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68. Jahrgang, 38–39/2018, 17.

 September 2018

AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
Zeitgeschichte/n
Souad Mekhennet Christina von Hodenberg
DIE GESCHICHTEN GESELLSCHAFTS­
DER ANDEREN GESCHICHTLICHE
PERSPEKTIVEN AUF
Mathias Berek · Kirsten Heinsohn
„ACHTUNDSECHZIG“
JÜDISCHE GESCHICHTE
ALS GESCHICHTE Gabriele Lingelbach
DER „ANDEREN“ BEHINDERT/NICHT BEHINDERT.
DISABILITY HISTORY
Jürgen Martschukat
HEGEMONIALE IDENTITÄTS­ Anna Hájková
POLITIK IN DEN USA QUEERE GESCHICHTE
UND DER HOLOCAUST
Maria Alexopoulou
RASSISMUS ALS Michele Barricelli
KONTINUITÄTSLINIE IN DIVERSITÄT UND
DER GESCHICHTE HISTORISCHES LERNEN
DER BUNDESREPUBLIK
Sebastian Lotto-Kusche
MINDERHEITENGESCHICHTE
AM BEISPIEL
DER SINTI UND ROMA

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE


FÜR POLITISCHE BILDUNG
Beilage zur Wochenzeitung
Zeitgeschichte/n
APuZ 38–39/2018
SOUAD MEKHENNET CHRISTINA VON HODENBERG
DIE GESCHICHTEN DER ANDEREN GESELLSCHAFTSGESCHICHTLICHE
Die Preisträgerin des Ludwig-Börne-Preises PERSPEKTIVEN AUF „ACHTUNDSECHZIG“
2018 weist in ihrer Dankesrede auf die Bedeu- In der klassischen Erzählung des westdeutschen
tung der Geschichten der Anderen hin, um ein „Achtundsechzig“ als Generationskonflikt
Zusammenleben in Freiheit zu ermöglichen. zwischen Söhnen und Vätern wurde gerade der
Seite 04–07 Anteil der Frauen lange unterschätzt.
Seite 31–36
MATHIAS BEREK · KIRSTEN HEINSOHN
JÜDISCHE GE­S CHICHTE ALS GESCHICHTE GABRIELE LINGELBACH
DER „ANDEREN“ BEHINDERT/NICHT BEHINDERT.
Zwei Inputs auf eine Fragestellung: Wie ist DISABILITY HISTORY
es möglich, Geschichte zu erforschen und zu Neben class, race und gender wird mittlerweile
schreiben, die das „Allgemeine“ ebenso umfasst auch die Kategorie Behinderung beziehungswei-
wie das „Andere“? se Nichtbehinderung als soziale Ungleichheits-
Seite 08–11 kategorie historisch analysiert.
Seite 37–41
JÜRGEN MARTSCHUKAT
HEGEMONIALE IDENTITÄTSPOLITIK ANNA HÁJKOVÁ
IN DEN USA QUEERE GESCHICHTE UND DER HOLOCAUST
Die USA gelten als das Land, in dem Identitäts- Queere jüdische Opfer des Holocaust sind bis
politik erfunden wurde. Diese wird aber nicht heute kaum ein Thema. Der verfolgten Homo-
nur von den „Schwachen“, sondern auch und sexuellen wird fast immer als Nichtjuden, der
vor allem hegemonial betrieben. jüdischen Opfer als hetero­sexuell gedacht.
Seite 12–17 Seite 42–47

MARIA ALEXOPOULOU MICHELE BARRICELLI


RASSISMUS ALS KONTINUITÄTSLINIE DIVERSITÄT UND HISTORISCHES LERNEN
IN DER GESCHICHTE DER BUNDESREPUBLIK Es ist Aufgabe historischer Bildung, Zeitge-
Am Begriff „Ausländer“ wird gezeigt, dass schichten von der Vielfalt des Menschseins,
tradiertes rassistisches Wissen eine entschei- vom Wandel der Werte, von der Pluralisierung
dende Rolle im Transformationsprozess in eine der Lebensformen und Sichtweisen zu erzählen.
Einwanderungsgesellschaft gespielt hat. Seite 48–54
Seite 18–24

SEBASTIAN LOTTO-KUSCHE
MINDERHEITENGESCHICHTE AM BEISPIEL
DER SINTI UND ROMA
In Deutschland hat sich bisher keine historisch
arbeitende Minderheitenforschung etabliert. Am
Beispiel der Sinti und Roma werden Fortschritte
und Herausforderungen aufgezeigt.
Seite 25–30
EDITORIAL
Der Philosoph Slavoj Žižek machte sich jüngst in der „Neuen Zürcher Zei-
tung“ Gedanken über die (historische) Wahrheit und das, was sie einst gewesen
sei im Westen: die eine Wahrheit der liberal-demokratischen Meistererzäh-
lung – die er als große Lüge bezeichnet. Er plädiert dafür, die Geschichte einer
Epoche oder eines Landes aus allen möglichen Perspektiven zu erzählen – auch
aus jener der „Verlierer“. Dieser Zugang trage zu einem „wahreren Bild“ der
Geschehnisse bei.
Die Idee, Geschichte „von unten“ oder „von den Rändern“ her zu schreiben,
Ungleichheitskategorien wie class, race und gender zu untersuchen oder Per-
spektiven von Minderheiten einzubringen, ist nicht völlig neu. Doch etabliert
in einer „allgemeinen“ Geschichtsschreibung sind solche Ansätze bis heute
nur bedingt. Offen bleibt die Frage, wie die vielen Geschichten, die erzählt
werden können, zu der „einen“ Geschichte stehen, oder, grundsätzlicher, ob
es die eine Geschichte überhaupt noch braucht, um zu historischer Erkenntnis
zu gelangen.
Geschichtsschreibung und Geschichtslernen, die ebenso die Konstruktion
von Identitäten von Gruppen in der Vergangenheit thematisieren – „Wir“ und
„die Anderen“ –, können angesichts aktueller gesellschaftlicher Debatten um
(Nicht-)Zugehörigkeit Verständnis für die Gegenwart fördern. Am Beispiel:
Wenn rechtspopulistische bis rechtsextreme Gruppierungen meinen, „das“
Volk zu repräsentieren, schreiben sie dieses (erneut) als ethnisch weiß und
christlich-abendländisch fest. Und wenn einige in Westdeutschland Soziali-
sierte meinen, sie hätten Toleranz und Demokratie für sich gepachtet, wird
„der“ Ostdeutsche zum schlechthin „Anderen“ gemacht, und das eigene rassis-
tische Erbe wird ausgeblendet.

Anne Seibring

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ESSAY

DIE GESCHICHTEN DER ANDEREN


Souad Mekhennet

Die Wunden der Freiheit sind in Europa allgegen- teressierte die Attentäter nicht. Sie schossen ihm
wärtig: im Musikklub Bataclan, in der Redaktion gezielt in den Kopf, als er bereits verletzt auf dem
von „Charlie Hebdo“, auf dem Strandboulevard Boden lag. Er wurde 42 Jahre alt.
von Nizza und dem Berliner Breitscheidplatz, in Der Supermarktmitarbeiter Lassana Bathily
den U-Bahn-Tunneln von Brüssel, London und versteckte mehrere Kunden des jüdischen Super-
Madrid, in Bautzen, Hoyerswerda und Mölln, marktes „Hyper Cacher“ in Paris in einem Kühl-
auf der norwegischen Insel Utöya, im Olympia- raum, um sie vor der Geiselnahme durch einen
Einkaufszentrum in München und an vielen an- Terroristen zu schützen. Er war damals 24 Jahre
deren Orten. alt, muslimischer Flüchtling aus Mali und sagte:
Menschen wurden getötet, weil sie anders wa- „Ich habe keine Juden versteckt, ich habe Men-
ren als die, die über sie richteten. Europa hat sich schen versteckt.“
an diesen Orten verändert. Nicht nur, weil un- Einer Frau, die wir Journalisten Sonia nann-
zähligen Menschen unbeschreibliches Leid zu- ten, um ihre Identität zu schützen, ist es zu ver-
gefügt worden ist. Sondern auch, weil neben den danken, dass es 2015 nicht zu noch mehr Anschlä-
sichtbaren Verwundungen entsetzliche Vernar- gen in Europa kam. Sie riskierte ihr Leben, als sie
bungen entstanden sind. Ich spreche von Wun- die Polizei darüber informierte, dass sie einen der
den der Freiheit, die sich in der Tiefe entzünden; Drahtzieher der IS-Attentate von Paris kannte,
von Wunden, die den Eiter des Misstrauens, des und sein Versteck verriet. Auch sie ist Muslima.
Hasses und der Zerstörung absondern, der sich in Die Stimmen der Freiheit hat es in Europa im-
das Projekt Europa ätzt. Die blinde Wut der Ver- mer schon gegeben – auch in anderen schwierigen
letzten begegnet mir bei meinen journalistischen Zeiten. Eine dieser Stimmen war Juda Löb Baruch.
Recherchen genauso wie das Gefühl der Ohn- Er verlor wegen seiner jüdischen Abstammung sei-
macht der Überlebenden: Eltern, die sich fragen, nen Arbeitsplatz als Aktuar bei der Frankfurter
warum ausgerechnet ihre Kinder getötet wurden. Polizei in einer Zeit, als zwar über die „bürgerli-
Mütter und Väter, für die eine Welt zusammen- che Verbesserung der Juden“ diskutiert wurde,
bricht, weil ihre Tochter oder ihr Sohn zum Mör- sie aber weiter vielfach diskriminiert waren, etwa
der wurde. durch Ausschluss aus dem höheren Staatsdienst.
Die Wunden der Freiheit sind stumme Zeu- Juda Löb Baruch beschloss daraufhin, seinen Na-
gen eines Wundbrands, der in Europa den Extre- men in Carl Ludwig Börne zu ändern. Er woll-
misten einen Nährboden bietet. Der politische te nicht mehr, dass sein Geburtsname zu eindeu-
Ton wird rauer, und Worte der Versöhnung müs- tig seine Religionszugehörigkeit zeigte und ihm bei
sen vielerorts nationalistischem Machtkalkül wei- seinen publizistischen Tätigkeiten schaden könnte.
chen. Und doch: Es gibt sie, die Stimmen derer, Um seine jüdische Herkunft völlig zu ver-
die sich nicht vereinnahmen lassen. Viel zu sel- schleiern, ließ er sich evangelisch taufen. Er emi-
ten erinnern wir uns an die Geschichten der Men- grierte zwölf Jahre später nach Paris, wo er nicht
schen, die nicht in nationalen, kulturellen und re- mehr der Jude aus der Judengasse war, und be-
ligiösen Grenzen denken. Menschen wie Ahmed richtete als größter Auslandskorrespondent der
Merabet, Lassana Bathily und „Sonia“. deutschen Literatur über Europas Umbrüche.
Der Polizist Ahmed Merabet starb, um die Von der deutschen Bundesversammlung als „De-
Freiheit seiner französischen Mitbürgerinnen magoge“ politisch verfolgt, befand sich Börne
und Mitbürger zu schützen, als er in der Nach- zeit seines Lebens meist auf der Flucht vor Re-
barschaft des Redaktionsgebäudes von „Charlie pressalien. Er kämpfte gegen den Obrigkeitsstaat
Hebdo“ patrouillierte. Dass er Muslim war, in- und für demokratische Verfassungen in Europa,

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Zeitgeschichte/n  APuZ

die dem Einzelnen Freiheit und Gleichheit garan- zu denken, die Welt nicht in Schwarz und Weiß
tieren. Doch er scheiterte, und auch die Revoluti- einzuteilen und nicht in die Fänge der selbstge-
on von 1848, elf Jahre nach seinem Tod, blieb weit rechten Unfreiheit zu geraten.
hinter seinen Zielen und Visionen zurück. Von Als Kind hätte ich mir nicht vorstellen können,
Roman Herzog stammt eine Bemerkung, die er dass ich eines Tages hier in der Paulskirche als Preis-
als Bundespräsident vor zwanzig Jahren hier mit trägerin stehen würde. Der Ludwig-Börne-Preis
Blick auf die Geburtsfehler der „Paulskirchen- schien für die Tochter einer aus der Türkei stam-
Verfassung“ machte: „Eine halbe Freiheit ist zu menden Wäscherei-Angestellten und eines aus Ma-
wenig. Auch den, der zu kurz greift, bestraft das rokko eingewanderten Kochs so weit entfernt wie
Leben.“ die Möglichkeit, eines Tages für die „Washington
Für mich war es als Kind und Jugendliche Post“ zu arbeiten. Mit meinen Texten versuche ich,
eine merkwürdige Erfahrung, wenn ich in mei- Brücken zu bauen: Brücken zwischen denen, die
nen Frankfurter Schulen gefragt wurde: Warum sich ausschließende Vorstellungen davon haben, wer
trägst du als Muslima denn kein Kopftuch? Bist und was zu ihrer Kultur gehört und was nicht, Brü-
du denn überhaupt eine richtige Muslima? Wirst cken auch zwischen denen, die zu Recht für eine of-
du mit deinem Cousin verheiratet? Hat dein Va- fene Gesellschaft kämpfen, und denjenigen, die sich
ter je gedroht, dich zu verstoßen? Mit solchen davon – zu Recht oder Unrecht – bedroht fühlen.
Fragen werde ich teilweise bis heute konfron- Einige, die vor mir hier standen, waren für
tiert. Manchmal blickte ich in staunende Gesich- meinen Werdegang richtungsweisend – zum Bei-
ter, wenn ich auf die Frage, wann mein Vater mich spiel Marcel Reich-Ranicki, der Ludwig Börne
verstoßen würde, antwortete: „An dem Tag, an als „toleranten Fanatiker“ porträtiert hat. Seine
dem ich nicht mehr die Eintracht Frankfurt un- Liebe zur Literatur und sein unerschütterlicher
terstützen würde.“ Eine Zeitlang versuchte ich Lebenswille haben mich zutiefst beeindruckt. Ich
es mit Erklärungen wie: Wir sind Muslime, ich werde nie vergessen, wie er das Warschauer Ghet-
war in einem christlichen Kindergarten, habe die to beschrieb, das er überlebt hatte.
Maria im Krippenspiel gespielt und bin von der Als der Antisemitismus, unter dem schon Juda
arabischen, türkischen, deutschen und der hessi- Löb Baruch zu leiden hatte, im unvorstellbaren Ver-
schen Kultur geprägt. Die Helden meiner Kind- brechen des Holocaust gipfelte und Deutsche im
heit sind aus der „Sesamstraße“, das Sandmänn- Namen der nationalsozialistischen Rassenideolo-
chen und „Meister Eder und sein Pumuckl“. gie millionenfach Juden ermordeten, waren es auch
Als ich dann später den Beruf der Journalistin Muslime, die Menschenleben retteten. Der Islam, so
wählte und mich hauptsächlich als „Reporterin“ meinen heute viele zu wissen, habe die Aufklärung
identifizieren wollte, wurde mir die Abstammung nicht erlebt, und daher seien Muslime irgendwie
meiner Eltern häufig als Nachteil ausgelegt: Nein, noch nicht so weit entwickelt wie der Rest der Welt.
den Job als Radiokorrespondentin in Marokko Doch wo war die Aufklärung, als in Europa Juden,
könne ich nicht bekommen, weil, so sagte mir der Sinti, Roma, Sozialisten, Behinderte und Homose-
leitende Redakteur, man keine Korrespondenten xuelle in Arbeits- und Vernichtungslager deportiert
in ein Land schicken würde, in dem sie ethnische wurden? Auch ohne die europäische Aufklärung
Wurzeln haben. Die Neutralität sei dann nicht gab es in der NS-Zeit Muslime, die wussten, Rich-
gewährleistet. Ich konnte dieses Argument nicht tig von Falsch zu unterscheiden: Si Kaddour Beng-
nachvollziehen und wandte ein, dann müsste er habrit zum Beispiel, der damals Imam der Großen
alle Kolleginnen und Kollegen mit deutschen Moschee von Paris war. Er versteckte Juden auf dem
Wurzeln sofort von der Berichterstattung über Gelände seiner Moschee, stellte Dokumente für sie
deutsche Politik befreien. aus, mit denen sie sich als Muslime ausgaben, so dass
Rückschläge wie diese kennt jeder, der nicht sie nicht verhaftet und deportiert wurden.
in unsere üblichen Wahrnehmungsschemata von Ein weiterer Held ist für mich König Moha-
„Identität“ passt. Doch so wie es Menschen gab, med V. von Marokko, der während des Zweiten
die ausgrenzen, gab es auch jene, die mir die Hand Weltkriegs über 250 000 marokkanische Juden vor
reichten und mich ermutigten, nicht aufzugeben. dem Zugriff des antisemitischen Vichy-Regimes
Viele von ihnen sitzen heute hier im Publikum. Es geschützt hat, das mit den Nazis kollaborierte. Als
war ihre Unterstützung, die mir den Mut und die „Anführer der Gläubigen“ stellte er alle Angehö-
Kraft gab, nicht selbst in identitären Kategorien rigen von Buchreligionen unter seinem Schutz –

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Juden, Christen und Muslime. Diese Männer sind Wort kommen zu lassen, auch wenn wir selbst
nur zwei Beispiele für Muslime, die das Richtige die Sichtweisen der Befragten nicht teilen. Doch
taten: Sie retteten Menschenleben. wenn wir nur denjenigen zuhören würden, deren
Über diese Beispiele steht in den Geschichts- Sichtweisen wir gutheißen, wäre der Erkenntnis-
büchern Europas oder des Nahen Ostens zu we- gewinn gering. Wem würde so eine eingeschränk-
nig geschrieben. Das erinnert mich an etwas, te Wahrheit helfen? Dann gäbe es tatsächlich den
das mein Großvater mir in Marokko sagte: „Die verengten Blick, der den Medien in den vergange-
wirklich Mächtigen sind all jene, die die Ge- nen Jahren so gerne vorgeworfen wird.
schichte aufschreiben.“ Wer die Geschichte des Wer es sich zur Aufgabe gemacht hat, in sei-
anderen nicht kennt oder sie nicht kennenlernen ner Berichterstattung keine Partei zu ergreifen, ist
will, wird auch nicht das Handeln anderer verste- manchen suspekt. Viel zu sehr hat sich die Denk-
hen und Brücken der Mitmenschlichkeit bauen weise verbreitet, dass derjenige, der die Welt nicht
können. so erzählt, wie man sie selbst sieht, zur anderen Sei-
Prediger von Hass, egal welcher Religion oder te gehöre. Dann ist von Fake News, Lügenpres-
Abstammung, können ihre tödlichen Ideen wie se oder Pinocchio-Medien die Rede. Doch dieses
eine Sepsis verbreiten, wenn ihnen von der Al- Schubladendenken ist nicht nur falsch, es ist auch
lianz der Mitmenschlichkeit nicht Einhalt gebo- äußerst gefährlich. Denn es hilft nur all jenen, de-
ten wird. Viele der Radikalisierten, mit denen ich ren Macht sich aus dem Eiter der Zersetzung speist.
spreche, erzählen mir, dass ihnen im Laufe ihres In schwierigen Zeiten finden sich in der Welt
Lebens zu wenig Respekt, Gerechtigkeit und To- viele, die einfache und schnelle Antworten anbie-
leranz entgegengebracht worden sei. Sie nehmen ten; sie spielen mit der Angst und Hoffnungslo-
eine Opferrolle ein, aus der heraus sie Anders- sigkeit von Menschen, die nach Antworten und
denkenden das Recht auf Existenz absprechen. nach Zugehörigkeit suchen. Sie sind es oftmals
Paradoxerweise begegnen uns diese Argumenta- auch, die davon sprechen, dass ein Zusammen-
tionsmuster nicht nur bei selbsternannten Dschi- leben nicht möglich sei. Sie sprechen von einem
hadisten, sondern auch in Parteien und in Re- „Krieg der Kulturen“, von einem „Clash of Ci-
gierungen in ganz Europa – inzwischen auch in vilizations“. Sie versuchen, das Vertrauen auf ein
Deutschland. friedliches Zusammenleben zu untergraben. Doch
Als Journalisten verstehen wir etwas, mit dem wer zivilisiert ist, der respektiert andere Kulturen,
andere manchmal Schwierigkeiten haben. Wir ver- statt sie zu bekriegen. Der geht auf andere zu, statt
stehen, wie wichtig eine ausbalancierte Berichter- sich abzuwenden. Der erkennt, dass Kulturen kei-
stattung ist, die versucht, mit allen betroffenen ne fest voneinander abgegrenzten Entitäten sind,
Seiten zu sprechen. Dieser Versuch soll dem Le- sondern dass sie sich in vielfacher Weise überlap-
ser den bestmöglichen Zugang zur Wahrheit er- pen und verbinden und gerade daraus ihre Dyna-
möglichen, auch wenn diese Wahrheit nicht im- mik und ihr kreatives Potential beziehen.
mer allen gefällt. Ludwig Börne hoffte, dass Freundschaft und
Diese Art der Berichterstattung versetzt mich Friede zwischen allen Völkern mehr sind als nur
manchmal in Extremsituationen der Unfreiheit: Träume. Für ihn waren der Hass und der Krieg
Zum Beispiel, als ich in einem Terrorcamp im Li- die Albträume, aus denen man einst erwachen
banon verhört wurde, während einer der Teilneh- wird. Damit diese Hoffnung Wirklichkeit werden
mer die Pistole auf mich richtete; oder als ich die kann, müssen wir unseren Umgang mit Freiheit
Nacht in einem ägyptischen Foltergefängnis ver- überdenken und uns dabei vielleicht auch von so
bringen und die Schreie der Geschundenen mit mancher Leitidee verabschieden, die wir liebge-
anhören musste; oder als ich nachts in einem Auto wonnen haben.
an der syrischen Grenze völlig auf mich gestellt Im vergangenen November sprach ich in New
einen hochrangigen IS-Kommandeur interview- York im 9/11 Memorial Museum am Ground
te. Genau wie andere Kolleginnen und Kollegen, Zero, wo einst die Türme des World Trade Cen-
mache ich mir die Entscheidung nicht einfach, ters standen, über mein Buch, „Nur wenn du al-
ob ich zu solchen Treffen gehe. Es ist eine Ge- lein kommst“. Danach kam eine ältere Frau zu
fahr, die wir auf uns nehmen, weil eine Geschich- mir und sagte, sie sei traurig darüber, dass so viel
te immer verschiedene Seiten hat. Wir schulden Hass zwischen Völkern und Religionen gesät
es den Leserinnen und Lesern, alle Stimmen zu werde. „Mein Sohn hätte das so nicht gewollt“,

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Zeitgeschichte/n  APuZ

sagte sie mir und fügte hinzu: „Er starb hier am Der Text ist die gekürzte Fassung der Dankesrede,
11. September in einem der Türme.“ Ich bewun- die Souad Mekhennet am 27. Mai 2018 bei der
derte die Stärke dieser Frau, trotz ihrer Trauer Entgegennahme des Ludwig-Börne-Preises in
frei von Hass zu sein. Sie umarmte mich und wir der Frankfurter Paulskirche hielt. Sie erschien in
weinten gemeinsam. dieser Form zuerst in der „Frankfurter Allgemeinen
„Man kann eine Idee durch eine andere ver- Zeitung“ vom 28. Mai 2018.
drängen, nur die der Freiheit nicht“, hat Lud-
wig Börne gesagt. Wir alle müssen verstehen,
dass diese Freiheit nichts Selbstverständliches SOUAD MEKHENNET
ist, sondern dass sie von uns allen – egal welcher arbeitet als Korrespondentin der „Washington
Abstammung – verteidigt werden muss. Ganze Post“. Sie hat unter anderem für die „New York
Freiheit kann es nur geben, wenn wir gemeinsam Times“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
füreinander einstehen. geschrieben und für das ZDF gearbeitet.

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VOM ERFOLG INS ABSEITS?


Jüdische Geschichte als Geschichte der „Anderen“

Im Folgenden werden die Einladung und zwei Inputs im Rahmen eines Gesprächs nachgedruckt,
das am 21. September 2016 im Begleitprogramm des Historikertags am Institut für die Geschichte
der deutschen Juden Hamburg in Kooperation mit der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des
Leo-Baeck-Instituts in Deutschland stattfand. Das gesamte Gespräch ist dokumentiert in Ausgabe
11/2017 der Zeitschrift „Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung“.

Trotz Forschungs-Boom, zahlreicher Lehrstühle und Institutionen befindet sich jüdische Ge-
schichte weiter in der Nische. Ihre Perspektiven werden häufig nur unzureichend für übergrei-
fende Fragen herangezogen und bleiben damit im geschichtswissenschaftlichen Mainstream oft
unberücksichtigt. Zugleich besteht die Tendenz, sie eher den Spezialstudien zuzurechnen, in die
Judaistik und Jüdischen Studien zu verweisen und interdisziplinär ausgerichteten Institutionen
zu überlassen. Mit diesem Nischendasein ist sie nicht allein. „History from the Margins“ scheint
weiterhin an den „Margins of History“ zu verbleiben, denn ähnliches gilt für viele Gruppen von
„Anderen“: von unterprivilegierten Klassen über Frauen bis zu rassistisch Diskriminierten –
aber auch für nicht-europäische Länder und Regionen. Es mangelt häufig noch an einer wirkli-
chen Verschränkung der Perspektiven, welche den „vielen Geschichten“ gerecht wird und damit
der Gefahr entgegenwirkt, den Blick auf die „eine Geschichte“ zu verengen. All diese „anderen“
Perspektiven jenseits des Mehrheitsblicks sind Teil einer allgemeinen Geschichte und fördern
gerade wegen ihres „Anders“-Seins das Verständnis historischer Prozesse. Daher ist es zwingend
erforderlich, sie auch als Teil allgemeiner Geschichte sichtbar zu machen. Im Gespräch soll
diskutiert werden, wie wir Geschichtswissenschaft betreiben können, ohne historische Aus-
grenzungsprozesse erneut zu vollziehen. Wie ist es möglich, Geschichte zu erforschen und zu
schreiben, die das „Allgemeine“, Mächtige und Erfolgreiche ebenso umfasst wie das „Andere“,
Unterdrückte und Gescheiterte?

es mindestens nicht ganz unproblematisch zu be-


Jüdische Geschichte und haupten, die deutsch-jüdische Geschichte befinde
sich in einer Nische, sei unterbelichtet, unterre-
allgemeine Geschichte präsentiert etc. Aber: der rein quantitative Anteil
ist natürlich nur ein Teil-Aspekt des Phänomens.
Mathias Berek Das tiefer gehende Problem steckt in der Frage,
ob für die deutsch-jüdische Geschichte von ei-
ner wirklichen inhaltlichen Integration in die Ge-
Auch dieser Historikertag ist ein Beleg für die schichtswissenschaft gesprochen werden kann.
Präsenz und den Erfolg jüdischer Geschichts- Um auf die Einladung zurückzukommen: Wer-
schreibung. Es gibt drei Sektionen zu direkt jüdi- den jüdische Perspektiven ausreichend für über-
schen Themen, mindestens drei weitere mit indi- greifende Fragen herangezogen? Sind sie eine
rektem oder teilweisem Bezug. selbstverständliche Referenzebene für den ge-
Kann also wirklich die Rede von einer Nische schichtswissenschaftlichen Diskurs? Gibt es eine
sein? Oder ist das nicht Jammern auf hohem Ni- wirkliche Verschränkung der Perspektiven, wel-
veau? Schaut man allein auf die genannte Zahl, ist che den many histories gerecht wird und damit

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Zeitgeschichte/n  APuZ

der Gefahr entgegenwirkt, den Blick auf die sin- Ab Ende der 1870er Jahre verloren aber der
gle story (Adichie) zu verengen? Ich tendiere zur pluralistische Idealismus und die entsprechende
Verneinung dieser Fragen. Variante des Liberalismus an Zuspruch. Ökono-
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob mische Krise nach dem Boom, Bismarcks Abwen-
allgemeine Geschichte überhaupt etwas anderes dung von den Liberalen und der Rechtsruck nach
sein kann als eine abstrakte Kategorie, welche gar den Attentaten auf den Kaiser gelten als die wich-
nicht anhand einer bestimmten Empirie konkreti- tigsten Hintergründe. Das Ideal der Mannigfal-
siert werden kann, ohne sofort wieder exkludie- tigkeit von Gesellschaft jedenfalls wurde von der
rende Verengungen vorzunehmen. Zwar steht es Mehrheit verworfen. Für den christlichen Teil der
in den heutigen Geschichtswissenschaften außer Liberalen war das verschmerzbar, für die betrof-
Zweifel, dass sie aus jeweils konkret-historischen fenen Juden nicht, denn die zunehmende Verein-
Verhältnissen heraus arbeiten und daher konkret- heitlichung betraf zuvörderst sie als Juden. Diese
historische Interpretationsmuster und Fragen an Vereinheitlichung und Entpluralisierung radikali-
ihre Gegenstände herantragen. Auch bekommt die sierte sich immer weiter, letztlich wurde im Sinne
jüdische Geschichte in allgemeinen Darstellungen eines Vergessen-Machens sogar der jüdische An-
inzwischen fast immer ein Teilkapitel. Doch es be- teil aus der Geschichte herausgeschrieben. Nach
steht weiter die Gefahr von Verallgemeinerungen der konsequenten Fortführung dieses Prozes-
und expliziten wie impliziten Normierungen, also ses in der physischen Vernichtung, der Shoah, ist
Anpassungen an Normalvorstellungen, die den heute die Selbstverständlichkeit jüdischer Präsenz
historischen Verhältnissen nicht gerecht werden. in Deutschland, wie sie sich 1871 eingestellt hat-
Am klarsten wird das bei der immer noch virulen- te, bei weitem noch nicht wieder erreicht. Wer das
ten sprachlichen und inhaltlichen Trennung von bezweifelt, frage sich, warum vor jeder Synagoge
„deutsch“ und „jüdisch“. Diese Trennung ist – wie und jüdischen Einrichtung auch im Jahr 2016 Po-
jede Vereinheitlichung und Vereinfachung dieser lizei zum Schutz abgestellt werden muss.
Art – aber nachträglich und gewaltsam hergestellt. Von dieser Entwicklung ist nicht nur das
Das lässt sich vielleicht am besten an der zwei- deutsche Judentum betroffen, vielleicht aber war
ten Hälfe des 19. Jahrhunderts zeigen. Ohne jü- es das als erstes. Seine Besonderheit besteht un-
disches Mitwirken sind die spezifisch modernen ter anderem darin, dass deutsche Jüdinnen und
Phänomene und Probleme der deutsch werden- Juden, anders als Sozialdemokraten und Frauen,
den Gesellschaft jener Jahrzehnte vor und nach der enthusiastisch am nationalen Projekt teilnahmen
Reichsgründung gar nicht zu verstehen: Änderung und teilnehmen durften.
der Rolle und der Formen von Religion, demogra- Der anfangs erwähnte Erfolg der deutsch-jü-
phischer Wandel, Konjunkturen des Liberalismus, dischen Geschichte als Disziplin liegt wohl darin,
Fortschrittsoptimismus und Bildungsideal der Auf- dass sie schon länger präsent und verbreiteter ist
klärung, Glaube an sozialen Aufstieg und die Macht als die etwa die Geschichte von anderen margi-
der Ökonomie, blindes Vertrauen in Staat und Na- nalisierten Gruppen. Dadurch bietet sie der Ge-
tion, Wechsel von der Honoratioren-Politik zu Par- schichtsschreibung anderer Gruppen das beson-
teien und Massen-Bewegungen. Für (hier: bürgerli- dere Potenzial, aus ihren Erfahrungen lernen zu
che) Juden wie Nicht-Juden stellten sich weitgehend können und bekannte Fehlentwicklungen zu ver-
dieselben Probleme, wurden dieselben Lösungen meiden. Gleichzeitig ermöglicht sie den geschärf-
verhandelt, auch wenn manche der Phänomene ten Blick auf die Gegenwart, wo heute, hier und
für Juden etwas früher oder stärker relevant gewe- weltweit weiterhin oder wieder versucht wird,
sen sein mögen. Vielfach wurden die Probleme aber Gesellschaft gewaltsam zu homogenisieren – hin
auch gemeinsam bearbeitet, zum Beispiel in der na- zu einem Zustand vermeintlicher Reinheit, der
tionalliberalen Bewegung und den daraus entstan- nie existiert hat.
denen Parteien. Allerdings: vor dem Hintergrund
der eigenen Emanzipationsgeschichte und der end-
lich erreichbar scheinenden vollen Gleichberechti- MATHIAS BEREK
gung ist es kaum zufällig, dass sich jüdische Stim- ist promovierter Kulturwissenschaftler und Mitar­
men eher in jenen politischen und intellektuellen beiter am Zentrum für Antisemitismusforschung
Strömungen finden, die eine pluralistische Ausfor- der TU Berlin.
mung von Gesellschaft und Nation verfolgten. berek@brief.li

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APuZ 38–39/2018

Das komplexe Verhältnis von ineinander ver-


Eigene Meistererzählungen wobenen Klassifikationen, das innerhalb von
Gruppen von „Anderen“ sichtbar wird, reflektie-
statt falscher Fragen ren wir ja schon seit einiger Zeit unter dem Stich-
wort „Intersektionalität“ theoretisch und so-
Kirsten Heinsohn ziologisch – es bleibt aber dennoch für mich die
Frage übrig: Wer ist der/die/das Andere, woraus
ergibt sich diese Perspektive und was wollen wir
Folgende Fragen sind uns gestellt worden: Wie eigentlich mit dieser Sichtweise erreichen? In der
können wir Geschichtswissenschaft betreiben, Frage nach dem Anderen steckt bereits die Voran-
ohne historische Ausgrenzungsprozesse erneut nahme, dass es das „Eine“, das Eigentliche, Wich-
zu vollziehen? Wie können wir Geschichte er- tige und Richtige gibt, demgegenüber das „An-
forschen und schreiben, die das „Allgemeine“, dere“ abweicht. Ich behaupte, dass wir die Frage
Mächtige und Erfolgreiche ebenso umfasst wie nach „dem Anderen“ selbst als eine epistemolo-
das „Andere“, Unterdrückte, Gescheiterte? gische Einschränkung verstehen sollten, die un-
Ich werde im Folgenden zu diesen Fragen sere Erkenntnismöglichkeiten eben beschränkt,
aus meiner Perspektive Stellung nehmen, also als jedenfalls nicht erweitert. Wenn ich beispielswei-
Wissenschaftlerin, die sich mit Frauen- und Ge- se zur Geschichte jüdischer Frauenorganisatio-
schlechtergeschichte, deutschjüdischer Geschich- nen forsche, macht es da Sinn über „Andersheit“
te und deutscher Zeitgeschichte beschäftigt. nachzudenken? Doch wohl nur, wenn diese Zu-
Beginnen möchte ich mit Erklärungen zu mei- schreibung von Anders-Sein untersucht werden
nem Unbehagen über die Fragestellung, denn die- soll, also die Außensicht auf die Frauengruppen.
se erscheint mir als etwas „schief“ bzw. als begren- Aus einer inneren Sicht, aus der je eigenen Per-
zend für unsere Erkenntnisabsichten – warum? spektive der Gruppen, sind es die nichtjüdischen
Zunächst: Die Perspektive „auf die Anderen“ Frauenvereine, die die Anderen sind – jedenfalls
ist eine relationale und veränderliche Perspektive wenn es um religiöse Differenz geht, nicht dage-
und zwar eine, die auf einer Dualität oder Pola- gen, wenn es um den gemeinsamen Kampf gegen
rität aufbaut; das gilt für die jüdische Geschichte Prostitution oder für Frauengesundheit geht. Die
ebenso wie für die Frauen- und Geschlechterfor- Frage nach dem „Anderen“ ist daher nach meiner
schung: Wenn ich die Geschlechterordnung einer Ansicht vor allem eine Untersuchungsperspekti-
Gesellschaft als Ausdruck der sozialen und kultu- ve, um die Konstruktion von Abgrenzungen, von
rellen Machtverhältnisse untersuche, ist in westli- Identifikationsprozessen, zu verstehen, auch um
chen, modernen Gesellschaften die weibliche Sei- Handlungsräume verstehen zu können.
te in der Regel „das Andere“, das Unterdrückte. Dann: woran wollen wir messen, ob eine
Wenn ich den Umgang mit der jüdischen Min- bestimmte Perspektive erfolgreich durchge-
derheit erforsche, sind jüdische Gemeinschaften setzt worden ist? An der Anzahl der Lehrstüh-
per se als das Andere, das Abweichende definiert. le oder dem Umfang von Handbüchern dazu?
Untersuche ich jedoch z. B. Frauenemanzipati- Wann wird aus dem „Anderen“ das „Eigentli-
onsbewegungen, so stoße ich ebenso schnell auf che“, woran erkennen wir einen solchen Um-
„Andere“, die alle als Frauen agieren, aber sehr schwung? Gehen wir davon aus, dass es in der
unterschiedliche Interessen haben beziehungs- westlichen modernen Kultur eine tiefe Veranke-
weise aus differierenden Lebenskontexten heraus rung des dualen Denkens gibt, dann werden wir
agieren: bürgerliche und sozialistische Frauen, niemals innerhalb dieses Rahmens eine Verände-
weiße Mittelschichtsfrauen und afro-amerikani- rung der Dichotomie zwischen dem „Eigentli-
sche Aktivistinnen oder europäische und afrika- chen“ (= männliches Prinzip) und dem „Ande-
nische Intellektuelle. Hier werden also die unter- ren“ (= weibliches Prinzip) erreichen können;
schiedlichen Lebens- und Erfahrungsräume von wir erleben es ja selbst, dass eine Feminisierung
Menschen, die sich alle gemeinsam für die Frau- von Lebensbereichen immer zugleich eine ge-
enemanzipation einsetzen, zu einer Differenz in- sellschaftliche Abwertung dieses Bereiches mit
nerhalb der Gruppe von „Anderen“. Das führt sich bringt. Ich bin daher sehr skeptisch, ob eine
uns unweigerlich zur nächsten Frage: Wer sind Veränderung dieser tiefgehenden kulturellen
also aus dieser Perspektive die „Anderen“? Prägung möglich ist.

