines nicht-
jüdischen Elternteils. Das Jüdischsein des ›Mischlings‹
bedeutet also ganz ohne Zweifel eine Entartung: Entartung des Juden, dessen Charakter ein viel zu
fremder, fester, starker ist, als dass er durch germanisches Blut aufgefrischt und veredelt werden
könnte, Entartung des Europäers, der durch die Kreuzung mit einem ›minderwertigen Typus‹ […]
natürlich nur verlieren kann.[27]
Der Jude/die Jüdin bleibt sichtbar, auch wenn der Jude alle kulturellen
Zeichen seines oder ihres Jüdischseins aufgibt und außerhalb der ›Rasse‹
heiratet. Die Unfähigkeit, als etwas anderes durchzugehen (to pass),[32]
d.h. sich in einer anderen Rasse zu positionieren, wird hier ebenso deutlich
wie das Bild der ›gemischten Rasse‹. Aber was ist der »auffällige Zug«, der
den Juden/die Jüdin als verschieden kennzeichnet, der den Juden/die Jüdin
als sichtbar markiert, auch in der vom Juden/von der Jüdin gewünschten
Unsichtbarkeit?
Juden/Jüdinnen sehen anders aus, sie haben ein anderes Auftreten und
dieses Auftreten hat pathognomonische Bedeutung. Die ›Hautfarbe‹
kennzeichnete den Juden/die Jüdin zugleich als ›anders‹ und ›krank‹. Für
den jüdischen Wissenschaftler Sigmund Freud stellten bei den Individuen
»gerade die kleinen Unterschiede bei sonstiger Ähnlichkeit die Gefühle von
Fremdheit und Feindseligkeit« zwischen ihnen her.[33] Dies stempelte
Freud klinisch als »Narzissmus der kleinen Unterschiede«[34] ab. Aber
sind diese Unterschiede ›klein‹, sei es aus der Perspektive derer, die
abstempeln oder derer, die abgestempelt werden? Freud spielte die
Bedeutung des Ursprungs der Unterschiede zwischen Individuen »bei
sonstiger Ähnlichkeit« herunter, wobei er sich nicht nur auf den
aufklärerischen Anspruch der Allgemeingültigkeit von Menschenrechten
bezog, sondern auch auf die christlichen Untermauerungen dieser
Ansprüche. Aus diesem Narzissmus sei »die Feindseligkeit abzuleiten, die
wir in allen menschlichen Beziehungen erfolgreich gegen die Gefühle von
Zusammengehörigkeit streiten und das Gebot der allgemeinen
Menschenliebe überwältigen sehen.«[35] Mit dem christlichen Anspruch
universeller brüderlicher Liebe argumentierte Freud, um zu zeigen, dass die
Unterschiede zwischen ihm, seinem Körper, und dem arischen Körper
unbedeutend sind. Freud verstand den besonderen Platz, den der Jude/die
Jüdin im dämonischen Universum der arischen Psyche einnahm. Aber er
spielte diese Rolle insofern herunter, als er ihnen auf die Frage nach der
Funktion von Juden/Jüdinnen eine »ökonomisch entlastende Rolle […] in
der Welt des arischen Ideals«[36] reduzierend zuweist, statt diese als eine
der zentralen Gegenstände der Wissenschaft seiner Zeit zu situieren. Freud
verhüllte, dass Juden/Jüdinnen nicht nur die Fantasie-KapitalistInnen des
paranoiden Irrglauben der Antisemiten darstellten, sondern auch ihre
Selbstwahrnehmung das Bild ihrer eigenen Verschiedenheit widerspiegelt.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die ›Realität‹ der physischen
Verschiedenheit des Juden/der Jüdin als zentrales ›Rassen‹-Kennzeichen
verstärkt in Frage gestellt. Mit antithetischen Theorien, wie denen von
Friedrich Ratzel, wurde argumentiert, dass die ›Hautfarbe‹ ein Reflex der
Geographie sei und sich wandeln könnte und würde, wenn Menschen von
einer Erdhälfte zur anderen zögen. Aufbauend auf frühere Werken des
Präsidenten der Princeton University am Ende des 18. Jahrhunderts, Samuel
Stanhope Smith (1787), wurden Juden/Jüdinnen als das anpassungsfähige
Volk schlechthin gesehen: »In Britannien und Deutschland sind sie
hellhäutig, braun in Frankreich und der Türkei, schwärzlich in Portugal und
Spanien, olivefarben in Syrien und Khaldea, gelbbraun oder kupferfarben in
Arabien und Ägypten.«[37] William Lawrence vermerkte 1823, dass »ihre
Farbe überall verändert ist durch die Umstände, in denen sie sich
befinden.«[38] Die Zweifelhaftigkeit der ›Hautfarbe‹ als Kennzeichen der
jüdischen Verschiedenheit traf mit anderen Eigenschaften zusammen und
machte den Juden/die Jüdin sichtbar.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren westeuropäische
Juden/Jüdinnen nicht mehr zu unterscheiden von anderen
WesteuropäerInnen in Bezug auf Sprache, Kleidung, Beschäftigung,
Wohnlage und Haarschnitt. Wenn also Rudolf Virchows umfassende Studie
mit über 10000 deutschen Schulkindern, veröffentlicht im Jahr 1886, als
korrekt angesehen wird, so waren Juden/Jüdinnen bezüglich von Haut-,
Haar- und Augenfarbe nicht von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung
zu unterscheiden.[39] Virchows Statistiken wollten aufzeigen, dass, wo
auch immer eine größere Prozentzahl der Gesamtpopulation hellere Haut,
blauere Augen oder blondere Haare hatte, ebenso ein höherer Prozentsatz
an Juden/Jüdinnen mit hellerer Haut, blaueren Augen oder blonderen
Haaren lebte. Obwohl Virchow versuchte, eine vernünftige Erklärung zu
liefern für den Sinn jüdischen Anpassungsvermögens, so ging er doch
davon aus, dass Juden/Jüdinnen einer besonderen und eigenen ›Rassen‹-
Kategorie angehörten. George Mosse kommentierte, die
[…] Absonderung der jüdischen Schulkinder sagt etwas über den Verlauf der jüdischen
Emanzipation in Deutschland aus. So wissenschaftlich begründet die Untersuchung auch war, sie
muss den jüdischen Kindern ihren Minderheitsstatus und ihre andere Herkunft bewusst gemacht
haben.[40]
Die Erfahrung des Juden/der Jüdin mit seinem oder ihrem eigenen Körper
war so tief mit der antisemitischen Rhetorik verbunden, dass selbst, wenn
dieser Körper den Perfektionsansprüchen der Gesellschaft, in der der
Jude/die Jüdin lebte, entsprach, der Jude/die Jüdin seinen/ihren Körper als
fehlerhaft, als erkrankt erfuhr.[45] Wenn man doch nur die Aspekte des
Körpers verändern könnte, die einen selbst als ›jüdisch‹ kennzeichnen!
Aber nichts, keine Akkulturation, keine Taufe, konnte die Spur der
›Rasse‹ wegwischen. Egal wie sehr sie sich auch verändern mochten, sie
blieben immer noch ›kranke Juden/Jüdinnen‹. Das war ihrer Physiognomie
eingeschrieben. Moses Hess, der deutsch-jüdische Revolutionär und
politische Theoretiker, vermerkte in seinem Rom und Jerusalem (1862):
Selbst die Taufe erlöst ihn nicht von dem Alpdruck des deutschen Judenhasses. Die Deutschen
hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Race, weniger ihren eigenthümlichen Glauben, als
ihre eigenthümlichen Nasen. […] Die jüdischen Nasen werden nicht reformirt, und das schwarze,
krause jüdisches Haar wird durch keine Taufe in blondes, durch keinen Kamm in schlichtes
verwandelt. Die jüdische Race ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer
Integrität reproducirt. […] Der jüdische Typus ist unvertilgbar.[46]
Das Thema der Unveränderlichkeit des Juden/der Jüdin wurde direkt mit
den Argumenten über die Beständigkeit der negativen Aspekte der
›jüdischen Rasse‹ verbunden.
In einem Punkt scheint Hess sich getäuscht zu haben – die äußerliche
Erscheinung des Juden/der Jüdin wandelte sich offenbar. Seine/ihre Haut
schien weißer zu werden, zumindest seiner/ihrer eigenen Meinung nach,
aber sie konnte nie weiß genug werden. Juden/Jüdinnen, jedenfalls in
Westeuropa, litten nicht länger unter den ekelerregenden Hautkrankheiten
der Armut, die einst ihre Haut gekennzeichnet hatten. Aber in einer anderen
Hinsicht hatte Hess Recht: Die Nase des Juden/der Jüdin konnte nicht
›reformiert‹ werden. Zusammenhängend mit der Bedeutung der Haut war
die Bedeutung der Physiognomie des Juden/der Jüdin, insbesondere der
Nase des Juden/der Jüdin. Und sie wurde auch mit der Veranlagung des
Juden/der Jüdin in Verbindung gebracht. George Jabet, schreibend als Eden
Warwick, charakterisierte in seinen Notes on Noses (1848) die »jüdische
oder Hakennase« als »sehr konvex und ihre konvexe Form wie einen Bogen
über die gesamte Länge von den Augen bis zur Spitze hinweg. Sie ist dünn
und spitz.« Die Form trägt hier eine besondere Bedeutung: »Sie weist auf
erheblichen Scharfsinn im wortwörtlichen Sinne hin; ein tiefer Einblick in
den Charakter und eine Möglichkeit, diesen Einblick in gewinnbringende
Rechnungen zu lenken.«[47] Ärzte, die sich auf diese Analogien bezogen,
spekulierten, dass die Verschiedenheit der jüdischen Sprache, dieser
deutliche Spiegel ihrer Sprache, das Ergebnis der Nasenform des Juden/der
Jüdin sei. So bezieht sich Bernhard Blechmanns Erklärung für das
Mauscheln von Juden/Jüdinnen, ihrer Unfähigkeit, ohne eine jüdische
Intonation zu sprechen, darauf, dass »die Muskeln, welche zum Sprechen
und Lachen dienen, nach einer Art, welche gänzlich von der der Christen
unterschieden ist, bewegt werden, und aus dieser auffallenden Bewegung
kann man […] die grossen Veränderungen in ihrer Nasen und Kinn
ableiten.«[48] Die Nase wurde einer der zentralen ›loci‹ der Differenz in der
Wahrnehmung von Juden/Jüdinnen.
Die Beziehung zwischen Charakter und Physiognomie ließ jüdische
SozialwissenschaftlerInnen, wie etwa Joseph Jacobs, der Frage der
›Nostrilität‹ von Juden/Jüdinnen gegenübertreten. Er (und andere jüdische
WissenschaftlerInnen zur Jahrhundertwende) sah, dass »die Nase sehr viel
dazu beitrug, die jüdische Ausdrucksweise zu erzeugen«.[49] Aber wie
kann jemand die ›Nostrilität‹ der jüdischen Nase verändern, ein Zeichen,
dass, wie auch die ›Hautfarbe‹ des Juden/der Jüdin, nicht zu verschwinden
scheint, wenn der Jude/die Jüdin akkulturiert ist. Tatsächlich fasste eine
detaillierte anthropologische Studie über die »von Juden und Nicht-Juden
gezeugten Mischlinge«, veröffentlicht 1928, die angedeutete Sichtweise
zusammen, dass es eine ›Judennase‹ gäbe und dass diese besondere Form
der Nase dominant bei ›gemischten Ehen‹ auftrete und als ein festes,
vererbliches Zeichen des Jüdischseins erkannt werde.[50] In populären und
medizinischen Imaginationen wurde die Nase zum Zeichen des
pathologischen jüdischen Charakters westlicher Juden/Jüdinnen, wobei sie
das pathognomische Zeichen der Haut zwar ersetzte, mit dieser aber eng
verbunden blieb. Die Form der Nase und die Farbe der Haut sind, wie
gezeigt, miteinander verbundene Zeichen.
Es schien, als könnte die Haut ›geheilt‹ werden, dass man sie weniger
›Schwarz‹ erscheinen lassen könnte, indem die Hautkrankheiten, der Spuk
der Ghetto-Armut, beseitigt wurden – oder aber man sah sich selbst einfach
als weiß an. Dadurch konnte die ›Krankheit‹ des Jüdischseins nicht länger
an der Haut abgelesen werden. Aber wie kann das Symptom der
›Nostrilität‹ des Juden/der Jüdin beseitigt werden, das Zeichen, das jeder
am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Sichtbarkeit des Juden/der Jüdin
assoziierte? Eine Antwort gab Jacques Joseph, ein stark akkulturalisierter
junger deutsch-jüdischer Chirurg, der im Berlin der Jahrhundertwende
praktizierte. Als Jakob Joseph geboren, hatte der Arzt seinen jüdischen
Namen während des Medizinstudiums in Berlin und Leipzig geändert.
Joseph war ein typisch angepasster Jude seiner Zeit. Er war Mitglied einer
der konservativen duellierenden Burschenschaften und trug die Narben
seines Säbelduells mit Stolz. Wie viele angepasste Juden/Jüdinnen, wie
etwa Theodor Herzl, »fand [Joseph] Geschmack an dem Test und
Abenteuer des Duells, der so genannten Mensur, die als männlich und
erbaulich angesehen wurde.«[51] (…) Die Narbe, die Joseph sein Leben
lang trug, markierte ihn als satisfaktionsfähig, als jemanden, der als
gleichberechtigt angesehen und zu einem Duell herausgefordert wurde.
Eingeschrieben in sein Gesicht war seine Integration in die deutsche Kultur.
Und je marginalisierter man war, umso mehr sehnte man sich nach einer
solchen Narbe. (…) Mitglied einer jüdischen Burschenschaft zu sein (von
denen sich die meisten nicht duellierten) konnte den kränkelnden jüdischen
Körper als das rekonstituieren, was Max Nordau den ›neuen Muskeljuden‹
genannt hatte. 1902 proklamierte die jüdische Burschenschaftsorganisation,
dass »sie nach der körperlichen Erziehung seiner Mitglieder strebe, um der
physischen Regenerierung des jüdischen Volkes zu bewirken.«[52] Eine
Duelliernarbe markiert das soziale gesunde Individuum. Ende des 19.
Jahrhunderts wurde der soziale Burschenschaftlerstatus für Juden/Jüdinnen,
wie auch der des Militäroffiziers, angefochten. 1896 wurde folgender
Vorschlag von den duellierenden Burschenschaften akzeptiert:
In vollster Würdigung der Tatsache, dass zwischen Ariern und Juden ein so tiefer moralischer und
psychischer Unterschied besteht und dass durch jüdisches Unwesen unsere Eigenheit so viel
gelitten, in Anbetracht der vielen Beweise, die auch der jüdische Student von seiner Ehrlosigkeit
und Charakterlosigkeit gegeben und da er der Ehre nach unseren deutschen Begriffen völlig bar
ist, fasst die heutige Versammlung […] den Beschluss: ›Dem Juden ist auf keine Waffe mehr
Genugtuung zu geben, da er deren unwürdig ist.‹[53]
Juden/Jüdinnen sind ›Anders‹. Aber mit ihren Gesichtsnarben sehen sie aus
wie ›wir‹. Die Sichtbarkeit der Narben steht als Bürgschaft für die Reinheit
der Gruppe. Aber da Juden/Jüdinnen nicht rein sein können, müssen sie
ausgeschlossen werden. Wenn ein Jude eine Gesichtsnarbe trägt, dann
versteckt er sein kränkelndes Wesen vor ›uns‹. Und das ist ›unheilvoll‹.
Der narbige Jacques Joseph war ein geübter orthopädischer Chirurg, der
Assistent von Julius Wolff war – einem der Vorreiter auf dem Gebiet der
rekonstruktiven Orthopädie. (…) Die Orthopädie stellte, mehr als jedes
andere medizinische Fachgebiet der damaligen Zeit, die Herausforderung
dar, sichtbare Wachstumsfehler zu verändern, um die ›normale‹ Funktion
wiederherzustellen. Wolffs Ansatz legte dabei den Akzent auch auf die
Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen körperlichen Aspekten. Zu
seinen Behandlungsmethoden gehörten verbessernde operative Eingriffe
und der Gebrauch von Vorrichtungen. Josephs Interessen lagen nicht im
Bereich des Fußes, einem weiteren Zeichen der vermeintlichen jüdischen
Minderwertigkeit, sondern andernorts in der Anatomie. 1896 hatte Joseph
eine korrektive Behandlung an einem Kind mit abstehenden Ohren
vorgenommen, die ihm, obwohl erfolgreich, die Kündigung in Wolffs
Klinik einbrachte. Dies sei kosmetische und nicht rekonstruktive Chirurgie
gewesen.[54] Man unternehme einfach keine chirurgischen Eingriffe der
Eitelkeit zuliebe, wurde ihm erklärt. Hier habe kein Fall von funktionaler
Störung vorgelegen, wie beispielsweise ein Klumpfuß. Das Kind habe nicht
unter physischer Unpässlichkeit gelitten, die mit den Mitteln der Chirurgie
hätte gelindert werden können.
Joseph eröffnete eine private chirurgische Praxis in Berlin. Im Januar
1898 kam ein 28jähriger Mann zu ihm, der von der erfolgreichen Operation
der Kinderohren gehört hatte. Er beklagte, dass
[…] seine Nase ihm von jeher ausserordentlich viel Verdruss bereitet habe. Wo er gehe und wo er
stehe, starre ihn alles an, und oft genug sei er die Zielscheibe des ausgesprochenen, wie des
unausgesprochenen, durch Zeichen angedeuteten, Spottes gewesen. Er sei in Folge dessen was
schwermüthig geworden, habe sich aus dem gesellschaftlichen Leben fast ganz zurückgezogen
und hege nunmehr den dringenden Wunsch, von seiner Verunstaltung befreit zu werden.[55]
Joseph übernahm die Behandlung des jungen Mannes und begab sich an die
erste moderne kosmetische Rhinoplastik. Am 11. Mai 1898 berichtete er
über diese Operation vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft. In
diesem Bericht lieferte er eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung für die
Vornahme einer medizinischen Behandlung an einer ansonsten vollständig
gesunden Person:
Die schwermuthsvolle Stimmung des Patienten ist völlig geschwunden. Er ist froh, nunmehr
unbeachtet umhergehen zu können. Dass sich seine Lebensfreude ganz ausserordentlich erhöht
hat, ist unter Anderem, wie mir seine Gattin voller Freude mittheilte, daran zu erkennen, dass der
Patient, der früher allem gesellschaftlichen Verkehr scheu aus dem Wege ging, nunmehr den
Wunsch hat, Gesellschaften zu besuchen und zu geben. Mit einem Wort, er ist glücklich über den
Erfolg der Operation.[56]
Der Patient fühlte sich nicht länger durch die Form seiner Nase markiert. Er
wurde von seiner ›Krankheit‹ geheilt, die in seiner Sichtbarkeit bestand.
Joseph hatte eine chirurgische Behandlung vorgenommen, welche die
psychologische Störung des Patienten geheilt hatte!
Josephs Behandlung war nicht die erste verkleinernde Rhinoplastik.
Kosmetische Nasenchirurgie wurde in Deutschland und Frankreich bereits
im vorherigen Jahrhundert durchgeführt, vor der Einführung von modernen
chirurgischen Techniken wie Betäubungs- und entzündungshemmenden
Mitteln durch Chirurgen wie Johann Friedrich Dieffenbach. In den 1880ern
führte John Orlando Roe in Rochester, New York, eine Operation durch, um
eine ›Stupsnase‹ zu ›heilen‹.[57] Ausgehend vom Profil unterteilte Roe die
Form der Nase in fünf Kategorien: romanische, griechische, jüdische,
Boxer- oder Stupsnase und Himmelfahrtsnase. Roe bezeichnete die
›Stupsnase‹ als Beweis der ›Degenerierung der menschlichen Rasse‹. In
dieser Zeit wurde selbstredend das irische Profil in Karikaturen dargestellt,
charakterisiert durch die Stupsnase.[58] Roes Behandlung verwandelte die
irische Nase in »ein Ding der Schönheit«.[59] (…) Joseph war jedoch der
Erste, der die bis heute praktizierte Behandlung durchführte. Die Zeit war
reif für die Entwicklung einer schnellen und relativ einfachen
Behandlungsmethode, um die äußere Form der Nase zu verändern. Die
früheren Behandlungsmethoden waren nicht nur komplizierter (und ebenso
gefährlicher), zudem war zu diesem Zeitpunkt das Bedürfnis, die Krankheit
der Sichtbarkeit des Anderen zu ›heilen‹, nicht so ausgeprägt. Josephs
Verfahren der Nasenverkleinerung zeichnete sich insbesondere dadurch aus,
dass keine ›sichtbare Narbe‹ blieb.[60] Mit Josephs Behandlung begann zur
Jahrhundertwende die Manie der Nasenchirurgie in Deutschland und
Österreich. In der Geschichte der Medizin wurde Joseph der ›Vater der
ästhetischen Rhinoplastik‹. In der deutsch-jüdischen Community trug er den
Spitznamen ›Nase-Josef = Nosef‹.[61]
Es ist nicht bekannt, ob Josephs erster Patient Jude war, aber die
Schilderung seines psychologischen Gespürs sozialer Isolation aufgrund der
Form seiner Nase spiegelt sicherlich die mit antisemitischen Vorurteilen
verbundene Bedeutung zur Jahrhundertwende wider. Es ist jedoch bekannt,
dass Josephs anfängliche Klientel vornehmlich Juden/Jüdinnen waren, und
dass er regelmäßig ›jüdische Nasen‹ in ›nicht-jüdische Konturen‹
reduzierte. Viele seiner Patienten unterzogen sich der Operation, »um ihre
Ursprünge zu verschleiern«.[62] Um seine Behandlungen zu rechtfertigen,
berief sich Joseph auf die Erklärung der psychologischen Schäden, die
durch die Form der Nase hervorgerufen werden. Er heilte das
Minderwertigkeitsgefühl seiner Patienten, indem er die Form ihrer Nase
änderte. Seine primäre ›Heilung‹ bestand darin, sie weniger sichtbar zu
machen. Dies war eine der Erklärungen, die andere deutsch-jüdische
plastische Chirurgen dieser Zeit zitierten, wie der Kunstwissenschaftler und
Arzt Eugen Holländer.[63] Josephs orthopädische Ausbildung war ihm sehr
zunutze. Er konnte hollistisch die gesamten Unpässlichkeiten der
PatientInnen heilen, einschließlich die der Psyche, indem er die Nase der
PatientInnen operierte. Hier wurde das Gesetz von Wolff in den
psychologischen Bereich ausgedehnt. Joseph notierte in der
Schlussfolgerung seines ersten Jahresberichtes (1917) als Direktor der
ersten Abteilung für ›Gesichtsplastik‹ an der Charité, dem wichtigsten
Lehrkrankenhaus in Berlin, dass »die befreiten Patienten alle von ihren
psychischen Depressionen geheilt sind, in welche das Bewusstsein der
körperlichen Deformierung immer eingeschlossen ist«.[64] Dies waren
insbesondere Patienten, die, grausam im Krieg verstümmelt, unversehrt
gemacht wurden, sowohl physisch als auch psychisch. Wie gleichermaßen
zutreffend für seine privaten PatientInnen.
Es ist lediglich eine späte Fallbeschreibung von einer der Rhinoplastiken
von Joseph erhalten, datiert im Januar 1933, kurz nachdem die Nazis die
Macht übernommen und jüdischen ÄrztInnen das Operieren nicht-jüdischer
Patienten ohne spezielle Erlaubnis verboten hatten. Die 16jährige
Adolphine Schwarz folgte dem Beispiel ihres älteren Bruders und ließ »ihre
Nase kürzen«. Sie vermerkte, dass ihr Bruder an Joseph geschrieben und
ihn darüber informiert hatte, dass er nur über sehr beschränkte Mittel
verfüge. »Joseph war sehr großzügig«, sagte sie später, »und wenn er
spürte, dass jemand an einer ›jüdischen Nase‹ litt, dann operierte er
umsonst.«[65] Das Bild des »Leiden an einer ›jüdischen Nase‹« ist sehr
mächtig. Junge Männer und Frauen mussten unsichtbar werden, mussten
ihre Körper verändern, da ihre Sichtbarkeit umso mehr kennzeichnend
wurde. Doch die virtuelle Unsichtbarkeit von Juden/Jüdinnen in
Deutschland verschwand mit der Einführung des gelben ›Judensterns‹.
›Nosef‹ starb im Februar 1934 an einem Herzinfarkt, bevor ihm die
medizinische Praxis vollständig verboten wurde. Sein narbiges Gesicht
machte ihn letztendlich nicht unsichtbar als Juden, ebenso wenig wie seine
chirurgischen Eingriffe die Juden/Jüdinnen weniger sichtbar machten, deren
Nasen er ›kürzte‹.
Aber Jacques Joseph war nicht der einzige Berliner Arzt, der in den
1890er Jahren Nasen operierte. Zwei jüdische Wissenschaftler im Europa
der Jahrhundertwende, deren Forschungsfokus der Nase galt,
argumentierten, dass es eine direkte Verbindung zwischen der ›Nase‹ und
den ›Genitalien‹ gäbe. Wilhelm Fliess und sein Wiener Kollege Sigmund
Freud sahen in der Nase eher ein Zeichen universaler Entwicklung als ein
spezifisches Zeichen einer ›minderwertigen‹ ›Rassen‹-Identität.[66] Die
Nase sei die Entwicklungsanalogie zu den Genitalien. Zwischen dem
Gewebe der Nase und dem der Genitalien gäbe es eine enge Beziehung, da
sie sich embryologisch im selben Stadium entwickelten. Und für Fliess
sowie Freud traf dies auf alle Menschen zu, nicht nur auf Juden/Jüdinnen.
Dementsprechend war die Heilung sexueller Disfunktionen, laut Fliess,
durch die Operation der Nase möglich, was er selber auch regelmäßig
praktizierte. Fliess’ Ansicht teilten andere Ärzte seiner Zeit, so etwa John
Noland Mackensie von der Johns Hopkins Universität.[67] Aber ihr
Interesse war rein hypothetisch; Fliess richtete sich nach seinen Theorien
bei den Nasenoperationen, um erkennbare ›nervöse‹ Krankheiten zu heilen.
Bei der Durchsicht seiner Aufzeichnungen fällt auf, dass Fliess’
PatientInnen nicht den Querschnitt der Gesellschaft darstellten. Von den
156 Fällen, die er aufzeichnete (einige in der medizinischen Literatur der
damaligen Zeit) waren nur ein Dutzend Männer.[68] Alle anderen
PatientInnen waren Frauen, die wegen verschiedener, insbesondere
psychologischer Beschwerden operiert wurden. Fliess behandelte eine
große Bandbreite mentaler Krankheiten, auch Hysterie, durch die extensive
Verschreibung von Kokain, aber er trug auch Säure auf die inneren
Strukturen der Nasengänge auf oder entfernte sie chirurgisch. In diesen
Jahren gelang es Fliess, eine vermeintliche ›Rassen‹-Eigenschaft (von
Juden/Jüdinnen) in ein geschlechtsspezifisches Charakteristikum zu
verwandeln. Während ihm sowohl Männer als auch Frauen als theoretisches
Material dienten, konzentrierte sich sein klinisches Material (vermutlich ein
Spiegel seiner Praxis) auf weibliche Nasenhöhlen als klinischen Ersatz für
die jüdische Nase.
Nicht nur, dass zur Jahrhundertwende in Europa die Vorstellung einer
Verbindung zwischen den Genitalien und der Nase bestand; schon seit
langem wurde eine direkte Beziehung in populären und medizinischen
Vorstellungen zwischen der Größe der Nase und der des Penis gezogen.
Ovid schrieb: »Noscitur e naso quanta sit hast viro.« Die Verbindung
zwischen der Sexualität des Juden und der Nase des Juden war weit
verbreitet am Ende des Jahrhunderts, aber hier wurde das gewohnte Muster
umgekehrt.[69]
Die besondere Form der Nase des Juden weise auf die schadhafte Natur,
die verkürzte Form seines Penis hin. Die traditionell positive Assoziation
zwischen der Größe der Nase und der des männlichen Genitals wurde
umgekehrt, und aus dieser Umkehrung wurde ein pathologisches Zeichen.
[70] Die Verbindung zwischen der jüdischen Nase und dem beschnittenen
Penis als Zeichen der jüdischen ›Andersheit‹ wurde in geschmacklosester
und abstoßendster Weise in den 1880er Jahren verbreitet. In den Straßen
von Berlin und Wien waren in Groschenheften, auf den neu installierten
›Litfasssäulen‹ oder auf Werbeplakaten Karikaturen von Juden/Jüdinnen zu
sehen.[71] Ein Bild des unentbehrlichen Juden, dem kleinen ›Mr. Kohn‹,
zeigte ihn als Ertrunkenen, nur die Nase und die großen
überdimensionierten Füße aus dem Wasser herausragend.[72] Diese
außerordentlichen Karikaturen zielten auf einen zentralen
physiognomischen Aspekt des männlichen Juden ab, seine Nase, die als
verstecktes Zeichen seiner sexuellen ›Andersheit‹, seines beschnittenen
Penis, stand. Das jüdische Zeichen der sexuellen Differenz, seine ›sexuelle
Selektivität‹ als Zeichen seiner Identität war, wie Friedrich Nietzsche
treffend in seinem Jenseits von Gut und Böse beobachtete, der Fokus der
deutschen Angst vor der Oberflächlichkeit ihrer kürzlich geschaffenen
nationalen Identität.[73] Diese Angst zeigte sich in Karikaturen durch die
verlängerte Nase. Sie durchdrang die wissenschaftlichen Diskussionen der
damaligen Zeit. In der ›anatomisch-anthropologischen‹ Studie der Nase des
Wiener Anatom Oskar Hovorka (1893) wurde die Form der Nase als
Zeichen negativer ›Rassen‹-Unterschiede gesehen und ebenso als Zeichen
des »Idioten und Geisteskranken«.[74] Betrachte die Nase des ›Anderen‹
und du wirst das grundlegende Zeichen von Atavismus sehen. Somit
verband Wilhelm Fliess bei seinen Versuchen, die Pathologie der Genitalien
durch Operation der Nase zu verändern – in Zeiten, in denen die nationale
Identität extrem verunsichert und Sündenböcke leicht zu finden waren – die
aufklärerische universalistische Theorie mit der deutschen ›Rassen‹-
Biologie. Fliess’ Wunsch war es, daraus eine Eigenschaft aller Menschen,
männlich und weiblich, Jude/Jüdin und Arier, nicht ausschließlich der
jüdischen Männer, zu schaffen. Es gelang ihm, das Bild einer Frau zu
erzeugen, leidend an der Pathologie der Nase, welches zum Äquivalent der
allgemeinen kulturellen Sichtweise des männlichen Juden wurde.
Fliess’ Ziel war es – wie das vieler anderer seiner Zeit – den jüdischen
Köper zu verwandeln, damit er unsichtbar werde. Einige Juden/Jüdinnen,
wie etwa der Berliner Literaturkritiker Ludwig Geiger, rebellierten gegen
den Wunsch nach jüdischer Unsichtbarkeit:
Ist Assimiliation – und das kann doch nur der Sinn des Wortes sein – eine Deutschwerdung in
Sitte, Sprache, Behaben, Gefühlen, so bedarf es dazu weder der Mischehe noch der Taufe. Für
eine Assimilation in der Art, dass etwa alle Juden gerade Nasen und blonde Haare haben, wird
kein ernster Mann plädieren.[75]
Aber Geiger reagierte in dieser Art der Argumentation natürlich genau auf
die Zwänge, die Juden/Jüdinnen dazu brachten, ihre Haare zu färben und
ihre Nasen zu ›kürzen‹. Geiger deutet an, dass diese Verwandlungen
vorrangig aus kosmetischen Gründen, der Eitelkeit wegen vorgenommen
würden. Was er bei dieser Diskussion unbedingt zu meiden versucht ist die
Tatsache, dass diese Operationen im Kern darauf abzielen, die Krankheit
des Jüdischseins zu ›heilen‹, die Angst davor, als Jude/Jüdin erkannt zu
werden. Als Jude/Jüdin erkannt zu werden bedeutete, verfolgt, attackiert
und schikaniert zu werden. Die ›Heilung‹ davon war tatsächlich die
Verwandlung des Körpers. Der jüdische Geist, den die deutsche Kultur aus
der arischen Perspektive heraus als ›Anders‹ herstellte, ist geplagt von dem
Gefühl der eigenen Andersheit. Um den jüdischen Geist zu heilen,
operierten Joseph und Fliess die Nasen des Juden/der Jüdin.
Ein anderes Beispiel, nicht aus der chirurgischen, sondern
psychoanalytischen Literatur zur Jahrhundertwende, zeigt einen weiteren
Fall einer schweren psychologischer Schädigung durch die Internalisierung
der Bedeutung der ›jüdischen Nase‹. Das Beispiel ist den Patientenakten
von Freuds erstem Biographen, einem der ersten Psychoanalytiker, dem
wienerisch-jüdischen Arzt Fritz Wittels entnommen. Bei der Versammlung
der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft am 9. Dezember 1908
berichtete Wittels detailliert über den Fall eines Patienten, der ihn
ausschließlich wegen seiner polemischen Veröffentlichung über getaufte
Juden/Jüdinnen aufsuchte, die versuchten, als Christen durchzugehen (to
pass).[76] Wittels deutet dieses Verhalten als Ausdruck einer psychischen
Störung. Der junge Mann, ca. 30 Jahre alt, leide an »antisemitische
Verfolgungen, für die er seine gar nicht auffällig semitische Nase
verantwortlich macht. Er will sich darum die Nase chirugisch formieren
lassen«.[77] Wittels versuchte ihn zu überzeugen, dass seine Beklemmung
wegen seiner Nase lediglich die Verdrängung seiner Angst vor seiner
sexuellen Identität sei, »was Patient für einen guten Witz erklärt.«[78] Die
offensichtliche Analogie von Wittels Vermutungen schien ihm absurd zu
sein. Wenn ein Patient ausdrücklich wegen seiner Schriften über die
Neurose der Konversion zu ihm kam und seine Nase zu verändern
wünschte, um sein Jüdischsein zu verstecken, dann ist die Frage seiner
eigenen ›paranoiden‹ Beziehung zu seinem eigenen beschnittenen Penis,
dem unsichtbaren aber omnipräsenten Zeichen des männlichen
Jüdischseins, selbstredend. Freud nahm dies direkt auf und erklärte, dass
der »Mann […] offenbar unglücklich [ist], daß er ein Jude ist, und will sich
taufen lassen (wozu Wittels bemerkt, daß er ein enragierter Jude ist). In dem
Umstand, daß er sich doch nicht taufen läßt, steckt der Konflikt, der die
Bedeutung anderer Konflikte in sich aufgenommen hat […].«[79]
Jude/Jüdin mit einer derartigen Fixierung auf die öffentliche Sichtbarkeit
dieser Identität zu sein, bedeutet krank zu sein. Dann nannte Wittels den
Zuhörenden den Namen des Patienten und Freud erkannte am
Familiennamen, dass der Vater des Patienten ein engagierter Zionist war.
Daraufhin las er den Wunsch, das eigene Jüdischsein aufzuheben, als
Zeichen der Ablehnung gegenüber dem Vater. Freud kommentierte nicht die
Verbindung zwischen einer starken jüdischen Identität und der Ablehnung
gegenüber der Sichtbarkeit, welche diese Identität mit sich bringt. Freuds
Bemerkung traf eine wahre Aussage: der jüdische Körper, repräsentiert
durch die Haut oder die Nase, könne niemals wirklich verändert werden.
Der Körper ist dauerhafter Bestandteil, welcher fortwährend die rassische
Identität des Juden/der Jüdin widerspiegelt. Die äußere Erscheinung des
Juden/der Jüdin zu verändern, mag einen weiten Spielraum für den
Juden/die Jüdin geschaffen haben, in dem er oder sie ›als etwa anderes
durchgehen‹ konnte (to pass), aber der Jude/die Jüdin kann niemals
wirklich in Frieden mit seiner oder ihrer Unsichtbarkeit sein.
Das Bild des buchstäblich narbigen Jacques Joseph, der das
buchstäbliche Bild des Juden/der Jüdin operiert, ist stark beunruhigend.
Joseph gestaltete das Bild des Juden/der Jüdin um, aber auch das reichte
nicht aus. Je mehr der Jude/die Jüdin wünschte, unsichtbar zu werden, umso
mehr wurde die Unsichtbarkeit des Juden/der Jüdin zum Zeichen der
Differenz. Wir können diese Operation im Wesentlichen in den Schriften
Walter Lippmanns wieder finden, einem der tonangebenden amerikanisch-
jüdischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in den
späten 1920ern vermerkte, dass
die reichen und vulgären und anspruchsvollen Juden unserer großen amerikanischen Städte
vielleicht das größte Unglück sind, das jemals die jüdischen Leute befallen hat. Sie sind eine
Fontäne des Antisemitismus. Wenn sie in ihren Super-Autos vorbeirauschen, juwelenbehängt und
in Pelz gekleidet und geschminkt und überfrisiert, wenn sie sich französische Schlösser und
italienische Palazzi bauen, schüren sie den latenten Hass gegen simplen Reichtum in den Händen
oberflächlicher Leute; und diesen Hass verbreiten sie selbst.[80]
Ein Jude/eine Jüdin bleibt ein Jude/eine Jüdin, sogar verkleidet. Das liegt in
seinem oder ihrem »geschminkten und überfrisierten« Kern. Man kann sich
– Nasenoperation oder nicht – der ›Rassen‹-Lehre nicht entziehen. Und dem
Juden/der Jüdin ist dies am meisten bewusst. Lippmann sieht vor seinem
inneren Auge das Bild seiner Antithesis, das des ›schlechten‹ Juden
gegenüber seinem ›guten‹ Juden. Und dieser Jude ist nur so sichtbar, wie er
sich selbst als unsichtbar glaubt. Lippmann in seinem Wall Street-Anzug
und mit sorgsam kontrolliertem Auftreten und Erscheinen sieht aus wie
jedermann – so glaubt er zumindest. Aber Verstecken ist vor der Tatsache
einer konstruierten Verschiedenheit nicht möglich. Es gibt keine Maske,
keine Operation, keine Zuflucht. Trotzdem, wie der plastische Chirurg
Mark Gorney kürzlich vermerkte,
Patienten, die eine Rhinoplastik wünschen […], zeigen häufig eine schuldbewusste, zweite-
Generationen-spezifische Ablehnung ihres ethnischen Hintergrundes, maskiert durch
Entschuldigungen, so in der Art, nicht gut fotografieren zu können. Oft ist es nicht vorrangig der
Wunsch, die ethnische Gruppe zu verlassen, denn als Individuen angesehen zu werden und
spezifische physische Attribute loszuwerden, die mit ihrer bestimmten ethnischen Gruppe
verbunden werden.[81]
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1 Leicht gekürzte und übersetzte Fassung des Aufsatzes: »The Jewish Nose: Are Jews White? Or,
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Routledge, 1991, S. 169-193.
2 Washingtonian 26, 4.1.1991, S. 196.
3 Douglas: Natural, S. 70.
4 Dobzhansky: »On Types, Genotypes, and the Genetic Diversity in Populations«, S. 12.
5 Vgl. z.B.: Bochnik: Die mächtigen Diener.
6 Lifton: The Nazi Doctors.
7 Vgl. Ransford: »Bid the Sickness Cease.«
8 Mission: A New Voyage to Italy, Bd. 2, S. 139.
9 Pezzl: Skizze von Wien, S. 170-171
10 Über die Bedeutung von Krankheit in der medizinischen Literatur der Periode siehe die
folgende Dissertation zu diesem Topus: Scheiba: Dissertatio inaugurialis medica; Ludolf:
Dissertatio inaugurialis medica de plica.
11 Kürzungen im Text, die die Herausgeberinnen vornahmen, sind durch ein (…) gekennzeichnet.
12 Friedenwald: The Jews and Medicine, Bd. 2, S. S. 531.
13 Rohrer: Versuch über die jüdischen Bewohner der österreichischen Monarchie, S. 26. Die
Debatte über die besondere Neigung der Juden zu Hautkrankheiten, vor allem der »plica
polonica«, wird auch im 20. Jahrhundert weiterhin geführt. Vgl. Weinberg: »Zur Pathologie der
Juden«, S. 10-11.
14 Häusler: Das galizische Judentum. Über den Stellenwert der Debatten über die Pathologie der
Ostjuden nach 1919 vgl.: Voprosy biologii i patologii evreev.
15 Wolf: Von den Krankheiten der Juden, S. 12.
16 Pritchard: Researches into the Physical History of Man, S. 186.
17 Buchanan: Christian Researches, S. 169. Zum Hintergrund dieser Fragen vgl.: Stocking:
Victorian Anthropology.
18 Poliakov: Der arische Mythos, S. 244-286.
19 Gilman: On Blackness without Blacks.
20 Vgl. Herr: »The Erotics of Irishness«.
21 Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 406.
22 Birnbaum: »Über H. St. Chamberlain«, S. 205.
23 Knox: The Races of Men, S. 134.
24 Ebenda, S. 133.
25 Gurowski: America and Europe, S. 177.
26 Zur Frage der Definition und Bedeutung des Mischling siehe: Weindling: Health, Race and
German Politics, S. 531-532.
27 Chamberlain: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. S. 355.
28 Kopp: »Beobachtung an Halbjuden«, S. 392.
29 Jacobs: Studies in Jewish Statistics, S. xxiii.
30 Wassermann: Mein Weg, S. 54-55.
31 Sigmund Freud: »Das Unbewusste«, S. 69.
32 Anm. d. Ü.: Damit ist im Deutschen die vielschichtige englische Bedeutung des Begriffes
passing nur unzureichend wiedergegeben. Der Begriff passing situiert sich nämlich in einem
komplexen Konzept hegemonialer Einschließungs- und Ausschließungspraxen, welches vor
allem in den USA als Teil einer jahrhundertealter Marginalisierungsstrategie schließlich auch
theoretisch verankert wurde.
33 Sigmund Freud: »Das Tabu der Virginität«, S. 540.
34 Ebenda.
35 Ebenda.
36 Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 479.
37 Smith: An Essay, S. 42.
38 Lawrence: Lectures, S. 468.
39 Virchow: »Gesamtbericht«.
40 Mosse: Die Geschichte des Rassismus, S. 114.
41 Zitiert aus einem Interview bei: Gabler: An Empire of Their Own, S. 242.
42 »Types«, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 12, S. 295.
43 Wassermann: Mein Weg, S. 115.
44 Ebenda.
45 Zum kulturellen Hintergrund dieses Konzepts siehe Katz: Out of the Ghetto; Erb & Bergmann:
Die Nachtseite der Judenemanzipation.
46 Hess: Rom und Jerusalem, S. 11, 12, 13.
47 Warwick: Notes on Noses, S. 11. Zur allgemeinen Frage der Repräsentation der Physiognomie
des Juden in der Kultur zur Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Cowling: The Artist as
Anthropologist, S. 118-119, 332-333.
48 Blechmann: Ein Beitrag zur Anthropologie der Juden, S. 11.
49 Jacobs: Studies in Jewish Statistics, S. xxxii.
50 Leicher: Die Vererbung anatomischer Variationen der Nase, S. 80-85.
51 Elon: Herzl, S. 63.
52 Zit. in: Jarausch: Students, Society and Politics in Imperial Germany, S. 272.
53 Zitiert in: Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus, S. 267.
54 Die traditionellen Geschichten über wiederherstellende Chirurgie umfassen bis heute nicht die
kosmetische Chirurgie. Siehe z.B.: Gabka & Vaubel: Plastic Surgery, die Joseph kurz erwähnen,
aber nicht einmal seine Biographie in ihren biographischen Appendix aufführen. Die einzige
umfassende Geschichte der kosmetischen Chirurgie diskutiert seine Rolle, jedoch ohne den
sozialen Kontext, vgl.: González-Ulloa (Hrsg.): The Creation of Aesthetic Plastic Surgery, S. 87-
114.
55 Joseph: »Über die operative Verkleinerung einer Nase«, S. 882. Siehe auch Natvig: Jacques
Joseph, S. 23-24. Zur allgemeinen Geschichte der Rhinoplastik vgl.: Rogers: »A Chronological
History of Cosmetic Surgery«; Rogers: »A Brief History of Cosmetic Surgery«; Milstein:
»Jacques Joseph«, S. 424; Carey, J. S.: »Kant and the Cosmetic Surgeon«, S. 637-643.
56 Joseph: »Über die operative Verkleinerung einer Nase«, S. 884.
57 Roe: »The Deformity Termed ›Pug Nose‹«, S. 114.
58 Cowling: Artist as Anthropologist, S. 125-129. Das Bild der Nase, abgedruckt ebenda, aus der
physiognomischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit der Darstellung der irischen Nase ist
identisch mit dem der ›Vorher‹-Bilder, abgedruckt bei Roe: »Über die operative Verkleinerung
einer Nase«.
59 Vgl. dazu: Rogers: »John Orlando Roe«.
60 Joseph: »Nasenverkleinerungen«, S. 1095.
61 Natvig: Jacques Joseph, S. 94.
62 Ebenda, S. 71.
63 Siehe die Kommentare von Holländer: »Die kosmetische Chirurgie«, S. 673.
64 Natvig: Jacques Joseph, S. 179.
65 Ebenda, S. 95.
66 Siehe Gilman: Disease and Representation, S. 182-201.
67 Sulloway: Freud, S. 148-150.
68 Fliess: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen.
69 Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel ›Nase‹, Bd. 6,
S. 970-979; Ellis: Studies in the Psychology of Sex, S. 67-69.
70 Über dieses Umkehrprinzip und die Bedeutung der Nase als Symbol des kastrierten Penis siehe
Fenichel: »Die ›lange‹ Nase«, S. 502-504.
71 Grand-Carteret: L’affaire Dreyfus et l’image; Fuchs: Die Juden in der Karikatur; Vogt:
Historien om et Image.
72 Vgl. Bering: Der Name als Stigma, S. 211.
73 Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse«, S. 716-718.
74 Hovorka: Die äussere Nase, S. 130-140. Zur pathologischen Bedeutung der Nase in der
deutschen Gesellschaft späterer Zeit siehe: Leicher: Die Vererbung anatomischer Variationen
der Nase, S. 81.
75 Aus Ludwig Geigers Antwort auf die Fragen von: Landsberger (Hrsg.): Judentaufe, S. 45.
76 Vgl. Gilman: Jewish Self-Hatred, S. 193-194.
77 Nunberg & Federn (Hrsg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, S. 66.
78 Ebenda.
79 Ebenda, S. 67.
80 Steel: Walter Lippmann, S. 192.
81 Gorney: »Patient Selection«, S. 2.
82 Sartre: Anti-Semite and Jew, S. 119.
ESKE WOLLRAD
WEIßSEIN UND BUNDESDEUTSCHE GENDER STUDIES
Ein solch komplexer Feminismus ist nicht anders zu denken als eine
Bewegung, die von denen getragen wird, die offen dafür sind, fixierte
Subjektpositionen in Frage zu stellen und dichotome Konstrukte
aufzubrechen. Zu dieser Offenheit gehört ebenfalls die Fähigkeit zur
Selbstkritik sowie die Bereitschaft aller, ein bisschen zu rücken, damit Platz
ist für viele.
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ANMERKUNGEN
1 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 204. Ich habe alle Zitate aus dem Englischen –
wenn nicht anders angegeben – übersetzt.
2 Lorde: »Vom Nutzen unseres Ärgers«, S. 107.
3 Überblick bei Singer: »Feministische Wissenschaftskritik und Epistemologie«, S. 259-264.
4 Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter.
5 Villa: »(De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie«, S. 142.
6 Vgl. Gutiérrez Rodríguez: »Frau ist nicht gleich Frau«, S. 165.
7 Becker-Schmidt & Knapp: Feministische Theorien, S. 84.
8 Stephan: »Gender, Geschlecht«, S. 70.
9 Eine ausführlichere Analyse von Gender als Metakategorie in bundesdeutschen Gender Studies
habe ich an anderer Stelle vorgelegt (Wollrad: Weißsein im Widerspruch, S. 100-116).