10
Zeitgeschichte/n  APuZ

Wohin also soll uns die Frage führen? Zu ei- jüdischen Geschichtsschreibung wurden solche
nem guten geschichtswissenschaftlichen Wissen Erzählungen erfolgreich angewendet, zum einen
darüber, alles richtig zu machen, niemanden zu mit Blick auf die Frage nach Assimilation oder
benachteiligen? Das ist eine Illusion, der wir nicht Akkulturation, zum anderen unter der Perspek-
nachhängen sollten! tive des Verbürgerlichungsprozesses – in beiden
Was wir stattdessen tun könn(t)en: Ich möch- Fällen haben die Forschungen aus der deutsch-
te dafür plädieren, die Nicht-Einheitlichkeit der jüdischen Geschichte zu einem erweiterten Ver-
Geschichte anzuerkennen und auch auszuhalten. ständnis „allgemeiner“ gesellschaftshistorischer
Die Begrenztheit unserer Perspektiven und die Entwicklungen beigetragen. Aus geschlechterhis-
relative Wahrheit der Aussagemöglichkeiten sind torischer Sicht fehlen solche Meister-Erzählungen
vorhanden und sollten auch so akzeptiert wer- meines Wissens dagegen immer noch. Die schlich-
den. Ich denke, wir haben drei Möglichkeiten, die te Feststellung jedoch, wir würden die Geschichte
Kritik an den vorhandenen Meister-Erzählungen „der Anderen“ schreiben, zementiert immer wie-
produktiv umzusetzen. der aufs Neue die bekannten Relevanzhierarchi-
Erstens: Wir verzichten bewusst auf solche en in der Geschichtswissenschaft. Dazu kommt
Meister-Erzählungen, wie sie etwa von der deutsch- noch ein Weiteres: Wer beschäftigt sich denn heu-
jüdischen Symbiose oder auch einer zionistischen te mit jüdischer Geschichte, mit Frauen- und Ge-
Perspektive ausgehen, und arbeiten stattdessen be- schlechtergeschichte? Soziologisch betrachtet, hat
wusst epistemologisch mit der Multiperspektivität sich die Gruppe der Forschenden verändert und
und der Nicht-Einheit der Geschichte. Das würde mit diesen Veränderungen verschieben sich auch
implizieren, unsere eigenen Erwartungen und Re- die Fragestellungen. Ich glaube, dass wir in dieser
levanzhierarchien an die Geschichtswissenschaft Hinsicht vor einem Wendepunkt in der deutsch-
zu hinterfragen. Das wäre so etwas wie eine allge- jüdischen Geschichte stehen könnten, der auch zu
meine Aufgabenstellung an uns alle. anderen Fragen führt.
Zweitens: Wir schreiben die Geschichte von Jüdische Geschichte ist nach wie vor kein in-
Gruppen oder Personen, die ausgegrenzt werden/ tegraler Teil der deutschen Geschichtswissen-
wurden, nicht nur als Opfer-Geschichten, sondern schaft – daran kann kein Zweifel bestehen. Aber
stellen diese als handelnde historische Subjekte nach meiner Meinung hängt das nicht (nur) von der
vor. Das impliziert auch, möglichst unterschiedli- jüdischen Geschichte ab (vergleichbar ist dies auch
che Fragen an die Geschichte dieser Gruppen stel- bei der Geschlechtergeschichte), sondern vor allem
len und dabei zu reflektieren, ob und wie die zu von der Fragestellung. Ich finde, dass die Migrati-
untersuchende Gruppe im Untersuchungsprozess onsstudien, wie sie etwa von Jochen Oltmer und
erst konstruiert wird. Auf diese Weise können wir dem Institut in Osnabrück betrieben werden, ein
symbolische Ordnungen, in denen die Geschichte gutes Beispiel dafür sind, wie allgemeine, also deut-
dieser Gruppen bisher gedacht/entworfen wurden, sche Geschichte, und die Geschichte der Minder-
kritisch rekonstruieren und zugleich die Eigenaus- heiten integriert werden können. Diese Studien er-
sagen der Subjekte für unsere eigene Analyse ernst zählen nicht die eine deutsche Geschichte, sondern
nehmen. Ein Beispiel für eine solche Aufgabenstel- eine deutsche Geschichte, in der die „Anderen“ den
lung wäre etwa, die religiöse Zugehörigkeit von Ausgangspunkt der Erzählung bilden. Die eigene
Personen ernst zu nehmen, und nicht im Interesse Geschichte der „Anderen“ findet ebenso Eingang
einer Opfergeschichte mit möglichst vielen Promi- in das Narrativ wie der Umgang mit den „Ande-
nenten, über Konversionen und Austritte aus reli- ren“ und die umgebenen Systeme, mit denen Mi-
giösen Gruppen hinwegzusehen. gration im weitesten Sinne reguliert werden – dies
Drittens: Wir schreiben eigene Meister-Erzäh- erscheint mir als ein Beispiel für einen sehr ange-
lungen! Was zuerst wie ein logischer Widerspruch messenen Umgang mit unseren Fragen heute.
zu meiner eigenen These aussieht, entpuppt sich
vielleicht als ein Vehikel für neue, interessante In- KIRSTEN HEINSOHN
terpretationen. Eine Meister-Erzählung entsteht ist stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle
in der Regel aus der Auseinandersetzung mit einer für Zeitgeschichte in Hamburg und Privatdozentin
recht umfassenden gesellschaftshistorischen Fra- am Fachbereich Geschichte der Universität
ge, auf die mit der Erzählung ebenso umfassen- Hamburg.
de Antworten gegeben werden. In der deutsch- heinsohn@zeitgeschichte-hamburg.de

11
APuZ 38–39/2018

HEGEMONIALE IDENTITÄTSPOLITIK
ALS „ENTSCHEIDENDE POLITIKFORM“
IN DEN USA
Eine Geschichte der Gegenwart
Jürgen Martschukat

Nach den Präsidentschaftswahlen im November wie selbstverständlich das gesellschaftliche Zen-


2016 entfaltete sich in den USA eine heftige Kon- trum besetzt gehabt habe, in eine markierte Ka-
troverse über die Gründe der Niederlage der De- tegorie gewandelt, die zielgerichtet mobilisiert
mokraten. Allen voran prangerte der Historiker werde, um eine politische und gesellschaftlich
Mark Lilla in der „New York Times“ eine linksli- privilegierte Position zu sichern. Identitätspoli-
berale Obsession mit diversity und Identitätspo- tik sei keineswegs nur die Sache von Afroameri-
litik an. Lilla forderte alle US-Amerikanerinnen kaner/innen, Latinas, Frauen und LGBTs (Les-
und Amerikaner dazu auf, individuelle und grup- bian, Gay, Bisexual, Transgender), sondern auch
penspezifische Interessen beiseite zu lassen und der weißen, heterosexuellen, protestantischen
sich stattdessen wieder gemeinsam auf Freiheit Männer, die so ihren verloren geglaubten Platz
und Gleichheit als geteilte Werte zu besinnen, die im gesellschaftlichen Zentrum wieder zu festigen
die USA seit ihrer Gründung ausgemacht hätten. 01 suchten. Trumps Wahl sei Ausdruck dieses hege-
In ihren Repliken entgegneten unter anderem die monialen Bestrebens. 03 Ta-Nehisi Coates, einer
Rechtswissenschaftlerin Katherine Franke in der der prägenden US-amerikanischen Intellektuel-
„LA Review of Books“ oder der politische Jour- len der vergangenen Jahre, hat Trump im „Atlan-
nalist Vann R. Newkirk II im „Atlantic“, dass tic“ sogar als „First White President“ bezeichnet;
es in der US-Geschichte lange Zeit ein weißes, freilich nicht, weil Trump der erste Präsident der
männliches und heterosexuelles Privileg gewesen USA wäre, dessen Haut als weiß gelte, sondern
sei, von diesen Werten zu profitieren. Dieses Pri- vielmehr, weil er offensiv Identitätspolitik betrei-
vileg der einen habe im Ausschluss der anderen be und sein Weißsein so ungeschminkt in die po-
gegründet. Außerdem habe im zurückliegenden litische Waagschale werfe wie kein anderer Präsi-
Wahlkampf gerade der siegreiche republikanische dent zuvor. 04
Kandidat Donald Trump die identitätspolitische Die US-amerikanischen Auseinandersetzun-
Karte gespielt. Trump habe gezielt weiße und zu- gen haben auch in Deutschland großen Widerhall
vorderst männliche Wähler der Unter- und Mit- gefunden. Schließlich kreisen sie um gesellschaft-
telklassen angesprochen und durch seine Ausfäl- liche und politische Turbulenzen, die in ähnlicher
le gegen „Andere“ permanent Grenzen entlang und zugleich anderer Weise auch hierzulande und
von Kategorien wie race, Herkunft, Nationalität, in weiten Teilen Europas prägend sind. Mit Do-
Glaube und Geschlecht gezogen. Dass die Mehr- nald Trumps „Make America Great Again“ kor-
heit der weißen Wählerinnen Trump trotz seiner respondiert das „Wir holen uns unser Land und
misogynen und sexistischen Ausfälle ihre Stimme unser Volk zurück“ der AfD. Die Abneigung ge-
gab, kann als Zeichen für eine derzeit dominan- gen eine pluralistische Kultur und Gesellschaft
te Stellung von race und whiteness im Ringen um sowie gegen eine Politik, die diese bewusst an-
gesellschaftliche Teilhabe gelten. 02 erkennt, wird wieder lautstark geäußert. Zuneh-
Auch die Historikerin Nell I. Painter melde- mend offensiv werden Grenzziehungen (ethni-
te sich in dieser Debatte zu Wort. Sie betonte in scher wie politischer wie territorialer Art), eine
der „New York Times“, nun habe sich Weißsein Abkehr von Vielfalt als Wert und eine Rückbe-
von einer unmarkierten Kategorie, die bis dahin sinnung auf ein identitäres Zentrum gefordert.

12
Zeitgeschichte/n  APuZ

Auf dieser Seite des Atlantiks definiert sich dies gesellschaftlichen Privilegierung weißer, straigh-
nicht so pointiert über Weißsein wie in den USA, ter Männer zu beenden. Allerdings, so wird zu
aber doch über anverwandte Kategorien wie Her- sehen sein, muss diese Privilegierung als Effekt
kunft, Nationalität oder Glaube. Diese wiede- einer hegemonialen Identitätspolitik verstanden
rum sind auch in den USA sehr wirkmächtig und werden, die es schon seit der Gründung der USA
überlagern sich hüben wie drüben mit whiteness. gibt und die dann ab den 1970er Jahren noch
„Identitätspolitik“, diagnostizierte der Soziolo- forciert wurde, um Erbhöfe zu verteidigen, um
ge Armin Nassehi Ende 2016, „ist kein Privileg deren Verlust man fürchtete. Hegemonie meint
akademischer Mittelschichten, sondern inzwi- hier, privilegiert an Gesellschaft partizipieren zu
schen die entscheidende Politikform geworden“. können, den besten Zugriff auf gesellschaftliche
Jene, die sich „besorgte Bürger“ nennen, betrei- Ressourcen zu haben und dies als im allgemei-
ben Identitätspolitik mittlerweile leidenschaftli- nen, gesamtgesellschaftlichen Interesse liegend
cher als alle anderen. 05 darzustellen. 06
Um sich in den gegenwärtigen Auseinander-
GESCHICHTE setzungen über Identitätspolitik als Instrument
DER GEGENWART und Praxis kritisch positionieren zu können,
bedarf es einer historischen Perspektivierung.
In diesem Beitrag verorte ich Identitätspolitik Denn nur die kann zeigen, „auf welchen Er-
historisch, betrachte sie aus lang- wie kurzfristi- kenntnissen, Gewohnheiten und (…) Denkwei-
ger Perspektive und ziehe Linien zur Gegenwart. sen“ 07 politische und gesellschaftliche Praktiken
Bleiben wir dafür in den USA. Denn die USA und Konfigurationen gründen und wie diese in
gelten als das Land, in dem Identitätspolitik vor der Geschichte Gestalt angenommen haben. Sich
rund einem halben Jahrhundert erfunden wur- kritisch zu positionieren meint demnach nicht,
de, nämlich als Strategie gegen die anhaltende „dass man lediglich sagt, die Dinge seien nicht
Ungleichheit in der amerikanischen Politik und gut so, wie sie sind“, sondern dass man deren
Gesellschaft. Afroamerikaner, Frauen, Schwule Genealogie aufzeigt und damit auch die Mög-
und Lesben kämpften dafür, endlich das Gleich- lichkeit eröffnet, die Bedingungen der eigenen
heitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung Existenz zu verstehen und politisch zu interve-
von 1776 umzusetzen, alle Menschen hätten ein nieren. 08 Im vorliegenden Fall verlangt dies, die
Recht „auf Leben, Freiheit und das Streben nach Genealogie von Identitätspolitik als politische
Glück“. Identitätspolitik schien das beste Mit- Praxis zu reflektieren. Insbesondere gilt es zu
tel zu sein, die Jahrhunderte der politischen und zeigen, wie hegemoniale Identitätspolitik schon
seit langer Zeit ein zentrales politisches Instru-
ment war und wie sie dann in einer Art Back-
01 Vgl. Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, in: New York
Times, 20. 11. 2016, S. SR1; ders., The Once and Future Liberal.
lash gegen die sozialen Bewegungen an Virulenz
After Identity Politics, New York 2017. gewann. Deutlich wird damit, dass Identitätspo-
02 Vgl. Katherine Franke, Making White Supremacy Respectab-
le. Again, 21. 11. 2016, http://blog.lareviewofbooks.org/essays/
making-white-supremacy-respectable; Vann R. Newkirk II, This Is 06 Diese von Antonio Gramsci inspirierte Lesart des Hegemo-
Who We Are. The Election of Donald Trump to the Presidency niekonzepts ist vor allem von Raewyn Connell in die Forschung zu
Reveals the True Character of America, November 2016, www. Geschlechtern, Gesellschaft und Macht importiert worden. Vgl.
theatlantic.com/politics/archive/2016/11/trump-election-race- Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von
essay/507428. Männlichkeiten, Opladen 2000; zusammenfassend Jürgen Mart-
03 Vgl. Nell I. Painter, What Whiteness Means in the Trump Era, schukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frank­furt/M.
in: New York Times, 13. 11. 2016, S. SR4. Siehe auch dies., The 20182, S. 46 ff., S. 65–74.
History of White People, New York 2010. 07 Michel Foucault, Ist es also wichtig, zu denken? (1981), in:
04 Vgl. Ta-Nehisi Coates, The First White President. The Daniel Defert/François Ewald (Hrsg.), Michel Foucault. Schriften
Foundation of Donald Trump’s Presidency Is the Negation of in vier Bänden – Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988, Frank­furt/M.
Barack Obama’s Legacy, October 2017, www.theatlantic.com/ 2005, S. 219–223, hier S. 221.
magazine/archive/2017/10/the-first-white-president-ta-nehisi- 08 Ebd. Siehe auch Martin Saar, Genealogische Kritik, in: Rahel
coates/537909. Siehe auch ders., We Were Eight Years in Power. Jaeggi/Tilo Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik? Frank­furt/M. 2009,
Eine amerikanische Tragödie, Berlin 2018. S. 247–265; Jürgen Martschukat, Eine kritische Geschichte der
05 Armin Nassehi, Schwarz und Weiß. Wer ist schuld am Rechts­ Gegenwart, in: WerkstattGeschichte 61/2013, S. 15–27; Joan
populismus?, in: Süddeutsche Zeitung, 13. 12. 2016, S. 11. Vgl. W. Scott, Geschichte schreiben als Kritik, in: Historische Anthropo-
auch Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017. logie 23/2015, S. 93–114.

13
APuZ 38–39/2018

litik nicht nur ein Instrument gesellschaftlicher IDENTITÄTSPOLITIK


Randgruppen oder eine angeblich verbohrte HISTORISIEREN – I
akademische Sprach- und Verhaltenspolizei ist.
Auch hat Donald Trump hegemoniale Identitäts- Folgt man der klassischen Erzählung, in die sich
politik nicht erfunden – ebenso wenig wie den auch Mark Lilla mit seiner Kritik an der Demo-
Populismus. Vielmehr kulminiert in seiner Präsi- kratischen Partei und ihren politischen Prioritä-
dentschaft eine Politik, deren Spuren Jahrzehnte ten einschreibt, so ist Identitätspolitik eine Erfin-
und sogar Jahrhunderte zurück­reichen. dung der sozialen Bewegungen der 1960er und
1970er Jahre. Im April 1977 haben afroamerika-
IDENTITÄT, MACHT nische lesbische Feministinnen des Combahee
UND GESELLSCHAFT River Collective das Konzept der Identitätspoli-
tik dann explizit in die politischen Auseinander-
Im Zuge der Auseinandersetzungen nach der setzungen eingeführt. Identitätspolitik sei, wie
Trump-Wahl hat Katherine Franke Identität so sie in ihrem Manifest schreiben, das beste Mit-
kurz wie treffend als „status-based power“ 09 de- tel, um gegen „rassische, sexuelle, heterosexuelle
finiert, also als eine Form der Macht, die in gesell- und Klassenunterdrückung“ und deren vielfache
schaftlichem Status gründet. Frankes Identitäts- Überlagerungen anzukämpfen. 12 Afroamerikani-
definition liegt ein Verständnis von Macht und sche Frauen seien einem Konglomerat verschie-
Gesellschaft zugrunde, wie es sich seit den 1970er dener Unterdrückungserfahrungen ausgesetzt,
Jahren herausgebildet hat. 10 Macht ist demnach würden etwa innerhalb der weiß dominierten
sowohl als Effekt wie auch als Motor einer ge- Frauenbewegung als schwarz marginalisiert und
sellschaftlichen Konfiguration zu verstehen, in innerhalb der männlich dominierten afroameri-
der verschiedene Individuen und Gruppen mit kanischen Bürgerrechtsbewegung als weiblich.
unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe, Infolgedessen seien sie politisch weitgehend un-
Einflussnahme und Anerkennung ausgestattet sichtbar, ihre spezifischen Interessen ließen sich –
sind. Identität ist Macht. Sie ist das Vehikel, über wenn überhaupt – nur in unzureichendem Maße
das Individuen und Gruppen unterscheidbar ge- auf die gesellschaftliche und politische Agenda
macht werden und das ihre Positionierungen und setzen. Um dem zu begegnen, bedürfe es einer
Partizipationsmöglichkeiten in Gesellschaft re- Form der Politik, die sich konsequent aus der ei-
guliert; nicht ausschließlich, aber doch wesent- genen Identität speise. Gut zehn Jahre darauf hat
lich und gemeinsam mit Faktoren wie Einkom- die Rechtwissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw
men und Besitz. 11 Es geht also nicht nur um das für die komplexen, sich kreuzenden, überlagern-
Binnen-I, den Unterstrich oder Unisex-Toiletten, den und wechselseitig beeinflussenden Wirkungs-
sondern auch um Bildungschancen, Arbeitsmög- weisen verschiedener Identitätsmarkierungen den
lichkeiten, Zugang zu Wohnraum und damit auch Begriff der Intersektionalität geprägt. 13
um das, was man in der Tasche und auf dem Tisch Die Geschichte der Identitätspolitik so zu er-
hat. Identität und Gesellschaftsordnung sind un- zählen, ist gewiss nicht falsch. Identitätspolitik
trennbar ineinander verschränkt, und Identitäts- wird dabei als Erfindung und Instrument derjeni-
politik ist das Instrument, dieses Verhältnis zu gen beschrieben, die sich „auf der Seite der Schwä-
­gestalten. cheren wiederfinden“ und die nun endlich das his-
torische Gleichheitsversprechen eingelöst haben
wollen. 14 Außerdem präsentiert diese Art der Er-
09 Franke (Anm. 2). zählung afroamerikanische Frauen nicht als pas-
10 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und
sive Opfer der Geschichte, sondern stellt deren
Wahrheit I (1976), Frank­furt/M. 1983; ders., Subjekt und Macht
(1982), in: Defert/Ewald (Anm. 7), Bd. IV: 1980–1988, Frank­
furt/M. 2005, S. 269–294. 12 Combahee River Collective Statement, April 1977, https://
11 Vgl. Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity. americanstudies.yale.edu/sites/default/files/files/Keyword%20
How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New Coalition_Readings.pdf.
York 2006, der einen Gegensatz von Klasse und Identität sieht; 13 Vgl. Kimberlé Crenshaw, Mapping the Margins. Intersectio-
ders. et al., What Is the Left Without Identity Politics? Four nality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in:
Writers Consider the Question Dividing the Democratic Party, Stanford Law Review 43/1991, S. 1241–1299.
16. 12. 2016, www.thenation.com/article/what-is-the-left-without- 14 Vgl. Patricia Purtschert, It’s #identity politics, stupid!, 22. 1. 2017,
identity-politics. https://geschichtedergegenwart.ch/its-identity-politics-stupid.

14
Zeitgeschichte/n  APuZ

aktives Engagement im Kampf gegen ihre gesell- IDENTITÄTSPOLITIK


schaftliche und politische Marginalisierung he- HISTORISIEREN – III
raus. Versucht man historisch zu verstehen, welche
Bedeutung Identitätspolitik in den aktuellen Kon- Dies bedeutet aber nicht, dass Weißsein oder
flikten westlicher Demokratien und insbesondere Männlichsein als Faktoren politischer und ge-
in den USA hat, so erzeugt diese Erzählung jedoch sellschaftlicher Ordnungsbildung in der Ge-
ein verzerrtes Bild, das größerer Tiefenschärfe be- schichte durchgängig unmarkiert gewesen wä-
darf. Dafür gilt es, der Geschichte hegemonialer ren. Schon im Gründungsmoment der neuen
Identitätspolitik auf die Spur zu kommen. amerikanischen Republik waren sie Gegenstand
der Diskussion über die Verteilung politischer
IDENTITÄTSPOLITIK Macht in der neuen Gesellschaft, die es zu for-
HISTORISIEREN – II men galt. Exemplarisch sei ein Briefwechsel
zwischen Abigail und John Adams herangezo-
Bereits seit dem Zeitalter der atlantischen Revo- gen. Aus Boston schreibend, ermahnte Abigail
lutionen waren die Machtverhältnisse der neu- im April 1776 ihren Ehemann John, der in Phila-
en, sich als freiheitlich und egalitär generierenden delphia mit anderen weißen Gründervätern zu-
Gesellschaften identitär geprägt, auch wenn sich sammensaß und über die Unabhängigkeit und
ein entsprechendes analytisches Verständnis erst Zukunft eines möglichen amerikanischen Staa-
im späten 20. Jahrhundert herausbilden sollte. tes diskutierte, er möge die Frauen nicht verges-
Männlich, weiß sowie straight und in aller Regel sen, wenn er eine neue politische und rechtliche
protestantisch zu sein, waren die Voraussetzun- Ordnung für ein dann unabhängiges Ameri-
gen dafür, einen Platz im politischen und gesell- ka schaffe. „Our Struggle“, antwortete John
schaftlichen Zentrum beanspruchen zu können. Adams daraufhin, habe schon Ungehörigkeiten
Die entsprechende Gesellschaftsordnung nahm von Kindern und Lehrjungen ausgelöst, Auf-
für sich gern ein hohes Maß an Selbstverständ- müpfigkeiten von Indigenen und Anmaßungen
lichkeit in Anspruch, auch wenn wir heute wis- von schwarzen Sklavinnen und Sklaven gegen-
sen, dass diese Selbstverständlichkeit ein Effekt über ihren „Masters“. Und jetzt habe er auch
sich allmählich verfestigender, „sedimentieren- noch zum Ausdruck der Unzufriedenheit unter
der“ Diskurse und Praktiken ist und damit eben weißen Frauen geführt. In John Adams’ Augen
alles andere als selbstverständlich. 15 So avancier- war der einzig legitime Kampf um Unabhängig-
te der „weiße Mann“ zum angeblich generischen keit derjenige der weißen (erwachsenen) Män-
politischen Wesen, dessen Hegemonie keiner Er- ner, und das neue politische System, so beton-
klärung zu bedürfen schien, da sie angeblich der te er weiter, müsse männlich sein und bleiben.
Natur der Dinge entsprang und damit als vor- Alles andere sei lächerlich. Der Briefwechsel
politisch galt. Erklären mussten „die Anderen“, enthält zahlreiche Facetten identitätspolitischer
wenn sie politisch partizipieren wollten und An- Machtkonflikte, wie wir sie bis heute kennen:
sprüche formulierten. Insofern lassen sich Weiß- die Kritik von Seiten politisch Marginalisier-
und Männlichsein auch als unmarkierte Katego- ter; die ausdrückliche Ausgrenzung all derjeni-
rien bezeichnen, da sie als Standard galten und sie gen von legitimer politischer Teilhabe, die keine
als solche und in ihrer historischen Gewordenheit weißen Männer sind; ergänzt durch einen Ver-
lange unhinterfragt blieben. Erst seit den 1990er weis auf Männlichkeit als Grundvoraussetzung
Jahren haben die interdisziplinären Weißseins-, politischer Partizipation, die dabei zugleich als
Männlichkeits- oder Heterosexualitätsstudien über jeden Zweifel erhabener Standard behaup-
damit begonnen, auch hegemoniale gesellschaftli- tet wird (und deshalb eigentlich gar keiner Er-
che Identifizierungen, Positionen und Privilegien wähnung bedürfe). 17
und deren historische Genese zu untersuchen. 16 In den folgenden zwei Jahrhunderten wur-
den Weißsein und andere Marker hegemonia-

15 Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Gren-


zen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 32. 17 Brief von Abigail Adams an John Adams, 31. März 1776,
16 Vgl. Daniel Wickberg, Heterosexual, White, Male. Some sowie Brief von John Adams an Abigail Adams, 14. April 1776,
Recent Inversions in American Cultural History, in: Journal of Ame- www.masshist.org/digitaladams/archive/browse/letters_​1774_​
rican History 92/2005, S. 136–159. 1777.php.

15
APuZ 38–39/2018

ler Identität immer wieder bewusst aktiviert, eine anhaltende Dominanz des Weißseins sowie
um eine spezifische gesellschaftliche und politi- des Protestantismus in den USA gewährleisten
sche Machtordnung zu begründen. Vor allem in sollte. 20
Zeiten der – wirklichen oder geglaubten – Ge-
fährdung bestehender gesellschaftlicher Kräfte- IDENTITÄTSPOLITIK
verhältnisse zielten hegemoniale Identitätspoli- HISTORISIEREN – IV
tiken offensiv darauf ab, diese Kräfteverhältnisse
zu konservieren oder zu restaurieren. Beispiels- An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass
weise ist der Ku-Klux-Klan nach dem Ende der die sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er
Sklaverei als militant-politische Bastion weißer Jahre innerhalb einer gesellschaftlichen und
Männlichkeit gegründet worden, als diese ihre politischen Konfiguration agierten, die zwei
Hegemonie durch die Emanzipation schwarzer Jahrhunderte lang Macht und Teilhabe über
Sklavinnen und Sklaven gefährdet sah. Als Bas- Identitätskategorien reguliert hatte. Mit dem In-
tion weißer protestantischer Vorherrschaft wur- strument der Identitätspolitik größere Gleich-
de der Klan auch im Verlauf des 20. Jahrhun- heit erreichen und die weiße, männliche, hete-
derts mehrfach mobilisiert. Der Klan war dabei rosexuelle Hegemonie aufbrechen zu wollen,
mehr als eine gewaltbereite klandestine Orga- war insofern nur folgerichtig. Zugleich kann
nisation, denn sein Kampf für die Herrschaft nur wenig überraschen, dass ein weißer, männ-
des Weißseins wirkte offen in den gesellschaft- licher, heteronormativer Backlash gegen die so-
lichen Alltag und bis in die Spitzen der Politik zialen Bewegungen nicht lange auf sich warten
hinein. 18 Überhaupt ist die gesamte Segregation ließ. 21 Was schon 1968 unter Präsident Richard
als eine Form der Politik zu lesen, die das Weiß- Nixon begonnen hatte, nämlich das Bemühen
sein mobilisiert, um daraus politische und ge- um die Restauration weißer, christlicher, kern-
sellschaftliche Hegemonie abzuleiten. Das pas- familienorientierter Amerikaner im gesellschaft-
sing, also der Versuch, die Ordnung rassistischer lichen Zentrum, sollte dann im Zeitalter Ro-
Privilegierung zu unterwandern und als weiß nald Reagans zu voller Blüte gelangen. Denn die
durchzugehen, um beispielsweise einen besse- 1980er Jahre waren nicht nur durch die Entfal-
ren Job zu bekommen, wäre im Gegensatz dazu tung postmoderner, pluraler, flüchtiger, flexibler
als eine Identitätspolitik eigener Nicht-Sicht- Gesellschaften ohne festes Zentrum geprägt, 22
barmachung zu deuten. 19 sondern auch durch ein zunehmend reaktionäres
Auch hat der White Anglo-Saxon Protestant Streben nach politischer wie identitärer Stabili-
(WASP), um hier noch ein weiteres Beispiel an- tät und Statik. Reaktionär zu sein, bedeutet hier,
zuführen, als Kernfigur angeblich generischen eine politische Vision zu haben, die sich aus der
Amerikanischseins erst im späten 19. Jahrhun- Vergangenheit speist, aber eben auf die Zukunft
dert seine schärfste Gestalt angenommen, als richtet. 23 Die Erfolge der sozialen Bewegungen
ein angelsächsischer Nativismus um sich griff. wurden als Ursache eines gesellschaftlichen Ver-
Dessen Kontext war eine ebenso ausgepräg- falls der USA präsentiert, dem es eine weiß, he-
te wie diffuse weiße, protestantische Angst vor
ethnischen und religiösen Verschiebungen in-
20 Vgl. David Roediger, Working Toward Whiteness. How
nerhalb der US-Bevölkerung infolge ansteigen- America’s Immigrants Became White. The Strange Journey from
der süd- und osteuropäischer, jüdischer und Ellis Island to the Suburbs, New York 2005.
katholischer Einwanderung. Zwar baute man 21 Vgl. Susan Jeffords, The Remasculinization of America.
damals keine Grenzmauer, führte aber verschie- Gender and the Vietnam War, Bloomington 1989; Susan Faludi,
Backlash. The Undeclared War Against American Women, New
dene Grenzkontrollen ein und erließ letztlich
York 1991; Jeremy D. Mayer, Nixon Rides the Backlash to Victory.
ein Einwanderungsgesetz, das ausdrücklich Racial Politics in the 1968 Presidential Campaign, in: Historian
64/2002, S. 351–366; Jürgen Martschukat, Die Ordnung des
18 Vgl. Linda Gordon, The Second Coming of the KKK: The Ku Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit
Klux Klan of the 1920s and the American Political Tradition, New 1770, Frank­furt/M. 2013, S. 327–354.
York 2017; Kristoff Kerl, Männlichkeit und moderner Antisemitis- 22 Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des
mus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er–1920er Jahre, neuen Kapitalismus, Berlin 1998; Zygmunt Bauman, Flüchtige
Köln 2017. Moderne, Frank­furt/M. 2003.
19 Vgl. Allyson Hobbs, A Chosen Exile. A History of Racial 23 Vgl. Mark Lilla, The Shipwrecked Mind. On Political Reaction,
Passing in American Life, Cambridge MA 2014. New York 2016.