10 Maihofer: »Geschlecht«, S. 427.
11 Metz-Göckel: »Spiegelungen und Verwerfungen«, S. 37.
12 Vgl. hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 210.
13 Vgl. Kraft: »Frauen afrikanischer Herkunft«, S. 42.
14 Vgl. Binswanger & Schnegg: »Kanon – no Kanon«, S. 77.
15 Ebenda, S. 78.
16 Die kontinuierlich wachsende Zahl von Handbüchern und Einführungen in die Gender Studies
seit dem Jahr 2000 lässt auf eine inhaltliche Konsolidierung des Fachs schließen [vgl. etwa: von
Braun & Stephan (Hrsg.): Gender Studien; Dies. Gender@Wissen; (Hrsg.): Kroll (Hrsg.):
Gender Studies; Haug (Hrsg.): Wörterbuch des Feminismus; Becker & Kortendieck (Hrsg.):
Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung].
17 Vgl. Dietze: »Postcolonial Theory«, S. 304-324.
18 Dornhof: »Postmoderne«, S. 275.
19 Vgl. Dietze: »Wie viel ›Race‹ ist in den Gender Studies?«, S. 83.
20 Ebenda. Die Konstituierung von Gender Studies als weiß dominiertes Fach erfolgt auch über die
kontinuierlich wiederholte Anrufung des Publikums bzw. der LeserInnenschaft als weiß.
21 Vgl. Baer: »Einführung«, S. 69.
22 Broek: »Gender Studies und Weißheit«, S. 94.
23 Vgl. Ha: Ethnizität, S. 84.
24 Vgl. Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 41.
25 Gutiérrez Rodríguez: »Postkolonialismus«, S. 240.
26 Vgl. ebenda.
27 Ebenda, S. 241.
28 Vgl. West: Keeping Faith, S. 20; Morrison: Im Dunkeln spielen, S. 87.
29 An anderer Stelle habe ich diese Komplexität im Hinblick auf biologistische sowie sozio-
symbolische Aspekte der weißen Mutterschaft näher beleuchtet: Wollrad: Weißsein im
Widerspruch, S. 92-99.
30 Cohen: »Laboring under Whiteness«, S. 244.
31 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik«, S. 29.
32 Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«, S. 199.
33 Siehe Lauré al-Samarai in diesem Band.
34 Gutiérrez Rodríguez: »Vergesellschaftung revisited?!«, S. 135.
35 Smith: »Racism in the Women’s Movement«, S. 61.
CARSTEN JUNKER
WEIßSEIN IN DER AKADEMISCHEN PRAXIS:
ÜBERLEGUNGEN ZU EINER KRITISCHEN
ANALYSEKATEGORIE IN DEN DEUTSCHSPRACHIGEN
KULTURWISSENSCHAFTEN
VORÜBERLEGUNGEN
Im Jahr 1997, nach der Sitzung eines Seminars zur britischen
Kolonialgeschichte und Kolonialliteratur am Goldsmiths College at the
University of London, bemerkte der Postkolonialismus-Theoretiker Bart
Moore-Gilbert in einem Gespräch zu mir, dass es nun an der Zeit sei, auch
in Deutschland die deutsche koloniale Vergangenheit und die Kontinuitäten
des (kolonialen) Rassismus zu einem Gegenstand der Forschung zu
machen. Ich hatte mir als weißer deutscher Student die deutsche
Kolonialgeschichte und ihre andauernde Wirkmacht in Deutschland bisher
nicht umfassend bewusst gemacht: Im westdeutschen Bildungssystem war
deutsche Kolonialgeschichte kein Thema. Rassismus wurde öffentlich unter
Begriffen wie Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus und primär
als Phänomen der neuen Bundesländer diskutiert.[1] Einhundertzwanzig
Jahre nach der Berliner Konferenz von 1884/5, auf der die europäischen
Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, und hundert Jahre nach dem
Hererogenozid in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, rückt die
koloniale Vergangenheit der Deutschen in den Blickwinkel kritischen
wissenschaftlichen Interesses.[2] Den theoretischen Rahmen hierzu bieten
Ansätze der Postkolonialen Theorie, die »als sehr weitläufiger, eher durch
familiäre Ähnlichkeiten als durch fixe Definitionen abgegrenzter und
hauptsächlich im angloamerikanischen Sprachraum entwickelter
Wissenskorpus begriffen werden [kann].«[3] Hito Steyerl führt aus, dass
dieser Wissenskorpus in den 1990er Jahren »so verschiedene Themen
umfasste wie ›Migration, Sklaverei, Unterdrückung, Widerstand,
Repräsentation, Differenz, ›Rasse‹, Geschlecht, Ort und Reaktionen auf
imperiale europäische Meisterdiskurse wie Geschichte, Philosophie und
Linguistik‹, und sich vor allem in den Kultur- und Literaturwissenschaften
etabliert hatte.«[4] Zunehmend finden an kulturwissenschaftlich
ausgerichteten geistes- und sozialwissenschaftlichen Instituten deutscher
Universitäten Auseinandersetzungen mit Hegemoniekritik statt.[5] Wenn
ein Schlüsselbegriff im Rahmen der englischsprachigen Wissensproduktion
whiteness ist, so bildet sich in den Debatten im deutschsprachigen
Zusammenhang nunmehr der Begriff Weißsein heraus.
Im Folgenden möchte ich zuerst den angloamerikanischen Kontext
nachzeichnen, in dem die Analysekategorie whiteness konzeptionalisiert
worden ist. Dabei beabsichtige ich, die Probleme eines Sprechens über
Critical Whiteness Studies als Forschungsfeld kritisch zu reflektieren. Im
Anschluss daran diskutiere ich im Hinblick auf die deutschen
Kulturwissenschaften, was es bedeutet, die Kategorien Weißsein und
›Rasse‹ aus dem deutschsprachigen Kontext heraus zu entwickeln. Ich frage
danach, wie sich die Kategorien Weißsein und ›Rasse‹ auf Fragestellungen
und SprecherInnenpositionen im Rahmen einer deutschsprachigen
Kritischen Weißseinsforschung auswirken.
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Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany 1770-
1870. Durham: Duke University Press, 1997
ANMERKUNGEN
1 Laut Nora Räthzel setzten sich noch im Jahr 2000 in der Bundesrepublik die meisten
Forschungsarbeiten mit Fragen des Rassismus’ auseinander, indem sie sich auf
rechtsextremistische Aktivitäten, meist von Jugendlichen, konzentrierten. Siehe Räthzel:
»Vorwort«, S 5.
2 Siehe etwa die vorliegenden Arbeiten zur deutschen Kolonialgeschichte: Zantop: Colonial
Fantasies; Friedrichsmeyer, Lennox & Zantop: The Imperialist Imagination; Grosse:
Kolonialismus; Wildenthal: German Women for Empire; Conrad & Randeria (Hrsg.): Jenseits
des Eurozentrismus; Kundrus: Moderne Imperialisten; Dies. (Hrsg.): Phantasiereiche.
3 Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 40.
4 Ebenda, S. 40-41.
5 Wenn ich im Folgenden von den deutschen bzw. deutschsprachigen Kulturwissenschaften
spreche, so fasse ich darunter in einem weiten Sinn geistes- und sozialwissenschaftliche
Disziplinen, die um eine kulturwissenschaftliche Erneuerung bemüht sind. Zu einer aktuellen
Positionsbestimmung der deutschen Kulturwissenschaften, siehe Nünning & Nünning: Konzepte
der Kulturwissenschaften.
6 Carby: »The Multicultural Wars«, S. 193.
7 Frankenberg: »White Women, Race Matters«, S. 447.
8 Wie die näheren Bestimmungen von Dyer und Frankenberg verdeutlichen, kann die rassische
Markierung Weißer irritierend wirken. Die Irritation wird dadurch ausgelöst, dass die Norm
weißer Unsichtbarkeit verletzt wird.
9 Dyer: White, S. 2. Die Strategie, »colour« bzw. »Farbe« für weiße Menschen zu reklamieren,
wie Dyer sie hier durch die Formulierung »other colours« implizit vorführt, betrachte ich als
problematisch, weil dies die Vorstellung von »Farbe« als einer weißen Markierungsstrategie, als
einer Konstruktion im Kontext von Rassismus, unsichtbar macht.
10 hooks: »Representations of Whiteness«, S. 34.
11 Whiteness als Analysekategorie muss bereits immer mit weiteren Kategorien von kultureller
Identität und sozialer Positionierung verschränkt gedacht werden. Diese Verschränkungen sollen
hier jedoch zwecks einer Pointierung der Überlegungen zu whiteness und Weißsein in den
Hintergrund treten. Zu den Interdependenzen von race, class und gender, siehe Dietze »Race
Class Gender«.
12 Siehe Roediger: The Wages of Whiteness; Allen: Die Erfindung der weißen Rasse; Ignatiev:
How the Irish Became White; Jacobsen: Whiteness of a Different Color.
13 Bernasconi: »Who Invented the Concept of Race?«, S. 26-30.
14 Guillaumin: »The Changing Face of ›Race‹«, S. 362.
15 Raman: »The Racial Turn«, S. 255.
16 Ebenda.
17 Eine Reihe von Sammelbänden, in denen Texte zu whiteness anthologisiert worden sind, haben
zur Formierung eines Kanons der so genannten Critical Whiteness Studies beigetragen. Dazu
zählen u.a.: Delgado & Stefanic (Hrsg.): Critical White Studies; Fine, Powell & Wong (Hrsg.):
Off White; Frankenberg (Hrsg.): Displacing Whiteness; Hill (Hrsg.): Whiteness; Ignatiev &
Garvey (Hrsg.): Race Traitor. Zur Formierung des Forschungsgebiets der Critical Whiteness
Studies, siehe Stowe: »Uncolored People« und Wiegman: »Whiteness Studies«.
18 Zu fragen wäre hier auch nach der unterschiedlichen Bewertung verschiedener Genres wie
Autobiographien, Essays u.a., die als Rahmen dafür dienen, bestimmtes Wissen auf bestimmte
Art und Weise verfügbar zu machen und zu autorisieren.
19 Wiegman: »Whiteness Studies«, S. 122.
20 Beispielhaft seien Tagungen genannt, auf denen Schwarze Teilnehmende Kritik daran üben, dass
sie nicht in die Vorbereitungen der weißen OrganisatorInnen einbezogen werden und so
verdeutlichen, wie in einem Forschungszusammenhang, der rassistische
Ausschlussmechanismen und Dominanzverhältnisse problematisieren will, solche Mechanismen
unbeabsichtigt reproduziert werden können.
21 hooks: »Representations of Whiteness«, S. 31; Roediger: »Introduction«, S. 4-6.
22 Essed: Understanding Everyday Racism, S. 1-2.
23 Zu der Erkenntnis, dass Erfahrung diskursiv vermittelt ist und dementsprechend Unterschiede
erst herstellt und festschreibt, anstatt sie als Quelle vermeintlich essentialistischer Differenzen zu
begreifen, siehe Scott: »The Evidence of Experience«, S. 777.
24 Siehe etwa Morrison: »What the Black Woman Thinks About Womens’ Lib«; später z.B.
Collins: Black Feminist Thought.
25 Siehe etwa Fry: »On Being White«; Harding (Hrsg.): Feminism and Methodology; Rich: »An
der Wurzel gespalten«, die sich mit dieser Forderung auseinander setzen. Auf weitere Aspekte
im Rahmen der (weißen) feministischen Standpunkttheoriebildung gehe ich an dieser Stelle
nicht näher ein.
26 An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass im englischsprachigen Zusammenhang die Kategorie
race außerhalb hegemoniekritischer Wissensproduktion noch immer biologistisch/rassistisch
konnotiert ist und die Bedeutungszuweisung des Begriffs race auch hier abhängig von dessen
Gebrauchszusammenhang bleibt.
27 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 7.
28 Steyerl führt aus, dass das »Konzept der Biopolitik […] sich darauf [konzentriert], wie das
Leben und das Lebendige in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen und
ökonomischer Strategien gelangten. Seit dem 18. Jahrhundert wenden sich Macht- und
Wissenssysteme der Aufgabe zu, ›Lebensprozesse‹ kontrollieren und regulieren zu können«
(Steyerl »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 39).
29 Ebenda, S. 39.
30 Ebenda, S. 39-40.
31 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 7.
32 Mecheril: »Rassismuserfahrungen von Anderen Deutschen«, S. 189.
33 Vgl. Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 13; El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 211;
Stötzer: InDifferenzen, S. 50.
34 Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 12-13.
35 Vgl. Gümen: »Das Soziale des Geschlechts« S. 198.
36 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 138-140, dort Anm. 1.
37 Said: »Theorien auf Wanderschaft«, S 263-292.
38 Vgl. Walgenbach: »Weiße Dominanz«, S. 132.
39 Rommelspacher: »Orientierungslosigkeit und Macht«, S. 32.
40 Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 83-108. Laut Terkessidis wirkt Rassismus als
›Dispositiv‹ im Foucaultschen Sinne, als Macht-Wissen-Komplex: »Eine Untersuchung über
Rassismus beschäftigt sich daher nicht mit der Feindseligkeit gegenüber ›Fremden‹, sondern mit
einer praktischen Einheit von Wissen und Institutionen, die das Eigene und das Andere erst
hervorbringt« (Terkessidis: Psychologie des Rassismus, S. 13).
41 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 88.
42 Stötzer: InDifferenzen, S. 50.
43 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 89.
44 Eine historische Analyse des Kontexts, in dem langsam ein Umdenken in der dominanten
Wahrnehmung von Deutschland als einem Einwanderungsland einsetzt, bietet Green:
»Immigration, Asylum and Citizenship in Germany«, S. 84.
45 Behr: »Gen-Deutsche und Kreolen«, S. 66.
46 Ha: »Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«, S. 97.
47 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 9.
48 Für bibliographische Hinweise, siehe Anm. 2. Es wäre ein Forschungsprojekt, kolonialismus-
und eurozentrismuskritische Arbeiten aus den 1960er bis 1980er Jahren darauf hin zu
untersuchen, ob und wie die VerfasserInnen die eigenen Vorannahmen bezüglich rassistischer
Positionierungen mitreflektieren. Von Interesse wäre in diesem Zusammenhang insbesondere ein
Vergleich der Arbeiten aus der BRD und DDR (für die BRD z.B. Hausen: Deutsche
Kolonialherrschaft; Bley & Tetzlaff (Hrsg.): Afrika und Bonn; Werlhof, Mies & Bennholdt-
Thomsen: Frauen, die letzte Kolonie; für die DDR z.B. Heyden: 75 Jahre Afrikanischer
Nationalkongress von Südafrika).
49 Kilomba Ferreira: »Die Kolonisierung des Selbst«, S 162. Siehe u.a. auch: Walgenbach: »Weiße
Dominanz«; Ha: »Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«; Steyerl:
»Postkolonialismus und Biopolitik«.
50 Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik«, S. 47; Behr: »Gen-Deutsche und Kreolen«, S. 66.
51 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 91.
52 Yýldýz: »Keine Adresse in Deutschland?«, S. 226.
53 Ha: »Hybride Bastarde«, S. 159.
54 Dieser Argumentationsstruktur folgen etwa Alf Lüdtke und Stefan Mörchen in ihrem Editorial:
»›Die Farbe Weiß.‹ Race in der Geschichtswissenschaft«, wo es heißt (S. 5, Anm. 9): »… zum
anderen gab es in Deutschland, anders als in den USA, keine soziale Bewegung, die
Veränderungen unter diesem Begriff [›Rasse‹] eingefordert hat.«
55 Vgl. Oguntoye, Opitz & Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen; im Anschluss daran siehe z.B.: Reed-
Anderson: Eine Geschichte von mehr als 100 Jahren; Oguntoye: Eine afro-deutsche Geschichte;
Gelbin, Konuk & Piesche (Hrsg.): AufBrüche; El-Tayeb: Schwarze Deutsche; Campt: Other
Germans; Lauré al-Samarai: »Unwegsame Erinnerungen«; Dies.: »Neither Foreigners Nor
Aliens«.
56 El-Tayeb: Schwarze Deutsche, S. 8.
57 hooks: »Postmodern Blackness«, S. 2480.
58 El-Tayeb: »Begrenzte Horizonte«, S. 142.
59 Stötzer: InDifferenzen, S. 39, 78.
60 Kilomba Ferreira: »Rewriting the Black Body«, S. 54.
61 Broeck: »Wird der weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«, S. 89.
62 Ebenda.
63 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 96.
64 Mein großer Dank für prägende Denkanstöße geht an Eddie Bruce-Jones, Amy Evans, Rotraut
Junker-von der Emden und Kristin Kopp. Danke für andauernde Gespräche und hilfreiche
Kommentare, nicht nur zu diesem Artikel: Sabine Broeck, Gabriele Dietze, Renate Hof, Grada
Kilomba, Nicola Lauré al-Samarai, Stefania Maffeis, Julie Miess, Anna Katharina Neufeld,
Susann Neuenfeldt, Matthias Neumann, Julia Roth, Hortense Spillers, Simon Strick, Ursula
Wachendorfer, Eske Wollrad und den Teilnehmerinnen des Forschungskolloquiums zu Weißsein
am Zentrum für Literaturforschung, Berlin.
ASTRID ALBRECHT-HEIDE
WEIßSEIN UND ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT[1]
Dass Weißsein und weiße Hegemonie in den letzten zehn bis 15 Jahren
wieder verstärkt in den Blick gerückt wird, hat vermutlich primär weniger
etwas mit ›unserer‹[2] gewandelten Wahrnehmung als vielmehr mit
geopolitischen Veränderungen zu tun. Im ›Drei-Welten-Konzept‹ des Kalten
Krieges war die weiße Vorherrschaft, im Westen wie im Osten
gleichermaßen, dethematisiert. Vieles spricht dafür, dass die Globalisierung
auch als eine Art Rekonfiguration jener Kräfte begriffen werden kann, die
die Welt bereits seit Jahrhunderten geprägt haben.[3] An dieser
Rekonfiguration ist weiße Erziehungswissenschaft beteiligt. In meinem
Versuch, einigen Grundlagen dieser Beteiligung auf die Spur zu kommen,
unternehme ich eine zweifache Bewegung. Ich gehe ihrer
Entstehungsgeschichte nach, und ich thematisiere meine eigene
Involviertheit als Weiße. An die Grenzen der eigenen Disziplin (welch ein
ehrlicher Begriff!) werde ich mich wegen ihrer entpolitisierenden Funktion
nicht halten.[4]
DER VERHÖRSPIEGEL
In meiner Auseinandersetzung mit deutscher/euroamerikanischer weißer
Erziehungswissenschaft als Beteiligte geht es mir darum, mit Hilfe einiger
Foucaultscher Handwerkszeuge zentrale Konstruktionszusammenhänge
aufzudecken – und damit um eine Aufklärung der Aufklärung. Es geht u.a.
darum, dass weiße Erziehungswissenschaft als Teil der alteuropäischen
Erzählungen von Wahrheit, Vernunft und Geschichte mit Macht und
Herrschaft verstrickt ist und dass die in ihr enthaltenen
Emanzipationsgeschichten »haltlose Wunschprojektionen« sind.[9] Auf
diese Weise kann ich zeigen, dass die neuzeitliche europäische
Erziehungswissenschaft eine Herrschafts- und Kontrollwissenschaft des
weißen, bürgerlichen, heterosexuellen, gesunden Mannes[10] ist. Die
Herrschafts- und Kontrolldimensionen sind nicht nur
entstehungsgeschichtlich,[11] sondern insbesondere auch im
Erkenntnisblick nachweisbar.[12]
Mit dem hegemonialen Erkenntnisblick sehe ich, ohne gesehen zu
werden.[13] Am deutlichsten – und zugleich als Metapher darüber hinaus
dienlich – wird dies in einer Beobachtungsanordnung, die kriminalistischen
Verhörmethoden entspricht: Ein nur in einer Richtung durchsichtiger
Spiegel liefert mein Gegenüber gnadenlos meinem gelegentlich wohl von
ihm oder ihr gewussten, gleichwohl unsichtbaren optischen und
definitionsmächtigen, im Kern voyeuristischen Zugriff aus.[14] Es spielt
keine Rolle, ob mein Blick wohlwollend, gnädig, aggressiv oder bösartig
ist. Ich zeige mich nicht, und es ist in meine Willkür gelegt, was ich
wahrnehme. So wird Wahrheit produziert,[15] und das Wissen hinter dem
Spiegel wird minorisiert.[16] Wenn ich vor diesem Spiegel als Verhörende
sitze, bin ich den Objekten meiner Erkenntnisbegierde nicht
rechenschaftspflichtig. In diesem System bin ich jenen
rechenschaftspflichtig, die mit vergleichbarer Begierde auf meine
Ergebnisse warten, sie taxieren und einordnen, u.a. danach, ob ich sie als
Objekte richtig zurechtgemacht habe,[17] ob mein Herrschaftsblick
gelungen ist, rein[18] ist, nicht unsauber durch einen möglicherweise in
meine Richtung porös gewordenen Spiegel, in dem mir die Blicke der
Verhörten begegnen und mich treffen – berühren – erschüttern – entsetzen
… wenn ich sie nicht abstrafe.
Wenn ich mich als Weiße selbst aus dem Spiel lasse, muss ich meine eigene Verbindung zum
Problem, sei sie biographisch, sei sie aktuell, nicht befragen. Ich kann meinen Herrschaftsblick
noch in eine scheinbar selbstreflexive Betrachtung hinein holen. Am Thema: Ich schreibe aus
einer gleichsam extraterristischen Position über Weiße und nicht als Weiße, wenn es mir nicht
gelingt, zum Wir und zum Ich zu kommen. Die in meiner Generation übliche Zurichtung,
wissenschaftlich nicht Ich sagen zu dürfen, wurde mir mehrheitlich als Bescheidenheits- und
Objektivitätsgestus beigebracht. Das hat mir auch lange eingeleuchtet, bis ich begriff, dass ich
mich damit herrschaftlich im weißen Wissenschaftskartell verstecke. Zugleich habe ich mich von
mir selbst abgeschnitten, konnte nicht meine eigenen Fehler machen und war substantiell
lernunfähig.
Im Zulassen des Rück-Blicks,[19] des Erkennens dessen, was der und die
Minorisierte über sich und auch über mich weiß, in meinem eigenen
Sichtbarwerden und Mich-zeigen wird die Herrschaftssituation
aufgebrochen.[20] In der ungebrochenen Herrschaftssituation gilt Foucaults
Feststellung, dass mein Gegenüber von mir gesehen wird, »ohne selber zu
sehen; er […] Objekt einer Information (ist), niemals Subjekt in einer
Kommunikation«.[21] Eine dekonstruktive Bewegung ist eine Möglichkeit,
mich für den Rück-Blick und eine kommunikative Situation quer zum
hegemonialen Solipsismus (gemeinhin begriffen als Autonomie) zu öffnen.
[22] Der poröse oder auch eingerissene Spiegel meint eine Weichenstellung
in die Radikalisierung der Entmystifizierung dessen, was uns weißen
Menschen möglich ist. Es geht um den Blick auf uns Weiße als strukturell
Verhörende.
Ich hatte zunächst statt Entmystifizierung die Formulierung gewählt
»Aufdecken des Monströsen«. Ich erkenne darin meine Neigung, das, was
wir Weißen jahrhundertelang der Welt angetan haben und noch antun als
monströs von mir zu weisen. Ich bringe es in einen so weiten Abstand von
mir, dass ich es menschlicher und damit meiner Verantwortung und
möglichen politischen Gegenwehr entziehe. Im Spiegelbild: Ich verberge
mich hinter dem einseitig durchsichtigen Spiegel. Mein kritischer Blick
mutiert zum Herrschaftsblick der nicht Involvierten; ich entwickle eine
Immunisierungsstrategie, die mit dem konstruierten Gegensatzpaar des
guten und des bösen Weißen arbeitet.[23]
PRODUKTIONSBEDINGUNGEN
Die grundlegenden Veränderungen der Produktionsbedingungen fanden im
wesentlichen vom 15. bis 18. Jahrhundert statt. Hierzu gehört der Wandel
von der handwerklichen zur industriellen Produktion mit einem Übergang
über das Manufaktur- und Verlagswesen. Dies war insgesamt ein durchaus
gewalttätiger und gewalthaltiger Vorgang mit Vernichtung, Verelendungen
und Ausbeutung von Menschen und ›Natur‹. Durch die gewollte
Bevorzugung des Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert im Interesse
der Kapitalakkumulation kommt es u.a. zur Ressourcenverschwendung.