16
Zeitgeschichte/n  APuZ

teronormativ wie christlich-konservativ re-zent- Dies hat dazu beigetragen, dass die entsprechen-
rierte Vision des Landes entgegenzustellen gelte. den identitätspolitischen Stimmen in zunehmen-
Bald sahen sich reaktionäre Kräfte in einen Kul- dem Maße von einem ethnonationalen Grundton
turkampf mit linksliberalen Progressiven ver- getragen sind, wenn sie von amerikanischer Grö-
wickelt und um „die Seele des wahren Ameri- ße sprechen. Hierzulande nimmt dieser Grund-
ka“ ringen, so der Politiker Patrick Buchanan ton gern eine völkische Prägung an.
1992. 24 Und während ausgangs des 20. Jahrhun- Für die womöglich größte Irritation sorgten
derts einige progressiv-liberale Positionen kri- jedoch die Wahl Barack Obamas und damit der
tisch fragten, ob man das Konzept der Identität Einzug der ersten schwarzen Familie ins Weiße
nicht endlich hinter sich lassen solle, weil es die Haus. Obamas Wahl 2008 schien wie der politi-
Unterscheidung zwischen „uns“ und „den An- sche und symbolische Höhepunkt der Bürger-
deren“ erst hervorgebracht habe, strebten reak- rechtsbewegung und damit einer pluralistischen
tionäre Positionen eine identitäre Stabilisierung Identitätspolitik, 27 doch zugleich bedeutete sie
des gesellschaftlichen Zentrums als politisches eine neuerliche Dynamisierung des weißen Back-
Ziel an. 25 lashes. Konservative Gruppen „zorniger weißer
Männer“ 28 riefen dazu auf, „sich das Land zu-
„MAKE AMERICA rückzuholen“, also einen als ursprünglich und
WHITE AGAIN“ rechtmäßig erachteten Zustand weißer Hegemo-
nie wiederherzustellen. Die Nähe zur Rhetorik
Im 21. Jahrhundert hat eine Reihe weiterer Er- der AfD ist frappierend. Die anhaltend, vor allem
fahrungen diese hegemoniale Identitätspolitik auch von Donald Trump kolportierte Behaup-
zusätzlich befeuert. Zunächst ist da das diffuse tung, Obama sei nicht in den USA geboren und/
Gefühl vor allem (aber nicht nur) der weißen Ar- oder ein Moslem, verdeutlicht auch, wie stark das
beiterklasse, zu den großen Verlierern von Globa- Echo des 11. Septembers in der heutigen hege-
lisierung und flexiblem Kapitalismus zu gehören. monialen Identitätspolitik nachhallt. Es scheint
Dabei wissen wir, dass der „toxische Politik- tatsächlich ein vorrangiges politisches Ziel der
mix“ 26 aus weniger Sozialstaat und mehr Stra- Trump-Präsidentschaft zu sein, die Spuren seines
fen vor allem für die afroamerikanische Commu- Vorgängers aus der Geschichte auszuradieren.
nity katastrophale Folgen hat. Weiterhin hat der „Make America Great Again“ heißt nicht nur,
11. September 2001 für zusätzliche Skepsis und nach innen wie nach außen aggressiv aufzutreten,
Angst vor all den Menschen gesorgt, die nicht so- ohne Rücksicht und immer den scheinbaren Vor-
fort als weiß und christlich erkennbar scheinen. teil Amerikas im Auge habend. „Make America
Great Again“ ist auch als Aufforderung und als
Versprechen zu verstehen, offensiv hegemoniale
24 Patrick J. Buchanan, Culture War Speech. Address to the
Republican National Convention, 17. 8. 1992, http://voices­
Identitätspolitik zu betreiben und vor allem die
ofdemocracy.umd.edu/buchanan-culture-war-speech-speech- Hegemonie des Weißseins wiederherzustellen. 29
text. Vgl. Doug Rossinow, The Reagan Years. A History of the Das Szenario, gleich nach dem ersten Afroame-
1980s, New York 2015; Andrew Hartman, A War for the Soul rikaner die erste Frau als Präsidentin zu haben,
of America. A History of the Culture Wars, Chicago 2015.
hat die Konjunktur hegemonialer Identitätspoli-
25 Vgl. Stuart Hall, Wer braucht Identität? (1996), in: ders.
(Hrsg.), Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften,
tik noch weiter verstärkt.
Bd. 4, Hamburg 2004, S. 167–187; Felix Krämer, Moral Leaders.
Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er
Jahre, Bielefeld 2015.
26 Donna Murch, The Clintons’ War on Drugs. When Black
Lives Didn’t Matter, 9. 2. 2016, https://newrepublic.com/article/​
129433/clintons-war-drugs-black-lives-didnt-matter.
27 Vgl. Henry Louis Gates Jr., In Our Lifetime. From Toiling as
White House Slaves to President-Elect Barack Obama, We Have
Crossed the Ultimate Color Line, in: The Root, 5. 11. 2008; Thomas
J. Sugrue, Not Even Past. Barack Obama and the Burden of Race,
JÜRGEN MARTSCHUKAT
Princeton 2010.
28 Michael Kimmel, Angry White Men. American Masculinity at
ist Professor für Nordamerikanische Geschichte am
the End of an Era, New York 2013. Historischen Seminar der Universität Erfurt.
29 Vgl. Coates (Anm. 4). juergen.martschukat@uni-erfurt.de

17
APuZ 38–39/2018

RASSISMUS ALS KONTINUITÄTSLINIE


IN DER GESCHICHTE
DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Maria Alexopoulou

Rassismus hat viele Gesichter und ist in seinem Umgang mit „Ausländerfeindlichkeit“. Bezugs-
jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontext punkt bleibt dabei das Konzept „Ausländer“ und
zu betrachten. In demokratischen und pluralisti- dessen Bedeutungsdimensionen. Dabei werde ich
schen Gesellschaften, in denen das Konzept „Ras- zum einen zeigen, dass das Konzept „Ausländer“
se“ mehrheitlich abgelehnt oder tabuisiert wird, rassialisiert ist, und zum anderen damit unter-
zeigt sich Rassismus als Gewalt radikaler Grup- mauern, dass race und das damit einhergehende
pen oder in der Rhetorik von Populist*innen. Phänomen des Rassismus als analytische Kate-
Ebenso relevant ist jedoch der Rassismus der Mit- gorien in der zeithistorischen Forschung stärker
te. Damit ist die gesellschaftliche Wirkung rassis- zu verankern sind, um den Umgang mit auf Her-
tischen Wissens gemeint, das in Denktraditionen, kunft basierender Differenz in Deutschland seit
Institutionen, Strukturen sowie Diskursen und 1945 adäquat untersuchen zu können. 05
Alltagspraktiken der jeweiligen Gesellschaft ein-
gebettet ist. Es wird ganz selbstverständlich, oft- DIE BINARITÄT „AUSLÄNDER“
mals unbewusst, angewendet und „gewusst“. Da- UND „DEUTSCHER“
durch strukturiert rassistisches Wissen weiterhin
moderne Gesellschaften. 01 Ein wichtiges episte- In den 1970er Jahren entstand eine neue Bevöl-
mologisches Moment dabei ist die Ignoranz: Sie kerungsgruppe in Deutschland: die „Ausländer“.
ermöglicht den Privilegierten in diesem System, Diese Bezeichnung setzte sich durch, als keine*r
sich nicht bewusst machen zu müssen, worauf mehr die Augen davor verschließen konnte, dass
ihre Privilegien beruhen. 02 sich ein Teil der „Gastarbeiter“ sesshaft gemacht
In der Geschichte der Bundesrepublik ist das hatte. Unter „Ausländer“ wurden zunehmend
Konzept „Ausländer“ ein guter Startpunkt, um auch Asylbewerber*innen verstanden, die seit
die Wirkung rassistischen Wissens zu untersu- Mitte der 1970er Jahre in größerer Zahl aus außer-
chen. „Ausländer“ impliziert dabei nicht (nur) europäischen Ländern kamen – wobei diese auch
einen formaljuristischen Status, sondern ist der mit dem sich zu einem abwertenden Begriff wan-
„Andere“ des Deutschen. Das zeigt sich etwa da- delnden „Asylant“ diskursiv separiert wurden. 06
ran, dass deutsche Staatsbürger*innen mit „Mi- Wie sehr man in den „Ausländern“ eine neue
grationshintergrund“ heute noch „Grenzgänger“ soziale Kategorie, eine eigene Bevölkerungsgrup-
sind, denen ihr „Deutsch-Sein“ jederzeit abge- pe sah, wird etwa an der 1977 vom Landesarbeits-
sprochen werden kann. 03 Die Binarität „Auslän- ministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung
der“ und „Deutscher“ ist in zahllosen Varianten „Aspekte der langfristigen Bevölkerungsentwick-
in der gesellschaftlichen Realität auszumachen. lung in Baden-Württemberg“ sichtbar. Aus ihrer
Sie ist Grundlage einer nach „Wertigkeit“ der Anzahl, „heutigen Fruchtbarkeit und Lebens-
Herkunft strukturierten und damit rassialisier- erwartung“ wurde ihr Bevölkerungsanteil im
ten 04 Hierarchie, die Ungleichheit schafft und Jahr 2050 errechnet. Dieser werde sich von 9 auf
diese selbstreferenziell legitimiert. 22 Prozent der Landesbevölkerung mehr als ver-
Im Folgenden werde ich an zwei Ausschnit- doppeln. Kontrastiert wurde diese Entwicklung
ten der neueren deutschen Migrationsgeschichte mit der sinkenden deutschen Bevölkerungszahl,
die Wirkungen rassistischen Wissens aufzeigen: die sich um die Hälfte reduzieren würde. 07 Er-
in der Einbürgerungspraxis und am politischen staunlich dabei ist, dass noch für das Jahr 2050

18
Zeitgeschichte/n  APuZ

von „Ausländern“ – wohl gemerkt nicht neu zu- bürgerungsanspruches für die sogenannte zwei-
gewanderten, sondern hinzugeborenen – gespro- te Ausländergeneration zwar „die größte Signal-
chen wurde. wirkung, Transparenz und Verläßlichkeit“ haben
Angesichts der politischen und gesellschaft- würde; dies stellte jedoch „das bisherige Selbst-
lichen Weichen, die Mitte der 1970er bis Mit- verständnis die Bundesrepublik ist kein Einwan-
te der 1980er Jahre gelegt wurden, wundert das derungsland (…) in Frage“. 10
nicht. Denn das sich durchsetzende Konzept der Doch worauf gründete die Überzeugung, die
„Integration auf Zeit“ 08 sah zwar einen längeren Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland?
Aufenthalt von „ausländischen Mitbürgern“ vor. Deutschland hatte in der direkten Nachkriegszeit
Diese galten jedoch nicht als Einwander*innen, enorme Migrationsbewegungen und massenhaf-
denen alle Bürgerrechte zustehen sollten. Nach te Einwanderung erlebt. Diese wurde allerdings
dem geltenden Ausländer- und Staatsbürger- sehr lange, auch retrospektiv, nicht als solche ver-
schaftsrecht war der Status „Ausländer“ erblich. standen. Das Postulat vom „Nicht-Einwande-
Analog wurde in der 1977 neu erlassenen und erst- rungsland“ (Klaus Bade) bezog sich auf „nicht-
malig öffentlich gemachten Einbürgerungsricht- volksdeutsche“ Einwander*innen. Bereits seit
linie bestimmt: „Die Bundesrepublik Deutsch- dem Kaiserreich sollten Arbeitsmigrant*innen
land ist kein Einwanderungsland; sie strebt nicht aus dem Osten und Süden Europas, die als „völ-
an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen kisch-kulturell Minderwertige“ die bei den Deut-
gezielt durch Einbürgerung zu vermehren.“ 09 Die schen unbeliebt gewordene Arbeiten übernah-
Empfehlung, die der SPD-geführte Ausschuss men, neben anderen Gruppen möglichst nicht
Integration der Bund-Länderkommission „Aus- Teil des „deutschen Volkes“ werden. 11 Sie wur-
länderpolitik“ 1983 gab, die von der neuen Re- den zunehmend zu „Anderen“ der Deutschen.
gierung Kohl eingesetzt worden war, befand Nach der „rassischen Säuberung“ Deutschlands
entsprechend, dass die Einführung eines Ein- im National­sozialis­mus waren es „ausländische“
Migrant*innen, die hauptsächlich in der Binari-
01 Vgl. David Theo Goldberg, Racist Culture: Philosophy and tät „Ausländer“ und „Deutscher“ fixiert wurden.
the Politics of Meaning, Oxford–Cambridge MA 1993; Richard
Delgado/Jean Stefancic, Critical Race Theory: An Introduction, DER „VOLKSDEUTSCHE“
New York–London 20122.
ALS KONTRASTFOLIE
02 Vgl. Maria Alexopoulou, Producing Ignorance: Racial Knowl-
edge and Immigration in Germany, 27. 7. 2018, https://historyof-
knowledge.net; dies., Blinde Flecken innerhalb der zeithistorischen Als wichtigstes Bollwerk zur Aufrechterhaltung
Forschung in Deutschland. Eine Antwort auf Martin Sabrows der Überzeugung, Deutschland sei kein Ein-
Kommentar „Höcke und Wir“, 9. 2. 2017, https://zeitgeschichte- wanderungsland, kann das auf dem ius sangui-
online.de/kommentar/blinde-flecken-innerhalb-der-zeithistorischen-
nis (Blutsrecht) basierende Reichs- und Staats-
forschung-deutschland.
03 Achim Bühl, Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses,
bürgerschaftsrecht (RuStaG) angesehen werden,
Bonn 2017, S. 16 f. Aktuellstes und sehr prägnantes Beispiel dafür das zwischen 1913 und 1999 durchgängig ohne
ist der Fall Mesut Özil. substanzielle Veränderung gültig war. Der Appa-
04 „Rassialisiert“ bringt zum Ausdruck, dass es sich um einen rat, in dem das Staatsbürgerschaftsrecht gedeu-
sozialen Prozess und bei dem Konzept „Rasse“ um ein soziales
tet und umgesetzt wurde, war zudem der Ort,
Konstrukt handelt, das von Akteur*innen hergestellt wird.
05 Dazu erscheint im Frühjahr 2019 folgender Aufsatz: Maria
an dem sich das binäre Andere zu „Ausländer“
Alexopoulou, ‚Ausländer‘ – A racialized concept? ‚Race‘ as
Analytical Concept in Contemporary German Immigration History,
in: Mahmoud Arghavan et al. (Hrsg.), Who Can Speak and Who 08 Diese Wendung geht wohl auf den ersten Ausländerbeauf-
is Heard/Hurt? – Facing Problems of Race, Racism and Ethnic Di- tragten der Bundesregierung Heinz Kühn zurück. Heinz Kühn,
versity in the Humanities in Germany, Bielefeld 2018, S. 1–21. Vgl. Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen
auch Rita Chin, Thinking Difference in Postwar Germany: Some Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutsch-
Epistimological Obstacles around „Race“, in: Cornelia Wilhelm land (1979), in: Deniz Göktürk et al. (Hrsg.), Transit Deutschland,
(Hrsg.), Migration, Memory, and Diversity. Germany from 1945 to München 2011, S. 358 ff., hier S. 359.
the Present, New York 2017, S. 206–229. 09 Einbürgerungsrichtlinie, Abschnitt 2.3, 15. 12. 1977, www.
06 Vgl. Klaus J. Bade, Zur Karriere abschätziger Begriffe in der jurion.de/gesetze/ebrichtl/2.
deutschen Asylpolitik, in: APuZ 25/2015, S. 3–7. 10 Kommission Ausländerpolitik, Bericht des Ausschusses Integra-
07 Vgl. Baden-Württemberg Ministerium für Arbeit, Gesundheit tion, 21. 2. 1983, BArch, B 106/31339, p. 155.
und Sozialordnung (Hrsg.), Aspekte der langfristigen Bevölkerungs- 11 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in
entwicklung in Baden-Württemberg, Stuttgart 1978. Deutschland, München 2001, S. 14–189.

19
APuZ 38–39/2018

im Konzept des „Volksdeutschen“ als Norm für Gefahr einer für den Volksbestand nachteiligen
den deutschen Staatsbürger am längsten am Le- Entwicklung gering.“ 15 Nicht-„volksdeutsche“
ben hielt. Einwander*innen hatten keinerlei Möglichkeiten,
Die Einschätzung des Historikers Dieter Go- sich ein Recht auf Einbürgerung zu erwerben. Es
sewinkel, das RuStaG spiegelte eine ethnisch-kul- bestand kein Antragsrecht, ja die Herausgabe der
turelle Auffassung von Nation und sei ob seiner Formulare konnte einfach verweigert werden,
großen Ermessensspielräume auch für ein de- wenn die Aussichten auf Einbürgerung, so die
mokratisches Staatsgebilde wie die Bundesre- offizielle Sprachregelung, schlecht waren. In der
publik angemessen gewesen, 12 ist nicht haltbar. Praxis war dies ein Mittel, um Einbürgerungs-
Damit bagatellisiert er die völkisch-rassischen anträge unliebsamer Gruppen zu minieren. 16
Ziele, die 1913 unter Federführung der Radikal- Die „persönlichen Wünsche und wirtschaftli-
nationalisten auch als Abwehrmittel gegen volks- chen Verhältnisse des Bewerbers können nicht
tumspolitisch beziehungsweise rassisch uner- ausschlaggebend sein“, wie es in den Einbürge-
wünschte Einwander*innen kodifiziert wurden. rungsrichtlinien von 1958 hieß, auch wenn zu den
Darunter zählten „Schutzgebietsangehörige“ aus formellen Voraussetzungen ein mindestens zehn-
den Kolonien wie auch ost- und südeuropäi- jähriger Aufenthalt sowie gute wirtschaftliche
sche Arbeitsmigrant*innen. 13 Diese Ausschlüs- und gesundheitliche Verhältnisse gehörten. Gro-
se prägten das Gesetz und damit die Auffassung ße Bedeutung wurde auch der „kulturelle[n] Eig-
von Staatsbürgerschaft und von „Deutsch-Sein“. nung“ zugemessen: Das Bekenntnis zum „deut-
Der Historiker Oliver Trevisiol wies zudem nach, schen Volk“ musste glaubhaft gemacht und die
dass sich das Konzept des „Deutschen“ zwischen Zuwendung zum „deutschen Kulturkreis“ sicht-
1871 und 1945 in der Einbürgerungspraxis stetig bar sein. Entscheidend war jedoch das staatli-
biologisierte. Mit der Übernahme der Kategorie che Interesse, dessen Beurteilung vollends im be-
der „deutschen Volkszugehörigkeit“ ins Grund- hördlichen Ermessen lag. 17
gesetz wurde dieses biologistische Verständnis Wie dieses Ermessen jeweils auf unterschied-
prominent in die Bundesrepublik transferiert. 14 liche Gruppen anzuwenden war, war Inhalt regel-
Schließlich wurde das behördliche Ermessen in mäßiger Treffen der Staatsbürgerschaftsreferen-
der Einbürgerungspraxis der Bundesrepublik in ten des Bundes- und der Landesinnenministerien
der Summe alles andere als liberal angewandt, wie seit Anfang der 1950er Jahre. Aus einem Protokoll
im Folgenden gezeigt wird. Diese Aspekte geben von 1955 stammt etwa die folgende Einschätzung
Anlass, das Konzept „deutsches Volk“ seit 1945 und Leitlinie zu „Antragstellern aus dem Krei-
neu zu bewerten. se der DPs“ – also den displaced persons, in ihrer
Der Bericht eines Oberrechtsrats aus der Ein- Mehrzahl ehemalige Zwangsarbeiter*innen und
bürgerungsbehörde des Ordnungsamtes Mann- sogenannte ausländische Zivilarbeiter*innen –,
heim von 1960 liefert dafür einige Hinweise: die inzwischen den Status der heimatlosen Aus-
„Schon die richtige Beachtung der Einbürge- länder hatten. Ihre etwaigen Einbürgerungswün-
rungsgrundsätze vor der Einbürgerung kann da- sche wurden pauschal infrage gestellt, denn sie
für sorgen, daß dem deutschen Volkskörper nur seien „durch die Kriegsereignisse und ihr eigenes
nützliche und wertvolle Glieder durch Einbürge- Verhalten nach dem Kriege gegenüber der deut-
rung zugeführt werden. Dadurch bleibt auch die schen Bevölkerung so stark mit Ressentiments
belastet“, dass man nicht davon ausgehen könne,
„dass sie innerlich mit dem deutschen Volkstum
12 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Natio-
nalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur
Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 424 ff. Vgl. auch 15 Bericht Ordnungsamt Mannheim an das Regierungspräsi-
ders., Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. dium (i. F. RP) Karlsruhe, 6. 10. 1960, Marchivum, Zug. 10/2005,
und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, passim. Nr. 14.
13 Vgl. Peter Walkenhorst, Nation, Volk, Rasse: radikaler 16 So beispielsweise in einer Weisung des RP Karlsruhe an die
Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen unteren Verwaltungsbehörden, 10. 3. 1973, Marchivum, Zug.
2007, S. 149–165. Zu den Kolonien vgl. Dominik Nagl, Grenzfälle. 10/2005, Nr. 14. Konkret in diesem Fall wollte man in einer
Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deut- Sachfrage die Anweisung aus dem Bundesministerium des Innern
scher Kolonialherrschaft, Frankfurt/M. 2007. abwarten.
14 Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich: 17 Richtlinien für die Behandlung von Ermessenseinbürgerungen,
1871–1945, Göttingen 2006, S. 208, passim. 29. 7. 1958, Marchivum, 10/2005, Nr. 14.

20
Zeitgeschichte/n  APuZ

verwachsen werden“. 18 Dies setzte, auch in der Innenministerium 1963 verklausuliert in Bezug
Terminologie, die Logik der NS-Volkstumspoli- auf die „Angehörigen der afrikanischen und asi-
tik fort. atischen Staaten“ gewarnt hatte. 23
Die behördlichen Praktiken vor Ort konnten Ein weiterer Fokus lag bei den „Gastarbei-
noch restriktiver sein: So besprach sich beispiels- tern“. „Bei Gastarbeitern wird im allgemeinen
weise im Juli 1969 der Oberinspektor für Einbür- davon auszugehen sein, dass sie nur zu einem
gerungen im Ordnungsamt Mannheim mit einem vorübergehenden Aufenthalt nach Deutschland
Kollegen dahingehend, dass „den Ermessensein- kommen“, was gemäß der Einbürgerungsrichtli-
bürgerungen vielfach ein Riegel vorgeschoben nie von 1971 bereits als Grund angesehen wurde,
werden sollte“. Man könne die Wartezeit von die Antragstellung als aussichtlos zu bewerten. 24
10 auf 15 Jahre und die bereits hohe Einbürge- Neben weiteren Einschränkungen wurde verfügt,
rungsgebühr noch weiter anheben. Sie erörterten dass die Mitgliedschaft in „politischen Emigran-
konkret den Fall eines Bewerbers aus Jugoslawi- tenorganisationen“ sie für die Einbürgerung dis-
en: „Nach Ablauf der vorgeschriebenen Minimal- qualifiziere. 25 Was man genau unter einer solchen
frist erhalten wir also einen neuen Bundesbürger, verstand, wurde nicht weiter definiert.
den man doch wohl kaum als Deutschen bezeich- Die geringe Einbürgerungszahl der Arbeits­mi­
nen kann“. 19 grant*innen wurde auch in der Forschung immer
Eine Gruppe, die aus Sicht der Entschei- wieder als Nachweis angeführt, dass sie die Ein-
dungsträger ebenso kaum als künftige Deut- bürgerung gar nicht gewünscht hätten. Tatsächlich
sche betrachtet wurden, waren lange Zeit die belief sich die Einbürgerungsquote in den 1970er
„Bewerber aus Entwicklungsländern“. Außer­ und 1980er Jahren zwischen 0,25 und 0,38 Pro-
europäer*innen aus den so definierten Ländern zent, davon nur ein Drittel „Gastarbeiter“, ein ex-
– fast alle außer den kommunistischen und den trem niedriger Wert. 26 Selbst als in den 1990er Jah-
angloamerikanischen –, intern oft „Afro-Asi- ren nach einigen Einbürgerungserleichterungen
aten“ genannt, was eine Chiffre für dunkelhäu- für die sogenannte zweite Ausländergeneration die
tige Menschen war –, waren Anfang der 1960er Quote auf ein Prozent stieg, blieb in Deutschland
Jahre bereits aktiv als Arbeitsmigrant*innen aus- im europäischen Vergleich der „Bevölkerungsan-
geschlossen worden. 20 Dennoch gelangten Men- teil an Nicht-Staatsangehörigen besonders hoch
schen aus diesen Ländern, oft als Studierende, und die Einbürgerungsrate besonders niedrig“. 27
nach Deutschland. Die Einbürgerung wurde ih- Paradigmatisch sei als Indiz gegen das Narra-
nen mit allerlei Winkelzügen erschwert oder ver- tiv, dass Arbeitsmigrant*innen kaum Interesse an
weigert, selbst wenn diese, meist männlichen Be- der deutschen Staatsbürgerschaft gehabt hätten,
werber mit einer deutschen Frau verheiratet und folgende Statistik angeführt: Bei einer Sondererhe-
seit Jahren in Mangelberufen etabliert waren. 21 bung im Rahmen des Mikrozensus des Statistischen
Dabei wurden die Behörden intern angewiesen, Landesamtes Baden-Württemberg gaben im April
„vor allem zum Ausdruck zu bringen, daß ent- 1978 46 Prozent aller befragten Haushaltsvorstän-
wicklungspolitische Gesichtspunkte der Einbür- de aus den Anwerbeländern an, keine Rückkehr
gerung entgegenstehen“. 22 Dahinter ließen sich in ihre Heimat zu planen; von diesen 46 Prozent
gut die Bedenken gegen die „soziologischen Un- strebten wiederum 32 Prozent die deutsche Staats-
terschiede“ verbergen, vor denen das Bayerische angehörigkeit an. Selbst von jenen 29 Prozent, die

18 Niederschrift, 14. 10. 1955, BArch, B 106/73258. 23 Schnellbrief, Bayerisches Innenministerium, 26. 4. 1963, Haupt-


19 Interner Vermerk, Polizeibehörde, 30. 7. 1969, Betr. Einbürge- staatsarchiv Stuttgart, EA 2/303 Bü 271.
rungen, Marchivum, Zug. 10/2005, Nr. 14. 24 Ministerium des Innern, Baden-Württemberg an die RP,
20 Darunter etwa auch Schwarze Portugiesen. Vgl. Karen Schnellbrief über die Einbürgerungsrichtlinie 1971, 13. 4. 1971,
Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Nr. 4.2.2 EbRichtl. 1971, Marchivum, Zug. 10/2005, Nr. 14.
Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und 25 Ebd., Nr. 4.2.2 EbRichtl. 1971.
der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, 26 Siehe Christian Dornis, Einbürgerung in Deutschland. Ihre Rol-
Essen 2001, S. 257–277. le bei der Integration von Zuwanderern und die Verwaltungspraxis
21 Niederschrift, Innenministerium Nordrhein-Westfalen, im Regionalvergleich, Aachen 2001, S. 136, Abb. 28.
11. 6. 1969, BArch, B 106/73264. 27 Theresa Wobbe/Roland Otte, Politische Institutionen im
22 Besprechung, Referenten für Staatsangehörigkeitsrechts mit gesellschaftlichen Wandel. Einbürgerung in Deutschland zwischen
Vertretern des Innenministeriums Baden-Württemberg und RP Erwartungen von Migranten und staatlicher Vorgabe, in: Zeitschrift
Nordbaden, 8.9.69, Marchivum, Zug. 10/2005, Nr. 14. für Soziologie 2000, S. 444–462, hier S. 444.

21
APuZ 38–39/2018

noch nicht sicher waren, ob sie zurückkehren wür- mit „deutschem Blut“ ihr „Deutschtum“ nachwei-
den, erwogen immerhin zwölf Prozent, die deut- sen mussten, 33 blieb er Teil des institutionellen Ge-
sche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Auf alle Be- dächtnisses und Transmitter rassistischen Wissens.
fragten entfiel somit ein Anteil von 17 Prozent, die Der „Volksdeutsche“ bildete, als organischer Teil
die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebten. 28 Wie des „deutschen Volkes“ imaginiert, lange die Kon-
war die Haltung der deutschen Bevölkerung dazu? trastfolie, auf der innerhalb dieses Apparates „Aus-
Eine nicht publizierte, vertrauliche Umfrage, die länder“ produziert und aus dem „deutschen Volk“
Infratest für die Baden-Württembergische Landes- ferngehalten wurden.
regierung im Dezember 1973 vorgenommen hatte,
ergab auf einer Skala von eins (völlige Ablehnung) „AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT“
bis sieben (vollständige Zustimmung) auf die Fra- UND ANDERE DECKBEGRIFFE
ge, ob aus den Gastarbeitern deutsche Staatsbürger FÜR RASSISMUS
werden sollten, den sehr niedrigen Wert 2,1. 29 Das
deutet an, dass die restriktive Einbürgerungspolitik Doch „Ausländer“ umfasst weitere Bedeutungs-
in ihrem Sinne war. 30 dimensionen. Eine davon lässt sich aus dem Kon-
Zahlreiche weitere Quellenbelege lassen die zept „Ausländerfeindlichkeit“ herleiten. Es kam
Schlussfolgerung zu, dass die Entscheidungsträ- Mitte der 1970er Jahre auf und bezeichnete ein ge-
ger zum einen aus eigenen Überzeugungen heraus sellschaftliches Phänomen, das sich, so wurde es
und zum anderen proaktiv mit Rücksicht auf gro- von Zeitgenoss*innen und retrospektiv interpre-
ße Teile der deutschen Bevölkerung lange nicht an tiert, in der „Krise“ – am Endes des wirtschaft-
der Binarität „Ausländer“ und „Deutscher“ rütteln lichen Booms und bei steigender Arbeitslosig-
wollten. 31 Zwar war die Übernahme des Begriffes keit – entwickelte. Diese Lesart verkennt jedoch,
„Volkszugehörigkeit“ in das Grundgesetz erfolgt, dass es auch zuvor rassistische Haltungen und
um den deutschen Aussiedler*innen die Türen nach Praktiken gegenüber Migrant*innen gegeben
Deutschland offen zu halten und zudem den An- hatte, die sich immer wieder lokal in Form von
spruch auf die deutsch-deutsch Vereinigung zu un- Bürger*innen-Protesten, Diskriminierungen auf
termauern. 32 Dennoch reproduzierte dieser Begriff dem Wohnungs- und dem Arbeitsmarkt und den
biologistisch-völkische Vorstellungen. Da mit ihm Bildungseinrichtungen sowie in zahllosen Mikro­
mindestens bis Mitte der 1980er Jahre hinein in- aggressionen entluden. 34 In der „Krise“ hatten
nerhalb des Staatsbürgerschaftsapparats bedenken- sich allerdings die Sagbarkeitsregeln verschoben,
los operiert wurde, zumal auch Einwander*innen rassistische Haltungen wurden offener verbali-
siert und ausagiert und dabei auch von großen
Teilen der Politik toleriert oder gar als legitim er-
28 Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Die Ausländer,
achtet. Damit wurden sie nicht nur sozial akzep-
Stuttgart 1979, S. 91, Tb. 68.
29 Infratest, Bericht (vertraulich) – Politik in Freiburg und Mann­
tabel, sondern stellenweise politikleitend.
heim. Zusammenfassender Bericht, S. 27, Hauptstaatsarchiv Von „Ausländerfeindlichkeit“ waren kei-
Stuttgart, EA 1/114 Bü 45. Die Daten beziehen sich auf Befragte ne „weißen“ Schweden, Schweizer oder Briten
in ganz Baden-Württemberg. betroffen, woraus ersichtlich wird, dass „Aus-
30 Die Frage nach der Zustimmung zur Einbürgerung von Gast­
länder“ nicht formaljuristisch verstanden wird,
arbeiter*innen wurde in repräsentativen Umfragen jener Jahre nur
selten gestellt. So kam sie bei den Umfragen des Allensbach-Instituts,
sondern eine biologistische, Herkunft wertende
das Daten zur Haltung der deutschen Bevölkerung zu „Gastarbei­ und hierarchisierende und damit an Rassekon-
tern“ relativ regelmäßig und bereits seit 1956 erhob, nicht vor. zepte anschließende Bedeutungsdimension hat. 35
Doch selbst wenn sie gestellt wurde, wurde das Ergebnis nicht Es gibt ein geteiltes gesellschaftliches Wissen da-
zwangsläufig publiziert: So weist der Fragebogen für die deutschen
rüber, wer die „Ausländer“ sind, gegen die man
Teilnehmer*innen einer repräsentativen Umfrage, die 1977 unter Lei-
tung Hartmut Essers durchgeführt wurde, diese Frage zwar auf. Aber
die entsprechende publizierte Forschungsauswertung geht darauf 33 Siehe als Beispiel das Protokoll einer Sitzung der Staatsan-
nicht ein. Vgl. Manfred Kremer/Helga Spangenberg, Assimilation gehörigkeitsreferenten in Bonn, 5.–6. 12. 1985, BArchiv, B 106/​
ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland, 320922.
Königstein/Ts. 1980. Der Fragebogen findet sich im Anhang. 34 Vgl. dazu Georgios Tsiakalos, Ausländerfeindlichkeit. Tatsa-
31 Vgl. Alexopoulou (Anm. 5). chen und Erklärungsversuche, München 1983, S. 12 ff.; vgl. ebenso
32 So angedeutet auch in den Richtlinien für die Behandlung Alexopoulou (Anm. 5).
von Ermessenseinbürgerungen, 29. 7. 1958, Marchivum, 10/2005, 35 Vgl. Annita Kalpaka/Nora Räthzel (Hrsg.), Die Schwierigkeit,
Nr. 14. nicht rassistisch zu sein, Berlin 1986, S. 12 ff.