OKKUPATIVES NATURVERSTÄNDNIS
Um die Natur als Ressource begreifen zu können, ist ein Naturverständnis,
mit dem ›wir‹ von ihrer Beseeltheit und/oder ihrem Eigen-Sinn ausgehen,
konterproduktiv.[24] Nutzbringend ist vielmehr ein Naturverständnis, das
eine ausbeuterische Orientierung durch ›uns‹ legitimiert. Und das gelingt
›uns‹ durch einen mindestens zweifachen Herrschaftszugriff: Natur wird
verrohstofflicht und sie dient ›uns‹ als Metapher für nahezu alles, was es zu
beherrschen gilt, was zugerichtet, domestiziert, kolonisiert und – in der
Regel gewaltsam – geändert werden muss, auch vernichtet werden darf.
Dieses Naturverständnis liegt auch der weißen Erziehungswissenschaft
zugrunde. Die Verrohstofflichung erzwingen ›wir‹ durch Distanzierung,
Entmoralisierung, Entsakralisierung und Dynamisierung.[25]
Es lohnt sich, diese Mechanismen kurz genauer zu betrachten, weil sie
grundlegend für ›unsere‹ herrschaftliche Vernichtung von Eigen-Sinn sind,
wiederum auch bei und in der Erziehungswissenschaft. Alle diese
Mechanismen verdichten ›wir‹ im ›Verhörspiegel‹, dem ›wir‹ die Natur
aussetzen. Distanzierung meint nichts anderes, als dass ›wir‹ für ›unsere‹
Herrschaft Abstand benötigen; über Entmoralisierung konstruieren ›wir‹
eine wertfreie Natur, die erst durch ›unsere‹ verändernde Hinwendung ihren
Wert bekommt; durch Entsakralisierung entzaubern (M. Weber) ›wir‹ die
Natur, und durch diese Profanisierung wird sie für ›unseren‹ Zugriff
geöffnet; ›unsere‹ Zugriffstendenz ist Dynamisierung mit der Behauptung,
dass ›unsere‹ Zugriffe zur Veredelung, Verbesserung, kurz Kulturalisierung
führen.[26] Eine ›unserer‹ entscheidenden Handlungsenergien ist
Rationalität, die Ilse Modelmog als einen »historisch zur Dominanz
gekommenen Affekt (bezeichnet d.Verfn.), der sich selbst als affektfrei
definiert«.[27] Mit diesem Herrschaftsaffekt halten ›wir‹ zugleich das
Naive, Wilde, Chaotische etc., das die Natur repräsentiert, abspaltend von
›uns‹ weg und setzen ihn als Angstkontrollversuch gegenüber der zu
beherrschenden Natur ein. Der Preis, den ›wir‹ als Herrschende dafür
zahlen, ist selbstschädigende Entfremdung von dem, gegenüber dem ›wir‹
Macht ausüben,[28] auch gegenüber ›uns‹ selbst. ›Unser‹ Gewinn ist
Herrschaftsteilhabe und Passung ins weiße System.
Die auf diesem Naturverständnis basierende neuzeitliche weiße
Erziehungswissenschaft und ihre handlungsanleitenden Ausläufer (viele
Erziehungsratgeber und Didaktiken) erweisen sich als Entfremdungs- und
Zurichtungskonstruktionen und -instrumente. Sie ist damit Teil eines
komplexeren Ganzen, in dem ›wir‹ alles als Räume oder Territorien
begreifen, die erobert, besetzt, erforscht und missioniert werden dürfen.[29]
MENSCHENBILD
In der sozialen Konstruktion der Natur hat sich der ›neue‹ Mensch unter der
Hand mit definiert. Indem er die Natur u.a. als rohstofflich und zu
beherrschend bestimmt hat, begründet und legitimiert er seinen
Herrschaftsanspruch über sie. Der Kulturalisierungsbehauptung liegt die
Dichotomie von Kultur vs. Natur zugrunde. Die Kultur soll die Natur
beherrschen, auch die Natur vom Menschen im Menschen selbst. Der
Mensch in diesem neuzeitlichen, in der Aufklärung gebündelten
Verständnis, ist der weiße, bürgerliche, gesunde, erwachsene,
heterosexuelle Mann. Mit der (Selbst)Konstruktion als jener Typus, der die
größte Nähe zur Kultur hat, rechtfertigt er seinen generalisierten
Herrschaftsanspruch. Indem Andere als der Natur näher konstruiert werden,
werden die erstrebten und z.T. bereits gewaltsam hergestellten Dichotomien
legitimiert: Mann vs. Frau, Bürger vs. Vierter Stand, Gesunder vs. Kranker,
Europäer vs. Wilder, Erwachsener vs. Kind etc. Diese – und weitere –
hierarchische Oppositionen waren keineswegs nur das Ergebnis eines
ideellen Gewaltvorgangs, sondern vor allem auch eines materiellen. Unter
anderem haben Inquisition und Hexenverfolgung, Zucht-, Arbeits-, Waisen-
und Irrenhäuser und ›unsere‹ kolonialen Raubzüge bei der gewaltsamen
und mörderischen Herrschaftsbegründung eine entscheidende Rolle
gespielt.[30] Als Weiße[31] müssen ›wir‹ davon ausgehen, dass diese
Gewalt als Teil des Zivilisationsprozesses in ›uns‹ weiter wirkt, u.a. als
Identifikationspotential mit dem Agressor, aber auch als (gewalttätige)
Vorherrschaftsgeübtheit. Weiße Vorherrschaft ist so zugleich meist nicht
mehr von ›uns‹ erkannter Grundbestandteil der neuzeitlichen,
euroamerikanischen Erziehungswissenschaft, und das ist im Kern
demokratiefeindlich.[32]
FAMILIE
Eine weitere Spur zur weißen Erziehungswissenschaft finden wir in den
familialen Veränderungen. Durch die industriekapitalistischen
Produktionsverhältnisse verändert sich die (rasch zur Norm erhobene)
bürgerliche Familie vom Ganzen Haus zur Kern-/Kleinfamilie. Die
räumliche Trennung von Produktion und Reproduktion verändert die
Geschlechterverhältnisse und das generationale Verhältnis; die
heterosexuelle Paarbeziehung wird damit unter der Hand ebenfalls zur
Norm. Und Heterozentrismus oder -normativität gehört auf diese Weise
zum Grundbestand von Weißsein, ist kein lediglich homophober Appendix,
auch nicht in der weißen Erziehungswissenschaft.
Die Anforderungen an den außerhäuslich arbeitenden Mann haben u.a.
eine Teilung des gesellschaftlichen Moralhaushalts zur Folge; diese
erfordert Durchsetzungsfähigkeit vom Mann und delegiert die
gesellschaftlich notwendige Fürsorge projektiv nach unten an die Frau.[33]
Auch hier dient ›uns‹ das Naturverständnis als Folie. Die neue ökonomische
Abhängigkeit der Frau vom Mann wird über die Kultur-Natur-Dichotomie
gerechtfertigt. Sie ist der Natur näher als der Mann – Immanenz ist sie,
Transzendenz er. Auf diese Weise wurde Sexismus ein Grundbestandteil
von Weißsein und der entsprechenden Pädagogik.
Indem ich mich im Geschlechterverhältnis als abgewertet erfuhr, wuchs
mein Wunsch nach Anerkennung. Ich wollte, dass meine Kollegen begreifen
und wertschätzen, was ich denke und schreibe. Es hat eine erhebliche Weile
gedauert, bis ich begriff, dass dieser Wunsch meine Energien
(selbst)entfremdend und -unterwerfend bindet, dass ich damit in eine Falle
laufe. Diese Falle erlebe ich als exemplarisch für das weiße
Wissenschaftssystem. Sie produziert minorisierte, ungehörte Stimmen auf
allen Hierarchieebenen. Und solange ich nicht minorisiert sein will,
identifiziere ich mich mit der Macht, die Andere minorisiert und minorisiere
so selbst.[34]
KINDHEIT
Die Trennung von Produktion und Reproduktion verändert auch die
euroamerikanische Kindheit. Als Normkind ist in nahezu allen
aufklärerischen Erziehungsschriften mit geringem Aufwand und wenig
überraschend der weiße, bürgerliche, gesunde Junge auszumachen. Kinder
waren an der gemeinsamen produktiven Arbeit schlussendlich nicht mehr
beteiligt[35] und ihr Heranwachsen machte sie so eher zu ›passiven Opfern
elterlicher Beeinflussung‹.[36] Auch im neuen Kindheitsverständnis wird
die herrschaftsbeanspruchende Grunddichotomie Kultur : Natur tragend.
Kinder sind noch Natur, folglich in diesem Verständnis noch keine
Menschen, müssen erst durch Erziehung zu Menschen gemacht werden.
Kant: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts
als was die Erziehung aus ihm macht.«[37]
Die gleichen Verrohstofflichungsstrategien wie gegenüber der Natur
setzen ›wir‹ gegenüber ›den‹ Kindern ein: Distanzierung
(Erziehungsgewalt), Entmoralisierung (Kinder verfügen über keinen Eigen-
Sinn mit der Folge der Diskreditierung des Eigen-Willens),
Entsakralisierung (Entzauberung des Wunders des Lebens) und
Dynamisierung (im Sinne von Kulturalisierung). Die unterstellte
Notwendigkeit, aus Kindern erst noch Menschen machen zu müssen,
rechtfertigt eine Verpflichtung zu pädagogischem Handeln, mit dem Ziel
der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und ›Moralisierung‹. So
entsteht in Europa die paradoxe Situation, dass die historische Neuheit,
Kindheit als eigenständige Phase zu begreifen, mit der Hinwendung
zugleich als enteignender Übergriff erfolgt.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der mehrheitlich noch davon
ausgegangen wurde, dass bei kleinen Kindern der Trotz gebrochen werden
muss, und m.W. spricht man auch heute noch von der so genannten
Trotzphase anstatt von einer Zeit, in der Kinder ihren Weltzugang auf neue
Weise erproben. Ich kann mich nicht erinnern, ob das auch das Programm
meiner Eltern war. Sehr wohl aber kenne ich den Spruch: »Kinder mit ’nem
Willen kriegen ›was auf die Brillen‹!« Dadurch wurde mir eine tendenzielle
Unterscheidungsunfähigkeit zwischen Eigen-Willen und Willen zur Macht
beigebracht, die ich bei meinen eigenen Kindern erst mühsam loswerden
wollte. Und nur sie können sagen, ob und wie weit mir das gelungen ist.
Durch die Diskreditierung meines Eigen-Willens und dessen bipolare
Positionierung zum Willen zur Macht meiner Erziehungsinstanzen wurde
aus meiner eigenen Bewegung definitionsmächtig eine Gegenbewegung und
ein ungleicher Machtkampf. Vor allem aber entstand bei mir ein
Verwirrknäuel zwischen Eigenem und Oktroyiertem, und das halte ich für
typisch für die Erziehung in der weißen Dominanzkultur. Es passt gut zum
Programm der (Selbst)Entfremdung.
Eine kaum zu überschätzende Folge davon ist, dass die auf Zukunft
gerichtete Dynamisierung das gegen-wärtige Sein des Kindes, sein Hier und
Jetzt entwertet.[38]
Eine Verbindung zum Weißsein des erzieherischen Zugriffs ist nicht nur
über das Normkind gegeben. Ganz entscheidend ist auch, was Treml die
›Entdeckung‹ der »Einheit der Differenz von Mensch und ›Wilder‹, von
Mensch und ›Kind‹« nennt.[39] Das Kind wurde zum internen Wilden, und
der zivilisatorische Übergriff gegenüber dem externen Wilden ging der
Eroberung des Kindes voraus.[40] Beide – Kind und Wilder – sind
Antonyme für das, wofür der Mensch sich hält. Sie sind nicht nur über die
Kultur : Natur-Dichotomie verbunden, sondern ebenso über den
Erkenntniszugriff und eine Zeitachse.[41] Während ›das (männliche) Kind‹
in Zukunft ein Mensch sein wird, symbolisiert der Wilde in der gleichen
Logik eine Vergangenheit des Menschen. Gemeinsam ist dieser
verzeitlichenden Zuordnung ein hierarchisierendes Stufendenken in der
weißen Erziehungswissenschaft.[42] Besonders in ›unserem‹
euroamerikanischen Entwicklungsverständnis – bezogen auf Individuen
und Kollektive gleichermaßen – wird dies erkennbar.[43]
Das Noch-nicht-Mensch-sein und das mit ihm verbundene
Entwicklungsdenken findet auch seinen Ausdruck in einer zentralen
Kategorie europäisch-emanzipatorischer Pädagogik, jener der Mündigkeit.
[44] ›Wir‹ haben sie mit der nämlichen hierarchischen Opposition versehen,
die für das neuzeitliche weiße Denken charakteristisch ist: Erwachsener =
mündig, Kind = unmündig.[45] ›Wir‹ haben sie damit – hinterrücks – zum
Entmündigungskonzept gemacht. Indem es ›uns‹ u.a. darum geht, das Kind
mündig und redefähig zu machen, missachten ›wir‹ seine vorhandenen,
eigen-sinnigen Stimmen (die der Laute, Mimik und des Körpers), entwerten
sie bestenfalls zu Vorstufen einer angestrebten ›Vervollkommnung‹,[46]
ihre Angewiesenheit wird zum Defizit. Diese Art von Verzeitlichung und
hierarchisierendem Stufenmodell impliziert, dass der Mensch, und damit
›wir‹ weißen ErziehungswissenschaftlerInnen keine Zeitgenossenschaft
außerhalb ›unseresgleichen‹ kennen können.[47] Als zeitliche Antonyme
leben Andere entweder in meiner Vergangenheit oder Zukunft. In ›unserer‹
so gestalteten (erziehungs)wissenschaftlichen Diskurslandschaft dominieren
sterile, monokulturelle, herrschaftliche Selbstgespräche.
SOZIALCHARAKTER
Im disziplinierenden Zugriff auf das Kind wiederholen ›wir‹ an ihm, was
›uns‹ Erwachsenen zur Einordnung in die neuen Produktionsverhältnisse
abverlangt wurde. Sowohl von den Herrschenden als auch den abhängig
Arbeitenden erfordern die industriekapitalistischen Produktionsverhältnisse
Verhaltensveränderungen. Die notwendige Neuformung des
Sozialcharakters erfolgt über Disziplinierung und/oder
Selbstdisziplinierung. Sekundärtugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit,
Sauberkeit und Fleiß werden – zur Not mit Gewalt (Zucht-, Arbeits-, Irren-,
Waisenhäuser), die mögliche Vernichtung einschließt – durchgesetzt. Auch
in diesem Prozess greift die Kultur:Natur-Dichotomie. Die Unangepasstheit
an die neuen Produktionsverhältnisse (Natur) muss durch die Eintreibung
und Internalisierung der Sekundärtugenden gebändigt werden. Es geht
darum, dass ›wir uns‹ die Entfremdung vom Eigen-Sinn zu eigen machen.
Auf diesem Wege erfolgt das, was Identifikation mit dem Aggressor genannt
wird; und das wird zu einer der Grundsäulen von weißer Erziehung und
Erziehungswissenschaft.[48] Dies gilt auch heute noch, ist nur besser
verschleiert.[49] Insofern ist der Terminus Schwarze Pädagogik (Katharina
Rutschky) für diese Zurichtungsdisziplin nicht nur ein einfacher
rassistischer Rückgriff auf die Farbsymbolik weiß = gut, Schwarz = böse.
Wahrscheinlich ist ein wesentlich tiefer greifender Mechanismus, mit dem
es ›uns‹ als SprecherInnen darum geht, das eigene Unerträgliche möglichst
weit weg zu delegieren, und das geht am effektivsten in einer Täter-Opfer-
Umkehr; denn: die so genannte Schwarze Pädagogik ist nachweislich
›unsere‹ eigene weiße Pädagogik.
SCHULE
Eine weitere Spur, der ich folge, ist der Zusammenhang zwischen den
veränderten Produktionsverhältnissen, der daraus folgenden
außerhäuslichen Erwerbstätigkeit des Mannes und der nun nur noch
begrenzt möglichen häuslichen Erziehung durch den Vater. Sie führt
schlussendlich dazu, dass man das bürgerliche Schulwesen und später auch
die Volks- und Industrieschulen als väterliche Erziehungsdelegation an
Vater Staat bezeichnen kann. Auch dies ist ein über längere Zeit sich
hinziehender Vorgang. Indem in Preußen-Deutschland, das als ›Muster‹ für
die Schulentwicklung der deutschen Länder gelten kann, die schulische
Erziehung als staatliche Aufgabe begriffen wurde, rückt das
Nationalstaatskonstrukt und seine »Weißheit«[50] in den Blick. Ich greife
hier nur jene Aspekte eines komplexen Vorgangs stichwortartig auf, die
darauf verweisen, dass das Konstruktionsprinzip des Nationalstaates auf
einer mindestens zweifachen Bewegung beruht. Der europäische
Nationalstaat gründet auf Ein- und Ausschluss und auf interner
(Zwangs)Homogenisierung, u.a. mit dem Ziel einer nationalen
Identitätsbildung. Dabei bilden Vorder- und Rückseite in diesem Prozess
eine Art Vexierbild. Die Vorderseite ist, dass die »Kapitalistischen
Nationalstaaten […] die Individuen als freie und gleiche Marktteilnehmer
und Staatsbürger (anrufen), […] und sie gleichsam rückseitig als
Angehörige eines Geschlechts und einer Nation, bzw. einer Ethnie oder
einer Kultur […] vergemeinschaften.«[51]
Über Ein- und Ausschluss regeln ›wir‹, wer dazu gehört und wer nicht.
Eine interne (Zwangs)Vereinheitlichung vollziehen ›wir‹ meist über das
Merkmalsduo Herkunft (in Deutschland lange ›Bluts‹Herkunft) und
Sprache der dominanten Gruppe. Regionale und kulturelle Differenzen
werden von ›uns‹ in diesem Vereinheitlichungsprozess ›provinzialisiert‹,
proletarisiert, exotisiert etc. und immer auch wieder vernichtet,[52] d.h.
›wir‹ grenzen nicht nur extern, sondern auch intern aus. Dies alles ist
zugleich Grundlage und Ausdruck des europäischen Nationalstaats, dessen
prototypischer Angehöriger historisch der weiße, bürgerliche, besitzende,
heterosexuelle, gesunde Mann ist. Weiße Vorherrschaft ist also kein
Nebenaspekt dieses Nationalstaates, sondern inhärenter Bestandteil.[53]
Dies erklärt auch, warum ›wir‹ im Homogenisierungsprozess zugleich
versuchten, die außereuropäischen ›multikulturellen‹ historischen
Realitäten Europas zu leugnen und/oder zu kappen.[54]
Die lange Zeit gültige und in Deutschland noch nicht restlos aufgelöste
Verbindung von Thron und Altar verweist auf ein anderes Moment. Nahezu
alle europäischen Nationalstaaten begreifen sich als christlich.[55]
Zusammen mit dem weißen homogenisierenden Nationalstaatsverständnis
bildet dies ein antijüdisches und in der Radikalisierung antisemitisches und
antiislamisches Amalgamat,[56] das auch auf Erziehung und
Erziehungswissenschaft nicht ohne Einfluss blieb.[57]
Erziehung als staatliche Aufgabe und eine auf sie bezogene
Erziehungswissenschaft sind an diesem identitätsstiftenden Projekt
beteiligt, einschließlich der es mitbestimmenden Homogenisierungen und
Ausgrenzungen. Für Deutschland ist damit auch erklärbar, warum
Lehrer/innen Beamte, also Staatsdiener sind und entsprechend nur von
deutschen Staatsbürgern mit Abstammungsnachweis gestellt werden
durften/dürfen.
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ANMERKUNGEN
1 Zur zweifachen Erkenntnisbewegung vgl. Lühe: Fallanalyse.
2 ›Uns‹ und ›wir‹ setze ich in Anführung, wenn ich ausschließlich ›uns‹ Weiße meine.
3 Vgl. Bahl & Dirlik: »Introduction«, S. 3.
4 Vgl. Behdad: »Pratique Sauvage«.
5 Vgl. Birt: »Bad Faith of Whiteness«, S. 54-56.
6 Es sind m.E. versuchte Enteignungen, weil es hegemoniale Allmachtsphantasien sind, wenn ich
davon ausgehe, eine Enteignung könne mir (meist) vollständig gelingen. Dafür sprechen u.a.
auch ›unsere‹ schier endlosen assimilatorischen aber auch ausgrenzenden Kontrollsysteme mit
z.T. paranoischer Zuspitzung.
7 Vgl. Birt: »Bad Faith of Whiteness«, S. 58.
8 Vgl. Albrecht-Heide: »Friedensunfähigkeit«, S. 207.
9 Vgl. Rieder-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel, S. 45-46. Diese Kritik an europäischer
Pädagogik/Erziehungswissenschaft wurde jedoch eher nicht mit ihrem Weißsein
zusammengedacht (vgl. früh anders: Jouhy: Bleiche Herrschaft und neuerdings ausführlich
Canella: Childhood and Postcolonization).
10 Um keine Missverständnisse zu provozieren: Dies schließt weiße Frauen als Akteurinnen ein.
Ich bewege mich als Gewinnbeteiligte im hegemonialen System.
11 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens.
12 Vgl. Ders.: Überwachen und Strafen, S. 251-271.
13 Vgl. ebenda, S. 257.
14 Vgl. Kappeler: Macht der Darstellung.
15 Vgl. Foucault: »Wahrheit und Macht«.
16 Vgl. Ders.: »Historisches Wissen«.
17 Vgl. Mitchell: »Welt als Ausstellung«, S. 151.
18 Reinheit ist eines der einzuhaltenden, auf Dichotomien gestützten Gebote einer weißen
Wissen(schaft)skultur (vgl. u.a. Said: Kultur und Imperialismus, S. 30 u. 51-56).
19 Vgl. u.a. Kaplan: »The ›Look‹ Returned«.
20 Vgl. auch Fischer-Lichte: »Rite de Passage«, S. 311.
21 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257
22 Das Irritierende bleibt, dass es unter den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen in
meiner Hand liegt, ob ich diese Querbewegung mache. Deutlich ist damit allerdings auch meine
Verantwortung. Zum Elend der Autonomie vgl. Albrecht-Heide: »Friedensunfähigkeit«, S. 216-
217.
23 Vgl. Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 4.
24 Im dekonstruktiven Verständnis geht es u.a. nicht um eine Wahrheitsfrage, etwa: Wie ist die
Natur wirklich? Vielmehr geht es um eine Verantwortungsfrage: Wofür übernehme ich mit
meinem je spezifischen Verständnis von Wirklichkeit die Verantwortung? (vgl. u.a Holland-
Cunz: Soziales Subjekt Natur).
25 Vgl. Treml: Allgemeine Pädagogik, S. 91-96.
26 Vgl. ebenda, S. 92-95.
27 Modelmog: Die zwei Ordnungen, S. 9.
28 Vgl. Horkheimer & Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 15.
29 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 8.
30 Vgl. u.a. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Gstettner: Eroberung des Kindes, Mallet:
Untertan Kind, Münch: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, Todorov: Eroberung Amerikas.
31 Dieses Weiterwirken in ›uns‹ Tätervölkern interessiert mich vor allem in meiner
Auseinandersetzung mit weißer Erziehungswissenschaft. Zum Weiterwirken bei den
überfallenen und ausgeraubten Völkern insbesondere Fanon: Die Verdammten dieser Erde; und:
Ders.: Schwarze Haut, weiße Masken.
32 Vgl. u.a. Cleaver: »Antidemocratic Power of Whiteness«.
33 Mit vergleichbaren projektiven Delegationen bewegen ›wir uns‹ bei nahezu allen anderen
neuzeitlichen, hierarchischen Oppositionen. Diese Abspaltungen dienen vorrangig ›unserem‹
Versuch, Herrschaftsfähigkeit zu sichern, denn abgespalten wird das Schwache, Weiche,
Fließende, Passive, Friedliche, Chaotische, Wilde, Spirituelle etc. (vgl. u.a. Keller: Liebe, Macht
und Erkenntnis, S. 68-72).