22
Zeitgeschichte/n  APuZ

feindlich eingestellt ist. Dabei lassen sich Hier- te der Bundesbürger als ausländerfeindlich ein-
archien ausmachen, die sich im Zeitverlauf ver- gestuft“ und empfohlen, das „bisher eher igno-
schieben. Ebenso sind jeweils andere Gruppen rierte Problem der Ausländerfeindlichkeit“, das
Innbegriff des „Ausländers“, der dämonisiert, auf Emotionen und kaum auf Fakten beruhe, mit
kriminalisiert, infantilisiert oder als minderwertig Verweis auf das Grundgesetz und die deutsche
markiert wird: vom „Ostarbeiter“, dem Schwar- Geschichte ebenso emotional zu kontern. 40
zen GI, 36 dem italienischen „Spaghettifresser“ Während des Treffens herrschte jedoch nicht
und „Messerstecher“, zum „Asylanten“ bis hin einmal Konsens darüber, ob überhaupt „Auslän-
zum „Nordafrikaner“ heute. Die „Türken“ – de- derfeindlichkeit“ vorlag: So wies der baden-würt-
nen der Bielefelder Zeithistoriker Hans-Ulrich tembergische Vertreter Gerhard Weiser darauf
Wehler in seinem Opus Magnum die „Erblast“ hin, dass es sich bei diesem Phänomen vielmehr
der „Bildungsferne der Anatolier“ attestierte –, 37 um „Existenzangst der Deutschen“ handele. 41 In
haben als größte Herkunftsgruppe dabei immer einem internen Entwurf des Stuttgarter Innen-
wieder diese Rolle eingenommen. ministeriums zur Ausländerpolitik von 1981 war
In einem Interview für das „Zeit“-Magazin ähnlich argumentiert worden: Nicht die Deut-
2010 bekannte etwa der langjährige Mitherausgeber schen seien ausländerfeindlich oder die Wirtschaft
der „Zeit“ und Altkanzler Helmut Schmidt, dass und Infrastruktur nicht mehr aufnahmefähig, son-
er „schon in den frühen 1970er Jahren eine Brem- dern das Problem bestehe in der Entstehung „von
sung der Einwanderung aus allzu fremden Kul- Inseln fremder Lebensart und fremder Kultur
turen als notwendig erkannt und später gefördert mitten in unseren Städten, die bei der einheimi-
habe“. Das Interview fand im Gefolge der Debat- schen Bevölkerung den Eindruck der Überfrem-
te um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft dung auslösen“. 42 Auch der CDU-Vorsitzende
sich ab“ statt. Schmidt sprach sich darin gegen den Helmut Kohl und der Soziologe Hartmut Esser
Ausschluss des Autors aus der SPD aus: Immerhin betonten während der Zusammenkunft im Bun-
habe er in seinem Buch einen Nerv getroffen, da deskanzleramt 1982, dass die Türken nicht zu in-
vor allem „Leute aus asiatischen Ländern“ – hier tegrieren oder integrationswillig seien; das „Tür-
eine Chiffre für „Türken“ – kulturell und nicht aus kenproblem“ sei nicht lösbar, „wenn alle Türken,
genetischen Gründen, wie es Sarrazin behaupte- die hier sind, auch hier bleiben“. 43
te, tatsächlich kaum zu integrieren seien. Sarrazin Als Bundeskanzler wiederholte Kohl diese An-
gebe ja Sachverhalte wieder, die „von vielen Leuten sichten einige Monate später sogar auf internatio-
in Deutschland ähnlich gesehen“ würden. 38 nalem Parkett: In einem seiner ersten Treffen mit
Dabei war es Bundeskanzler Schmidt, der im der britischen Premierministerin Margaret That-
Juni 1982 Spitzenvertreter*innen aus Politik, Ver- cher am 28. Oktober 1982 erklärte er vertraulich:
bänden und Kirchen zu einem Austausch geladen „It would be necessary to reduce the number of
hatte, da ihn „die zunehmend ablehnende Hal- Turks in Germany by 50 %“, da sie nicht assimilier-
tung bei nicht wenigen Bürgern in unserem Land bar seien. Seine Schritte, um die Zahl der Einwan-
gegenüber den bei uns lebenden Ausländern […] derer zu reduzieren und weitere Einwanderung zu
mit großer Sorge“ erfüllte. 39 Neben den loka- verhindern, deutete Kohl Thatcher bereits an: das
len „Anti-Ausländer-Initiativen“ und zahlrei- 1983 in Kraft getretene Rückkehrhilfegesetz sowie
chen „ausländerfeindlichen“ Bürgerbriefen dürf- die Aussetzung der Freizügigkeit für Türk*innen,
te auch eine Studie des Instituts für angewandte die gemäß Assoziationsabkommen zwischen der
Sozialwissenschaft (infas) das Bundeskanzleramt Türkei und der EG 1986 anstand. Die Frage That-
alarmiert haben: Darin wurden „knapp die Hälf- chers, ob Türken in Deutschland Staatsbürger wer-
den konnten oder wählen dürften, negierte Kohl
36 Vgl. Maria Höhn, Amis, Cadillacs und „Negerliebchen“. GIs im
und führte aus, dass Deutschland anders als Groß-
Nachkriegsdeutschland, Berlin 2008.
37 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, 40 Dieter Just/Peter Casper Mühlens: Ausländerproblem oder
München 2008, S. 42. deutsches Symptom?, o. D., BArch, B 136/15048.
38 Giovanni di Lorenzo, Verstehen Sie das, Herr Schmidt?, 41 Protokoll der Sitzung, 22. Juni 1982, ebd.
16. 9. 2010, www.zeit.de/2010/38/Helmut-Schmidt-Integration/ 42 Text eines Ministerialdirektors zum Positionspapier des Innen-
komplettansicht. ministeriums zur Ausländerpolitik, o. D. [1980/81], Hauptstaatsar-
39 Einladungsschreiben des Bundeskanzlers, 18. 3. 1982, BArch, chiv Stuttgart, EA 2/303 Bü 287.
B 136/15047. 43 Protokoll der Sitzung, 22. Juni 1982, BArch, B 136/15048.

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APuZ 38–39/2018

britannien mit seiner langen Kolonialgeschichte, maßgeblich auf den Einfluss rassistischen Wis-
nicht viel Wissen darüber habe, „how to deal with sens zurückzuführen sind. Bisher wurde etwa die
foreigners“. 44 Auch der Soziologe Esser argumen- Entwicklung von Einbürgerungsrecht und -pra-
tierte in einem Text von 1983, dass Deutsche mit xis, Ausländerpolitik und Demokratiegeschichte
„Fremdheit“ nicht umgehen könnten, da sie keine zu wenig zusammengedacht. Denn die Tatsache,
Kolonialerfahrung gemacht hätten. 45 dass die restriktiven Praktiken des Staatsange-
Weit bedenklichere Erklärungen bot der Ver- hörigkeitsapparats dazu beitrugen, einer großen
haltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt an: Die Bevölkerungsgruppe über Jahrzehnte grundle-
Angst vor Fremden und der aggressive Schutz gende Rechte wie das Wahlrecht vorzuenthalten,
der (biologischen) Homogenität der Gruppe sei- stellt das Narrativ der „geglückten Demokra-
en natürliche Impulse. Ebenso berechtigt sei die tie“ infrage. Ebenso sollte eine Ausländerpoli-
Angst vor kultureller Verdrängung. Die Regie- tik, deren Protagonist*innen rassistische Hal-
rung des „Wirtsvolkes“ hätte somit die Pflicht, tungen von Bürger*innen legitimierten, indem
dessen Interesse vor das der „Ausländer“ zu stel- sie ihre „Überfremdungsangst“ – die die Deut-
len. 46 Die Theorie von der Fremdenangst und schen ebenso seit dem Kaiserreich immer wie-
-feindlichkeit als anthropologischem Prinzip fand der überkam – anerkannten und die „Fremdheit“
relativ schnell Eingang in politische, mediale und als das eigentliche gesellschaftliche Problem be-
wissenschaftliche Diskurse. Der britische Philo- handelten, als das bewertet werden, was sie war:
soph Martin Barker hatte angesichts paralleler rassistisch.
Entwicklungen in Großbritannien bereits 1980 Eine rassismuskritische Analyse bis in die Ge-
vor dem Konzept der Xenophobie gewarnt. Es genwart kann aufzeigen, dass das Rassekonzept
legitimiere auf Grundlage spekulativer Erkennt- – hier mit race als methodologischem Terminus
nisse der Soziobiologie, politische Maßnahmen operationalisiert – sich auch nach der „Stunde
gegen „Fremde“ nur wegen ihres „Fremdseins“ Null“ im Konzept „Ausländer“ weiter entfaltet
zu ergreifen. Rassismus werde damit unter einem hat und Bestandteil von Differenzkriterien wie
neuen Namen gesellschaftsfähig gemacht. 47 In Herkunft, Kultur oder Religion wurde, sofern
Deutschland mündete dieser Diskurs darin, das damit gesellschaftliche Ungleichheit legitimiert,
Konzept „Ausländer“ im Innbegriff des „Tür- die Wertigkeit von Gruppen innerhalb einer
ken“ als ewig fremd zu markieren. Machtasymmetrie definiert oder ihr pures An-
wesenheitsrecht als „Andere“ in Abrede gestellt
RACE, RASSISMUS wird. Eine Geschichtswissenschaft, die nicht un-
UND ZEITGESCHICHTE tersucht, ob und wie rassistisches Wissen in der
postkolonialen und postnationalsozialistischen
Die deutsche Zeitgeschichte thematisiert bislang Gesellschaft Wirkung zeigte, läuft Gefahr, selbst
zu wenig, dass Hemmnisse in der Transformati- Teil des Ignoranzsystems zu sein, das dieses Wis-
on Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft sen erhält. Deutschland sei nicht rassistischer als
andere Länder, hatte Kohl während des Treffens
im Bundeskanzleramt im Juni 1982 gesagt. 48 Aber
44 Record of Conversation, 28. Oktober 1982, Margaret
auch nicht weniger.
Thatcher Foundation, http://86e87754c1530cd7c4a7-873​dc​
3788​ab15d5cbb1e3fe45dbec9b4.r88.cf1.rackcdn.com/821028
MT-Kohl memcon 19-1036 f135.pdf. Vgl. zum Thema Assoziati-
onsabkommen mit der Türkei Tim Szatkowski, Die Bundesrepublik
Deutschland und die Türkei 1978 bis 1983, Berlin–Boston 2016,
S. 101–110, passim. Diese Politik war bereits von der Regierung
Schmidt eingeleitet worden.
45 Hartmut Esser, Die fremden Mitbürger: Möglichkeiten und
Grenzen der Integration von Ausländern, Düsseldorf 1983, MARIA ALEXOPOULOU
S. 25–38, hier S. 25. ist promovierte Historikerin und arbeitet am
46 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Angst vor dem Menschen. Von den Lehrstuhl für Zeitgeschichte am Historischen Institut
Wurzeln diskriminierenden Verhaltens, in: Süddeutsche Zeitung,
der Universität Mannheim. Ihre Arbeitsschwer-
3./4. 7. 1982.
47 Martin Barker, New Racism: Conservatives and the Ideology
punkte sind die historische Migrationsforschung und
of the Tribe, London 1981. Rassismuskritik.
48 Protokoll der Sitzung, 22. Juni 1982, BArch, B 136/15048. m.alexopoulou@uni-mannheim.de

24
Zeitgeschichte/n  APuZ

MINDERHEITENGESCHICHTE
ALS HISTORISCHE SUBDISZIPLIN
IN DEUTSCHLAND
Herausforderungen für die Forschung am Beispiel
der Minderheit der Sinti und Roma
Sebastian Lotto-Kusche

Der 2018 verstorbene Historiker Reinhard Rü- historische Erforschung kaum stattgefunden habe.
rup eröffnete 1984 den deutschen Historikertag in Sie gab auch eine interessante Warnung wieder, die
Berlin mit einem kurzen Vortrag, der mit dem Ti- ihr vermeintlich zugetane KritikerInnen mit auf
tel „Integration und Identität. Minderheiten und den Weg gegeben hatten, wenn sie sich mit Min-
Minderheitspolitik in der neueren Geschichte“ derheitenforschung beschäftigen sollte. Sie sol-
überschrieben war. 01 Rürup leitete seinen Vortrag le mit ihrer Forschung nicht versuchen, „die Welt
mit den Worten ein: „Der Begriff der ‚Minderheit‘ aus dem Tautropfen“ zu erklären. 05 Solchen skep-
weist heutzutage eine sehr geringe Trennschärfe tischen Einwänden und Warnungen begegnen
auf; (…) so daß jede irgendwie benachteiligte So- Forschende, die sich mit Minderheitengeschich-
zialgruppe (…) als Minderheit bezeichnet wird.“ 02 te befassen, auch heute noch häufig. Die wissen-
Damit formulierte einer der wichtigsten Nach- schaftliche Methodik ist heute indes breiter aufge-
kriegshistoriker Deutschlands, der bereits in den stellt als Mitte der 1980er Jahre.
1960er Jahren mit Veröffentlichungen zur Ge- Frühe Forschungen etwa zu den Deutschen
schichte der Juden in Deutschland hervorgetre- in Osteuropa standen über Jahrzehnte hinweg
ten war, 03 eine grundlegende Skepsis bezüglich des unter dem Verdacht der politisch gesetzten Ziel-
Begriffs „Minderheit“. Rürup bezog den Einwand richtung eines Grenz-Revanchismus, weshalb das
der Beliebigkeit auf die Minderheitenzuschreibung Thema Flucht und Vertreibung von Minderheiten
im öffentlichen Diskurs, nachfolgend breitete er für viele HistorikerInnen per se für Forschungs-
eine Palette an zu bearbeitenden Themen aus, die projekte nicht infrage kam. 06 Auch ansonsten
bis heute nicht ansatzweise in Gänze Eingang in zeigte sich eine deutsche Sonderentwicklung in
die Forschung gefunden haben. Im wissenschaftli- der historischen Forschungslandschaft. Briti-
chen Programm des Historikertags tauchten Min- sche Studien zur Minderheitengeschichte wiesen
derheiten bezeichnenderweise dann auch nur in bereits sehr früh eine erstaunliche thematische
zwei Sektionen auf und dies nur am Rande. 04 Breite und Tiefe an historischer Forschung auf.
Die Historikerin Stefi Jersch-Wenzel griff den Bereits in den 1990er Jahren erschienen in Groß-
Gedanken Rürups auf und hielt anlässlich der Mit- britannien akteursbezogene Studien, in denen
gliederversammlung der Historischen Kommissi- etwa der Konstruktionscharakter von Fremdzu-
on zu Berlin im Februar 1985 einen Vortrag mit schreibungen untersucht und die Verbundenheit
dem Titel: „Der ‚mindere Status‘ als historisches von Inklusions- und Exklusionsprozessen de-
Problem – Überlegungen zur vergleichenden Min- monstriert wurde. 07.
derheitenforschung“. Darin führte sie in die ver- In der Bundesrepublik haben sich vor allem
schiedenen Definitions- und Abgrenzungsproble- andere Disziplinen, wie die Soziologie, das Völ-
me der Minderheitengeschichte ein. Jersch-Wenzel kerrecht oder die Erziehungswissenschaft, mit
beklagte etwa analog Rürup, dass der Minderhei- Minderheiten aus historischer Perspektive be-
tenstatus nicht quantitativ, sondern qualitativ dis- schäftigt. 08 Zwar verdichteten sich seit den 1990er
kutiert werde, was dazu geführt habe, dass eine Jahren Forschungen zur jüdischen Minderheit und

25
APuZ 38–39/2018

zu den „Gastarbeitern“ – auch in regionalen Kon- war die ethnische Zusammensetzung des deut-
texten wurde und wird zum Verhältnis von Min- schen Volkes ein Fixpunkt ihrer historischen
derheit und Mehrheit, auch unter zeitgeschichtli- Betrachtungen, ob nun aus Kotau vor dem Re-
cher Perspektive, intensiv geforscht 09 –, von einer gime oder nicht. 12 Antisemitische und rassistische
etablierten historischen Minderheitenforschung Denkmuster im staatlichen Diskurs griffen dies
kann in Deutschland allerdings keine Rede sein. auf, um damit ihre Vertreibungs- und Vernich-
Hier weichen aktuelle Einführungen zur histori- tungspolitik von Völkern, darunter auch Minder-
schen Migrationsforschung einer tief greifenden heiten, zu legitimieren.
Beschäftigung mit dem Konzept „Minderheiten“ Die Bevölkerungsforschung der jungen Bun-
aus. 10 Wie lässt es sich erklären, dass der Begriff desrepublik war von Personen geprägt, die im
nicht aufgegriffen und problematisiert wird? Nationalsozialismus aktiv gewesen und jenem
völkischen Denken weiter verhaftet waren. 13
PROBLEMATISCHE Dies zeigte sich symptomatisch in der Deutschen
TRADITIONSLINIEN DER Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft. Jene
VERGANGENHEIT half den NS-Bevölkerungswissenschaftler Fried-
rich Burgdörfer zu rehabilitieren, der einen „ras-
Die Gründe, warum es in der Bundesrepublik sischen“ Zusammenhang zwischen Immigrati-
keine längere Tradition in der historischen Min- on und Bevölkerungsrückgang behauptet hatte. 14
derheitenforschung gibt, liegen zunächst in der Hinsichtlich der Minderheit der Sinti und Roma
problematischen „Vorgeschichte“. Im National- waren die Kontinuitätslinien ähnlich problema-
sozialismus geführte Diskurse um „Übervölke- tisch. Der nationalsozialistische Staat bedien-
rung“ und die „rassische“ Zusammensetzung des te sich der vorhandenen „Zigeunerforschung“,
„Volkskörpers“ prägten das NS-Wissenschafts- die eine von Vorurteilen geprägte ethnische Ob-
system. 11 Für NS-Historiker, etwa für den in der jektperspektive auf die Minderheit etabliert hat-
Bundesrepublik noch wichtigen Werner Conze, te. 15 Mit der Schaffung der „Rassenhygienischen
Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt“ un-
01 Vgl. Reinhard Rürup, Integration und Identität. Minderheiten ter der Leitung von Robert Ritter wurde die Pla-
und Minderheitenpolitik in der neueren Geschichte, in: Verband nungsgrundlage für den Völkermord an den eu-
der Historiker Deutschlands (Hrsg.), Bericht über die 35. Versamm-
ropäischen Sinti und Roma geschaffen. 16
lung deutscher Historiker in Berlin. 03. Oktober bis 07. Oktober
1984, Stuttgart 1985, S. 36–37.
02 Ebd., S. 36. 09 Vgl. Jørgen Kühl/Robert Bohn (Hrsg.), Ein europäisches
03 Vgl. Reinhard Rürup, Die Judenemanzipation in Baden, in: Modell? Nationale Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland
Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 1966, S. 241–300. 1945–2005, Bielefeld 2005; Timo Meškank, Sorben im Blick der
04 Vgl. Verband der Historiker Deutschlands (Anm. 1), S. 193, Staatssicherheit. Die Akten des K5 und des MfS der DDR 1949–1989,
S. 242. Bautzen 2016; Ingo Eser, „Volk, Staat, Gott!“. Die deutsche Minderheit
05 Vgl. Stefi Jersch-Wenzel, Der „mindere Status“ als historisches in Polen und ihr Schulwesen 1918–1939, Wiesbaden 2010.
Problem. Überlegungen zur vergleichenden Minderheitenfor- 10 Vgl. Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frank­
schung, Informationen der Historischen Kommission zu Berlin, furt/M.–New York 2012; Klaus J. Bade, Historische Migrationsfor-
Beiheft 6, Berlin 1986, S. 1. schung, in: IMIS-Beiträge 2002, S. 21–44; ders., Sozial­historische
06 Vgl. Rainer Ohliger, Menschenrechtsverletzung oder Migrationsforschung, Göttingen 2004, hier insb. S. 13–48.
Migration? Zum historischen Ort von Flucht und Vertreibung der 11 Vgl. Josef Ehmer, Migration und Bevölkerung – Zur Kritik eines
Deutschen nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen 2/2005, Erklärungsmodells, in: Dan Diner (Hrsg.), Historische Migrationsfor-
S. 429–438. schung, Gerlingen 1998, S. 5–29, hier insb. S. 28.
07 Vgl. Christhard Hoffmann, Einwanderung, Ethnizität, „Ras- 12 Alexander Pinwinkler, Historische Bevölkerungsforschungen.
sismus“. Konzepte der Migrations- und Minderheitengeschichte Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014,
am Beispiel Großbritanniens, in: Historische Zeitschrift 2/1998, S. 236.
S. 671–685, hier insb. S. 684 f. 13 Vgl. ebd., S. 382.
08 Vgl. Christoph Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk, Nation. 14 Vgl. Ehmer (Anm. 11), S. 26.
Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992; Dirk Jasper/ 15 Vgl. Karola Fings/Sebastian Lotto-Kusche, Tsiganologie, in:
Ferdinande Knabe/Marianne Krüger-Potratz, „Fremdsprachige Volks- Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke,
teile“ und deutsche Schule. Schulpolitik für die Kinder der autochthonen Forschungsprogramme, Berlin 20172, S. 1149–1158.
Minderheiten in der Weimarer Republik – ein Quellen- und Arbeits- 16 Vgl. Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und
buch, Münster u. a. 1998; Jessica Heun, Minderheitenschutz der Roma Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa
in der Europäischen Union. Unter besonderer Berücksichtigung der des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Sebastian Lotto-Kusche,
Definition der Roma als nationale Minderheit sowie der Möglichkeit Rassenhygienische Forschungsstelle, in: Handbuch der völkischen
positiver Maßnahmen im Rahmen von Art. 19 AEUV, Berlin 2011. Wissenschaften (Anm. 15), S. 1592–1596.

26
Zeitgeschichte/n  APuZ

Nach 1945 blieben diese Aktivitäten unge- ab. Die Geschichtswissenschaft tat und tut sich
sühnt, die Beforschung der Minderheit setzte allerdings schwer mit dieser neuen Forschungs-
sich unter den stigmatisierenden Begriffen „Zi- richtung, ist sie doch stark ideengeschichtlich auf
geuner“ und „Landfahrer“ in gleicher Weise fort. die Erforschung von Vorurteilsstrukturen aus-
So konnte der Mediziner Hermann Arnold seine gerichtet. 19 Quellen offenbaren leider nur selten,
„Zigeunerforschungen“ verbreiten, die unter an- aus welchem Beweggrund heraus eine Minderheit
derem Sterilisationen von „Zigeunern“ empfah- diskriminiert oder verfolgt wurde.
len. Mithilfe des einflussreichen Bevölkerungs- Auch weitere Vorbehalte wurden gegen die
wissenschaftlers Hans Harmsen wurde Arnold historische Beschäftigung mit Minderheiten
zum wichtigsten „Zigeunerexperten“ der 1960er vorgebracht. Zeithistorische Debattenbeiträge
und 1970er Jahre in der Bundesrepublik. Er hat- warnen explizit vor einer „aktivistischen Min-
te dabei mit Wissen von staatlichen Behörden un- derheitengeschichte“, die im Sinne einer Einzel-
kontrollierten Zugriff auf Akten, die während betrachtung von Minderheiten im Verdacht stün-
der NS-Zeit von Ritters Forschungsstelle unter den, die Anerkennung einer bestimmten Gruppe
Missachtung jeglicher wissenschaftlich-ethischer zu erzielen beziehungsweise die Geschichte die-
Standards entstanden waren. Sein Wissen speiste ser als Opfergeschichte im Kontext eines unter-
sich aus der Arbeit Ritters. Er beriet die Bundes- drückenden Staates erzählen zu wollen. 20 Dies
regierung und zahlreiche Wohlfahrtsverbände. mag in der Vergangenheit vorgekommen sein, je-
Erst die Proteste der Sinti und Roma-Verbände doch hat jedes gesellschaftliche Bewusstsein für
zu Beginn der 1980er Jahre brachten seinen Ex- neue Themen seine Zeit gebraucht, bis eine aus-
pertenstatus ins Wanken. 17 gereifte wissenschaftliche Beschäftigung damit
erfolgte. Diese Vorbehalte sollten produktiv ge-
HISTORISCHE ERNEUERUNG wendet werden. Wie man die Geschichte von
UND VORBEHALTE Minderheiten gewinnbringend in historische
Meistererzählungen einbaut, hat der Historiker
Die sozialhistorisch orientierte Historische Mi- Ulrich Herbert gezeigt. 21
grationsforschung, die maßgeblich in den 1980er
Jahren von Klaus J. Bade in Osnabrück entwickelt FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
und etabliert wurde, brach mit dem problemati- DER MINDERHEITENGESCHICHTE
schen Erbe der deutschen Bevölkerungswissen- DER „SINTI UND ROMA“
schaftler. 18 Impulse aus der Alltagsgeschichte und
der sich entwickelnden Holocaust-Forschung in Als Michael Zimmermann 1996 sein bis heute in
Deutschland brachten auch die Erforschung der weiten Teilen noch gültiges Standardwerk zur
Geschichte der Sinti und Roma voran, wobei man „NS-Zigeunerverfolgung“ veröffentlichte, wies
sich dabei vor allem auf den Verlauf und die Hin- er darin bereits auf vielfältige Desiderate hin,
tergründe der „NS-Zigeunerverfolgung“ kon- etwa auf fehlende Untersuchungen zum Verhält-
zentrierte. Die Antiziganismusforschung löste in nis von Mehrheitsbevölkerung und Minderheit
den 2000er Jahren die „Zigeunerforschung“ und
deren romantisch verkitschte Verwandte – die
19 Vgl. Michael Zimmermann, Antiziganismus – ein Pendant
„Tsiganologie“ – endgültig als Leitwissenschaft zum Antisemitismus. Überlegungen zu einem bundesdeutschen
Neologismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/2007,
17 Vgl. Pinwinkler (Anm. 12), S. 373; Joachim Hohmann, Die S. 304–314, hier S. 314.
Forschungen des „Zigeunerexperten“ Hermann Arnold, in: 1999. 20 Vgl. Michael G. Esch/Patrice G. Poutrus, Zeitgeschichte und Mi-
Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts grationsforschung. Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen
10/1995, S. 35–49; Sebastian Lotto-Kusche, Spannungsfelder im 2/2005, S. 338–344, hier S. 340.
Vorfeld der Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma. 21 Vgl. Ulrich Herbert, Wie lange müssen „Fremde“ „fremd“
Das Gespräch zwischen dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bleiben? Minderheiten in Deutschland, in: Klaus Barwig (Hrsg.),
und der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland am Vom Ausländer zum Bürger. Problemanzeigen im Ausländer-,
17. März 1982, in: Marco Brenneisen et al. (Hrsg.), Stigmatisierung Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht. Festschrift für Fritz Franz und
– Marginalisierung – Verfolgung. Beiträge zum 19. Workshop zur Gert Müller, Baden-Baden 1994, S. 25–41; ders., Liberalisierung
Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschich-
Konzentrationslager, Berlin 2015, S. 224–244, hier S. 229 f., te – eine Skizze, in ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in West-
S. 235 ff. deutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980,
18 Vgl. Pinwinkler (Anm. 12), S. 328. Göttingen 2002, S. 7–49, hier insb. S. 17.

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APuZ 38–39/2018

am regionalen Beispiel. 22 Aktuelle Forschungs- Interessante Forschungsdesiderate liegen für


überblicke weisen hierbei immense Fortschrit- die Zukunft auch in den spannungsgeladenen Aus-
te aus, allerdings sind diese bisher fast nur auf handlungsprozessen um den Status der (nationa-
Lokalstudien zur „NS-Zigeunerverfolgung“ be- len) Minderheiten in Deutschland. 28 In der Euro-
grenzt. Dies war auch notwendig, bedenkt man päischen Union definiert jeder Staat für sich, wer
die lokalen Initiativen und Verantwortlichkeiten als nationale und damit schützenswerte Minderheit
in der „NS-Zigeunerverfolgung“; die vorliegen- gilt. Deutschland hat folgende Kriterien für natio-
den Arbeiten blieben thematisch aber eng ge- nale Minderheiten aufgestellt: deutsche Staatsbür-
fasst. 23 In den vergangenen Jahren mehrten sich gerschaft, Unterschiede in Kultur und Sprache, die
Studien zur Geschichte der Minderheit nach Identität soll bewahrt werden, die Gruppe ist tra-
1945. Zunächst untersuchte man die politische ditionell in Deutschland heimisch und lebt in an-
Behandlung der Sinti und Roma durch die Kri- gestammten Siedlungsgebieten. 29 Viele Ebenen der
minal- und Entschädigungsbehörden, aber auch Umsetzung des Minderheitenschutzes fallen in
durch die Kommunalpolitik. 24 Später lag der Fo- Deutschland in die Zuständigkeit der Länder, da-
kus auf der Erinnerungskultur, die Minderheit her lohnt der Blick auf die regionale Ebene.
betreffend. 25 2012 wurden Sinti und Roma als schützens-
Mittlerweile steht auch die Perspektive der werte Minderheit in die schleswig-holsteinische
Minderheit nach 1945 im Mittelpunkt der wis- Landesverfassung aufgenommen. Die Forderung
senschaftlichen Beschäftigung. 26 Für letzte- wurde schon Jahrzehnte vorher erhoben, aller-
re Forschungsvorhaben fehlen allerdings bis- dings wurde dies von der verfassungsändernden
lang zahlenmäßig aussagekräftige Quellen aus Mehrheit des Landtags bis dato abgelehnt. 30 Be-
der Minderheit, wie Selbstzeugnisse, Dokumen- reits die Weimarer Reichsverfassung kannte den
te aus der Verbandsarbeit, Briefe, Fotos, die es Minderheitenschutzartikel 113, das Grundgesetz
noch intensiv zu heben und bearbeiten gilt. Ne- der Bundesrepublik verzichtete auf ähnliche For-
ben den Archiven der Verbände, die sich der For- mulierungen. Den Beginn des aktiven Minderhei-
schung noch breiter öffnen sollten, ist auch eine tenschutzes in der Bundesrepublik markierten die
Durchsicht eher klassischer Archive oft lohnens- Bonn-Kopenhagener Erklärungen aus dem Jahr
wert, wie ein viel beachteter Quellenfund im Do- 1955 sowie die einseitig von der schleswig-hol­stei­
kumentationsarchiv des österreichischen Wider- nischen Landesregierung ausgesprochene „Kieler
stands exemplifiziert hat. 27 Erklärung“ aus dem Jahr 1949, womit der däni-
schen Minderheit und prinzipiell auch den Friesen
22 Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, Ham- im Landesteil Schleswig erhebliche Minderheiten-
burg 1996, S. 39. rechte zugestanden wurden. Gleichzeitig wurde
23 Vgl. Karola Fings, Neuere Literatur zur NS-Verfolgung von
mit jener Erklärung das freie Bekenntnisprinzip
Sinti und Roma und zur Produktion von „Zigeuner“-Stereotypen, in:
Neue Politische Literatur 1/2015, S. 27–52.
eingeführt. Es verbietet dem Nationalstaat seit-
24 Vgl. Gilad Margalit, Die Nachkriegsdeutschen und „ihre her, was erstmals in der preußischen Schulver-
Zigeuner“. Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von ordnung von 1928 formuliert wurde, 31 die Zuge-
Auschwitz, Berlin 2001; Peter Widmann, An den Rändern der hörigkeit zu einer Minderheit zu überprüfen. 32
Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik,
Berlin 2001.
25 Vgl. Gabi Meyer, Offizielles Erinnern und die Situation 28 Vgl. Jørgen Kühl, Nationale Minderheiten im dänisch-deut-
der Sinti und Roma in Deutschland. Der nationalsozialistische schen Grenzland – Eine Einführung, in: ders./Robert Bohn, Ein eu-
Völkermord in den parlamentarischen Debatten des Deutschen ropäisches Modell? Nationale Minderheiten im deutsch-dänischen
Bundestages, Wiesbaden 2013; Yvonne Robel, Verhandlungssa- Grenzland 1945–2005, Bielefeld 2005, S. 9–58.
che Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, 29 Vgl. Sonja Wolf, Zur sozialen und politischen Lage der
Paderborn 2013. anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland, in: APuZ
26 Vgl. Susanne Urban et al. (Hrsg.), Fundstücke. Entwurzelt im 11–12/2017, S. 16–22, hier S. 16.
eigenen Land. Deutsche Sinti und Roma nach 1945, Göttingen 30 Vgl. Uwe Danker, Der Minderheitenschutz bei der Verfas-
2015; Anja Reuss, Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und sungsreform 1990. Eine Privilegierung der Privilegierten, in:
Roma in der deutschen Nachkriegszeit, Berlin 2015. Grenzfriedenshefte 1/2005, S. 29–44.
27 Vgl. Gerhard Baumgartner, „Wann endlich wird dies himmel- 31 Vgl. Abdruck der Verordnung in: Jasper/Knabe/Krüger-
schreiende Unrecht an uns gut gemacht werden?“ Frühe Zeugnisse Potratz (Anm. 8), S. 352 ff., insb. S. 353.
österreichischer Roma und Romnia zu ihrer Verfolgung während 32 Vgl. Reimer Hansen, Aus einem Jahrtausend historischer
des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs Nachbarschaft. Studien zur Geschichte Schleswigs, Holsteins und
des Österreichischen Widerstandes 1/2015, S. 43–80. Dithmarschens, hrsg. v. Uwe Danker, Malente 2005, S. 264 f.