34 Zum qualitativen Verständnis von Minorisieren vgl. Chakrabarty: »Minority histories«.
35 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 87.
36 Vgl. Vinnai: Elend der Männlichkeit, S. 205.
37 Kant: »Über Pädagogik«, S. 699.
38 Diese radikale Entwertung wird jedes Mal vorgenommen, wenn eine/r sagt, dass die Kinder
unsere Zukunft seien (vgl. dagegen Janusz Korczaks Gedanke vom »Recht des Kindes auf den
heutigen Tag«).
39 Treml: Allgemeine Pädagogik, S. 97, Hervorh. i. O., vgl. auch Gstettner: Eroberung des Kindes,
S. 85.
40 Vgl. Gstettner: Eroberung des Kindes, S. 15
41 Vgl. Fabian: Time and the Other.
42 Stufendenken durchzieht nahezu alle neuzeitlichen Mainstream-Wissenschaften.
43 Vgl. Park: »Postcolonial Studies«, S. 43-44; dies.: »Postcolonial Critique und
Identitätskonstrukte«.
44 Vgl. Rieder-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel.
45 Vgl. ebenda, S. 248-249.
46 Vgl. ebenda, S. 248.
47 Vgl. Fabian: Time and the Other, bes. S. 25-35.
48 Vgl. u.a. Gruen: Verrat am Selbst; Miller: Am Anfang war Erziehung.
49 Vgl. Miller: Am Anfang war Erziehung, S. 117.
50 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß.
51 Naumann: »Das umkämpfte Subjekt«, o.S.
52 Vgl. Albrecht-Heide: »Alltagsgewalt«.
53 Vgl. Melber: Der Weißheit letzter Schluß, S. 81-82.
54 Vgl. u.a. Nederveen Pieterse: »Unpacking the West«.
55 Das Christentum kam in eine Vielzahl dieser Staaten – Deutschland eingeschlossen – durch
Zwangsmissionierung und -taufen. Die hierin enthaltene Gewalt wurde vermutlich nicht nur
durch den Deutschen Ritterorden (Richtung Osten) und die Kreuzzüge weitergegeben.
Möglicherweise wurde das Selbsterlittene auch in der den Kolonialismus vorbereitenden,
unterstützenden und begleitenden christlichen Missionierung gelebt – auch in der internen
Mission im »Mutterland«. Wie sich diese Gewalt bis heute auf »die« Kirchen auswirkt, ist m.W.
kaum untersucht (vgl. u.a. Paczensky: Teurer Segen).
56 Vgl. Holz: »Die Figur des Dritten«.
57 Zu einem wichtigen Unterschied zwischen »normalem« weißen Rassismus und Antisemitismus
vgl. ebenda. In ihrer Radikalität ist Weißheit antisemitisch. Es gibt keine militante Gruppe mit
dem Ziel weißer Vorherrschaft, die nicht explizit antisemitisch ist. Ich halte das für die Spitze
des Eisberberges.
58 Mit dieser Abwehrbewegung klage ich über die Last meiner Privilegien, ohne sie in einer sie
infragestellenden Politisierung anzugehen. Allerdings liegt dieser Klage immerhin eine
mögliche abgedrängte Ahnung zugrunde, dass ich die Privilegien u.a. nur erlangen konnte, weil
mir meine mich herrschaftsfähig machende, abschneidende Selbstzurichtung gelungen ist (vgl.
Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 40-41) und weil ich von den mörderischen Raubzügen von
uns Weißen historisch und aktuell profitiere.
59 Vgl. u.a. Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 6; Dies.: »Local Whiteness«, S. 1.
60 Vgl. u.a. Montag: »The Universalization of Whiteness«; Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 1.
61 Vgl. Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 1.
62 Vgl. Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 61.
63 Vgl. Schwarzbach-Apithy: »Migration«, S. 9.
64 Vgl. Frankenberg: »Local Whiteness«, S. 1.
65 Vgl. Wachendorfer: »Soziale Konstruktionen von Weiß-Sein«, S. 52.
66 Vgl. u.a. Frankenberg: »Local Whiteness«, S. 1.
67 Vgl. u.a. Melber: Der Weißheit letzter Schluß, S. 58; Yancy: »Ontology of Whiteness«, S. 4.
68 Vgl. u.a. Clark: »The Secret«; Christine Clark arbeitet mit der u.a. die Strukturen in Rechnung
stellenden Unterscheidung von ›Antirassist‹ (Wunsch/Irrtum oder Lüge) und ›antirassistischer
Rassist‹ (ebenda u. vgl. u.a. auch Wildman & Davis: »Making Systems of Privilege Visible«, S.
317-318).
69 Vgl. Rommelspacher: »Rassismus und Antisemitismus«, S. 9.
70 Vgl. Albrecht-Heide: »Alltagsgewalt«, S. 143-144.
71 Vgl. Dirlik: »Is there History after Eurocentrism?«, S. 30.
72 Wie aus einer quantitativen Größe eine qualitative Norm wird, dazu vgl. Link: Versuch über den
Normalismus.
73 Vgl. Thürmer-Rohr: »Wir und die Anderen«, S. 136-141.
74 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1 u. 2; Foucault: Überwachen und Strafen,
bes. S. 173-291.
75 Vinnai: Austreibung der Kritik, S. 41.
76 Vgl. Gruen: Verlust des Mitgefühls, S. 19.
77 Vgl. Schwarzbach-Apithy: »Erziehung zur Unmündigkeit«, S. 6.
KATHARINA SCHRAMM
WEIßSEIN ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND.
METHODENREFLEXION UND ›NEUE FELDER‹ IN DER
ETHNOLOGIE
EINLEITUNG
[T]he culturally defined locations to which ethnographies refer
[…], which often come to be identified with the groups that
inhabit them, constitute the landscape of anthropology, in which
the privileged locus is the often unnamed location of the
ethnographer. Ethnography thus reflects the circumstantial
encounter of the voluntarily displaced anthropologist and the
involuntarily localized ›other‹.[1]
Diese Analyse der gängigen ethnografischen Praxis, die 1988 vom indisch-
amerikanischen Ethnologen Arjun Appadurai formuliert wurde,
kennzeichnet eine wichtige Schnittstelle zwischen den Critical Whiteness
Studies und den neueren Methodenreflexionen in der Ethnologie. Beide
Ansätze fokussieren auf die strukturelle Verknüpfung von Wissen und
Macht, durch die die Privilegierung einer weißen hegemonialen
Subjektposition bedingt und aufrechterhalten wird. Zugleich kritisieren sie
die scheinbare ›Neutralität‹ und den Universalitätsanspruch, mit denen
Weiße (und insbesondere weiße WissenschaftlerInnen) ihre eigene
Positioniertheit innerhalb gesellschaftspolitischer Machtgefüge negieren.
Zwar geht Appadurai nicht explizit auf Weißsein ein, aber er benennt sehr
klar die vorherrschende westliche Dominanz innerhalb der Ethnologie, die
dem kritischen Austausch über die Konstruktion (und die notwendige
Dekonstruktion) der so genannten ›anthropological locations‹ bisher
entgegensteht. Die Tatsache, dass die westeuropäische und amerikanische
Ethnologie darüber hinaus nach wie vor überwiegend von weißen
WissenschaftlerInnen praktiziert wird,[2] verdeutlicht die Notwendigkeit
einer grundlegenden Hinterfragung ethnologischer Forschungsprämissen.
Bis in die 1960er Jahre hinein galt die Dyade von westlichem (in der
Regel weißem) Forschersubjekt und dem kulturell ›Anderen‹ als gänzlich
unangefochtene Grundannahme der Ethnologie.[3] Zudem wurde davon
ausgegangen, es sei möglich (und legitim), dieses ›Andere‹ in seinem
Wesen zu erkennen und wissenschaftlich zu interpretieren, wenn auch
verschiedene ethnologische Schulen (vom Evolutionismus des 19.
Jahrhunderts bis hin zum Strukturfunktionalismus) divergierende
Auffassungen über den dafür bestgeeigneten Zugang vertraten. Kritik am
Paradigma dieser westlichen panoptischen Perspektive wurde erst von
ForscherInnen aus den ehemaligen Kolonien formuliert,[4] die die
institutionelle wie diskursive Einbettung der Ethnologie in koloniale
Strukturen aufzeigten und deren Fortwirken im liberalen wissenschaftlichen
Selbstverständnis thematisierten – eine Kritik, die das Fach grundlegend
erschütterte und zunehmend transformierte. In den 1980er und 1990er
Jahren entstanden zahlreiche Arbeiten, die den Zusammenhang von Wissen
und Macht und der Hierarchie (bzw. Hierarchisierung) der
Subjektpositionen im Forschungs- wie im Schreibprozess thematisierten.
Allerdings wurde hier nur bedingt auf die Thematik des Weißseins
eingegangen, die doch eine wichtige Grundlage für die kritische Analyse
von Herrschaftsdiskursen darstellt.
In meinem Beitrag möchte ich daher die Entwicklung der Ethnologie
gerade in Bezug auf den Topos des Weißseins untersuchen. Ausgehend von
der historischen Genese des methodologischen Paradigmas der
Feldforschung werde ich die extrem problematische Verquickung von
Ethnologie und weißer Hegemonie nachzeichnen. Während ich im
Hauptteil des Artikels auf die koloniale Verortung der Ethnologie eingehe,
werde ich am Ende versuchen, auf mögliche Perspektiven zu verweisen, die
für mich mit der Bewusstmachung meines eigenen Weißseins als
gesellschaftlichem Standpunkt im Forschungsprozess einhergehen.
ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVEN
Wenn in den Critical Whiteness Studies von der angenommenen
›Unsichtbarkeit‹ der weißen Subjektposition in der Selbstwahrnehmung von
Weißen die Rede ist, so scheint die Situation der klassischen Feldforschung
diesem Bild zunächst zu widersprechen, sind doch der oder die weiße
ForscherIn innerhalb dieses Kontextes fast immer deutlich als
Außenstehende markiert.[44] Zugleich manifestiert sich in der Geschichte
der Ethnologie aber all das, was in den neueren Arbeiten über Weißsein mit
dieser ›Unsichtbarkeit‹ verbunden wird; und zwar ein Universalitäts- und
Neutralitätsanspruch, der sowohl die Partikularität weißer Identität negiert
als auch den unmittelbaren Zusammenhang von Wissensproduktion und
Herrschaft – also die (macht-)politische Verortung der Wissenschaft –
kaschiert.
Wie ich in meiner bisherigen Diskussion zu zeigen versucht habe, war
die Verquickung von Ethnologie und Kolonialismus keineswegs mit der
formalen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien beendet, sondern sie
gehört vielmehr zu den prägenden Momenten des Faches, die dessen
heutigen Status nachhaltig mitbestimmen – unabhängig von der
individuellen Position(ierung) seiner VertreterInnen.[45] Noch 1989 schrieb
Edward Said:
The native point of view, despite the way it has often been portrayed, is not an ethnographic fact
only […]; it is in large measure a continuing, protracted, and sustained adversarial resistance to
the discipline and the praxis of anthropology (as representative of ›outside‹ power) itself.[46]
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ANMERKUNGEN
1 Appadurai: »Place and Voice«, S. 16; meine Hervorhebung.
2 Innerhalb der etablierten deutschen Ethnologie gibt es bisher kaum Reflexionen über dieses
Thema, das im hiesigen Kontext stark mit der Repräsentation bzw. Präsenz von MigrantInnen
innerhalb des Faches zusammenhängt. Die Initiative Berliner Studierender für ein
Diskussionsforum ›Polyphone Ethnologie‹, in dessen Rahmen u.a. gemeinsam mit polnischen
StudentInnen aus Warschau eine Forschung zur EU-Osterweiterung durchgeführt wurde, ist hier
positiv hervorzuheben.
3 Pels & Salemink: »Introduction«, S. 3.
4 Vgl. Said: Orientalism; Asad: Anthropology and the Colonial Encounter; Magubane: Critical
Look.
5 Goldberg: Racist Culture, S. 149. Vgl. Pels & Salemink: »Introduction«, S. 23; Thomas:
Colonialism’s Culture, S. 82; Fabian: Time and the Other, S. 8.
6 Ich verzichte hier bewusst auf die weibliche Form, da Frauen in der Regel nicht in diese
Klassifizierungen eingebunden wurden.
7 In seinem Buch Entzauberter Blick geht der deutsche Ethnologe Karl-Heinz Kohl dem Bild des
Edlen Wilden als einem zentralen zivilisationskritischen Topos der europäischen Renaissance
und Aufklärung nach. Aber auch in dieser Form des Othering verschwindet der Andere als
Subjekt und wird zur bloßen Projektionsfläche des Selbst. Vgl. Hall: »Der Westen und der
Rest«.
8 Vgl. Todorov: Conquest.
9 Vgl. Tylor: Primitive Culture; Morgan: Ancient Society.
10 Vgl. Fabian: Time and the Other, S. 16.
11 Vgl. Malinowski: Argonauts. Vgl. dazu auch: Stocking: »Maclay, Kubary, Malinowski«.
12 Der Strukturfunktionalist Edward Evans-Pritchard demonstrierte diesen Ansatz in seiner nach
wie vor vielrezipierten Studie Witchcraft, Oracles and Magic Among the Azande. Im
amerikanischen Kontext formulierten KulturrelativistInnen um Franz Boas ähnliche Prämissen –
ihrer Auffassung nach konnte eine spezifische Kultur nur aus sich selbst heraus, d.h. aus einer
emischen Perspektive verstanden werden. Für den oder die EthnologIn käme es also darauf an,
den »native’s point of view« zu erfassen und wissenschaftlich zu übersetzen. Auch hier zeigt
sich, dass die Problematik von Wissen, Macht und Repräsentation unhinterfragt bleibt; die
›Anderen‹ können nicht für sich selbst sprechen. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch der
maßgebliche Einfluss Boas’ auch auf Schwarze amerikanische Intellektuelle, wie Zora Neal
Hurston (die bei ihm studierte) oder W.E.B. Du Bois. Vgl. Williams: Rethinking Race, Kap. 2:
»Boas and the African American Intelligentsia«.
13 Pels & Salemink: »Introduction«, S. 34-35.
14 Vgl. Lévi-Strauss: Das Wilde Denken.
15 Vgl. Rosaldo: »Imperialist Nostalgia«.
16 Vgl. Asad: »Afterword«, S. 315; Thomas: Colonialism’s Culture, S. 7.
17 Vgl. Stocking: »Maclay, Kubary, Malinowski«, S. 67. Vgl. dazu auch: Said: »Representing the
Colonized«, S. 213.
18 In seiner Analyse des oskarpremierten Films Der mit dem Wolf tanzt demonstriert Nicholas
Thomas, wie dieses asymmetrische Verständnis von Kultur nach wie vor die liberale weiße
Identitätspolitik prägt, v.a. in Gestalt von Multikulturalismusdiskurs und zeitgenössischem
Primitivismus; vgl. Thomas: Colonialism’s Culture, Kap. 6 »The Primitivist and the
Postcolonial«.
19 Gupta & Ferguson: »Discipline and Practice«, S. 8..
20 Vgl. Gluckman: »Anthropological Problems«, S. 69.
21 Ebenda, S. 76.
22 Vgl. Magubane: »A Critical Look«.
23 Vgl. ebenda, S. 420. Vgl. dazu auch: Lipsitz: Possessive Investment in Whiteness.
24 Ebenda, S. 422. Hier wird Magubanes eigene politische Positionierung und
kulturnationalistische Orientierung deutlich.
25 Vgl. Kommentare in Magubane: »A Critical Look«.
26 Ferguson: Expectations of Modernity, S. 32.
27 Vgl. Trinh: Woman, Native, Other, S. 65.
28 Rasmussen et al: »Introduction«, S. 13.
29 Asad: »Afterword«.
30 Zu wichtigen Studien aus dieser Zeit zählen Trinh: Woman, Native, Other, Moores: Feminism
and Anthropology oder Fabians: Time and the Other.
31 Fabian: Time and the Other, S. 31 (Hervorhebung im Original).
32 Clifford: »Introduction«, S. 7.
33 Vgl. ebenda, S. 12.
34 Ebenda, S. 9.
35 Ebenda, S. 24.
36 Vgl. ebenda, S. 18-19.
37 Vgl. hooks: »Culture to Culture«.
38 Ebenda, S. 128.
39 Vgl. Said: »Representing the Colonized«.
40 Ebenda, S. 212.
41 Ebenda, S. 220-221.
42 In späteren Arbeiten geht Clifford auf die Kritiken an Writing Culture ein und bindet Fragen von
Macht und eigener Subjektposition stärker in seine Analyse ein, vgl. verschiedene Beiträge in
seinem Buch Routes.
43 Vgl. Abu-Lughod: »Writing Against Culture«.
44 Vgl. Loftsdóttir: »Never Forgetting?«. Allerdings ist anzumerken, dass der Außenseiterstatus
des Forschers oder der Forscherin in das Konzept der klassischen Feldforschung eingeschrieben
ist – unabhängig von der Kategorie des Weißseins. Vgl. Narayan: »How Native is a ›Native‹
Anthropology?«.
45 Dies betrifft nicht nur die Arbeit weißer EthnologInnen. In seinem Artikel »Putting Hierarchy in
Its Place« geht Arjun Appadurai auf die multiplen Diskursformationen ein, die die
wissenschaftliche Interpretation sozialer und kultureller Formationen immer mitbestimmen. Ihre
Dekonstruktion, einschließlich der Offenlegung ihrer machtpolitischen Einbettung, gehört für
Appadurai zu den wichtigsten Aufgaben einer zeitgenössischen Ethnologie.
46 Said: »Representing the Colonized«, S. 219-220 (meine Hervorhebung).
47 Vgl. ebenda, S. 224-225. Vgl. dazu auch: Hall: »Cultural Identity«.
48 Zur Gefahr eines strikten Antiessentialismus, wie er häufig im liberalen weißen Diskurs der
color-blindness Verwendung findet, vgl. Werbner: »Essentializing Essentialism, Essentializing
Silence«; zur umfassenden Diskussion des strategischen Gebrauchs von Essentialismen, vgl.
Schramm: Struggling Over the Past, Kap. 5 »Pan-Africanism as a Resource«.
49 Auf einige dieser Arbeiten habe ich mich explizit bezogen; sie seien an dieser Stelle nochmals
erwähnt: Pels & Salemink: Colonial Subjects; Thomas: Colonialism’s Culture; Stocking:
Colonial Situations.
50 Vgl. Moore: Future of Anthropological Knowledge; Gupta & Ferguson: Anthropological
Locations.
51 Vgl. Schramm: »On Being Rejected in the Field«; Dies.: Struggling over the Past.
52 Lavie & Swedenburg: »Introduction«, S. 21.
53 Vgl. Alistair Bonnetts Kritik am »white anti-racist confessionalism«, in: »Constructions of
Whiteness«, S. 208.
54 Vgl. Frankenberg: White Women, Race Matters; Hall: »Cultural Identity«.
55 Für einen entsprechenden Ansatz vgl. das Sonderheft der Zeitschrift Identities zu Whiteness in
the Field, herausgegeben von John Hartigan, Jr. Diese analytische Perspektive richtet sich nicht
allein auf Weißsein, sondern auch auf die Klassenposition der EthnologInnen. Mittlerweile gibt
es mehr und mehr Studien über Angehörige der Mittelschicht und Eliten; das so genannte
studying up stellt eine wichtige Loslösung vom kolonial geprägten ethnologischen Paternalismus
dar.
ANTJE HORNSCHEIDT
(NICHT)BENENNUNGEN:
CRITICAL WHITENESS STUDIES UND LINGUISTIK[1]
Benannt und dadurch markiert wird jeweils nur die Abweichung vom
angenommenen und auf diese Weise tradierten, reproduzierten und immer
wieder bestätigten Normalfall, wie die obigen Beispiele deutlich machen.
Es werden also nicht alle Seiten einer Differenzierung explizit gemacht,
sondern in der Regel jeweils nur diejenigen, die als Abweichung zur so
implizit aufgerufenen Normalität empfunden werden. Natürlich besteht
dabei eine gewisse Variationsmöglichkeit hinsichtlich der Frage, was genau
wie explizit benannt wird. An den sozialen Praktiken und Konventionen
dazu, was von wem in welcher sozialen Position benannt wird, lassen sich
gleichzeitig Normalitätsvorstellungen und auf diese Weise aktiv immer
wieder hergestellte Normalisierungen auch sozialer Positionierungen
ablesen und systematisch analysieren. Ein Forschungsfrage der
linguistischen Beschäftigung mit sprachlichen Benennungen im Rahmen
von Critical Whiteness Studies liegt also auf der Untersuchung, dass und
wie Weißsein in weißen Machtpositionen (die sich so auch jeweils wieder
als Machtpositionen herstellen) jeweils nicht benannt wird, was damit
gleichzeitig machtvoll konnotativ aufgerufen wird, welche Oppositionen
und damit Abgrenzungen implizit und explizit geschaffen werden und
welche Normalisierungsstrategien von Weißsein als unhinterfragte
natürliche Norm damit einhergehen. Wird Weißsein von weißen Positionen
aus benannt, muss ebenfalls genau betrachtet werden, in welchen Kontexten
und mit welchen Konnotationen dies geschieht. Wachendorfer diskutiert für
diese Fragestellung eine interessante Variante der weißen
(Nicht)Benennung, die weiße Benennung als »ich bin nicht Schwarz«. Dies
kann interpretiert werden als die sprachliche Herstellung einer kategorialen
Zugehörigkeit durch Negation einer Zugehörigkeit, welches die Normalität
von Weißsein noch mal verstärkt.
Hier wird aus einer Negation heraus Weiß-Sein entworfen; wie dieses Weiss-Sein aussieht, bleibt
jedoch unsichtbar. Die Weiße Subjektposition wird nicht erhellt und besetzt dadurch einen
universellen diskursiven Raum. Nun erscheint Weiß-Sein nur auf den ersten Blick unsichtbar. Man
erfährt nichts darüber außer, dass die Person nicht Schwarz ist. Dadurch werden jedoch all die
Konnotationen und Imaginationen zu Schwarz-Sein aufgerufen, die als rassistische Denkfiguren
oftmals Bestandteil des Alltagsdiskurses sind. Sie werden nicht unbedingt als solche erkannt, und
dennoch transportieren sie stereotype rassistische Bilder und Beziehungsstrukturen. Ein anderes
Moment, das in dieser Aussage aufscheint, ist die exklusive bipolare und hierarchisch organisierte
Konstruktion, man kann nur Weiß oder Schwarz sein; im historischen Kontext lässt das an
koloniale und an Reinheits-, Blut- und Degenerationsdiskurse erinnern.[8]
Diese Sichtweise geht konform mit der soziologischen Theorie von Berger
und Luckmann, nach der Sprache der Speicher gesellschaftlicher bzw.
sozialer Erfahrungen ist. Eine Wortung ist demnach ein Akt einer
wahrgenommenen Objektivation, die der gesellschaftlichen Verständigung
dient und sich insofern verselbstständigt, als dass die Objektivation den
Anschein vermittelt, dass es sich damit um Wirklichkeit handelt, die
gewortet ist und so auch als Wirklichkeit wahrgenommen wird.[9] Sprache
ist so gesehen das Fundament des kollektiven, angenommenen
Wissensbestandes.
Dieser Speicher versorgt die Nachgeborenen mit Wissen, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum
einen greift das Individuum auf die im Speicher (Wortschatz) bereitliegenden Objektivationen
zurück, wann immer es spricht und damit seine Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken,
Wahrnehmungen objektiviert, sie für sich und andere wirklich werden läßt. Sprache versorge die
Sprachangehörigen gleichsam mit Vorfabrikationen, zwinge sie damit aber gleichzeitig in ihre
vorgeprägten Muster.[10]
Durch die sprachliche Benennung und damit Herstellung als anders wird
kontinuierlich eine Norm konstituiert und/oder bestätigt, die auch gerade
deshalb so machtvoll wirken kann, da sie unbenannt oder in linguistischer
Terminologie ›unmarkiert‹ bleibt, wie beispielsweise an der Nicht-
Benennung von ›weißen Deutschen‹ gegenüber ›Schwarzen (Deutschen)‹
deutlich wird. In der Regel ist die aufgerufene und teilweise oder ganz
realisierte Opposition hier ›Deutsche‹ und ›Schwarze‹, wodurch ein Bild
von deutscher Identität als weiß normalisiert und gleichzeitig eine
Vorstellung Schwarzer deutscher Identität verunmöglicht wird. Genau diese
Praktiken der Benennung bzw. sprachlichen Herstellung von Weißsein als
Nicht-Benennung und als unmarkierte Norm sind besonders machtvoll für
Alltagsverständnisse und Konzeptualisierungen von Identitäten. Dies
bedeutet für die Linguistik im Rahmen der Critical Whiteness Studies, dass
die systematische Beschäftigung mit der sprachlichen Nicht-Benennung des
hegemonial Dominanten ein wichtiges Forschungsziel ist.