28
Zeitgeschichte/n  APuZ

Diese Neuerung machte den Minderheitenstatus und Implikationen wie auch Ausschließungspro-
für die Sinti und Roma im Nachkriegsdeutsch- zeduren analysiert werden. Weiterhin sollte inter-
land erstrebenswert, war die Minderheit in der disziplinär der Minderheitenbegriff für die histo-
NS-Zeit doch der totalen staatlichen Erfassung rische Forschung definiert werden, sodass er die
ausgesetzt gewesen. Die Verbände der Sinti und tradierten juristischen Definitionen problemati-
Roma forderten seit 1979 neben der Beendigung siert und erweitert. Dabei wäre auch die Inter-
der polizeilichen Sondererfassung und der Ge- dependenz zu bedenken, die darin besteht, dass
währung von angemesseneren Entschädigungs- sowohl Eigen- als auch Fremdwahrnehmungen
zahlungen auch die Zuerkennung des Status ei- Minderheiten konstituieren können.
ner „nationalen Minderheit“. 33 Offiziell wurde In den vergangenen Jahren ist hinsichtlich
die Forderung deshalb abgelehnt, weil bestritten der Institutionalisierung der historischen Min-
wurde, dass es „angestammte Siedlungsgebie- derheitenforschung einiges in Bewegung ge-
te“ von Sinti und Roma auf deutschem Boden kommen. Jüngstes Beispiel ist die Gründung der
gebe. Ein interner Vermerk aus dem Bundesin- Forschungsstelle Antiziganismus 2017 an der
nenministerium aus dem Jahr 1980 offenbart je- Universität Heidelberg. Das Spektrum der Ak-
doch die eigentliche politische Strategie: „Wenn teure, die Minderheitenforschung betreiben, ist
der Sonderstatus einer nationalen Minderheit aber weit größer. Es arbeiten verschiedene Insti-
auch später zuwandernden fremden Volksgrup- tute zu den deutschen Minderheiten in Osteuro-
pen gewährt wird, so bedeutet das die Einleitung pa, andere zur Geschichte der Juden, wiederum
einer Entwicklung zum Vielvölkerstaat. Ande- andere zu den anerkannten nationalen Minder-
ren Gruppen, insbesondere etwa den zahlenmä- heiten in Deutschland (aktuell Sorben, Friesen,
ßig weitaus stärkeren Türken, könnte man das Dänen und Sinti/Roma). Aber auch etablierte
gleiche nicht verwehren.“ 34 Erst im Kontext der Akteure wie das Institut für Antisemitismusfor-
Verabschiedung des europäischen Rahmenüber- schung an der TU Berlin, das Institut für Migra-
einkommens zum Schutz nationaler Minder- tionsforschung in Osnabrück und das European
heiten konnten die Sinti und Roma diese Aner- Center for Minority Issues in Flensburg betrie-
kennung erzielen. 35 Die Verhandlungen, warum ben und betreiben historische Minderheitenfor-
beispielsweise hinsichtlich der „angestammten schung in Ansätzen. Sinnvoll ist sicherlich auch
Siedlungsgebiete“ bei den Sinti und Roma eine eine Vernetzung mit VertreterInnen der Neu-
Ausnahme gemacht wurde, in historischer Per- eren Kolonialgeschichte und der Postcolonial
spektive zu untersuchen, ist eine Aufgabe für die Studies. 36
Zukunft. Es fehlte bisher an Möglichkeiten und Im-
pulsen zur Vernetzung, um sich über methodi-
DIE ZUKUNFT EINER sche Schwierigkeiten, definitorische Probleme
HISTORISCH ARBEITENDEN sowie institutionenübergreifende inhaltliche
MINDERHEITENFORSCHUNG Kooperationen auszutauschen. Auf dem His-
torikertag 2018 setzt sich eine Sektion explizit
Durch die Offenlegung von Machtverhältnissen mit der Frage auseinander, inwieweit Minder-
kann sich, so zeigt das Beispiel um die Aushand- heitengeschichte als historische Subdisziplin be-
lungsprozesse hinsichtlich des Status’ der Sin- trieben werden kann und wo die Fallstricke bei
ti und Roma als nationale Minderheit, ein neuer dieser Beschäftigung liegen. 37 Am Sorbischen
Blick auf Minderheits- und Mehrheitskonflikte Institut in Bautzen wurde ein Netzwerk His-
ergeben. Minderheitendefinitionen sollten daher torische Minderheitenforschung gegründet, das
ausgeweitet und in ihren Entstehungskontexten durch jährliche Workshops eine bessere Vernet-
zung der bereits bestehenden Institutionen an-
33 Vgl. Daniela Gress, „Wir wollen Gerechtigkeit!“. Die Ur-
sprünge der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma in
Heidelberg, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 36 Vgl. http://docupedia.de/zg/Neuere_Kolonialgeschichte_​
2017, S. 171–187, hier S. 182. und_Postcolonial_Studies.
34 Vgl. BArch B 106/94701, Schreiben des Bundesministers des 37 Vgl. www.historikertag.de/Muenster2018/sektionen/​minder­
Innern vom 1. 9. 1982 an den Bundesminister für Jugend, Familie heitengeschichte-als-historische-subdisziplin​%E2%80%A8​minder­
und Gesundheit, S. 2. heits-und-mehrheitskonstellationen-am-beispiel-der-sinti-und-roma-
35 Vgl. Heun (Anm. 8), S. 62–66. in-der-brd.

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APuZ 38–39/2018

strebt, die historisch orientierte Minderheiten- starkem methodischen Rüstzeug und der Ver-
forschung betreiben. 38 Vordergründiges Ziel der meidung von ethnozentristischen Schlussfolge-
nächsten Jahre muss es sein, mit dem neuen Netz- rungen stehen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass
werk diese vielfältigen Akteure und ihre unter- diese Initiativen langfristig auch den Diskurs in-
schiedlichen Ansätze zusammenzubringen, damit nerhalb der Geschichtswissenschaft hinsichtlich
sich in Deutschland eine kritische und öffentlich der Beschäftigung mit Minderheiten produktiv
sichtbare historische Minderheitenforschung eta- wenden werden.
blieren kann.
Die wissenschaftliche Disziplin der Zeitge- Für Hinweise und Korrekturen danke ich herzlich
schichte hat eine besondere Verantwortung für Prof. Dr. Jørgen Kühl (Europa-Universität Flensburg)
die Forschung im Bereich der Minderheiten- und Dr. Yvonne Robel (Forschungsstelle für
geschichte der Sinti und Roma. Andere Teildis- Zeitgeschichte Hamburg).
ziplinen, die das 15. bis 19. Jahrhundert behan-
deln, haben lediglich Zugriff auf Schriftquellen
aus der Mehrheitsgesellschaft. In Bezug auf die
Minderheit der Sinti und Roma bieten sich der
Forschung seit dem 20. Jahrhundert erweiterte
Möglichkeiten, da durch eine sich entwickelnde
Schriftsprachentradition des Romanes, der Mut-
tersprache der Sinti und Roma, Schriftquellen der
Minderheit entstanden. 39 Außerdem rückte die
Minderheit mehr und mehr ins Bewusstsein der
Mehrheitsgesellschaft, was dazu führte, dass in
den Archiven fortan auch Quellen gesichert wur-
den – natürlich auch in deutscher Sprache nieder-
geschrieben –, die innerhalb der Minderheit ent-
standen waren.
Zukünftig werden Initiativen, wie das von
der Kulturstiftung des Bundes geförderte Digi-
tale Archiv der Sinti und Roma, das 2019 in die
Trägerschaft des European Roma Institute for
Arts and Culture mit Sitz in Berlin übergehen
wird, eine Vielzahl von Quellen für Forschun-
gen bereithalten. 40 Diesen Fundus mit Quellen
aus staatlichen Archiven sowie aus bereits be-
stehenden Archiven der Selbstorganisationen
der Minderheit zu kombinieren, wird spannende
Forschungsfragen zu Aushandlungsprozessen
zwischen Mehrheit und Minderheit beantworten
helfen. Historische Untersuchungen zur Gene-
se von Vorurteilsstrukturen stellen dabei nur die
Spitze des Eisbergs an möglichen Themen dar,
die jedoch im Bewusstsein der problematischen
Forschungstraditionen der Vergangenheit mit

38 Vgl. www.serbski-institut.de/de/Netzwerk-Historische-Minder-
heitenforschung. SEBASTIAN LOTTO-KUSCHE
39 Vgl. Yaron Matras, Die Sprache der Roma. Ein historischer ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter
Umriss, in: ders./Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hrsg.),
am Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und
Sinti, Roma, Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart, Berlin
2003, S. 231–261.
Regionalgeschichte (IZRG) der Europa-Universität
40 Vgl. www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/projekte/ Flensburg.
film_und_neue_medien/digitales_archiv_der_sinti_und_roma.html. lotto-kusche@izrg.de

30
Zeitgeschichte/n  APuZ

GESELLSCHAFTSGESCHICHTLICHE
PERSPEKTIVEN AUF DAS WEST­
DEUTSCHE „ACHTUNDSECHZIG“
Christina von Hodenberg

Je weiter wir uns zeitlich vom Jahr 1968 entfernen, nach der die junge 68er-Generation die Demokra-
desto größer wird der Rummel um die Jahresta- tie in Westdeutschland mit ihrer Schocktherapie
ge. Zum 50. Jubiläum 2018 erschienen stapelweise von der Verkalkung des Autoritarismus gereinigt
neue und neu aufgelegte Bücher; Presse und Fern- und wiederbelebt habe. Selbst wenn dies in guter
sehen begannen schon im Dezember 2017 mit Son- Absicht geschah, die Berufung auf das heroische
dersendungen und Berichten zum Thema. Damit Narrativ – „Achtundsechzig“ als Generationskon-
setzt sich der Trend der vorangegangenen runden flikt und als Urknall der inneren Demokratisie-
Jahrestage 1988, 1998 und 2008 fort. Immer stär- rung der Bundesrepublik – ist historisch zweifel-
ker schnurrt „Achtundsechzig“ auf eine Chiffre haft. Denn ein solches Bild von „Achtundsechzig“
zusammen, in der ganz unterschiedliche histori- beruht auf einer methodisch einseitigen Grundlage
sche Entwicklungen (wie Jugendprotest, sexuelle und einer elitären Vorab-Einschränkung des her-
Revolution, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit angezogenen Quellenkorpus. Eine gesellschaftsge-
oder gar die Umweltbewegung) mutwillig zusam- schichtliche Erweiterung des Blicks ist vonnöten.
mengeklammert werden und ihren Ursprungs-
mythos finden. Immer stärker wird in den Medi- DIE HEROISCHE ERZÄHLUNG
en auch das Jahr 1968, und insbesondere der Mai, ALS PROBLEM
nach französischem Vorbild als Kernphase der
Aufbruchsbewegung der 1960er Jahre erinnert. Schon in den 1960er Jahren schnitzten sich die
Dabei begann die Hochphase der westdeutschen Massenmedien die Ikonen von „Achtundsech-
Proteste schon im Juni 1967 mit der Erschießung zig“ so, wie es ihre Arbeitsbedingungen und Gen-
des Studenten Benno Ohnesorg beim West-Berli- res vorgaben. Der öffentliche Blick auf die Protes-
ner Schahbesuch. 01 Und obwohl auffällt, dass sich te verengte sich 1967 schnell auf wenige Orte und
die Protestereignisse zwischen 1967 und 1969 häu- Personen: auf das West-Berlin des Kalten Krie-
fen, sprechen Historiker mit guten Gründen von ges, das Frankfurt der Frankfurter Schule, auf die
einer zusammenhängenden Periode des Wandels, Kommune 1, das Büro des Sozialistischen Deut-
den „langen sechziger Jahren“, die für die Bundes- schen Studentenbundes (SDS) am Kurfürsten­
republik vom letzten Drittel der 1950er Jahre bis damm, auf Rudi Dutschke und Horst Mahler.
zur Ölkrise von 1973/74 reichen. 02 Der SDS mit seiner gezielten Strategie provoka-
Im Jubiläumstrubel 2018 kommt hinzu, dass tiver und subversiver Aktionen erreichte ungleich
„Achtundsechzig“ und die 68er von der neu er- mehr Publizität als andere Studentenverbände, die
starkten politischen Rechten als Feindbild aufpo- an traditionellen Resolutionen und Gastredner-
liert wurden. Der stellvertretende AfD-Chef Jörg Veranstaltungen festhielten. 05 Die Aufmerksam-
Meuthen sagte der „links-rot-grün verseuchten keit der Springer-Blätter konzentrierte sich ne-
68er-Denke“ den Kampf an, 03 und der CSU-Politi- ben Dutschke auch auf den „Studenten-Anwalt“
ker Alexander Dobrindt forderte eine „konservati- Horst Mahler und den Kommunarden Fritz Teu-
ve Revolution“ gegen die „linke Meinungsvorherr- fel aus West-Berlin. 06 „Der Spiegel“ fokussierte
schaft“ der 68er. 04 Die Antwort der Liberalen und sich ganz auf Berlin und erklärte die Proteste aus
Linken auf diese Herausforderung war es, umso der prekären Lage der Stadt im Kalten Krieg, dem
stärker auf der inzwischen fest etablierten populä- US-amerikanischen Einfluss auf die Freie Univer-
ren Erzählung von „Achtundsechzig“ zu bestehen, sität und der Zuwanderung vieler westdeutscher

31
APuZ 38–39/2018

Wehrdienstflüchtlinge. 07 Eine ebensolche „Berlin- che Eliten und die radikale Linke (sprich den SDS).
Rahmung“ dominierte auch die Fernsehbericht- Wenn es fernab der Großstädte, außerhalb des SDS
erstattung. Denn zahlreiche Kamerateams waren und abseits der Vorzeigekommunen brodelte, so
beim Schah-Besuch in Berlin live dabei gewesen, wurde dies öffentlich nicht entsprechend gespie-
und auf deren Filmausschnitte stützten sich fast gelt. In den folgenden fünf Jahrzehnten setzte sich
alle nachfolgenden Nachrichtensendungen und der Trend fort. 10 In ihren Bezügen auf „Achtund-
politischen Fernsehmagazine. Der Logik des Me- sechzig“ bildeten Presse und Rundfunk einen klei-
diums gemäß wurden einige wenige Protagonisten nen Ausschnitt dessen ab, was die zeitgenössische
herausgegriffen, „die den Zuschauern und Redak- Revolte ausmachte – und zwar nur denjenigen Teil
teuren bereits bekannt waren“. So entstanden seit der Akteure, der die Medien für sich gewann.
dem Spätsommer 1967 gleich drei Fernsehporträts Der so entstandenen klassischen Erzählung
von Dutschke. Ebenfalls häufig interviewt wur- folgte die Zeitgeschichtsschreibung. Getragen von
de Mahler, weil er bei der Pressekonferenz nach Zeitzeugen, die ehemals selbst Aktivisten gewe-
dem Tod Benno Ohnesorgs als Rechtsbeistand des sen waren, schrieben Politologen und Historiker
AStA an der Freien Universität aufgetreten war. 08 eine mal mehr, mal weniger kritische Geschich-
Auch die Kommune 1 spielte auf dem Bildschirm te von „Achtundsechzig“, in der männliche Stu-
eine gewisse Rolle, tauchte dort jedoch seltener auf denten zu Standartenträgern des Wandels wurden,
als in den auf Nackedeis und freie Liebe versesse- Auseinandersetzungen in Hörsälen und der Ide-
nen Illustrierten. 09 enwettstreit der Linken im Mittelpunkt standen. 11
Mithin fand schon in den zeitgenössischen Me- Selbst abwägende Beiträge der jüngsten Zeit, die
dienberichten eine Verengung der Aufmerksamkeit das westdeutsche „Achtundsechzig“ eher als Kul-
statt. Es etablierte sich ein Tunnelblick auf Westber- turrevolution oder massenmediales Spektakel
lin und Frankfurt, die Universitäten, junge männli- denn als politische Rebellion verstehen, bleiben
der Verengung auf SDS, Studenten und Berlin fast
01 Siehe dazu auch die Ausgabe der APuZ 5–7/2017 mit dem
immer treu. Ausgesprochen rar sind Studien über
Schwerpunkt „1967“ (Anm. d. Red.). Aktivisten, die nicht ins traditionelle Raster pas-
02 Vgl. Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo sen, wie etwa die konservative Jugend, Ostberliner
„1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesre- Kommunarden, Frauengruppen oder Arbeiter. 12
publik, Göttingen 2006; Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian
Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden
deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Udo Wengst (Hrsg.), 10 Vgl. Martin Stallmann, Die Erfindung von „1968“. Der
Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977–1998,
Bundesrepublik vor und nach 1968, München 2011. Göttingen 2017.
03 Rede auf dem AfD-Parteitag, 30. 6. 2018, youtu.be/td4TWD- 11 Vgl. u. a. Götz Aly, Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zu-
wfQVs, ab Minute 32 : 20. rück, Frank­furt/M. 2008; Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jo-
04 Alexander Dobrindt, „Wir brauchen eine bürgerlich-konserva- chen Staadt, Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche
tive Wende“, in: Die Welt, 4. 1. 2018. Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Wiesbaden 2002;
05 Vgl. Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008.
Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, Kap. 2; 12 Vgl. Anna von der Goltz, A Polarized Generation? Conser-
Eckard Michels, Schahbesuch 1967. Fanal für die Studentenbe- vative Students and West Germany’s „1968“, in: dies. (Hrsg.),
wegung, Berlin 2017, S. 298, S. 239 ff.; Timothy S. Brown, West „Talkin’ ’bout my Generation“. Conflicts of Generation Building and
Germany and the Global Sixties. The Anti-Authoritarian Revolt Europe’s „1968“, Göttingen 2011, S. 195–215; Daniel Schmidt,
1962–1978, Cambridge 2013, S. 45 ff. „Die geistige Führung verloren“. Antworten der CDU auf die He-
06 Vgl. Joachim Neander, Berlin als Exerzierfeld für Revolutions- rausforderung „1968“, in: Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/
Modelle sowie Fred Schaffert, Rudi Dutschke wiegelt auf, in: Welt Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesre-
am Sonntag, 17. 6. 1967, S. 4; Lutz Horst, Anzeige gegen Anwalt publik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen
der Studenten, in: BILD (Berlin), 28. 8. 1967, S. 1; Demonstranten 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 85–107; Anna von der Goltz,
entlasten Fritz Teufel, in: Die Welt (Berlin), 5. 12. 1967, S. 6. Making Sense of East Germany’s 1968. Multiple Trajectories and
07 Vgl. Berlin/Studenten: Nein, nein, nein, in: Der Spiegel, Contrasting Memories, in: Memory Studies 6.1/2013, S. 53–69;
5. 6. 1967, S. 46–59. Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewe-
08 Zitate Meike Vogel, Unruhe im Fernsehen. Protestbewegung gung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968–1976, Frank­
und öffentlich-rechtliche Berichterstattung in den 1960er Jahren, furt/M.–New York 2002; Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte?
Göttingen 2010, S. 226, S. 201, vgl. S. 120. Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München,
09 Vgl. ebd., S. 203, S. 207 f.; Sven Reichardt, Authentizität und München 2011; Ute Kätzel (Hrsg.), Die 68erinnen. Porträt einer
Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen acht- rebellischen Frauengeneration, Berlin 2002; Morvarid Dehnavi, Das
ziger Jahren, Berlin 2014, S. 679 f.; Ingo Cornils, Writing the Revolution. politisierte Geschlecht. Biographische Wege zum Studentinnenpro-
The Construction of „1968“ in Germany, Rochester 2016, S. 154 ff. test von „1968“ und zur Neuen Frauenbewegung, Bielefeld 2013.

32
Zeitgeschichte/n  APuZ

Denn die klassische Erzählung von „Acht- le der Arbeiter im französischen „Achtundsech-
undsechzig“ übergeht große Bevölkerungs- zig“ nicht genügend beachtet werde, haben etwa
gruppen: die Frauen, die Älteren und Alten, die Kristin Ross, Julian Jackson und Michelle Zan-
weniger Gebildeten, die Unterschichten, die carini-Fournel angemerkt. 15 Für eine Ausweitung
kleinstädtische und ländliche Bevölkerung. Nicht der Perspektive über den Generationskonflikt hi-
zum ersten Mal spiegelt sich damit in der For- naus haben auch Sara M. Evans und Maud Anne
schung eine unbewusste Konzentration der His- Bracke als Spezialistinnen für den US-amerikani-
toriker auf diejenigen, die ihnen selbst ähneln: auf schen und italienischen Kontext argumentiert. 16
Bildungsbürger, Männer, Universitäten und die In der deutschen Zeitgeschichtsschreibung
urbanen Eliten. Wie diese Bindung an das Bil- wirkt jedoch in besonderer Weise Karl Mann-
dungsbürgertum dazu verführen kann, die ge- heims Konzept der politischen Generationen
samtgesellschaftliche Bedeutung von Zäsuren zu aus dem Jahr 1928 nach. Häufig erkennen deut-
verkennen, zeigt beispielsweise die Deutungs- sche Historiker in den Unruhen der 1960er Jah-
geschichte des Kriegsausbruchs 1914. Jahrzehn- re ein geistiges Duell politischer Generationen:
telang war unsere Vorstellung vom Blick auf die Die 68er hätten demzufolge ihre Vorgängergene-
akademische männliche Jugend geprägt, über de- rationen, die „Wilhelminer“ und die „45er“, her-
ren enthusiastische Kriegsbegeisterung die Tages- ausgefordert. Die 45er, um 1968 Mitte dreißig bis
presse damals wortreich geschwärmt hatte. Die fünfzig Jahre alt, hätten das nationalsozialistische
Beschwörung des „Augusterlebnisses“ der Frei- Deutschland nur als Kinder und Teenager erlebt
willigen und der „Ideen von 1914“ entpuppte sich und seien als junge, unbelastete Erwachsene rasch
erst in den 1990er Jahren als irreführend, als neue in verantwortliche Positionen in Politik, Medi-
Quellen hinzugezogen wurden, die die ganz an- en und Universitäten aufgerückt. Das Kriegsende
dere, abwartend-skeptische Reaktion der Dörf- 1945 sei zum Wendepunkt ihres Lebens gewor-
ler und Arbeiter auf den Beginn des Weltkriegs den, das viele von ihnen fortan der Westernisie-
erschlossen. 13 rung und inneren Demokratisierung der Bun-
desrepublik gewidmet hätten. Zu dieser oft auch
GESELLSCHAFTSGESCHICHTE „skeptische Generation“, „Flakhelfergeneration“
UND GENERATIONENGESCHICHTE oder „HJ-Generation“ genannten Gruppe wer-
den beispielsweise Helmut Kohl, Rudolf Aug-
Mein Plädoyer für eine „gesellschaftsgeschichtli- stein, Ralf Dahrendorf oder Jürgen Habermas ge-
che“ Methode bezieht sich nicht auf Hans-Ulrich rechnet. Manche Historiker feiern die 45er, und
Wehlers Totalperspektive, die Strukturen und eben nicht die studentischen 68er, als Vorreiter ei-
Prozesse in Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, po- ner Liberalisierung Westdeutschlands. 17 Die aka-
litischer Herrschaft und institutionalisierter Kul- demische Diskussion leitet die Revolte damit vor
tur problemorientiert analysiert. 14 Vielmehr ist allem aus den divergierenden Weltanschauun-
ein Ansatz gemeint, der so weit als möglich auf gen unterschiedlicher Alterskohorten von Intel-
die Erschließung der historischen Rolle und le-
bensweltlichen Erfahrung aller Bevölkerungs-
15 Vgl. Kristin Ross, May 68 and Its Afterlives, Chicago 2008;
gruppen zielt, der beide Geschlechter als histori-
Michelle Zancarini-Fournel, Le moment 68. Une histoire contestée,
sche Akteure ernstnimmt sowie Entwicklungen Paris 2008; Julian Jackson, The Mystery of May 1968, in: French
im Öffentlichen wie im Privaten umfasst und so- Historical Studies 4/2010, S. 625–653; ders./Anna-Louise Milne/
mit einen erweiterten Politikbegriff zugrundelegt. James S. Williams (Hrsg.), May 68. Rethinking France’s Last Revolu-
Eine solcherart erweiterte Perspektive auf die tion, Basingstoke 2011.
16 Vgl. Sara M. Evans, Sons, Daughters, and Patriarchy. Gender
1960er Jahre ist in den vergangenen Jahren auch
and the 1968 Generation, in: American Historical Review 2/2009,
international angemahnt worden. Dass die Rol- S. 331–347; Maud Anne Bracke, One-dimensional Conflict? Recent
Scholarship on 1968 and the Limitations of the Generation Con-
cept, in: Journal of Contemporary History 3/2012, S. 638–646.
13 Vgl. Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegser- 17 Vgl. etwa Wehler (Anm. 14), Bd. 5: 1949–1990, München
fahrungen im südlichen Bayern 1914–1923, Essen 1997, S. 39 ff.; 2008, S. 310 ff., S. 185 ff.; Aly (Anm. 11); Dirk Moses, German
Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007; Christina von
Volksgemeinschaft, Hamburg 2000, S. 374 ff. Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen
14 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; Kersting/Reule-
Bd. 1: 1700–1815, München 1987, S. 6–31. cke/Thamer (Anm. 12).

33
APuZ 38–39/2018

lektuellen ab. Deshalb wissen wir heute erheb- ten gegen den Widerstand der Eltern aufgeräumt
lich mehr über Studenten und Professoren in den hatte. Die 68er-Proteste wurden vom marxisti-
1960er Jahren als etwa über Arbeiter, Hausfrauen, schen Überschuss gereinigt und als Lifestyle-Li-
Angestellte oder Rentnerinnen. 18 beralisierung weichgespült. Weil sich dieses Nar-
Denn „Achtundsechzig“ als Kampf zwischen rativ verkaufte, verbreitete es sich seit den späten
politischen Generationen zu begreifen, heißt, sich 1970er Jahren schnell. Die 68er wurden zur „Ge-
nur männlichen Eliten zu widmen. Der erz-bil- neration am Tropf des Feuilletons“. 21
dungsbürgerlichen Herkunft des Denkmusters Um die Geschichte von „Achtundsechzig“
der politischen Generation ist nicht zu entkom- jenseits der heroischen Generationserzählung zu
men. Bei Mannheim geht es um Männer, die an schreiben, gilt es daher, dem Deutungsmuster der
der Front oder in Jugendverbänden politisch so- „politischen Generationen“ zu entsagen. Zudem
zialisiert worden sind; um Bildungsbürger, die ei- sollte die Vorannahme, dass es sich bei den dama-
nen politischen Gestaltungswillen in öffentlicher ligen Unruhen im Kern um einen Konflikt zwi-
Auseinandersetzung gegen andere durchsetzen schen Alt und Jung gehandelt habe, kritisch über-
wollen. Sich als Angehöriger einer politischen prüft werden. Auch muss durchgehend zwischen
Generation darzustellen, ist deshalb bis heute ein familiären Generationen (Großeltern, Eltern,
spezifisch männliches Unterfangen. Die Lebens- Kindern) und Alterskohorten in der Bevölkerung
erfahrungen und -ziele von Frauen sowie priva- unterschieden werden. Nicht zuletzt gilt es, die
te Auseinandersetzungen passen nicht in dieses Rolle von Frauen, unter- und kleinbürgerlichen
Schema. 19 Protagonisten, aber auch Älteren und Alten so-
Der Bezug auf Mannheims Konzept verleitet wie Land- und Kleinstadtbewohnern zu beleuch-
zudem dazu, die nachträglich durch den Prozess ten. Denn einerseits finden sich auch unter ihnen
der „Generationsrede“ gebildete 68er-Generati- Akteure des Aufbruchs. Andererseits erlaubt eine
on in die Ereignisse der 1960er Jahre hineinzu- bessere Kenntnis der Haltungen in diesen Grup-
lesen. Denn erst durch ihre nachholende Erzähl- pen es, die von den 68ern eingegangenen sozia-
handlung in den Medien konstituierten sich die len Allianzen nachzuzeichnen und so zu verste-
68er seit den späten 1970er Jahren als eine Ge- hen, warum sich manche Leitideen der Proteste
neration. 20 Für jene, die zu den entsprechenden seit den 1970er Jahren vergleichsweise schnell in
Geburtsjahrgängen gehörten, war der Beitritt zur der Gesellschaft durchsetzen konnten.
medialen Erzählgemeinschaft der 68er attraktiv,
weil er die eigene Biografie im Rahmen der bun- ANDERE QUELLEN UND EIN
desrepublikanischen Geschichte sinnhaft aufwer- „ANDERES ACHTUNDSECHZIG“
tete. Man konnte sich im Rückblick als Teil einer
Bewegung feiern, die den westdeutschen Staat de- Zahlreiche langfristig wichtige lebensweltliche
mokratisiert und mit braunen Hinterlassenschaf- Veränderungen nahmen in den 1960er Jahren in
privaten oder semi-privaten Zusammenhängen
18 Vgl. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, ihren Ausgang – so etwa in Frauengruppen, Fa-
München 2008; Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest milien, Schulen oder Kindergärten. Zur Untersu-
in West Germany and the United States in the Global Sixties,
chung dieser Kontexte braucht es Quellen jenseits
Princeton 2011; Anne Rohstock, Von der „Ordinarienuniversität“
zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte
der klassischen Bestände in staatlichen Archiven
in Bayern und Hessen 1957–1976, München 2010; Nikolai Wehrs, und Universitätsbibliotheken, da die routinemä-
Protest der Professoren. Der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ in ßig ausgewerteten Ministerialakten, Presseartikel,
den 1970er Jahren, Göttingen 2014. Parlamentsdebatten, Romane oder Autobiogra-
19 Vgl. Christina Benninghaus, Das Geschlecht der Generation.
fien vor allem Debatten zwischen überwiegend
Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um
1930, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur
männlichen Bildungsbürgern wiedergeben. Gera-
Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, de für die Zeitgeschichte ist diesem Dilemma rela-
S. 127–158. tiv leicht zu entkommen. Es bieten sich einerseits
20 Zum Prozess der „Generationsrede“ Benjamin Möckel, zeitgenössisch forschungsproduzierte Daten der
Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die „Kriegsjugend-
generation“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften,
Göttingen 2014, S. 9, S. 16 f. Vgl. Bernd Weisbrod, Generation 21 Axel Schildt, Überbewertet? Zur Macht objektiver Entwick-
und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: APuZ lungen und zur Wirkungslosigkeit der „68er“, in: Wengst (Anm. 2),
8/2005, S. 3–9. S. 88–102, hier S. 93.

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Zeitgeschichte/n  APuZ

Sozialwissenschaften, Psychologie oder Ethnolo- Zusätzlich lagen die Transkripte einer zwischen
gie an. Dazu gehören etwa Umfragen, auf Ton- Mai 1967 und August 1968 entstandenen psy-
band konservierte oder transkribierte Gespräche chologischen Studie vor, bei der 180 Männer und
und statistisch aufbereitete Datenbasen. 22 Ande- Frauen aus dem Köln-Bonner Raum „im mittle-
rerseits können überlebende Zeitzeugen befragt ren Erwachsenenalter“ (Jahrgang 1909 bis 1934)
oder auf abgeschlossene lokale Interviewprojekte zur „heutigen Jugend“ und zum Wandel der Er-
zurückgegriffen werden. Eine sorgfältige Histori- ziehungsnormen befragt worden waren. 25 Die
sierung des zeitgenössischen Projektumfelds und übliche Konzentration auf Jugend, Männer, Ge-
der Querabgleich mit anderen Quellen ist dabei bildete und Städter wurde mit diesen Quellen
jeweils unabdingbar. aufgebrochen und der Einblick in die private und
Meine Studie zum „anderen Achtundsech- familiäre Sphäre ermöglicht. Ein weiterer Vor-
zig“ stützt sich wesentlich auf solche Quellen aus teil ergab sich aus den quantitativen Begleitdaten.
dem Bonner Raum. Neben der Sekundärauswer- Nur durch sie war es möglich, beispielsweise zu
tung einer 2005/06 entstandenen Zeitzeugenbe- beziffern, wie viele der befragten alten Menschen
fragung des Bonner Stadtmuseums zum Thema über starke Konflikte mit ihren Kindern berichte-
„Achtundsechzig“ wurde vor allem der Bestand ten (überaus wenige) oder wie viele der Befragten
der „Bonner Längsschnittstudie des Alters“ mittleren Alters von ihren Eltern sexuell aufge-
(­BOLSA) genutzt. Dies war die erste deutsche klärt worden waren (etwa 2 Prozent).
gerontologische Längsschnittstudie und fand am Ohne die Ergebnisse meiner Untersuchung
psychologischen Institut der Bonner Universität hier vollständig darlegen zu können, wurden
statt. 222 alte Leute reisten seit 1965 in regelmä- mit diesen Quellen doch die Konturen eines
ßigen Abständen aus dem Rheinland, Ruhrgebiet deutlich anderen Bildes von „Achtundsech-
und Rhein-Main-Gebiet nach Bonn, um sich in- zig“ erkennbar. Zunächst bestätigte sich, dass
terviewen zu lassen. Sie waren kleine Angestellte die späten 1960er Jahre auch im Bonner Raum,
und Arbeiter, Kaufleute, Handwerker und Haus- also in der Provinz, politische Unruhen aus-
frauen. Das von den Professoren Hans Thomae lösten, die die sozialen Verhältnisse in Bewe-
und Ursula Lehr geleitete Forschungsprojekt gung brachten. An den Protestaktionen waren
zielte auf Erkenntnisse über Veränderungen der neben der radikalen studentischen Linken und
menschlichen Persönlichkeit im Alter. 23 Für die dem SDS, der in den lokalen Medien die größ-
Untersuchung des „anderen Achtundsechzig“ te Resonanz erfuhr, auch zahlenmäßig größe-
war die BOLSA aus mehreren Gründen ideal: re reformerische und liberale, ja sogar manche
Das Sample der zwischen 1890 und 1909 Gebore- konservative Gruppen beteiligt. Außerdem hat-
nen war weitgehend repräsentativ für die Bundes- te seit 1968 eine sehr aktive Frauengruppe (der
republik. Männer und Frauen waren gleich stark Bonner „Arbeitskreis Emanzipation“) bestan-
vertreten, nur jeder Zwölfte hatte eine Oberschu- den. Diese Frauen hatten sich vom Bonner SDS
le besucht, und 60 Prozent wohnten in Orten un- abgespalten, einen Lektürezirkel gegründet,
ter 100 000 Einwohnern. Alle Gespräche wurden Flugblätter verteilt, Schülerinnen mobilisiert,
auf Magnettonband aufgenommen und in Ko- Wahlkampfveranstaltungen besucht und Vorle-
des verschlüsselt, um psychologische und sozia- sungen von frauenfeindlichen Professoren ge-
le Vorgänge statistisch berechenbar zu machen. 24 sprengt. Sie hatten sogar eine landesweite De-
batte über die Diskriminierung von Mädchen in
den Schullehrplänen losgetreten. Trotzdem war
22 Vgl. Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Arbeitskreis gänzlich in Vergessenheit gera-
der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotentiale und Relevanzgewin-
ten. Ein lokalhistorisches Projekt des Stadtmu-
ne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2/2014,
S. 173–196.
seums zum 40. Jahrestag von „Achtundsechzig“
23 Zum Studiendesign und -team vgl. von Hodenberg (Anm. 5), erwähnte die Frauengruppe weder in der Aus-
S. 22, S. 26 ff., S. 39 f., S. 68 ff. stellung noch in der dazugehörigen Begleitpu-
24 Der Bestand, mit über 3000 Stunden Gesprächen, liegt im blikation. Keine der Beteiligten war in dem In-
Historischen Datenzentrum der Universität Halle. Zum Sample vgl.
Maria Renner, Strukturen sozialer Teilhabe im höheren Lebens-
alter mit besonderer Berücksichtigung der sozialen Beziehungen 25 BOLSA-Bestand (Anm. 24), A17; Helga Margarete Merker,
zwischen den Mitgliedern der erweiterten Kernfamilie, Dissertation Generations-Gegensätze. Eine empirische Erkundungsstudie über
Bonn 1969, S. 42, S. 46. die Einstellung Erwachsener zur Jugend, Darmstadt 1973.