Der Rassismus liegt in der kontinuierlichen Tradierung von
Normalitätsvorstellungen, die durch die Nicht-Benennung als
Selbstverständlichkeiten immer wieder wiederholt und weiter verfestigt
werden. Weißsein wird so nicht nur als Norm kontinuierlich reproduziert,
gleichzeitig auch entgeht es durch die Handlung der Nicht-Benennung
allein schon der Möglichkeit einer Diskriminierung, die bei den
markierenden Benennungen kontinuierlich gegeben ist. Die Nicht-
Benennung sehe ich hier – und das ist zugleich eine wichtige Neuerung für
linguistische Analysen, die auch an diesem Punkt von Critical Whiteness
Studies inspiriert sind – ebenso als eine sprachliche Handlung, und zwar des
Schweigens, Übergehens, Ignorierens an. Es handelt sich in dieser
Sichtweise in dem konkreten Fall der im konventionalisierten
Sprachgebrauch systematischen Nicht-Benennung von Weißsein um eine
extrem wirkmächtige Strategie der Normalisierung von Weißsein, die, wie
weiter oben ausgeführt wurde, strukturell und kognitiv von hoher Relevanz
für die Reproduktion von Weißsein als unhinterfragbarer Norm dient. In
Anlehnung an Irvine und Gal[19] kann hier auch von einem Prozess der
sprachlichen Auslöschung (erasure) gesprochen werden, der dann
stattfindet, wenn eine Ideologie ein soziolinguistisches Feld vereinfacht und
die Aufmerksamkeit auf nur einen Aspekt oder eine Dimension zieht und
dadurch bestimmte sprachliche Formen und Gruppen unsichtbar macht oder
ihr Bild so herstellt, dass es besser zu der herrschenden Ideologie passt.
Jegliche Form von Stereotypisierung kann in dem Sinne als eine
gleichzeitige Auslöschung bezeichnet werden.
Auch eine sprachhistorische Analyse der Genese von
Benennungspraktiken[20] kann wichtige Aufschlüsse über die Tradierung
von Vorstellungen, Stereo- und Prototypisierungen liefern. Eine Analyse
deutscher Benennungspraktiken im öffentlichen Kontext könnte die
Normsetzung von Weißsein und die damit einhergehende De-
Thematisierung weißer Privilegien eindrucksvoll herausarbeiten. In einem
weiteren Schritt kann die Analyse von Argumentationsstrategien im
Umgang mit der rassistischen Nicht-Benennung von Weißsein ein vertieftes
Verständnis zu Abwehr- wie Normalisierungsstrategien einer hegemonialen
Position liefern.[21]
Teilweise Parallelen mit den Argumentationsstrategien gegen eine
feministische Sprachveränderung sind feststellbar, ohne dass diese in allen
Fällen ineinander übertragbar sind bzw. ineinander aufgehen. Die doppelte
Ausgrenzung und Diskriminierung Schwarzer Frauen und die
Differenzierung zwischen einer universalisierten weißen und einer
weiblichen weißen Position in der Nicht-Benennung von Weißsein können
hier weitere wichtige Untersuchungsschwerpunkte für zukünftige
Forschungen sein. Grundlegend zu beachtende analytische
Differenzierungen sind die von Selbst- und Fremdbenennung sowie der
sozialen Gruppe, die Weißsein benennt oder nicht benennt. Schäfer-
Wünsche[22] untersucht die afroamerikanische Praxis des Benennens von
weißen Personen und eröffnet mit dieser Forschungsarbeit eine wichtige
weitere Perspektive auf Benennungspraktiken im Kontext von Critical
Whiteness Studies neben einer Thematisierung hegemonialer Benennungen.
Aus einer so ausdifferenzierten Sichtweise auf (Nicht-)Benennung kann die
hegemoniale weiße Position kritisch hinterfragt, neu kontextualisiert und
positioniert und in ihrer Wirkmächtigkeit aufgelöst werden.
Dass Benennungen aber nicht nur in Bezug auf verschiedene
alltagsweltliche Diskurse und im Hinblick auf die Benennung von Personen
wichtige Themenstellungen sind, die die Linguistik in Critical Whiteness
Studies einbringen kann, soll der nachfolgende Teil des Artikels aufzeigen.
Hier will ich verdeutlichen, dass eine linguistische Perspektive in den
Critical Whiteness Studies auch die Linguistik selbst zum kritisch zu
analysierenden Gegenstand haben muss. Auch hier wähle ich wiederum ein
Beispiel aus dem Bereich der Benennungen, um die inhaltlichen
Überschneidungen und Kontinuitäten deutlich zu machen.
FORMEN SPRACHLICHER (NICHT)BENENNUNG VON WEIßSEIN IN DER
LINGUISTIK
Als Beispiel für die Relevanz einer kritischen Betrachtung der Linguistik
als Disziplin mit Hilfe der Critical Whiteness Studies beziehe ich mich im
Folgenden auf zwei zentrale linguistische Benennungspraktiken, die bis
heute wirkmächtig und weitgehend unreflektiert geblieben sind. Dabei
handelt es sich zum einen um die Annahme der Verbindung zwischen Rasse
und Sprache und zum anderen um die Klassifikation von Sprachen in den
modernen Sprachwissenschaften.
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Sexuality. Contesting Meaning in Theory and Practice. Stanford, CA: CSLI Publications, 2001,
S. 1-21
ANMERKUNGEN
1 Ich danke den Herausgeberinnen für ihre kritischen Kommentare zu dem ersten Entwurf des
Artikels, dem ich Anregungen für meine eigene kritische weiße Perspektive verdanke.
2 Vgl. Morrison: Playing in the Dark; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland. Zur
Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität«; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«;
Frankenberg: White Women, Race Matters; Dies.: »Introduction«.
3 Gutiérrez Rodríguez: »Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik«, S. 18
4 Dieser wird in allen poststrukturalistischen und sozial-konstruktivistischen Denkrichtungen als
grundlegende erkenntnistheoretische Perspektive unterlegt. Mit der Begrifflichkeit ›pragmatisch‹
beziehe ich mich hier auf eine linguistische Terminologie.
5 Der Idee des »Wilden« steht konzeptuell implizit wie explizit der Terminus »zivilisiert«
gegenüber, der seinerseits konzeptuell stark assoziativ aufgeladen ist, ohne das, was mit
»zivilisiert« konkret gemeint ist, in der Regel zu explizieren. Vgl. hierzu unter anderem
Ashcroft, Griffiths & Tiffin: Post-Colonial Studies, S. 209-210; Arndt & Hornscheidt: Afrika
und die deutsche Sprache. Weitere Beispiele für die abwertende Benennung des Anderen im
kolonialen Kontext und die damit gleichzeitig hergestellte positive unbenannte Normherstellung
des weißen Selbst sind Benennungen wie »Kannibale«, »Primitive« und »Eingeborene«.
6 hooks: »Language. Teaching New Worlds/New Words«, S. 167.
7 Rich: On Lies, Secrets, and Silence, S. 199.
8 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 121-122.
9 Vgl. Berger & Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.
10 Frank: Sprachgewalt, S. 116.
11 Vgl. Hall: »The Rediscovery of ›Ideology‹«
12 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 11.
13 Vgl. McConnell-Ginet: »›What’s in a Name?‹«.
14 Vgl. Kilomba: »Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des Schwarzen«.
15 Zudem wird hier die ›Unschuldsannahme‹ der Nicht-Intentionalität der kindlichen Äußerung
kritisch analysiert und der Mythos so genannter ›positiver‹ Rassismen dekonstruiert.
16 Kilomba: »Die Farbe unseres Geschlechts«, S. 119.
17 Vgl. Arndt & Hornscheidt: »›Worte können sein wie winzige Arsendosen.‹«.
18 Steyerl & Gutiérrez Rodríguez: »Einleitung«, S. 9.
19 Vgl. Irvine & Gal: »Language ideology and linguistic differentiation«.
20 Siehe auch den abschließenden Teil dieses Artikels, in dem es um die ReSignifizierung von
Benennungspraktiken geht.
21 Vgl. entsprechende Ansätze bei Kilomba: »Die Kolonisierung des Selbst – der Platz des
Schwarzen« zu vor allem psychischen Effekten; Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland« zu
politischen Aspekten; Arndt & Hornscheidt: »›Worte können sein wie winzige Arsendosen.‹« zu
sprachlich-politischen Aspekten.
22 Vgl. Schäfer-Wünsche: Wenn von Weißen die Rede ist.
23 Vgl. z.B. einführend: Ashcroft: »Language and Race«; Römer: Sprachwissenschaft und
Rassenideologie.
24 Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 40-41. Römer benutzt den Begriff der
›Rasse‹ unkritisch und unreflektiert in ihrer Monografie, was ein wichtiger Kritikpunkt an ihrer
Studie ist, die ansonsten wichtige Einsichten in die Herstellung eines Zusammenhangs von
Sprache und Rasse in und durch die Sprachwissenschaften liefert.
25 Für eine Genealogie des Begriffs vgl. auch Arndt: »Rasse«.
26 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 17.
27 Vgl. Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie, S. 41-42.
28 Vgl. Calvet: Linguistique et Colonialisme, S. 54.
29 Schlieben-Lange: »Einleitung«, S. 8.
30 Vgl. Calvet: Linguistique et Colonialisme, S. 54.
31 Vgl. vor allem Phillipson: Linguistic Imperialism; Pennycook: English and the Discourses of
Colonialism.
32 bell hooks: »Language«, S. 168.
33 Vgl. beispielsweise Schoenthal: »Personenbezeichnungen im Deutschen als Gegenstand
feministischer Sprachkritik«, wo diese Auffassung programmatisch formuliert worden ist.
34 Frankenberg: White Women, Race Matters, S. 6.
35 Siehe z.B. die ReSignifizierung von ›nigger‹ im U.S.amerikanischen Kontext in bestimmten
sozialen Gruppen (Kennedy: Nigger) und von queer (McConnell-Ginet: »›What’s in a
Name?‹«).
36 Vgl. Labov: »Are Black and White Vernaculars Diverging?«.
37 Vgl. Cutler: »Yorkville Crossing«.
JULIA ROTH
»STUMM, BEDEUTUNGSLOS, GEFRORENES WEISS«.
[1]
DER UMGANG MIT TONI MORRISONS ESSAYS IM
WEIßEN DEUTSCHEN KONTEXT
Der letzte Absatz des Artikels ist bezeichnend, insofern er Toni Morrisons
zwar (indirekt) zitiert, sich mit ihren Essays aber nicht inhaltlich
auseinandersetzt. Entsprechend begrenzt sich der Verweis auf Toni
Morrisons literaturkritische Essays auf folgende Bemerkung: »Ihre Essays
zur schwarzen amerikanischen Literatur […] sind einer der klügsten
Beiträge zur political correctness in Amerika, einer Debatte, die unentwegt
mit Scheuklappen und falschen Rücksichten geführt wird.« In der FAZ vom
2. April 1994 erklärt Ingendaay Im Dunkeln spielen unter dem vielsagenden
Titel »Figur im Dunkeln« darüber hinaus zu einem Buch, »auf das die
amerikanische Literaturkritik noch oft zurückkommen wird« (meine
Hervorhebung). Entsprechend habe es »[d]as deutsche Publikum (..) da
schwerer, denn die Übersetzung ist zu einem Drittel akzeptabel und zu zwei
Dritteln eine Zumutung.« Statt eine Rückkopplung an den deutschen
Kontext und die eigene weiße Position zu vollziehen, flüchtet er sich auf
eine andere Ebene. So schließt der Artikel mit einer heftigen Polemik gegen
die Übersetzerinnen.[21]
Auf ähnliche Weise umgeht es Joachim Auch in seiner Rezension des
Essaybandes in der Stuttgarter Zeitung vom 1. Juli 1994, Toni Morrisons
als Literaturkritikerin anzuerkennen.[22] Die Essays werden von vornherein
als nettes aber uninteressantes Beiwerk der »unterhaltsamen« Romane[23]
präsentiert: »Wer aber wissen will, was sich die Dichterin Toni Morrison
beim Dichten gedacht hat, der kann nun auch zu einer Essaysammlung der
Professorin Toni Morrison […] greifen.« Diese bewertet Auch von seiner
unhinterfragten Perspektive eurozentristischer Überlegenheit. Er arbeitet
ungebrochen mit den Mitteln der Exotik, so dass Toni Morrisons Romanen
der Status ethnologischer Texte zugeschrieben wird. Die Ebene der
Literaturkritik behält auch er sich selbst vor. »Dort, wo sich Toni Morrison
[…] auf Metaebenen begibt und etwa eine ›afrikanistische Person‹
konstruiert […], verheddert sie sich […] mehr und mehr in Abstraktionen.
[…] Vielleicht sollte man weiterhin Toni Morrisons Romane einfach so
lesen. Lesen? Ach was, verschlingen.« Diese rhetorische Geste legt
Assoziationen der Einverleibung nahe.
Sven Boedecker liest die Essaysammlung »Im Dunkeln spielen« im
Tagesspiegel vom 12. Juni 1994 als »wertvolle[n] Beitrag zur Betrachtung
der amerikanischen Kulturidentität und damit zu einem zeitgemäßen
Verständnis Amerikas.« Im Anschluss an eine Beschreibung der US-
amerikanischen Kanondebatte verortet er die Essays in diesem kulturellen
Kontext.[24] Eine inhaltliche Auseinandersetzung und eine selbstreflexive
Rückkoppelung an den eigenen Kontext erfolgt auch bei ihm nicht.
Vielmehr klingt eine USA-kritische belehrende Haltung von der Warte
europäischer kultureller Überlegenheit an. Schwarze bzw. weiße
Subjektpositionen markiert er nicht.
Eine Ausnahme bildet Christina Adomakos Rezension der
Essaysammlung in der Kommune Nr. 6/1994.[25] Als einzige deutsche
Rezensentin reflektiert sie ihre eigene Position und thematisiert den eigenen
Rezeptions- und Verstehensprozess beim Lesen der Essays:
Ich habe mich als Schwarze nie gefragt, ob beispielsweise Hemingway oder McCuller rassistisch
geprägt waren, nach Lektüre dieser Essays frage ich mich, ob ich von nun an in der Lage sein
werde, ein von einem/einer weißen AutorIn geschriebenes Buch zu lesen, ohne nach der
›Schwarzen Präsenz‹ zu suchen. […] [N]eue Literaturrezeptionsmöglichkeiten und Anstöße
werden auf jeden Fall geboten.
WEIßE VERWEIGERUNG
Wenn die Buchrezensionen in den Feuilletons namhafter Zeitungen Einfluss
auf den Verkauf haben, ist es nicht verwunderlich, dass Toni Morrisons
Essayband Im Dunkeln spielen in Deutschland nur noch antiquarisch
erhältlich ist. Der Umschlagtext der deutschen Ausgabe des Essaybandes
Im Dunkeln Spielen weist darauf hin, dass »Die Rassenfrage [sic], so Toni
Morrison in diesen glanzvollen Essays, […] zur Metapher geworden [ist],
mit deren Hilfe weiße Autoren über gesellschaftliche und ökonomische
Probleme wie auch über private Ängste reden konnten, ohne sich selbst
gemeint zu fühlen.« Die meisten erwähnten Rezensionen deuten zum
gegenwärtigen Zeitpunkt darauf hin, dass dies für den weißen deutschen
Kontext der Literaturkritik – zumindest für die anerkanntesten und
einflussreichsten Publikationen – noch immer gültig zu sein scheint.[41] In
einer Vielzahl der Rezensionen finden sich rassistische Markierungen.
Keine der Rezensionen geht explizit auf die Kategorie Whiteness ein. Die
US-amerikanische Kanondebatte, im Rahmen derer die Essays entstanden,
wird nur von wenigen und dort lediglich am Rande erwähnt. In Deutschland
hat eine Kanondebatte in dieser Form nie stattgefunden. Hier gab es weder
mit der Bürgerrechtsbewegung noch mit der feministischen Bewegung
(Black Aesthetic Movement bzw. Feminist Movement) vergleichbare
politischen Bewegungen, geschweige denn deren institutionelle
Verankerung wie dies an US-amerikanischen Universitäten geschehen ist.
Dies lässt sich maßgeblich durch das Unsichtbarmachen von Interventionen
von den Rändern erklären. Zudem spielen Faktoren wie die zugegebener
Maßen problematische Übersetzung, der spezifische historische und sozio-
kulturelle Kontext oder die Ungleichzeitigkeit der Diskurse sicherlich eine
Rolle. Dazu gehört auch eine andere Essaytradition. Wie Adorno betont, ist
der Essay in Deutschland als Mischprodukt verrufen […] es [gebricht] an überzeugender Tradition
der Form […]. Noch heute reicht das Lob des écrivain hin, den, dem man es spendet, akademisch
draußen zu halten. […] In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des
Geistes mahnt.[42]
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ERWÄHNTE REZENSIONEN:
Aachener Nachrichten, 2.10.2004
Baseler Zeitung, 15.4.1994
Berliner Zeitung, 2.12.2004
Brigitte, 18.8.2004
Buchjournal, Herbst 2004
BücherPick, Winter 2004
Cosmopolitan, Oktober 2004
Die tageszeitung, 6.10.2004
Der Bund, 28.5.1994
Der Stern, 30.9.2004
Der Spiegel, 16.8.1993; 19.1.1994
Der Tagesspiegel, 12.6.1994
Die Zeit, 8.10.1993
Emma, November/Dezember 2004
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1983; 16.1.1990, 2.4.1992; 30.3.1993; 8.10.2003; 6.10.2004;
8.12.2004
Frankfurter Rundschau, 8.12.2004
Freundin, 15.9.2004
Focus, 4.10.2004
Kommune, 6/1994
Literaturen 2, Oktober 2004
Mannheimer Morgen, 2.10.2004
Neue Zürcher Zeitung, 22.6.1994
Plan 7 (Beilage der Hamburger Morgenpost), 23.-29.9.2004
Petra, Oktober 2004
Süddeutsche Zeitung, 26.10.1994
WochenZeitung, 27.5.1994
Stuttgarter Zeitung, 1.7.1994
ANMERKUNGEN
1 Astrid Deuber-Mankowsky, in: Wochenzeitung (WoZ) vom 27. Mai 1994.
2 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«.
3 Dies.: »Nobel Lecture«.
4 Literaturen 10 (Oktober 2004), S. 6 ff.
5 Ich setze den Begriff ›race‹ in Anführungsstriche, um hervorzuheben, dass es sich dabei um
eine soziale Konstruktion handelt, die mit einer Hierarchisierung verbunden ist. Es handelt sich
um einen politischen und historisch belasteten Begriff, der nicht von dem des Rassismus zu
trennen ist (vgl. hierzu Frankenberg: White Women, Race Matters).
6 Sie nimmt bereits seit Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin an gesellschaftlichen Debatten
teil, so z.B. 1971 mit ihrem im New York Times Magazine erschienenen Essay »What the Black
Woman Thinks about Women’s Lib« oder dem später von ihr herausgegebenen Band Race-ing
Justice, En-gendering Power, zu dem sie auch die Einleitung schrieb.
7 Morrison: Playing in the Dark.
8 Dies sind die bekanntesten und einsflussreichsten Essays der Autorin. Im Folgenden werde ich
mich auf den Essayband Im Dunkeln Spielen (Playing in the Dark) beschränken, da nur dieser
ins Deutsche übersetzt wurde. Die Essays basieren auf den William E. Massey Sr. Vorlesungen,
die Toni Morrison an der Harvard University hielt. Weitere Essays von Toni Morrison, auf die
ich verweisen werde, sind »Unspeakable Things Unspoken«, »The Site of Memory« und
»Rootedness«.
9 Einen guten Überblick über die US-amerikanische Kanondebatte bietet: Schwenk: Politik des
Lesens.
10 Vgl. hierzu z.B. Mori: Toni Morrison and Womanist Discourse, insbesondere das Kapitel zu
»Morrison’s Theorizing of Narratives«; Tally: Paradise Reconsidered, hier besonders das
Kapitel »The Canonical« sowie Lanser Sniader: Voice, S. 120-140; McBride: »Speaking the
Unspeakable«; Rody: »Toni Morrisons’s Beloved«.
11 Ihre literaturkritischen Essays werden in theoretischen Arbeiten über ihre Romane und die
anderer Autoren zitiert. Deutlich wird dies z.B. anhand der Anzahl der Titel der elektronischen
Datenbank der Modern Language Association (MLA), die Ausdrücke aus ihren Essays enthalten
(Vgl. MLA). Ferner trägt die »Fourth Biennial Conference« der Toni Morrison Society (2005)
den Titel eines Essays: »Toni Morrison & Sites of Memory«.
12 Diese Auseinandersetzung führe ich von meiner Position als weiße deutsche Amerikanistin. In
dem Bewusstsein, dass meine Position (besonders in Bezug auf den Umgang mit Texten einer
afroamerikanischen Autorin) die Gefahr der Vereinnahmung birgt, werde ich versuchen, mich an
einem Modell der Differenz im Sinne Elizabeth Abels zu orientieren. Um einen erweiterten
Dialog »across, as well as about racial boundaries« zu ermöglichen, schlägt Abel vor »[to] (…)
produce our readings cautiously and locate them in a self-conscious and self-critical relation to
black feminist criticism (…)« (Abel: »Black Writing, White Reading«, S. 843).
13 Mein Dank gilt Susann Neuenfeldt und Prof. Dr. Renate Hof für wertvolle Gespräche und
hilfreiche Anregungen zur Strukturierung dieses Textes. Carsten Junker bin ich dankbar für
wichtige Diskussionen zu meiner eigenen Positionierung und dafür, dass er mich auf meine
Blindstellen aufmerksam gemacht hat.Hark Machnik danke ich für die Ermunterung, das
Potenzial des Essays »als kritische Form par excellence« stärker herauszuarbeiten.
14 Morrison, zit. in: Peterson, S. 128.
15 McBride: »Speaking the Unspeakable«, S. 136.
16 Z.B. »A profound redefinition of American cultural identity […] Her Method of reading […]
inevitably revises what American literature means today.« (Philadelphia Inquirer, zitiert auf
dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen); »[Toni Morrison’s] argument is
lucid and eloquent; its paradigm-shattering implications are profound. Morrison succeeds in
mapping a new critical geography for American literary study.« (Journal of American History,
zitiert auf dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen); »Essential reading for
anyone interested in American literature and in the ways in which racial thinking is everywhere
embedded in cultural production. Morrison is vividly sketching a new way to read American
literature and enabling us to see the hard racial truths that it contains.« (In these Times zitiert
auf dem Cover von Playing in the Dark, meine Hervorhebungen).
17 McBride: »Speaking the Unspeakable«, S. 145.
18 Early: »Introduction«, S. ix.
19 Vgl. dazu: »Klein und breit hinter ihrem Schreibtisch thronend. […] Sie hat die stolze
afrikanische Stammeskönigin drauf, die sonore Intellektuelle und die sinnliche Black Mama.«
20 In seiner Rezension von Morrisons Romans Menschenkind in der FAZ vom 16. Januar 1990
setzt sich Ingendaay vehement für die literarische Anerkennung der Autorin ein: »Ein Etikett
wie ›Frauenliteratur‹ oder gar ›schwarze Frauenliteratur‹ sieht besonders gegen ihren neuen
Roman ›Menschenkind‹ sehr blaß aus. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, daran zu erinnern, daß
hier, ohne Kistchen und Schubladen, moderne Weltliteratur zur Debatte steht.« Auch die
Subsumierung unter dem Etikett ›Weltliteratur‹ stellt eine Vereinnahmung dar.
21 Diese äußert sich u.a. wie folgt: »deutsche Sprachruinen«, »Albernheiten wie ›Studentinnen und
Studentinnen‹, wo im Original natürlich students steht«, »Der Leser bleibt ratlos zurück. Die
Leserin auch. Wo war der Lektor? Und wo die Lektorin?« Die »Übersetzung« der theoretischen
Ansätze wird nicht thematisiert. Die Polemik gegen die nichtdiskriminierende Schreibweise auf
der gender-Ebene deutet darüber hinaus auf eine Ablehnung hin, die männliche Position und die
damit verknüpften Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren.
22 Der bezeichnende Titel »Mrs. Afroamerika. Toni Morrisons Essays« erinnert an die
Reduzierung der Autorin auf ihr Äußeres als Schönheitskönigin ihrer High School in einer
Rezension in der FAZ vom 29. März 1983, bevor Morrisons Auszeichnung mit dem
Literaturnobelpreis ihr weltweit Autorität verschaffte.
23 Er bezeichnet sie als »Toni Morrisons Sklavenromane und Sklavensagas«.
24 Der Titel lautet bezeichnenderweise »Das beunruhigende Anderssein. Toni Morrisons Essays
zur amerikanischen Kulturidentität«.
25 Ich möchte darauf hinweisen, dass ferner auch Elisabeth Wehrmann in der ZEIT vom 8. Oktober
1993 eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umgang Toni Morrisons in FAZ und SPIEGEL
führt. »›Rassismus ist heute so vital wie zur Zeit der Aufklärung‹, sagt Toni Morrison.
Offensichtlich nicht nur in der Neuen Welt und nicht nur unter deutschen Skinheads.« Auch
dieser Text stellt jedoch weniger eine Rezension der Essays als vielmehr eine Polemik gegen die
vorhergehenden diffamierenden Texte dar. Obwohl sich Susanne M. Roth in der Süddeutschen
Zeitung (SZ) vom 26. Oktober 1994 auf eine Analyse der Essays und der darin dargelegten
Konzepte konzentriert, werden diese als spezifisch US-amerikanisches Phänomen behandelt. Ein
Transfer auf die eigene Position und den deutschen Kontext findet nicht statt.
Untersuchungsgegenstand bleibt das afroamerikanische Andere: »(Man könnte an diese Fragen
nun die Frage anschließen, ob nicht das Konstrukt einer afrikanistischen Persona wiederum auf
schwarze Autoren und schwarze Kritiker Einfluß genommen habe.)« Roth erkennt Toni
Morrisons Position als Kritikerin an, obwohl auch sie sie hauptsächlich als Romanautorin preist.
26 Wochenzeitung (WoZ) vom 27.6.1994.
27 Ebenda.
28 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 22.6.1994.
29 Das »weissen« setzt sie hier in Anführungsstriche, im Rest des Textes jedoch nicht mehr.
30 Vgl. z.B. Christian: »The Race for Theory«; McDowell: »Recycling«; McKay: »Reflections on
Black Women Writers«; Showalter: »A Criticism of Our Own«; sowie die britische Kritikerin
Carby: »The Canon«.
31 Der Rezensent ist der einzige, der sich näher mit den ›non-fiktionalen‹ Werken Morrisons
auseinandergesetzt zu haben scheint und darauf verweist, dass sie auch früher schon Essays zu
aktuellen sozio-politischen und literaturwissenschaftlichen Themen geschrieben hat.
32 Der Bund, 28.5.1994.
33 Ich möchte betonen, dass es mir keinesfalls darum geht, ›nationale Eigenschaften‹ aufzuzeigen.
So handelt es sich bei einigen Rezensenten in den Schweizer Publikationen um deutsche
Staatsbürger. Es geht mir vielmehr darum, gewisse diskursive Unterschiedlichkeiten
aufzuzeigen, also zu fragen, welcher Raum und welcher Stellenwert bestimmten Haltungen in
verschiedenen diskursiven Kontexten eingeräumt wird.
34 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«, S. 34.
35 Adorno (»Der Essay als Form«, S. 39) nennt den Essay »die kritische Form par excellence«,
Good (»The Essay and Criticism«) spricht vom Essay als Kulturkritik, Boetcher-Joeres &
Mittmann bezeichnen ihn als »written form resembling the speech« (»An Introductory Essay«,
S. 19), ein »›anti-genre‹, a site for critical reflection, for subversive – precisely because it is non-
systematic, unscientific – thought« (ebenda, S. 12).
36 Eine profunde inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Roman fehlt bzw. beschränkt sich auf
die Pauschalisierung: »Ihre sieben Romane kreisen um schwarze Geschichte und Gegenwart –
und diese Treue zum Thema wird offenbar von Lesern und Zuschauern [des Films ›Beloved‹]
anerkannt. […] Auch mit ›Paradise‹ mutet Morrison ihren Lesern einiges zu.«
37 Vgl. etwa die Freundin 15. September 2004, Petra Oktober 2004, Cosmopolitan Oktober 2004.
Differenzierter liest sich Alice Schwarzers Rezension in der Emma (November/Dezember 2004)
unter dem Titel »Von Liebe und Hass«: »Von ihr, die heute afroamerikanische Literatur in
Princeton lehrt, stammt der noble Begriff der ›Kreolisierung der Kultur‹, einer Kultur also, die
weder weiß noch schwarz, weder männlich noch weiblich, sondern zutiefst menschlich ist. So
wie diese bittersüße Geschichte über den real existierenden Hass und den Traum von der Liebe.«
Die Bezeichnung »nobel« legt Assoziationen mit dem Begriff des »noble savage« (des »edlen
Wilden«) nahe. Das Ausblenden von Differenzen (auf denen Toni Morrison explizit beharrt) und
die essentialistische Annahme einer gemeinsamen »Menschlichkeit« birgt die Gefahr der
Wiedereinschreibung der dominierenden Position der Rezensentin
38 Bezeichnend hierfür ist z.B. die Rezension von Jenny Schmetz in den Aachener Nachrichten
vom 2. Oktober 2004: »[S]ie erzählt ihre Geschichte weiter – von der Geschichte der Schwarzen
und der Frauen. […] Ein ›Frauenroman‹ eben. Obwohl. Die Autorin führt keck ein mit dem
Satz: ›Die Beine der Frauen sind weit geöffnet.‹ Vielleicht will sie ja doch ein paar Männer zum
Lesen verlocken« (meine Hervorhebungen). Differenziertere Bewertungen bieten die
Rezensionen in der tageszeitung (taz) vom 6. Oktober 2004: »Da ist die unüberbrückbare Kluft
zwischen Mann und Frau, zwischen Arm und Reich und Schwarz und Weiß, das Grundthema,
das sich durch alle Bücher Toni Morrisons zieht«, sowie in der Berliner Zeitung vom 2.
Dezember 2004: »Von wegen Liebe: Toni Morrison erzählt von Geschlechterkampf und
Rassismus«.
39 Vgl. z.B. Morrison: »What the Black Woman Thinks about Women’s Lib«; Spillers:
»Interstices«; Spelman: Inessential Woman; Frankenberg: »Whiteness and Americanness«.
40 Vgl. z.B. Bröck: White Amnesia –Black Memory?; Hetzfeld, Schäfgen & Veth (Hrsg.):
Geschlechter Verhältnisse (darin besonders auch die Übersetzung von Ruth Frankenberg ins
Deutsche); Walgenbach: »›Whiteness‹ und Weiblichkeit«.
41 Ein Beispiel für eine marginalere Publikation ist die erwähnte Rezension in der Kommune.
42 Adorno: »Der Essay als Form«, S. 9-10.
43 Vgl. z.B. Arndt: »Impressionen«; Ayim: »Die afro-deutsche Minderheit«; Bröck: »Wird der
weiße Feminismus seine ›Default‹-Position aufgeben?«; Melber: Der Weissheit letzter Schluss;
Gelbin, Konuk & Piesche (Hrsg.): Aufbrüche; Piesche: »Identität und Wahrnehmung in
literarischen Texten Schwarzer deutscher Autorinnen«; Wachendorfer: »Weiß-Sein in
Deutschland«. Die meisten deutschen Texte zu Critical Whiteness beziehen sich (zumindest am
Rande) auf Toni Morrisons Publikationen.
44 Darüber hinaus könnte eine Übersetzung des rhetorisch überzeugenden Essays »Unspeakable
Things Unspoken« ins Deutsche zu einer erweiterten Kanondebatte anregen.
45 Morrison: »Unspeakable Things Unspoken«, S. 2.
JULIANE STROHSCHEIN
ALS WEIßE STUDIERENDE IN EINER WEIßEN
UNIVERSITÄT:
ERSTE POSITIONIERUNG
Was bedeutet es, wenn weiße Menschen in dieses Wissen mit einbezogen
werden? Welchen Sinn hat es für Weiße? Was bedeutet es, wenn sie sich in
eigenen Institutionen zusammenfinden, um das Weißsein zu studieren? Wer
lehrt? Wer hat das Wissen zu lehren? Wer hat den Zugang und die
Privilegien sich zu professionalisieren? Was passiert, wenn Weiße
akademisch zu kritischem Weißsein arbeiten? Bedeutet die Tatsache, dass
es kritisch intendierte Bücher über Weißsein geben kann, das rassistische
Strukturen so gut strukturell verankert sind, dass critical whiteness studies
keine Bedrohung für weiße Vorherrschaft darstellen, sondern sie mittragen?
Im Unterschied zum Wissen über Weißsein, wie bell hooks es beschreibt,
sind critical whiteness studies, die ohne Black Studies gar nicht möglich
gewesen wären, strukturell in unmarkiert weißen zumeist Weißseins-
unkritischen Universitäten verankert. Welche Konsequenzen hat das?
Welche neuen Institutionen werden innerhalb rassistischer Strukturen auf
Studien über kritisches Weißsein aufbauen? Ist schon die Beibehaltung des
englischen Idioms ein Abwehrmechanismus, der die Auseinandersetzung
mit Weißsein in einem räumlich und/oder sprachlich distanzierten
Verhältnis fern der deutschen Kolonialgeschichte hält? Deshalb verwende
ich im deutschen Kontext statt critical whiteness studies den Begriff
›kritisches Weißsein‹.
Von bell hooks aus dem Kontext der Vereinigten Staaten lässt sich auf
Deutschland übertragen, dass kritisches Wissen über Weißsein von
Menschen geschaffen wird, die mit den Rassismen und der aktiven
Ignoranz Weißer konfrontiert sind. Welches Wissen haben Weiße über
Weißsein? Kann von Weißen ein kritisches Wissen über Weißsein kommen?
Es ist ein Unterschied, wenn weiße Personen in das Wissen über
Weißsein einbezogen werden. Ich habe als eine weiße, strukturell
rassistische Frau eine andere Position und ein anderes Interesse an diesem
Wissen. Ich betrachte nicht die, die mich dominieren, um meinen Alltag
bewältigen zu können. Vielmehr lerne ich über mich selbst und decke
verdrängte Anteile von mir auf. Es geht um meine Beteiligung an
Ausbeutung und meinen Profit von Rassismus; darum mir mein
Nichtwissen bewusst zu machen, Respekt zu lernen und aus einem
übergriffigen Verhalten in angemessenere Grenzen zurück zu treten.
DAS PROJEKTTUTORIUM
Basierend auf der Ansicht, dass es für weiße Personen wichtig ist, über ihr
Weißsein zu lernen und mit dem Anspruch einen Raum zu schaffen, in dem
es keine rassistischen Übergriffe gibt bzw. indem sie durch Reflexion
gebrochen werden, begann im Wintersemester 2003/04 das zweisemestrige
Projekttutorium ›kritisches Weißsein und Schwarze Geschichte – Macht
und Widerstand‹ als Zusammenarbeit von Schwarzen und weißen deutschen
Studierenden. Ich werde mich im Folgenden nur auf das erste Semester zu
kritischem Weißsein beziehen. Um einen Einblick in das Projekttutorium zu
gewähren, möchte ich aus dem gemeinsamen Konzept des Projekttutoriums
zitieren:
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für dieses Projekttutorium war für uns, dass es eine
gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen weißen und Schwarzen[4] Studierenden ist, um
struktruelle Ungleichheit von Anfang an auszuschließen. Dieser Ausgangspunkt soll einen
gleichberechtigten Lehr- und Lernraum für alle bilden, der nötig ist, um sich überhaupt ernsthaft
mit critical whiteness und black history auseinander setzen zu können. […] Der Focus bei critical
whiteness wird auf der Konstruktion von Weißsein und dessen Umsetzung liegen. Allgemein
beziehen wir uns dabei auf die historische und gegenwärtige Erziehung zum Weißsein, die mit der
Übernahme von Definitions- und Kontrollmacht einher geht und sich auf der politischen,
ökonomischen, sozialen wie auf der kulturellen Ebene widerspiegelt. Dabei wird es unser
besonderes Anliegen sein, dass die Studierenden beginnen, das theoretisch Gelernte in ihren
Alltag einzubeziehen. […] Zum einem erscheint es uns wichtig, dass die Teilnehmenden erstens
lernen, weiße Machtstrukturen zu erkennen, zu analysieren und zu reflektieren. Zweitens sollen
demokratische Handlungskompetenzen und Veränderungspotentiale entwickelt werden, um
eigenverantwortlich und menschlich agieren zu können. Zu unserer Zielsetzung gehört
insbesondere das Bewusstwerden über uns Menschen als nicht nur individuelle, sondern ebenso
als kollektive Wesen.[5]
ABWEHRMECHANISMEN
Mit dem Selbstbild ›kritisch weiß‹ zu sein, stellte ich mich zur ersten
Sitzung nach vorne und machte die Einführung zu dem Semester über
kritisches Weißsein. Es war eine große Zahl weißer Studierender
gekommen, und ich versuchte, meine Sache so gut wie möglich zu machen.
Ich stellte das Konzept und den Seminarplan vor. Meine Nervosität und
Unsicherheit versuchte ich, durch kleine Scherze aufzulockern. Das ging
sehr gut. Ich wurde entspannter und freute mich über die außergewöhnlich
vielen gemeinsamen Lacher. Ich fühlte mich in meiner Autorität als Tutorin
bestätigt.
Was passierte in dieser Situation? Ich erklärte einerseits die Ziele des
Projekttutoriums, Weißsein zu reflektieren und rassistische Strukturen zu
brechen. Andererseits machte ich gleichzeitig durch das unter Weißen
gemeinschaftsstiftende Lachen klar: keine Sorge, unsere
Dominanzstrukturen werden nicht wirklich in Frage gestellt. Ich entschärfte
den kritischen Ansatz gleich wieder durch Beruhigung, Abschwächung,
Ablenkung und Ungenauigkeit. Da wurde sich niemand rassistischer
Privilegierung von Weißen bewusst, sonst hätte es nicht so ein geselliges
Zusammensein geben können. Die Stimmung war gerade nach der
Verunsicherung durch das Ansprechen und Markieren von Weißsein
besonders ›solidarisch‹: die Verunsicherung wurde mit extra Versicherung,
Rückbestätigung und Rezentrierung der weißen Dominanz im Raum
überdeckt und entschärft. Das Lachen funktionierte in diesem Moment als
Abwehr der kritischen Auseinandersetzung mit Weißsein.
Des Weiteren machten die Schwarzen Tutorinnen mich darauf
aufmerksam, dass ich in bestimmten Situationen viel Energie und Gedanken
in Formalitäten steckte: die Zeitplanung, didaktische Methoden, die
Reihenfolge der Abläufe… Die Hektik, die ich damit machte, funktionierte
als Abwehr und Dethematisierung, indem ich durch formale Fragen die
Auseinandersetzung mit Weißsein abbrach und ablenkte.
Mit diesen Abwehrmanövern schützte ich mich und die anderen weißen
Studierenden im Raum davor, weiße Strukturen zu markieren und
Verantwortung übernehmen zu müssen. Weiße konnten sich zurücklehnen,
auch wenn es um Weißsein ging, weil ich die Auseinandersetzung
verhinderte. Abwehrmechanismen in Redebeiträgen der Teilnehmenden
habe ich durch kommentarloses Abnicken und Nicht-Eingreifen unterstützt.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder bei mir selbst noch bei anderen weißen
Personen Weißsein klar reflektiert. Ich hatte keine eigene Position, von der
ich unabhängig von weißer Machtaufrechterhaltung unmarkierte weiße
Strukturen hätte benennen können. Dennoch sah ich keinen Widerspruch
darin, anderen weißen Studierenden etwas über Weißsein beibringen zu
wollen.
Im Grunde zu verstehen, was das Konzept Weißsein ist, ist gar nicht so
schwierig. Was viel Zeit, Energie und Reflektion braucht, ist die
Auseinandersetzung mit mir selbst und meinen Abwehrmechanismen. Es
läuft gegen den Strich weißer Sozialisation, unverdiente Privilegien
loszulassen. Auch wenn ich weiß, dass ich Gefahr laufe zu reproduzieren,
was ich brechen will, mache ich trotzdem weiter. Begründung: ›Das es eben
ein so schwieriges Problem, da gibt es nun mal leider keine bessere
Lösung‹. Ich kann mir die Argumente zurechtlegen, dass kritisch weiße
Prozesse leider absolut nicht möglich seien ohne einen gewissen Anteil
rassistischer Reproduktion und kolonialistischer Ausbeutung von People of
Color und Schwarzen. Es ist brutale Normalität, dass ich in Momenten über
mein Weißsein gelernt habe, als Schwarze und People of Color, auch durch
mein schweigendes Mittragen und aktives Ausüben weißer Gewalt, verletzt
wurden. Das ist Realität, nicht Notwendigkeit.
Meine Grenzen und mein Nicht-Wissen zu erfahren, zu begreifen und
anzuerkennen ist notwendiger Bestandteil des Prozesses. Außerhalb der
weißen Allmachts- und Universalismusphantasien bin ich begrenzt und
habe eine partikulare Perspektive. Um lernen zu können, muss ich mir
meinem Nichtwissen klar sein.
Bei der Strukturänderung im Projekttutorium ging es für mich darum,
mir meine Grenzen einzugestehen und eine meinem Wissens- und
Fähigkeitsstand angemessene Position einzunehmen. Subjektiv empfand ich
es schmerzhaft, anzunehmen, dass wir nicht alle gleich sind, dass ich
rassistische Privilegien habe, und dass ich nicht einfach alles verstehen und
über alles reden kann. Die Aussagen ›wir sind alle gleich‹, ›ich habe keinen
rassistischen Privilegien‹, ›ich kann alles verstehen und über alles reden‹
sind Phantasien, an die ich glauben will. Alles verstehen zu können, ist eine
Allmachtsphantasie. Wäre es so, dass ich keine rassistischen Privilegien
hätte, warum ist es dann wichtig, es zu erwähnen? Wenn wir alle gleich
wären, warum muss es dann noch festgestellt werden? Weil es nicht so ist.
Weil ich verdränge, dass es innerhalb einer rassistisch hierarchisierten
Gesellschaft nicht so ist. Ich fühle mich irritiert und angegriffen, wenn
meine verdrängten Anteile aufgedeckt werden und meine Maske fällt.
BIBLIOGRAFIE
Frankenberg, Ruth: »Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus.« In:
Brigitte Fuchs & Gabriele Habinger (Hrsg.): Rassismus & Feminismus. Differenzen,
Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Wien: Promedia, 1996, S. 51-66
hooks, bell: Black looks. Popkultur – Medien – Rassismus. Berlin: Orlanda Verlag, 1994
(Erstveröffentlichung auf Englisch 1992)
Pajaczkoska, Claire & Lola Young: »Racism, Representation, Psychoanalysis.« In: James Donald &
Ali Rattansi (Hrsg.): Race, Culture and Difference. London: Sage, 1992, S. 198-219
Redzewsky, Patricia, Aretha S. Schwarzbach-Apithy, Cornelia Rothkegel & Juliane Strohschein:
Konzept zur Beantragung des Projekttutoriums: ›kritisches Weißsein und Schwarze Geschichte –
Macht und Widerstand‹ Wintersemester 2003/2004 bis Sommersemester 2004. Berlin: Humboldt
Universität, 2003 (unveröffentlicht)
Wachendorfer, Ursula: »Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden
Normalität.« In: Susan Arndt (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland.
Münster: Unrast, 2001, S. 87-101
ANMERKUNGEN
1 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf das Umfeld der Gender Studies an der Humboldt-
Universität zu Berlin.
2 Hier geht es um eine bestimmte Situation, die ich erlebt habe, in der vieles zusammenkommt,
was sich in der Struktur in anderen Situationen immer wieder wiederholt hat.
3 hooks: »Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt«, S. 204.
4 Der Begriff Schwarz wird als politische Definition bzw. soziales Konstrukt im Text groß
geschrieben und nicht als biologische Entität betrachtet.
5 Redzewsky, Schwarzbach-Apithy, Rothkegel & Strohschein: Konzept zur Beantragung des
Projekttutoriums, S. 1-2.
6 Frankenberg: »Weiße Frauen«, S. 53-54.
7 Ebenda, S. 61.
8 Weiße Sozialisation lässt auch als eine Erziehung hin zu Abhängigkeit und Phantasielosigkeit,
Situationen anders zu gestalten, verstehen und erhöht insofern die Akzeptanz von Pseudofakten
wie: ›Es war schon immer so. Es geht nicht anders. Es ist eben so.‹
9 Vgl. Pajaczkoska & Young: »Racism, Representation, Psychoanalysis, S. 213-214.
10 Wachendorfer: »Weiß-Sein in Deutschland«, S. 98-99.
11 Ebenda.
DAGMAR SCHULTZ
WITNESSING WHITENESS – EIN PERSÖNLICHES
ZEUGNIS[1]
BIOGRAPHISCHE NOTIZEN
Ich wurde 1941 in Berlin geboren. 1943 hatte mein Vater beantragt, aus der
Wehrmacht entlassen zu werden und seine zivile Arbeitsstelle wieder
antreten zu dürfen. Als dies erfolglos blieb, kehrte er verspätet als Soldat
nach Russland zurück, wo er als Deserteur verurteilt wurde und sich
erschoss. Ich wuchs mit meiner Großmutter, meiner Mutter und meiner
jüngeren Schwester auf. Drei Generationen von Frauen. In meiner
Schulklasse hatten dreiviertel der Mitschülerinnen keinen Vater.
Meine Schwester war leicht geistig behindert. Sie fing sehr spät an zu
laufen und zu sprechen und wurde nach dem ersten Schuljahr für
schulunfähig erklärt. Meine Mutter fand eine pensionierte Privatlehrerin für
sie. Dann folgte die Sonderschule und eine Reihe von Heimen. Wir
wohnten in der Villa meiner Großmutter, in der auch meine Mutter und ihre
Geschwister aufgewachsen waren. Bis auf vier Zimmer waren alle Räume
vermietet. Unsere finanzielle Situation war nicht besonders gut; die
Mieteinnahmen waren niedrig und meine Mutter führte zehn Jahre lang
einen Prozess um die Witwen- und Waisenrente, die ihr verweigert wurde,
weil mein Vater Selbstmord begangen hatte. Dennoch ging es uns im
Vergleich zu vielen anderen gut: Das Haus war unversehrt geblieben – wir
waren ›zu Hause‹, und wir hatten einen Garten, in dem wir Gemüse
anpflanzen konnten.