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APuZ 38–39/2018

terviewprojekt mit 68ern aus dem Jahr 2005/06 68er-Kindern kam, drehte sich dieser weit eher
berücksichtigt worden. Damit waren sowohl um kommunistische Neigungen der Jüngeren als
die antipatriarchalische als auch die reformeri- um die NS-Nähe der Älteren.
sche Ausrichtung der Bonner Geschehnisse im Diese Resultate säen Zweifel am gängigen
historischen Gedächtnis ausradiert worden. Argumentationsmuster, dass die 68er-Rebellen
Dagegen war nachträglich eine starke Auf- gegen ihre Nazi-Eltern revoltiert hätten. 27 Den
wertung des Topos vom Vater-Sohn-Konflikt Kern von „Achtundsechzig“ im Vater-Sohn-
erfolgt. Denn der bekannteste Bonner SDS-Ak- Konflikt zu suchen (beispielsweise vom Ge-
tivist, Hannes Heer (später Kopf der „Wehr- nerationskonflikt über „die Schuld der Väter“
machtsausstellung“ zu den Verbrechen deutscher und vom Angriff der Jungen auf die schweigen-
Soldaten im Zweiten Weltkrieg), hatte sich mit den Patriarchen der „NS-Funktionsgeneration“
seinem Vater wegen dessen NSDAP-Mitglied- zu reden 28), erscheint müßig. Im Vergleich zum
schaft überworfen – und dies immer wieder in wenig ausgeprägten Generationskonflikt sollte
Presse und Fernsehen kommentiert. Heer gehör- vielmehr der durch „Achtundsechzig“ deutlich
te zu einer Handvoll atypischer Einzelfälle. Nur verschärfte Geschlechterkonflikt betont werden.
zwei von 22 befragten Bonner 68ern lebten den Denn die Frauengruppen und Kinderläden, die
offenen Konflikt mit ihren Eltern. Im Regelfall 1968 von den Frauen im SDS gegründet wurden,
hatten studentische Aktivisten die NS-Vergan- waren der Beginn der zweiten deutschen Frau-
genheit zusammen mit ihren Eltern beschwie- enbewegung und wurden ergänzt durch zahllose
gen, oder aber sie waren bereits im Elternhaus private Auseinandersetzungen über geschlechts-
sozialistisch oder sozialdemokratisch sozialisiert spezifische Aufgabenteilung in der Familie. 29
worden. Nicht zwei, sondern drei familiäre Ge- Die 68erinnen waren mehr als die namenlosen
nerationen lebten miteinander, und die mittlere Anhängsel der Genossen oder die „Bräute“ der
Generation der Eltern vermittelte häufig zwi- Revoluzzer – sie waren Akteurinnen, die einen
schen Jugend und Großeltern. Diese Ergebnis- langfristig wichtigen gesamtgesellschaftlichen
se decken sich mit zeitgenössischen Meinungs- Wandel anstießen, selbst wenn dies von den zeit-
umfragen, die damals ein vergleichsweise gutes genössischen Massenmedien nicht erkannt wur-
Vertrauensverhältnis und hohe Werteüberein- de. Dieser antipatriarchalische Impuls bleibt
stimmungen zwischen Eltern und Jugendlichen ein wichtiger Teil des antiautoritären Erbes von
bezeugten, wie auch mit den Ergebnissen gro- „Achtundsechzig“.
ßer Oral-history-Projekte, die die Dominanz des
privaten Beschweigens und Verniedlichens her-
ausarbeiteten. 26 Die 68er beriefen sich zwar öf-
fentlich auf die Kluft zwischen der Jugend und
dem (abstrakten) Establishment, aber riskierten
den privaten Kleinkrieg zwischen den familiären
Generationen so gut wie nie. Falls es überhaupt
zum politischen Streit zwischen Eltern und ihren

26 Vgl. von Hodenberg (Anm. 5), S. 55 ff.; Piotr Oseka/Polymeris


Voglis/Anna von der Goltz, Families, in: Robert Gildea/James
Mark/Anette Warring (Hrsg.), Europe’s 1968. Voices of Revolt, Ox-
ford 2013, S. 51; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschug-
gnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im
Familiengedächtnis, Frank­furt/M. 2002; Detlef Siegfried, Time is on
my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der
60er Jahre, Göttingen 2006, S. 65 ff.
27 Klassisch etwa bei Thomas A. Kohut, A German Generation.
An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven CHRISTINA VON HODENBERG
2012; Karin Wetterau, 68. Täterkinder und Rebellen, Bielefeld
ist Direktorin des Deutschen Historischen Instituts
2017.
28 Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest,
London und Professorin für Europäische Geschichte
München 2008, S. 87, S. 84; vgl. Aly (Anm. 11). an der Queen Mary University of London.
29 Vgl. Schulz; Zellmer; Kätzel; Dehnavi (alle Anm. 12). c.hodenberg@qmul.ac.uk

36
Zeitgeschichte/n  APuZ

BEHINDERT/NICHT BEHINDERT
Begrifflichkeiten, Konzepte
und Modelle in der Disability History
Gabriele Lingelbach

Historiker und Historikerinnen, die sich in die Befähigung zur Erwerbsarbeit bestimmte: Als
Deutschland mit der Geschichte sozialer Un- behindert galt, wer wegen einer physischen, ko-
gleichheit befasst haben, untersuchten lange Zeit gnitiven oder psychischen „Minderbefähigung“
vor allem die Ursachen und Folgen von Klassen-, nicht oder nur eingeschränkt über Erwerbsar-
Schicht-, Standes- oder Milieuzugehörigkeiten. beit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte
Besonders die sich seit den 1960er Jahren in der und deshalb gegebenenfalls Anspruch auf Aus-
Bundesrepublik etablierende deutsche Sozialge- gleichszahlungen, Rehabilitationsmaßnahmen
schichte hat hier ihren Schwerpunkt gelegt. 01 In oder bevorzugte Einstellung hatte. Zum ande-
den 1980er Jahren avancierte Gender zu einer ren aber entwickelte sich im Zeitverlauf ein Be-
weiteren Achse der Ungleichheit, die intensiv er- hinderungsbegriff, der sich nicht ausschließlich
forscht wurde. 02 Und noch später kam die Eth- an der Erwerbsarbeit orientierte, sondern zusätz-
nizität (in den USA würde man eher den Begriff lich die sozialen Teilhabechancen als Gradmesser
race verwenden) als weitere Ungleichheitskate- für Behinderung ansah und dadurch noch ganz
gorie hinzu. Heutzutage ist das Forschungsfeld andere Bevölkerungsgruppen umfasste als den
gegenüber den 1980er Jahren deutlich plura- (ursprünglich vornehmlich männlich gedachten)
ler geworden: Sexuelle Orientierung, Alter oder ­Arbeitnehmer.
Staatsangehörigkeit werden nun ebenfalls als so- Doch auch unabhängig von diesen adminis-
ziale Ungleichheitskategorien analysiert und in trativen definitorischen Versuchen der Festle-
ihrer Wirkmächtigkeit in Hinblick auf Lebens- gung, wer nun als behindert gelten sollte und wer
lagen, soziale Teilhabechancen, gesellschaftlich nicht, haben Sozial- und Geisteswissenschaft-
kursierende Stereotypisierungen und Diskrimi- ler und damit das gesamte Feld der sogenann-
nierungs- sowie Privilegierungspraktiken un- ten Disability Studies intensiv über eigenständi-
tersucht. Auch Behinderung beziehungsweise ge definitorische Klärungen diskutiert. 04 Unter
Nichtbehinderung hat mittlerweile die Aufmerk- anderem wurde gefragt, ob nur Menschen mit
samkeit einiger deutscher Geschichtswissen- körperlichen oder kognitiven/geistigen Beein-
schaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler auf trächtigungen zur Gruppe der Menschen mit Be-
sich gezogen. 03 hinderungen zu zählen seien oder auch psychisch
erkrankte Menschen. Und damit eng verknüpft
DEFINITORISCHE wurde debattiert, ob nur diejenigen als behin-
SCHWIERIGKEITEN dert betrachtet werden sollten, deren Anders-
artigkeit durch die Umwelt wahrnehmbar ist,
Die Forscherinnen und Forscher der sogenann- weil sich an die sichtbaren Beeinträchtigungen
ten Disability Studies, zu denen die Disability in der Regel Diskriminierungspraktiken ando-
History zugeordnet wird, stehen allerdings vor cken. Sind, so wurde gefragt, also beispielsweise
einem definitorischen Problem: Wer ist eigent- Menschen, die an Schädigungen der inneren Or-
lich aus welchen Gründen der Gruppe der behin- gane leiden, dementsprechend nicht behindert,
derten Menschen zuzuordnen, deren Geschichte weil diese Schädigungen nicht augenfällig sind?
es zu erforschen gilt? Es gibt zum einen die bü- Und gehören dann Personen mit Auffälligkeiten,
rokratisch-medizinische Definition, die schon die von der ästhetischen Norm abweichen, wie
in der frühen Bundesrepublik Behinderung über etwa Menschen mit weit überdurchschnittlicher

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APuZ 38–39/2018

Gesichtsbehaarung (Hypertrichose), obwohl sie Menschen sind oft – wie viele Menschen mit Be-
an keinerlei somatischer Beeinträchtigung leiden, hinderungen ebenfalls – in ihren Aktionsradien
zu der Gruppe der Behinderten, weil ihre Um- eingeschränkt und haben aufgrund ihrer physi-
welt gegebenenfalls mit Stigmatisierung und Dis- schen oder auch kognitiven Disposition oft nur
kriminierung auf sie reagiert? 05 begrenzte soziale Teilhabemöglichkeiten, gelten
Ebenso ist fraglich, wie man Krankheit von aber dennoch nicht per se als behindert. Gehören
Behinderung abgrenzt. Über die zeitliche Dau- mithin Forschungen über Menschen mit alters-
er, wie vorgeschlagen wurde, gestaltet sich dies bedingten Beeinträchtigungen zum Themenfeld
schwierig, denn es gibt durchaus Menschen, die der Disability Studies? Denn schließlich hat be-
nur über kürzere Phasen ihres Lebens einmalig reits die Bioethikerin Rosemarie Garland Thom-
oder wiederkehrend behindert sind, etwa Per- son betont: „After all, we will all become disabled
sonen, die unter psychotischen Schüben leiden. if we live long enough.“ 06
Und es gibt lebenslang an Krankheiten leidende Ein Vorschlag zur definitorischen Klärung
Personen, die aber, wie etwa Diabetiker, nicht als war, Behinderung und Normalität in Opposition
behindert gelten (zumindest nicht im allgemei- zu setzen. 07 Wenn Menschen über ihre körper-
nen Sprachgebrauch). Mithin wird von fließen- lichen Merkmale und/oder ihre Verhaltenswei-
den Übergängen und oft auch gegenseitiger Be- sen von dem abweichen, was als normal in einer
dingtheit zwischen Krankheit und Behinderung Gesellschaft angesehen wird, und wenn sie auf-
auszugehen sein. Dies trifft auch auf das Verhält- grund dieser Normabweichung mit diskriminie-
nis zwischen Behinderung und Alter zu: Ältere renden Reaktionen und Strukturen konfrontiert
sind, dann seien sie der Gruppe der Behinderten
01 Vgl. Bettina Hitzer/Thomas Welskopp, Die Bielefelder Sozial- zuzuordnen. Aber auch diese Definition hat ihre
geschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Tücken, denn das, was gesellschaftlich als normal
Programm und seinen Kontroversen, Bielefeld 2010.
angesehen wird, ist ebenso wenig definitorisch
02 Vgl. Gunilla Budde, Geschlechtergeschichte, in: Christoph
Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung,
geklärt: Keinesfalls hat sich „die“ Gesellschaft da-
Frank­furt/M. 2000, S. 282–294. rauf verständigt, was als „normal“ zu gelten hat
03 Vgl. Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hrsg.), und was nicht.
Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Ge- Bisher hat sich innerhalb der Disability Stu-
schichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010; Sebastian Barsch/Anne
dies und damit auch der zu diesem Forschungs-
Klein/Pieter Verstraete (Hrsg.), The Imperfect Historian: Disability
Histories in Europe, Frank­furt/M. 2013; Gabriele Lingelbach/Anne
feld zugeordneten Disability History noch keine
Waldschmidt (Hrsg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen allgemein akzeptierte Definition von Behinde-
von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, rung durchgesetzt. Bei zukünftigen Definitions-
Frank­furt/M. 2016. Eine Überblicksdarstellung älteren Datums ist versuchen müssen sich die Forscherinnen und
Walter Fandrey, Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behin-
Forscher auch mit der Kritik auseinandersetzen,
derter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990. Neueren Datums
ist Carol Poore, Disability in Twentieth-Century German Culture,
die von Aktivistinnen und Aktivisten der Behin-
Ann Arbor 2007. Einführend in die Disability History und zu For- dertenbewegung an derlei Zuschreibungsprakti-
schungsarbeiten auf diesem Gebiet Elsbeth Bösl, Was ist und wozu ken geübt wird. So lehnen es beispielsweise einige
brauchen wir die Dis/ability History?, in: Hans-Werner Schmuhl/ taubstumme Menschen ab, als „behindert“ kate-
Ulrike Winkler (Hrsg.), Welt in der Welt. Heime für Menschen mit
gorisiert zu werden, und reklamieren, als Taub-
geistiger Behinderung in der Perspektive der Disability History,
Stuttgart 2013, S. 21–41; Gabriele Lingelbach/Sebastian Schlund,
stumme eine sprachliche Minderheit mit eigener
Disability History, 8. 7. 2014, http://docupedia.de/zg/Disability_ Kultur zu sein (deaf culture).
History; Monica Baar, De-Pathologizing Disability: Politics, Culture Ähnliches gilt für die verwendete Termino-
and Identity, in: Neue Politische Literatur 2017, S. 281–303. logie: In der Forschung werden unterschiedli-
04 Zu den Disability Studies siehe beispielsweise Gary L. Alb-
che Begriffe benutzt, um die zu untersuchende
recht/Katherine D. Seelman/Michael Bury (Hrsg.), Handbook of
Disability Studies, Thousand Oaks 2000; Markus Dederich, Körper,
Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, 06 Rosemarie Garland Thomson, Seeing the Disabled. Visual
Bielefeld 2007. Zur Genese der Disability Studies im deutsch- Rhetorics of Disability in Popular Photography, in: Paul K. Long-
sprachigen Raum siehe Lisa Pfahl/Justin J. W. Powell, Subversive more/Lori Umanski (Hrsg.), The New Disability History. American
Status: Disability Studies in Germany, Austria, and Switzerland, in: Perspectives, New York 2001, S. 335–375, hier S. 337.
Disability Studies Quarterly 2/2014, http://dsq-sds.org/article/ 07 Vgl. Anne Waldschmidt, Normalität – ein Grundbegriff in der
view/4256/3596. Soziologie der Behinderung, in: Rudolf Forster (Hrsg.), Soziologie
05 Vgl. Sharon N. Barnartt, Disability as a Fluid State. Introduc- im Kontext von Behinderung. Theoriebildung, Theorieansätze und
tion, in: Research in Social Science and Disability 5/2010, S. 1–22. singuläre Phänomene, Bad Heilbrunn 2004, S. 142–157.

38
Zeitgeschichte/n  APuZ

Gruppe zu benennen. 08 So gibt es noch einige in den späten 1970er Jahren das soziale Modell
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von Behinderung entwickelt, das betont, dass Be-
den Begriff „Behinderte“ verwenden. Allerdings hinderung erst durch gesellschaftliche diskrimi-
ist dieser Terminus dafür kritisiert worden, dass nierende Praktiken entstehe. Nach dem von der
er die so bezeichneten Personen auf die eine Ei- Behindertenbewegung verwendeten Motto „be-
genschaft des Behindert-Seins reduziere. Um dies hindert ist man nicht, behindert wird man“ un-
zu umgehen, verwenden viele Wissenschaftlerin- terscheidet man im sozialen Modell das impair-
nen und Wissenschaftler die Wortkombination ment, also die körperliche, kognitive oder auch
„behinderte Menschen“. Immer gebräuchlicher psychische Beeinträchtigung, auf der einen Sei-
wurde auch „Menschen mit Behinderung“, um te von der disability, also der gesellschaftlich
zu betonen, dass die Tatsache der Behinderung bedingten Behinderung, auf der anderen Seite.
den betroffenen Personen nicht inhärent ist. Viele Forscherinnen und Forscher, die dieses Modell
Forscherinnen und Forscher verwenden dagegen vertreten, untersuchen vor allem jene politischen,
eher „Menschen mit Behinderungen“, um so he- wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die die
rauszustreichen, dass es viele Formen von Behin- Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen
derungen gibt, die das Leben der so Bezeichneten (negativ) beeinflussen. Doch auch dieses Modell
beeinflussen. Dass sich die Terminologie in Bezug wurde wiederum kritisiert, unter anderem, weil
auf die zu untersuchende Gruppe im Fluss befin- es den Körper als Träger des impairment als et-
det, liegt wiederum auch an aktuellen Debatten was Ahistorisches, Unveränderliches und Gege-
aus der Behindertenbewegung, die in die akade- benes fasse, was gerade neuere körpergeschichtli-
mische Welt hineingetragen werden. che Arbeiten mit guten Argumenten angezweifelt
haben. Vertreterinnen und Vertreter eines dritten,
MODELLE VON des sogenannten kulturellen Modells von Behin-
BEHINDERUNG derung haben diese Kritik aufgegriffen und gehen
unter anderem der Frage nach, wie sich gesell-
Doch nicht nur hinsichtlich der zu verwendenden schaftliche Stereotypisierungs- und Diskriminie-
Begrifflichkeiten und deren inhaltlicher Füllung, rungspraktiken an das Körperliche andocken und
sondern auch in Hinblick auf die Konzeptionie- Behinderung erst durch Interpretationen, Re-
rung des Untersuchungsgegenstandes Behinde- präsentationen und Inszenierungen konstruiert
rung herrscht keine Einigkeit in der Forschung, wird. Mittlerweile plädieren aber viele Stimmen
vielmehr existieren hierfür unterschiedliche Mo- dafür, dass sich zumindest das soziale und das
delle. 09 Älteren Datums, aber immer noch in vie- kulturelle Modell durchaus miteinander verein-
len Studien präsent, ist das medizinische oder baren lassen und dass es eher von der Fragestel-
auch individuelle Modell, das Behinderung als ei- lung abhängt, mit welcher Perspektivierung man
nen individuellen Defekt definiert, den es durch auf sein empirisches Material zugreift.
Experten und Expertinnen wie etwa Mediziner,
Orthopädinnen, Therapeuten und weiteren zu DIE PERSPEKTIVE DER
beheben oder zu lindern gelte. Hier wird Behin- DISABILITY HISTORY
derung als im Individuum verortetes Defizit auf-
gefasst und pathologisiert. In kritischer Ausein- Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Behin-
andersetzung mit dieser Sichtweise wurde bereits derung war lange Zeit stark gegenwarts- und
teilweise anwendungsorientiert und damit von
Disziplinen wie der Soziologie, den Rehabili-
08 Vgl. Kai Felkendorff, Ausweitung der Behinderungszone.
tationswissenschaften oder der Sozialarbeits-
Neuere Behinderungsbegriffe und ihre Folgen, in: Günther
Cloerkes (Hrsg.), Wie man behindert wird. Texte zur Konstruktion
forschung geprägt. Doch je intensiver sich auch
einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen, Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichts-
Heidelberg 2003, S. 25–52. wissenschaftler mit dem Phänomen Behinderung
09 Vgl. Elsbeth Bösl, Dis/ability History: Grundlagen und beschäftigt haben, desto stärker konnten sie die
Forschungsstand, 7. 7. 2009, www.hsozkult.de/literaturereview/id/
Historizität und damit die Variabilität von Zu-
forschungsberichte-1113; Anne Waldschmidt, Warum und wozu
brauchen die Disability Studies die Disability History? Program-
schreibungspraktiken und gesellschaftlichen
matische Überlegungen, in: Bösl/Klein/Waldschmidt (Anm. 3), Umgangsformen mit behinderten Menschen so-
S. 13–27. wie von deren Lebenslagen herausarbeiten. Dies

39
APuZ 38–39/2018

beginnt bereits auf der begrifflichen Ebene: In Somit konnten Historikerinnen und Histori-
früheren Gesellschaften kursierten sehr unter- ker auch herausarbeiten, dass sich Handlungs-
schiedliche Wörter, um Behinderung zu benen- spielräume und Selbstbestimmungsmöglichkei-
nen beziehungsweise Menschen mit Behinde- ten von Menschen mit Behinderungen je nach
rung als solche zu identifizieren. In der Moderne Epoche und Umständen sehr unterschiedlich
unterlagen Begriffe wie „Krüppel“ oder „Idiot“ ausprägten.
zunächst einem fundamentalen Bedeutungswan- Doch die Disability History vermag noch
del und verschwanden dann im Zeitverlauf, neue mehr, als lediglich auf die historische Wandel-
Begriffe kamen auf wie „Versehrte“ oder „Be- barkeit begrifflicher Zuschreibungen und gesell-
schädigte“. 10 Anhand der Entwicklung der Be- schaftlicher Stereotypisierungen hinzuweisen.
nennungspraktiken lässt sich aufzeigen, wie sich So kann sie belegen, dass auch die Zuweisung
gesellschaftliche Einstellungen gegenüber Men- zur Gruppe der – im heutigen Sprachgebrauch –
schen mit Behinderungen verändert haben. Menschen mit Behinderungen variieren konnte:
Historiker und Historikerinnen haben au- Personen, die heute als behindert gelten, wären
ßerdem betont, in welchem Maße frühere gesell- früher gegebenenfalls nicht als solche wahrge-
schaftliche Stereotypisierungen von Menschen nommen worden. So galt beispielsweise jemand,
mit Behinderungen gegenüber heute üblichen der in der Frühen Neuzeit nach einer Beinampu-
Zuschreibungspraktiken variierten: In medialen tation eine Prothese trug, nicht per se als beein-
Darstellungen der Frühen Neuzeit war beispiels- trächtigt und daher berechtigt, Armenunterstüt-
weise eine sehr große Bandbreite von Einschät- zung zu erhalten. 13 Auf der anderen Seite wurden
zungen und Repräsentationen von behinderten früher Menschen als behindert angesehen, die
Menschen möglich, die von scharfer Ablehnung dies in vielen Gesellschaften heutzutage nicht
über deren Sentimentalisierung bis hin zu Be- mehr sind, man denke beispielsweise an homo-
wunderung reichen konnten. 11 Einige Arbeiten sexuelle Menschen, die noch bis vor kurzem als
zur Vormoderne betonen des Weiteren, dass Be- psychisch deviant kategorisiert wurden.
hinderung zwar durchaus als Strafe Gottes für Zudem haben neuere Studien verstärkt auf
begangene Sünden interpretiert werden konn- die Heterogenität der Personengruppen, die un-
te, aber ebenfalls als Wunderzeichen oder als ter dem Oberbegriff „Menschen mit Behinde-
besondere Gabe. Gerade Untersuchungen, die rungen“ zusammengefasst werden, hingewiesen
Menschen mit Behinderungen als Subjekte ihrer und damit auch auf interne Hierarchisierungen.
eigenen Geschichte analysieren, haben außer- Arbeiten zur bundesrepublikanischen Behinder-
dem viel dazu beigetragen, das Bild von behin- tenpolitik unterstreichen beispielsweise, in wel-
derten Menschen als Personen, die ihr Schick- chem Maße Kriegsversehrte zunächst im Ver-
sal erleiden und lediglich Objekte des Handelns gleich zu anderen Menschen mit Behinderungen
von Nichtbehinderten sind, zu korrigieren. Dies sozialpolitisch privilegiert wurden. 14 Anhand des
kann anhand des Beispiels von gesellschaftspoli- westdeutschen Behindertensports lässt sich wie-
tischen Forderungen tauber Menschen im langen derum zeigen, dass sich männliche Körperbehin-
19. Jahrhundert genauso nachgewiesen werden derte von behinderten Frauen und insbesondere
wie anhand der selbstadvokatorischen Behin- von Menschen mit geistigen Behinderungen ab-
dertenorganisationen in der Bundesrepublik. 12 zusetzen versuchten und auf einer privilegierten
Position beharrten, also ihrerseits zu diskriminie-
10 Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Exklusion und Inklusion durch renden Praktiken griffen. 15 Je mehr historische
Sprache. Zur Geschichte des Begriffs Behinderung, Berlin 2010. Studien erschienen, desto stärker wurde deutlich,
11 Vgl. Patrick Schmidt, Bettler, Kriegsinvaliden, Körpersensatio-
dass es „die“ Geschichte „der“ Menschen mit Be-
nen. Beeinträchtigte Menschen in printmedialen Diskursen des 17.
und 18. Jahrhunderts, Frank­furt/M. 2017.
12 Vgl. Ylva Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. The 13 So Mareike Heide, deren Dissertation zu Prothesen in der
German Deaf Movement 1848–1914, Bielefeld 2013; Jan Stoll, Frühen Neuzeit 2019 erscheint.
Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen 14 Vgl. Wilfried Rudloff, Überlegungen zur Geschichte der
mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frank­furt/M. bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform
2017; Gabriele Lingelbach/Jan Stoll, Die 1970er Jahre als 49/2003, S. 863–886.
Umbruchsphase der bundesdeutschen Disability History. Eine 15 Vgl. Sebastian Schlund, „Behinderung“ überwinden? Or-
Mikrostudie zu Selbstadvokation und Anstaltskritik Jugendlicher mit ganisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland
Behinderung, in: Moving the Social 50/2013, S. 25–52. (1950–1990), Frank­furt/M. 2017.

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Zeitgeschichte/n  APuZ

hinderungen nicht gibt, sondern stark differen- mit behinderten Menschen prägte 19 und dass die-
ziert werden muss. se Gewaltförmigkeit des Verhaltens gegenüber
Vor allem aber konnten Historikerinnen und den Betroffenen keinesfalls bereits 1945 endete. 20
Historiker feststellen, dass der gesellschaftliche Somit gelingt es Historikerinnen und Historikern
Umgang mit Menschen mit Behinderungen im auch, die Annahme zu hinterfragen, Menschen
Zeitverlauf sehr stark variierte: 16 Eine mediävis- mit Behinderungen seien im Verlauf der Entwick-
tische Studie weist beispielsweise nach, in wel- lung der Moderne zunehmend gesellschaftlich in-
chem Maße behinderte Familienmitglieder im tegriert worden und ihre Lebenslagen hätten sich
Mittelalter in Entscheidungsprozesse in Hinblick kontinuierlich verbessert.
auf Versorgung, Unterhalt und Pflege einbezogen Kurzum: Die Disability History kann an-
waren. 17 In mittelalterlichen Quellen finden sich hand vieler Beispiele die Zeit- und Kontextge-
zudem Hinweise darauf, dass man in früheren bundenheit der Lebenslagen von Menschen mit
Zeiten gegebenenfalls weniger defizitorientiert Behinderungen ebenso herausarbeiten wie den
handelte und eher die vorhandenen Fähigkeiten Wandel und auch die situative Bedingtheit der ge-
von beeinträchtigten Menschen betonte, und dass sellschaftlichen Zuschreibungspraktiken und des
eine Behinderung daher auch nicht per se zu ge- gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen. Damit ist
sellschaftlichem Abstieg und Exklusion führte. 18 sie auch für die gegenwartsorientierten Disabili-
Zugleich haben Untersuchungen zur Sterilisation ty Studies ein zentraler Bestandteil und speist in
von behinderten Menschen oder auch zur Eutha- dieses Forschungsfeld wichtige Perspektiven und
nasie gezeigt, wie und in welchem Maße in eini- Erkenntnisse ein. Und doch steht die Subdiszip-
gen Phasen der deutschen Geschichte (elimina- lin erst am Anfang ihrer Entwicklung, bestehen
torische) Gewalt den gesellschaftlichen Umgang doch noch viele Forschungslücken. So wissen
wir noch wenig über die Lebenslagen von behin-
derten Menschen im 19. Jahrhundert oder auch
16 Vgl. Klaus-Peter Horn/Bianca Frohne, On the Fluidity of
‚Disability‘ in Medieval and Early Modern Societies. Opportunities
der Menschen mit Behinderungen in der DDR. 21
and Strategies in a New Field of Research, in: Barsch/Klein/Ver- Ebenso existieren noch kaum intersektionale ge-
straete (Anm. 3), S. 17–40; Angela Schattner, Disabled to Work? schichtswissenschaftliche Analysen von Behinde-
Impairment, the In/ability to Work and Perceptions of Dis/ability in rung und damit kaum Studien zu den Interdepen-
Late Medieval and Early Modern Germany, in: Disability Studies
denzen zwischen dieser Achse der Ungleichheit
Quarterly 4/2017, http://dsq-sds.org/article/view/6105/4825.
Einen Überblick über neuere Ergebnisse der mediävistischen
mit anderen wie etwa der des Geschlechts, der
Forschung bietet Jan Ulrich Büttner/Bianca Frohne/Ivette Nuckel, Ethnizität, des Alters, der Religion oder der
Ausgegrenzt und abgeschoben? Das Leben körperlich und geistig Staatsangehörigkeit. Es bleibt daher zu hoffen,
beeinträchtigter Menschen im Mittelalter, in: Jahrbuch für histori- dass auch in Zukunft die Disability History nicht
sche Bildungsforschung 16/2010, S. 141–168.
nur die Disability Studies, sondern auch die „all-
17 Vgl. Bianca Frohne, Leben mit „kranckhait“. Der gebrechliche
Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhun-
gemeine“ Geschichtswissenschaft durch weitere
derts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne, Forschungsarbeiten bereichern wird.
Affalterbach 2014.
18 So das Argument in einem Aufsatz von Cordula Nolte, der
demnächst in der Zeitschrift „Geschichte in Wissenschaft und
Unterricht“ erscheint.
19 Zur Zwangssterilisation siehe u. a. Gisela Bock, Zwangssterili-
sation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frau-
enpolitik, Opladen 1986; zur „Euthanasie“ und ihrer Vorgeschichte
siehe das Standardwerk von Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene,
Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernich-
tung „lebensunwerten Lebens“. 1890–1945, Göttingen 1992;
zudem Michael Burleigh, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutsch-
land 1900–1945, München 2002; Dieter Kuntz (Hrsg.), Deadly
Medicine. Creating the Master Race, Washington D. C. 2004.
20 Vgl. Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Gewalt in der
Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein
GABRIELE LINGELBACH
von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010; dies. (Anm. 3).
21 Allerdings startet gerade ein Kooperationsprojekt zwischen
ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der
der Universität Kiel und der Bundeswehruniversität München, die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
sich der Disability History Ostdeutschlands annimmt. lingelbach@histosem.uni-kiel.de

41
APuZ 38–39/2018

QUEERE GESCHICHTE
UND DER HOLOCAUST
Anna Hájková

Queere jüdische Opfer des Holocaust sind bis heu- hen Zeugnissen wurden auch homophobe Muster
te kaum ein Thema in der Historiografie. Das liegt etabliert, die lange nachwirken sollten. Ein Beispiel
auch daran, dass sie die dominierenden Kategori- ist „Die Todesfabrik“, 1945 in der Tschechoslowa-
en verletzen: Fast immer wird der verfolgten Ho- kei von den Holocaust-Überlebenden Ota Kraus
mosexuellen als Nichtjuden gedacht, die jüdischen und Erich Kulka publiziert. In einer Passage be-
Opfer gelten implizit immer als heterosexuell. Dass richten die Autoren über die Häftlinge mit dem
sich diese Kategorien überkreuzen könnten, er- rosa Winkel: „[g]etragen von ‚schwulen Brüdern‘,
weckt Unverständnis und Unbehagen, was auch Menschen, die wegen sexueller Perversion inhaf-
auf Vorbehalte gegenüber gleichgeschlechtlichem tiert worden sind, Homosexualität. Im Lager hat-
Verhalten in den Konzentrationslagern selbst zu- ten sie fantastische Gelegenheit, um so weit wie
rückgeht. Mein Beitrag zeigt, dass wir bei genaue- möglich ihren Einfluss zu erweitern und die maxi-
rer Suche auch dort queere Spuren finden können, male Anzahl junger Burschen zu mißbrauchen.“ 04
wo Pro­ta­go­nist_​innen fast immer in einer Katego- Die Beschreibung entsprach nicht der Wirk-
rie verortet werden: als Juden, Homosexuelle, Frau- lichkeit, ist aber symptomatisch für den Umgang
en oder Mitglieder einer Organisation. Mehrfache mit den Häftlingen, die wegen § 175 oder § 175a
Zugehörigkeiten 01 zu erkennen und gemeinsam zu (im Folgenden vereinfacht § 175) Strafgesetzbuch
untersuchen, trägt zu einem besseren Verständnis verfolgt wurden. 05 Die Männer mit dem rosa
der Geschichte der nationalsozialistischen Verfol- Winkel stellten fast immer die untersten Ränge
gungs- und Vernichtungspolitik bei. der Lagergesellschaft und gelangten nur selten in
Ich verwende in diesem Beitrag grundsätzlich eine Machtposition. Der selbstgewählte Zugang
die Termini „gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivi- zu sexueller Aktivität war in der Regel nur Funk-
täten“ und „queere“ Protagonist_innen und folge tionshäftlingen (Kapos) vorbehalten; manche un-
damit dem Plädoyer von Forscher_innen wie Re- terhielten ausbeutende Beziehungen mit abhängi-
gina Kunzel, John Howard und anderen, die Bina- gen Häftlingen, die oft sehr jung waren (genannt
rität von Homo- und Heterosexualität aufzulösen, Pipel). 06 In den Lagern gehörte Gewalt auch un-
die in der Realität nicht existiert. 02 Der Begriff „ho- ter den Häftlingen zum Alltag, eingeschlossen se-
mosexuell“ 03 greift oft zu kurz, während das Kon- xuelle Gewalt. Die Übergänge zwischen sexuel-
zept „queer“ in seiner Offenheit der Komplexität lem Tauschhandel, Prostitution, Beziehungen mit
gerecht wird, mit der die historischen Protagonist_ Jugendlichen und Kindern und Vergewaltigung
innen mit ihrer Sexualität umgingen und sie prakti- waren fließend, für die Beteiligten waren die Un-
zierten und die mit ihrer Identität nicht verbunden terschiede aber wichtig. 07
sein musste. Ich behalte Begriffe wie „homosexu- Außenstehende nahmen alle Häftlinge, die
ell“, „schwul“ oder „lesbisch“ aber dort bei, wo sie mit gleichgeschlechtlicher Sexualität zu tun hat-
in der Geschichtsschreibung etabliert sind und/oder ten, tendenziell unterschiedslos mit Abscheu
als Selbstbeschreibung benutzt werden. wahr. Deswegen waren Schilderungen wie von
Kraus und Kulka, die Männer mit rosa Winkel
GLEICHGESCHLECHTLICHE mit „perversen“, vergewaltigenden Kapos gleich-
SEXUALITÄT IN setzten, lange Zeit so wirkmächtig in der Histo-
DER LAGERGESELLSCHAFT riografie des Holocaust. So listet die Historikerin
Lucy Dawidowicz „Prostituierte, Homosexuelle,
Die ersten Studien zu Holocaust und KZs wurden Perverse“, die in die Lager deportiert wurden, in
von den Überlebenden geschrieben. In diesen frü- einer Reihe auf; 08 während die Soziologin Anna

42
Zeitgeschichte/n  APuZ

Pawełczynska queere Aktivität in Auschwitz als historikerin Regina Kunzel, nach denen jegliche
„deeply immoral or deeply demoralizing“ und Sexualität, wie alles soziale Handeln, kontextbe-
die Menschen, die gleichgeschlechtliche Bezie- dingt ist. In diesem Lichte sollte auch die gleich-
hungen eingingen, als „Päderasten“ beschreibt. 09 geschlechtliche Sexualität im Gefängnis oder im
Bis heute lasen sich unkritisch wiedergegebe- KZ verstanden werden. 13
ne Aussagen, die den Geist der Homophobie at- Wie aber lässt sich der Hass gegenüber gleich-
men, in Studien zum Holocaust finden. 10 Erst die geschlechtlichem Verlangen in den Lagern er-
Forscher_innen, die die Geschichte der Homose- klären? Feministische Forscherinnen wie Ulrike
xuellenverfolgung in der NS-Zeit untersuchten, Janz und Insa Eschebach konnten in ihrer Analy-
unterschieden zwischen verschiedenen queeren se der Homophobie der Lagergesellschaft heraus-
Gruppen von Häftlingen im Lager: den Funkti- arbeiten, dass diese als Abgrenzungsmechanis-
onshäftlingen und deren selbstgewählte Sexuali- mus in der chaotischen, brutalen Welt der Lager
tät; deren Partner, fast immer in abhängiger Posi- verstanden werden kann. 14 Homophobie traf
tion; sowie den § 175er Häftlingen. 11 Frauen dabei oft härter als Männer. 15 Am Beispiel
Die gleichgeschlechtliche Sexualität in mono- der Gulag-Gesellschaft haben Historiker_innen
sexuellen Lagern wird zudem oft auch als „op- wie Dan Healey und andere gezeigt, dass Homo-
portune Homosexualität“ bezeichnet. 12 Dieser phobie auch in anderen Lager-Kontexten produ-
Begriff lehnt sich an die „situationale Homose- ziert wird. 16
xualität“ an, ein Konzept, das lange in der Ge- In Kämpfen von Häftlingen um Machpositio-
fängnisforschung benutzt wurde, um diese von nen im Lager 17 wurden gleichgeschlechtliche Ak-
einer „echten“ Homosexualität zu unterscheiden. tivitäten mitunter genutzt, um Kontrahenten zu
Hilfreich sind hier Ausführungen der Sexualitäts- diskreditieren, wie Nikolaus Wachsmann in seiner

01 Vgl. Rogers Brubaker/Frederick Cooper, Beyond Identity, in: 08 Lucy Dawidowicz, The Holocaust and the Historians, Cam-
Theory and Society 1/2000, S. 1–47. bridge, MA 1981, S. 8. Ähnlich auch David Rousset, A World
02 Vgl. Regina Kunzel, Criminal Intimacy. Prison and the Uneven His- Apart, London 1951, S. 35.
tory of Modern American Sexuality, Chicago 2002, S. 7; John Howard, 09 Anna Pawełczynska, Values and Violence in Auschwitz. A
Men Like That. A Southern Queer History, Chicago 1999, S. xviii. Sociological Analysis, Berkeley 1979, S. 98.
03 Vgl. Alexander Zinn, „Aus dem Volkskörper entfernt“? Homose- 10 Vgl. zuletzt David Cesarani, Final Solution. The Fate of the
xuelle Männer im Nationalsozialismus, Frank­furt/M. 2018, S. 28 f. Jews, 1933–1949, London 2016, S. 662.
04 Ota Kraus/Erich Schön (später Kulka), Továrna na smrt, Prag 11 Vgl. Alexander Zinn, Homophobie und männliche Homosexu-
1945, S. 47. Übersetzung der Autorin. alität in Konzentrationslagern. Zur Situation der Männer mit dem
05 § 175 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 28. 6. 1935 lautete: „Ein rosa Winkel, in: Insa Eschebach (Hrsg.), Homophobie und Devianz.
Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus,
ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Berlin 2012, S. 79–96.
§ 175 a StGB: „Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden 12 Vgl. Robert Sommer, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit
Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft: in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009,
1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch S. 201 f.
Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit 13 Vgl. Regina Kunzel, Situating Sex. Prison Sexual Culture in
ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen the Mid-Twentieth-Century United States, in: GLQ: A Journal of
zu lassen; 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch Lesbian and Gay Studies 3/2002, S. 253–270, hier S. 254.
einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis 14 Vgl. Ulrike Janz, Zeugnisse überlebender Frauen. Die Wahr-
begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben nehmung von Lesben/Lesbischem Verhalten in nationalsozialisti-
oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 3. ein Mann schen Konzentrationslagern, in: FRAZ München 2/1994, S. 21–28,
über einundzwanzig Jahren, der eine männliche Person unter 48–50; 3/1994, S. 20–23, 40–41; 1/1995, S. 48–51; Insa
einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder Eschebach, Geschichte und Gedenken. Homophobie, Devianz und
sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen; 4. ein Mann, der weibliche Homosexualität im Konzentrationslager Ravensbrück,
gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich in: dies. (Anm. 11), S. 65–79, hier S. 65; Claudia Schoppmann.
zur Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.“ Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität,
06 Vgl. Robert Sommer, Situational Homosexual Slavery of Young Pfaffenweiler 19972, S. 244–257.
Adolescent Boys in Nazi Concentration Camps, in: Hilary Earl/Karl 15 Vgl. Anna Hájková, Den Holocaust queer erzählen, in: Jahr-
Schleunes (Hrsg.), Lessons and Legacies: Expanding Perspectives on buch Sexualitäten 2018, Göttingen 2018, S. 86–110.
the Holocaust in a Changing World XI, Evanston 2014, S. 86–104. 16 Vgl. Dan Healey, Russian Homophobia from Stalin to Sochi,
07 Vgl. Heinz Heger, Die Männer mit dem rosa Winkel. Der London 2017, Kap. 1.
Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939–1945, 17 Vgl. z. B. Lutz Niethammer (Hrsg.), Der ‚gesäuberte‘ Antifa-
Hamburg 1972; Roman Frister, Die Mütze oder der Preis des schismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Doku-
Lebens, München 1997. mente, Berlin 1994.

43
APuZ 38–39/2018

differenzierten Studie zur KZ-Gesellschaft zeigen ben Forschungen von Richard Plant, Geoffrey
konnte. 18 Manchmal wurden politische Häftlin- Giles, Günter Grau, Andreas Pretzel, Lutz van
ge für § 175er Häftlinge auf Transporten in beson- Dijk, Albert Knoll, Jörg Hutter, Alexander Zinn
ders tödliche Lager wie Nordhausen-Dora aus- und anderen. 24 Die Forschung konzentrierte
getauscht. Der Publizist Eugen Kogon begründet sich zunächst darauf, die Verfolgung zu erfas-
diesen Mechanismus damit, dass „das Lager im- sen; viele Studien waren regional oder biografisch
mer die verständliche Tendenz hatte, weniger angelegt, 25 wiesen auf beträchtliche regionale Un-
wichtige und wertvolle oder als nicht wertvoll an- terschiede hin sowie auf die Bedeutung der De-
gesehene Teile abzuschieben“. 19 Die Lagergesell- nunziation. 26 Nicht alle queeren Protagonist_in-
schaft hierarchisierte und stellte die „Anderen“ nen, auf die die Gestapo aufmerksam wurden,
her, um den jeweils eigenen Wert zu betonen. Die- wurden automatisch verhaftet; gerade das sozia-
ser Punkt verdeutlicht, dass die Häftlingsgesell- le Kapital, wozu auch geschlechtskonformes Ver-
schaft eben eine wirkliche Gesellschaft war und halten des Opfers gehörte, beeinflusste, ob sie
nicht, so Hannah Arendt oder Wolfgang Sofsky, von ihrer Umgebung toleriert und gedeckt wur-
eine gebrochene, atomisierte Masse. 20 den. 27 Geschätzt ein Viertel der queeren Männer,
78 000, wurden bis 1940 ermittelt, 53 000 nach
GESCHICHTE DER § 175 und § 175a zwischen 1933 und 1945 verur-
HOMOSEXUELLENVERFOLGUNG teilt und bis zu 15 000 in die Konzentrationslager
verschleppt. 28
Dass es gelang, neben der erdrückenden Homo- Die Lage der queeren Frauen in der NS-Zeit
phobie ein anderes historiografisches Narrativ ist im Vergleich zu den Männern unterbelichtet, 29
zu etablieren, verdanken wir der homosexuellen zudem sind die Ergebnisse innerhalb der klei-
Emanzipationsbewegung. Denn bis zu den 1970er nen Community der queeren Historiker_innen
Jahren war die Homosexuellenverfolgung in der umstritten. So lehnt es beispielsweise Alexander
NS-Zeit für die Geschichtswissenschaft kein The- Zinn ab, davon auszugehen, dass während des
ma. 21 Das änderte sich 1972 mit der Publikation Nationalsozialismus Frauen als lesbisch verfolgt
„Die Männer mit dem Rosa Winkel“ von Hans worden sind. 30 Argumentiert wird, dass § 175 im
Neumann unter dem Pseudonym Heinz Heger, Deutschen Reich nur Männer betraf; entspre-
in dem die Erlebnisse des wegen Homosexualität chende Berichte über die Inhaftierung von Frau-
verfolgten und im KZ inhaftierten Österreichers en in Konzentrationslagern aufgrund ihrer les-
Josef Kohout verarbeitet wurden. 22 Hegers Buch bischen Veranlagung ließen sich nicht belegen. 31
ist bis heute das bekannteste, was auch an dem Der Historiker Jens Dobler hält entgegen: „Wenn
Zeitpunkt der Veröffentlichung lag: Das fesselnde wir die Maßnahmen zur Unterbindung, Unter-
Zeugnis erschien kurz nach der Entkriminalisie- drückung und Einschüchterung von Lesben be-
rung der Homosexualität in Deutschland und Ös- trachten und noch dazu die generalpräventive Be-
terreich, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und
in einem Theaterstück, später auch als gleichnami- 24 Vgl. Richard Plant, The Pink Triangle. The Nazi War against
ger Film umgesetzt („Bent“). Homosexuals, New York 1986; Geoffrey Giles, The Denial of
Homosexuality: Same-Sex Incidents in Himmler’s SS and Police, in:
1976 begann der Soziologe Rüdiger Laut-
Dagmar Herzog (Hrsg.), Sexuality and German Fascism, New York
mann mit Forschungen zum Thema. 23 Seine Ar- 2005, S. 256–290.
beiten bleiben bis heute richtungsweisend, ne- 25 Vgl. Lutz van Dijk/Günter Grau, Einsam war ich nie. Schwule
unter dem Hakenkreuz 1933–1945, Berlin 2003.
26 Vgl. Stefan Micheler/Jürgen K. Müller/Andreas Pretzel, Die
18 Vgl. Nikolaus Wachsmann, KL: A History of the Nazi Concent- Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit und ihre Konti-
ration Camps, London 2015, S. 503. nuität, in: Invertito 4/2002, S. 8–51.
19 Eugen Kogon, Der SS-Staat, Stockholm 1947, S. 268. 27 Vgl. Giles (Anm. 24); Laurie Marhoefer, Lesbianism, Transvesti-
20 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York tism and the Nazi State. A Microhistory of a Gestapo Investigation,
1958, Kapitel 12, Sektion III; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des 1939–1943, in: American Historical Review 4/2016, S. 1167–1195.
Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993. 28 Vgl. Zinn (Anm. 3), S. 16; ders. (Anm. 11), S. 79. Die Schät-
21 Einen guten historiografischen Überblick bietet Zinn (Anm. 3), zungen schwanken allerdings zwischen 5000 und 15 000.
S. 11–23. 29 Eine von mir zusammengestellte Bibliografie ist zu finden unter
22 Heger (Anm. 7). https://sexualityandholocaust.com/blog/bibliography.
23 Rüdiger Lautmann, Seminar: Gesellschaft und Homosexualität, 30 Zuletzt Zinn (Anm. 3), passim.
Frankfurt/M. 1977. 31 Vgl. ders. (Anm. 11), S. 79.

44
Zeitgeschichte/n  APuZ

deutung des Paragrafen 175 sehen, die sich immer die Forschung zu queeren Frauen in Nationalso-
auch auf weibliche Homosexualität erstreckte, zialismus und Holocaust zu marginalisieren. Für
kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen, die lesbischen Opfer bedeutet das, dass bis heute
als dass Lesben ebenso Verfolgtengruppe waren um ihr Gedenken gekämpft wird. 37
wie Schwule.“ 32 Die bisherige Forschung fand
etwa ein Dutzend Fälle von Frauen, bei „deren QUEER
Konzentrationslagerhaft das Lesbischsein eine UND JÜDISCH
ursächliche Rolle gespielt haben könnte“. 33 Kon-
sens herrscht im Übrigen darüber, dass Frauen Sowohl für queere Männer als auch Frauen wur-
wegen gleichgeschlechtlicher Aktivitäten selte- de eine Verfolgung wahrscheinlicher, wenn sie
ner und anders verfolgt worden sind als Männer. auch jüdisch waren beziehungsweise so katego-
Nachgewiesen sind Fälle, in denen queere Frau- risiert wurden. Ein bekannter Fall ist Elsa Con-
en offiziell aus anderen Gründen verfolgt wur- rad, eine Betreiberin von einigen bekannten lesbi-
den (Sex mit Abhängigen, Missbrauch, Erregung schen Berliner Bars, die 1935 verhaftet wurde und
öffentlichen Ärgernisses, Prostitution, als „aso- im KZ Moringen inhaftiert war. Claudia Schopp-
zial“). 34 Zudem spielte das repressive Klima für mann zeigt, wie Conrads sexuelle Orientierung
Frauen im Allgemeinen wie für queere Frauen im zusammen mit ihrer „nichtarischen“ Herkunft
Besonderen eine Rolle. 35 für die Haft ausschlaggebend war. 38 Die Histo-
Die Verfolgung verlief bei Männern wie bei rikerin Kim Wünschmann beschreibt, wie aus
Frauen sehr oft intersektional: Gleichgeschlecht- Conrad „Die Jüdin Conrad“ wurde, behauptet
liche Sexualität war in der Regel nicht der einzi- aber, Conrad hätte nicht als lesbisch verfolgt wer-
ge Faktor. Allerdings schlug sich diese bei Män- den können, da Frauen nicht unter § 175 fielen. 39
nern anders als bei Frauen in den Akten nieder. So wird Conrad von Schoppmann innerhalb bei-
In Lager inhaftierte Frauen wurden zudem nicht der Identitätskategorien verortet, während die
mit dem rosa Winkel gekennzeichnet; es gab kei- lesbische Identität von Wünschmann als nicht so
ne spezielle Haftkategorie für als lesbisch verfolg- wichtig erachtet wird. Conrad selbst, im Exil im
te Frauen, was die Suche nach ihren Spuren sehr kenyanischen Nairobi angekommen, legte Wert
schwierig macht, wie die Historikerin Claudia darauf, sich nicht als Jüdin zu definieren. 40
Schoppmann festhält. 36 Bei der Verfolgung queerer Männer werden
Die häufige Auslassung der anderen Verhaf- die Kategorien „queer“ und „Jude“ von der His-
tungsumstände bei Männern könnte, wie ich toriografie nochmals anders verhandelt. Die His-
vermute, eine geschichtspolitische Funktion ha- toriker_innen, die zur Verfolgung der homose-
ben: die vorgestellte Schicksalsgemeinschaft der xuellen Männer forschen, schreiben kaum etwas
männlichen § 175-Opfer. Patriarchale Strukturen zu jüdischen Männern, die wegen Homosexuali-
in der Geschichtswissenschaft tragen dazu bei, tät verfolgt wurden; sie gehen davon aus, dass der
Verhaftungsgrund nach §  175 ausschlaggebend
32 Jens Dobler, Unzucht und Kuppelei: Lesbenverfolgung im war. 41 Lediglich der Historiker und Archivar
Nationalsozialismus, in: Eschebach (Anm. 11), S. 53–62, hier S. 61. an der KZ-Gedenkstätte Dachau Albert Knoll
33 Claudia Schoppmann, Zwischen strafrechtlicher Verfolgung
schreibt in seiner Studie zu homosexuellen Häft-
und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im „Dritten Reich“,
in: Eschebach (Anm. 11), S. 35–51, hier S. 48.
lingen in frühen Konzentrationslagern, dass das
34 Vgl. u. a. ebd.; Dobler (Anm. 32). Zur Situation in Öster-
reich, wo sowohl weibliche als auch männliche Homosexualität 37 Vgl. Anna Hájková/Birgit Bosold, Ich wollte nicht sterben,
kriminalisiert war, vgl. Angela H. Mayer, „Schwachsinn höheren bevor ich eine Frau geküsst habe. Lesbische Frauen in der NS-Zeit,
Grades“. Zur Verfolgung lesbischer Frauen in Österreich während 22. 11. 2017, www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/lesben-im-
der NS-Zeit, in: Burkhard Jellonek/Rüdiger Lautmann (Hrsg.), nationalsozialismus-ich-wollte-nicht-sterben-bevor-ich-eine-frau-
Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle, Paderborn u. a. gekuesst-habe/20603344.html.
2002, S. 83–93; Sylvia Köchl, „Wir vertrauen auf die subversive 38 Vgl. Claudia Schoppmann, Elsa Conrad – Margaret
Kraft der Kunst.“ Konflikte um Denkmäler für im Nationalsozia- Rosenberg – Mary Pünjer – Henny Schermann. Vier Portraits, in:
lismus verfolgte Schwule und Lesben, in: Lisa Bolyos/Katharina Eschebach (Anm. 11), S. 97–112, hier S. 100.
Morawek, (Hrsg.), Diktatorpuppe zerstört, Schaden gering. Kunst 39 Vgl. Kim Wünschmann, Before Auschwitz: Jewish Prisoners in
und Geschichtspolitik im Postnazismus, Wien 2012, S. 313–319, the Prewar Concentration Camps, Cambridge MA 2015, S. 113.
hier S. 316 f. 40 Vgl. ebd.
35 Vgl. Dobler (Anm. 32); Schoppmann (Anm. 33). 41 So beispielsweise Zinn (Anm. 3); Micheler/Pretzel/Müller
36 Vgl. ebd., S. 48. (Anm. 26).

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APuZ 38–39/2018

Verfolgungsmotiv Homosexualität bis 1938 im ten Holocaustopfer bis zuletzt als das, was ihnen
Vordergrund gestanden hätte, „die jüdische Iden- am wichtigsten war. 47 Martha Mosse, eine Kol-
tität kam erschwerend hinzu“. 42 Hingegen weisen legin Karminskis und Fürsts, die die die Woh-
Holocausthistoriker_innen wie Robert Gellately, nungsberatungsstelle geleitet hatte, wurde von
Saul Friedländer oder Kim Wünschmann darauf ihrer nichtjüdischen Partnerin getrennt; wären
hin, dass die Gestapo mit Vorliebe jüdische Ho- sie verheiratet gewesen, wäre sie geschützt ge-
mosexuelle verfolgte, und dass, wenn diese in ein wesen. Mosse überlebte das Ghetto, wurde aber
KZ eingewiesen wurden, ihre Überlebenschancen nach dem Krieg von Überlebenden beschuldigt,
noch geringer waren als die der „einfachen“ Ho- mit der Gestapo zusammengearbeitet zu haben.
mosexuellen. 43 Von Seiten der queeren Historiker Beate Meyer und Javier Samper Vendrell konn-
nehmen beide Identitätskategorien in den Blick ten Hinweise darauf finden, dass Mosse als quee-
nur eine Ausstellung des Schwulen Museums 44 re Frau ausgesucht wurde, um die Kollaborati-
und eine Untersuchung des tschechischen His- onsvorwürfe zu äußern, anstatt ihre männlichen
torikers Jan Seidl über das Schicksal des queeren Kollegen anzuklagen. 48
Brünner Theaterangestellten Gustav Bondi, der In Theresienstadt schlug queeren Frauen die
im Sommer 1941 nach Auschwitz deportiert und gleiche Abscheu wie in anderen KZs entgegen.
ermordet wurde. 45 Die Überlebende und Theresienstadt-Dokumen-
Die herausragende Rolle der jüdischen Sozi- tarin Ruth Bondy schrieb zwar: „[L]esbian rela-
alarbeiterinnen im Holocaust ist ein Thema, das tionships were extremely rare in the ghetto; most
dank feministischer Historikerinnen entdeckt of the young women of my age, including me,
worden ist. Gudrun Maierhof fand heraus, dass had been brought up in puritanical homes and did
manche der Frauen in der Reichsvereinigung der not even know what the word lesbian meant,“ 49
deutschen Juden lebenslange Partnerinnen wa- verschwieg aber, dass sie als Historikerin eine
ren, zum Beispiel Hannah Karminski, eine Funk- entscheidende Rolle eingenommen hatte, queere
tionärin der Fürsorgeabteilung, und Paula Fürst Frauen aus der Erinnerung zu tilgen. In ihrer Edi-
aus der Schulabteilung. Die Frauen lebten zusam- tion des Tagebuchs von Gonda Redlich, dem Lei-
men, wurden aber nicht zusammen deportiert, ter der Jugendfürsorge, entfernte Bondy alle Er-
weil sie nicht verheiratet waren. Nachdem Fürst wähnungen von Liebe zwischen Frauen. 50
im Juni 1942 vermutlich nach Minsk verschleppt Das wohl bekannteste Frauenpaar des Holo-
wurde, blieb Karminski untröstlich zurück, bis caust sind „Aimée“ und „Jaguar“. Erica Fischer
sie einige Monate später selbst in Auschwitz er- erforschte die Liebesgeschichte zwischen der
mordet wurde. 46 Die Zusammengehörigkeit als nichtjüdischen Hausfrau Lilly Wust und Felice
Familie, zusammen deportiert zu werden, beton- Schragenheim, einer illegal lebenden Jüdin, die
Wust versteckte, die aber schließlich entdeckt, de-
42 Albert Knoll, „Es muss alles versucht werden, um dieses wider-
portiert und ermordet wurde. 51 Nach der Verfil-
natürliche Laster auszurotten“. Homosexuelle Häftlinge in den frühen mung von Max Färberböck erzählte eine Freun-
Konzentrationslagern, in: Jörg Osterloh/Kim Wünschmann (Hrsg.), din Felice Schragenheims eine andere Version
„… der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert“. Häftlinge der frühen der Geschichte. Katharina Sperber griff dies auf,
Konzentrationslager 1933–1936/37, S. 221–245, hier S. 237.
hinterfragte das Narrativ der romantischen Lie-
43 Vgl. Robert Gellately, The Gestapo and German Society:
Enforcing Racial Policy 1933–1945, Oxford 1990, S. 202 f.; Saul
Friedländer, Nazi Germany and the Jews, Bd. 1: The Years of 47 Vgl. Anna Hájková, The Last Ghetto. An Everyday History of
Persecution, 1933–1939, London 1997, S. 113 f.; Wünschmann Theresienstadt, Oxford–New York 2020 (i. E.), Kap. 6.
(Anm. 39), S. 143 f. Für jüdische homosexuelle Männer gab es 48 Vgl. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereini-
im KZ die doppelte Kennzeichnung durch den gelben und den gung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbst-
rosa Winkel. behauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2012,
44 Siehe Lesbisch. Jüdisch. Schwul, kuratiert von Jens Dobler, S. 401f; Javier Samper Vendrell, The Case of a German-Jewish
Schwules Museum 2013. Lesbian Woman: Martha Mosse and the Danger of Standing Out,
45 Vgl. Jan Seidl, Křižácké tažení, či ostrov relativního bezpečí? Per- in: German Studies Review 2/2018, S. 335–353.
zekuce homosexuality v Protektorátu Čechy a Morava, in: Pavel Himl 49 Ruth Bondy, Women in Theresienstadt and the Family Camp in
et al. (Hrsg.), Miluji tvory svého pohlaví. Homosexualita v dějinách a Birkenau, in: Dalia Ofer/Lenore Weitzman (Hrsg.), Women and the
společnosti českých zemí, Prag 2013, S. 207–270, hier S. 225. Holocaust, New Haven 1998, S. 310–316, hier S. 320.
46 Vgl. Gudrun Maierhof, Selbstbehauptung im Chaos. Frauen 50 Vgl. Hájková (Anm. 15), S. 95.
in der jüdischen Selbsthilfe 1933–1943, Frankfurt/M.–New York 51 Vgl. Erica Fischer, Aimée & Jaguar. Eine Liebesgeschichte,
2002, S. 71–77, S. 193 ff., S. 335. Berlin 1943, Köln 1995.

46
Zeitgeschichte/n  APuZ

be, wies auf die absolute Abhängigkeit hin, in der locaust und der nationalsozialistischen Vernich-
Schragenheim lebte, und gab den Verdacht wieder, tungspolitik, wie beispielsweise sexuelle Gewalt
dass Wust ihre Geliebte womöglich selbst denun- oder „asoziale“ Häftlinge, mittlerweile ein größe-
zierte. Sie tat Schragenheims queere Sexualität als res Bewusstsein entwickelt hat, ist dies für quee-
dem Krieg und den eingeschränkten Handlungs- re Perspektiven immer noch wenig ausgeprägt.
möglichkeiten geschuldete, wenig aussagekräftige Manche Historiker_innen wissen nicht einmal,
Gefälligkeitsbeziehung ab. 52 Einen ähnlichen Fall dass das Thema existiert. Diese Blindheit liegt
eines (älteren) Frauenpaars in Hamburg unter- auch an der lang anhaltenden Homophobie, die
suchte Beate Meyer. Auch hier geht es um Liebe bereits in der Lagergesellschaft entstand, und die
und Abhängigkeit. Allerdings hinterfragt Mey- ein Bewältigungsmechanismus war, der es er-
er die Validität der Queerness der beiden Frauen möglichte, einen „Anderen“ zu konstruieren.
nicht, sondern zeigt auf, wie diese die Auseinan- Die gelebte sexuelle Realität beeinflusste die ent-
dersetzung mit der Gestapo beeinflusste. 53 standenen homophoben Muster dabei kaum, die
Die weitgehende Unsichtbarkeit queerer jüdi- wiederum die Historiografie bis heute prägen.
scher Holocaustopfer hat auch damit zu tun, dass Die Verfolgung von queeren Menschen, ins-
sich Überlebende selten zu ihrem queeren Begeh- besondere Männern, ist inzwischen recht gut er-
ren oder ihrer queeren Identität äußerten. Auch forscht. Allerdings konzentriert sich diese fast
wenn Oral Histories von Holocaustopfer zu den ausschließlich auf den Verfolgungsgrund der Se-
am besten dokumentieren Sammlungen solcher xualität, vermutlich um der lange stigmatisierten
Zeugnisse gehören, enthalten sie meines Wissens Gruppe Ansehen zu verleihen. Dies führt leider
nach keine Interviews, in denen die Überleben- auch zu einem politisierten Wettbewerb der Op-
den über eigenes queeres Begehren oder Identi- fergruppen, in dem die Verfolgung queerer Frau-
tät berichten würden. Dabei wurden auch quee- en oft abgestritten wird. Das ist nicht nur für die
re Menschen interviewt, aber ich gehe davon aus, Anerkennung der lesbischen Opfer bedauerlich,
dass die etablierten homophoben Rahmenmuster sondern verhindert auch weitere Erkenntnisse
die Formulierung der eigenen queeren Erfahrung über die Intersektionalität der Verfolgung, das
unmöglich machten. 54 Immerhin drei jüdische Ho- heißt der Überschneidung von Verfolgungsgrün-
locaustüberlebende, die auch über ihr queeres Be- den, die sich bei den verfolgten Frauen beson-
gehren berichteten, veröffentlichten ihre Erinne- ders gut nachvollziehen lassen. Die weitgehen-
rungen; 55 darunter Gad Beck, der queere jüdische de Nicht-Thematisierung von queeren jüdischen
Widerstandskämpfer, der fröhlich über seine sexu- Opfern tut ihr Übriges, um diese Menschen ent-
ellen Eroberungen plaudert. Becks Widerstands- weder unsichtbar zu machen oder ihnen einen
kollege, Jizchak Schwersenz, im Buch geoutet, Teil ihrer Identität abzusprechen.
drohte Becks Verlag mit einer Klage, woraufhin in Die Geschichte der Sexualität ist ein Feld, in
zweiter Auflage Stellen geändert wurden. 56 dem wir ungemein viel über eine Gesellschaft,
ihre Kultur, ihre Werte und Logiken lernen kön-
SCHLUSSFOLGERUNG nen. Das Unbehagen gegenüber und das Ver-
schweigen queerer Sexualität nicht nur in der Ge-
Während sich für manche lang marginalisierte schichtsschreibung des Nationalsozialismus und
Themen in der Geschichtsschreibung des Ho- des Holocaust zeigen, wie normativ und vol-
ler Vorurteile die Geschichte queerer Menschen
52 Katharina Sperber, Schmerzhafte Erinnerungen einer Überle- (nicht) geschrieben wird.
benden, in: Frankfurter Rundschau, 7. 1. 2003.
53 Beate Meyer, Grenzüberschreitungen. Eine Liebe zu Zeiten
des Rassenwahns, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
11/2007, S. 916–936.
54 Vgl. Hájková (Anm. 15).
55 Friedrich Dönhoff, Ein gutes Leben ist die beste Antwort. Die
Geschichte des Jerry Rosenstein, Zürich 2015; Walter Guttmann,
Ich wollte es so normal wie andere auch: Walter Guttmann erzählt
ANNA HÁJKOVÁ
sein Leben, Hamburg 2011; Gad Beck, Und Gad ging zu David.
Die Erinnerungen des Gad Beck. 1923 bis 1945, hrsg. von Frank
ist Associate Professor für Neuere Geschichte Euro-
Heibert, Berlin 1995. pas an der University of Warwick, Großbritannien.
56 Frank Heibert an die Autorin, 22. 8. 2018. anna.hajkova@warwick.ac.uk

47
APuZ 38–39/2018

DIVERSITÄT UND HISTORISCHES LERNEN


Eine besondere Zeitgeschichte
Michele Barricelli

„What I am, is a 32-year-old, ugly, pockmarked genau solche Zeitgeschichten von der Vielfalt des
Jew fairy 01, and if it takes me a little time while to historischen und aktuellen Menschseins, vom
pull myself together, and if I smoke a little grass be- Wandel der Werte und Normen, von der Plurali-
fore I get up the nerve to show my face to the world, sierung der Lebensformen und Sichtweisen zu er-
it’s nobody’s goddamned business but my own.“ zählen, um einen Beitrag zu jenem gemeinschaft-
lichen Ziel aller Erziehung heute zu leisten, das in
Die Worte, mit denen Howard, Hauptfigur im einer humanistischen Weltbildung liegt. 03 Im Fol-
soeben, nach fünfzig Jahren, am Broadway über- genden sollen dafür ein theoretischer Entwurf mit
aus erfolgreich wieder aufgeführten Bühnenstück Bezug zu Geschichtsunterricht und Geschichts-
„The Boys in the Band“ (Autor: Mart Crowley) bewusstsein oder anders Erinnerungskultur dis-
die Szene betritt, enthalten alles, was im Folgen- kutiert, relevante Forschungen aus der Ge-
den zum Verständnis von „Diversität“ (diversity) schichtsdidaktik beziehungsweise ihrem Umfeld
dienen soll. Howard ist Teil eines Freundeskrei- vorgestellt und Schritte in die Lernpraxis vorbe-
ses schwuler Männer (die „Boys“) im New York reitet werden. 04 Infolge der nunmehr bundesweit
des Jahres 1968, also noch vor Beginn der großen gültigen Kompetenzorientierung in der schuli-
Emanzipations- und Liberalisierungsbewegun- schen Bildung besteht Konsens, dass historisches
gen, und stößt als Letzter, etwas bekifft, zu der Lernen in der Hauptsache dem Erwerb narrativer
Party, die anlässlich seines Geburtstags im Schutz Kompetenz gleichkommt. Daher wird man die
einer Privatwohnung – da offen zur Schau gestell- Frage, wie mit der Vielfalt von Lerngegenstän-
te Homosexualität unter Strafe steht – ausgerichtet den sowie Schülerinnen und Schülern, von mögli-
wird. Wir begegnen in seinem Spruch dem akuten chen Deutungen, Urteilen und historischen Sinn-
Bewusstsein von Abweichung und Differenz ei- bildungen umzugehen sei, stets so beantworten
nes Menschen auf vielen Ebenen des Selbst (Reli- wollen, dass den jungen (wie allen) Geschichts-
gion, geschlechtliche Zuordnung beziehungsweise lernenden im Zuge des Aufbaus einer/ihrer prak-
Orientierung, Leib und Krankheit, Aussehen, Al- tischen historischen Identität Erzählungen ab-
ter, Verhalten), gespiegelt von der Folie eines nie verlangt werden, die Authentizität besitzen, also
genauer bezeichneten, aber immer vorausgesetz- die eigene Subjektkonstitution respektieren, und
ten „Normalzustandes“ des Menschseins. Es geht zugleich überprüfbare interpersonelle Gültigkeit
um Identitätsbildung innerhalb eines engen sozi- im Sinne von „Wissenschaftlichkeit“ beanspru-
alen Rahmens und um die flagrante Sichtbarma- chen. Dies zu erreichen, ist ein mühsamer Pro-
chung dessen, was oder wer man ist. Damit ver- zess, der langer Übung und des Ausprobierens
knüpft sind Selbstzweifel und der Stolz auf das bedarf; niemand behaupte, dass historische Ori-
individuelle Anderssein wie zugleich das Streben entierung gerade im Kontext von Diversität und
nach Anerkennung durch diejenigen, die dem Ide- Pluralismus leicht zu haben sei. Die Vorausset-
albild von Natur aus oder durch Anpassung bes- zungen jedoch für echte und produktive Aus-
ser entsprechen. Diversität erscheint in dieser pre- handlungen über Sinn und Bedeutung von Ver-
kären Lage als humane Entwicklungsaufgabe oder, gangenheit, einzelnen Begebenheiten, Erbe und
was sich im Verlauf des Dramas manifestiert, als Verantwortung vor dem Ganzen der Geschichte
nie abgeschlossener Bildungsroman. im Hier und Jetzt sind mehr denn je an deutschen
Es ist Aufgabe historischer Bildung in der Schulen in Form der zunehmend multikulturellen
Schule, an außerschulischen Lernorten oder ver- oder multi­ethnischen, eben diversen Hintergrün-
mittelt durch Instanzen der Geschichtskultur, 02 de der Schülerschaft gegeben. 05

48
Zeitgeschichte/n  APuZ

DIVERSITÄT IM THEORETISCHEN Anteile in dieser Kategorienbildung („nature vs.


AUFRISS UND IN DER SCHULE nurture“) schwanken; am produktivsten scheinen
derzeit, auch in Deutschland, die Genderaspekte
In den vor allem angloamerikanisch geprägten zu sein – man vergleiche etwa die bahnbrechen-
Cultural Studies dient zur Bezeichnung und Er- de Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
schließung einer unanfechtbaren Verschiedenheit vom Oktober 2017, wonach zukünftig im Ge-
der Menschen und ihrer Lebenswelten innerhalb, burtenregister die Eintragung eines Geschlechts
zwischen und außerhalb definierter Kulturen der jenseits von männlich und weiblich möglich sein
Begriff der diversity, der dort grundsätzlich posi- muss. 08 Die Herkunft des theoretischen Modells,
tiv konnotiert und somit dem einheimischen Aus- seine Verbundenheit mit einer bestimmten Kul-
druck „Multikulturalität“ vielfach überlegen ist, tur, obwohl es doch universell verstanden wer-
da er Selbst- und Fremdzuschreibungen umgreift, den will, ist zwar unübersehbar. 09 Es besitzt je-
flüchtige Alltags- und diachrone Zeiterfahrung doch drei Vorzüge. Erstens wird aufgezeigt, dass
zusammenführt, Deuten und Handeln vereint. Ungleichheit in der Realität immer mehrfach ver-
Unter seinem Dach finden bevorzugt drei Dimen- schränkt auftritt. Zweitens ist das Konzept offen
sionen Beachtung: race, class und gender. Dabei für andere Ungleichheiten, etwa Alter („Jugend-
ist race 06 der wertneutrale Ausdruck für ethnische wahn“), Aussehen (lookism), körperliche Verfas-
Differenz; class kennzeichnet die unterschiedli- sung. Drittens, und am wichtigsten, ist ihm eine
chen Zugänge zu den Produktions- und Distink- Problemorientierung eingeschrieben: Im Gegen-
tionsmitteln der Gesellschaft; gender beschreibt satz zum etwas harmlosen deutschen Wort der
die Zugehörigkeit zu einem sozial konstruierten Vielfalt enthält diversity eine Kampfansage, und
Geschlecht. 07 Die natürlichen und „kultürlichen“ zwar gegen die aus der Verschiedenheit resultie-
renden Asymmetrien, Hegemonien und Unge-
rechtigkeiten, die, wie man es heute kodifiziert,
01 Hier abschätzig für „schwul“, heute veraltet.
02 Ohne Frage findet historisches Lernen nicht nur in einem Schulfach
allesamt Menschenrechtsverletzungen darstellen,
Geschichte statt, sondern bereits im vorfachlichen Unterricht der seien diese zum Beispiel Kinderarbeit in Asien für
Grundschule, in Verbundfächern, im Politik-, Geografie-, Ethik-, Religi- europäische Bekleidungskonzerne, sexuell beläs-
ons-, Kunst-, Deutsch-, Fremdsprachenunterricht, in Museen, Archiven, tigte oder misshandelte Frauen, diskriminierte
Gedenkstätten, vermittelt durch Massenmedien wie Film und Fernsehen,
religiöse Minderheiten, benachteiligte gleichge-
PC-Spiele usw. sowie, wie zu sehen, seit jeher auf der Theaterbühne.
03 Man setze hier statt „humanistisch“ gleichbedeutend „kosmo-
schlechtliche Eheformen oder rassistische Staats-
politisch“ oder „weltbürgerlich“. Vgl. Micha Brumlik, Kosmopoliti- ordnungen, die Rechte je nach Herkunft, Haut-
sche Moral. Globales Gedächtnis und Menschenrechtsbildung, in: farbe oder „Kaste“ zuteilen. Globalisierung und
APuZ 3–4/2016, S. 29–37. Individualisierung, Medialisierung und Digitali-
04 Für die Argumentation des Textes vgl. allgemein Michele Barri-
sierung, Migration und kulturelle Pluralisierung
celli, Narrativität, Diversität, Humanität. Vielfalt und Einheit im Pro-
zess des historischen Lernens, in: Jörn Rüsen/Henner Laass (Hrsg.),
werden immerhin Voraussetzung und Folge wei-
Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der ter wachsender Diversität bleiben.
Kulturen, Schwalbach/Ts. 2009, S. 280–299; vgl. darüber hinaus In der Schule, obschon sie ein Schonraum vor
Michele Barricelli, Collected memories statt kollektives Gedächtnis. den Grobheiten der Welt sein soll, tritt Differenz
Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft, in: Markus Furrer/Kurt
bereits im Status der Beteiligten auf, wenn sie als
Messmer (Hrsg.), Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht,
Schwalbach/Ts. 2013, S. 89–118. Dort weitere Literatur.
mehr- oder minderberechtigte Bürgerinnen und
05 In dem Beitrag werden die wenig trennscharfen Begriffe Bürger, Schutzbefohlene und Aufsichtspersonen,
„divers“, „heterogen“, „multikulturell“ oder „interkulturell“ und „inklu- Glaubende, Konsumierende mit all ihrer Diver-
siv“ weitgehend synonym verwendet. In Lehrplänen und anderen
bildungsbürokratischen oder -politischen Verlautbarungen wird
weiterhin am häufigsten von interkultureller Bildung gesprochen. 08 Zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrags erscheinen die
06 Anders als der Begriff der „Rasse“ hat das englische race keinen ersten Stellenanzeigen in Deutschland, bei denen das Geschlecht
ausgeprägt negativen Beiklang. Als deutsche Entsprechung wird oft der Bewerber mit „m/w/d“ oder „m/w/x“ angegeben wird, wobei
„Ethnizität“ gewählt, was zuweilen als Verschleierung rassistischer Struk- „d“ für „divers“ und „x“ für weder das Eine noch das Andere steht.
turen kritisiert wird; allerdings findet sich ethnicity, ohne klare Abgren- Vgl. die im Englischen nunmehr breit durchgesetzten neutralen Pro-
zung zu race, durchaus auch in der englischsprachigen Fachliteratur. nomen „they/their“ anstelle von „he/she“ bzw. „his/her“; vgl. auch
07 Für die Anwendung auf das Schulfach Geschichte vgl. Martin die schrittweise erweiterte Abkürzung LGBT+ oder die klangvolle
Lücke, Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichts- Neuschöpfung „holebi“ im Niederländischen.
didaktik, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis 09 Vgl. grundlegend Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektio-
des Geschichtsunterrichts Bd. 1, Schwalbach/Ts. 20172, S. 136–146. nalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

49
APuZ 38–39/2018

genz von kulturellen, religiösen, sexuellen Wert- terweise von Beginn an die auszubildenden spe-
orientierungen auftreten. Schülerinnen und Schü- zifischen Kompetenzen der Lehrkräfte besondere
ler, Lehrkräfte, Kultusbeamte, Lehrplanautoren, Beachtung fanden. 11 Seitdem erscheint die Diver-
Erziehungsberechtigte, Geschichtsdidaktikerin- sität oder Heterogenität der jungen Menschen in
nen sind zudem als Generationen durch Alter, so- aktuellen schulischen Lehrplänen als Ausgangs-
ziale und ethnische Herkunft, Lebenserfahrung, punkt von Unterricht beziehungsweise ist selbst
Bildung (Welt- und Fachwissen), Geschmack, anerkanntes Erziehungsziel. 12 Geantwortet wird
Vorlieben, ja, auch Körperkonstitution und Ru- damit selbstverständlich auf die Erfordernisse
hebedürfnis voneinander getrennt. Denkhaltun- der Gestaltung einer demokratischen Einwan-
gen, Lernroutinen und Modi der Welterschlie- derungsgesellschaft, die Deutschland de facto
ßung werden gewiss auch berührt, wenn Teenager seit vielen Jahrzehnten ist und, wiewohl in klei-
einen erheblichen Teil ihrer Zeit vor dem Handy- nen Schritten, de jure unübersehbar wird. Im-
Bildschirm verbringen, aber eine Tageszeitung merhin besaßen laut Mikrozensus im Jahr 2016
nur noch vom Hörensagen kennen. Wie können 32,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler ei-
die Gräben überbrückt werden? nen „Migrationshintergrund“. 13
Diversitätssensible Lernkulturen haben selbst
verschiedenartige Wurzeln. Im angelsächsischen VIELFALT UND DIVERSITÄT
Raum wurden die erst wissenschaftlichen Ana- IM HISTORISCHEN LERNEN
lysekategorien race, class, gender rasch in päda-
gogisch relevante Handlungsfelder umgemünzt. Im Sozialverband des history classroom führt zu-
So gilt in der „Mosaiknation“(oder salad bowl) nehmende Diversität zu einem Verlangen nach
Kanada seit Längerem ein inklusives Bildungs- vielfältigen Geschichten, nach Multiperspektivi-
konzept (das freilich sehr spät die indigene Be- tät und abwechslungsreichen Deutungen in ei-
völkerung einbezog) und hängt der schulische nem Maße, wie dies im Unterricht bisher fremd
Diversity-Ansatz in Großbritannien eng mit an- war. Nicht nur angesichts der neuen Medien sozi-
tirassistischer Pädagogik zusammen. In Deutsch- aler Kommunikation können auf die Geschichts-
land verankert ist eher eine mit dem Namen der bilder der Bevölkerung längst nicht mehr Politik
Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel oder gesellschaftliche Führungsschichten jenen
verbundene „Pädagogik der Vielfalt“, 10 die aus bestimmenden Einfluss ausüben, wie er noch vor
einer intensiv geführten Debatte um Kinder er- einigen Jahrzehnten durch das institutionalisier-
wuchs, die aus Gründen der Entwicklungsver- te Geschichtslernen, die Rituale staatlichen Ge-
zögerung, Körperbehinderung, Lernschwäche, denkens oder die von der Kanzel herab gemach-
Verhaltensauffälligkeit, Spezialbegabung einen ten Verkündigungen gesichert erschien. Will man
spezifischen Förderbedarf besitzen. Dies führ- nicht auf anderenorts praktizierte Modelle auto-
te dazu, dass hierzulande unter „Inklusion“ im- ritärer oder diktatorischer Überwachungsstaaten
mer noch vorwiegend die Beschulung von För- mit festen Lehrmeinungen und klaren Glaubens-
derschülern in Regelklassen verstanden wird. Der
kulturinkludierende Ansatz dagegen vereinte
11 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder, Inter-
sich mit den Überbleibseln der obsoleten „Aus-
kulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, Beschluss vom
länderpädagogik“ in einer Perspektive für „In- 25. 10. 1996 i. d. F. vom 5. 12. 2013.
terkulturelle Bildung und Erziehung“, welche 12 Vgl. Jeder zehnte Schüler in Deutschland ist Ausländer,
die Kultusministerkonferenz (KMK) zuerst 1996 13. 3. 2018, www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-03/statisti-
zur „Querschnittsaufgabe“ von Schule und da- sches-bundesamt-schueler-deutschland-migrationshintergrund-zah-
len. Die Unzulänglichkeit des statistischen Begriffs ist bekannt. Im
mit aller Schulfächer erklärte, wobei interessan-
Betrieb Schule ohnehin von größerer Bedeutung ist die Erhebung
von Schülerinnen und Schülern mit „nichtdeutscher Herkunftsspra-
10 Annedore Prengel, Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und che“ (nicht etwa: „Herkunft“).
Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer 13 Für die Grundschule in Bayern vgl. aktuell Bayerisches Staats-
Pädagogik, Opladen 1993, Wiesbaden 20063. „Integrativ“ bezieht ministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hrsg.),
sich hier auf körperlich und geistig behinderte Personen. Daneben LehrplanPLUS Grundschule, München 2014, S. 12: „Inklusion als
immer noch lesenswert: Georg Auernheimer, Einführung in die gesellschafts-, sozial- und bildungspolitische Leitidee lehnt Segrega-
Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 20075 (erstm. 1990); Rudolf tion anhand bestimmter Merkmale ab. Sie zielt auf eine Lebenswelt
Leiprecht/Anne Kerber (Hrsg.), Schule in der Einwanderungsgesell- ohne Ausgrenzung und begreift Diversität bzw. Heterogenität als
schaft. Ein Handbuch, Schwalbach/Ts. 2005. Normalfall, Bereicherung und Bildungschance.“

50
Zeitgeschichte/n  APuZ

inhalten verfallen, wird man in der demokrati- diskussionen erhobene Daten 16 und die stärker
schen Schule Vielfalt, Diversität und Kontro- am tiefen Einzelinterview ausgerichteten Arbei-
versität durch Lernen nur mehr zueinander ten von Johannes Meyer-Hamme 17 bestätigen die
vermitteln, nicht mehr auflösen können. Vielschichtigkeit der historischen Aneignungs-
Deutsche Geschichtsdidaktikerinnen und Ge- prozesse, die zwischen Nützlichkeitserwägun-
schichtsdidaktiker haben sich dem Feld des inter- gen, Aufgabenerfüllung und durchaus eigensinni-
kulturellen historischen Lernens in Theorie und ger Anverwandlung schwanken. Als Antwort auf
Praxis seit Anfang der 1980er Jahre (Rolf Schör- die zuletzt wieder zunehmenden Erscheinungen
ken) und dann besonders seit der zweiten Hälfte von Antisemitismus, Islamophobie und vulgären
der 1990er Jahre (Bettina Alavi, Bodo von Bor- Alltagsrassismus werden in der Geschichtsdidak-
ries, Andreas Körber) zugewandt. Zunehmend tik außerdem ältere kritisch-emanzipative Kon-
wurde anerkannt, dass historische Sinnbildung zepte durch Überlegungen zu Theorien von cri-
eben ganz besonders von Ethnizität, Klassenzu- tical whiteness beziehungsweise white supremacy
gehörigkeit und Geschlecht als sozialisatorischen erweitert und überhaupt die lange vernachlässig-
Instanzen abhängt. Diversität erscheint in dieser ten postkolonialen Forschungsdiskurse belebt. 18
Perspektive sowohl als politisch-soziologisch- Alle Erkenntnis lässt abermals den Schluss zu,
juristische Kategorie wie als kulturell-interakti- dass es vor allem die Erzählungen sind, die es im
onistisches System. Im Schulfach ist sie als em- Geschichtsunterricht zu vervielfältigen gilt.
pirische Größe Merkmal der Lerngegenstände,
bildet eine unhintergehbare Voraussetzung bei NARRATIVE DIVERSITÄT:
den Lernenden und gehört, was oft übersehen DIE VIELFALT DES
oder unterschlagen wird, zur Ausstattung von GESCHICHTSBEWUSSTSEINS
Lehrpersonen.
Die relevante Forschung hat sich in den ver- Geschichtsdidaktisches Credo ist, dass histori-
gangenen Jahren verstärkt und umfasst heu- sches Lernen zur Ausbildung eines reflektierten
te die Entwicklung von Theorien und Konzep- Geschichtsbewusstseins führen soll. Historisches
ten, evidenzbasierte Erkundungen, pragmatische Wissen ist demnach immer narratives Wissen, das
Empfehlungen und auch moralisch konnotier- heißt, es liegt in Form einer Erzählung vor, die auf
te Appelle. 14 Die jüngeren empirischen Studi- bestimmte Weise zuvor zusammenhanglose Sach-
en zu historischer Identität als Subjektkategorie verhalte („Ereignisse“) bedeutungsvoll miteinan-
im Kontext multikultureller Lerngruppen, meist der verknüpft. Diese Erzählungen sind selbst-
unter Einsatz von Methoden der rekonstrukti- verständlich nicht beliebig gestaltbar, sondern
ven Sozialforschung, erfuhren einen wesentlichen folgen Kriterien der Triftigkeit, zumindest wenn
Anstoß mit der Untersuchung der Erziehungs- sie als rationale Aussagen über die Vergangenheit
wissenschaftlerin Viola Georgi zur „Entliehe- wissenschaftliche Geltung erlangen wollen. Ge-
nen Erinnerung“ von Jugendlichen mit Migra­ schichtsbewusstsein ist dann der stimmige Vorrat
tions­hintergrund. 15 Georgis Hypothesen und an sinnvollen Deutungsleistungen und den da-
die in eine Typologie gekleideten Befunde ge- raus entstehenden inneren Bildern über die Ver-
winnen heute, im Zusammenhang mit der Inte- gangenheit, den ein Mensch aktiv besitzt – mithin
gration neuer Migrantengruppen, insbesonde- ein persönliches Geschichtenbewusstsein.
re Flüchtlingen aus dem arabischen Raum, neue
Bedeutung. Carlos Kölbls mithilfe von Gruppen-
16 Vgl. z. B. Carlos Kölbl, Auschwitz ist eine Stadt in Polen. Zur
Bedeutung der NS-Vergangenheit im Geschichtsbewusstsein junger
14 Vgl. Bettina Alavi/Martin Lücke (Hrsg.), Geschichtsunterricht Migrantinnen und Migranten, in: Michele Barricelli/Julia Hornig
ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichts- (Hrsg.), Aufklärung, Bildung, „Histotainment“? Zeitgeschichte in
didaktik, Schwalbach/​T. 2016; Nadja Bennewitz/Hannes Burkhardt Unterricht und Gesellschaft heute, Frank­furt/M. 2008, S. 161–173.
(Hrsg.), Gender in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. 17 Vgl. Johannes Meyer-Hamme, Historische Identitäten und
Neue Beiträge zu Theorie und Praxis, Berlin 2016. Angekündigt ist Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Prä-
Bettina Alavi et al. (Hrsg.), Handbuch Diversität im Geschichtsun- gung, institutioneller Unterweisung und individueller Verarbeitung,
terricht. Zugänge einer inklusiven Geschichtsdidaktik, Frank­furt/M. Idstein 2009.
2019 (i. E.). 18 Vgl. Christina Brüning/Lars Deile/Martin Lücke (Hrsg.),
15 Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Historisches Lernen als Rassismuskritik, Schwalbach/Ts. 2016. Als
Migranten in Deutschland, Hamburg 2003. Vorreiterin zu nennen ist hier Bea Lundt.

51
APuZ 38–39/2018

In dieser subjekttheoretischen Hinsicht muss Zerstörung der Universitätsbibliothek von Lö-


die Anerkennung von authentischer Verschie- wen im Ersten Weltkrieg, der Rettung der däni-
denheit unweigerlich zu einem auf individueller schen Juden über den Öresund, dem Widerstand
wie kollektiver Ebene vereinzelten Geschichts- der polnischen Heimatarmee gegen die deutsche
bewusstsein führen, das auf je und je eigentüm- Besatzung, gar von Oradour-sur-Glane oder
lichen Erinnerungen beruht: Die historische Ein- Marzabotto gehört haben – womit Jugendliche
ordnung etwa des Genozids an den Armeniern für Gleichaltrige, denen sie auf Reisen, Popkon-
(1915 ff.) unterscheidet sich bereits dann, wenn zerten, Kirchentagen in ganz Europa begegnen,
die Deutenden sich als Mehrheitstürken oder kaum je ein vertieftes historisches Verständnis
Minderheiten wie Aleviten oder Kurden, als Ar- aufbringen können. Wäre doch der europäische
menier, Franzosen (wo über ein Verbot der Leug- Geschichtsunterricht, wie so oft beklagt wird,
nung des Völkermordes auf höchster politischer tatsächlich eurozentrisch – viele zwischenstaatli-
Ebene gestritten wird) oder Deutsche (wo dies che Fehlinterpretationen im Hinblick auf Funkti-
eben nicht der Fall ist) verstehen; den bis heu- onssysteme wie Recht, Bildung, Tradition blieben
te schwelenden Kampf um die Abtreibungspa- uns erspart!
ragraphen 218/219 StGB nehmen Frauen anders
wahr als Männer und Ostdeutsche anders als VON DEN GETRENNTEN
Westdeutsche; zur Militärdiktatur in Argentinien ERINNERUNGEN ZUR
(1976–1983) fallen einem Fußballfan (Weltmeis- GEMEINSAMEN ERZÄHLUNG
terschaft 1978 mit einer an den Stätten von Fol-
ter und Deportation unbekümmert aufspielenden Mit historischer Bildung sind immer auch Macht-
deutschen Nationalmannschaft) andere Dinge ein fragen, Dominanzansprüche und Wertdiktate
als einem Schlagerfan (Udo Jürgens’ Evergreen verbunden. Überall wo gesellschaftliche Grup-
„Buenos Dias Argentina“ aus demselben Anlass) pen politische Vorrechte durchsetzen wollen,
oder den Madres de Plaza de Mayo, die bis auf wird man auf die exklusiven, in der Schule ge-
den Tag Aufklärung über den Verbleib ihrer Söh- lehrten, indes kaum je triftigen Erzählungen mit
ne und Töchter fordern; jeweils am 11. Novem- Legitimationsfunktion stoßen nach dem Muster:
ber finden in Paris steife Militärparaden zum Ge- wie wir Westler die Menschenrechte in die Welt
denken an das Ende des Ersten Weltkrieges statt, brachten (an die sich nun gefälligst alle Völker
während in den deutschen Schunkelhochburgen der Erde zu halten haben) – wie wir Männer
der Karneval startet, als würden zum Krieg nicht die Demokratie zu unserem Ding machten (bei
immer zwei gehören. dem wir Frauen erst spät und gezwungenerma-
Kulturgeschichtlich, auch geschichtsdidak- ßen mitmachen ließen) – wie wir Manager den
tisch wurde diese unvermeidliche Partikularität Kapitalismus durchgesetzt und den Homo oe-
oder Opportunität von Erinnerung als das Phä- conomicus zu einem freien Menschen gemacht
nomen der divided memories beschrieben. 19 Der haben. Das sind die berühmt-berüchtigten
in Europa, allen supranationalen Bemühungen Meistererzählungen, die zweifellos viel komple-
zum Trotz, immer noch klar nationalstaatlich or- xere Konzepte etablieren als lediglich nationale
ganisierte Geschichtsunterricht ist ein verlässli- Herkunftsmythen.
cher Lieferant der zugehörigen divided histories: Eine kritisch reflektierende Weltbürgerge-
Sogar eine deutsche Abiturientin, die ihr Fach meinschaft wird trotzdem von den begrenz-
im Sinne der Abiturverordnung beherrscht, wird ten Narrationen im entgrenzten Raum profitie-
nur im seltensten Fall etwas vom Gunpowder ren, weil narrative Sinnbildung – im Gegensatz
Plot, der Dreyfus-Affäre, dem Risorgimento, der zu den mit ihr einhergehenden partikularen Be-
deutungszuschreibungen selbst – als Opera-
19 Das Wortspiel der voneinander/gemeinsam geteilten Erinne- tion eine Universalie ist, das heißt eine soziale
rungen bei Jan Motte/Rainer Ohliger, Einwanderung, Geschichte, Praxis, die in allen Kulturen gepflegt wird, um
Anerkennung. Auf den Spuren geteilter Erinnerungen, in: dies. den eigenen Fortbestand zu sichern. Mensch-
(Hrsg.), Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesell-
liche Zeitlichkeit ist narrative Zeitlichkeit. Ziel
schaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinne-
rungspolitik, Essen 2004, S. 17–49. Vgl. auch Viola Georgi/Rainer
einer integrativen historischen und politischen
Ohliger (Hrsg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Bildung muss es daher sein, inmitten zentrifu-
Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009. galer gesellschaftlicher Kräfte durch narrative

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Zeitgeschichte/n  APuZ

Diversität den Grund für eine Erzählgemein- beziehungsweise Durchdringung dokumentie-


schaft zu legen, die gemeinsame Erinnerungs- ren, illustrieren, systematisieren – oder schlicht:
bestände und Geschichten teilt, wofür der Be- sichtbar machen. Zweifellos sind die damit ge-
griff der shared memories steht. Zu denken ist meinten „Erzählungen an den Kontaktzonen“
hierbei an die Völker und Kulturen umgreifen- für die Darbietung didaktisch zu reduzieren:
den Vernetzungsgeschichten der Globalhisto- Bilaterale Geschichten (deutsch-französische
rie, die weltumspannenden Zivilisationstheori- Beziehungen im 20. Jahrhundert, Migration
en und technologischen Fortschrittsideologien, zwischen Deutschland und der Türkei bezie-
thematisch konkret: die Berichte über Kultur- hungsweise dem Deutschen und Osmanischen
kontakt und Kulturdurchdringung, Menschen- Reich) sind leichter zu erzählen als konsequent
rechte und Völkerverständigung, Mobilität und multiperspektivische; Querschnitte („Götter
Migration, Emanzipation, bürgerliche Partizi- und Religionen im Römischen Kaiserreich“)
pation. 20 Diese können als Ausdruck einer ein- bedürfen der Abstimmung mit Längsschnit-
zigen Menschheitserfahrung gewertet werden ten („Geschlechterrollen in Antike, Mittelalter
und tragen daher allesamt auch einen pädago- und Früher Neuzeit“). Erinnerungskulturelle
gischen Charakter. Aufgabe des Geschichtsun- Fragestellungen ergänzen den problemorien-
terrichts ist es dann, die divided memories, auf tierten Umgang (Warum benötigen Staaten be-
denen Geschichtsbewusstsein zwangsläufig ba- ziehungsweise Nationen heute noch oder wie-
siert, ans Licht zu heben, kritisch zu themati- der stärker Gründungsmythen?, Wie kann das
sieren und verantwortungsvoll zu respektieren, „transnationale“ Verbrechenssystem der NS-
aber zugleich in Richtung einer interkulturel- Zwangsarbeit als europäische Ur-Erfahrung
len Geschichtskonstruktion vorzustoßen. In der umgedeutet werden?).
Schule ist die Vermittlung einer so verstandenen Die bunteste Geschichtserzählung hat zwei-
shared history vor allem eine Frage der narra- tens Wert für historisches Lernen fraglos erst,
tiven Kompetenz der Schülerinnen und Schüler. wenn sie ergiebige Anknüpfungspunkte besitzt
für die Gegenwarts- und Lebensweltbezüge der
ZEITGESCHICHTEN FÜR EINE jungen Lernenden. Jene umfassen Frieden und
DIVERSITÄTSSENSIBLE PRAXIS Wohlstand einerseits, Krieg und Gewalt, Flucht
und Vertreibung andererseits, Privilegierung wie
Leider verhält es sich in Deutschland einstwei- Diskriminierung, Gewinner und Verlierer, zu-
len so, dass die „geteilten Erinnerungen“ der nehmend fluide Geschlechterkonstruktionen,
frisch, vor einiger oder längerer Zeit Eingewan- Zukunftsängste im Hinblick auf internationa-
derten (die „Autochthonen“ oder „Einheimi- le Ordnung, soziale Gerechtigkeit, Klima, die
schen“) bisher eher divided memories waren. Ei- Beherrschung von genauso wie durch (digita-
niges ist trotz mancher curricularen Fortschritte 21 le) Medien. Ein Beispiel dafür, wie sich jetzige
noch zu tun dafür, dass sich dies zum Vorteil ei- Existenzwahrnehmung und historische Rück-
ner Erzählgemeinschaft im Klassenzimmer zu versicherung gegenseitig bedingen, um sich so-
ändern beginnt. Die relevanten Zeitgeschichten, gar in Schulprogrammen niederzuschlagen, ist
die zur Erreichung des Ziels erzählt werden soll- der „Queer History Month“ in Berlin, der die
ten, würden sich durch (mindestens) vier Merk- gesamte sexuelle Vielfalt einschließlich aller For-
male auszeichnen: men von Transgender thematisiert und dabei
Sie müssten erstens die Reichhaltigkeit und selbstverständlich den Blick auch in die Vergan-
Vielfalt der historischen Lebensformen, ihre genheit richtet. 22
Wertbindung und gegenseitige Beeinflussung Drittens soll jede didaktisch wertvolle Be-
fassung mit historischer Erzählvielfalt die stets
20 Zu dieser Themenliste vgl. Bodo von Borries, Interkulturelles notwendige Erzählkritik ermöglichen. Hier in-
Geschichtslernen – ja sicher, aber wie?, in: Andreas Körber (Hrsg.), teressieren solche Fragen, wie und mit welchen
Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Absichten Differenzkategorien wie etwa race
Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung, Münster
2001, S. 73–96.
21 Vgl. als Vorlage den KMK-„Orientierungsrahmen für den 22 Vgl. Martin Lücke, Geschichte queer unterrichten – Der
Lernbereich Globale Entwicklung“, der in seiner zweiten Fassung Queer History Month in Berlin, in: Bennewitz/Burkhardt (Anm. 14),
von 2016 nun auch das Fach Geschichte berücksichtigt. S. 187–199.

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APuZ 38–39/2018

oder people of color erzeugt, mit welchen nar- FAZIT: HETEROGENE LERNENDE,
rativen Mitteln Bilder von Männlichkeit oder DIVERSE ZEITGESCHICHTEN,
Weiblichkeit entworfen und dann gesellschaft- GEMEINSAME AUFGABEN
lich vorgeschrieben und wie und in wessen In-
teresse aus lauter Einzelfällen, die jeweils eine Die Ziele von Schule und Bildung wandeln sich
eigene narrative Würde besitzen, strukturelle im Laufe der Zeit, denn sie werden stets als Auf-
Phänomene geformt werden („der Migrant“, forderung zur (beileibe nicht nur historischen)
„Juden in Deutschland“, „die Muslime“). Hier Orientierung in einer Welt formuliert, die ra-
hinein gehören auch Überlegungen, warum wir sant ihr Gesicht verändert. Die produktive Bear-
als historisch Denkende häufig in die Fallen beitung von Diversität im nach wie vor eminent
tappen, die Geschichtsmächtige viel früher auf- gesellschaftsbildenden Fach Geschichte – einem
gestellt haben: Frauen müssen im Geschicht- Ort, wo immerhin über das Mittel ministerieller
scurriculum unterrepräsentiert bleiben, weil Erinnerungspolitik das ethnokulturelle Selbst-
sie so selten Herrschende, Kämpfende, Entde- verständnis einer Staatsnation verhandelt wird –
ckende waren? Mit den Denkmalsetzungen für bleibt untrennbar verknüpft mit dem allgemeinen
immer weitere Opfergruppen des Nationalso- Anspruch auf Humanität im gelebten Miteinan-
zialismus (Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, der. Die Verankerung des historischen Lernens
„Asoziale“) sollte langsam Schluss sein? Dass in der Lebenswirklichkeit der Lernsubjekte kann
an der Vorfront des queer movement, wäh- jedenfalls nur zusammen gedacht werden (ja ist
rend der Stonewall Riots in New York 1969, wahrscheinlich synonym) mit der Anerkennung
nicht nur wehrhafte weiße Männer kämpften, von deren authentischer – und das ist endlich der
sondern ebenso die sozial eher geschwächten glaubwürdigen – Verschiedenheit. Die grundsätz-
transgender people of color, brauchen wir nicht liche Nichtfeststellbarkeit des Menschen besitzt
so penibel auszudifferenzieren? Mit solchen also für die Didaktik wie den Geschichtsunter-
Abschneidungen erfüllt man nach Jahrhunder- richt, wollen sie zeitgenössisch sein, sowohl sys-
ten und Jahrzehnten noch die üblen Program- tematische Bedeutung als auch methodisches Po-
me einer damnatio memoriae, also der Verdam- tenzial. Infolge einer narrativen Welterkenntnis
mung des Andenkens. wird das Erzählen und Hören von pädagogisier-
Schließlich, viertens, dient die Untersuchung ten Diversitäts-Geschichten zum einschlägigen
von und Auseinandersetzung mit historischer Instrument bei der Bewältigung von zeitlichen
Diversität neben der Stärkung von Ich-Identi- beziehungsweise kulturellen Kontingenzerfah-
tät im Sozialisationsprozess immer auch der He- rungen. Auf diesem Wege begegnen die lernbe-
rausbildung eines Fundaments gemeinsam geteil- reiten Jugendlichen passgenauen, mannigfalti-
ter Geschichten. Denn Menschen wollen beides gen, eben diversen narrativen Sinnangeboten zum
zugleich: sich unterscheiden und dazugehören. Zwecke der Erzeugung einer multiplen Identität,
Ein diversitätssensibler Geschichtsunterricht die Zugehörigkeit historisch, das heißt wandel-
lehrt dazu, dass der historisch fundierte Inklu- bar ausdrückt und Abgrenzung diskursiv aufzu-
sionsprozess durch gemeinsame Erinnerung die lösen vermag. Einheitlichkeit und Eindeutigkeit
symbolische Anerkennung umfasst, welcher die werden so aufgegeben zugunsten einer autono-
durch Wirtschafts- und Kulturpolitik ermöglich- men, unbeschränkten, kreativen Thematisierung
te Teilhabe an der Gesellschaft immer erst nach- des Selbst oder der Welt. Die „Boys in the Band“
folgt. Dabei wird Integration als zweiseitige Auf- können davon, noch nach fünfzig Jahren, ein Lied
gabe definiert: Ähnlich wie den Zuwanderern die singen und immense Zeitgeschichten erzählen.
Pflicht auferlegt ist, im Bereich der historischen
Deutungen ein gewisses Maß an Vertrautheit mit
und Akzeptanz von den großen Narrativen der
Dominanzkultur zu erwerben, hat die national-
staatliche Mehrheit ihre geschichtlich tradier- MICHELE BARRICELLI
ten „Gewissheiten“ gegenüber fremd-alternati- ist Professor für Didaktik der Geschichte
ven Handlungspotenzialen, Attributionsmustern und Public History an der
und Erklärungskonstruktionen auf den Prüf- Ludwig-Maximilians-Universität München.
stand zu stellen. michele.barricelli@lrz.uni-muenchen.de

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