In diesem Beitrag will ich versuchen den Prozess nachzuzeichnen, durch
den ich mir ›meiner Hautfarbe‹ - meine Positionierung als Weiße und ihrer
Bedeutung bewusst wurde. Da meine Erfahrungen in den USA hierfür
grundlegend waren und das emotionale und intellektuelle Fundament für
meine politische Entwicklung bilden, liegt der Schwerpunkt auf den Jahren,
die ich in den USA und in Puerto Rico verbracht habe. Vorbilder für diese
Art von biographischem Text sind mir vor allem Schriften von Minnie
Bruce Pratt,[2] Dichterin und Aktivistin aus den Südstaaten der USA, und
der Schriftstellerin Adrienne Rich.[3] Beide haben für mich in
beeindruckender Weise persönliche Erfahrungen mit historischen und
politischen Entwicklungen verbunden. Biddy Martin und Chandra Talpade
Mohanty zeigen in ihrer kritischen Analyse von Pratts Essay, in welcher
Weise die Autorin interpersonale und politische Zusammenhänge in
Beziehung zueinander setzt und dabei die Idee, dass das Persönliche
politisch sei, anders konzipiert.[4]
Diese Frau treffe ich bei einer Familienfeier von Marian. Sie gehört der
Generation meiner Mutter an und ist mir sehr sympathisch. Ihr Satz
überflutet mich. Wer bin ich denn, um als Deutsche einer US-
amerikanischen Jüdin gegenüber das ›Rassenproblem‹ der USA zu
beklagen? Ich denke mir, sie hat Recht, ich mache es mir vielleicht zu
einfach, bin in Gefahr, der Versuchung nachzugeben, den Blick auf die
Verbrechen der anderen zu richten und mich dadurch in Bezug auf meine
Vergangenheit (und Gegenwart) zu entlasten. Eine halbe Stunde später
kommt sie auf mich zu, um mir zu sagen, dass dies keine Art sei, mit dem
Problem umzugehen. Was meint sie damit? Dass sie zu aggressiv zu mir
war? Ich fühle mich wie ein Kind, dem ein Pflaster auf eine Wunde geklebt
wird und weiß gleichzeitig, dass ich mir den Schmerz genau ansehen muss.
›The politics of location.‹ Adrienne Rich schreibt über die Politik der
Verortung bezugnehmend auf Virginia Woolfs Feststellung »als Frau habe
ich kein Land, als Frau möchte ich kein Land haben. Als Frau ist die ganze
Welt mein Land.«[8] Rich’s Antwort: »Als Frau habe ich ein Land; als Frau
kann ich mich nicht einfach von diesem Land lossagen, indem ich seine
Regierung verurteile…«, und sie beginnt mit der Verortung bei dem eigenen
Körper:
Mich in meinem Körper verorten heißt mehr als verstehen, was der Besitz von Schamlippen und
Klitoris und Uterus und Brüsten für mich bedeutet hat. Es heißt, die weiße Hautfarbe
wahrnehmen, die Orte an die sie mich geführt hat, und die Orte, an die sie mich nicht gehen ließ
[…] Der Körper, in den ich hinein geboren wurde, war nicht nur weiblich und weiß, sondern
jüdisch – für einen geographischen Ort ausreichend, um in jenen Jahren eine entscheidende Rolle
gespielt zu haben […][9]
Ich bin weiblich, weiß, deutsch, nicht-jüdisch. Zum ersten Mal begegne ich
Jüdinnen und Juden, die mir, der deutschen Nicht-Jüdin der
Kriegsgeneration, sagen, was sie Deutschen gegenüber empfinden, die ihr
Misstrauen nicht verbergen, vielleicht in der Erwartung, dass ich als
Deutsche einer neuen Generation anders denke und handle.
In der Begegnung mit Schwarzen spielt die Frage, wie ich zum
Nationalsozialismus stehe, weniger eine Rolle. Das Misstrauen gilt eher der
weißen Frau. Dass ich nicht US-Amerikanerin bin, schafft eine Distanz zu
der historischen Last in Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen:
paradoxerweise öffnet es mir Türen, die mir als weißer US-Amerikanerin
vielleicht verschlossen geblieben wären.
Sommer 1965: Ich beschließe, mich um eine Lehrstelle an einem
College für Schwarze im Süden zu bewerben. Die Zusage kommt vom Rust
College in Holly Springs, Mississippi.[10]
Ich bin die einzige europäische und mit 24 Jahren die jüngste Dozentin
an dem College. Und ich bin eine der Wenigen, die sich im Freedom House,
das gegenüber vom College Eingang liegt, engagiert. Schon am ersten
Abend meines Aufenthaltes fahre ich mit mehreren Mitgliedern der MFDP
zu einem Landkreistreffen. In dem Holzgebäude, das auch als Kirche
benutzt wird, eröffnet der Vorsitzende das Treffen. Eine Schwarze Frau tritt
in das trübe Licht, ihre klare, volle Stimme erhebt sich mit dem Lied Oh
Freedom, oh Freedom, oh Freedom over me … Ich stehe hier in den Reihen
der Menschen und sehe, dass uns Welten trennen: wie gut geht es mir als
weißer Person, nichts in meinem Leben kommt der Wirklichkeit der
Menschen hier nahe, für die es um Essen oder Hunger, Resignation oder
Gefängnis, Hoffnung oder Verzweifeln, Leben oder Tod geht. Nun frage ich
mich, was mein Beitrag hier wohl sein kann. Gleichzeitig wird mir ein
essentieller Unterschied zwischen Weißsein und Schwarzsein klar: ich kann
wählen, ob, wann und wie lange ich mich diesem System aussetzen will.
Neben meiner Lehrtätigkeit helfe ich zusammen mit MitarbeiterInnen im
Freedom House Gemeindemitgliedern beim Ausfüllen bürokratischer
Anträge für Programme im Rahmen des ›War on Poverty‹. Mit den
Studierenden forme ich eine Theatergruppe, und wir führen das am College
höchst umstrittene Stück Die ehrbare Dirne von Jean Paul Sartre auf. In
diesen Monaten habe ich mit Weißen nichts zu tun, außer in Läden, an
Tankstellen, mit Polizisten und Sheriffs.
Zwei Jahre später beschloss das Student Nonviolent Coordinating
Committee (SNCC), Weiße aufzufordern, die Organisation in Schwarzen
Gemeinden den Schwarzen zu überlassen und sich auf anti-rassistische
Arbeit in den eigenen weißen Gemeinden zu konzentrieren. Dies war ein
wichtiger Schritt in der Entwicklung einer eigenständigen, unabhängigen
Schwarzen Bewegung. Die lange Zeit der bösartigen Diskriminierung
verlangt nach innerer und äußerer Befreiung – dazu gehört die Loslösung
und Abgrenzung von politisch motivierten Weißen, die doch immer wieder
dominante Stellungen einnehmen. Für Weiße eine nicht so angenehme
Entwicklung – wer wollte sich schon mit dem Rassismus in den eigenen
Reihen auseinandersetzen?
Mein Deutschsein war auch in der Zeit im Süden von Bedeutung. So
schrieb ich in dem angegebenen Aufsatz:
Ich kam nach Mississippi mit einem Kopf voll von Zeitungsartikeln und Diskussionsargumenten.
Ich verließ es mit einem Herz voll von schmerzhaften Erinnerungen. Ich war ein Außenseiter, als
ich ankam, und ich war ein Zugehöriger, soweit es ein weißer Besucher sein kann, als ich wegfuhr
[…] Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Hitlers Deutschland und Mississippi sind oft
disputiert worden, aber ein gemeinsames Ergebnis ist sicher: die Ausübung eines Systems, das auf
Rassenherrschaft begründet ist, wirkt sich verheerend sowohl auf Individuen als auch auf die
Menschheit im allgemeinen aus. Ich selbst habe die Hitler-Herrschaft nicht mitgemacht, ich war
zu jung; die ersten Monate, die ich in Amerika verbrachte und die Begegnung mit vielen
Amerikanern fügten meinen Gefühlen über die Untaten von damals die Frage über eine kollektive
Schuld hinzu […][11]
Konfrontation mit Kolonialismus: 1966 fahre ich nach Puerto Rico und
arbeite dort für das Office of Economic Opportunity (OEO), das die so
genannten anti-poverty programs, den War on Poverty organisiert. Der
Spanische Club in Old San Juan lässt nur Weiße als Mitglieder zu. Das
Buch des Anthropologen Oscar Lewis La Vida: A Puerto Rican Family in
the Culture of Poverty – San Juan & New York, das von dem Leben einer
Familie in der favela La Perla in Old San Juan handelt, erscheint 1966. Ich
komme morgens zur Arbeit und eine puerto ricanische Kollegin sagt
aufgebracht: ›Ja, wusstest Du nicht, dass wir unsere Kinder im Meer
ertränken? Ist alles bei Oscar Lewis dokumentiert.‹ Das Buch wird heftig
kritisiert für seine Stereotypisierung insbesondere puerto ricanischer
Frauen. Durch die Bemerkung der Kollegin fühle ich mich unerwartet auf
die andere Seite gestellt, die Seite der Kolonisatoren. Ich weiß, dass sie
weiß, dass ich ihre Meinung teile und habe das Bedürfnis, das Gemeinsame
zwischen uns zu klären. Gleichzeitig spüre ich, dass unsere so
unterschiedlichen Geschichten Raum für emotionale Differenzen fordern.
1969 nehme ich eine Stelle als Dozentin am Columbia College in Chicago
an. Ich unterrichte Seminare zu Sociology of Women, Sexism in the Media
und History of Radical Ideology, in denen ich die Rolle von Schwarzen und
weißen Frauen und Schwarzen und weißen Bewegungen behandle. Die
Frauenbefreiungsbewegung steckt jetzt in ihren enthusiastischen Anfängen.
Die Chicago Women’s Liberation Union, der ich von 1969 bis 1971
angehöre, hat durchaus ein Bewusstsein von Klassenunterschieden und
Rassismus. Ich zitiere in Auszügen aus ihren politischen Prinzipien: »Die
Befreiung von Frauen ist für die Befreiung aller unterdrückten Menschen
notwendig. Wir werden gegen Rassismus, Imperialismus und Kapitalismus
kämpfen und wollen ein Bewusstsein von deren Wirkung auf Frauen
entwickeln […]« (Übers. D.S.)
Die Organisation stellt sich selbstkritische Fragen: Warum ist unsere
Bewegung vornehmlich weiß? Können wir für Schwarze Frauen relevant
sein? Können wir einen Bezug zur Schwarzen Befreiungsbewegung
herstellen?
In meinen Seminaren diskutieren wir ähnliche Fragen: Wie sieht es mit
der Beziehung zwischen Schwarzen und weißen Frauen aus? Sollten
Schwarze und weiße Frauen in derselben Organisation zusammen arbeiten?
Was bedeutet die Entdeckung von Geschlecht für Schwarze Mädchen und
Frauen im Vergleich zu Weißen im Hinblick auf den Kampf gegen die von
Weißen dominierte kapitalistische Gesellschaft? Wie kommen Klasse,
Unterschiede zwischen Afro-AmerikanerInnen und migrierten Schwarzen,
sexuelle Orientierung beim Aufbau von einer sozialen Bewegung zum
Tragen? Die Diskussionen sind oft geladen und schmerzhaft. Als Lehrende
bin ich ständig am Lernen und sehe meine Aufgabe darin, ein möglichst
offenes Forum und Zugang zu Hintergrundinformationen zu schaffen.
Rückblickend sage ich zu der Entwicklung der
Frauenbefreiungsbewegung in den USA und ihrer Beziehung zu Schwarzen
Frauen: Schwarze Frauen bildeten durchaus ihre eigenen Gruppen und
Organisationen und konnten dabei auf vielerlei Erfahrungen und Netzwerke
zurückgreifen.[13]
Dass die weiße Frauenbewegung eine Massenbewegung werden konnte,
die auch in verschiedensten institutionellen Bereichen Aufsehen erregte und
Gehör fand, hatte nicht nur mit der Wirkungsweise ihrer eigenen
Infrastruktur zu tun, sondern auch mit der gesellschaftlichen Position
weißer Frauen. Weiße Frauen hatten von den Kämpfen Schwarzer
Menschen gelernt und profitiert, die in den USA die Grundlage für alle
anderen progressiven politischen Bewegungen bildeten. Keine andere
weibliche Bevölkerungsgruppe hatte jedoch den notwendigen Zugang zu
Universitäten, Verlagen, Medien und GeldgeberInnen. So schreibt die
Schwarze Literatur- und Sozialwissenschaftlerin bell hooks: »Hätten
Schwarze Mittelklassenfrauen eine Bewegung angefangen, in der sie sich
selbst als ›unterdrückt‹ bezeichnet hätten, niemand hätte sie ernst
genommen […] Sie wären von allen Seiten kritisiert und angegriffen
worden.«[14] Weiße Frauen schaffen sich hier ebenso wie weiße Männer
ökonomische und politische Vorteile - der Soziologe George Lipsitz nennt
dies ›possessive investment in whiteness‹,[15] – wobei die Frauen durch
ihre Partnerschaft mit Männern, ihre mehr oder weniger freiwillige
Unterwerfung, an der strukturellen Macht teilhaben. In den Worten der
Psychologin Aida Hurtado: »Weiße Frauen werden, als Gruppe, durch
Verführung unterworfen, women of color, als Gruppe, durch
Abweisung.«[16]
BIBLIOGRAFIE
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Grenzenlos und Unverschämt. Berlin: Orlanda, 1997 (Fischer TB Verlag, 2002)
Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag,
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Frankenberg, Ruth: »Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus.« In:
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Fuchs, Brigitte & Gabriele Habinger (Hrsg.): Rassismen & Feminismen. Differenzen,
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Heinrich, Karin: »Jede Aktion bringt entweder Erfolge oder Erfahrungen.« In: Pari Dastmalchi
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Lichtflut. Neue Texte. Berlin: Orlanda, 1988
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auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda, 1986 (Frankfurt/M.: Fischer TB Verlag, 1992;
engl. Ausgabe: Showing Our Colors. Afro-German Women Speak Out. Amherst: University of
Massachussetts Press, 1992)
Pommerin, Rainer: Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen
Minderheit, 1918-1937. Düsseldorf: Droste, 1979
Pratt, Minnie Bruce: »Identity: Skin Blood Heart.« In: Elly Bulkin, Minnie Bruce Pratt & Barbara
Smith (Hrsg.): Yours in Struggle. Three Feminist Perspectives on Anti-Semitism and Racism.
Brooklyn, N.Y.: Long Haul Press, 1984, S. 11-63
Rich, Adrienne: »Disloyal to Civilization: Feminism, Racism, Gynophobia.« In: On Lies, Secrets and
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»Notizen unterwegs zu einer Standortbestimmung.« In: Um die Freiheit schreiben. Beiträge zur
Frauenbewegung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 103-123
Schultz, Dagmar: »Audre Lorde – ihr Kampf und ihre Visionen.« In: beiträge zur feministischen
theorie und praxis, 16.34(1993): 152-160
»Dem Rassismus in sich begegnen.‹ In: Courage 6(Oktober 1981): 17-21
»Ethnische Diskriminierung von Wissenschaftlerinnen an deutschen Hochschulen.« In:
Hildegard Macha & Monika Klinkhammer (Hrsg.): Die andere Wissenschaft: Stimmen der
Frauen an Hochschulen. Bielefeld: Kleine Verlag, 1997, S. 131-141
»Kein Ort nur für uns allein. Weiße Frauen auf dem Weg zu Bündnissen.« In: Ika Hügel, Chris
Lange, May Ayim u.a. (Hrsg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus,
Klassenunterdrückung. Berlin: Orlanda, 1993, S. 157-187
(Hrsg.): Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich. Berlin:
Berlin: Orlanda, 1993 (4. erweiterte Auflage; Erstauflage Berlin: sub rosa Frauenverlag, 1983)
»Seltsam schönes Land – Land der Ungerechtigkeit.« In: Frankfurter Hefte 21.9 (September
1966): 627-634
The Changing Political Nature of Workers Education: A Case Study of the Wisconsin School for
Workers. PhD-Thesis, University of Wisconsin at Madison, 1972 (unveröffentlicht)
»Unterschiede zwischen Frauen – ein kritischer Blick auf den Umgang mit ›den Anderen‹ in der
feministischen Forschung weißer Frauen.« In: beiträge zur feministischen theorie und praxis,
13.27(1990): 45-57
Stötzer, Bettina: InDifferenzen. Feministische Theorie in der antirassistischen Kritik. Hamburg:
Argument, 2004
Teimoori, Pari (Hrsg.): duell in schwarz/weiss. Eine Erweiterung der Broschüre ›Anfang der
Weisheit‹. In Kooperation mit Frauenanstiftung: Berlin, 1997
Wise, Tim: »Membership Has Its Privileges: Thoughts on Acknowledging and Challenging
Whiteness.« In: Paula S. Rothenberg (Hrsg.): White Privilege. Essential Readings on the Other
Side of Racism. New York, N.Y.: Worth Publishers, 2002, S. 107-110
Woolf, Virginia: Drei Guineen. München: Frauenoffensive, 1987 (englische Erstveröffentlichung
1938)
ANMERKUNGEN
1 Ich danke Maisha Eggers und Susanna Stern für wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung.
2 Pratt: »Identity: Skin Blood Heart«.
3 Rich: »Notizen unterwegs zu einer Standortbestimmung«.
4 D.h. dass das Politische nicht in dem Persönlichen aufgeht bzw. dadurch ersetzt wird, sondern
dass die Interaktion und die Spannung zwischen den beiden erhalten wird, indem Pratt in ihrer
Selbstreflektion und durch Wahrnehmung von Unterschieden die Geschichte von anderen
erkundet, um damit die eigene Geschichte und Identität rückhaltlos zu konfrontieren. s. Martin
& Talpade Mohanty: »Feminist Politics: What’s Home Got to Do with it?«.
5 Oguntoye, Opitz & Schultz: Farbe Bekennen.
6 Vgl. Pommerin: Sterilisierung der Rheinlandbastarde.
7 Schultz: »Mein Deutschland«, S. 106.
8 Woolf: Drei Guineen, S. 151.
9 Rich: »Notizen«, S. 107-108.
10 An anderer Stelle habe ich über meine Zeit in Mississippi geschrieben. Hier nur einige der
Erfahrungen, die mit der Wahrnehmung des Weißseins und Deutschseins zu tun haben. Vgl.
meinen Aufsatz über meine Erlebnisse in Mississippi: »Seltsam schönes Land«.
11 Ebenda, S. 634.
12 Dies.: »Unterschiede zwischen Frauen«, S. 52.
13 Die folgenden Ausführungen zu den USA sind ebenda, S. 45-47 entnommen.
14 hooks, Feminist Theory. ›From Margin to Center, S. 6 (übers. D.S.)
15 Lipsitz: »The Possessive Investment in Whiteness«.
16 Hurtado: »Relating to Privilege«, S. 844.
17 Der Verlag hieß zunächst Frauenselbstverlag, dann bis 1986 sub rosa Frauenverlag.
18 Ewert, Karsten & Schultz: Hexengeflüster, S. 34.
19 So z.B. das heute älteste Migrantinnenprojekt TIO in Berlin für türkische Frauen.
20 Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«, S. 159-160.
21 Rich: »Disloyal to Civilization«, S. 299.
22 Butler: Körper von Gewicht, S. 240, zit. in: Stötzer: InDifferenzen, S. 174.
23 Frankenberg: »Weiße Frauen, Feminismus«, S. 55.
24 Vgl. Schultz: »Kein Ort nur für uns allein«.
25 Lorde: Auf Leben und Tod; Schultz: »Audre Lorde«.
26 Concha Pineda & Dastmalchi: Anfang der Weisheit; Teimoori (Hrsg.): duell in schwarz/weiß.
27 Heinrich: »Jede Aktion bringt entweder Erfolge oder Erfahrungen«.
28 Hügel-Marshall: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben.
29 Hügel, Lange, Ayim u.a. (Hrsg.): Entfernte Verbindungen.
30 Ayim: Grenzenlos und Unverschämt; Dies.: Blues in Schwarz Weiss; Dies.: Nachtgesang.
URSULA WACHENDORFER
WEIßE HALTEN WEIßE RÄUME WEIß
WIE SIEHT DIE DISKUSSION IN DEUTSCHLAND AUS, ODER WIE KÖNNTE SIE
AUSSEHEN
BIBLIOGRAFIE
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London: Routledge, 2004, S. 1-23
ANMERKUNGEN
1 Gaertner: »Does White Racism«.
2 Vgl. Katharina Walgenbachs Beitrag in diesem Band.
3 Dovidio & Gaertner: »On the nature«, S. 20.
4 Projektivität kann als kulturelles Muster, eine soziale Konstruktion gesehen werden, negative
und gefährliche Impulse auf die Außenwelt bzw. bestimmte Personengruppen zu übertragen. Der
psychodynamische Mechanismus: Projektion.
5 Zu Auswirkungen und Funktion im therapeutischen setting siehe Wachendorfer: »Soziale
Konstruktionen von Weiß-Sein«; Dies.: »Weiß-Sein – (k)eine Variable in der Therapie«.
6 Vgl. Yancy: »Introduction«.
7 Vgl. Helms (Hrsg.): Black and White Racial Identity; Dies.: »An Update«; Carter: The Influence
of Race; Mohamed & Smith: »Race in the therapy relationship«.
8 Vgl. etwa: Wahl (Hrsg.): Skinheads, Neonazis, Mitläufer.
9 Vgl. Herrnstein & Murray (Hrsg.): The Bell Curve.
10 Vgl. Kincheloe, Steinberg & Gresson (Hrsg.): Measured Lies; siehe auch: Howitt & Owusu-
Bempah: The Racism of Psychology; Thomas & Sillen: Racism and Psychiatry. Zur deutschen
Diskussion vgl. Cernovsky: »Pseudowissenschaftliche ›Rasseforschung‹ der Gegenwart«; Wolf
(Hrsg.): Neue Grenzen, darin der Beitrag »Intelligenzforschung und Rassismus« am Beispiel des
Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (S. 41-79). Siehe zudem Anmerkungen zu
›wissenschaftlichem Rassismus‹ in der Humanbiologie/Soziobiologie in Susan Arndts Beitrag in
diesem Band.
11 Williams: »Der leise Betrug«.
12 Siehe dazu Susan Arndts Beitrag in diesem Band.
ANGABEN ZU DEN HERAUSGEBERINNEN
Grada Kilomba, with origins in the West African islands São Tomé e
Príncipe, Kilomba was born in Lisbon, where she studied clinical
psychology and psychoanalysis. Early on she started publishing her literary
work in the form of Essays and Poetry approaching remembered stories of
slavery, colonialism and everyday racism. Her publications have been
described as a mixture of academic writing and lyrical narrative. She is the
author of the book Plantation Memories (Unrast 2008), a compilation of
episodes on everyday racism written in the form of short stories. She holds
a Doctorate from Freie Universität in Berlin, and has been teaching in the
frame of postcolonial studies and performing arts on slavery, memory,
trauma, gender and decolonization at universities in Germany and Ghana.
Peggy Piesche, geb. 1968 in Arnstadt (DDR), Literatur- und
Kulturwissenschaftlerin, Vassar College, New York (German, Africana und
Women Studies); Mitbegründerin des Internationalen Forschungsprojektes
›Black European Studies‹ (BEST) an der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz in Kooperation mit der University of Massachusetts, Amherst.
Studium in der DDR und UdSSR und in Tübingen; war als DAAD-Lektorin
an der Universität Utrecht/NL tätig; Seit 1990 Mitfrau bei ›ADEFRA‹ e.V.,
Schwarze Frauen in Deutschland. Sie publizierte über die Entwicklung des
modernen Subjekts im 18. Jahrhundert und dem deutschen Bildungsroman,
Transethnizität und literarische Marginalisierungen. Aus ihren
Veröffentlichungen: (Hrsg. mit Cathy S. Gelbin & Kader Konuk)
AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen Schwarzen und
jüdischen Frauen in Deutschland (Königstein/Ts. 1999); »Black and
German? East German Adolescents before 1989 – A Retrospective View of
a ›Non-Existant Issue‹ in the GDR.« In: Leslie Adelson (Hrsg.): The
Cultural After-Life of East Germany. New Transnational Perspectives.
Washington, D.C.: AICGS, 2002, S. 37-59; »Das Schwarze als Maske.
Images des ›Fremden‹ in DEFA-Filmen.« In: iz3w, April/Mai 2004; (Hrsg..
mit Michael Küppers, Ekpenyong Ani & Angela A.-Kadalie) May-Ayim-
Award. Erster internationaler schwarzer deutscher Literaturpreis 2004
(Berlin 2004). »Museum. Raum. Geschichte: Neue Orte politischer
Tektonik. Ein virtueller Gedankenaustausch zwischen Belinda Kazeem,
Nicola Lauré al-Samarai und Peggy Piesche« In: schnittpunkt
ausstellungstheorie & praxis (Hg.), Das Unbehagen im Museum.
Postkoloniale Museologien, Wien: Turia + Kant 2008.
ANGABEN ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN