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Stefan Lautenbacher

Onur Güntürkün

Markus Hausmann (Hrsg.)

Gehirn und Geschlecht

Neurowissenschaft des kleinen Unterschieds zwischen Frau und Mann


Stefan Lautenbacher
Onur Güntürkün
Markus Hausmann (Hrsg.)

Gehirn und
Geschlecht
Neurowissenschaft des kleinen Unterschieds
zwischen Frau und Mann

Mit 38 Abbildungen und 24 Tabellen

123
Prof. Dr. Stefan Lautenbacher PD Dr. Markus Hausmann
Universität Bamberg University of Durham
Lehrstuhl für Physiologische Psychologie Department of Psychology
Markusplatz 3 South Road
96045 Bamberg Durham DH1 3LE
Großbritannien
Prof. Dr. Onur Güntürkün
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Psychologie
Biopsychologie, GAFO 05/618
44780 Bochum

ISBN-13 978-3-540-71627-3 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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Copyediting: Ursula Illig, Stockdorf
Übersetzung der Kap. 1–4, 7, 9: Dr. Silke Lissek, Bochum
Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin
Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg

SPIN 11617297

Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0


V

Geleitwort

Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrter Leser,

vor nicht allzu langer Zeit war die Beschäftigung mit Geschlechtsunterschieden in der
Psychiatrie, Neurologie und Psychologie weitestgehend verpönt. Beschäftigte man sich mit
ihnen, schienen ihr Vorhandensein und ihre Richtung etwas Beliebiges an sich zu haben.
Geschlechtsunterschiede durften nämlich nur Resultate der Sozialisation sein und galten
daher größtenteils als rein historisch-gesellschaftliche Produkte. Der Biologischen Psychi-
atrie, zu deren Vertreter ich mich zählen darf, waren solche Unterschiede daher lange Zeit
nicht substantiell genug, weil sich diese Disziplin mit den stabilen, biologisch engrammierten
Determinanten des normalen und gestörten Verhaltens beschäftigt.
Hier hat sich ein dramatischer Perspektivenwechsel in jüngster Vergangenheit ergeben.
Es ist mittlerweile fast selbstverständlich anzunehmen, dass genetische (und nicht nur Gene
auf dem Geschlechtschromosom) und frühe hormonelle Einflüsse die Struktur und Funktion
weiblicher und männlicher Gehirne bedingen. Obwohl diese weiblichen und männlichen
Gehirne ja nach geographischer und kultureller Situation ganz unterschiedliche Lebenswel-
ten in sich aufnehmen, ist mittlerweile sicher, dass die neurobiologischen Grundlagen von
Geschlechtsunterschieden auch zu transkulturell stabilen Verhaltens- und Erlebensunterschie-
den führen. Nicht nur bei Gesundheit, sondern auch im Krankheitsfall sind Unterschiede zwi-
schen Männern und Frauen nachzuweisen und ihre Berücksichtigung ist in der medizinischen
Praxis ein Schritt hin zu einer individualisierten Medizin.
Diesen Perspektiven geben dankenswerter Weise die Herausgeber viel Raum in ihrem Buch.
Der ganze erste Teil beschäftigt sich mit den neurobiologischen Grundlagen von Geschlechts-
unterschieden, mit Unterschieden in der genetischen, neurochemischen und neuroanatomi-
schen Ausstattung, die Geschlechtsunterschiede als »natur-wissenschaftliches« Phänomen
erwarten lassen. Erst im zweiten und dritten Teil geht es in Ableitung dieser Unterschiede
um die Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen in grundlegen-
den psychischen Funktionen und bei psychiatrischen sowie neurologischen Erkrankungen.
Mich als Psychiater freut es dabei besonders, dass die Herausgeber Geschlechtsunterschiede
auch an den klassischen psychopathologischen Entitäten, nämlich der Schizophrenie und der
Depression, aufzeigen lassen. Da wir uns mittlerweile im Klaren sein dürfen, dass »der kleine
Unterschied« ein dauerhafter und stabiler ist, lohnt sich die Anstrengung der Herausgeber
und ihrer kongenialen Autoren ein Buch zu dieser Thematik zu schreiben. Ich darf daher dem
Werk eine interessierte und große Leserschaft wünschen.

München, April 2007

Prof. Dr. Dr. Florian Holsboer


Direktor des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie
VII

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie interessieren sich also für die neurowissenschaftlichen Unterschiede zwischen Frauen und
Männern. Nun, dieses Interesse teilen Sie mit sehr vielen anderen Menschen. Gibt man zur
Zeit der Drucklegung dieses Buches (Frühling 2007) die Begriffskombination »Unterschied
Frauen Männer« in die führende Suchmaschine ein, erhält man fast 1,5 Millionen Treffer.
Es gibt nur wenige andere Kombinationen aus drei deutschen Worten, die mehr Seiten iden-
tifizieren. Die Verschiedenheiten von Männern und Frauen werden im Internet häufiger
thematisiert als die Arbeitslosigkeit, die Erderwärmung, die Überalterung der Gesellschaft
oder andere aktuelle Probleme. Schaut man sich aber die aufgelisteten Seiten zu Geschlechts-
unterschieden im Gehirn und im Verhalten an, stellt man schnell fest, dass man primär auf
schlechte Witze und pseudowissenschaftliche Texte stößt. Nach längerer Suche findet man
durchaus auch einige wissenschaftlich fundierte Zusammenfassungen. Häufig behandeln
diese aber nur schmale Ausschnitte des Themenkomplexes und richten sich ausschließlich an
Experten. Darum haben wir dieses Buchprojekt in Angriff genommen.
Wir wollten die neurowissenschaftlichen Gemeinsamkeiten und die Unterschiede von
Frauen und Männern in einer Breite darstellen, die es kaum in einem anderen Werk gibt. Die
Themen sollten grundsätzliche neurobiologische Mechanismen umfassen, aber auch Auskunft
geben zu Denk- und Handlungsprozessen sowie Krankheitsverläufen. Und gleichzeitig woll-
ten wir das Unmögliche wagen, ein Buch zu schreiben, das sowohl für Experten interessant
ist als auch für Laien lesbar. Wir erstellten eine Liste von internationalen Experten, die zu
diesem Thema sehr viel zu sagen haben – und wir konnten unser Glück nicht fassen, dass
die meisten von ihnen ihre Beteiligung zusagten und dann auch noch (fast) pünktlich ihre
Beiträge ablieferten.
Jedes Buchprojekt verfolgt eine Reihe von Zielen. Bei uns waren es zwei. Das erste Ziel war,
den zwei fiktiven Gruppen von Lesern, die wir bei der Erstellung des Buches im Blick hatten,
ein zufriedenstellendes Werk in die Hand zu drücken.
Die erste Leserzielgruppe sind die wissenschaftlich interessierten Laien. Wir stellten uns
vor, dass diese Leser viel von Hirnunterschieden zwischen Männern und Frauen gehört und
gelesen haben und häufig über widersprüchliche und teilweise populistisch abgefasste Schrift-
stücke verwirrt und verärgert sind, die in jeder Buchhandlung ausliegen. Diese Leser wollen
ein Buch, das nicht oberflächlich ist und trotzdem, so gut es geht, für Nicht-Spezialisten
verständlich; und sie wollen, dass nicht nur ein schmaler Ausschnitt behandelt wird, sondern
möglichst viele der faszinierenden Facetten dieses Themas. Sie wollen also ein Buch, dass
durch seinen Gesamtüberblick Zusammenhänge erschließt, die vorher nicht sichtbar waren.
Dafür bringen sie hoffentlich auch in extrem komplexen Bereichen wie z. B. den geneti-
schen und neurobiologischen Grundlagen von Geschlechtsunterschieden die Bereitschaft mit,
schwierige Zusammenhänge nachzuvollziehen und sich in Details zu vertiefen.
Unsere zweite Leserzielgruppe sind Wissenschaftler, für deren Arbeitsgebiet das Verstehen
der Mechanismen neurowissenschaftlicher Geschlechtsunterschiede wichtig ist. Diese Kolle-
gen suchen den neuesten Stand der Diskussion zu einem Thema und akzeptieren nicht, dass
Widersprüche unerwähnt bleiben oder oberflächlich pauschalisiert werden, bloß weil sie sich
nicht griffig vereinfachen oder gar populistisch umsetzen lassen. Diese Kollegen sind evtl.
selber Experten zu einigen Themen dieses Buches. Sie werden uns dann (hoffentlich) nachse-
VIII Vorwort

hen, dass nicht jedes Detail zu jedem Thema dargestellt werden konnte. Wir bieten ihnen mit
diesem Buch und seinen vielen breitgefächerten Themen durch die Vielfalt der dargestellten
Aspekte trotzdem Neues und Unerwartetes.
Das zweite Ziel dieses Buchprojektes war die Darstellung der Zusammenhänge von Fakten,
die über Forschungsgegenstände und wissenschaftliche Disziplinen verstreut sind. Dieses Ziel
hoffen wir dadurch zu erreichen, dass wir fast die ganze Facettenvielfalt neurowissenschaftli-
cher Geschlechtsunterschiede behandeln. Wir haben also zusammen mit unseren Autoren ein
großes Mosaik gelegt. Die einzelnen Fragmente dieses Mosaiks können zwar problemlos für
sich alleine betrachtet werden, aber erst die Gesamtbetrachtung offenbart noch ein weiteres,
tieferes Bild.
Hoffentlich haben wir diese selbstauferlegten Ziele zumindest näherungsweise erreicht.

Die Herausgeber
Bamberg, Bochum und Durham, Juni 2007
IX

Inhaltsverzeichnis

4.3 Erbe und Umwelt bei Gehirnentwicklung


I Neurobiologie und Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66
4.4 Untersuchungen zur Gehirnanatomie
zeigen biologische Grundlagen von
1 Geschlecht und Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Verhaltensunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Anna Maria Aloisi 4.5 Geschlechtschromosomen und
1.1 Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Geschlechtsdetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69
1.2 Männlich oder weiblich? Mann oder Frau?. . . . . . . 4 4.6 Einfluss von Hormonen auf Gehirn und
1.3 Androgene und Östrogene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .70
1.4 Geschlechtsunterschiede und Immunsystem . . . 13 4.7 Hormonunabhängige Genwirkungen
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 auf Gehirn und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .71
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80
2 Biologische Grundlagen von
Geschlechtsunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . 19
Arthur P. Arnold
2.1 Was ist ein Geschlechtsunterschied? . . . . . . . . . . .20 II Psychische Funktionen
2.2 Evolution von Geschlechtsunterschieden. . . . . . .22
2.3 Geschichte des klassischen Dogmas
geschlechtlicher Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . .24 5 Funktionelle Hirnorganisation
2.4 Aktuelle Modifikationen des klassischen und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Dogmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .29 Onur Güntürkün, Markus Hausmann
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38 5.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88
5.2 Neokortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88
3 Zelluläre Mechanismen steroid- 5.3 Subkortikale Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92
induzierter Geschlechtsunterschiede 5.4 Zerebrale Asymmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97
im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Margaret M. McCarthy
3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .42 6 Kognitive Geschlechtsunterschiede . . . . .105
3.2 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44 Markus Hausmann
3.3 Sexualverhalten von Nagern als 6.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
heuristisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 6.2 Geschlechtsunterschiede in spezifischen
3.4 Fortschritte in der Erforschung von kognitiven Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Geschlechtsunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 6.3 Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede . . 114
3.5 Wissenslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .54 6.4 Der psychobiosoziale Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
3.6 Nicht fortpflanzungsbezogene 6.5 Alltagsrelevanz kognitiver Geschlechts-
Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57 unterschiede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

4 Genetische Grundlagen von Geschlechtsun- 7 Das transsexuelle Gehirn . . . . . . . . . . . . . . .125


terschieden in ZNS-Funktionen . . . . . . . . . . 63 Peggy T. Cohen-Kettenis, Stephanie H.M. van
Ian W. Craig, Caroline Loat Goozen, Michael A.A. van Trotsenburg
4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .64 7.1 Terminologie und Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
4.2 Wie bedeutsam sind Geschlechtsunter- 7.2 Prävalenz und Geschlechterverhältnis in
schiede in Kognition und Verhalten? . . . . . . . . . . .64 der Geschlechtsidentitätsstörung . . . . . . . . . . . . 127
X Inhaltsverzeichnis

7.3 Theorien zur atypischen Geschlechts- 12.2 Die Mannheimer Längsschnittstudien . . . . . . . 213
entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 12.3 Geschlechtsunterschiede in der
7.4 Verändern sich transsexuelle Gehirne nach Gesamtprävalenz und störungs-
der Geburt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 spezifischen Prävalenz psychischer
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
12.4 Geschlechtsunterschiede in der Stabilität
8 Geschlechterdifferenzen in der Emotio- psychischer Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
nalität aus der Sicht des Neuroimaging . . 143 12.5 Geschlechtsspezifische Wirkung von
Anne Schienle Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
8.1 Geschlecht und emotionales Erleben . . . . . . . . . 144 12.6 Altersübergreifende Darstellung . . . . . . . . . . . . 218
8.2 Emotionen und Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
8.3 Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit
emotionsrelevanten Reizen . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 13 Ursachen der Geschlechts-
8.4 Kritische Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 unterschiede in der Prävalenz
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 der Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitäts-Störung . . . . . . . . . . . . . . .223
9 Riechen Frauen anders als Männer? . . . .161 Kerstin Konrad, Thomas Günther
Gerard Brand, Laurence Jacquot 13.1 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
9.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 13.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
9.2 Deskriptive Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 13.3 Geschlechtsspezifische Unterschiede
9.3 Mögliche Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 bezüglich Symptomatik, Komorbidität und
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 assoziierten klinischen Korrelaten . . . . . . . . . . . 227
13.4 Der Einfluss biologischer Faktoren . . . . . . . . . . . 230
10 Schlaf und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 13.5 Implikationen für die Diagnostik . . . . . . . . . . . . 232
10.1 Schlafen Männer und Frauen 13.6 Implikationen für die Behandlung . . . . . . . . . . . 234
unterschiedlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 13.7 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Hartmut Schulz, Stephany Fulda Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
10.2 Traumerleben bei Männern und Frauen . . . . . 190
Michael Schredl 14 Sind nur Frauen essgestört? . . . . . . . . . . . .241
Reinhold G. Laessle
11 Der »kleine« Unterschied beim Schmerz . . 199 14.1 Charakteristika klinischer Essstörungen . . . . . . 242
Stefan Lautenbacher 14.2 Thesen zur Geschlechtsspezifität von
11.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
11.2 Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
11.3 Verantwortliche Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . 204
11.4 Klinische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 15 Multiple Sklerose – eine neuro-
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 immunendokrine Erkrankung . . . . . . . . .249
Norbert Sommer
15.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
15.2 Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
III Erkrankungen des ZNS 15.3 Symptomatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
15.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
15.5 Prognose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
12 Geschlechtsunterschiede in der 15.6 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Entwicklung psychischer Störungen . . . .211 15.7 Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Wolfgang Ihle, Manfred Laucht, 15.8 Geschlechtsspezifische Aspekte der
Martin H. Schmidt, Günter Esser Multiplen Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
12.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
XI
Inhaltsverzeichnis

16 Geschlechtsspezifische Faktoren 18.11 Neuroleptikabehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320


bei hirnschädigenden Ereignissen . . . . .269 18.12 Geschlechtsunterschiede in der Hirn-
Helmut Vedder entwicklung und in strukturellen Hirn-
16.1 Hormonelle Wirkungsmechanismen im ZNS . 270 abnormitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
16.2 Östrogenhormone und Krankheits- 18.13 Geschlechtsunterschiede bei
prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 schizophrenen Erkrankungen des höheren
16.3 Neuroprotektive Wirkungen von und hohen Lebensalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Östrogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 18.14 Geschlechtsunterschiede der Symptomatik
16.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 über das gesamte Altersspektrum erster
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
17 Demenz bei Frauen und Männern:
das gleiche Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . .283 19 Warum leiden mehr Frauen unter
Miriam Kunz, Stefan Lautenbacher Depression? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .331
17.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Christine Kühner
17.2 Geschlechtsunterschiede in der 19.1 Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
Alzheimer-Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 19.2 Erklärungshypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
17.3 Zugrunde liegende Mechanismen der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
17.4 Geschlechtsunterschiede in anderen
Demenzformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

18 Die Rolle von Geschlecht und Gehirn


bei Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .297
Heinz Häfner
18.1 Geschlechtsunterschiede im
Morbiditätsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
18.2 Geschlechtsunterschiede im
Ersterkrankungsalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
18.3 Geschlechtsunterschiede in der Alters-
verteilung des Krankheitsausbruchs . . . . . . . . 300
18.4 Geschlechtsunterschiede in der prämorbiden
sozialen und beruflichen Anpassung . . . . . . . 302
18.5 Geschlechtsunterschiede in der normalen
Entwicklung und in nichtpsychotischen
Störungsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
18.6 Geschlechtsunterschiede bei den
Präkursoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
18.7 Geschlechtsunterschiede bei Diagnosen,
Subtypen und Symptomen . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
18.8 Geschlechtsunterschiede bei sekundären
Verhaltensmustern im Verlauf der
Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
18.9 Erklärung von Geschlechtsunterschieden
durch die Östrogenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . 310
18.10 Geschlechtsunterschiede im
Langzeitverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
XIII

Autorenverzeichnis

Aloisi, Anna Maria, Prof. Dr. Esser, Günther, Prof. Dr. Hausmann, Markus, PD Dr.
University of Siena Akademie für Psychotherapie Department of Psychology
Department of Physiology und Interventionsforschung University of Durham
Via Aldo Moro 2 Institut für Psychologie South Road
53100 Siena Universität Potsdam Durham DH1 3LE
Italien Karl-Liebknecht-Str. 24/25 Großbritannien
14476 Potsdam
Arnold, Arthur P., Prof. Dr. Ihle, Wolfgang, Dipl. Psych.
Univ. California Los Angeles Fulda, Stephany, Dipl.-Psych. Akademie für Psychotherapie und
Dept. Physiol. Science Max-Planck-Institut für Psychiatrie Interventionsforschung
Rm LSB 4117 Kraepelinstr. 2–10 Institut für Psychologie
621 Charles Young Drive South 80804 München Universität Potsdam
Los Angeles CA 90095-1606 Karl-Liebknecht-Str. 24/25
USA Goozen, Stephanie H.M. van, Dr. 14476 Potsdam
Cardiff University
Brand, Gerard, Dr. School of Psychology Jacquot, Laurence, Dr.
Laboratoire de Neurosciences Tower Building Laboratoire de Neurosciences
Faculté des Sciences et Techniques Park Place Faculté des Sciences et Techniques
Université de Franche-Comté Cardiff, CF10 3AT Université de Franche-Comté
Place Leclerc Großbritannien Place Leclerc
25000 Besançon 25000 Besançon
Frankreich Günther, Thomas, Dr. Frankreich
Universitätsklinikum Aachen
Cohen-Kettenis, Peggy, Klinik für Kinder- und Jugend- Konrad, Kerstin, Prof. Dr.
Prof. Dr. psychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen
Department of Medical Neuenhofer Weg 21 Klinik für Kinder- und Jugend-
Psychology 52074 Aachen psychiatrie und -psychotherapie
VU University Medical Center Neuenhofer Weg 21
P.O. Box 7057 Güntürkün, Onur, Prof. Dr. 52074 Aachen
1007 MB Amsterdam Ruhr-Universität Bochum
Niederlande Fakultät für Psychologie Kühner, Christine, Prof. Dr.
Biopsychologie, GAFO 05/618 Zentralinstitut für Seelische
Craig, Ian, Prof. Dr. 44780 Bochum Gesundheit
King’s College London Postfach 12 21 20
Institute of Psychiatry Häfner, Heinz, Prof. Dr. 68072 Mannheim
Social, Genetic and Developmental Zentralinstitut für Seelische
Psychiatry Centre (MRC) Gesundheit Kunz, Miriam, Dr.
De Crespigny Park Postfach 12 21 20 Universität Bamberg
London, SE5 8AF 68072 Mannheim Physiologische Psychologie
Großbritannien Markusplatz 3
96045 Bamberg
XIV Autorenverzeichnis

Lässle, Rainhold G., Prof. Dr. Schredl, Michael, PD Dr.


Universität Trier Zentralinstitut für Seelische
FB I Psychologie Gesundheit
54286 Trier Postfach 12 21 20
68072 Mannheim
Laucht, Manfred, Prof. Dr.
Zentralinstitut für Seelische Schulz, Hartmut, Prof. Dr.
Gesundheit Rankestr. 32
Postfach 12 21 20 99096 Erfurt
68072 Mannheim
Sommer, Norbert, Prof. Dr.
Lautenbacher, Stefan, Prof. Dr. Universitätsklinikum Marburg
Universität Bamberg und Giessen
Lehrstuhl für Physiologische Klinikum für Neurologie
Psychologie Rudolf-Bultmann-Straße 8
Markusplatz 3 35039 Marburg
96045 Bamberg
Trotsenburg, Michael van, Dr.
Loat, Caroline S. Klinik für Frauenheilkunde der
King’s College London Medizinischen Universität Wien
Institute of Psychiatry Währinger Gürtel 18–20
Social, Genetic and Developmental 1090 Wien
Psychiatry Centre (MRC) Österreich
Box P082, De Crespigny Park
London, SE5 8AF Vedder, Helmut, Prof. Dr.
Großbritannien Psychiatrisches Zentrum
Nordbaden
McCarthy, Margeret M., Prof. Dr. Allgemeinpsychiatrie und
Univ. Maryland Sch Med Psychotherapie II – AP II
Dept Physiol Heidelberger Str. 1a
655 W Baltimore St 69168 Wiesloch
Baltimore MD 21201–1559
USA

Schienle, Anne, Prof. Dr.


Karl-Franzens-Universität Graz
Institut für Psychologie
Klinische Psychologie und
Gesundheitspsychologie
Universitätsplatz 2/III
8010 Graz
Österreich

Schmidt, Martin H. Prof. Dr. Dr.


Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit
Postfach 12 21 20
68072 Mannheim
I

I Neurobiologie

Kapitel 1 Geschlecht und Hormone – 3


Anna M. Aloisi

Kapitel 2 Biologische Grundlagen von


Geschlechtsunterschieden – 19
Arthur P. Arnold

Kapitel 3 Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter


Geschlechtsunterschiede im Gehirn – 41
Margaret M. McCarthy

Kapitel 4 Genetische Grundlagen von Geschlechts-


unterschieden in ZNS-Funktionen – 63
Ian W. Craig, Caroline Loat
1

Geschlecht und Hormone


Anna Maria Aloisi

1.1 Begriffsdefinitionen – 4

1.2 Männlich oder weiblich? Mann oder Frau? – 4

1.3 Androgene und Östrogene – 5


1.3.1 Was bewirken sie? – 5
1.3.2 Steroidsynthese – 5
1.3.3 HPA, HPG und Stress – 7
1.3.4 Wirkmechanismus der Geschlechtshormone – 7
1.3.5 Androgen- und Östrogenrezeptoren – 8
1.3.6 Geschlechtsunterschiede im Gehirn und bei kognitiven Funktionen – 9
1.3.7 Geschlechtshormone im ZNS – 9
1.3.8 Stress, Schmerz, Hormone und Immunsystem – 11
1.3.9 Geschlechtsunterschiede bezüglich der HPA-Achse – 11

1.4 Geschlechtsunterschiede und Immunsystem – 13


1.4.1 Interferon-γ (IFN-γ) – 13
1.4.2 Migrationsinhibitionsfaktor – 13

Literatur – 15
4 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

1 > Geschlecht, Gender und Hormone – diese drei Begriffe werden in verschiede-
nen aktuellen Überblicksarbeiten zu Geschlechtsunterschieden verwendet. In
diesem Kapitel sollen sie definiert und Untersuchungsergebnisse vorgestellt
werden, die ihre Beziehung zueinander beleuchten. Besondere Aufmerksamkeit
gilt dabei physiologischen Geschlechtsunterschieden unter Berücksichtigung
derjenigen Hormone, die Geschlecht und Gender beeinflussen. Es werden
nur gonadale Hormone (Androgene und Östrogene) besprochen, die als Ge-
schlechtshormone bezeichnet werden und deren Ursprung nicht ausschließlich
auf den Gonaden basiert. Dieses Kapitel kann keinen vollständigen Überblick
liefern und soll sich auch nicht nur auf einen bestimmten Aspekt konzentrieren.
Vielmehr will es die interessantesten Forschungsfelder betrachten, in denen
Einflüsse von Hormonen auf Geschlecht und Gender aufgezeigt oder vermutet
wurden.

1.1 Begriffsdefinitionen 1.2 Männlich oder weiblich?


Mann oder Frau?
Obwohl die Verwendung der Begriffe »Geschlecht«
und »Gender« weit verbreitet ist, gilt es, ihre Be- Die Zuordnung zu dem einen oder anderen Ge-
deutung zu erklären. Der Begriff Geschlecht dient schlecht beantwortet nicht immer die Frage, ob ein
zur Klassifizierung von Lebewesen als entweder Individuum ein Mann oder eine Frau ist. Da wäh-
männlich oder weiblich, entsprechend ihrer Fort- rend der normalen Expression der beiden Chromo-
pflanzungsorgane und der Funktionen, die auf den somen verschiedene Störungen auftreten können,
entsprechenden Chromosomen basieren. Daher ergibt sich eine Vielfalt von Möglichkeiten, durch
werden Personen mit zwei X-Chromosomen (XX) die eine Person »weiblicher« oder »männlicher«
als weiblich, Individuen mit der Kombination von wird. Wenn eine Person z. B. XY-männlich ist, aber
X- und Y-Chromosom (XY) dagegen als männlich keine Androgenrezeptoren besitzt, wird sie einen
angesehen. »weiblichen« Phänotyp entwickeln. Bei weiblichen
Der Begriff Gender wird insbesondere in Individuen spielt es eine große Rolle, welches der
englischsprachigen Ländern gebraucht, während X-Chromosomen aktiv ist, das väterliche oder das
andere Sprachen keinen ähnlichen Begriff zur mütterliche, denn es ist immer nur ein X-Chromo-
Beschreibung männlicher/weiblicher Individuen som aktiv, während das andere deaktiviert wird.
verwenden. In der wissenschaftlichen Literatur Die anfängliche Entscheidung, welches X-Chro-
wird der Begriff Gender jedoch zunehmend ge- mosom deaktiviert wird, scheint zufällig zu sein
braucht, insbesondere wenn auf soziokulturelle (Carrel et al. 1999). Es wird vermutet, dass diese
Lebensaspekte von Individuen Bezug genommen Entscheidung die geschlechtsspezifischen Risiken
wird. Daher sollte man von Gender sprechen, für die Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krank-
wenn man sich auf das Selbstbild einer Person als heiten determiniert.
männlich oder weiblich oder auf ihr Geschlechts- Zusätzlich zu einem männlichen oder weibli-
rollenverhalten bezieht. Gender wurzelt in der chen Genotyp hat die Entwicklung von männlichen
Biologie, wird aber durch Umwelt und Erfahrung oder weiblichen Fortpflanzungsorganen zur Folge,
geformt. dass Hormone produziert werden, die typisch für
1.3 · Androgene und Östrogene
5 1

weibliche oder männliche Lebewesen sind. Obwohl jedoch zunehmend deutlicher, dass die Aufrechter-
Gene die Geschlechtsdifferenzierung initiieren, haltung eines physiologischen Testosteronspiegels
spielen die von den Gonaden ausgeschütteten Hor- bei Frauen nicht nur aus ästhetischen Gründen
mone eine wichtige Rolle für diese Differenzierung. bedeutsam ist (beispielsweise verursacht ein ho-
Während sich die Hoden in der 6. bis 7. Schwanger- her Testosteronspiegel Hirsutismus), sondern auch
schaftswoche entwickeln, beginnt mit der Produk- aufgrund wichtiger psychischen Prozesse, an denen
tion von Testosteron um die 9. Woche eine Serie Testosteron beteiligt ist (z. B. der Stimmungslage).
von Veränderungen, die zu einer Maskulinisierung
des Gehirns und der Genitalien führt. Durch diese
Maskulinisierung wird die vorgegebene weibliche 1.3.2 Steroidsynthese
Differenzierung umgangen. Daher unterscheiden
sich Individuen nicht nur als Folge genetischer Für Steroide gibt es zwei Synthesewege, über Preg-
Variabilität, sondern unter Umständen auch infolge nenolon oder über Progesteron. Welche Steroide
pränataler hormoneller Einflüsse. produziert und ausgeschüttet werden, hängt von
Tierexperimentell wurde bereits gezeigt, dass den physiologischen (oder pathophysiologischen)
weibliche Lebewesen – abhängig von ihrer Position Eigenschaften der steroidogenen Zelle und der Ak-
im Uterus und dem Testosteronniveau, dem sie tivität der inhärenten Enzymsysteme ab. An der
durch männliche Geschwister aus dem gleichen Synthese von Steroidhormonen sind bis zu fünf
Wurf ausgesetzt sind – mehr oder weniger masku- verschiedene Hydroxylasen, zwei Dehydrogena-
linisiert werden können (Vandenbergh u. Huggett sen, eine Reduktase und eine Aromatase beteiligt
1995). Auswirkungen zeigen sich an den äußeren (⊡ Abb. 1.1). Die Steroidhydroxylasen und die Aro-
Genitalien und im Gehirn. Einzelne hormonindu- matase gehören zur Zytochrom-P450-Supergenfa-
zierte Wirkungen wurden auch bei menschlichen milie (CYP).
Zwillingen beschrieben (z. B. McFadden 1993). Bei normal menstruierenden Frauen wird
mehr als 95% des zirkulierenden Östradiols un-
mittelbar von den Ovarien ausgeschüttet, der Rest
1.3 Androgene und Östrogene stammt aus der peripheren Umwandlung von Ös-
tron. Etwa 60% des zirkulierenden Testosterons
1.3.1 Was bewirken sie? und 100% des zirkulierenden Dihydrotestosterons
(DHT) stammen aus der peripheren Umwandlung
Da Gonadenhormone stark an Fortpflanzungs- von Androstenedion, einem der Hauptprodukte
funktionen beteiligt sind, wurden sie als ge- der Nebenniere.
schlechtsspezifisch angesehen (d. h. Androgene In postpubertären männlichen Primaten
wirken in männlichen und Östrogene in weibli- stammt mehr als 95% des zirkulierenden Testos-
chen Lebewesen). Tatsächlich wirken aber sowohl terons aus den Testes, der Rest aus metabolischer
Androgene wie Östrogene in beiden Geschlech- Umwandlung von Vorläufern, die hauptsächlich
tern. Bei Männern liegt ein Östrogenspiegel von von der Nebennierenrinde ausgeschüttet werden,
etwa 50 pg/ml vor, während bei Frauen der Tes-
tosteron-Plasmaspiegel im Vergleich zu Östradiol
relativ hoch liegt (500 pg/ml Testosteron gegen-
über 300–500 pg/ml Östradiol in der Hochphase). Testosteron
OH
H3C
Möglicherweise führt die Gepflogenheit, Testoste-
ron in ng/ml anstatt in pg/ml auszudrücken (bei H3C
OH
H3C
Frauen: 0,5 ng/ml vs. 500 pg/ml) den Betrachter AROMATASE
O
irrtümlicherweise zu der Annahme, dass der Testo-
steron-Plasmaspiegel bei Frauen sehr niedrig liegt HO Östradiol
und nicht wichtig genug ist, um bestimmt und
– falls notwendig – korrigiert zu werden. Es wird ⊡ Abb. 1.1. Umwandlung von Testosteron in Östradiol
6 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

wie DHEA, DHEA-Sulfat und Androstenedion. entgehen, gelangen sie in den Kreislauf. Daher
1 Diese schwachen Androgene stellen ein Reservoir reflektiert das zirkulierende Östrogen bei postme-
an Vorläufersubstanzen für eine periphere Um- nopausalen Frauen und bei Männern lediglich die
wandlung in biologisch aktives Testosteron bereit. östrogenen Wirkungen, reguliert sie jedoch nicht
Bei Männern stammen zwei Drittel oder sogar (Simpson 2003).
mehr des zirkulierenden Östradiols aus testikulä- Veränderungen im Hormonspiegel der Gona-
ren Sekretionen, der Rest aus peripherer Umwand- denhormone kommen bei Männern und Frauen
lung von Testosteron und Östron. Wie auch bei häufig vor und haben verschiedene Ursachen. Ein
Frauen wird das zirkulierende DHT bei Männern niedriges Testosteronniveau beispielsweise ist eine
hauptsächlich aus der peripheren Umwandlung häufige Folge therapeutischer Interventionen. Sym-
von Androstenedion gewonnen. ptomatischen Hypogonadismus stellt man häufig
Neben der Ausschüttung durch die Hauptdrü- bei männlichen Krebspatienten fest, die dauerhaft
sen (Gonaden und Nebennierenrinde) können bi- Opioide einnehmen (Rajagopal et al. 2004).
ologisch aktive Steroide peripher (in Haut und Wir fanden ähnliche Resultate bei Männern
Fettgewebe) aus anderen aktiven Hormonen pro- über 55 Jahren, die über lange Zeit wegen chroni-
duziert werden. Testosteron fungiert z. B. als ein scher Schmerzen nicht-malignen Ursprungs mit
Prohormon, das in andere potente Hormone (DHT intrathekalen Injektionen von Opioiden behandelt
und Östradiol) umgewandelt werden kann. wurden (Aloisi et al. 2005). Patienten, die mit
Morphium behandelt wurden, zeigten eine signifi-
kante Verringerung des Testosteron-Serumspiegels
Hormonveränderungen (0,99 ng/ml gegenüber 2,47 ng/ml in der Kontroll-
Bei Frauen kann es neben den Hormonveränderun- gruppe). Dieser Testosteron-Plasmaspiegel liegt
gen über den Monatszyklus auch durch Schwan- klar im Bereich des Hypogonadismus (<3 ng/ml).
gerschaft zu großen hormonellen Umstellungen Das klinische Bild wird oft von Veränderungen
kommen. Die Schwangerschaft ist keine homo- des sexuellen Interesses und der Sexualfunktionen,
gene Phase, da der weibliche Körper während der von Depressionen, Muskelabbau und Osteoporose
Schwangerschaft und der Vorbereitung auf die Ge- begleitet.
burt kontinuierlichen Veränderungen unterworfen Der Opioid-induzierte Hypogonadismus bil-
ist. Auf den progressiven Anstieg des Plasmaspiegels det sich sehr schnell heraus und bleibt über die
von Östradiol folgt beispielsweise eine Verstärkung gesamte Behandlung mit Opioiden bestehen. Auf-
des analgetischen Systems. Dieser Effekt scheint so- grund des Wirkortes der Opioide gelangten wir zu
wohl auf prä- wie auf postsynaptischer Ebene über der Annahme, dass bei diesen Patienten die Unter-
das spinale analgetische Dynorphin/κ-Opioid-Sys- drückung der hypothalamisch-hypophysären-go-
tem vermittelt zu werden (Craft et al. 2004). nadalen Achse durch Opioide wahrscheinlich auf
Bei postmenopausalen Frauen schütten die der Ebene des Hypothalamus erfolgt, da man im
Ovarien keine Östrogene mehr aus. Extragonadal Hypothalamus Opioidrezeptoren findet (Jordan et
werden Östrogene aber weiterhin produziert und al. 1996) und sich der Hormonspiegel der Gonado-
wirken lokal als parakrine oder sogar intrakrine tropine (FSH und LH) nicht veränderte. Störungen
Faktoren. Zu diesen Produktionsorten gehören das der gonadalen Funktionen führen im Allgemeinen
Fettgewebe, das vaskuläre Endothelium und ver- zur Hyperaktivität des Hypothalamus, d. h. zu ei-
schiedene Gehirnareale. nem höheren Plasmaspiegel von FSH und LH, wie
Es wird angenommen, dass bei postmenopau- man ihn im Allgemeinen bei postmenopausalen
salen Frauen und bei Männern das zirkulierende Frauen beobachtet.
Östradiol die östrogenen Wirkungen nicht antreibt, Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass
dass es also reaktiv anstatt proaktiv ist. In diesen kurzfristige und auch langfristige Opioidgaben zu
Fällen stammen die zirkulierenden Östrogene aus einer Verringerung des Testosteronspiegels und
extragonadaler Produktion, wo sie lokale Wirkun- einer Veränderung des Sexualverhaltens führten
gen entfalten. Wenn sie dem lokalen Metabolismus (Roberts et al. 2002; Ceccarelli et al. 2006).
1.3 · Androgene und Östrogene
7 1
1.3.3 HPA, HPG und Stress Mechanismen, die an der Wahrnehmung und Ein-
schätzung aversiver Stimuli beteiligt sind (Patchev
Umwelteinflüsse wie z. B. chronischer Stress kön- et al. 2004).
nen bei Frauen signifikante Veränderungen des
Plasmaspiegels von Hormonen verursachen.
Stressfaktoren wie psychologische Krisen, Umwelt- 1.3.4 Wirkmechanismus der
gifte und anstrengendes Sporttraining können zu Geschlechtshormone
einer Dysfunktion der Ovarien führen, die den
Hormonspiegel und möglicherweise sogar den Bindung der Steroidhormone. Im Blutkreislauf
Zeitpunkt der Menopause beeinflusst. Ovarielle liegen Steroidhormone in zwei Formen vor: ge-
Dysfunktionen, die sich als sekundäre Amenor- bunden und ungebunden. Testosteron und Öst-
rhö zeigen, sind bei jungen Frauen tatsächlich weit radiol sind zu mehr als 97% an Plasmaproteine
verbreitet, etwa 5–18% der Frauen unter 40 Jahren gebunden, insbesondere an das sexualhormon-
sind betroffen. Für bis zur Hälfte dieser Fälle von bindende Globulin (SHBG) und unspezifisch an
vorzeitiger Ovarialinsuffizienz kann keine Ursache Albumin. Männliches und weibliches SHBG un-
gefunden werden, daher werden oft Umwelt- oder terscheiden sich. Dieses Protein spielt eine wich-
psychogene Faktoren als Auslöser der sog. funk- tige Rolle, da es zusätzlich zu seiner Fähigkeit,
tionellen hypothalamischen Amenorrhö (FHA) Steroidhormone im Plasma zu binden, über seinen
angenommen. eigenen Membranrezeptor auch an der Signalü-
In der komplexen Interaktion zwischen der bertragung beteiligt sein kann (Kahn et al. 2002).
Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse Bei normalen Männern und Frauen sind 40–65%
(HPA-Achse) und der Hypothalamus-Hypo- des zirkulierenden Testosterons und 20–40% des
physe-Gonaden-Achse (HPG-Achse) verläuft die zirkulierenden Östradiols an SHBG gebunden
Wirkrichtung nicht ausschließlich einseitig von der (Dunn et al. 1981). Die Bindung an SHBG ver-
HPA-Achse auf die HPG-Achse. Viele Untersu- ändert den Metabolismus von Testosteron, ver-
chungen haben stattdessen auch starke Wirkun- ringert seine metabolische Clearance und seine
gen der HPG-Achse-Produkte auf die HPA-Achse Konversionsrate zu Androstenedion (Vermeulen
gezeigt. Eine potenzielle Verknüpfung zwischen u. Ando 1979). SHBG blockiert darüber hinaus
weiblichen Geschlechtshormonen und der HPA- die Diffusion von Steroidhormonen aus dem Blut-
Reaktion auf Stress resultiert beispielsweise aus strom, wodurch deren Bindung an intrazelluläre
dem Befund, dass Östrogene durch Bindung an Androgen- oder Östrogenrezeptoren verhindert
Rezeptoren auf dem CRH-Gen die CRH-Aktivi- wird. Der nicht an SHBG gebundene Anteil ei-
tät erhöhen können (Vamvakopoulos u. Chrousos nes Hormons wird als biologisch aktiv betrachtet
1993). Die Annahme, dass das weibliche Steroid (Mendel 1989).
Östrogen auch unmittelbare Einflüsse auf das Ne- Testosteron und Östradiol binden an dersel-
bennierenmark ausübt und so sympatho-adrenale ben SHBG-Bindungsstelle, wobei die Affinität für
Wirkungen auslöst, wird auch durch Resultate ge- Testosteron höher ist als für Östradiol. Wenn der
stützt, die in Zellen des Nebennierenmarks bei Testosteronspiegel niedrig ist, bindet daher der
Frauen Östrogenrezeptor-Immunoreaktivität fest- größte Teil an SHBG, wodurch Östradiol stärkere
stellten (Saunders et al. 1997). Darüber hinaus Einflüsse auf den Körper ausüben kann. Dieses
wurde gezeigt, dass Androgene und Glukokorti- Phänomen könnte die Gynäkomastie erklären, die
koide gemeinsam zur Regulation der Sekretionen bei klinischen Störungen, bei denen hohe SHBG-
von Hypophyse und Nebenniere beitragen, sowohl Konzentrationen auftreten, oft beobachtet wird
unter Normal- wie auch unter Stressbedingungen. (Ford et al. 1992; Abalovich et al. 1999). Da bei der
Testosteron hemmt bei Stress diese Sekretionen, klinischen Bewertung eines Steroidhormons routi-
möglicherweise über eine veränderte Sekretions- nemäßig auch die Gesamtzirkulation des Steroids
fähigkeit von Kortikotrophen der Hypophyse oder interpretiert wird, ist es wichtig, dabei das SHBG-
über Veränderungen in der Reaktion/Funktion von Niveau zu berücksichtigen.
8 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

Bei gesunden Männern kann die SHBG-Kon- 1.3.5 Androgen- und Östrogenrezeptoren
1 zentration durch viele Faktoren beeinflusst werden.
Beispielsweise erhöht sich durch eine Östradiolbe- Östrogenrezeptoren. Es gibt zwei Subtypen von
handlung das SHBG-Niveau im Blut zusammen mit Östrogenrezeptoren (ERα und ERβ) mit unter-
der Gesamtkonzentration von Testosteron. Darüber schiedlicher Verbreitung. Bei der Ratte findet sich
hinaus steigt SHBG bei Männern mit zunehmen- die höchste Dichte von ERα im Uterus, den Testes,
dem Alter an, daher verringert sich der Anteil der Hypophyse, Ovarien, Niere und Nebenniere,
freien Testosterons und erreicht bei Männern über während sich ERβ Rezeptoren eher im ZNS befin-
60 Jahre das niedrigste Niveau (Leifke et al. 2000). den (Smith 1994). Eine Östrogenbehandlung kann
Bei Lebererkrankungen und Hyperthyreose ist das die Transkription zahlreicher Gene beeinflussen, die
SHBG-Niveau ebenfalls erhöht (Rosner 1990). keine Östrogen-responsiven Elemente enthalten, dies
Viele unkonjugierte Steroide binden an Al- geschieht über Interaktion der Östrogenrezeptoren
bumin, diese Bindung ist unspezifisch und von mit anderen Transkriptionsfaktoren zur Steigerung
niedriger Affinität. Die Bindung dieser Steroide an (Transkriptions-Koaktivator) oder Verringerung
Plasmaalbumin hat nur geringe Auswirkungen auf (Transkriptions-Korepressor) der Transkription.
den Metabolismus. Im Gegensatz dazu binden Ste-
roid-Sulfokonjugate stark an Plasmaalbumin und Androgenrezeptoren. Dagegen ist nur ein Typ des
werden daher nur langsam aus dem Blut entfernt. Androgenrezeptors (AR) bekannt, der sich auch im
Testosteron und Östradiol werden als Glukoronide ZNS, einschließlich des Vorder- und Hinterhorn
und Sulfonate im Urin ausgeschieden. des Rückenmarks, befindet. Obwohl die intrazellu-
läre Aromatisierung von Testosteron zu Östradiol
Wirkungsprinzip der Steroidhormone. Steroid- (⊡ Abb. 1.1) und die darauf folgende Aktivierung
hormone können über genomische und nicht-ge- von Östrogenrezeptoren für viele androgene Funkti-
nomische Prozesse Einfluss auf Zellen nehmen. onen verantwortlich ist (Kawata 1995), wird ein gro-
Genomische Prozesse laufen über Transkription ßer Teil androgener Wirkungen über Aktivierung
und Translation neuer Genprodukte und erfor- von Androgenrezeptoren in Zielgeweben erreicht
dern oft mehrere Stunden bis zur Wirkung. Nicht- (Collado et al. 1992). Androgenrezeptoren werden
genomische Wirkungen treten sehr schnell ein durch Androgene hochreguliert (Lu et al. 1999),
und beruhen auf Ionenbewegungen (Falkenstein Androgene kontrollieren außerdem die Aktivität des
et al. 2000). An diesen schnellen Wirkungen sind Enzyms Aromatase, wodurch die lokale Konzentra-
insbesondere G-Proteine, Kalziummobilisation, tion von Östradiol indirekt reguliert wird (Roselli u.
Adenylzyklase, Phospholipase C oder Tyrosinki- Resko 1997). Im Neuron kann Testosteron
nase beteiligt. So inhibiert Östradiol die Aktivität ▬ an Androgenrezeptoren binden,
von Ca++-Kanälen des L-Typs und beeinflusst die ▬ mittels 5-α-Reduktase zu 5-α-DHT umgewandelt
Ca++-Signalkaskade. Die G-Protein- und Ca++-Si- werden und an Androgenrezeptoren binden,
gnalwege sind für die Gedächtnisfunktion von we- ▬ mittels Aromatase zu Östradiol umgewandelt
sentlicher Bedeutung. werden und an Östrogenrezeptoren binden,
Bei genomischen Prozessen aktivieren Stero- ▬ über einen von verschiedenen metabolischen
idhormone die entsprechenden Rezeptoren, die Prozessen zu einer androgenen metabolischen
ligandengebundenen Steroidhormonrezeptoren Form umgewandelt werden, die weder an An-
dimerisieren und binden an spezifische hormon- drogen- noch an Östrogenrezeptoren bindet
responsive Elemente auf der DNA, um den Trans- (Kawata 1995).
kriptionsprozess in Gang zu setzen. Die Forschung
hat gezeigt, dass der Steroidhormonrezeptor nicht Rezeptorendichte. Die Reaktivität der Zellen auf
allein agiert, sondern mit einer Vielzahl von Ko- Steroidhormone hängt von der Rezeptordichte ab.
regulatorproteinen in zellspezifischen Positionen Aus diesem Grund können Mechanismen, welche
interagiert, die gewebespezifische Effekte ermög- die Rezeptordichte verändern, auch die Steroid-
lichen. wirkungen wesentlich beeinflussen. Wie in einer
1.3 · Androgene und Östrogene
9 1

aktuellen Übersichtsarbeit von Patchev (2004) dar- 1.3.6 Geschlechtsunterschiede im Gehirn


gestellt, unterliegt die Expression verschiedener und bei kognitiven Funktionen
Steroidrezeptoren im ZNS einer homologen Herab-
regelung durch den entsprechenden Liganden. An- Beim Menschen ist das männliche Gehirn schwe-
drogenrezeptoren zeigen andersgeartetes Verhalten: rer und größer als das weibliche ( Kap. 5). Ei-
ihre Zahl steigt nach endogener Freisetzung oder ner der zuerst entdeckten morphologischen Ge-
exogener Gabe von Androgenen an. Daher erzeugt schlechtsunterschiede betraf den sexuell dimor-
ein physiologisches Androgenniveau bestimmte Re- phen Nukleus (SDN) im präoptischen Areal des
zeptordichten, die für die vollständige Ausprägung Hypothalamus, der bei Männern doppelt so groß
der Androgenwirkungen notwendig sind. Das Gen ist wie bei Frauen (Gorsky 2002). Interessanter-
für den Androgenrezeptor befindet sich auf dem weise sind jedoch der zerebrale Blutfluss (Ragland
X-Chromosom (Brinkmann 2001). Da die X-Inak- et al. 2000) und der Glukosemetabolismus (Andre-
tivierung mit dem Alter stärker wird (Toghi et al. ason 1994) im weiblichen Gehirn höher. Obwohl
1995), steht die nachlassende zelluläre Reaktion auf es keine Geschlechtsunterschiede bei der Dicke
eine Testosteronbehandlung im Zusammenhang des Kortex gibt, sind Dichte und Anzahl von Neu-
mit der Verringerung der Androgenrezeptoren. ronen bei Männern höher: Dies deutet darauf hin,
Bei Frauen steigt 72 Stunden nach einer Ova- dass der männliche zerebrale Kortex deutlich mehr
riektomie die Anzahl von Östrogenrezeptoren in Neuronen besitzt. Experimente mit Ratten zeigen,
der gesamten Neuroachse an, wie in einer Studie dass Testosteron den apoptotischen Neuronenun-
berichtet wurde (Shugrue et al. 1992). Eine weitere tergang hemmt, dieses Phänomen ist bei Männern
Studie stellte einen Anstieg der Östrogenrezep- für die größere Zahl von Neuronen im SDN des
toren in vielen Gehirnregionen und peripheren präoptischen Areals im Hypothalamus verantwort-
Bereichen nach länger zurückliegender Ovariekto- lich (Davis et al. 1996). Zur stärksten Reduktion
mie fest (Mohamed u. Abdel-Rahman 2000). Diese kortikaler Neuronen kommt es beim Menschen
Untersuchungen führten zu der Schlussfolgerung, während der letzten 10 Schwangerschaftswochen,
dass Östrogen im Gehirn die fortlaufende Trans- was vermuten lässt, dass Geschlechtsunterschiede
kription moduliert und dass diese Transkriptions- in der Zahl kortikaler Neuronen durch biologische
prozesse durch permanente Rezeptoraktivität oder Faktoren, die in utero wirken, verursacht werden.
lang anhaltenden Östrogenmangel gestört werden Eine einfache Erklärung für diese Effekte ist die
(Foster 2005). Im Gehirn besteht kein enger Zu- Tatsache, dass Östradiol und Testosteron das Ge-
sammenhang zwischen der Transkription, an der hirn über das Kreislaufsystem erreichen können.
Östrogen-responsive Elemente beteiligt sind, und Gonadenhormone haben eine niedrige Molekular-
dem Plasmaspiegel von Östrogen; die liganden- masse (270–379 KDa) und sind ausreichend lipo-
unabhängige Transkription kann starke Einflüsse phil, um die Blut-Hirn-Schranke durch einfache
auf die basale Transkription haben (Ciana et al. Diffusion passieren zu können. Aber ebenso wie
2003). Während die Transkription zusammen mit Zellen in der Nebennierenrinde, in den Ovarien,
dem initialen Anstieg des Plasma-Östrogenspiegels Testes und der Plazenta können auch Zellen in
im Diöstrus zunimmt, verringert sie sich in der bestimmten Gehirnarealen eine Cholesterol-Sei-
Phase der höchsten Östrogenwerte im Proöstrus tenkettenspaltung durchführen.
stark (Ciana et al. 2003). Dieses Phänomen könnte
eine Adaptation des Gehirns an die fluktuierenden
Östrogenspiegel während des Menstruationszyklus 1.3.7 Geschlechtshormone im ZNS
und den sehr hohen Östrogenspiegel während der
Schwangerschaft reflektieren. Chronisch gestei- Das ZNS ist eine Zielregion gonadaler Hormone,
gerte Hormonspiegel sind beispielsweise mit be- und es wird immer klarer, dass signifikante hormo-
einträchtigten Gedächtnisleistungen in Aufgaben nelle Veränderungen zahlreiche Prozesse im ZNS
mit deutlicher emotionaler oder Stresskomponente modulieren können. So genannte organisierende
verknüpft (Gibbs et al. 1998; Galea et al. 2001). Effekte sind Wirkungen von Geschlechtshormo-
10 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

nen, die permanente Spuren im ZNS hinterlassen. beobachteten exzitatorischen Wirkungen von Tes-
1 Diese Wirkungen treten während der Entwicklung tosteron wahrscheinlich auf seine Umwandlung
ein und sind dauerhaft. Geschlechtshormone üben in Östradiol zurückgehen (Beyenburg et al. 2001),
aber auch während des adulten Stadiums weiter- kann Testosteron sogar den epileptogenen Effek-
hin Wirkungen aus, diese werden als aktivierend ten von Östradiol entgegenwirken (Edwards et al.
bezeichnet. 1999). Außerdem kann es die Reaktion von Östro-
Die Rolle von Östrogen für die Aufrechterhal- genrezeptoren antagonisieren und die Dichte von
tung neuronaler Integrität und für die Plastizität Östrogenrezeptoren im Gehirn herabregulieren
im ZNS wird zunehmend deutlicher. Verschie- (Brown et al. 1996). Interessanterweise verbessert
dene Studien stellten bei gesunden postmenopau- eine Testosteronersatztherapie bei Epilepsie die
salen Frauen Verbesserungen kognitiver Leistun- Kontrolle von Krampfanfällen, wenn Testosteron
gen durch Östrogentherapie fest (Smith u. Zubieta in Kombination mit Testolakton verabreicht wird,
2001), wobei am häufigsten über eine Verbesserung einem Aromatasehemmer, der die Umwandlung
des verbalen Gedächtnisses berichtet wird. von Testosteron zu Östradiol unterbindet (Herzog
Es gibt eine Reihe potenzieller Mechanismen, et al. 1993).
über die Östrogen kognitive Funktionen unterstüt- Bei Männern kann ein vorübergehende Erhö-
zen könnte. Beispielsweise besitzt Östradiol anti- hung des Steroidhormonspiegels auf das Dreifache
oxidative und entzündungshemmende Eigenschaf- durch Gabe von humanem Choriongonadotropin
ten, diese können Gehirnschäden entgegenwirken dazu führen, dass die Schwelle zur Auslösung einer
( Kap. 16 und 17), welche durch freie Radikale motorischen Reaktion bei transkranieller Magnet-
verursacht werden (Smith u. Zubieta 2001). Im stimulation des primären Motorkortex sinkt (Boni-
menschlichen Gehirn finden sich Östrogenrezep- fazi et al. 2004). Da der Schwellenwert für die Aus-
toren in verschiedenen Regionen, wobei der ERα- lösung einer motorischen Reaktion die Exzitabilität
Subtyp die höchsten Konzentrationen in der Amyg- der Motoneuronen reflektiert, kann angenommen
dala, im Hypothalamus und in Teilen der hippo- werden, dass Geschlechtssteroide die kortikospina-
kampalen Formation zeigt. Der ERβ-Subtyp wird len Bahnen fazilitieren. Interessanterweise fanden
am häufigsten im Hippokampus, im Klaustrum Smith et al. (2002) bei Frauen während der späten
und im Kortex gefunden (Osterlund et al. 2000). Follikularphase des Menstruationszyklus, in der
Ein bekanntes Zielgebiet neuromodulatorischer die Östradiolkonzentration im Blut 3,5-mal höher
Wirkungen von Gonadenhormonen ist die hippo- ist als in der frühen Follikularphase, keine sig-
kampale Formation, die an Lern- und Gedächtnis- nifikanten Veränderungen dieser Schwelle. Diese
prozessen beteiligt ist. Östrogene haben nicht nur Unterschiede lassen vermuten, dass männliche
genomische, sondern auch schnelle nicht-geno- Neuronen über ein höheres Exzitabilitätsniveau als
mische Einflüsse auf die synaptische Plastizität im weibliche verfügen und dass Östradiol die Exzi-
Hippokampus. Das Vorhandensein von Östradiol tabilität bei Männern steigert, bei Frauen jedoch
im Hippokampus kann – neben der Bereitstellung nicht.
des Hormons über den Blutkreislauf – mit dem Untersuchungen zu kognitiven Fähigkeiten,
Vorkommen von Zytochrom-P450-Aromatase im darunter insbesondere diejenigen, die sich auf Ge-
Hippokampus erklärt werden; diese Aromatase schlechtsunterschiede konzentrierten, haben ge-
wurde kürzlich bei der adulten Ratte und beim zeigt, dass Frauen im Allgemeinen bessere verbale
Menschen im Hippokampus nachgewiesen. Dieses Fähigkeiten, eine höhere Wahrnehmungsgeschwin-
Enzym vermittelt die Umwandlung von Testoste- digkeit und bessere feinmotorische Fähigkeiten be-
ron zu Östradiol (Azcoitia et al. 2001). Darüber sitzen, während Männer in Tests zu räumlichen
hinaus wurde gezeigt, dass Östradiol in hippo- und mathematischen Fähigkeiten und grobmoto-
kampalen Neuronen aus Cholesterol synthetisiert rischer Kraft häufig besser abschneiden (Hampson
werden kann. 1990;  Kap. 6). Interessanterweise werden die Leis-
Die Wirkungen von Androgenen auf die neu- tungen von Frauen in bestimmten Tests kognitiver
ronale Exzitabilität sind umstritten. Während die Fähigkeiten durch Veränderungen des weiblichen
1.3 · Androgene und Östrogene
11 1

Hormonspiegels über den Menstruationszyklus korrelierten mit wiederkehrenden Schmerzen bei


beeinflusst. In der präovulatorischen Phase bei- Frauen (Marcus et al. 1995). Bei postmenopausa-
spielsweise, in der relative hohe Östrogenwerte len Frauen, die sich eine Östrogenersatztherapie
vorherrschen, werden geringe Verschlechterungen unterziehen, ist ein erhöhtes Vorkommen von tem-
der räumlichen Fähigkeiten und Verbesserungen poromandibulärem Gelenkschmerz zu beobachten
in Aufgaben zur manuellen Koordination und ar- (Le Resche 1997). Kürzlich stellten wir fest, dass
tikulatorischen Fähigkeit beobachtet (Hampson männliche Ratten, die über zwei Tage intraze-
1990). rebroventrikulare Östrogeninjektionen erhielten,
Insgesamt zeigen die Untersuchungen, dass stärkeres Leckverhalten in Reaktion auf Formalin-
weibliche Geschlechtshormone die Leistungen induzierten Schmerz zeigten als Kontrolltiere, die
bei denjenigen Fertigkeiten verbessern, bei denen Injektionen mit Kochsalzlösung erhielten (Aloisi
Frauen normalerweise besser abschneiden, wäh- u. Ceccarelli 2000).
rend sie die Leistungen in Aufgaben, die Män- Östrogene scheinen also die Schmerzwahrneh-
ner normalerweise besser können, verschlechtern mung zu fördern – dies könnte zum Teil erklären,
(Wizemann u. Pardue 2001). warum chronische Schmerzsyndrome häufiger bei
Frauen auftreten (Berkley 1997).
Im Gegensatz dazu verfügen wir nicht über
1.3.8 Stress, Schmerz, Hormone ausreichende Informationen zur Rolle von And-
und Immunsystem rogenen bei Schmerz. Die meisten durchgeführten
Studien weisen allerdings darauf hin, dass Andro-
Man nimmt an, dass Gonadenhormone eine Rolle gene bei Schmerzen helfen. Beispielsweise wurde
für Geschlechtsunterschiede bei verschiedenen bei Arbeiterinnen ein inverser Zusammenhang
chronischen Schmerzsyndromen und Immunre- zwischen Plasmatestosteron und arbeitsbedingten
aktionen spielen (Craft et al. 2004; Grossman et Schulter- und Nackenschmerzen gefunden (Ka-
al. 1991;  Kap. 11). Östrogene scheinen die Ent- ergaard et al. 2000). Ähnliche Resultate stammen
wicklung chronischer Schmerzsyndrome zu för- aus Tierexperimenten: beispielsweise wurde festge-
dern, während Androgene dagegen schützen sollen stellt, dass bei männlichen Ratten Testosteron eine
(Craft et al. 2004). Androgene scheinen auch die Schutzfunktion gegen Adjuvans-induzierte Arthri-
Aktivität des Immunsystems zu verringern, wäh- tis ausübt (Harbuz et al. 1995).
rend Östrogene dessen Aktivität eher fördert, wie
sich in der größeren Häufigkeit von Störungen des
Immunsystems bei Frauen zeigt (Whitacre 2001). 1.3.9 Geschlechtsunterschiede bezüglich
Im Schmerzsystem, ebenso wie in den anderen der HPA-Achse
sensorischen Systemen, zeigen sich Geschlechts-
wie auch Gender-Unterschiede. Es wurde wieder- Die Forschung hat gezeigt, dass schwere trauma-
holt gezeigt, dass Frauen häufiger und intensiver tische Erlebnisse in der Kindheit einen Faktor für
an Schmerzen leiden als Männer. Diese Resultate Störungen des neuroendokrinen Systems und der
werden durch klinische und experimentelle Be- HPA-Achse darstellen könnten; diese Störungen
funde gestützt, die demonstrieren, dass weibliche sollen mit erhöhtem Auftreten von stress- und
Lebewesen eine geringere Schwelle für nozizeptive schmerzbezogenen Krankheiten in Zusammen-
Stimuli haben als männliche und auf dieselben hang stehen (Weissbecker et al. 2006). Zahlreiche
Schmerzreize eine stärkere Verhaltensreaktion zei- Tierexperimente haben gezeigt, dass nach Stimula-
gen, auch in den inneren Organen (Giamberardino tion der HPA-Achse der Glukokortikoidspiegel in
2000). weiblichen Lebewesen höher ist als in männlichen,
Experimentelle und klinische Befunde ver- im Gegensatz dazu zeigten die meisten psycho-
weisen auf eine Beteiligung weiblicher Gonaden- logischen Stressuntersuchungen beim Menschen
hormone an vielen chronischen Schmerzsyndro- entweder niedrigere Kortisolwerte bei Frauen als
men. Veränderungen im Östrogen-Plasmaspiegel bei Männern oder keine signifikanten Geschlechts-
12 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

unterschiede in Reaktion auf einen akuten realen gen nachweisen. Wir haben jedoch vor kurzem
1 psychologischen Stressfaktor (Kajantie u. Phillips festgestellt, dass bei Patienten, die an chronischem,
2006; Kudielka u. Kirschbaum 2005). nicht-malignem Schmerz leiden, die Kortisolwerte
Die beobachteten Geschlechtsunterschiede in signifikant niedriger und auch die Östrogenwerte
der Stressreaktion der HPA-Achse könnten auf niedriger liegen als bei der Kontrollgruppe, wäh-
geschlechtliche Dimorphismen in Gehirnfunktio- rend die Testosteronwerte keine Unterschiede
nen und zirkulierenden Steroiden zurückzuführen aufweisen (Aloisi et al. 2005). Außerdem haben
sein. Die wesentlichen Geschlechtsunterschiede Frauen mit chronischen Unterleibsschmerzen
sind laut Kajantie u. Phillips (2006): ohne identifizierte organische Ursache normale
▬ Erhöhte Sensitivität der CRH-Produktion im bis niedrige diurnale Kortisolkonzentrationen im
männlichen Hypothalamus als Reaktion auf Speichel (Heim et al. 1999). Bei diesen Frauen
Stress führt zu verstärkter ACTH-Synthese. führt eine Stimulation von CRH zu normalen
▬ Die Nebennierenrinde bei prämenopausalen Plasmawerten für ACTH, aber zu einer verrin-
Frauen zeigt jedoch höhere Sensitivität für gerten Kortisolkonzentration im Speichel (Heim
ACTH, wodurch die geringeren ACTH-Kon- et al. 1999).
zentrationen teilweise ausgeglichen werden Adler et al. (1999) stellten fest, dass bei Patien-
und der Geschlechtsunterschied bei der Korti- ten mit Fibromyalgie, einer chronischen Erkran-
solsynthese verringert wird. kung, von der hauptsächlich Frauen betroffen sind,
▬ Die Synthese von kortikosteroidbindendem die Aktivierung der HPA-Achse in Reaktion auf
Globulin (CBG), das die Bioverfügbarkeit von Hypoglykämie beeinträchtigt ist. Bei Patienten mit
Kortisol beeinflusst, wird durch Östrogen sti- Fibromyalgie können auch Veränderungen des zir-
muliert und ist daher bei Frauen höher als bei kadianen Rhythmus für Kortisol auftreten, erkenn-
Männern, insbesondere, wenn orale Kontra- bar an einem hohen Kortisolspiegel am Abend.
zeptiva verwendet werden. Eine Erklärung für die gestörte zirkadiane Rhyth-
mik bei diesen Patienten ist eine verringerte Elas-
Der Zusammenhang von chronischen Schmerz- tizität der HPA-Achse, wahrscheinlich aufgrund
syndromen, Funktion der HPA-Achse und Ge- hippokampaler Störungen der Feedback-Inhibition
schlechtshormonen ist beim Menschen in ver- durch beeinträchtigte Funktion von Glukokorti-
schiedenen Studien untersucht worden. Girdler et koidrezeptoren (Crofford et al. 2004). In diesem
al. (2005) stellten eine Beeinträchtigung der Funk- Zusammenhang stellten Lentjes et al. (1997) fest,
tion der HPA-Achse bei Rauchern fest. Eine solche dass bei Patienten mit Fibromyalgie eine verrin-
verringerte Funktion der HPA-Achse könnte bei gerte Bindungsaffinität für Glukokortikoide an den
Raucherinnen das Ausbleiben von stressinduzier- Glukokortikoidrezeptoren in peripheren mononu-
ter Analgesie bei ischämischem Schmerz erklären, klearen Zellen (PBMC) vorliegt, die zum Teil für
die man bei Nichtraucherinnen normalerweise die Störung der Kortisol-Feedback-Inhibition ver-
beobachtet. Da die Schmerzempfindlichkeit beim antwortlich sein könnte.
Ischämietest durch intrinsische Opioidsysteme Eine Anpassung an den Trainingsstress bei
vermittelt wird (Girdler et al. 2005), kann die Sportlern, erkennbar an Leistungssteigerungen,
verringerte Fähigkeit der HPA-Achse, auf Stress zu geht mit hoher Bindungskapazität von Glukokorti-
reagieren, zusammen mit verringerter Modulation koidrezeptoren einher (Bonifazi et al. 2001). Eine
der Konzentration von β-Endorphinen, zur gestör- gesteigerte Bindungskapazität der Glukokortikoid-
ten Regulation der endogenen Schmerzmechanis- rezeptoren erhöht die Sensitivität der Hypophyse
men bei Frauen beitragen. für die negative Kortisolrückkopplung und hilft
Hampf et al. (1989) untersuchten das Niveau dabei, ein optimales Niveau von zirkulierendem
von Kortisol und β-Endorphinen bei Patienten Kortisol aufrechtzuerhalten. Damit könnte die
mit chronischem orofazialem Schmerz, konnten Wirkung von Kortisol gefördert (Sapolsky et al.
jedoch keine Korrelation zwischen endokrinen 2000) und so die Reaktion auf Stressfaktoren und
Markern und Schmerz bzw. psychischen Störun- die Adaptionsprozesse verbessert werden. Bei Pa-
1.4 · Geschlechtsunterschiede und Immunsystem
13 1

tienten mit Fibromyalgie wurde nach einem drei- auf Stimulation von DRG-Axonen steigert. Daher
wöchigen multidisziplinären Therapieprogramm, könnte die Disinhibition der Aktivität neuronaler
das Aerobic-Übungen, Entspannungsübungen und Netzwerke im Hinterhorn, die bei Entzündungen
kognitive Verhaltenstherapie umfasste, ein signifi- und Infektionen durch IFN-γ im Rückenmark aus-
kanter Anstieg in der mRNA-Expression von Glu- gelöst wird, die Reaktionen auf periphere sensori-
kokortikoidrezeptoren festgestellt (Muscettola et sche Stimulation im Hinterhorn steigern, woraus
al. 2004). Gleichzeitig wurde eine signifikante Ver- eine Sensitivierung und Verstärkung aller durch
ringerung der Anzahl von Druckschmerzpunkten, Nozizeption induzierten zentralen Veränderungen
der prozentualen Größe schmerzhafter Bereiche resultiert (Ji et al. 2003).
und der tatsächlichen Schmerzempfindung fest- In Verbindung mit anderen Resultaten ver-
gestellt. Diese Befunde verweisen darauf, dass ein weisen diese Daten auf eine faszinierende Hypo-
teilweises Nachlassen der Muskelschmerzen bei these: IFN-γ könnte eine Schlüsselrolle bei der
Patienten mit Fibromyalgie auf verbesserte Funk- Bestimmung der experimentell und klinisch beo-
tion der HPA-Achse zurückzuführen sein könnte, bachteten Geschlechtsunterschiede beim Schmerz
die mit einer gesteigerten Anpassungsleistung des spielen, und zwar aufgrund seine Fähigkeit, die
Stress-Systems einhergeht, was wiederum wahr- Aktivierung im Rückenmark, die durch periphere
scheinlich mit einer verstärkten Synthese von Glu- nozizeptive Stimuli induziert wird, hochzuregulie-
kokortikoidrezeptoren zusammenhängt. ren. Dieser Mechanismus könnte erklären, weshalb
Frauen (mit höherem Östrogen- und IFN-γ-Ni-
veau) eine stärkere Verhaltensreaktion und länger
1.4 Geschlechtsunterschiede andauernde neuronale und Verhaltenseffekte zei-
und Immunsystem gen als Männer (Aloisi et al. 1997; Ceccarelli et al.
1999).
1.4.1 Interferon-γ (IFN-γ)

Unsere Forschergruppe hat wiederholt starke Kor- 1.4.2 Migrationsinhibitionsfaktor


relationen zwischen Gonadenhormonen, Schmerz
und Immunfunktionen beobachtet ( Kap. 15). Der Migrationsinhibitionsfaktor (MIF) wurde zu-
Beispielsweise zeigen die beiden wichtigen Zyto- nächst als ein T-Zellen-Zytokin beschrieben, das
kine IFN-γ und MIF Geschlechtsunterschiede und in der Lage ist, die regellose Migration von Ma-
werden durch Geschlechtshormone beeinflusst. krophagen zu hemmen, Makrophagen an den Ent-
Eine Beteiligung von IFN-γ an Schmerzprozessen zündungsorten zu konzentrieren und ihre Fähig-
wird vermutet, da man an Synapsen der ober- keit zur Vernichtung intrazellulärer Parasiten und
flächlichen Schichten des Hinterhorns bei Ratten Tumorzellen zu steigern (Bloom u. Bennet 1966;
IFN-γ-Rezeptor-Immunoreaktivität festgestellt hat David 1966; Nathan et al. 1971). Vor einiger Zeit
(Vikman et al. 1998). Darüber hinaus bewirkte eine wurde gezeigt, dass MIF von verschiedenen ande-
anhaltende schmerzhafte Stimulation bei Ratten ren Zelltypen wie Monozyten, Endothelzellen und
eine Verringerung von IFN-γ (Aloisi et al. 2004). Zellen des Hypophysenvorderlappens produziert
IFN-γ kann die synaptische Übertragung auf ver- wird und multifunktionale physiologische Wir-
schiedene Weise beeinflussen, da es die Expression kungen besitzt (Bernhagen et al. 1993; Nishihira
einer großen Zahl von Genen reguliert. Insbe- et al. 1998; Abe et al. 2000). MIF kann als Reaktion
sondere ist IFN-γ wirksam bei der Induktion von auf Stress oder systemische Entzündungsstimuli
NOS (Stickoxidsynthase) (Forstermann et al. 1998), von der Hypophyse freigesetzt werden (Bernhagen
während zentraler Sensitivierung werden verschie- et al. 1994; Calandra u. Bucala 1997) und zirkuliert
dene Formen von NOS im Rückenmark induziert danach im Blut als ein Hormon.
(Wu et al. 2001). Dies muss betont werden, denn Viele Zytokine beeinflussen die Funktionen des
Vikman et al. (2003) zeigten kürzlich, dass IFN- Nervensystems und regulieren das neuroendro-
γ die Reaktivität von Neuronen im Hinterhorn krine System über lokale und/oder systemische
14 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

Effekte (Vitkovic et al. 2000). MIF gehört zu dieser 1998). Das hohe MIF-Niveau in den Neuronen
1 Gruppe von Vermittlern zwischen Immunsystem lässt eine physiologische (protektive) Rolle vermu-
und neuroendokrinem System (Fingerle-Rowson ten, zusätzlich zu der bei zerebralen Entzündun-
u. Bucala 2001). Obwohl MIF an einer Reihe von gen. Besonders stark wird MIF in hippokampalen
reproduktiven Prozessen beteiligt zu sein scheint Neuronen exprimiert, die sensitiv für Glukokorti-
und in verschiedenen hormonsensitiven Geweben koide sind. Die Wirkung von Glukokortikoiden auf
(Prostata und Uterus) exprimiert wird (Arcuri et den Hippokampus ist gut bekannt, wenn sie lange
al. 2001, Vera u. Meyer-Siegler 2003), konnte bis- andauern, treten negative Auswirkungen auf, die
lang kein direkter Zusammenhang zwischen MIF- denen bei chronischem Stress und Schmerz ähneln
Plasmaspiegel und Gonadenhormonen gezeigt (Bacher et al. 1998; Ogata et al. 1998).
werden. Die Vorstellung, dass ein hohes MIF-Niveau
In einer aktuellen Studie (Aloisi et al. 2005) bei jüngeren Männern eine protektive Wirkung auf
wurde festgestellt, dass der MIF-Plasmaspiegel in Neuronen im Hippokampus ausübt, ist für Erklä-
einer Kontrollgruppe von schmerzfreien Männern rungsansätze der Geschlechtsunterschiede bei der
signifikant höher war als in einer Kontrollgruppe Entwicklung chronischer Schmerzsyndrome von
von Frauen. Dieser Unterschied zeigte sich aller- besonderer Relevanz.
dings nur in der Altergruppe unter 55 Jahren. Die Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Wir-
jüngeren Männer hatten auch die höchsten Testo- kung von MIF auf periphere Nerven. Eine Unter-
steronwerte. Der einzige weitere Bericht eines ver- suchung hat gezeigt, dass MIF sogar in peripheren
gleichbaren Geschlechtsunterschiedes stammt von Nerven exprimiert wird, daher könnte dieser Fak-
Vera u. Meyer-Siegler (2003), die feststellten, dass tor Bedeutung für die Nervenregeneration haben
die MIF-Proteinkonzentrationen in der Blase von (Nishio et al. 1999). Ein großer Prozentsatz von
Ratten bei jungen Männchen dreimal höher lagen Patienten entwickelt nach einer Nervenschädigung
als bei jungen Weibchen. ein chronisches Schmerzsyndrom, die meisten da-
Obwohl man viele Hypothesen anführen kann, von sind Frauen (Fillingim 2001).
um das höhere MIF-Niveau bei jüngeren Männern Diese Befunde veranlassten uns, über die Rolle
zu erklären, legt die positive Korrelation zwischen von MIF bei der Nervenregeneration zu speku-
MIF-Plasmaspiegel und Testosteron nahe, dass der lieren. Zunächst einmal ist der MIF-Plasmaspie-
MIF-Spiegel direkt und/oder indirekt über Testos- gel bei Männern höher als bei Frauen. Wenn das
teron moduliert wird. Eine solche Interaktion wird MIF-Niveau in den Nerven bei Frauen ebenfalls
auch durch den Befund von MIF-Expression in tes- geringer ist, können wir die Hypothese aufstellen,
tosteron-sensitiven Organen wie der Prostata und dass Frauen sich möglicherweise schlechter von
den Testes gestützt (Hedger u. Meinhardt 2003; einer Nervenschädigung erholen. Darüber hinaus
Vera u. Meyer-Siegler 2003), sowie durch die Betei- spielt MIF eine Rolle bei der Detoxifikation von
ligung von Testosteron bei pro- und antiinflamma- Katecholaminprodukten (Matsunaga et al. 1999),
torischen Zuständen auf systemischer und zellulä- daher lässt das niedrigere MIF-Niveau bei Frauen
rer Ebene (Ashcroft u. Mills 2002;  Kap. 15). geringere Kapazitäten für den Schutz von Nerven-
Zirkulierendes Testosteron ist auch bei Frauen gewebe vermuten. MIF kann aufgrund seiner Fä-
vorhanden, das niedrige Niveau scheint jedoch higkeit, die Freisetzung von Zytokinen oder Sticko-
nicht im Zusammenhang mit MIF zu stehen. Es xid (NO) zu modulieren, auch für die Funktion des
gibt bei Frauen jedoch eine negative Korrelation neuralen Systems von Bedeutung sein (Bernhagen
zwischen MIF und Östradiol: Jüngere Frauen (mit et al. 1994; Bozza et al. 1999). Eine weitere, nicht
hohem Östrogenniveau) haben niedrigere MIF- auszuschließende Möglichkeit lautet, dass das ge-
Werte. Dies legt die Vermutung nahe, dass MIF ringere MIF-Niveau bei chronischen Schmerzpa-
durch Östrogene heruntergeregelt wird. tienten keine Folge des chronischen Schmerzes,
Starke Expression von MIF findet sich in Neu- sondern konstitutionell determiniert ist und so die
ronen des Kortex, des Hypothalamus, im Hip- Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms
pokampus, Zerebellum und Pons (Bacher et al. bei diesen Individuen begünstigt.
Literatur
15 1

Fazit
Hormone, insbesondere Gonadenhormone, üben Insgesamt lautet die zentrale Aussage all dieser
vielfältige Wirkungen im ganzen Körper aus. Aus Betrachtungen, dass sich die im Körper vorhan-
mehreren Gründen ist es uns bislang nicht gelun- denen Gonadenhormone im Laufe des Lebens
gen, eine genaue Karte aller ihrer Effekte zu erstel- deutlich verändern. Forscher müssen dies bei
len. Ihre Konzentrationen, relativen Konzentrationen, ihren Untersuchungen und Kliniker bei ihren
die unterschiedlichen Effekte bei unterschiedlichen Diagnosen und Therapien beachten. Diese Tat-
Konzentrationen usw. machen ihre umfassende sache zu vergessen würde bedeuten, dass die
Untersuchung praktisch unmöglich. Darüber hinaus Antworten auf einige experimentelle Fragen
unterliegt die Bestimmung der Blutkonzentration und – was noch wichtiger ist – korrekte Diagno-
von Hormonen sowie von Hormonmangel oder Hor- sen und Therapien für Männer und Frauen erst
monersatz starken methodischen Einschränkungen, verzögert gefunden werden.
die die Untersuchung sehr erschweren.

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18 Kapitel 1 · Geschlecht und Hormone

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2

Biologische Grundlagen von


Geschlechtsunterschieden
Arthur P. Arnold

2.1 Was ist ein Geschlechtsunterschied? – 20

2.2 Evolution von Geschlechtsunterschieden – 22

2.3 Geschichte des klassischen Dogmas geschlechtlicher Differenzierung – 24


2.3.1 Funktion der Gonaden bei der geschlechtlichen Differenzierung des Körpers – 24
2.3.2 Funktion der Gonaden bei der geschlechtlichen Differenzierung des Gehirns – 25
2.3.3 Bedeutung der Geschlechtschromosomen für die Entwicklung des gonadalen
Geschlechts – 27
2.3.4 Zusammenfassung: Biologische Grundlagen aller Geschlechtsunterschiede – 28

2.4 Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas – 29


2.4.1 Erklärungslücken der Gonaden-Soma Dichotomie – 29
2.4.2 Genetische Geschlechtsunterschiede im Gehirn von Singvögeln – 31
2.4.3 Wirkungen von Geschlechtschromosomgenen, untersucht an Tiermodellen – 35

Literatur – 38
20 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

> In diesem Kapitel geht es um die biologischen Grundlagen von Geschlecht.


Schon bevor unsere ersten Erinnerungen einsetzen, gehören wir bereits einem
Geschlecht an. Unser Geschlecht bestimmt unser Selbstbild, weist uns spezifi-
2 sche Rollen in Familie und Gesellschaft zu, ist tief in unserer Sprache verwur-
zelt und bedingt, wie wir uns verhalten. Unser Geschlecht beeinflusst unsere
Lebenserwartung und unsere Anfälligkeit für Krankheiten. Geschlecht hat eine
Bedeutung. Wie wir uns als Männer oder Frauen verhalten, ist teilweise von an-
deren erlernt, die uns – explizit oder implizit – vermitteln, welches Verhalten für
ein Mitglied unseres Geschlechts angemessen ist. Obwohl die Definition unse-
res Geschlechts und unserer männlichen und weiblichen sozialen Rollen sozial
vermittelt wird, hat Geschlecht biologische Grundlagen. Das Geschlecht eines
Kindes wird also zunächst durch biologische Kräfte determiniert, die das Kind
dann in einen geschlechtsspezifischen sozialen Kontext einbinden, der wieder-
um seine Entwicklung weiter beeinflusst. Die Trennlinie zwischen biologischen
und sozial vermittelten Geschlechtsunterschieden ist niemals ganz klar. Sitzen
mehr Männer wegen Gewalttaten im Gefängnis, weil es einen biologischen
Imperativ für männliche Aggression gibt? Oder liegt es daran, dass die Umwelt
Aggressionen bei Männern stärker ermutigt oder toleriert als bei Frauen? Bi-
ologische Faktoren beeinflussen soziale Faktoren, und die soziale Umwelt hat
wiederum Einfluss auf die Genexpression oder andere biologische Merkmale.
Dadurch wird es faktisch unmöglich, die beiden Einflüsse vollständig zu tren-
nen. Auch die biologischen Fragen, die wir als Wissenschaftler stellen, werden
bereits durch unsere in einem sozialen Kontext geprägte Perspektive auf das
Geschlecht beeinflusst.

2.1 Was ist ein Geschlechts- typischen Mann und der typischen Frau liegen.
unterschied? Die meisten Menschen zeigen im Sozialverhalten
eine Mischung aus maskulinen und femininen
Wir gehen von der Annahme aus, dass es zwei Ge- Merkmalen. Wenn man dieser Auffassung folgt,
schlechter gibt. Für viele Menschen scheint diese kann man »Mann« und »Frau« lediglich als die
Tatsache auf der Hand zu liegen. Die Angele- zwei Endpunkte eines Kontinuums betrachten,
genheit ist jedoch komplizierter, als man meinen nicht aber als getrennt.
könnte. Wenn man männlich und weiblich an- Biologisch betrachtet stellt Geschlecht jedoch
hand der sozialen Rollen des Individuums definie- eine klare Dichotomie dar, zumindest für die meis-
ren müsste, könnte man zu der Ansicht gelangen, ten Spezies von Wirbeltieren. Männer besitzen
dass man männlich und weiblich kaum als klare Hoden und produzieren Sperma, Frauen besitzen
Dichotomie sehen kann. Man kann Individuen Ovarien und produzieren Eier. Obwohl es Indivi-
begegnen (und das sind möglicherweise viele), die duen gibt, deren gonadaler Typus zwischen Ovar
in ihrer sozialen Rolle in der Mitte zwischen dem und Hoden liegt, sind diese »Zwischenfälle« selten
2.1 · Was ist ein Geschlechtsunterschied?
21 2

und bestätigen die grundlegende Erkenntnis, dass schnitt größer als Frauen. Man kann jedoch das
die meisten Individuen zu einer der separaten Ka- Geschlecht einer Person nicht zuverlässig an-
tegorien Mann oder Frau gehören. hand ihrer Körpergröße einschätzen, es gibt viele
Sobald man zwei Typen, männlich und weib- Frauen, die größer sind als viele Männer. Der
lich, definiert hat, wird offensichtlich, dass sich zerebrale Kortex des Gehirns, in dem Informati-
die beiden Geschlechter in vielfacher Hinsicht un- onen für Bewegung, Empfindung und Kognition
terscheiden, in großen und in kleinen Dingen. verarbeitet werden, ist bei männlichen Ratten
Die Unterschiede können groß sein, insbesondere im Durchschnitt dicker als bei weiblichen Rat-
bei körperlichen Merkmalen, die unmittelbar mit ten (Juraska 1991). Bei Frauen sind Gehirn und
Reproduktion zu tun haben und bei denen es nur Schädel normalerweise kleiner als bei Männern,
wenige Zwischenstadien gibt. das weibliche Gehirn verfügt aber über mehr kor-
tikale Windungen als das männliche (Luders et al.
Fortpflanzungsbezogene körperliche Merk- 2004). All diese Beispiele repräsentieren mittlere
male. Männer haben einen Penis und ein Skro- Populationsunterschiede, mit Überschneidungen
tum, während Frauen eine Klitoris und Scham- zwischen Männern und Frauen.
lippen besitzen. Frauen haben Eileiter und einen
Uterus zum Transport von Eiern, Empfang des Wie in den folgenden Abschnitten ausgeführt
Samens und zur Ernährung des Fötus. Männer wird, konzentrierte sich die Forschung zu Ge-
besitzen Samenleiter und Organe, die den Samen schlechtsunterschieden in der Vergangenheit auf
ausschütten und verändern (Vorsteherdrüsen und große und leicht untersuchbare Unterschiede.
Samenbläschen) und die den Samen transportie- Große dichotome Geschlechtsunterschiede kön-
ren und ernähren. In einigen unmittelbar fort- nen jedoch andere Ursachen haben als eher kleine
pflanzungsbezogenen Gehirnregionen findet man und kontinuierliche. Außerdem unterscheiden
ebenfalls große und dichotome Geschlechtsunter- sich die Geschlechter manchmal in vielen kleinen
schiede. Bei der Ratte ist ein Kern im medialen Dingen, die sich zu grundlegenden funktionalen
präoptischen Areal, der für die männliche Ko- Unterschieden aufsummieren können.
pulation eine Rolle spielt, bei männlichen Tieren
fünfmal größer als bei weiblichen (Gorski et al. Genexpression. In einer aktuellen Studie, in der
1978; Arnold u. Gorski 1984). Im Rückenmark das Expressionsniveau Tausender von Genen in
besitzen männliche Tiere Neuronen, die die Kon- der Mäuseleber untersucht wurde, fand man in
traktionen der Penismuskulatur kontrollieren, bei 75% der Gene Geschlechtsunterschiede (einige
weiblichen Tieren fehlen diese Neuronen (Breed- Werte waren bei männlichen Tieren höher, an-
love u. Arnold 1980). Bei männlichen Singvögeln dere bei weiblichen) (Yang et al. 2005). Nor-
sind die den Balzgesang kontrollierenden Gehirn- malerweise waren die Unterschiede eher klein,
regionen 5- bis 6-mal größer als bei weiblichen durchschnittlich etwa 9%, sie sind jedoch reli-
Vögeln, zumindest in den Spezies, in denen nur abel. Wenn man die Summe solch kleiner Ge-
das Männchen bei der Balz singt (Nottebohm u. schlechtsunterschiede betrachtet, ergibt sich ein
Arnold 1976). Gesamtbild, in dem sich die männliche Leber
grundlegend von der weiblichen unterscheidet.
Sonstige körperliche Merkmale. Aber auch ab- Wenn der Geschlechtsunterschied in der Expres-
gesehen von Körpermerkmalen, die ausschließ- sion eines Einzelgens gering ist (9%), liegt eine
lich der Reproduktion dienen, existieren grund- starke Überlappung in der Expression dieses Gens
legende Unterschiede zwischen männlichen und in männlichen und weiblichen Lebewesen vor.
weiblichen Lebewesen. Häufig sind diese Unter- Wenn man jedoch eine große Zahl von Genen
schiede aber klein und eher kontinuierlich als di- gleichzeitig misst, unterscheidet sich das männ-
chotom. In diesen Fällen ist es unwahrscheinlich, liche Expressionsmuster vieler Gene deutlich von
dass jeder einzelne Mann »maskuliner« ist als dem weiblichen – hier gibt es keine Überlappung
jede Frau. Beispielsweise sind Männer im Durch- zwischen männlichen und weiblichen Lebewesen.
22 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

Diese Ergebnisse könnten wichtige Implikationen andere Struktur als bei weiblichen entwickelt
für die Entwicklung optimaler Behandlungsme- haben, weil diese Gehirnstrukturen für sexuelle
thoden von Lebererkrankungen bei Männern und Erregung, Werbeverhalten und Kopulation er-
2 Frauen haben. forderlich sind, also für Verhaltensweisen, die
wiederum für die erfolgreiche Fortpflanzung des
Krankheitsdisposition. Männer und Frauen männlichen Lebewesens nötig sind. Männliche
unterscheiden sich auch in ihrer Anfälligkeit Lebewesen, die diese Strukturen besitzen, geben
für Erkrankungen des Gehirns und anderer Or- ihre Gene erfolgreicher weiter als solche, denen
gane. Männer haben ein größeres Risiko, Morbus diese Strukturen fehlen.
Parkinson, ein Tourette-Syndrom und ein Auf- Die Entwicklung männlicher Schaltkreise in
merksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität weiblichen Gehirnen ist nachteilig, da diese mit der
(ADHS) zu entwickeln (Elbaz et al. 2002; Pauls weiblichen Rolle während der Fortpflanzung in-
et al. 1981; Arnold 1996). Frauen haben ein grö- terferieren, daher gibt es eine natürliche Selektion
ßeres Risiko, an Depressionen, Osteoporose und gegen weibliche Lebewesen, die eine typisch männ-
Autoimmunkrankheiten wie Multipler Sklerose, liche Gehirnorganisation besitzen. Bei Merkmalen,
rheumatoider Arthritis und Lupus zu erkranken die für das eine Geschlecht günstig, für das andere
(Whitacre et al. 1999). Geschlechtsunterschiede hingegen ungünstig sind, kann eine Auslösung
findet man auch bei der Schmerzempfindlichkeit, durch Signalstoffe, die nur in einem Geschlecht
der Drogensucht, im Vorkommen tödlicher Herz- vorhanden sind, vorteilhaft sein. Beispielsweise
krankheiten etc. (Eastwood u. Doering 2005; Mogil sollten Merkmale, die vorteilhaft für männliche
u. Chanda 2005; Carroll et al. 2004). Obwohl so- Lebewesen sind, durch Signalstoffe ausgelöst wer-
ziale Einflüsse, die aus Geschlechtsunterschieden den (d. h. auf diesen Signalen basieren), die nur
in sozialen Rollen oder Berufen resultieren, eine bei männlichen Lebewesen vorhanden sind, bei
Rolle für Geschlechtsunterschiede bei Krankhei- weiblichen aber fehlen.
ten spielen können, ist die Bedeutung biologischer So hat sich für die Penisentwicklung eine Sen-
Geschlechtsunterschiede wahrscheinlich ebenfalls sitivität für Testosteron entwickelt. Männliche
nicht zu unterschätzen. Lebewesen bilden Testosteron, weibliche nicht.
Testosteron verursacht eine Differenzierung des
Genitalgewebes zu Penis und Skrotum, bei Ab-
2.2 Evolution von Geschlechts- wesenheit hoher Testosterondosen kommt es
unterschieden hingegen zu einer weiblichen Entwicklung der
Genitalien, also zur Ausbildung von Klitoris und
Warum unterscheiden sich Männer und Frauen Schamlippen.
im Körperbau, in ihrem Verhalten und anderen Aber wie sieht es mit Erklärungen für sub-
Merkmalen, wie der Anfälligkeit für Krankheiten? tilere Geschlechtsunterschiede aus? Einige Ge-
Allgemein gilt, dass sich Geschlechtsunterschiede schlechtsunterschiede resultieren aus sexueller
dann entwickeln, wenn diese Unterschiede für Selektion. Sexuelle Selektion bedeutet, dass ein
beide Geschlechter einen evolutionären Vorteil Geschlecht bezüglich gewisser Merkmale des an-
bringen. Die Evolution des Penis bei männlichen deren Geschlechts, mit dem es sich paart, beson-
– nicht jedoch bei weiblichen – Lebewesen lässt ders wählerisch ist. Ein kräftigerer Hals- und Na-
sich leicht erklären, weil männliche Lebewesen, ckenbereich könnte sich bei Männern beispiels-
die einen funktionstüchtigen Penis besitzen, sich weise dadurch entwickelt haben, dass sich Frauen
fortpflanzen und die Gene, die die Entwicklung bevorzugt mit Männern paaren, die Körperkraft
eines Penis steuern, an die nächste Generation signalisieren. Dadurch geben solche Männer ihre
weitergeben. Ebenso nimmt man an, dass Ge- Gene an die Söhne dieser Frauen weitergeben,
hirnregionen, die das männliche Kopulationsver- die dann wiederum ebenfalls bessere weibliche
halten steuern (z. B. das präoptische Areal des Partner anziehen. Damit sich ein Merkmal wie ein
Hypothalamus), bei männlichen Lebewesen eine kräftiger Hals-Nacken-Bereich oder die Körper-
2.2 · Evolution von Geschlechtsunterschieden
23 2

größe bei Männern und Frauen unterschiedlich selektiert zu werden), wenn es zusätzlich einen
entwickelt, muss die Entwicklung dieses Merk- anderen großen Vorteil mit sich bringt oder wenn
mals durch geschlechtsspezifische Signale beein- seine nachteilige Wirkung erst nach Beendigung
flusst werden, die nur in einem Geschlecht vor- der reproduktiven Phase des Mannes einsetzt,
handen oder zumindest stärker ausgeprägt sind. so dass das Gen seine Fortpflanzungsfähigkeit
Im folgenden werden wir biologische Signale nicht beeinträchtigt. Außerdem besitzen Männer
beschreiben, die nur bei einem Geschlecht vor- – im Gegensatz zu Frauen – zwangsläufig nur ein
handen oder stärker ausgeprägt sind und die Ge- einziges X-Chromosom, wodurch sie für Mutati-
schlechtsunterschiede in der Entwicklung verur- onen auf X-Genen anfälliger werden als Frauen.
sachen können. Ein Mann mit einem funktionsuntüchtigen X-
Einige Geschlechtsunterschiede scheinen Gen muss mit diesem Gen leben, während eine
keinerlei Nutzen zu besitzen. Warum sind mehr Frau mit derselben Mutation eine weitere Kopie
Frauen als Männer von Multipler Sklerose und dieses Gens besitzt, das die negative Wirkung ver-
anderen Autoimmunkrankheiten betroffen? Wenn ringern kann. Männer sind daher stärker durch
dieser Geschlechtsunterschied – was wahrschein- Mutationen auf X-Genen beeinträchtigt (Bei-
lich zutrifft – eine biologische Grundlage hat (dies spiele hierfür sind die Rot-Grün-Blindheit und
schließt eine wichtige Rolle der Umwelt aber nicht verschiedene andere, ans X-Chromosom gekop-
aus), muss man davon ausgehen, dass geschlechts- pelte Gehirnerkrankungen) – dieser Geschlechts-
spezifische Signale, die aus einem bestimmten unterschied ist ein Nebenprodukt der Evolution
Grund favorisiert werden, pleiotrope Wirkungen von Geschlechtschromosomen. Der zwangsläu-
(Wirkungen auf mehrere verschiedene Körper- fige Geschlechtsunterschied bei Y-Genen oder der
systeme) haben. Frauen besitzen im Allgemeinen Anzahl von X-Genen trägt dabei zu Geschlechts-
ein reaktiveres Immunsystem als Männer, was sie unterschieden im Gehirn und im übrigen
anfälliger für Autoimmunkrankheiten wie Mul- Körper bei.
tiple Sklerose macht. Ein reaktiveres Immunsystem Wenn diese negativen Nebenwirkungen des
kann unter gewissen Bedingungen vorteilhaft sein, Mann- oder Frauseins schwerwiegend genug sind,
es kann beispielsweise Krankheiten schneller be- können sich Mechanismen zur Verringerung des
kämpfen. Eine solche Wirkung kann insbesondere Geschlechtsunterschiedes entwickeln. Frauen be-
für dasjenige Geschlecht vorteilhaft sein, das sich sitzen beispielsweise die zweifache Gendosis für
intensiver der Pflege des Nachwuchses widmet. jedes Gen auf ihrem X-Chromosom, doppelt so-
Daher kann die Reaktivität des Immunsystems viel wie Männer, die nur ein einziges X-Chromo-
eine Sensitivität für einen geschlechtsspezifischen som besitzen. Dieser Geschlechtsunterschied in
Faktor entwickelt haben. Ein hyperaktives Immun- der Gendosis der X-Gene stellt ein großes Pro-
system wird jedoch dann nachteilig, wenn es zu blem dar. Weil die X-Gene mit Gen-Netzwerken
Immunangriffen auf körpereigenes Gewebe über- interagieren müssen, die viele autosomale (nicht
geht (Autoimmunität). geschlechtschromosom-gebundene) Gene enthal-
Jedes Geschlecht besitzt Eigenschaften, die ten, die in beiden Geschlechtern gleichermaßen
möglicherweise keinen Vorteil bieten, aber unver- vorhanden sind, kann die Gendosis von X-Ge-
meidliche Konsequenzen der Zugehörigkeit zum nen bei Frauen zu hoch oder bei Männern zu
männlichen oder weiblichen Geschlecht sind. gering sein. Dieses Problem hat in der Evolution
Männer besitzen zwangsläufig ein Y-Chromo- von Säugetieren zur Entwicklung eines spezifisch
som und erleben daher alle Vor- und Nachteile weiblichen Mechanismus zur Inaktivierung von
der Gene auf diesem Chromosom. Wenn Gene X-Genen geführt, bei der jede weibliche Zelle
auf dem Y-Chromosom negative Nebenwirkun- die Gene auf einem der beiden X-Chromosomen
gen haben, hat der Mann die Konsequenzen des inaktiviert oder zum Schweigen bringt (Nguyen u.
Männlichseins zu tragen. Das Gen mit der negati- Disteche 2006). Die Gene auf dem einzigen akti-
ven Nebenwirkung kann erhalten bleiben (anstatt ven X-Chromosom werden in beiden Geschlech-
über Generationen aus der Population heraus- tern doppelt ausgelesen, so dass die Gendosis der
24 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

X-Gene der Anzahl der nicht-X (autosomalen) Diese Theorie, die auf der sorgfältigen Un-
Gene entspricht. tersuchung natürlich vorkommender intersexuel-
ler Tiere basierte, musste zunächst experimentell
2 überprüft werden, um Anerkennung zu finden.
2.3 Geschichte des klassischen Dogmas Den ersten erfolgreichen Test führte der franzö-
geschlechtlicher Differenzierung sische Endokrinologe Alfred Jost durch. Er ma-
nipulierte die gonadalen Sekretionen normaler
2.3.1 Funktion der Gonaden bei der männlicher und weiblicher Kaninchenembryos,
geschlechtlichen Differenzierung um damit zu zeigen, dass die Entwicklung eines
des Körpers männlichen oder weiblichen Fortpflanzungssys-
tems bei einem Kaninchen von diesen Sekretionen
Dass die geschlechtsspezifische Entwicklung des abhing (Jost 1947; Jost et al. 1973). In einer frühen
Körpers in den beiden Geschlechtern durch Se- Phase der Entwicklung entnahm Jost die Gonaden
kretion unterschiedlicher Hormone verursacht aus Kaninchenembryos und setzte die Embryos
wird, ist eine alte Idee. Untersuchungen seltener zurück in die Gebärmutter. Es gelang ihm, die
intersexueller Tiere, die weder vollständig männ- Föten nach dem Eingriff lange genug am Leben zu
lich noch vollständig weiblich waren, lieferten erhalten, um die für Geschlechtsunterschiede in
Unterstützung für diese Hormontheorie sexueller Fortpflanzungsorganen verantwortlichen gonada-
Differenzierung. Im frühen 19. Jahrhundert be- len Sekretionen ermitteln zu können. Wenn bei-
fassten sich zwei Laboratorien, eines in Deutsch- spielsweise ein normales männliches Tier Hoden
land und das andere in Amerika, mit der Untersu- besaß, degenerierten während des Fötalstadiums
chung der Föten von Zwillingskälbern, von denen die Müllerschen Gänge (Vorläufer des Uterus und
eines männlich und das andere, ein sog. Free- der Eileiter) und die Wolffschen Gänge (Vorläu-
martin, intersexuell war (Lillie 1916, 1917). Der fer der Samenleiter) entwickelten sich. Weiterhin
Freemartin besaß Eierstöcke (kleiner als normal) entwickelte sich ein normaler männlicher Penis.
und zeigte ansonsten eine Mischung von mas- In männlichen Tieren, denen die Hoden fehlten,
kulinen und femininen Merkmalen. Im Unter- blieben die Müllerschen Gänge erhalten und die
schied zu normalen weiblichen Tieren besaß der Wolffschen Gänge bildeten sich zurück, ähnlich
Freemartin-Fötus beispielsweise hypertrophierte wie bei der normalen Entwicklung eines weibli-
Wolffsche Gänge, also diejenigen embryonalen chen Tieres, und die Entwicklung des männlichen
Strukturen, aus denen später die Samenleiter und Penis wurde blockiert.
Samenbläschen hervorgehen. Als weiterer Un- Jost folgerte, dass die Hoden Substanzen aus-
terschied zu normalen weiblichen Tieren besaß schütteten, die die Entwicklung der Müllerschen
der Freemartin atrophierte Müllersche Gänge, Gänge hemmten und die der Wolffschen Gänge
aus denen sich der Uterus und die Eileiter ent- stimulierten. Im Gegensatz dazu hatte bei weib-
wickeln. Die Autoren folgerten, dass der Free- lichen Tieren die Entfernung der Eierstöcke nur
martin ein zygotisch weibliches Tier war (heute geringe Auswirkungen auf die Differenzierung der
würden wir den Ausdruck »genetisch weiblich« Gänge: In weiblichen Tieren blieben die Müller-
wählen, damals konnte man die Gene jedoch schen Gänge erhalten und die Wolffschen Gänge
noch nicht untersuchen), dessen Entwicklung degenerierten, unabhängig davon, ob die Tiere Ei-
durch die Wirkung von Hormonen, die über das erstöcke besaßen oder nicht. Jost verpflanzte au-
Blut vom männlichen auf den weiblichen Zwilling ßerdem einen Hoden in ein weibliches Tier und
übertragen wurden, maskulinisiert wurde. Dieser stellte fest, dass die entsprechenden Organstruktu-
Grundidee zufolge sollte der männliche Körper ren maskulinisiert wurden – ein Beleg dafür, dass
normalerweise durch Faktoren, die den eigenen die hormonalen Sekretionen der Hoden sogar ein
Hoden entstammen, maskulinisiert werden, der Kaninchen, das genetisch weiblich war, maskuli-
weibliche Körper sollte sich dagegen entwickeln, nisieren konnten. In der Annahme, dass es sich
wenn diese testikulären Hormone fehlen. bei dem testikulären Faktor, der für die Maskuli-
2.3 · Geschichte des klassischen Dogmas geschlechtlicher Differenzierung
25 2

nisierung verantwortlich ist, wahrscheinlich um 2.3.2 Funktion der Gonaden bei der
Testosteron handelte, implantierte Jost weiblichen geschlechtlichen Differenzierung
Tieren einen Testosteronkristall, um den Effekt des Gehirns
des testikulären Transplantats zu imitieren. Zu sei-
ner Überraschung stellte er fest, dass Testosteron, Josts Untersuchungen warfen eine weitere Frage
obwohl es die Wolffschen Gänge und den Penis auf. Wenn das männliche Gehirn anders als das
maskulinisierte, keine Degeneration der Müller- weibliche funktioniert, wird es möglicherweise
schen Gänge verursachte. Er postulierte daher das durch dieselben testikulären Hormone geformt,
Vorhandensein eines zweiten Hormons, das mit- die zur Differenzierung von Penis und Skrotum
tlerweile als Anti-Müllersches Hormon (AMH) führen. Eine amerikanische Forschergruppe tes-
bezeichnet wird, das von den embryonalen Ho- tete diese Hypothese etwa 10 Jahre später (Jost
den ausgeschieden wird, um die Rückbildung der 1947), jedoch nicht durch Messungen des Ge-
Müllerschen Gänge anzuregen. Jost schlussfolgerte, hirns (damals existierten keine anerkannten
dass die komplexen Kräfte, die zur maskulinen Geschlechtsunterschiede, die auf unmittelbarer
Entwicklung verschiedener Organe wie Reproduk- Messung des Gehirns basierten), sondern durch
tionstrakt, Penis und Skrotum führten, offenbar die Messung von Verhalten, also des Outputs
durch testikuläre Sekretionen gesteuert werden. des Gehirns (Phoenix et al. 1959). Wie zuvor
Sekretionen der Eierstöcke spielten hingegen nur Jost entschied sich diese Gruppe für die Unter-
eine geringe Rolle für die Differenzierung die- suchung eines fortpflanzungsrelevanten Merk-
ser Strukturen; die weibliche Form wurde als die mals (Kopulationsverhalten), das sich in männ-
Grundform angesehen, die sich in Abwesenheit lichen und weiblichen Tieren auffallend unter-
gonadaler Sekretionen entwickelt. scheidet.
In einer Zusammenfassung von Josts Unter- Männliche Meerschweinchen kopulieren, in-
suchungen könnte man sagen, dass der Fötus dem sie auf das weibliche Tier aufreiten und
während seiner Entwicklung an einen kritischen Beckenstöße machen. In Reaktion darauf biegt
Verzweigungspunkt gelangt. Die frühesten Ent- das weibliche Tier den Rücken durch und hebt
wicklungsstufen sind nicht geschlechtlich dif- das Hinterteil an, in einer Reflexhaltung, die als
ferenziert und besitzen das Potenzial für beide Lordose bezeichnet wird. Phoenix et al. injizierten
Entwicklungsverläufe. Jost stellte in dieser embry- schwangeren weiblichen Meerschweinchen Tes-
onalen Stufe keine Geschlechtsunterschiede fest tosteron, um die weiblichen Föten den Wirkun-
und fand heraus, dass genetisch männliche oder gen des Androgens auszusetzen, ähnlich wie auch
weibliche Tiere gleichermaßen über das Potenzial Jost weibliche Föten mit Testosteron behandelte.
verfügen, maskuline oder feminine Merkmale zu Als diese so »androgenisierten« Weibchen ge-
entwickeln. Der geschlechtlich bipotenziale Zu- schlechtsreif waren, wurde deren Kopulations-
stand endet mit der Entwicklung der Gonaden. verhalten untersucht. Wenn die androgenisier-
Zu diesem Zeitpunkt wird entweder die Richtung ten Weibchen als adulte Tiere mit Östrogenen
hin zu männlicher oder zu weiblicher Entwick- behandelt wurden (erforderlich zur Stimulation
lung eingeschlagen. Diese Entwicklung ist voll- des Lordose-Reflexes) zeigten sie dennoch we-
ständig von den gonadalen Sekretionen abhängig. niger Lordose als normale Weibchen. Nach Tes-
Zwei Hormone (Testosteron und AMH) werden tosteroninjektionen (erforderlich zur Stimulation
von den Hoden in den Blutstrom abgegeben und männlichen Kopulationsverhaltens), zeigten sie
sorgen dafür, dass der Fötus den männlichen mehr maskulines Kopulationsverhalten als nor-
Weg einschlägt. Josts Modell geht davon aus, dass male Weibchen. Offenbar genügte eine relativ
diese Entscheidung permanent ist. Einmal aus- kurze Einwirkungsphase von Testosteron im Fö-
geformt, bleiben männliche Strukturen wie der talstadium, um das Gehirn zu differenzieren, um
Penis erhalten, auch wenn das maskulinisierende es zu veranlassen, den männlichen Entwicklungs-
Signal (in diesem Fall Testosteron) abgeschaltet pfad einzuschlagen und den weiblichen zu unter-
wird. drücken.
26 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

Organisierende und aktivierende Effekte

Phoenix et al. (1959) nahmen an, dass Testosteron Hormone bezeichnet. Aktivierende Effekte sind,
2 das Gehirn der androgenisierten Weibchen »or- im Gegensatz zu den permanenten organisierten
ganisierte«, wie es normalerweise das Gehirn von Effekten, reversibel (das männliche Interesse an
männlichen Tieren organisierte. Der Begriff blieb der Kopulation schwindet, wenn das Testosteron-
haften, so dass der dauerhafte maskulinisierende niveau verringert wird). Später wurde festgestellt,
Effekt von Testosteron weiterhin als »organisie- dass organisierende Effekte nur während spezi-
rende« Wirkung beschrieben wird. Man nimmt fischer kritischer Entwicklungsphasen auftreten.
an, dass Testosteron Schaltkreise organisiert, die Seit der ersten Beschreibung der organisierenden
für männliches Verhalten verantwortlich sind, Wirkungen von Testosteron im Jahr 1959 wurden
und die Organisation von Schaltkreisen, die für diese Befunde in zahlreichen Untersuchungen
weibliches Verhalten verantwortlich sind, unter- repliziert und ergänzt (Arnold u. Gorski 1984; Goy
drückt. Im Gegensatz dazu werden diejenigen u. Mc Ewen 1980; MacLusky u. Naftolin 1981).
Hormonwirkungen, die für das Kopulationsver- Viele Geschlechtsunterschiede im Gehirn werden
halten erwachsener Tiere erforderlich sind (Östro- durch permanent maskulinisierende Testosteron-
gene bei weiblichen und Androgene bei männli- wirkung verursacht, oder auch durch transiente
chen Tieren) als »aktivierende« Effekte gonadaler Effekte gonadaler Hormone bei Erwachsenen.

Geschlechtsunterschiede im Verhalten lassen ver- boliten) verursacht eine permanente Maskulinisie-


muten, dass sich die Gehirne von männlichen rung des Gesangs-Schaltkreises, diese Weibchen
und weiblichen Lebewesen unterscheiden. In den singen anders als normale Weibchen (Gurney u.
70er-Jahren wurden strukturelle Geschlechtsunter- Konishi 1980 und weitere Publikationen). Inzwi-
schiede im Gehirn entdeckt (⊡ Abb. 2.1). Raisman schen wurden zahlreiche weitere strukturelle, zel-
und Field (1971, 1973) waren die ersten, die einen luläre und molekulare Geschlechtsunterschiede im
Geschlechtsunterschied im Gehirn (von Ratten) Gehirn entdeckt, die in vielen Fällen durch die
feststellten und Beweise dafür lieferten, dass dieser Sekretion gonadaler Hormone erklärt werden (De
Geschlechtsunterschied durch Testosteronsekretion Vries u. Simerly 2002; De Vries et al. 2002).
beim Neugeborenen verursacht wurde. Sie fanden Ein Beispiel für einen Geschlechtsunterschied
einen Geschlechtsunterschied in der Häufigkeit ei- im Zentralnervensystem sind die SNB-Motoneu-
ner spezifischen Synapsenart im präoptischen Areal rone, eine Gruppe von Motoneuronen im spinalen
des Hypothalamus, einer Gehirnregion, die an der Nukleus des Bulbocavernosus des Rückenmarks.
Steuerung männlichen Kopulationsverhaltens be- Diese Neuronen innervieren die gestreifte Mus-
teiligt ist. Genetisch weibliche Tiere, die bei der kulatur des Penis. Daher überrascht es nicht, dass
Geburt mit Testosteron behandelt wurden, besaßen männliche Lebewesen mehr Motoneuronen im
ein maskulineres präoptisches Areal, und männ- SNB besitzen als weibliche. Die kleine Menge von
liche Tiere, die bei der Geburt kastriert wurden, SNB-Motoneuronen bei weiblichen Tieren inner-
waren weniger maskulin als normale Männchen. viert andere Muskeln. Eine ausschließlich während
Im Jahre 1976 entdeckten Nottebohm und Ar- des Neugeborenenstadiums durchgeführte Testos-
nold (1976) einen gut beobachtbaren Geschlechts- teronbehandlung kann dazu führen, dass weibliche
unterschied im Gehirn von Singvögeln, bei denen Tiere für den Rest ihres Lebens ebenso viele SNB-
das Männchen einen Balzgesang singt, das Weib- Motoneuronen besitzen wie männliche. Wenn man
chen jedoch nicht. Männliche Vögel besitzen einen bei männlichen Tieren in ähnlicher Weise die Wir-
Gesangsschaltkreis, der etwa fünfmal größer ist als kung von Androgen blockiert, entwickelt sich die-
der von Weibchen. Eine Behandlung neugeborener ser Kern bei ihnen vollständig weiblich (Breedlove
Weibchen mit Östradiol (einem Testosteronmeta- u. Arnold 1980, 1983; Forger et al. 1992).
2.3 · Geschichte des klassischen Dogmas geschlechtlicher Differenzierung
27 2

⊡ Abb. 2.1a–d. Beispiele für bekannte


strukturelle Geschlechtsunterschiede im
a b Gehirn von Nagetieren. Oben, weibliche
(a) und männliche (b) Form des sexuell
dimorphen Nukleus des präoptischen
Areals (SDN-POA) der Ratte (Gorski et al.
1978). Der SDN-POA des männlichen Tieres
ist erheblich größer als der weibliche, wie
man aus der größeren Gruppe dunkler
Neuronen rechts sehen kann. Dieser Kern
liegt in einem Bereich des Hypothalamus,
der für männliche Sexualfunktionen ver-
antwortlich ist. AC anteriore Kommissur,
OC Chiasma opticum, V Ventrikel. Unten,
die Vasopressinfasern im lateralen Septum
(LS) sind weiß gegen einen schwarzen Hin-
tergrund dargestellt und durch Pfeile ge-
kennzeichnet. Links: weibliches Tier, rechts:
männliches Tier. Das Vasopressinsystem ist
an Fortpflanzungs- und Sozialverhalten be-
c d
teiligt. (Aus De Vries u. Panzica 2006)

2.3.3 Bedeutung der Geschlechts- steht (Sturtevant 1965). Fliegen mit nur einem
chromosomen für die Entwicklung X-Chromosom (XO) waren voll funktionstüchtige
des gonadalen Geschlechts Männchen, ein Hinweis darauf, dass zwei X-Chro-
mosomen ein Weibchen entstehen lassen und ein
Zu derselben Zeit als Forscher feststellten, dass X-Chromosom ein Männchen. Überraschender-
männliche Hormone zu einer Maskulinisierung weise wurde dieselbe Frage für Säugetiere erst
von Körper und Gehirn führten, untersuchten 1959 geklärt, als mehrere Forschergruppen zeig-
andere die Geschlechtschromosomen und gene- ten, dass das Y-Chromosom bei Säugern für die
tischen Faktoren, die eine männliche oder weib- Entwicklung der Hoden verantwortlich ist (Ford
liche Entwicklung der Gonaden verursachen. Um et al. 1959; Jacobs u. Strong 1959; Welshons u.
1901 nahmen Forscher an, dass das Geschlecht Russell 1959). Mäuse oder Menschen mit unter-
eines Tieres durch die Geschlechtschromosomen schiedlicher Anzahl von X-Chromosomen sind
bestimmt wird. Um 1920 hatten Morgan und weiblich, es sei denn es ist zusätzlich ein Y-Chro-
Bridges herausgefunden, dass das Y-Chromosom mosom vorhanden. Die Schlussfolgerung lautete:
bei Fruchtfliegen nur eine geringe Rolle für das Eines oder mehrere Gene auf dem Y-Chromosom
Geschlecht des Tieres spielt, obwohl bei diesen sorgt dafür, dass sich die undifferenzierten embry-
Fliegen XX für weiblich und XY für männlich onalen Gonaden zu Hoden entwickeln.
28 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

Die Jagd nach dem kritischen Testes-determi- 2.3.4 Zusammenfassung:


nierenden Gen auf dem Y-Chromosom begann. In Biologische Grundlagen aller
den frühen 90er-Jahren wurde dieses Gen als Sry Geschlechtsunterschiede
2 identifiziert (Goodfellow u. Lovell-Badge 1993).
Wenn Sry vom Y-Chromosom bei Mäusen entfernt An diesem Punkt unterbrechen wir unseren his-
wird, entwickelt auch eine XY-Maus Eierstöcke. torischen Bericht, um alle möglichen biologischen
Umgekehrt, wenn das Sry-Gen auf einem Autosom Faktoren zusammenzufassen, die zu Geschlechts-
einer XX-Maus eingebaut wird, entwickelt diese unterschieden beitragen können. Im Augenblick
Hoden. Unmittelbar vor Beginn der testikulären der Empfängnis, wenn ein Spermium ein Ei be-
Differenzierung wird das Sry-Gen selbst in den fruchtet, wird die diploide Zygote gebildet. Diese
undifferenzierten Gonaden transient exprimiert. erste Zelle besitzt entweder XX- oder XY-Ge-
Man nimmt an, dass die Wirkung des Sry-Proteins schlechtschromosomen. Man nimmt an, dass sich
darauf beruht, dass es verschiedene andere Gene keine andere Komponente der Zygote bei männ-
an- oder abschaltet und damit eine Kaskade mo- lichen und weiblichen Lebewesen unterscheidet.
lekularer Ereignisse koordiniert, die die Zellen zu Im späteren Verlauf der Entwicklung wird in den
Hoden organisieren. In Abwesenheit von Sry wer- undifferenzierten Gonaden von XY-männlichen
den verschiedene andere Gene angeschaltet, die die Embryos das auf dem Y-Chromosom befindliche
Gonaden zu einem Ovar organisieren. Sry-Gen exprimiert, wo es die Ausdifferenzierung
In den 90er Jahren erkannte man daher deut- zu Hoden induziert, die dann während des Fö-
liche Unterschiede zwischen den geschlechtli- tal- und Neugeborenenstadiums Testosteron und
chen Differenzierungsmechanismen von Gehirn AMH und auch im späteren Leben Testosteron
und Körper und den geschlechtlichen Differen- abgeben. In XX-weiblichen Embryos bilden sich
zierungsmechanismen der Gonaden. Diese Go- Eierstöcke, die in verschiedenen Lebensphasen
naden-Soma-Dichotomie sagt aus, dass die Ge- Östradiol, Progesteron und andere Hormone ab-
schlechtschromosomen (XX bzw. XY) unmittelbar sondern.
Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung der Geschlechtsunterschiede können aus fünf un-
Gonaden verursachen, dass aber danach die Se- terschiedlichen Ursachen resultieren. Die ersten
kretionen der Gonaden alle darauf folgenden Ge- drei kann man als »Wirkungen der Geschlechts-
schlechtsunterschiede in verschiedenen Körperge- chromosomen« bezeichnen, die letzten beiden sind
weben außer den Gonaden selbst kontrollieren. »Wirkungen gonadaler Hormone«.

Ursachen von Geschlechtsunterschieden veau exprimiert werden könnten. Für den


▬ Y-Gene: Sie wirken nur in männlichen Le- Menschen wird beispielsweise angenommen,
bewesen und verursachen Unterschiede zu dass 15–25% aller X-Gene der X-Inaktivierung
weiblichen. Klassisches Beispiel ist die durch bis zu einem gewissen Grad entgehen (Carrel
Sry induzierte Entwicklung von Hoden. u. Willard 2005).
▬ Gendosis der X-Gene: Im Genom weibli- ▬ Genomische X-Prägung: Männliche Lebe-
cher Lebewesen befinden sich doppelt so wesen erhalten alle ihre X-Gene von der Mut-
viele X-Gene wie im männlichen. Wie oben ter, während weibliche Lebewesen jeweils die
beschrieben, wird dieser Unterschied durch Hälfte ihrer X-Gene von beiden Elternteilen
X-Inaktivierung verringert, indem bei weib- erhalten. Weil Mütter und Väter unterschiedli-
lichen Tieren eines der X-Chromosomen che genomische Prägungen der X-Gene auf-
abgeschaltet wird. Die X-Inaktivierung ist weisen, die sie an ihre Kinder weitergeben,
jedoch unvollständig, so dass einige X-Gene können die Expressionsmuster oder -niveaus
in weiblichen Lebewesen auf höherem Ni- ▼
2.4 · Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas
29 2

von X-Genen bei beiden Geschlechter auf- mone in diese Kategorie, d. h. solche Effekte,
grund des unterschiedlichen Ursprunges ihrer die auch nach Absinken des entsprechenden
X-Gene (von einem Mann oder einer Frau) Hormonniveaus anhalten (Arnold u. Forski
unterschiedlich sein. Die genomische Prägung 1984; Sisk et al. 2003; Nunez et al. 2002).
verursacht eine langfristige, möglicherweise ▬ Wirkung gonadaler Sekretionen über
sogar permanente Steigerung oder Verringe- die Lebenszeit (»aktivierende Effekte«):
rung in der Expression spezifischer Gene (Bar- Hoden und Eierstöcke sondern unterschied-
tolomai u. Tilghman 1997). liche Steroidhormone mit geschlechtsspe-
▬ Differenzierende Wirkungen gonadaler zifischen Wirkungen ab (Becker et al. 2005).
Sekretionen (»organisierende Effekte«): Bei Frauen verändert sich das Östrogen- oder
Die Hoden sondern Testosteron, AMH und ein Progestinniveau während ihres Menstruati-
drittes Hormon, Insl3, ab – Hormone, die für onszyklus oder der Schwangerschaft, daher
männliche Lebewesen spezifische, permanente machen sie Erfahrungen, die Männern vor-
Wirkungen auf den Embryo ausüben. Testos- enthalten sind. Männer werden durch das
teron hat die weitreichendste Wirkung, weil es Testosteron aus ihren Hoden beeinflusst.
die maskuline Differenzierung vieler Körper- Ein hohes Testosteronniveau stimuliert bei
organe einschließlich der äußeren Genitalien männlichen Tieren viele fortpflanzungsbe-
(Penis, Skrotum) und des Gehirns steuert. Wir zogene Verhaltensweisen. Bei weiblichen
gruppieren alle lang anhaltenden (d. h. über Tieren werden Kopulation und andere fort-
das Vorhandensein des Hormons im Körper pflanzungsbezogene Verhaltensweisen durch
hinausgehenden) Effekte gonadaler Steroidhor- Sekretionen aus den Ovarien reguliert.

Geschlechtsunterschiede treten jedoch auch als 2.4 Aktuelle Modifikationen


Folge der Wirkung anderer Hormone und Fakto- des klassischen Dogmas
ren auf, die sich bei männlichen und weiblichen
Lebewesen unterscheiden. Das Sekretionsmuster 2.4.1 Erklärungslücken der
des Wachstumshormons aus der Hypophyse un- Gonaden-Soma Dichotomie
terscheidet sich zwischen männlichem und weibli-
chem Geschlecht, was zu Geschlechtsunterschieden Wenn alle Geschlechtsunterschiede außer den Go-
in der Leber und möglicherweise auch in anderen naden selbst durch geschlechtsspezifische Sekretio-
Organen führt. Wir klassifizieren diese Geschlechts- nen der Gonaden kontrolliert werden, müsste man
unterschiede jedoch als Konsequenzen der zuvor erwarten, dass männliche und weibliche Gehirne
beschriebenen organisatorischen Testosteronwir- und Körper so lange gleich sind, bis die Hoden
kungen. Testosteron, das im männlichen Fötus oder oder Eierstöcke mit der Hormonausschüttung be-
Neugeborenen ausgeschüttet wird, wirkt auf den ginnen. Seit den 80er-Jahren haben verschiedene
Hypothalamus und bewirkt eine Veränderung der Forscher Ausnahmen von dieser Regel entdeckt.
Schaltkreise, die die Ausschüttung von Wachstums- Eine der ersten berichteten Ausnahmen beschreibt,
hormon aus der Hypophyse steuern. Gegenwärtig dass schon in sehr frühen Entwicklungsstadien
kennen wir außer den fünf oben genannten keine vor der Ausbildung der undifferenzierten Gonaden
weiteren Faktoren, die Geschlechtsunterschiede im männliche Embryos verschiedener Säugerspezies,
Körper oder im Gehirn verursachen. Weil die Ef- auch beim Menschen, größer sind als weibliche.
fekte der Geschlechtschromosomen (#1–3) primär Diese Beobachtung lässt vermuten, dass die Grö-
sind, da sie aus genetischen Unterschieden resul- ßenunterschiede von XX- und XY-Embryos durch
tieren, die schon in der Zygote vorliegen, sind die geschlechtspezifische Wirkungen von Genen auf
hormonellen Effekte (#4–5) sekundär. den X- und Y-Chromosomen verursacht werden.
30 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

Es stellte sich heraus, dass dabei Y-Gene eine Rolle nen halben Beutel auf der weiblichen Seite und ein
spielen, denn Mäuseembryonen mit unterschied- halbes Skrotum auf der anderen (Sharman 1990;
lichen Y-Allelen weisen unterschiedliche Wachs- Cooper 1993; Hughes et al. 1993).
2 tumsraten auf, außerdem wachsen XXY-Mäuse Auch in Gehirnzellen von Rattenembryos sind
schneller als XX-Mäuse. Geschlechtsunterschiede Geschlechtsunterschiede bereits vor dem Einset-
in der elterlichen genomischen Prägung tragen zen testikulärer Sekretionen entdeckt worden. Bei-
ebenfalls dazu bei, denn XO-Weibchen (mit nur spielsweise werden im embryonalen prägonadalen
einem X-Chromosom) zeigen unterschiedliche Gehirn der Maus zahlreiche Gene stärker in dem
embryonale Wachstumsraten, die davon abhängig einen als in dem anderen Geschlecht exprimiert
sind, ob ihr X-Chromosom von der Mutter oder (Dewing et al. 2003). Auch wenn man Zellen aus
vom Vater stammt (Arnold u. Burgoyne 2004). dem Mittelhirn des Rattenfötus entnimmt und in
Bei dem Beuteltier Tammar-Wallaby, einem einer Petrischale kultiviert, zeigen die Zellen von
kleinen Känguru, erfolgen Geburt der Jungtiere männlichen und weiblichen Tieren unterschied-
und Übergang in den mütterlichen Beutel in einer liche Merkmale. Weibliche Zellkulturen enthalten
Phase, in der die gonadale Differenzierung gerade mehr Zellen, die das Tyrosinhydroxylase-Gen
erst begonnen hat. Das Skrotum männlicher Tiere (TH) exprimieren, das zur Herstellung des Neu-
und die Zitzen weiblicher Tiere sind bereits vier rotransmitters Dopamin benötigt wird. Es gibt
Tage vor der Geburt sichtbar, zu einem Zeitpunkt, darüber hinaus Unterschiede in der Größe be-
wo noch keine Geschlechtsunterschiede in der Go- stimmter Zelltypen und in der Aufnahme von
nadensekretion aufgetreten sind (Renfree u. Short der Petrischale zugesetztem Dopamin, sowie in
1988). Untersuchungen an intersexuellen Wallabies der Anfälligkeit der Neurone für Schädigungen.
zeigen, auf welchem Geschlechtschromosom die Der Entnahmezeitpunkt der Gehirnzellen lässt es
für die geschlechtsspezifische Entwicklung dieser unwahrscheinlich erscheinen, dass all diese Ge-
Strukturen kritischer Gene liegen. Obwohl Walla- schlechtsunterschiede durch die Wirkungen go-
bies das Gen Sry besitzen, das die Ausbildung von nadaler Hormone entstehen. Die Zellen wurden
Hoden induziert und letztlich zur Ausschüttung am 14. Embryonaltag der Ratte entnommen. Nach
von Testosteron führt, welches das Wachstum des den bisherigen Erkenntnissen hat zu diesem Zeit-
Penis vermittelt, scheint das Vorhandensein eines punkt die Ausschüttung großer, für männliche
Y-Chromosoms weder die Ausbildung des Skro- Tiere typischer Testosteronmengen aus den Hoden
tums zu fördern noch die Ausbildung eines Beutels noch nicht begonnen. Wenn Zellen von Mäusen
zu verhindern. Stattdessen scheint die Differen- in ähnlicher Weise kultiviert werden, findet man
zierung von Skrotum, Zitzen und Beutel mit der zwischen XX- und XY-Mäusen Unterschiede in
Anzahl der X-Chromosomen zusammenzuhän- der Anzahl von Neuronen, die TH enthalten, un-
gen. Ein Wallaby mit XXY-Genotyp besitzt Hoden abhängig von der Art ihrer Gonaden (Carruth et
(aufgrund des Vorhandenseins von Sry auf dem Y- al. 2002). Die Resultate verweisen darauf, dass XX-
Chromosom), einen Penis (ausdifferenziert unter und XY-Zellen nicht äquivalent sind.
der Kontrolle testikulärer Androgene, ebenso wie In frühen Phasen der embryonalen Entwick-
bei Eutheria-Säugetieren wie Maus und Mensch), lung von Wirbeltieren entwickeln sich Gehirn und
einen Beutel und Milchdrüsen (ausdifferenziert Rückenmark aus einem verdickten Band von Zel-
aufgrund des Vorhandenseins von zwei X-Chro- len, der sog. Neuralplatte, die an einer Stelle ver-
mosomen wie bei normalen XX-Weibchen), aber läuft, wo sich später die Wirbelsäule von Tier oder
kein Skrotum (aufgrund des doppelten Vorhan- Mensch ausbildet. Zur Ausbildung von Gehirn
denseins des X-Chromosoms) (Sharman 1990; und Rückenmark faltet sich die Neuralplatte zu-
Watson et al. 1997). Ein XO Weibchen (mit einem nächst an ihren Längsseiten entlang des Rückens,
einzelnen X-Chromosom) hat Eierstöcke und ein bis sich die Ränder der Platte berühren und das
Skrotum, aber keinen Beutel. Außerdem besaß ein Neuralrohr bilden. Wenn sich die Zellen an dieser
Tier, ein sog. lateraler Gynandromorph (männlich Mittellinie nicht verbinden (entlang der Achse,
auf einer Körperseite, weiblich auf der anderen), ei- die den Rücken des Tieres bilden wird), entstehen
2.4 · Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas
31 2

Entwicklungsanomalien von Gehirn oder Rücken- schlechtschromosomen verursacht werden. Der


mark. Geburtsfehler, die aus Fehlbildungen des Zebrafink (Taeniopygia guttata) lebt in Kolonien
Neuralrohrs resultieren, sind beispielsweise Spina in vielen Regionen Australiens. Aufgrund seiner
bifida, Anenzephalie und Exenzephalie. Bei Frauen Schönheit und der einfachen Nachzucht in Gefan-
kommen diese Fehlbildungen häufiger vor als bei genschaft ist er darüber hinaus ein auf der ganzen
Männern (Seller1995). Ein Tiermodell zur Erfor- Welt beliebter Ziervogel. In der Biologie ist der Ze-
schung dieser Fehlbildungen ist eine Maus mit brafink inzwischen der am intensivsten erforschte
einer Mutation im Gen p53, das an der Steuerung Singvogel, weil er sich gut unter Laborbedingun-
der Zellproliferation beteiligt ist. Einige Mäuse, de- gen halten und leicht züchten lässt. Während der
nen p53 fehlt, zeigen einen unvollständigen Schluss Balzzeit singen männliche Finken einen speziellen
des Neuralrohrs, sie sterben vor oder kurz nach Gesang für ihre weiblichen Artgenossen. Der Ge-
der Geburt. In den meisten Fällen sind es Weib- sang erregt das Weibchen, es gestattet dem Männ-
chen, die sterben. Dieser Geschlechtsunterschied chen die Kopulation. Es legt Eier, beide bebrüten
resultiert nicht aus Geschlechtsunterschieden in die Eier und ziehen die Jungvögel auf.
den Wirkungen gonadaler Hormone, da sich das Der Gesang des adulten Männchens wird
Neuralrohr vor der Differenzierung der Gonaden durch das aus den Hoden ausgeschüttete Testos-
und somit vor der Einwirkung gonadaler Sekreti- teronniveau bestimmt (ein aktivierender Effekt);
onen auf das Gehirn ausbildet (Armstrong et al. obwohl auch kastrierte Männchen singen, tun sie
1995; Sah et al. 1995). Diese Beobachtungen weisen dies häufiger bei hohem Androgenniveau (Arnold
darauf hin, dass X- oder Y-Gene auch in normalen 1975). Weibchen können das Lied nicht singen,
Embryos Geschlechtsunterschiede bei der Ausbil- selbst wenn sie als adulte Tiere mit Testosteron
dung des Neuralrohrs verursachen könnten. behandelt werden. Der Schaltkreis im Gehirn, der
den Gesang kontrolliert, besteht aus verschiedenen
untereinander verbundenen Regionen, die außer-
2.4.2 Genetische Geschlechtsunterschiede dem Verbindungen zum Stimmapparat, der Syrinx,
im Gehirn von Singvögeln senden. Diese Gehirnregionen sind im männlichen
Vogel wesentlich größer und besitzen mehr Neuro-
An einem besonderen Tiermodell kann man beob- nen (⊡ Abb. 2.2) (Nottebohm u. Arnold 1976). Die
achten, dass große Geschlechtsunterschiede in fort- physikalische Größe dieser Gehirnregionen hängt
pflanzungsrelevanten Gehirnregionen nicht durch unmittelbar mit der Gesangsfähigkeit zusammen.
gonadale Hormone, sondern vorrangig durch Ge- Das Männchen lernt den Gesang von seinem Vater

a b

⊡ Abb. 2.2a, b. Geschlechtsdimorphismus im Nukleus HVC singen, weibliche tun dies nicht, und der Gesangsschaltkreis
im Gehirn des Zebrafinken. a Männliches Tier, b weibliches ist beim männlichen Tier erheblich größer als beim weibli-
Tier. Der Nukleus HVC ist ein Teil eines Vorderhirn-Schaltkrei- chen. (Aus Arnold 1980)
ses, der den Balzgesang kontrolliert. Männliche Zebrafinken
32 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

oder anderen Männchen, die es während der ersten Zum vollständigen Beweis einer unter Normal-
Lebensmonate hört (Immelmann 1969). bedingungen wirksamen maskulinisierenden Rolle
von Östradiol (oder gonadaler Hormone ganz all-
2 Gonadale Hormontheorie des Vogelsangs gemein) müsste gezeigt werden, dass eine Blockade
Basierend auf der vorherrschenden Annahme, dieser hypothetischen Effekte von Östradiol (oder
dass Geschlechtsunterschiede im Gehirn über anderer Hormone) in männlichen Vögeln zur
gonadale Sekretionen organisiert werden, wur- Entwicklung eines femininen Schaltkreises führt.
den die ersten Experimente zur Erforschung Trotz zahlreicher Versuche verschiedener Labora-
der Ursachen von Geschlechtsunterschieden torien konnte jedoch keine hormonale oder anti-
im Gesangssystem an die Studien von Phoenix hormonale Behandlung männlicher Finken jemals
et al. (1959) angelehnt. Weibliche Tiere erhiel- die maskuline Entwicklung des Gesangsschaltkrei-
ten unmittelbar nach dem Schlupf männliche ses verhindern. In diesen Experimenten wurden
Hormone (Testosteron oder den Testoste- Finken mit Östrogenen, Androgenen, Anti-Öst-
ronmetaboliten Östradiol), um den neuralen rogenen, Anti-Androgenen, Östrogen-Synthese-
Schaltkreis auf männliche Weise zu organisie- hemmern und anderen Mitteln behandelt, die die
ren (Gurney u. Konishi 1980). Beide Hormone, Wirkungen gonadaler Hormone während früher
insbesondere aber Östradiol, verursachten Entwicklungsstadien modifizieren (Arnold 1997).
eine deutlich maskulinere Entwicklung dieses Bedeutet dieses Resultat nun, dass etwas nicht
Schaltkreises als bei normalen Weibchen. Au- stimmt mit Josts hormonaler Theorie der somati-
ßerdem sangen die mit Östradiol behandelten schen geschlechtlichen Differenzierung, wenn man
Weibchen einen Gesang, der dem normaler sie auf Zebrafinken anwendet? Anfangs zögerten
Weibchen nicht ähnelte. Weil Östradiol ein die Forscher, die gut belegte Theorie von Jost zu
natürlicher potenter Metabolit von Testosteron verwerfen (Arnold u. Schlinger 1993). Da die mas-
ist, nahm man an, dass Männchen aus ihren kulinisierende Wirkung von Östrogen bei weibli-
Hoden Testosteron ausschütten, das während chen Tieren durch viele Forschungsarbeiten belegt
der frühen Entwicklung ins Gehirn gelangt. ist, nahm man weiterhin an, dass Östrogen eine
Im Gehirn wird das Testosteron (mittels des zentrale Komponente des Maskulinisierungspro-
Enzyms Aromatase) in Östradiol umgewandelt, zesses bildet. Außerdem gab es immerhin einige
das dann die Schaltkreise im Gehirn permanent Untersuchungsresultate, die zeigten, dass Östrogen
maskulinisiert. für die normale Maskulinisierung des männlichen
Gehirns erforderlich ist. In zwei Experimenten
wurden beispielsweise einige Komponenten der
Einige Beobachtungen wollten jedoch nicht zu die- Gehirnmaskulinisierung (allerdings nicht das voll-
ser gonadalen Hormontheorie der Gehirnmaskuli- ständige maskuline Muster) durch Blockierung
nisierung passen: von Östrogenen in männlichen Tieren verhindert
▬ Es wurde beobachtet, dass das Gehirn weibli- (Dittrich et al. 1999; Kim et al. 2004).
cher Vögel durch die Östradiolbehandlung nur In einem weiteren Experiment, bei dem man
halb so maskulin wie das normaler Männchen dünne Hirnschnitte adoleszenter Finken in einer
wurde, so dass für die volle maskuline Entwick- Petrischale kultivierte, zeigten sich einige der spe-
lung der Männchen offenbar noch ein weiterer zifischen maskulinen Entwicklungsmuster, die je-
Faktor erforderlich war (Jacobs et al. 1995). doch offenbar Östrogen benötigten (Holloway u.
▬ Mehrere Laboratorien scheiterten bei dem Ver- Clayton 2001). Beispielsweise bildeten Neurone im
such, während den ersten Wochen nach dem Nukleus HVC, die normalerweise mit dem Nukleus
Schlupf, in denen sich der Gesangsschaltkreis RA Synapsen bilden, diese auch in Hirnschnitten
differenziert, im Blut von männlichen Tieren männlicher Tiere aus, jedoch nicht in weiblichen
höhere Östradiol- oder Testosteronwerte als Hirnschnitten oder in männlichen Hirnschnitten,
bei weiblichen zu finden (Arnold u. Schlinger denen man einen Östrogenblocker beigegeben hatte.
1993). Obwohl keine hormonelle Manipulation jemals
2.4 · Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas
33 2

eine Geschlechtsänderung eines männlichen Tieres Eine Reihe von Experimenten verweist auf eine
herbeiführen konnte (d. h. eine Gehirnentwicklung wichtige Rolle der Geschlechtschromosomen. In
provozierte, die der weiblichen entspricht), schei- einem Experiment versuchte man, bei genetisch
nen Östrogene doch zum Maskulinisierungsprozess weiblichen Finken Hoden wachsen zu lassen, um
beizutragen. Aus dem Experiment, bei dem Hirn- damit die Rolle testikulärer Sekretionen für die ge-
schnitte in Petrischalen kultiviert wurden, ging auch schlechtliche Differenzierung zu überprüfen (Wade
hervor, dass Zellen in männlichen Hirnschnitten u. Arnold 1996, 2004). Da das Ovar von Vögeln
Östrogene in einer Menge synthetisierten, die zur für seine Differenzierung Östrogen benötigt, ent-
Maskulinisierung weiblicher Schnitte, die daneben wickeln genetisch weibliche Tiere Hoden, wenn die
lagen, ausreichte. Dieses überraschende Ergebnis Östrogensynthese im Embryo während der ersten
lässt vermuten, dass diejenigen Östrogene, die zur Tage nach der Eiablage blockiert wird. Wenn man
Gehirnmaskulinisierung beitragen, möglicherweise Zebrafinkenembryos mit einem Östrogensynthese-
vom Gehirn selbst gebildet werden und nicht über Hemmer behandelt, entwickelt sich die rechte Go-
Testosteron, das von den Hoden ausgeschüttet wird nade zu einem Hoden, der Sperma produziert und
(Holloway u. Clayton 2001). Testosteron ausschüttet, während sich die linke Go-
Unsere Theorie besagt, dass das Geschlecht des nade zu einer Ovotestis entwickelt (einem Hoden
Gesangsschaltkreises beim Zebrafink primär durch mit einigen Überbleibseln eines Ovars). Überra-
Gene bestimmt wird, die sich auf den Geschlechts- schenderweise bleibt der Gesangsschaltkreis in sol-
chromosomen befinden. Im Kern ähnelt diese The- chen Tieren weiblich. Das Geschlecht des Gehirns
orie stark derjenigen, die den Beginn geschlechtli- (weiblich) korreliert in diesem Fall mit dem geneti-
cher Differenzierung in den Gonaden von Säu- schen Geschlecht der Gehirnzellen (ZW weiblich),
getieren beschreibt, oder der zuvor ausgeführten nicht mit der Art der Gonaden.
Differenzierung der Genitalien in Wallabies. Die Die Untersuchung eines seltenen intersexuel-
Geschlechtschromosomen bei Vögeln werden mit len Finken lieferte darüber hinaus Belege dafür,
ZZ für männlich und ZW für weiblich bezeichnet, dass das genetische Geschlecht der Gehirnzellen
die Situation ist also genau umgekehrt wie bei Säu- die geschlechtsspezifischen Eigenschaften des neu-
gern. Ein Geschlechtschromosom ist nur in einem ralen Gesangsschaltkreises determiniert (Agate et
Geschlecht vorhanden (Y bei männlichen Säuge- al. 2003). Bei diesem Vogel handelte es sich um
tieren, W bei weiblichen Vögeln), das andere ist einen lateralen Gynandromorphen, ein Tier mit
in zwei Kopien im anderen Geschlecht vorhanden männlichem Gefieder auf der rechten Körperse-
(XX in weiblichen Säugern, ZZ in männlichen Vö- ite und weiblichem Gefieder auf der linken, mit
geln). Wir stellen uns vor, dass in frühen Entwick- einer scharfen Trennung entlang der Mittellinie
lungsphasen eines oder mehrere Gene auf dem W- (⊡ Abb. 2.3). Der Vogel verhielt sich wie ein typi-
Chromosom im Gehirn exprimiert wird und das sches Männchen und balzte und kopulierte normal
weibliche Entwicklungsmuster initiiert und/oder mit einem normalen Weibchen.
das männliche Entwicklungsmuster unterdrückt. Nach dem Tod des Vogels fanden sich ein
Alternativ könnten eines oder mehrere Gene auf Ovar auf der linken (weiblichen) Seite und eine
dem Z-Chromosom höher im männlichen Gehirn Testis auf der rechten (männlichen) Seite. Geneti-
exprimiert werden und so die männliche Entwick- sche Analysen verschiedener Gewebeproben von
lung fördern und/oder die weibliche unterdrücken. beiden Seiten des Tieres zeigten, dass die rechte
Obwohl im Gehirn selbst synthetisierte Östrogene Seite ein männlichen Genom (ZZ) und die linke
wichtig sind, legt die Theorie nahe, dass männli- ein weibliches Genom (ZW) hatte, obwohl auch
che Vögel ein höheres (im Gehirn synthetisiertes) einige Zellen der rechten Seite ein W-Chromo-
Östrogenniveau haben als weibliche Vögel, dass som enthielten. Die Analyse des Gehirns zeigte
aber der Geschlechtsunterschied für Östrogen im ein erstaunlich ähnliches Muster wie die männ-
Gehirn durch einen geschlechtsspezifischen Effekt lich-weiblich Trennung beim Gefieder. Expressi-
von Genen auf dem Z- oder W-Chromosom aus- onen eines W-Gens, das normalerweise nur in
gelöst wird. weiblichen Zellen vorhanden ist, in männlichen
34 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

⊡ Abb. 2.3a–d. Ein seltener, halb-männ-


licher, halb-weiblicher gynandromorpher
Zebrafink. a Die rechte Körperseite ist
genetisch männlich mit männlichem Ge-
2 fieder (oranger Wangenfleck, Streifen und
schwarzer Balken auf der Brust), während
die linke Körperseite genetisch weiblich
mit weiblichem Gefieder ist. b Der Bereich
des HVC wird anhand der Expression
(dunkle Bereiche) eines genetischen Mar-
kers für HVC dargestellt und zeigt, dass der
HVC auf der genetisch männlichen Seite
(rechts) größer war als auf der genetisch
weiblichen Seite (links). c Darstellung der
Expression (dunkle Areale) des ASW-Gens
auf dem W-Chromosom, das normaler-
weise im ganzen Körper weiblicher Tiere
exprimiert wird, zeigt, dass dieses Gen fast
ausschließlich auf der linken Gehirnseite zu
finden ist. d Die Expression des PKCIZ-Gens
des Z-Chromosoms, das bei männlichen a b
Tieren in doppelter Anzahl vorliegt, ist auf
der rechten Seite des Gehirns stärker aus-
geprägt. Dieses Muster der Genexpression
verweist auf eine scharfe Trennungslinie
zwischen der rechten (genetisch männ-
lichen) und der linken (genetisch weibli-
chen) Gehirnhälfte. Der größere HVC auf
der rechten Seite wird auf die Unterschiede
in Geschlechtschromosomen zwischen
dem linken und dem rechten Gehirn zu-
c d
rückgeführt. (Aus Agate et al. 2003)

aber fehlt, fanden sich auf der weiblichen Seite des hälfte maskuline Züge und die linke Gehirnhälfte
Gehirns, aber nur sehr gering auf der männlichen weibliche Züge haben. Das Ergebnis bestätigte
Seite. Die Abbildung der Genexpression zeigt eine keine der beiden Hypothesen vollständig: einige
auffallende Linie entlang der Gehirnmitte, ähnlich Regionen des neuralen Gesangsschaltkreises waren
wie die Trennungslinie zwischen männlichem und auf der genetisch männlichen Seite größer als auf
weiblichem Gefieder. der genetisch weiblichen. Dieses Resultat verweist
Da die rechte Gehirnhälfte genetisch über- darauf, dass das genetische Geschlecht der Gehirn-
wiegend männlich war und die linke genetisch zellen eine wichtige Rolle für eine männliche oder
überwiegend weiblich, bot dieser Vogel die seltene weibliche Entwicklung des Gesangssystems spielt.
Gelegenheit, die Auswirkungen eines männlichen Die genetisch weibliche Seite war allerdings masku-
bzw. weiblichen Genoms auf geschlechtsspezifische liner als bei einem normalen Weibchen, was darauf
Merkmale des Gehirns zu untersuchen. Wenn Go- hindeutet, dass sie durch irgendeinen Faktor, mög-
nadenhormone bestimmen, ob das Gesangssystem licherweise durch Hormone, von der männlichen
männlich oder weiblich ist, dann müssten beide Seite aus maskulinisiert worden war. Dieses Mus-
Seiten des Gehirns gleichermaßen männlich oder ter passt zu einer Theorie, in der das männliche
weiblich sein. Wenn andererseits aber das geneti- Genom einen Anstieg der Östradiolausschüttung
sche Geschlecht der Gehirnzellen die sexuelle Dif- im Gehirn selbst bewirkt, die dann für die weitere
ferenzierung steuert, dann sollte die rechte Gehirn- maskuline Entwicklung erforderlich ist.
2.4 · Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas
35 2

Die Entwicklung von Geschlechtsunterschie- inwieweit es uns gelingt, geeignete Tiermodelle


den in der Gehirnregion HVC, einem Teil des Ge- zu finden, die dem Menschen ausreichend ähneln
sangsschaltkreises, beginnt etwa um den neunten und bei denen man kausale Faktoren wie Hormone
Tag nach dem Schlupf (Kim et al. 2004; Agate et und Gene manipulieren und deren Einfluss auf das
al. 2003). Wir möchten daher Z- oder W-Gene fin- Gehirn beobachten kann. Zahlreiche Belege aus
den, die im HVC schon vor den ersten sichtbaren Tierexperimenten, die zum Teil bereits genannt
Unterschieden zwischen Männchen und Weibchen wurden, zeigen, dass Gonadenhormone eine zen-
geschlechtsspezifisch angeschaltet werden. Ein trale Rolle für die Ausbildung von Geschlechts-
solches Gen könnte die Geschlechtsunterschiede unterschieden im Gehirn spielen. Zu dieser Frage
induzieren. Ein Kandidat für ein solches Z-Gen ist sind tausende von Experimenten durchgeführt
trkB. Im HVC von männlichen Tieren wird trkB worden, unter anderem weil eine Manipulation des
etwa am 2. bis 6. Tag nach dem Schlupf stärker Hormonniveaus durch Injektion von Hormonen
exprimiert als bei weiblichen Tieren – noch bevor oder Mitteln, die die Hormonwirkung blockieren,
andere Geschlechtsunterschiede im HVC sichtbar relativ einfach ist.
werden (Chen et al. 2005). Bei trkB handelt es Über Wirkungen von Geschlechtschromosom-
sich um einen Rezeptor für einen neurotrophen genen wissen wir weniger, hierzu gibt es nur we-
Faktor (BDNF, brain-derived neurotrophic factor), nige Experimente. Das liegt zum Teil daran, dass
der bekanntermaßen Wachstum und Differenzie- eine Manipulation der Genexpression zur Verän-
rung von Zellen im Nervensystem fördert. Wenn derung der Genwirkungen schwieriger zu realisie-
BDNF bei der Entwicklung des HVC eine Rolle ren ist als eine Manipulation des Hormonniveaus
spielt, könnte das höhere trkB-Niveau ein stärke- zur Beeinflussung von Hormonwirkungen. Daher
res Wachstum des HVC bei männlichen Tieren herrscht weiterhin der Eindruck, dass Hormone als
verursachen. Ursache von Geschlechtsunterschieden wesentlich
wichtiger sind als die unmittelbaren Wirkungen
von X- und Y-Genen im Gehirn. Wir wissen je-
2.4.3 Wirkungen von Geschlechts- doch nicht, ob dieser Eindruck nur ein Artefakt
chromosomgenen, untersucht der Messprobleme für Wirkungen von X- und
an Tiermodellen Y-Genen ist.
Unmittelbare Wirkungen von Y-Genen kann
Resultieren die Unterschiede zwischen den Gehir- man testen, indem man die Expression eines einzel-
nen von Männern und Frauen aus nen Y-Gens im Gehirn verändert und untersucht,
▬ Unterschieden im Niveau der Gonadenhor- ob sich daraufhin die Funktion des Gehirns ver-
mone im Erwachsenenalter, ändert. Die erste Demonstration eines für männ-
▬ unterschiedlicher Gehirnentwicklung aufgrund liche Tiere spezifischen Y-Gen-Effekts entstammt
organisierender Wirkungen von Testosteron in dem Befund, dass Sry in der Substantia nigra
frühen Entwicklungsphasen oder aus von männlichen Ratten und Mäusen exprimiert
▬ Unterschieden in den Wirkungen von X- und wird (Dewing et al. 2006). Die Substantia nigra
Y-Genen in männlichen und weiblichen Ge- ist eine Gruppe von dopaminergen Neuronen im
hirnzellen (also Wirkungen der Geschlechts- Mittelhirn, die ihre Axone zum Striatum senden,
chromosomen)? wo sie die Motorik kontrollieren. Die Substantia
nigra wird als diejenige Gehirnregion, die bei Mor-
Im menschlichen Gehirn wurde bereits eine Viel- bus Parkinson degeneriert, intensiv erforscht. Von
zahl struktureller und funktioneller Geschlechts- Morbus Parkinson sind sowohl Männer wie Frauen
unterschiede gefunden, und man kann davon aus- betroffen, Männer allerdings 1,5-mal so häufig wie
gehen, dass viele Geschlechtsunterschiede noch ih- Frauen (Elbaz et al. 2002). Wenn man bei Ratten
rer Entdeckung harren. Unsere Möglichkeiten, die die Expression von Sry in der Substantia nigra
Ursachen menschlicher Geschlechtsunterschiede experimentell verringert, kommt es zur Verringe-
zu erklären werden wesentlich davon bestimmt, rung von Tyrosinhydroxylase (TH), einem Enzym,
36 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

das zur Dopaminsynthese benötigt wird. Die Tiere von Y-Chromosomen offensichtlich unterschied-
zeigen außerdem motorische Probleme, die sich liche Wirkungen auf die Aggressivität der Mäuse
zurückbilden, sowie man die Manipulation von Sry ausüben (Maxson et al. 1989). Ein Grund hierfür
2 rückgängig macht. Somit spielt das Sry-Gen, das könnte sein, dass die unterschiedlichen Y-Allele
für seine Rolle bei der Ausbildung der Hoden im zu dauerhaften Unterschieden im Testosteronspie-
Embryo bekannt ist, im erwachsenen männlichen gel der beiden Mäusetypen führen, die dann wie-
Gehirn eine andere Rolle. derum das Aggressionsniveau beeinflussen. Eine
Ein nicht gelöstes Paradoxon ist, dass weibliche weitere Möglichkeit lautet, dass Allele auf den bei-
Lebewesen keine motorischen Probleme aufweisen, den Y-Chromosomen in denjenigen Schaltkreisen
obwohl ihnen Sry fehlt. Eine Theorie dazu nimmt im Gehirn, die der Aggressionskontrolle dienen,
an, dass ein unbekannter Faktor bei weiblichen unterschiedlich exprimiert werden. Die Y-Gene,
Lebewesen die Rolle von Sry übernimmt. Wenn die an Aggression beteiligt sind, wurden bislang
dies tatsächlich zutrifft, müssen ein weiblicher und noch nicht identifiziert, es ist auch nicht bekannt,
ein männlicher Faktor ähnliche Rollen überneh- wo im Körper sie ihre Wirkung entfalten.
men, wodurch männliche und weibliche Lebewe- Andere Mäusestämme ermöglichen eine Ein-
sen eher ähnlicher als unterschiedlicher werden. schätzung von Unterschieden zwischen XX- und
Wahrscheinlich haben diese beiden Faktoren nicht XY-Zellen (Arnold u. Burgoyne 2004). Bei diesen
vollständig identische Wirkungen, daher bleibt die Mäusen wird Sry vom Y-Chromosom entfernt, es
Substantia nigra von Männern und Frauen unter- resultiert ein Y’-Chromosom. Wegen des fehlen-
schiedlich anfällig für Parkinson. den Sry besitzen XY’-Tiere Ovarien und werden als
Die Wirkungen von Genen des Y-Chromo- weiblich bezeichnet. Bei einzelnen Tieren wird eine
soms kann man auch über einen Vergleich der transgene Kopie von Sry ins Genom eingebracht,
Merkmale von männlichen Mäusen messen, die ein Ersatz für das fehlende Sry auf dem Y-Chro-
mit Ausnahme unterschiedlicher Y-Chromosomen mosom, welches zur Entwicklung von Testes führt.
genetisch identisch sind. Viele Inzuchtstämme Diese Mäuse, als XY’Sry bezeichnet, sind voll funk-
von Mäusen sind zum Zweck genetischer Unter- tionsfähige Männchen. Der wichtige Unterschied
suchungen gezüchtet worden. Diese Stämme sol- ist, dass sich das Sry-Gen nunmehr auf einem
len für jeden Lokus auf dem Genom homozygot Autosom und nicht auf dem Y-Chromosom be-
sein, obwohl die Allele auf verschiedenen Loki sich findet, so dass es unabhängig vom Y-Chromosom
von Stamm zu Stamm unterscheiden. Männliche auf den Nachwuchs dieses Männchens übertragen
Mäuse des Stammes DBA/1 sind wesentlich ag- wird. Die Verpaarung von XY’Sry-Männchen mit
gressiver als Männchen des C57BL/10-Stammes. normalen XX-Weibchen erzeugt vier Typen von
In einem Experiment wurde das Y-Chromosom Nachkommen: XY’Sry-Männchen, XXSry-Männ-
aus dem C57BL/10-Strang auf den DBA/1-Stamm chen, XY’-Weibchen und XX-Weibchen. Indem
übertragen, indem man C57BL/10-Männchen mit man die Merkmale von Mäusen mit demselben
DBA/1-Weibchen verpaarte und die Söhne in vielen Gonadentyp, aber mit unterschiedlichen Chromo-
Folgegenerationen wieder mit DBA/1-Weibchen somen vergleicht, kann man die Wirkungen von
verpaarte. Auf diese Weise entsprachen die X- und XX- bzw. XY’-Chromosomen auf die Körperzellen
autosomalen Gene des Nachwuchses schließlich beurteilen (auf verschiedene Merkmale, auch auf
dem DBA/1-Stamm, das Y-Chromosom stammte Gehirn und Verhalten). Man kann beispielsweise
aber immer noch vom C57BL/10-Stamm. XX-und XY’-gonadale Männchen vergleichen
Wenn man diese Männchen nun mit norma- (XY’Sry und XXSry), oder XX- und XY’-gona-
len DBA/1-Männchen vergleicht, ist dies genau dale Weibchen. Wenn sich XX- und XY’-Mäuse
genommen ein Vergleich männlicher Mäuse, die unterscheiden, kann diese Diskrepanz auf die Un-
bis auf ihr Y-Chromosom genetisch identisch sind. terschiede zwischen den X- und Y-Genen zurück-
Diese zwei Typen von Mäusen zeigten im Labor geführt werden.
große Unterschiede im Aggressionsniveau, so dass Gehirn, Verhalten und andere Merkmale wur-
die unterschiedlichen Allele auf den zwei Typen den bei diesen Mäusen verglichen. XY-Mäuse
2.4 · Aktuelle Modifikationen des klassischen Dogmas
37 2

haben ein maskulineres Expressionsmuster von schiede bei den Gonadenhormonen erklären lässt
Vasopressin im lateralen Septum, zeigen mehr (Palaszynski et al. 2005).
Agressionsverhalten und weniger Elternverhalten In einer anderen Untersuchung wurden die ko-
als XX-Mäuse mit demselben Gonadentyp (De gnitiven Fähigkeiten zweier Typen von XO-Mäusen
Vries et al. 2002; Gatewood et al. 2006). Diese verglichen. Bei XO-Mäusen handelt es sich um un-
Unterschiede zwischen XX- und XY’-Zellen tra- gewöhnliche Tiere, die weiblich sind, aber nur ein
ten zwischen Tieren auf, die im Erwachsenenalter X-Chromosom besitzen (Dawies et al. 2006). Diese
identische Testosteronmengen erhielten, so dass Mäuse erhielten ihr X-Chromosom entweder vom
die Unterschiede zwischen ihnen nicht auf ein Vater (XpO) oder von der Mutter (XmO). Die adul-
unterschiedliches Niveau von Gonadenhormonen ten Mäuse wurden trainiert, ihr Futter in einem be-
zum Testzeitpunkt zurückzuführen sind. Es ist stimmten Arm eines Labyrinths zu finden, danach
auch unwahrscheinlich, dass die Gruppenunter- wurde die Aufgabe abgeändert, d. h. das Futter nun
schiede global unterschiedliche Testosteronniveaus in einem anderen Arm angeboten, in dem vorher
in früheren Lebensphasen spiegeln, da der XX- kein Futter zu finden war. XmO-Mäuse taten sich
vs. XY’-Effekt bei beiden Geschlechtern gefunden beim Lernen diese Umkehrlernaufgabe schwerer
wurde (d. h. gleichermaßen bei Mäusen, die als als XpO- oder normale XX-Mäuse. Die Resultate
Fötus oder Neugeborenes ein hohes Testosteronni- zeigen, dass der elterliche Ursprung der X-Gene
veau besaßen wie auch bei Mäusen mit für Weib- einen Einfluss auf Gehirnfunktionen hat. Eine Mög-
chen typischem, niedrigem Niveau). Viele der XX- lichkeit besteht darin, dass XY-Männchen, die ihre
und XY’-Mäuse zeigten auch keine Unterschiede X-Gene normalerweise nur von der Mutter erhalten,
in zahlreichen anderen Merkmalen, die als emp- eine andere Gehirnorganisation als weibliche Tiere
findliche Barometer für die organisierenden Wir- aufweisen, weil XX-Weibchen sowohl die väterliche
kungen von Testosteron gelten. XY’-Mäuse beider wie mütterliche genomische Prägungsvariante besit-
Geschlechter unterschieden sich von XX-Mäusen zen. Die Auswirkungen der genomischen Prägung
auch in ihrer Immunreaktion, ein Unterschied, der des X-Chromosoms auf Geschlechtsunterschiede
sich wahrscheinlich nicht durch Gruppenunter- müssen noch ausführlicher untersucht werden.

Fazit
Alle Geschlechtsunterschiede entstehen aus den einige Unterschiede zwischen XX- und XY- Ge-
unterschiedlichen Wirkungen von X- und Y-Ge- hirnen, aber es gibt immer noch sehr viel zu
nen. Viele Geschlechtsunterschiede resultieren entdecken. Ein wichtiges Ziel ist nun, diejenigen
aus der Wirkung des Gens Sry, das bei XY-männ- X- und Y-Gene zu identifizieren, die Geschlechts-
lichen Tieren die Entwicklung von Hoden auslöst. unterschiede im Gehirn verursachen, und darüber
Mit diesem Ereignis werden lebenslang wirksame hinaus ihren Wirkort im Gehirn und ihre genaue
geschlechtsspezifische Sekretionsmuster der Go- Wirkungsweise herauszufinden.
nadenhormone in Gang gesetzt, die zum einen Geschlechtsunterschiede haben sich entwickelt,
eine unterschiedliche Organisation der Gehirne weil männliche und weibliche Lebewesen bei der
von männlichen und weiblichen Lebewesen Fortpflanzung und im dazugehörigen Sozialver-
während des Fötalstadiums, und zum anderen halten unterschiedliche Rollen einnehmen und
unterschiedliche Funktionen der Gehirne im spä- daher unterschiedliche Gehirnstrukturen benöti-
teren Leben verursachen, weil sie während der gen, um ihre jeweiligen Rollen zu spielen. Wahr-
gesamten Lebenszeit unterschiedlichen Dosen scheinlich gibt es aber auch einige Geschlechts-
von Gonadenhormonen ausgesetzt sind. unterschiede, die keine funktionellen Vorteile bie-
Aber auch abgesehen von Hormonwirkungen ten, sondern lediglich Nebenwirkungen anderer
sind XX- und XY-Gehirnzellen nicht äquivalent. Geschlechtsunterschiede darstellen, die aufgrund
Aktuelle Forschungsarbeiten zeigten bereits ihrer Vorteile selektiert wurden.
38 Kapitel 2 · Biologische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden

Chen XQ, Agate RJ, Itoh Y, Arnold AP (2005) Sexually dimorphic


Danksagung
expression of trkB, a Z-linked gene, in early posthatch ze-
bra finch brain. Proc Natl Acad Sci USA 102:7730–7735
Dank an Geert de Vries und Roger Gorski für die Cooper DW (1993) The evolution of sex determination, sex
2 Überlassung der Abbildungen. chromosome dimorphism, adn X-inactivation in therian
mammals: A comparison of metatherians (marsupials)
and eutherians (»placentals«). In: Reed KC, Graves JAM
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213
3

Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter


Geschlechtsunterschiede im Gehirn
Margaret M. McCarthy

3.1 Einführung – 42

3.2 Überblick – 44

3.3 Sexualverhalten von Nagern als heuristisches Modell – 45

3.4 Fortschritte in der Erforschung von Geschlechtsunterschieden – 48


3.4.1 Die üblichen Verdächtigen – 48
3.4.2 Prostaglandine – 48
3.4.3 Mögliche Wirkungen von GABA – 49
3.4.4 Bedeutung von Glutamat – 53

3.5 Wissenslücken – 54
3.5.1 Aufbau von Netzwerken – 54
3.5.2 Regionale Spezifität – 55
3.5.3 Feminisierung – 56

3.6 Nicht fortpflanzungsbezogene Geschlechtsunterschiede – 57


3.6.1 Art der Unterschiede – 57
3.6.2 Ausbildung der Unterschiede – 58

Literatur – 59
42 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

> Geschlechtsunterschiede lassen sich im Gehirn auf mehreren Ebenen definie-


ren. Da gibt es die Größe auf der Makroebene, wie beispielsweise die Dicke des
Kortex, und die Größe auf der Mikroebene, wie das Volumen des sexuell dimor-
phen Nukleus. Daneben kann man die Form auf der Makroebene, wie beim
Splenium des Corpus callosum, und auf der Mikroebene, wie bei der Form von
3 Astrozyten im Nucleus arcuatus, unterscheiden. Darüber hinaus gibt es che-
mische und/oder physiologische Geschlechtsunterschiede, die schwieriger zu
untersuchen und aus verschiedenen Gründen schwerer zu verstehen sind. Nun,
da viele Geschlechtsunterschiede im Gehirn charakterisiert und katalogisiert
worden sind, muss unser Ziel sein, herauszufinden, wie sich diese Geschlechts-
unterschiede herausbilden und worin ihre Funktion besteht.

3.1 Einführung sind das Volumen des sexuell dimorphen Nukleus


(SDN), die Dichte der exzitatorischen Synapsen auf
Die erste Variable, die von Artgenossen wahrge- den dendritischen Spines im Hypothalamus oder
nommen wird, ist normalerweise das Geschlecht, die Kontrolle der LH-Ausschüttung durch den Hy-
männlich oder weiblich. Körpermerkmale oder pophysenvorderlappen.
Verhalten zeugen von der Geschlechtsidentität und All diese Beispiele beziehen sich auf Gehirnregi-
ermöglichen eine schnelle und einfache Identifi- onen, die eine zentrale Rolle für die Fortpflanzung
kation. Evolutionär betrachtet bringt es keinerlei spielen (Simerly 2002). Allerdings gilt dies nicht
Vorteile, sein Geschlecht zu verbergen. Dennoch unbedingt für die Mehrzahl der Geschlechtsunter-
muss man in einer Diskussion über Geschlechts- schiede im Gehirn. Viele Geschlechtsunterschiede
unterschiede im Gehirn vorgefasste Meinungen, im Gehirn sind, insbesondere beim Menschen,
Vorurteile und politische Aspekte außer Acht las- relativ klein, Belege für funktionelle Unterschiede
sen. Die Diskussion lässt sich am besten anhand bestenfalls fragwürdig (McCarthy u. Konkle 2005;
von drei Fragen gliedern: Spelke 2005). Andere sog. Geschlechtsunterschiede
▬ Was sind Geschlechtsunterschiede im Gehirn? beschreiben eigentlich Phänomene, die beim Er-
▬ Wie entwickeln sie sich? wachsenen (insbesondere beim weiblichen Er-
▬ Haben sie eine Bedeutung? Oder mit anderen wachsenen) Plastizität infolge Veränderungen des
Worten: Worin besteht die Funktion spezifi- Hormonspiegels zeigen und dabei eine Varianz
scher Geschlechtsunterschiede? aufweisen, die den Mittelwert des anderen Ge-
schlechts (normalerweise des männlichen) ein-
Die Antwort auf die erste Frage »Was sind Ge- schließt. Da ein Geschlecht Veränderungen des
schlechtsunterschiede im Gehirn?« erscheint auf Hormonstatus zeigt, während das andere dies
den ersten Blick so offensichtlich, dass die Frage nicht tut, liegt hier zwar ein Geschlechtsunter-
eigentlich unnötig zu sein scheint; auf den zweiten schied vor, tatsächlich resultiert dieser aber aus
Blick offenbart sich allerdings eine Vielschichtig- dem hormonellen Milieu im Erwachsenen. Dieses
keit, die nicht unmittelbar ins Auge fällt. Manche Prinzip wurde bislang noch nicht unmittelbar mit
Geschlechtsunterschiede sind stabil, werden wäh- der Untersuchung von Geschlechtsunterschieden
rend einer perinatalen sensiblen Periode dauerhaft in Verbindung gebracht, daher gibt es nur wenige
etabliert und sind unmittelbar mit geschlechts- direkte Vergleiche erwachsener männlicher und
spezifischen (normalerweise fortpflanzungsbezo- weiblicher Lebewesen im Zusammenhang mit ei-
genen) Funktionen verknüpft. Beispiele hierfür nem Geschlechtsunterschied. Beispiele hierfür sind
3.1 · Einführung
43 3

die Schwelle zur Auslösung von Langzeitpotenzie- a c


rung (LTP) im Hippokampus und die Anfälligkeit
für Suchtdrogen.

End Point
End Point
Eine andere Form von Geschlechtsunter-
schieden besteht in unterschiedlichen Reaktionen
männlicher und weiblicher Lebewesen auf einen
salienten Stimulus, beispielsweise Stress, trotz glei-
chen Ausgangsbedingungen (Shors et al. 2001).
In diesen Fällen bleibt der Geschlechtsunterschied M F M F
unter normalen Umständen verborgen, daher ist
es möglich, dass es viele weitere, noch unentdeckte b d
Geschlechtsunterschiede dieses Typs gibt. Bei ei-
nem weiteren Typus von Geschlechtsunterschieden

End Point
End Point
sind unterschiedliche Strategien zur Erreichung
desselben funktionellen Resultats implementiert.
Ein Geschlechtsunterschied bei Wühlmäusen be-
trifft beispielsweise das Elternverhalten: bei männ-
lichen Tieren wird Elternverhalten durch die Vaso- M
M F F
pressininnervation des Vorderhirns gefördert, das-
selbe Verhalten wird bei weiblichen Tieren durch ⊡ Abb. 3.1a–d. Varianten von Geschlechtsunterschieden im
ein anderes neurales Substrat kontrolliert (DeVries Gehirn. Es gibt verschiedene Formen von Geschlechtsunter-
schieden im Gehirn. In einem Schema, in dem die Kästchen den
2004). Dieses für Geschlechtsunterschiede wich-
theoretischen Bereich und die Linien die theoretische Varianz
tige Prinzip wird in der allgemeinen Tendenz, den darstellen, werden mindestens vier dieser Varianten illustriert.
Geschlechtern eher Divergenz als Konvergenz zu a Viele morphometrische Unterschiede (d. h. ein Geschlecht
unterstellen, allzu oft übersehen. Die verschiede- besitzt eine größere oder anders geformte Gehirnstruktur als
nen Typen von Geschlechtsunterschieden sind das andere) sind robust und überlappen nicht. Dies gilt auch für
fortpflanzungsbezogene Verhaltensweisen und einige neuro-
schematisch in ⊡ Abb. 3.1 darsgestellt. chemische Geschlechtsunterschiede. b Alternativ gilt für einige
Aber zurück zu der Frage, was ein Geschlechts- Geschlechtsunterschiede, dass im adulten Stadium der Mittel-
unterschied ist. Grundsätzlich kann man zwischen wert einer bestimmten Reaktion in einigen Phasen des weib-
anatomischen und physiologischen Geschlechts- lichen Reproduktionszyklus identisch ist, in anderen hingegen
nicht. Mit anderen Worten: das männliche Lebewesen besitzt
unterschiede differenzieren. Bei anatomischen
eine konstante Reaktion, während die Reaktion des weiblichen
Geschlechtsunterschieden sind zwei Parameter Lebewesens sich zusammen mit dessen endokrinem Status
von Bedeutung: Größe und Form. Genauer gesagt: verändert. Dieses Phänomen kann für morphometrische und
man findet Geschlechtsunterschiede im Volumen physiologische Veränderungen innerhalb des Östruszyklus,
bestimmter Gehirnregionen wie dem Zerebellum, wie die LTP-Schwelle oder die Dichte dendritischer Spines auf
Pyramidalneuronen im Hippokampus gelten, aber auch für
oder in Subnuclei wie dem sexuell dimorphen
komplexe Verhaltensweisen wie Aggression, die in einem jung-
Nukleus (SDN) im präoptischen Areal. Außerdem fräulichen Weibchen und einem säugenden Muttertier sehr
existieren Unterschiede in der Größe und der Form unterschiedlich ausgeprägt ist. Eine dritte Form (c) ist schwie-
von Projektionen. Hier sind die großen Stränge riger zu erkennen, da die Geschlechter sich – bei identischem
weißer Substanz wie das Corpus callosum (Drie- Ausgangspunkt – in der Reaktion auf einen Stimulus wie Stress
unterscheiden. Dieses Prinzip wurde für Veränderungen in der
sen u. Raz 1995; Bishop u. Wahlsten 1996; Moffat
dendritischen Morphologie von Hippokampalneuronen fest-
et al. 1997) am besten untersucht – allerdings mit gestellt, existiert möglicherweise aber in größerem Umfang als
uneinheitlichen Resultaten. Eine direkte Projektion bisher festgestellt. Zuletzt (d) gibt es einige Fälle, in denen sich
zwischen zwei Kernen im präoptischen Areal ist die Morphometrie oder Neurochemie einer bestimmten Ge-
in männlichen Lebewesen 10-mal größer, sie ist hirnregion im männlichen und weiblichen Gehirn unterschei-
det, das funktionelle Resultat aber dasselbe ist. Beispielsweise
unmittelbar für die Kontrolle der LH-Sekretion sorgen in einigen Spezies beide Eltern für den Nachwuchs, wo-
relevant (Hutton et al 1998) und stellt ein Beispiel bei das Elternverhalten aber von unterschiedlichen Gehirnregi-
für einen stabilen Geschlechtsunterschied dar. onen und neuronalen Schaltkreisen gesteuert werden kann
44 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

Auf mikroskopischer Ebene findet man deut- oder Neuromodulatoren? Wie sieht der Phänotyp
liche Geschlechtsunterschiede in der Form von bestimmter Zellen aus? Wie verhält es sich mit
Neuronen und Glia. Neuronen im präoptischen der Dichte und Bindungsaffinität bestimmter Re-
Areal und im Hypothalamus haben im männli- zeptoren? usw. Zu derartigen Parametern gibt es
chen Gehirn im Vergleich zum weiblichen häufig viele Einzelresultate, die allerdings im Allgemei-
3 zwei- bis dreimal mehr Synapsen auf dendritischen nen deskriptiv bleiben und keine Beschreibung
Spines, oder auch vielfältigere Verzweigungen. Es von Ursache und Wirkung geben. Zuletzt kann
gibt weiterhin Regionen, in denen Astrozyten, ein man die Physiologie der Einzelzelle betrachten.
spezieller Typ von Gliazellen, im männlichen Ge- Gibt es Geschlechtsunterschiede im Ruhememb-
hirn im Vergleich zum weiblichen zahlreichere ranpotenzial? Im Basisniveau von Kalzium? In der
und damit sternförmige Verzweigungen aufweisen Menge oder der Aktivität bestimmter Kanäle und
(Mong et al. 1996; Amateau u. McCarthy 2002b). Ionenpumpen? Geschlechtsunterschiede auf dieser
Funktionell stellen solche Geschlechtsunterschiede Ebene wurde bislang kaum beachtet.
spezifische neurale Netzwerke zur Kontrolle des
Fortpflanzungsverhaltens dar.
Physiologische Geschlechtsunterschiede im 3.2 Überblick
Gehirn werden weitaus seltener untersucht als anato-
mische, da die Anatomie methodisch besser zugäng- Bei der Entwicklung der geschlechtlichen Differen-
lich ist. Auf der Ebene des Organismus besteht der zierung des Gehirns wirken während einer perina-
wichtigste physiologische Geschlechtsunterschied in talen sensiblen Periode gonadale Steroide auf das
der Regulation der LH-Sekretion über den Hypo- undifferenzierte neurale Substrat ein und verän-
physenvorderlappen: zyklisch versus pulsierend, die- dern es dauerhaft, wodurch letztlich der Phänotyp
ser Unterschied ist eine Funktion des Gehirns. Die des Gehirns dem der Gonaden entspricht. Aktuelle
Neurone, die die LH-Sekretion regulieren, sind gut Untersuchungen zu Beiträgen des chromosoma-
erforscht, es handelt sich um sog. LHRH-Neurone, len Geschlechts zum Phänotyp des Gehirns haben
die das Luteinisierendes-Hormon-Releasing-Hor- die zentrale Bedeutung von Steroiden hinsichtlich
mon synthetisieren und in die Eminentia mediana fortpflanzungsbezogener Aspekte bestätigt, zeigen
ausschütten. Von dort aus transportiert das portale aber auch wichtige genetische Einflüsse auf nicht
Gefäßsystem den Releasing-Faktor zu den gonado- fortpflanzungsbezogene Aspekte (Arnold et al.
trophen Zielzellen. Hauptsächlich über Afferenzen 2003; Arnold et al. 2004). Bei der Ratte schütten
erhalten die LHRH-Neurone durch gonadale Stero- die fötalen männlichen Gonaden Testosteron aus,
ide ein negatives Feedback. Auf diese Weise wird im mit einem Maximum am 18. Embryonaltag, aber
männlichen Gehirn der LH-Spiegel relativ konstant auch weiterhin während der Geburt und den ersten
gehalten. Im weiblichen Gehirn jedoch folgt auf eine Lebenstagen (Weisz u. Ward 1980). Zentral für den
Phase negativer Feedback-Regulation der LH-Aus- Differenzierungsprozess ist dabei die in den Neuro-
schüttung eine Phase positiven Feedbacks, in der nen stattfindende Umwandlung von Testosteron in
ein Anstieg von Östradiol zu gesteigerter LH-Aus- Östradiol. Die meisten sexuell dimorphen Gehirn-
schüttung führt, die für die Ovulation notwendig regionen enthalten große Mengen von Aromatase
ist. Diese Variabilität besitzt das männliche Gehirn Zytochrom P450 (CYP19), dem für die Umwand-
nicht. Der Mechanismus, über den Östradiol zwei lung von Testosteron in Östradiol verantwortlichen
verschiedene Wirkungen auf die LH-Ausschüttung Enzym, und weisen eine hohe Dichte an Östrogen-
ausübt, nämlich negatives und positives Feedback, Rezeptoren auf (Pfaff u. Keiner 1973; Roselli et al.
ist trotz 30-jähriger intensiver Forschung noch nicht 1984; Roselli u. Resko 1993; Maclusky et al. 1994;
bekannt. Daher wissen wir auch nicht, warum das DonCarlos et al. 1995; DonCarlos 1996). Mütterli-
männliche Gehirn diese Fähigkeit nicht besitzt. che Östrogene werden im peripheren Blutkreislauf
Ein alternativer Zugang zur Analyse physio- des Fötus durch Alpha-Fetoprotein sequestriert,
logischer Phänomene ist die Neurochemie. Wie ein steroidbindendes Glykoprotein, das nur sehr
hoch ist das Niveau bestimmter Neurotransmitter geringe Affinität für Androgene besitzt, wodurch
3.3 · Sexualverhalten von Nagern als heuristisches Modell
45 3

das testikuläre Testosteron ungehindert die fötalen Grundsatz, der vor beinahe 50 Jahren formuliert
Zielgewebe einschließlich des Gehirns erreichen wurde (Phoenix et al. 1959). Damit ein Neugebore-
und beeinflussen kann. Wenn die Funktion von Al- nes später männliches Verhalten zeigt, muss in der
pha-Fetoprotein während der perinatalen sensib- Neugeborenenphase ein kritischer Östradiolspiegel
len Periode gestört ist, zeigt die gesamte Nachkom- und im adulten Tier zusätzlich ein kritischer Tes-
menschaft einen maskulinen Verhaltensphänotyp tosteronspiegel vorherrschen. Damit ein Neuge-
(Bakker et al. 2006). borenes später weibliches Verhalten zeigt, darf ein
Eine Behandlung mit Testosteron, nicht jedoch solcher kritischer neuronaler Östradiolspiegel in
mit dem nicht-aromatisierbaren Androgen Dihy- der Neugeborenenphase NICHT vorhanden sein.
drotestosteron (DHT), ahmt viele der trophischen Zusätzlich ist eine Sequenz von Östradiol (Schwel-
Wirkungen von Östrogen nach und die normale lenwert) und Progesteron im adulten Tier erfor-
Maskulinisierung des Gehirns wird nach Blockie- derlich. Männliches Sexualverhalten ist opportu-
rung der Aromatase während der sensiblen Peri- nistisch und wird in Gegenwart eines empfäng-
ode verhindert (McEwen et al. 1977; Vreeburg et nisbereiten Weibchens sofort gezeigt. Weibliches
al. 1977; Mong et al. 1999; Amateu u. McCarthy Sexualverhalten ist physiologisch auf den Zeitraum
2002a, b; Bakker et al. 2002b; Bakker et al. 2002a). um die Ovulation eingeschränkt.
Das Grundprinzip der Maskulinisierung des männ-
lichen Gehirns durch lokale Umwandlung von Ös- Sexualverhalten und Erfahrung
tradiol wird in der »Aromatisierungs-Hypothese« Ein faszinierender Unterschied zwischen männ-
dargestellt. Diese Hypothese wurde erstmals im lichem und weiblichen Sexualverhalten, dessen
Jahre 1975 von Naftolin vorgestellt (Naftolin 1975) Mechanismus aber noch ungeklärt ist, betrifft
und später durch andere Forscher erweitert (McE- die Wirkungen von Erfahrung. Männliche Tiere
wen et al. 1977; Vreeburg et al. 1977). Wir wissen verbessern ihr Verhalten durch Übung. Wenn
jedoch relativ wenig über die Mechanismen, mit Testosteron (durch eine Kastration) eliminiert
deren Hilfe Östradiol seine maskulinisierende Wir- wird, zeigen sie weiterhin sehr viel Kopulati-
kung auf das Gehirn entfaltet. onsverhalten, das erst im Verlauf von Monaten
allmählich erlischt. Im Gegensatz dazu machen
es weibliche Tiere gleich beim ersten Mal und
3.3 Sexualverhalten von Nagern als jedes folgende Mal richtig und zeigen Lordose
heuristisches Modell erst dann, wenn die richtigen hormonellen
Umstände gegeben sind. Wenn Steroide elimi-
Untersuchungen, die die mechanistische Grund- niert werden, erlischt auch das entsprechende
lage von Geschlechtsunterschieden im Gehirn Verhalten. In Begriffen ultimater Ursachen
erforschen, nutzen ein robustes und zuverlässi- ausgedrückt, ist die adaptive Basis für diesen
ges Modell: das Sexualverhalten der Albino-La- Unterschied offensichtlich. Weibliche Tiere ha-
borratte. Ob eine adulte Ratte auf den sexuellen ben keinerlei Nutzen, aber potenzielle Kosten
Annäherungsversuch einer anderen adulten Ratte bei Paarungen außerhalb des Zeitfensters der
mit einer männlichen Reaktion (Aufreiten, Intro- Empfängnisbereitschaft, wohingegen männ-
mission und Ejakulation) oder einer weiblichen liche Tiere ihre Fitness maximieren, wenn sie
Reaktion (Lordose) antwortet, hängt vollständig keine Gelegenheit zur Paarung auslassen. Proxi-
von zwei Variablen ab: mat dagegen verweist diese Dichotomie in der
▬ dem hormonellen Milieu während eines peri- Plastizität dieser beiden Verhaltensweisen auf
natalen sensiblen Zeitfensters, das zu dem distinkte und separate neuronale Schaltkreise,
▬ hormonellen Milieu des erwachsenen Tieres seien sie physikalisch oder lediglich funktional.
passen muss.

Dies ist die bekannte Organisations/Aktivierungs- Aufgrund der oben beschriebenen Merkmale ist
Hypothese der sexuellen Differenzierung, ein das am häufigsten untersuchte sexuell dimorphe
46 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

Verhalten Sex, und das am häufigsten verwendete (nur 16 Tage). Weibliche Hamster verfügen per
Tiermodell die Laborratte. Außer den offensichtli- se nicht über eine Lordosereaktion, stattdessen
chen Vorzügen eines Labornagetiers vor anderen nehmen sie eine starre Haltung ein, die das Inte-
Spezies wie Hunden oder Primaten gibt es weitere resse des männlichen Tieres weckt. Die Zeitdauer,
gute Gründe dafür, die Ratte anderen Nagern vor- während der das Weibchen diese Haltung beibe-
3 zuziehen. Ein Vorteil der Ratte ist, dass bei ihr die hält, liefert quantitative Daten. Das Meerschwein-
für Verhaltensdifferenzierung kritische Phase noch chen hat eine relativ lange Gestationszeit und wirft
nach der Geburt andauert. Dies erleichtert die Ma- frühreife Jungtiere. Da man im Nucleus arcuatus
nipulation und Beobachtung kritischer zellulärer dieses Labortieres LHRH-Neuronen findet, ist das
Ereignisse zum Zeitpunkt ihres Auftretens. Ein Meerschweinchen hinsichtlich der Regulation der
zweiter Vorteil ist, dass die Verhaltensunterschiede Gonadotropinsekretion den Primaten ähnlicher
zwischen den Geschlechtern bei einigen Ratten- als Ratte oder Maus. Die sensible Periode für die
stämmen (insbesondere bei der Sprague-Dawley- Geschlechtsdifferenzierung von LH-Sekretion und
Albinoratte) deutlich größer sind als bei anderen Verhalten liegt jedoch vollständig pränatal, wo-
Stämmen oder Spezies, die im Labor verwendet durch Manipulation und experimentelle Beobach-
werden. Männliche Tiere zeigen robustes Auf- tung deutlich erschwert werden.
reitverhalten und Stoßbewegungen, empfängnis- Zurück zum Sexualverhalten der Laborratte:
bereite weibliche Tiere zeigen sowohl werbendes Um dieses Verhalten vollständig zu verstehen,
Verhalten wie auch eine sexuell empfangsbereite muss man drei unabhängige Prozesse betrachten
Position, die man als Lordose bezeichnet. Männ- – Maskulinisierung, Feminisierung und Defemi-
liches Verhalten lässt sich leicht anhand von Reak- nisierung (es gibt keine natürlich auftretende De-
tionslatenz und -frequenz quantifizieren, während maskulinisierung):
weibliches Verhalten als Quotient (Häufigkeit der ▬ Maskulinisierung beschreibt einen aktiven
Lordosereaktionen dividiert durch Häufigkeit des Entwicklungsprozess, ausgelöst durch gonadale
Aufreitens) und Größe (Amplitude der Lordose- Steroide während der perinatalen sensiblen Pe-
haltung) quantifiziert werden kann. riode, der das adulte Tier zu normalem männ-
Am wichtigsten ist jedoch, dass unter normalen lichen Kopulationsverhalten befähigt.
Bedingungen, d. h. dem angemessenen geschlecht- ▬ Zu Feminisierung kommt es, wenn Maskuli-
stypischen Hormonstatus, männliche Tiere keiner- nisierung ausbleibt, d. h. Feminisierung ist der
lei Lordoseverhalten und weibliche Tiere keinerlei vorgegebene Entwicklungsweg und führt dazu,
Aufreitverhalten auf andere Weibchen zeigen. Bei dass das adulte Tier unter den geeigneten hor-
der Maus, einem ansonsten aufgrund der Einfach- monellen Bedingungen Lordose zeigt.
heit genetischer Manipulationen zunehmend be- ▬ Defeminisierung ist von Maskulinisierung zu
liebteren Labornagetier, ist dies anders. Weibliche unterscheiden, obwohl sie normalerweise ge-
Mäuse zeigen häufig Aufreitverhalten gegenüber meinsam damit auftritt. Hierbei ist ein Prozess
anderen Weibchen und sogar Männchen, und auch gemeint, durch den die Fähigkeit, weibliches
Männchen zeigen Aufreitverhalten gegenüber an- Sexualverhalten zu zeigen, verloren geht.
deren Männchen. Daher reflektiert das Aufreitver-
halten bei Mäusen nicht notwendigerweise deren Defeminisierung scheint ausschließlich der Wir-
Geschlecht oder sexuelle Differenzierung. Den- kung von Östradiol zu unterliegen, wohingegen
noch hat der genetische Ansatz, für den Mäuse an Maskulinisierung sowohl Östrogene wie An-
besonders geeignet sind, wichtige Einsichten in drogene beteiligt sind (Whalen u. Edwards 1967;
den Prozess sexueller Differenzierung geliefert, die Vreeburg et al. 1977; Auger et al. 2002). Defemi-
wir sonst nicht gewonnen hätten. nisierung kann aber leicht durch Gabe von Östra-
Die zwei weiteren Nagetiermodelle, Hamster diol in neugeborenen weiblichen Tieren induziert
und Meerschweinchen (zoologisch kein Nager), werden (Ani 1978; Simerly et al. 1985; Amateau
liefern ebenfalls einzigartige Beiträge. Der Hams- u. McCarthy 2004; Todd et al. 2005). Eine Isoform
ter hat eine ausnehmend kurze Gestationsphase des Östrogenrezeptors, ER-β, könnte eine kritische
3.3 · Sexualverhalten von Nagern als heuristisches Modell
47 3

PGE2

Masculinization
ESTRADIOL

Defeminization

Bipontial Brain

???
Feminization

⊡ Abb. 3.2. Das Sexualverhalten der Ratte als Modellsystem. Defeminisierung, führt zur Eliminierung oder Ausschaltung
Es existieren drei unabhängige Mechanismen der geschlecht- des neuralen Substrats, welches die Expression von weibli-
lichen Differenzierung des Rattengehirns: Maskulinisierung, chem Sexualverhalten im adulten Tier fördert. Dieser Prozess
Defeminisierung und Feminisierung. Maskulinisierung ist ein wird ebenfalls durch Östradiol während einer perinatalen
von Hormonen vermittelter Prozess, der ein neurales Subst- sensiblen Periode ausgelöst, der zelluläre Mechanismus ist
rat ausbildet, das das männliche Sexualverhalten im adulten jedoch unbekannt. Bei Fehlen von gonadalen Steroiden
Tier fördert. Aktuelle Belege verweisen darauf, dass ein östra- während der sensiblen Periode entwickelt sich in einem
diolinduzierter Anstieg von Prostaglandin PGE2 notwendig aktiven Prozess, der als Feminisierung bezeichnet wird, ein
und hinreichend für die Maskulinisierung des präoptischen weibliches Gehirn. Über diesen Entwicklungsprozess ist so
Areals und des Sexualverhaltens ist. Ein paralleler Prozess, gut wie nichts bekannt

Rolle bei der Defeminisierung spielen (Kudawa der Laborratte besitzen wir drei robuste Ausgangs-
et al. 2005). Daher gilt, dass dasselbe Steroidhor- punkte, um die mechanistische Grundlage für eine
mon, Östradiol, zwei verschiedene Prozesse ver- Differenzierung des Gehirns durch Steroide zu
mittelt, Maskulinisierung und Defeminisierung erforschen. Darin und in der Tatsache, dass sie
(⊡ Abb. 3.2). Aber durch welche Mechanismen ge- neue Einsichten in die Wirkweise von Steroiden
schieht dies? vermitteln, liegt ihr Wert. Um diese Befunde auf
Für das Sexualverhalten des Menschen kann das menschliche Gehirn zu übertragen, ist mehr
man aus diesen Entwicklungsprozessen bei der Wissen über die mechanistische Grundlage von
Ratte keine klar erkennbaren Schlussfolgerungen Motivation und Ausführung menschlichen Sexual-
ziehen, und es wäre auch nicht sinnvoll, danach zu verhaltens notwendig. Im Gegensatz dazu besteht
suchen. Mit einer klaren Definition von Maskuli- allerdings gegenwärtig übermäßiges Interesse an
nisierung, Feminisierung und Defeminisierung bei den Grundlagen sexueller Präferenzen.
48 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

3.4 Fortschritte in der Erforschung maskulinen Phänotyp sowohl auf neuronaler wie
von Geschlechtsunterschieden auf Verhaltensebene führen. Dies konnte jedoch
mit keinem der klassischen Neurotransmitter je-
3.4.1 Die üblichen Verdächtigen mals gezeigt werden. Die Administration von Se-
rotonin-, Dopamin- oder Noradrenalinanaloga bei
3 Seit nunmehr beinahe 50 Jahren ist bekannt, dass neugeborenen weiblichen Tieren löst keine Masku-
gonadale Steroide das Gehirn während einer de- linisierung aus. Aufgrund dieser Resultate ließ das
finierten sensiblen Zeitspanne der Entwicklung Interesse an der mechanistischen Grundlage der
differenzieren. Seitdem sind vielfach Versuche Maskulinisierung stark nach.
unternommen worden, über die Steroide hinaus-
zublicken, indem man nach den Mechanismen
forschte, die die permanente organisatorischen 3.4.2 Prostaglandine
Veränderungen im Gehirn herbeiführen. Frühe
Studien konzentrierten sich auf Substanzen, die Ein überraschendes aktuelles Forschungsergeb-
ich hier als die »üblichen Verdächtigen« bezeich- nis zeigt, weshalb vorausgegangene Versuche, be-
nen möchte: Neurotransmitter galten als in Frage stimmte Neurotransmitter mit der Maskulinisie-
kommende Kandidaten, die durch Steroide mo- rung des Gehirns in Zusammenhang zu bringen,
duliert werden und die Gehirnentwicklung verän- gescheitert sind. Es zeigte sich, dass der Vermittler
dern könnten. Die klassischen Neurotransmitter steroidinduzierter Maskulinisierung gar kein Neu-
Noradrenalin, Dopamin und Serotonin wurden rotransmitter ist, sondern ein Prostaglandin. Da-
allesamt von verschiedenen Forschergruppen als bei handelt es sich um Prostaglandin E2 (PGE2),
die Vermittler steroidinduzierter Maskulinisierung dessen Synthese in der präoptischen Region des
des Gehirns vorgeschlagen. Tatsächlich entdeckte Neugeborenen während der perinatalen sensiblen
man Geschlechtsunterschiede in all diesen Sys- Phase durch Östradiol gefördert wird. Die Syn-
temen (Ani 1978; Simerly et al. 1985; Simerly these von Prostanoiden beginnt mit der oxidativen
1998). Einige davon treten bereits sehr früh in der Zyklisierung von Arachidonsäure durch Zyklooxy-
Entwicklung und möglicherweise schon vor dem genase. Die induzierbare Isoform von Zyklooxyge-
Einfluss gonadaler Steroide auf (Reisert u. Pilgrim nase, COX-2, ist ein Immediate-early-Gen, das auf
1995). Stört man diese Systeme durch pränatalen Stimuli wie Fieber, Verletzungen und auf Stimuli,
Stress oder durch direkte Gabe von Agonisten oder die mit neuronaler Plastizität zusammenhängen,
Antagonisten, resultieren korrelative oder kausal reagiert (Hoffmann 2000; Camu et al. 2003; Gi-
verknüpfte Störungen der adulten Sexualfunkti- ovannini et al. 2003). Wir stellten fest, dass das
onen (Gonzalez u. Leret 1992; Hull et al. 1998). Niveau von COX-2-mRNA und -Proteinen im prä-
Solche Resultate werden oft als Indikatoren dafür optischen Areal (POA) neugeborener männlicher
angesehen, dass Serotonin, Dopamin oder Norad- Tiere höher ist als bei weiblichen und durch Östra-
renalin wesentliche Vermittler der steroidinduzier- diol deutlich ansteigt, was wiederum zu einem sig-
ten sexuellen Differenzierung des Fortpflanzungs- nifikanten Steigerung der PGE2-Produktion führt.
verhaltens seien. Die Gabe von PGE2 an neugeborene weibliche
Der Vermittler steroidinduzierter sexueller Tiere hatte zwei bemerkenswerte und möglicher-
Differenzierung des Gehirns müsste jedoch in weise zusammenhängende Effekte: einen zwei- bis
der Lage sein, diesen Prozess in der Abwesenheit dreifachen Anstieg in der Anzahl dendritischer
von Steroiden zu induzieren. Mit anderen Worten: Spines (der Primärseite exzitatorischer glutama-
Wenn zu Östradiol aromatisiertes Testosteron das terger Synapsen) im POA sowie die Induktion
Niveau von Substanz X steigert, und Substanz X maskulinen Sexualverhaltens im adulten Tier. Im
dann auf die Neuronen wirkt und einen masku- Gegensatz dazu führte eine temporäre Blockade
linen Phänotyp generiert, dann müsste die Gabe der PGE2-Synthese durch den COX-Hemmer In-
von Substanz X an weibliche Lebewesen während domethazin in neugeborenen männlichen Tieren
der sensitiven perinatalen Zeitspanne zu einem zu einer signifikanten Verringerung der Anzahl
3.4 · Fortschritte in der Erforschung von Geschlechtsunterschieden
49 3

von dendritischer Spines im POA bis auf ein Ni- Jungtiere zurücktrug. Interessanterweise kam es
veau, wie man es normalerweise im weiblichen durch neonatale PGE2- oder Indomethazin-Be-
Gehirn findet. Darüber hinaus zeigten sich im handlung nicht zu einer Volumenänderung des
adulten Tier schwere Beeinträchtigungen des nor- SDN, der im männlichen Gehirn drei- bis fünfmal
malen männlichen Sexualverhaltens (Amateau u. größer und zentral im POA positioniert ist (Gorski
McCarthy 2002a; Amateau u. McCarthy 2004). Die et al. 1980; Davis et al. 1996b), so dass erstmalig
Wirkung von PGE2 auf dendritische Spines konnte eine Dissoziation von SDN-Volumen und Verhal-
mit dem AMPA-Rezeptorantagonisten NBQX blo- ten gezeigt werden konnte. Die Resultate sind in
ckiert werden, was darauf hinweist, dass die Wir- ⊡ Abb. 3.3 zusammengefasst.
kung der Prostanoide über Glutamatausschüttung Die Schlussfolgerung lautet, dass PGE2-Effekte
vermittelt wird. Synapsen auf dendritischen Spines im POA für die Maskulinisierung von Sexualver-
sind zentrale Regler neuronaler Exzitabilität, so halten spezifisch sind, aber keine Auswirkungen
dass eine zwei- bis dreifache Anzahl dieser Spines auf die Feminisierung (d. h. keine Defeminisie-
erheblich mehr exzitatorischen Input in die Neu- rung) von Sexualverhalten oder mütterlichen Re-
ronen weiterleitet, wodurch sich deren Reaktionen aktionen haben. Diese Resultate zeigen außerdem
auf afferente Stimulation stark verändern. definitiv, dass die Defeminisierung ein über Stero-
Neugeborene weibliche Tiere, die mit PGE2 ide vermittelter Prozess ist, der über einen bislang
behandelt werden, zeigen als adulte Tiere das voll- noch unbekannten Mechanismus abläuft.
ständige Muster männlichen Sexualverhaltens,
wenn man zusätzlich noch für ein männliches
Testosteronniveau sorgt und ihnen Zugang zu 3.4.3 Mögliche Wirkungen von GABA
einem empfängnisbereiten weiblichen Tier gibt.
Neugeborene männliche Tiere, die mit Indome- Die Aminosäuretransmitter Glutamat und GABA
thazin behandelt werden, zeigen fast kein männ- sind allgegenwärtig, schnellwirkend und von zen-
liches Sexualverhalten (Amateau u. McCarthy traler Bedeutung für beinahe alle Gehirnfunkti-
2004; Todd et al. 2005). Diese Resultate zeigen die onen. Sie sind die wesentlichen Regler neurona-
Bedeutung von PGE2 für die Maskulinisierung, ler Exzitabilität und wirken hauptsächlich über
machen aber keine Aussage über die Fähigkeit zu ionotrope Rezeptoren. Diese zentrale Funktion
weiblichem Sexualverhalten. Wenn man dieselben erschwert nicht nur ihre Untersuchung, sondern
männlichen Tieren, die infolge der COX-2-Hem- führte auch zu der Vermutung, dass sie als Kandi-
mung im Neugeborenenstadium kein männliches daten für die Vermittlung hormonell induzierter
Sexualverhalten zeigten, mit Hormonen behandelt, Geschlechtsunterschiede im Gehirn wahrschein-
die weibliches Sexualverhalten auslösen, zeigen sie lich ausscheiden. Es war schwer vorstellbar, wie
dennoch kein weibliches Sexualverhalten, sie sind Veränderungen im Ionenstrom zu den spezifischen
vielmehr asexuell. In deutlichem Gegensatz dazu und lang anhaltenden Effekten führen sollten, die
zeigen weibliche Tiere, gleichgültig ob sie durch in der organisatorischen Phase der Geschlechts-
Behandlung mit PGE2 als Neugeborene maskuli- differenzierung auftreten. Im Rückblick ist dies
nisiert wurden oder nicht, eine in Häufigkeit und natürlich eine sehr naive Sichtweise, da inzwischen
Qualität normale Lordosereaktion. bekannt ist, dass sowohl GABA wie Glutamat we-
Bei denselben Tieren wurden mütterliche Re- sentliche Komponenten der Gehirnentwicklung
aktionen getestet, ein weiteres geschlechtsspezifi- sind, die Einflüsse auf ein breites Spektrum von
sches, durch Hormone gesteuertes Verhalten, an Reaktionen haben. Dazu gehören neuronale Diffe-
dem das POA zentral beteiligt ist. In einem Sensiti- renzierung, Migration, Apoptose, Neuritenwachs-
vierungsparadigma zeigten all diese Weibchen (zu- tum und Synaptogenese. Zu diesen Erkenntnissen
sätzlich zu weiblichem Sexualverhalten) ungeachtet kam es jedoch weitgehend erst, nachdem das inten-
ihrer Behandlung als Neugeborene, auch mütterli- sive Interesse an der mechanistischen Basis steroi-
che Reaktionen, während keines der männlichen dinduzierter geschlechtlicher Differenzierung des
Tiere entsprechendes Verhalten zeigte, also keines Gehirns nachgelassen hatte.
50 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

COX-2

E2

T PGE2

⊡ Abb. 3.3. Östradiol induziert über PGE2 die Maskulinisierung. werden (siehe Kasten). Die höhere Dichte von dendritischen
Im sich entwickelnden männlichen präoptischen Areal vermit- Spines auf Neuronen des präoptischen Areals korreliert mit der
telt Östradiol einen Anstieg des induzierbaren Enzyms Zykloo- Expression von männlichem Sexualverhalten im adulten Tier.
xygenase 2 (COX-2). Der resultierende Anstieg eines seiner Wenn das Enzym COX-2 blockiert wird, bleibt die Dichte dend-
Produkte, Prostaglandin E2 (PGE2), vermittelt die Entwicklung ritischer Spines gering und es kommt auch nicht zu Expression
von Spines auf den Dendriten der Neurone in dieser Gehirnre- männlichen Sexualverhaltens im adulten Tier. Wenn Östradiol
gion. Dendritische Spines sind der wichtigste Vorkommensort vorhanden ist, wird jedoch trotzdem der Prozess der Defemini-
exzitatorischer Synapsen, sie können durch starke Vergröße- sierung ausgelöst – ein so behandeltes adultes Tier zeigt weder
rung von schwermetallgefärbten Neuronen sichtbar gemacht männliches noch weibliches Sexualverhalten

Als sich der Forschungsschwerpunkt verla- Wirkung von GABA während der Entwicklung, sie
gerte, galt das Interesse zunächst GABA und nicht scheint dabei im gesamten Gehirn vorzukommen
Glutamat als einem Regler der geschlechtlichen (McCarthy et al. 2002). Der auf die depolarisie-
Differenzierung. Dieses Interesse ging unseren rende GABA-Wirkung folgende Kalziumeinstrom
aktuellen Kenntnissen über die Rolle von GABA gleicht in der Wirkung einem trophischen Faktor,
während der Entwicklung voraus. Im letzten Jahr- obwohl viele Aspekte der potenziellen trophi-
zehnt hat sich unser Bild über die Wirkungen von schen Wirkung noch nicht gut untersucht sind.
GABA erheblich verändert. Früher wurde GABA Die exzitatorischen Wirkungen von GABA wer-
als die primäre Quelle inhibitorischer Prozesse den über GABAA Rezeptoren (Chlorid-Ionopho-
im Gehirn angesehen. Inzwischen wissen wir, ren) und den relativen Chloridgradienten über
dass GABA eine Hauptquelle von Exzitation sein die Membran vermittelt. Ob die Aktivierung von
kann. Die Exzitation wird durch einen Kalzi- GABAA-Rezeptoren zum Chlorideinstrom oder
umeinstrom über spannungssensitive Kalzium- -ausstrom führt, wird über den transmembralen
kanäle, der durch Depolarisation ausgelöst wird, Chloridgradienten bestimmt, der sich wiederum
vermittelt (⊡ Abb. 3.4). Am deutlichsten ist diese aus der Aktivität und Expression von Chlorid-
3.4 · Fortschritte in der Erforschung von Geschlechtsunterschieden
51 3

Cl -
Cl -
Cl -
Cl -

membrane
depolarization
GABAA receptor Cl -

Cl -
Cl -
Cl - Ca++ Ca ++
Cl - Cl -
Ca++
P Cl - Ca++
calcium
Ca++ channel
E2
NKCC1

T Changes in signal
transduction and
transcription

⊡ Abb. 3.4. Östradiol fördert die Effekte von exzitatorisch ren auf Spannungsänderungen und öffnen in Reaktion auf
wirkendem GABA. Im Gegensatz zu der vorwiegend hem- eine Depolarisation, so dass Kalzium in die Zelle einströmen
menden Wirkung im adulten Gehirn stellt GABA im sich kann. Kalzium ist ein wichtiger Auslöser zahlreicher Signal-
entwickelnden Gehirn eine Hauptquelle der Exzitation dar. kaskaden und kann so zu Veränderungen der Transkription
Diese Umkehrung der Wirkung ist eine Folge des transmemb- führen. Östradiol verstärkt diesen Gesamtprozess, indem es
ranen Konzentrationsgradienten von Chlorid, der in unreifen die Phosphorylierung und damit die Aktivität von NKCC1
Neuronen die genau entgegengesetzte Richtung hat wie in fördert, wodurch der transmembrale Gradient von Chlorid
reifen. Der Kotransporter NKCC1 transportiert Chlorid in die weiter verstärkt wird. Dadurch kommt es zu einer stärkeren
jungen Neuronen, was netto zu einer Akkumulation führt. Depolarisation der Membran nach Öffnen des GABAA Rezep-
Der GABAA Rezeptor ist ein Chlorid-Ionophor, der Chlorid tors, was wiederum zu längerem und häufigerem Öffnen der
als Funktion von dessen Konzentrationsgradienten einwärts spannungssensitiven Kalziumkanäle führt. Im Endeffekt führt
oder auswärts fließen lässt. Wenn das intrazelluläre Chlorid dies zu einem stärkeren Einstrom von Kalzium in die Zelle als
hoch ist, führt das Öffnen des GABAA-Rezeptors zu einem es ohne Östradiol der Fall wäre. Ein Kausalzusammenhang
Netto-Auswärtsstrom von Chlorid und die resultierende Ver- zwischen dieser Wirkung von Östradiol und der geschlechtli-
änderung der negativen Ladung führt zu einer Depolarisation chen Differenzierung des Gehirns konnte bislang noch nicht
der Zellmembran. Zusätzliche Kanäle in der Membran reagie- definitiv bestätigt werden

Kotransportern herleitet (Plotkin et al. 1997b; polarisierung ausreicht, um die spannungssensiti-


Plotkin et al. 1997a; Rivera 1999; Ganguly et al. ven Kalziumkanäle (hauptsächlich vom L-Typ) zu
2001). öffnen (Leinekugel et al. 1995; Obrietan u. van den
Während der Neugeborenenphase ist das Um- Pol 1995; Owens et al. 1996). Im weiteren Fortgang
kehrpotenzial für Chlorid (ECl-), relativ zum Ru- der Entwicklung wird ECl- relativ zum Ruhemem-
hemembranpotenzial, positiv (Barna et al. 2001), branpotenzial negativ, wodurch es zum Einstrom
was netto zu einem Chloridausstrom führt, wenn von Chlorid und damit zu einer über GABAA-
GABAA-Rezeptoren öffnen und die Membrande- Rezeptoren vermittelten Hyperpolarisierung führt,
52 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

der primären Grundlage für synaptische Inhibition stand (Nunez et al. 2005). Gesteigerte Aktivität
im voll entwickelten Gehirn. von pNKCC2 steigert die intrazelluläre Chlorid-
Die während der Entwicklung stattfindende Konzentration und verstärkt die depolarisierende
allmähliche Verlagerung von GABA-vermittelter Wirkung der Aktivierung von GABAA-Rezepto-
Exzitation hin zu Inhibition wird über Verände- ren, was zu einem gesteigerten Kalziumeinstrom
3 rungen in der Expression und/oder Aktivität von über die spannungssensitiven Kalziumkanäle vom
Chlorid-Kotransportern reguliert, dazu gehören L-Typ führt. Dies könnte ein plausibler Mechanis-
NKCC1 und KCC2 sowie Chloridkanäle wie CIC2 mus sein, über den Östradiol den von Muscimol
(Schwartz-Bloom u. Sah 2001). NKCC1 fördert induzierten Kalziumeinstrom verstärkt und auf
den Chloridtransport in die Zelle zusammen mit diese Weise vermutlich die Gehirnentwicklung
Natrium und Kalium, seine Expression ist im Neu- verändert (⊡ Abb. 3.4).
geborenengehirn hoch, verringert sich jedoch mit Damit Östradiol seine Wirkung auf die Menge
zunehmendem Alter. Im Gegensatz dazu fördert von exzitatorischem GABA über einen Chlorid-
KCC2 den Chloridausstrom, seine Expression ist Kotransporter entfalten kann, muss das Steroid auf
im Neugeborenengehirn gering, steigt aber mit die den postsynaptischen GABAA-Rezeptor expri-
dem weiteren Verlauf der Entwicklung an, so dass mierende Zelle wirken. Es gibt aber auch Belege
am Ende der zweiten Lebenswoche das Niveau von dafür, dass Östradiol auf GABA produzierende
KCC2 erhöht, das Niveau von NKCC1 signifikant Neuronen einwirkt. Östrogenrezeptoren finden
verringert ist (Plotkin et al. 1997a, b, Plotkin et al. sich an GABAergen Neuronen des Hypothalamus
1997a; Delpire 2000). Infolgedessen führt zu dieser (Flugge et al. 1986). Neugeborene männliche Rat-
Zeit die Aktivierung von GABAA-Rezeptoren zu ei- ten besitzen im Vergleich zu weiblichen Tieren ein
nem Chlorideinstrom und der Hyperpolarisierung zweimal so hohes hypothalamisches Niveau von
der Membran (Stein et al. 2004). mRNA für Glutaminsäure-Decarboxylase (GAD;
In Neuronen des Hypothalamus verstärkt Ös- das Enzym, das die Rate der GABA-Synthese li-
tradiol die depolarisierende Wirkung von GABA mitiert) und GABA (Davis et al. 1996a, 1999).
während der perinatalen sensiblen Periode. Öst- Die kombinierte Wirkung der Verstärkung von
radiol wirkt, indem es die Kalziumtransiente mit depolarisierendem GABA und mehr GAD und
jeder Depolarisation vergrößert und die Anzahl GABA im männlichen Gehirn hat wichtige Kon-
von Neuronen erhöht, die auf die GABAA-Rezep- sequenzen für die nachgeordnete Signalkaskade.
tor-Aktivierung mit einer Kalziumtransiente re- Dies zeigt sich zumindest zum Teil in einer Ak-
agieren, und indem es während der Entwicklung tivierungszunahme von cAMP-response element
die Dauer der depolarisierenden GABA-Wirkung binding-Protein (CREB), die man an gesteigerter
verlängert (Perrot-Sinal 2001). Über welche/n zel- Phosphorylierung (pCREB) erkennen kann.
lulären Mechanismus/en, die östradiolinduzierte Verabreicht man neugeborenen männlichen
Verstärkung der depolarisierenden GABA-Wir- Tieren einen GABAA-Agonisten, so steigt die An-
kung abläuft, ist gegenwärtig noch nicht bekannt. zahl der Neuronen im Hypothalamus, die pCREB
Es hat aber den Anschein, dass Östradiol während exprimieren, dramatisch an; dieselbe Behandlung
einer längeren Entwicklungsphase einen (relativ) hat auf weibliche Tiere den exakt gegenteiligen
hohen intrazellulären Chloridgradienten aufrecht Effekt, die Anzahl der Neuronen, die pCREB ex-
erhält, indem es die Expression und/oder Aktivität primieren, nimmt ab. Da Phosphorylierung und
von NKCC1 steigert, dem am Chlorideinstrom Dephosphorylierung zentraler Transkriptionsfak-
beteiligten Chlorid-Kotransporter. toren wie CREB durch Kinasen und Phosphatasen
Das Niveau von NKCC1 wird durch Gabe reguliert werden, könnten die gegenläufigen Wir-
von Östradiol nur marginal gesteigert. Die Ak- kungen der Aktivierung von GABAA-Rezeptoren
tivität dieses Transporters ist jedoch von Phos- im männlichen und weiblichen Gehirn während
phorylierung abhängig (Dowd u. Forbush 2003; der Entwicklung Formen divergenter Signalüber-
Gimenez u. Forbush 2003), und Östradiol steigert tragung darstellen, die die geschlechtliche Diffe-
die Menge der Kotransporter im aktivierten Zu- renzierung vermitteln (Auger et al. 2001).
3.4 · Fortschritte in der Erforschung von Geschlechtsunterschieden
53 3

Zwei Aspekte dieser möglichen Wirkung von Die Morphologie dieser Zellen zeigt im männ-
GABA wurden untersucht: Verhalten und Aus- lichen Gehirn eine höhere Komplexität mit häufi-
bildung synaptischer Muster. Wenn die Wirkung geren Verzweigungen als im weiblichen. Behand-
von GABA tatsächlich einen Verzweigungspunkt lung neugeborener weiblicher Tiere mit Östradiol
in der geschlechtlichen Differenzierung darstellt, induziert innerhalb von 48 Stunden eine Diffe-
dann müsste eine Blockade der GABA-Aktivierung renzierung der Astrozyten bis zu einem Punkt, an
während der perinatalen sensiblen Zeitspanne das dem sie männlichen gleichen (Mong u. McCarthy
Sexualverhalten im Erwachsenenalter beeinträchti- 2002). Die Suche nach Östrogenrezeptoren auf die-
gen. Dies trifft tatsächlich zu. Verabreicht man An- sen Astrozyten blieb erfolglos, daher könnte der
tisense-Oligonukleotide gegen die mRNA für GAD primäre Wirkort in den Neuronen liegen, die dann
zur Verringerung der GABA-Produktion während entsprechende Signale zu den Astrozyten über-
der perinatalen Phase, wird sowohl männliches wie tragen. Diese Vermutung wurde durch die Entde-
weibliches Sexualverhalten beeinträchtigt (Davis et ckung bestätigt, dass GABA, das nur in Neuronen,
al.). Ein zu derselben Zeit verabreichter GABAA- aber nicht in Astrozyten, produziert wird, die As-
Antagonist hat ähnliche Wirkung (Silva et al. 1998). trozyten-differenzierenden Wirkungen von Östra-
Wenn jedoch, wie oben erwähnt, GABA für die diol präzise nachahmte, und dass durch Gabe eines
normale geschlechtliche Differenzierung notwen- GABAA-Rezeptor Antagonisten die Wirkung von
dig und hinreichend ist, dann müsste die Verabrei- Östradiol blockiert wurde. Östradiol wirkt erst auf
chung von GABA oder GABAA-Agonisten ausrei- das Neuron, womit die Synthese und/oder Freiset-
chen, um diesen Prozess zu induzieren. Dieses Er- zung von GABA heraufgeregelt wird, das dann in
gebnis wurde jedoch nicht beobachtet. Außerdem die benachbarten Astrozyten diffundiert und deren
zeigen die beiden wichtigsten Gehirnregionen, die Differenzierung induziert (Mong et al. 2002). Weil
Maskulinisierung und Defeminisierung regulieren, diese Prozesse während der perinatalen sensiblen
nämlich POA und mediobasaler Hypothalamus, Periode auftreten, sind die induzierten Verände-
einen geschlechtlichen Dimorphismus: Männli- rungen permanent, so dass männliche Gehirne
che Gehirne besitzen mehr dendritische Spines als während der gesamten Lebenszeit mehr sternför-
weibliche. Da die Synaptogenese oft durch Verände- mige Astrozyten im Nucleus arcuatus aufweisen
rungen der neuronalen Exzitabilität reguliert wird, als weibliche. Dieser Geschlechtsunterschied ist
könnte der über Östradiol vermittelte Anstieg von möglicherweise bedeutsam für die Aufrechterhal-
depolarisierendem GABA ein möglicher Kandidat tung eines weiteren Geschlechtsunterschiedes in
für die Induktion dieses Geschlechtsunterschiedes der Synapsenstruktur, der in dieser Gehirnregion
bei exzitatorischen dendritischen Synapsen sein ebenfalls über die gesamte Lebensdauer gefunden
– dies wurde jedoch ebenfalls nicht beobachtet. wurde, dessen Funktionalität jedoch noch unbe-
Der einzige Bereich, in dem sich die Verhei- kannt ist.
ßungen von GABA erfüllt haben, ist ein kleiner,
aber wichtiger Kern im Hypothalamus, der Nu-
cleus arcuatus. Neurone in dieser Hirnregion 3.4.4 Bedeutung von Glutamat
interagieren eng mit dem Hypophysenvorderlap-
pen und kommunizieren daher mit peripheren Glutamatrezeptoren spielen bei der Ausbildung
endokrinen Organen, einschließlich der Gonaden, von dendritischen Spines eine zentrale Rolle, so
Nebennieren, Schilddrüse und Fettgewebe. In der dass sie möglicherweise auch an der Ausbildung
neugeborenen Ratte sind die Astrozyten im Nu- von Geschlechtsunterschieden in synaptischen
cleus arcuatus bereits herangereift und exprimie- Mustern beteiligt sind. Eine Überexpression des
ren auf hohem Niveau ein Strukturprotein, das GluR2-Subtyps des Glutamatrezeptors führt zur
sog. saure Gliafaserprotein (glial fibrillary acidic Zunahme von Größe und Dichte dendritischer Spi-
protein, GFAP). Auf entsprechend gefärbten Hirn- nes in hippokampalen Neuronen und initiiert die
schnitten entdeckt man Astrozyten mit einer kom- Ausbildung von Spines auf GABAergen Interneu-
plexen und sternförmigen Morphologie. ronen, die normalerweise keine Spines aufweisen
54 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

(Passafaro et al. 2003). Aktivierung von Glutamat- wirkt, und so eine Fernwirkung auf die Astrozyten
rezeptoren ist darüber hinaus für den Fortbestand ausübt, die dann den Kreis schließen, indem sie
dendritischer Spines im Hippokampus notwendig wieder mit den Neuronen kommunizieren.
(McKinney et al. 1999). Insgesamt gesehen gibt es überzeugende Belege
In einem Szenario, in dem PGE2 notwendig dafür, dass sowohl GABA wie Glutamat wichtige
3 und hinreichend für die Maskulinisierung des neu- Regler im Prozess der geschlechtlichen Differenzie-
ronalen Phänotyps des POA und des männlichen rung des Gehirns sind. Wie jedoch aus dem obigen
Sexualverhaltens ist, lautete eine wichtige offene Bericht hervorgeht, ist unser Wissen immer noch
Frage: Wie vermittelt ein Prostaglandin die synap- sehr lückenhaft. Inwiefern physiologische Verände-
tische Strukturierung? Im Rückblick erscheint die rungen wie der Anstieg von intrazellulärem Kalzium
Antwort offensichtlich: über Glutamat natürlich! oder von pCREB mit Funktionen verknüpft sind
Nach der Entdeckung, dass Astrozyten nach Sti- – dies zu erklären, bleibt ein anzustrebendes Ziel.
mulation durch PGE2 Glutamat ausschütten, stieg
das Interesse an den Wirkungen von Prostaglandi-
nen auf das Gehirn stark an. Dieses Glutamat ist 3.5 Wissenslücken
synaptisch aktiv und kann die neuronale Funktion
verändern (Bezzi et al. 1998). Für die Entwicklung 3.5.1 Aufbau von Netzwerken
des POA scheint zu gelten, dass Glutamat darüber
hinaus tatsächlich die synaptische Strukturierung Um das geschlechtlich ausdifferenzierte Gehirn
für das weitere Leben bestimmt. Wenn also Östra- umfassend zu beschreiben, ist es wichtig, die Ge-
diol COX-2 hochreguliert, um die Produktion und schlechtsunterschiede in den verschiedenen Gehirn-
Ausschüttung von PGE2 zu steigern, veranlasst regionen zu kategorisieren und zu charakterisieren.
PGE2 die benachbarten Astrozyten zur Ausschüt- Zur Vervollständigung des Bildes müssen diese regi-
tung von Glutamat, das dann auf die Neuronen onalen Veränderungen jedoch in ein definiertes neu-
rückwirkt, um die Ausbildung von Synapsen an rales Netzwerk eingebunden sein, das die endgültige
dendritischen Spines zu induzieren (Amateau u. Funktion reguliert. Umfangreiche Forschungsarbei-
McCarthy 2004). Man beachte, dass hier dasselbe ten haben zur Definition der neuralen Schaltkreise
Szenario vorliegt, das auch für die Wirkung von beigetragen, die weibliches Fortpflanzungsverhalten
GABA auf die Astrozyten diskutiert wurde, dass regulieren, aber ironischerweise wissen wir so gut
nämlich Östradiol zunächst auf das Neuron ein- wie nichts über die Konstruktion des weiblichen

Östradiol und Glutamat

Weil Glutamat für die Ausbildung eines Ge- Östradiol die Glutamatsynthese und -freisetzung
schlechtsunterschiedes in der synaptischen in einem Neuron fördert, das dann wiederum auf
Strukturierung des POA eine Rolle spielt, über- ein anderes einwirkt, womit das Thema der Kom-
prüften wir seine potenzielle Rolle im mediobasa- munikation von Zelle zu Zelle ständig wiederholt
len Hypothalamus, wo ein ähnlicher Geschlechts- wird. Dieses Resultat illustriert sehr anschaulich
unterschied zu beobachten ist. In einem ersten ein weiteres Prinzip, wie Steroide die sexuelle
Schritt testeten wir, ob PGE2 involviert war, dies Differenzierung im sich entwickelnden Gehirn
war nicht der Fall. Dennoch werden die synapto- modulieren. Steroide wie Östradiol verwenden
genetischen Wirkungen von Östradiol durch eine im allgemeinen keine neuartigen Mechanis-
Blockade von Glutamatrezeptoren komplett ver- men, um bestimmte Entwicklungsresultate zu
hindert (Todd et al. 2006 – eingereicht), daher be- erzielen, sondern benutzen bereits bestehende
einflusst Östradiol die Gehirnentwicklung wahr- Mechanismen, die sie entweder fördern oder
scheinlich über einen anderen Mechanismus. unterdrücken, um damit ein extremeres Resultat
Vorläufige Ergebnisse weisen darauf hin, dass herbeizuführen als sonst erreicht würde.
3.5 · Wissenslücken
55 3

Gehirns. Tatsächlich können wir das weibliche Ge- scheiden, Neurogenese und Synaptogenese können
hirn nur über die Abwesenheit eines männlichen dabei um Wochen variieren. Beim Menschen unter-
Musters definieren; dadurch werden unsere Mög- scheidet sich die Entwicklungsrate von weißer ver-
lichkeiten, experimentelle Fragen zu stellen, stark sus grauer Substanz zwischen Jungen und Mädchen
eingeschränkt. In letzter Zeit sind Fortschritte bei und korreliert mit dem ersten Auftreten bestimmter
der Bestimmung der neuralen Schaltkreise des kognitiver Fähigkeiten. Wie koordinieren Steroide
männlichen Fortpflanzungsverhalten erzielt wor- diese unterschiedlichen Ereignisse, um ein kohä-
den, das sich in mindestens drei Faktoren deutlich rentes Ganzes zu bilden? Unser gegenwärtiger An-
vom weiblichen unterscheidet: satz, jede Gehirnregion isoliert zu analysieren, ähnelt
▬ der Rolle von Olfaktion, dem Briefmarkensammeln und hindert uns daran,
▬ den Auswirkungen von Erfahrung und Einsichten über diese Zusammenhänge zu gewin-
▬ der Rolle der Hormone. nen. Es braucht mehr als Ziegelsteine, um ein Haus
zu bauen, sie müssen auch zusammengefügt werden.
Olfaktion und Sexualverhalten bei Ratten Aber dennoch müssen wir irgendwo beginnen, und
Männliche Ratten lernen, das pheromonale es sind bereits große Fortschritte erzielt worden.
Profil einer weiblichen Ratte im Verhaltensös-
trus zu erkennen, wobei ihre Erfahrung mit
3.5.2 Regionale Spezifität
bestimmten Gerüchen ihr darauffolgendes
Verhalten beeinflusst. Erfahrung beeinflusst
auch die Wirkungen von Steroiden. Naive Systematische Untersuchungen der zellulären Me-
männliche Tiere zeigen kein Sexualverhalten, chanismen steroidinduzierter Gehirndifferenzie-
wenn man ihnen gonadales Testosteron ent- rung zeigen überraschenderweise ein hohes Aus-
zieht, wenn aber ein Männchen erst einmal maß regionaler Spezifität. Ein Hormon, Östradiol,
Erfahrung gesammelt hat, kopuliert es auch scheint eine Vielzahl simultaner Wirkungen aus-
im Falle von Testosteronentzug noch längere zuüben, die in jeder Gehirnregion einzigartig sind.
Zeit (Wochen bis Monate) weiter. All dies ist Außerdem ist das Entwicklungsresultat (wenn
bei weiblichen Tieren anders, bei ihnen spielt auch möglicherweise nicht das funktionelle) in den
Olfaktion nur eine geringe oder gar keine Rolle, Regionen teilweise identisch. Östradiol induziert
es gibt wenig Einfluss von Erfahrungen und die z. B. die Ausbildung von dendritischen Spines im
Expression des Verhaltens ist vollständig von präoptischen Areal, mediobasalen Hypothalamus
Steroiden des Ovars abhängig. Leider haben und im Hippokampus des Neugeborenen. Im prä-
diese interessanten Unterschiede uns bislang optischen Areal wird dies allerdings über PGE2
keine nützlichen Einblicke in die Konstruktion vermittelt, im mediobasalen Hypothalamus über
der neuralen Netzwerke geliefert, die männli- die Aktivierung von Glutamatrezeptoren, während
ches und weibliches Verhalten steuern. im Hippokampus der vermittelnde Mechanismus
unbekannt ist. Außerdem unterdrückt – in demsel-
ben Gehirn zu derselben Zeit – Östradiol die Aus-
Es ist klar, dass Östradiol multiple Wirkungen auf bildung dendritischer Spines im Nucleus arcuatus,
verschiedene Gehirnregionen hat, einige davon tre- was wiederum über die Aktivierung von GABAA-
ten zeitgleich auf, andere in verschiedenen, aber Rezeptoren vermittelt wird (⊡ Abb. 3.5).
überlappenden Phasen. Bislang ist nicht analysiert Wie kann ein einziges Steroid in verschiedenen
worden, ob Prozess A dem Prozess B vorausgehen Gehirnregionen solch unterschiedliche Wirkungen
muss, damit der Schaltkreis erfolgreich ausgebildet haben, wo doch alle dieselbe Grundausstattung
wird, oder ob die beiden Ereignisse separate Hälften an Östrogenrezeptoren, GABA- und Glutamatre-
derselben Brücke sind, die sich in der Mitte treffen, zeptoren und COX-2 besitzen? Die Antwort auf
weil beide als Startpunkt die engste Stelle wählten. Es diese Frage zu finden ist die nächste große Aufgabe
ist bekannt, dass sich die Entwicklungsgeschwindig- in unserem Bestreben, die Entwicklung von Ge-
keiten verschiedener Gehirnregionen deutlich unter- schlechtsunterschieden im Gehirn zu verstehen.
56 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

a b c

glutamate

3
GABA
glutamate

PGE2

⊡ Abb. 3.5. Die zellulären Mechanismen von Steroiden zeigen b Im Nucleus ventromedialis des Hypothalamus scheint Östra-
regionale Spezifität. Der Bereich Hypothalamus/präoptisches diol die Freisetzung von Glutamat unmittelbar aus den Neuro-
Areal ist eine komplexe Gehirnregion, die eine Vielzahl ver- nen zu fördern, die dann wiederum zu einer Vermehrung der
schiedener Funktionen steuert. Während einer perinatalen dendritischen Spines führt. c Im unmittelbar angrenzenden
kritischen Zeitspanne übt Östradiol in dieser gesamten Re- Nucleus arcuatus agiert Östradiol völlig anders, indem es
gion starke geschlechtlich differenzierende Wirkungen aus. die Synthese und/oder Freisetzung von GABA aus Neuronen
Zahlreiche Befunde weisen darauf hin, dass die Wirkungen fördert, die wiederum auf benachbarte Astrozyten einwirken
sich regionsspezifisch unterscheiden. a Im präoptischen Areal und deren sternförmige Verzweigung fördern. Auf eine bis-
fördert Östradiol die Synthese von PGE2, das die Freisetzung lang unbekannte Weise unterdrückt diese morphologische
von Glutamat, wahrscheinlich aus den Astrozyten, stimuliert, Veränderung der Astrozyten die Ausbildung von dendriti-
Glutamat selbst fördert die Entwicklung dendritischer Spines. schen Spines

3.5.3 Feminisierung das Gegenteil von Feminisierung ist, liefert die-


ser Prozess keinerlei Einsichten. Inzwischen kann
Eine noch größere Herausforderung besteht mög- Maskulinisierung ohne Steroide, nur über PGE2,
licherweise darin, die Entwicklung des weiblichen induziert werden, daher verfügen wir über eine
Gehirns zu verstehen. Das auslösende Ereignis für Möglichkeit der selektiven Manipulation von De-
die Entwicklung des männlichen Gehirns ist be- feminisierung. Defeminisierung ist tatsächlich das
kannt: Einwirkung testikulärer Androgene. Dieser Gegenteil von Feminisierung.
Auslöser kann bei neugeborenen weiblichen Ratten Die Herausforderung besteht nun darin, das
leicht durch eine Injektion von Testosteron oder neurale Substrat der Defeminisierung zu finden,
dessen aromatisierten Produkts Östradiol nach- das dann nützliche Hinweise auf das Substrat der
geahmt werden. Daher können wir den Prozess Feminisierung liefern sollte. Trotz seiner Nützlich-
auslösen und ihn im weiteren Ablauf überwachen, keit ist dieses Modellsystem aber auf Sexualverhal-
unterbrechen oder nachahmen. Als Grundform ten beschränkt. Andere geschlechtlich dimorphe
entwickelt sich jedoch immer das weibliche Ge- Phänomene, wie die Regulation der LH-Sekretion,
hirn, dafür gibt es kein auslösendes Ereignis und sind bipotenziale Ereignisse, d. h. sie sind entweder
der Prozess läuft ab, solange er nicht gestört wird. maskulinisiert oder feminisiert, aber nicht defemi-
Bislang kennen wir nur eine einzige Methode, die nisiert. In diesen Fällen sind Maskulinisierung und
normale weibliche Gehirnentwicklung bei Nage- Feminisierung also entgegengesetzte Enden eines
tieren zu unterbrechen, nämlich während der pe- Spektrums, die das Potenzial eines intermediären
rinatalen sensiblen Zeitspanne gonadale Steroide Phänotyps enthalten und daher andere Parameter
zu verabreichen. Da Maskulinisierung aber nicht für die Hypothesentestung erfordern.
3.6 · Nicht fortpflanzungsbezogene Geschlechtsunterschiede
57 3
3.6 Nicht fortpflanzungsbezogene männliche aktiv durch testikuläre Androgene, die
Geschlechtsunterschiede vor Ort in Östrogene umgewandelt werden, orga-
nisiert? Es sind bislang erstaunlich wenige Versuche
3.6.1 Art der Unterschiede unternommen worden, Geschlechtsunterschiede
außerhalb des Kontexts von Fortpflanzung zu un-
Es klingt wie ein Widerspruch in sich, wenn man be- tersuchen (Überblick in Konkle u. McCarthy 2005).
hauptet, dass es Geschlechtsunterschiede im Gehirn Die Morphometrie des Hippokampus ist aus-
gibt, die nicht fortpflanzungsbezogen sind. Letzt- führlich beschrieben worden, beispielsweise Ge-
lich sind alle als adaptiv selektierten Merkmale für schlechtsunterschiede im Gesamtvolumen, in der
die Fortpflanzung vorteilhaft, selbst wenn sie dem Größe spezifischer Subregionen und der Dichte von
Lebewesen lediglich zu längerem Überleben und Zellschichten oder Faserverbindungen. Es ist verfüh-
damit häufigerer Fortpflanzung verhelfen. Dennoch rerisch, diese verschiedenen, statistisch signifikanten
kann man sinnvoll zwischen solchen Geschlechts- Unterschiede als Beweise dafür aufzulisten, wie sich
unterschieden im Gehirn, die unmittelbar mit Fort- Männer und Frauen in Kognition und Emotionalität
pflanzung zu tun haben, wie Regulation der LH-Se- unterscheiden. Wenn man sich jedoch die Daten
kretion, Sexual- oder Elternverhalten, und solchen zu Geschlechtsunterschieden im Vorderhirn ge-
unterscheiden, die mit Kognition und Emotionalität nauer betrachtet, präsentiert sich anderes Bild: Ge-
zu tun haben. Wie oben beschrieben, befinden sich schlechtsunterschiede in dieser Region sind nämlich
fortpflanzungsbezogene Geschlechtsunterschiede im allgemeinen eher klein, transient, für den Stamm
hauptsächlich im präoptischen Areal und im Hy- spezifisch und spiegeln – was am wichtigsten ist
pothalamus, also in Teilen des Zwischenhirns. Im – eher die Plastizität des adulten Gehirns als einen
Gegensatz dazu sind Geschlechtsunterschiede mit während der Entwicklung etablierten permanenten
kognitiver und emotionaler Relevanz im Vorder- Geschlechtsunterschied. Der letzte Aspekt, Plastizi-
hirn angesiedelt. Besonders interessante Regionen tät, lässt sich anhand der Wirkungen von Östradiol
sind hier der Hippokampus und die Amygdala. und Testosteron auf die Dichte dendritischer Spines
Der Hippokampus besitzt eine zentrale Rolle für in hippokampalen CA1-Neuronen gut illustrieren.
Lernen und Gedächtnis, darüber hinaus fungiert Männliche und weibliche Lebewesen unterscheiden
er als wichtiger Knotenpunkt in der Regulation von sich in der relativen Empfindlichkeit für Wirkungen
Stressreaktionen. Eine Schädigung des Hippokam- von durch östrogen- versus androgenvermittelten
pus beeinträchtigt das Lernen und erhöht das Ni- synaptischen Umformungsprozessen (Leranth et al.
veau zirkulierender Stresshormone, weil die nega- 2004) – und diese Tatsache stellt einen Geschlechts-
tive Feedbackregulation ausfällt. Bei der Amygdala unterschied dar. Das Entwicklungsresultat aber,
handelt es sich um eine komplexe Ansammlung von die Dichte dendritischer Spines und zugehöriger
Kernen, die an Angst, Angstkonditionierung und Synapsen unterscheidet sich nur geringfügig und
männlichem Sexualverhalten beteiligt sind. zustandsabhängig. Anders ausgedrückt: der stabile
Wenn man nicht fortpflanzungsbezogene Ge- Hormonstatus des adulten männlichen Lebewesens
schlechtsunterschiede im Gehirn diskutiert, muss bewirkt ein bestimmtes synaptisches Aktivitätsni-
man verschiedene Aspekte berücksichtigen. Der veau. Im adulten weiblichen Lebewesen variiert der
erste ist die Art der Unterschiede: Größe, Zuver- Hormonstatus stattdessen über den Fortpflanzungs-
lässigkeit und Reproduzierbarkeit über Spezies zyklus, was im weiblichen Gehirn zu einem vari-
hinweg? Der zweite ist die Funktion der Unter- ablen synaptischen Aktivitätsniveau führt, das um
schiede: was sind die Verhaltenresultate und wie den stabilen Mittelwert des männlichen schwankt
unterscheiden sich diese, falls überhaupt, zwischen (⊡ Abb. 3.1). Es ist umstritten, ob es sich hierbei um
den Geschlechtern? Zu guter Letzt: wie kommt es einen wirklichen Geschlechtsunterschied handelt
zu diesen Geschlechtsunterschieden? Sind sie das oder lediglich um eine hormonell verursachte Vari-
Ergebnis der klassischen organisatorischen/aktivie- anz im Erwachsenen. Auch wenn dies letztlich eine
renden Wirkung von gonadalen Steroiden? Ist die semantische Frage ist, negiert sie nicht die Tatsa-
weibliche Form die Ausgangsform und wird die che, dass die morphometrischen Geschlechtsunter-
58 Kapitel 3 · Zelluläre Mechanismen steroidinduzierter Geschlechtsunterschiede im Gehirn

schiede im Vorderhirn relativ klein und inkonsistent beruht, wie beim SDN-POA – das Niveau zirkulie-
sind – im Vergleich zu den robusteren Geschlechts- render Steroide hat, wenn überhaupt, nur geringen
unterschieden im Zwischenhirn, die man in einer Einfluss auf das Volumen dieses Kerns. In anderen
Vielzahl von Spezies findet. Fällen scheint eine Kombination organisierender
Für Geschlechtsunterschiede in der Amygdala und aktivierender Komponenten bei der Ausbil-
3 gilt dasselbe allgemeine Prinzip, aber mit einem inte- dung morphologischer Geschlechtsunterschiede
ressanten Unterschied. Die mediale Amygdala spielt vorzuliegen. Die geschlechtliche Differenzierung
eine zentrale Rolle für die Verarbeitung fortpflan- des menschlichen Bed Nucleus der Stria terminalis
zungsrelevanter olfaktorischer Reize, ist aber keine beginnt beispielsweise sehr früh im Leben, setzt
essenzielle Komponente des neuralen Schaltkreises sich aber bis ins Erwachsenenalter fort und ist
für männliches Sexualverhalten. Das Volumen die- durch gonadale Steroide des Erwachsenen beein-
ses Subnukleus der Amygdala ist im männlichen flusst (Chung et al. 2002).
Gehirn etwa 65% größer als im weiblichen (Cooke Ab einem gewissen Punkt ist das Organisa-
et al. 1999), im Vergleich dazu beträgt der Volume- tions-/Aktivierungs-Paradigma zur Hypothesen-
nunterschied des SDN-POA 300–700%. Besonders testung über den Ursprung von Geschlechtsun-
interessant ist, dass dieser Geschlechtsunterschied terschieden jedoch nicht mehr sinnvoll zu ver-
im Erwachsenenalter umgekehrt werden kann. Eine wenden. Dies zeigt sich im Hippokampus, wo
Kastration von männlichen Tieren verringert das Geschlechtsunterschiede vorhanden sind, die sich
Volumen der medialen Amygdala auf weibliche jedoch nicht den bekannten Typen wie Volumen
Werte, und nach eine dreiwöchigen Langzeitbe- oder dendritische Morphologie zuordnen lassen
handlung weiblicher Tiere mit Testosteron steigt das (McCarthy u. Konkle 2004). Stattdessen scheinen
Volumen der medialen Amygdala auf männliche im Hippokampus physiologische Geschlechtsun-
Werte an (Cooke et al. 1999). Es gibt noch weitere terschiede vorzuliegen, die nicht leicht erkennbar
dokumentierte Beispiele von Plastizität in der Größe sind und möglicherweise erst in der Reaktion auf
verschiedener Gehirnregionen als Funktion zirku- Anforderungen manifest werden. Beispielsweise
lierender Steroide im adulten Gehirn, aber hierbei unterscheiden sich Ausmaß und Folgen von ex-
handelt es sich normalerweise um nur geringfügige zitotoxischen Schäden in männlichen und weib-
Veränderungen – im Gegensatz zu der kompletten lichen Neugeborenen (Hilton et al. 2003; Nunez
Geschlechtsumwandlung, die man in der medialen et al. 2003). Darüber hinaus kann derselbe Stress-
Amygdala beobachtet. Die Grundlage dieser einzig- faktor im Gehirn männlicher und weiblicher Er-
artigen Reaktionsbereitschaft der adulten medialen wachsener gegensätzliche Effekte auf die Dichte
Amygdala auf Steroide ist bislang unbekannt, die dendritischer Spines von Pyramidalneuronen in
Volumenänderung konnte bislang auch nicht mit CA1 ausüben (Shors et al. 2001).
einer Verhaltensänderung verknüpft werden. Keiner dieser Geschlechtsunterschiede passt in
das Organisations-/Aktivierungs-Konstrukt. Daher
müssen möglicherweise neue Aspekte berücksich-
3.6.2 Ausbildung der Unterschiede tigt werden, um den Grundlagen von Geschlechts-
unterschieden in dieser Region auf die Spur zu
Das Beispiel der Reversibilität volumetrischer kommen. In Frage kommende Aspekte sind: die
Geschlechtsunterschiede in der adulten medialen potenziellen Beiträge genetischer Geschlechtsun-
Amygdala zeigt deutlich, dass die Organisations- terschiede, die epigenetische Regulation der Ge-
/Aktivierungs-Hypothese nicht für die Ausbildung nexpression auf der Basis früher Erfahrungen und
aller Geschlechtsunterschiede zutrifft. In diesem die Einflüsse von Steroiden, die nicht aus den
Fall scheint der Geschlechtsunterschied vollstän- Gonaden entspringen, sondern aus De-novo-Ste-
dig auf Aktivierung zu beruhen, d. h. eine Funk- roidogenese durch das neurale Gewebe selbst. Dies
tion zirkulierender Steroide im adulten Gehirn zu sind einige der aufregenden neuen Richtungen, die
sein. Es gibt andere Beispiele, bei denen der Ge- sich am Horizont der Forschung über Geschlechts-
schlechtsunterschied vollständig auf Organisation unterschiede im Gehirn abzeichnen.
Literatur
59 3

Fazit
Geschlechtsunterschiede im Gehirn zeigen eine unterschiede im Gehirn ungebrochen. Es gibt
Spannweite von robust und unveränderlich bis gute Gründe dafür, die Unterschiede zwischen
hin zu subtil und veränderlich. Ein wichtiger männlichen und weiblichen Gehirnen verstehen
Teil jeder Forschung zur geschlechtlichen Diffe- zu wollen, beispielsweise: Therapiemaßnahmen
renzierung ist es, diese Unterschiede und ihre geschlechtsspezifisch maßschneidern zu können,
Funktion zu verstehen. Bei der Identifikation und Vorurteile über angeborene Fähigkeiten der
Beschreibung von Geschlechtsunterschieden im Geschlechter abzubauen, bessere Einblicke in
Gehirn sind enorme Fortschritte erzielt worden; Störungen mit unterschiedlicher Prävalenz bei
Fortschritte im Verständnis der zellulären und den Geschlechtern zu gewinnen. Was den letzten
molekularen Mechanismen, aus denen diese Punkt betrifft, ist die Ätiologie von gut beleg-
Geschlechtsunterschiede hervorgehen, sind ten Geschlechtsunterschieden bei psychischen
dagegen relativ rar. Das Ziel, eine einheitliche Be- Störungen, wie Depressionen oder Autismus,
schreibung der geschlechtlichen Differenzierung vollständig unbekannt. Bessere Kenntnisse über
des Gehirns zu entwickeln, ist noch lange nicht die normalen Entwicklungsmechanismen bei
erreicht. Der hohe Grad regionaler Spezifität und Männern und Frauen könnten neue Einsichten
einer Vielzahl verschiedener zellulärer Entwick- darüber bringen, wie es zu Fehlsteuerungen die-
lungsresultate, die durch ein einziges Hormon, ser Prozesse kommen und wie dadurch die Anfäl-
Östradiol, reguliert werden, stellen Komplikatio- ligkeit für Störungen steigen kann. Ein größeres
nen dar. Dennoch gibt es bereits Fortschritte und Verständnis der normalen Gehirnentwicklung
wird es auch in Zukunft Fortschritte geben. bei Männern und Frauen zeigt außerdem neue
Seit den ersten Versuchen, unsere eigene Natur Mechanismen auf, die ansonsten vielleicht nicht
zu verstehen, sind Wissenschaftler und Laien entdeckt worden wären, wie die Rolle von Pros-
gleichermaßen von Geschlechtsunterschieden taglandinen bei der Ausformung der spezifisch
im Gehirn fasziniert. Trotz 50 Jahren intensiver männlichen synaptischen Strukturierung. Wir
Forschung ist das Interesse an der Entdeckung wissen nicht, welche Mechanismen noch ihrer
von Ursachen und Bedeutung der Geschlechts- Entdeckung harren.

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4

Genetische Grundlagen
von Geschlechtsunterschieden
in ZNS-Funktionen
Ian W. Craig, Caroline Loat

4.1 Einführung – 64

4.2 Wie bedeutsam sind Geschlechtsunterschiede in Kognition


und Verhalten? – 64
4.2.1 Unterschiede im Verhalten und in schulischen Leistungen – 64

4.3 Erbe und Umwelt bei Gehirnentwicklung und Verhalten – 66


4.3.1 Die Rolle der Gene – 66
4.3.2 Die Rolle der Umwelt – 67

4.4 Untersuchungen zur Gehirnanatomie zeigen biologische Grundlagen


von Verhaltensunterschieden – 68

4.5 Geschlechtschromosomen und Geschlechtsdetermination – 69

4.6 Einfluss von Hormonen auf Gehirn und Verhalten – 70

4.7 Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten – 71


4.7.1 Autosomale Gene – 71
4.7.2 Gene auf dem Y-Chromosom – 71
4.7.3 Gene auf dem X-Chromosom – 72
4.7.4 Potenzielle Rolle von Genen, die der Inaktivierung entgehen – 73
4.7.5 Zwillingsstudien und Inaktivierung: eine Methode zur Identifikation
X-chromosomaler Gene mit Verhaltenseffekten – 76

Literatur – 80
64 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

> Untersuchungen über den Entwicklungsverlauf zeigen übereinstimmend, dass


Frauen in verbalen Fähigkeiten und in verschiedenen Schulfächern bessere
Leistungen erbringen – eine oftmals unliebsame Überraschung für Männer.
Aber auch im Verhalten zeigen sich prägnante Unterschiede zwischen den Ge-
schlechtern: Männer werden mit höherer Wahrscheinlichkeit gewalttätig, ent-
wickeln häufiger Drogen- und Alkoholsucht und verfügen im Allgemeinen über
schlechtere soziale Kompetenz. Andererseits neigen Frauen stärker zu Ängsten,
Depressionen und Essstörungen. Diesen Unterschieden scheinen Geschlechts-
4 dichotomien in Struktur und Funktion von Gehirn und ZNS insgesamt zugrunde
zu liegen. Wir suchen nach Antworten auf die Frage, ob diese Unterschiede nur
Auswirkungen von Hormonen sind oder ob es zwischen männlichen und weib-
lichen Gehirnen fundamentale Unterschiede der Genexpression gibt, die aus
Unterschieden in ihrer Geschlechtschromosomenkonstitution resultieren.

4.1 Einführung männliche Geschlecht determinierenden Schalter,


dem SRY-Gen führte, bedingt vielfältige Impli-
In den letzten Jahrzehnten haben wir bei der kationen. Unter anderem sind dies unterschied-
Gleichberechtigung von Frauen und Männern in liche Profile der Genexpression im männlichen
der Gesellschaft und am Arbeitsplatz enorme Fort- und weiblichen Geschlecht und die dazugehörige
schritte erzielt. Auch wenn in manchen Bereichen Inaktivierung der meisten Gene auf einem der bei-
wie z. B. Gehältern und beruflichen Rollen weiter- den X-Chromosomen beim weiblichen Geschlecht.
hin Ungerechtigkeiten bestehen, herrscht die allge- In diesem Kapitel präsentieren wir die wissen-
meine Überzeugung, dass Gleichberechtigung der schaftlichen Belege für die Annahme, dass das
Geschlechter ein erstrebenswertes Ziel darstellt, das X-Chromosom ein Reservoir für Gene darstellt,
beträchtliche Mühen wert ist. Vor diesem Hinter- die dem männlichen Geschlecht Selektionsvorteile
grund zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass sich bieten, auch in Bezug auf das Verhalten. Außerdem
Männer und Frauen sowohl in schulischen/aka- stellen wir Ergebnisse von Zwillingsstudien vor, die
demischen Leistungen wie auch in einem breiten zeigen, dass das Einzelgen oder die verschiedenen
Spektrum von Verhaltensmerkmalen grundlegend Gene, die an sozialer Kompetenz beteiligt sind, auf
unterscheiden. Es wäre auch erstaunlich, wenn die dem X-Chromosom liegen könnten. Das Kapitel
offensichtlichen anatomischen und funktionalen schließt mit einer Diskussion über die potenziellen
Dichotomien zwischen den Geschlechtern, die aus Beiträge jener X-chromosomal vererbten Gene, die
inter- und intrageschlechtlicher Selektion in der der Inaktivierung entgehen oder die der genomi-
Evolution entstanden sind, nicht zumindest bis schen Prägung unterliegen.
zu einem gewissen Grade Parallelen im Verhalten
aufwiesen (Craig et al. 2004). Sowohl Erbe wie
Umwelt tragen zu den beobachteten Geschlechts- 4.2 Wie bedeutsam sind Geschlechts-
unterschieden im menschlichen Verhalten bei. unterschiede in Kognition und
Wir gehen davon aus, dass Gene auf den Ge- Verhalten?
schlechtschromosomen, die nicht unmittelbar das
Geschlecht determinieren und deren Funktionen 4.2.1 Unterschiede im Verhalten
zumindest teilweise unabhängig von hormonellen und in schulischen Leistungen
Einflüssen sind, wichtig für die Entwicklung von
Geschlechtsunterschieden bei verhaltenssteuern- Viele Ansichten zu Geschlechtsunterschieden im
den Gehirnfunktionen sind. Der Evolutionsprozess, Verhalten sind stark durch in den meisten Fällen
der zur Entwicklung der heteromorphen X und Y unbegründete Stereotype geprägt. Dennoch ist in-
Chromosomen beim Säugetier und zu einem das zwischen durch zahlreiche Forschungsergebnisse
4.2 · Wie bedeutsam sind Geschlechtsunterschiede in Kognition und Verhalten?
65 4

belegt, dass solche Stereotype auf realen, empirisch Mädchen den emotionalen Zustand eines Gegen-
messbaren Unterschieden zwischen Männern und übers durch Interpretation von dessen Gesichtaus-
Frauen in Kognition und Verhalten basieren kön- druck besser einschätzen können, was auf besser
nen. Bei der Untersuchung kognitiver und verhal- entwickelte soziale und empathische Fähigkeiten
tensbezogener Geschlechtsunterschiede in der nor- und auch auf größere Fortschritte bei der Entwick-
malen Population wird beispielsweise konsistent lung einer theory of mind verweist (Dunn et al.
beobachtet, dass Frauen bei Aufgaben zu verbalen 1991; Baron-Cohen 2002).
Fähigkeiten wie Wortlernen und -gedächtnis bes- In Fächern wie Mathematik und Physik sind
ser abschneiden (z. B. Fenson et al. 1994; Kramer Jungen in der schulischen Entwicklung leicht über-
et al. 1997;  Kap. 6). Signifikante Unterschiede legen, was sich in besseren Noten niederschlägt.
finden sich darüber hinaus in der sehr frühen Sie können darüber hinaus später bessere Eignung
verbalen und (in geringerem Ausmaß) auch in der für Ingenieurberufe zeigen (Lawson et al. 2004).
nonverbalen kognitiven Entwicklung, wobei sich Aber sogar hier schließen Frauen in ihrer Leistung
diese Bereiche allerdings stark überlappen (Gals- auf. Männer sind außerdem in einigen Aufgaben
worthy et al. 2000). überlegen, bei denen räumliche Fähigkeiten er-
In der frühen schulischen Entwicklung scheinen forderlich sind, z. B. zeigen sie bessere Leistungen
Mädchen in einer Vielzahl von Fächern überlegen beim Kartenlesen und in verwandten Aufgaben,
zu sein, insbesondere in Fächern, für die sprachli- bei denen ein Input-operate-output-Prozess durch-
che Fähigkeiten notwendig sind. (http://www.stan- geführt werden muss (Galea u. Kimura 1993; Ge-
dards.dfes.gov.uk und http://www.oecd.org/home/). ary 1996; Kimura 1999;  Kap. 6). Dennoch ist die
Es ist jedoch nicht klar, ob diese besseren Leistun- Sachlage nicht ganz so einfach, denn in manchen
gen von Mädchen auf schnellere Entwicklung kog- räumlichen Aufgaben sind Frauen den Männern
nitiver und analytischer Fähigkeiten zurückgehen überlegen, sie haben z. B. ein besseres Gedächtnis
oder aus Verhaltensunterschieden resultieren, z. B. für Objekte, Orte und Landmarken als Männer,
dass Mädchen im Unterricht größere Aufmerksam- erkennbar an 60–70% besseren Leistungen in Auf-
keit zeigen und seltener Störungen verursachen. gaben, die diese Fähigkeiten messen (Silverman u.
Eals 1992).
Verhaltensunterschiede zwischen Jungen Typisch für Männer ist die Fähigkeit zu »sys-
und Mädchen bei der Gruppenarbeit tematisieren«. Laut Baron-Cohen (2002) spiegelt
In einer aktuellen Studie zum Verhalten in dieser Begriff den männlichen Drang, die Regeln
gemischten Schulklassen bestätigte sich die eines Systems zu analysieren, um Vorhersagen über
obige Vermutung bezüglich der Tendenz, sein Verhalten machen zu können. Baron-Cohen
störendes Verhalten zu zeigen. Es wurde fest- (2003) hat das Konzept einer empathizing syste-
gestellt, dass während der Arbeit in Zweier- mizing theory entworfen, wobei Frauen besser im
gruppen signifikant mehr antisoziale Vorfälle empathizing und Männer besser im systemizing
auftraten als bei Gruppen- oder Einzelarbeit sind; bei den meisten Individuen sind diese beiden
oder bei stillem Arbeiten. Am häufigsten kam Komponenten jedoch ausgeglichen. Aus diesem
es während der Gruppenarbeit zu ablenkenden Konzept folgt, dass bestimmte Verhaltensweisen,
Vorfällen. In 76% der Fälle gingen die Störun- wie sie bei Autismus und Autismus-Spektrum-
gen von Jungen aus, von Mädchen nur in 21%. Störungen auftreten, auf eine extreme Ausprägung
Fast all diese Interaktionen fanden zwischen des systemizing elements hinweisen könnten (z. B.
gleichgeschlechtlichen Paaren statt, obwohl Baron-Cohen 2005).
alle Arbeitsgruppen gemischt waren (Jones Untersuchungen unserer nächsten Verwandten
1995; Eslea 1999; Eslea u. Rees 2001). unter den Primaten zeigen einige Parallelen zu
den Beobachtungen bei Menschen. Junge weibliche
Schimpansen lernen durch genaue Beobachtung ih-
Für Verhaltensuntersuchungen besonders interes- rer Mütter bestimmte Fertigkeiten, wie das Fangen
sant ist die Beobachtung, dass schon sehr kleine von Termiten, viel schneller (Lonsdorf et al. 2004).
66 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

Der schnellere Erwerb dieser Fertigkeiten wurde Es wird allgemein beobachtet, dass Männer
mit den größeren Fortschritten von Mädchen beim mit höherer Wahrscheinlichkeit aggressives und
Schreiben und Zeichnen verglichen. In diesem Fall gewalttätiges Verhalten zeigen (z. B. Moffitt et al.
werden die Unterschiede darauf zurückgeführt, 2001), auch wenn die in einigen Ländern momen-
dass der weibliche Nachwuchs den Müttern mehr tan bei Frauen erkennbare Tendenz, es den Män-
Aufmerksamkeit widmet, während der männliche nern im Alkoholkonsum gleichzutun, den statisti-
Nachwuchs mehr Zeit mit Toben und allgemein schen Geschlechtsunterschied verringern könnte.
mit körperlichen Aktivitäten verbringt und leichter Männer werden auch mit höherer Wahrscheinlich-
4 ablenkbar ist. Es ist vorstellbar, dass die Balgereien keit wegen Gewaltverbrechen zu Gefängnisstrafen
und rauen Spiele dabei helfen, körperliche und verurteilt (http://www.ojp.usdoj.gov.bjs/). Weiter-
soziale Fertigkeiten zu entwickeln, die für die Jagd hin wird bei Männern häufiger ein Aufmerksam-
notwendig sind. Dies erinnert an das häufigere keitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS),
Auftreten von Aufmerksamkeitsdefiziten und Hy- geistige Retardierung, Alkoholismus, Autismus
peraktivität bei männlichen Menschen. und Asperger-Syndrom diagnostiziert ( Kap. 12
und 13). Im Gegensatz dazu zeigen sich Frauen an-
Kooperation und Wettbewerb in Gruppen fälliger für Angst- und Panikstörungen, depressive
Zu Geschlechtsunterschieden bei der Ko- Störungen und Essstörungen wie Bulimie und An-
operation innerhalb von Gruppen und dem orexia nervosa (Sikich u. Todd 1988; Kessler 1998;
Wettbewerb zwischen Gruppen gibt es sehr  Kap. 14 und 19).
aktuelle und interessante Befunde. Rivalität Die Ursachen dieser verblüffenden Unter-
zwischen Gruppen ist in menschlichen Ge- schiede sind ein beliebtes Thema für Spekulationen
sellschaften weit verbreitet und umfasst ein und für die Forschung. Für eine fundierte Erfor-
Spektrum, das von ritualisierter oder offener schung muss man allerdings die Auswirkungen
Kriegsführung über Bandenstrukturen bis hin evolutionärer Kräfte auf genetische und biologi-
zu Mannschaftssport reicht. Auch wenn Frauen sche Aspekte berücksichtigen, die der sexuellen
sich manchmal daran beteiligen, tun sie dies Differenzierung und den Dimorphismen im Ver-
in geringerem Maße als Männer. In einem halten zugrunde liegen.
Experiment mit strukturierten Spielen, bei de-
nen es um Kooperation bei Transaktionen von
4.3 Erbe und Umwelt bei Gehirn-
öffentlichen Gütern ging, zeigte sich, dass das
entwicklung und Verhalten
Verhalten von Männern in der Gruppe stärker
durch die Annahme, man befände sich in einer
4.3.1 Die Rolle der Gene
Konkurrenzsituation mit rivalisierenden Grup-
pen, beeinflusst wurde. Frauen dagegen trugen
im Allgemeinen eher zum »Wohlergehen« der Wie bei allen multifaktoriellen Merkmalen, ob es
Gruppe bei (van Vugt u. De Cremer 2006). sich nun um Diabetes oder die Attraktivität für das
andere Geschlecht handelt, herrscht Übereinstim-
mung, dass wahrscheinlich Erbe und Umwelt zum
Sehr deutliche Geschlechtsunterschiede kann man Phänotyp eines Individuums beitragen. Daher hängt
auch in der Verbreitung bestimmter Verhaltens- die interindividuelle Variationsbreite für solche
weisen und Verhaltensstörungen beobachten. Na- Merkmale zum Teil von der genetischen Ausstattung
türlich variieren die Merkmale von Individuen und zum Teil von Umwelteinflüssen ab. Tatsächlich
innerhalb eines Geschlechts stark und es gibt viele liegt die Heritabilität (ein Maß für den Varianzanteil
Überlappungen zwischen den Geschlechtern. Den- eines Merkmals, der bei gegebenen Umweltbedin-
noch haben Studien Unterschiede zwischen den gungen auf genetische Ursachen zurückgeführt wer-
Durchschnittswerten der Geschlechter für viele den kann) für viele Verhaltensstörungen zwischen
Merkmale demonstriert, unter anderem für die 40–50% (z. B. antisoziales Verhalten) und 80–90%
Anfälligkeit für bestimmte psychische Störungen. (z. B. Schizophrenie und Störungen des autistischen
4.3 · Erbe und Umwelt bei Gehirnentwicklung und Verhalten
67 4

Spektrums). Sogar Merkmale, die unter der allge- et al. 2006). Der Grund für die langsamen Fort-
meinen Bezeichnung »Temperament« zusammen- schritte ist möglicherweise, dass an den meisten
gefasst werden, womit ein Profil verschiedener Per- komplexen Verhaltensweisen eine große Anzahl
sönlichkeitsdimensionen beschrieben wird, haben genetischer Faktoren beteiligt sind, wobei jeder
eine Heritabilität von etwa 50% (Rutter 2006). einzelne nur einen kleinen Beitrag zum Phänotyp
Der starke Einfluss der Gene auf die Gehirn- insgesamt leistet.
entwicklung kann daher nicht ignoriert werden.
Untersuchungen zur Genexpression haben gezeigt,
dass im Gehirn etwa die Hälfte der ca. 30.000 cha- 4.3.2 Die Rolle der Umwelt
rakterisierten Gene wirksam werden (z. B. Saito-
Hisaminato et al. 2002). Aber auch Varianten von Obwohl Heritabilitätsstudien die große Bedeutung
Genen, die nicht gehirnspezifisch wirken, können von Genwirkungen zeigen, weisen sie auch darauf
die Gehirnentwicklung schon in frühen Entwick- hin, dass die Umwelt einen großen Varianzanteil
lungsphasen grundlegend beeinflussen. Ein Pheny- beim Verhalten erklärt. Es gibt zahlreiche Belege
lalanin-Hydroxylase-Mangel, der durch Mutatio- für den enormen Einfluss frühkindlicher Erfah-
nen auf der Kodierregion des Gens PAH verursacht rungen auf die langfristige Entwicklung. Die Rolle
wird, das normalerweise in der Leber exprimiert einiger Gene für Verhaltensstörungen wurde sogar
wird, kann beispielsweise extreme Konsequenzen erst geklärt, nachdem die Auswirkungen der Um-
für den IQ haben (z. B. Guttler u. Woo 1986). welt einkalkuliert worden waren. Zwei passende
Gene sind an Aufbau und Erhaltung neura- Beispiele sollen diesen Punkt illustrieren. Seit lan-
ler Netzwerke und an der Signalübertragung zwi- ger Zeit ist bekannt, dass Opfer von frühkindlich
schen Synapsen beteiligt. Spannende neue Unter- erlebtem Missbrauch und Gewalt oft selbst ähn-
suchungen haben gezeigt, dass Gene die grobe liche Verhaltensweisen zeigen, sobald sie Eltern
Morphologie von Kopf und Gehirn beeinflussen, werden – der sog. »Teufelskreis der Gewalt«. In der
wie sich anhand der Charakterisierung von Einzel- ersten Studie hierzu konnten Caspi et al. (2002)
genen zeigte, die an Mikrozephalie (Kopfumfang zeigen, dass diese Reaktion von einer genetischen
>3 Standardabweichungen unterhalb der Norm) Variation des Monoaminoxidase-Gens (MAOA)
(z. B. Woods et al. 2005) und an Sprache beteiligt abhängt. Mehr zur Interaktion von Genen und
sind, wie z. B. FOXP2 (Fisheret al. 2003). Außer- Umwelt folgt in einem der nächsten Abschnitte.
dem kann eine Vielzahl genetischer Defekte mit Das zweite Beispiel stammt aus Untersuchun-
Auswirkungen auf Gehirn und Verhalten auf einen gen zu Depressionen. Auch hier wurde festgestellt,
einzigen Lokus zurückgeführt werden, wie wir im dass Stress in Form verschiedener Lebensereig-
Folgenden näher beschreiben werden. Für manche nisse wie Tod der Eltern, Verlust des Partners oder
Defekte wurde inzwischen sogar das verantwortli- erhebliche Geldprobleme häufig einer klinischen
che Gen identifiziert. Insgesamt scheint zweifels- Depression vorausgehen. In derartigen Situationen
frei festzustehen, dass Gene die Entwicklung von scheint eine weit verbreitete hochaktive Variante
Kognition und Verhalten wesentlich beeinflussen. des Gens, das für den Serotonin-Transporter ko-
Daher überrascht es nicht, dass viele Versuche diert, ein gewisses Maß an Schutz zu bieten. Trä-
unternommen wurden, Gene zu identifizieren, die ger der niedrigaktiven Variante dieses Gens haben
Intelligenz und Verhaltensstörungen zugrunde lie- dagegen ein erheblich größeres Risiko, Symptome
gen. Bis vor kurzem wechselten sich Behauptungen einer klinischen Depression zu entwickeln (Caspi
und Gegenbehauptungen ab, so dass sich keine et al. 2003). Dieser Befund konnte in einer späteren
überzeugenden Kandidaten herauskristallisierten. Studie repliziert werden (Kim-Cohen et al. 2006).
Bei Schizophrenie zum Beispiel sind erst vor zwei Diese beiden Beispiele illustrieren, wie wich-
oder drei Jahren greifbare Fortschritte erzielt wor- tig es ist, Umwelt und genetischen Hintergrund
den. Verschiedene Forschergruppen haben inzwi- sowie deren Interaktion zu berücksichtigen, wenn
schen eine Handvoll Gene identifiziert, diese Be- man die Komplexität von Verhalten entschlüsseln
funde konnten auch repliziert werden (Craddock möchte.
68 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

4.4 Untersuchungen zur Gehirnanatomie dritte interstitielle Nukleus des anterioren Hypo-
zeigen biologische Grundlagen thalamus, INAH3, eine Zellgruppe in der medialen
von Verhaltensunterschieden präoptischen Region des Hypothalamus, ist z. B.
bei Männern dreimal so groß (LeVay 1991).
Aber zurück zur Betrachtung von Geschlechts- Weitere Unterschiede könnten mit kognitiven
unterschieden in ZNS-Funktionen und im Ver- Geschlechtsunterschieden zusammenhängen, bei-
halten. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen spielsweise sind bei Frauen die an Sprachfunkti-
den Gehirnen von Männern und Frauen, am au- onen beteiligten Wernicke- und Broca-Areale im
4 genscheinlichsten ist der Größenunterschied, wo- Vergleich zu Männern proportional größer. Andere
bei das männliche Gehirn im Durchschnitt 11% Beispiele sind der Nucleus suprachiasmaticus des
schwerer ist ( Kap. 5). Ob dieser Unterschied sig- Hypothalamus, die Massa intermedia und manche
nifikant bleibt, wenn man die Unterschiede in der Areale des Neokortex (Witelson 1991).
durchschnittlichen Körpergröße der Geschlechter Die insgesamt überzeugendsten Geschlechtsun-
berücksichtigt, wurde vielfach diskutiert (Swaab u. terschiede betreffen den Grad der Lateralisierung,
Hofman 1984; Hines 2004). Jedoch ist das weibliche Befunde dazu stammen von Patienten mit Hirnlä-
Gehirn keinesfalls nur eine verkleinerte Version sionen. Ältere Studien zeigten, dass bei Frauen die
des männlichen. Doppelecho-Magnetresonanz- Leistung in verbalen Aufgaben sowohl durch links-
tomographie (MRT) bei gesunden Männern und wie rechtshemisphärische Schädigung beeinträch-
Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren zeigte, tigt wird, bei Männern jedoch nur durch Schädi-
dass Frauen einen größeren Prozentanteil grauer gung der linken Hemisphäre, was die Annahme
Substanz aufweisen als Männer. (Die graue Sub- einer stärkeren Rechts-Links-Spezialisierung bei
stanz umfasst Nervenzellkörper und Dendriten, die Männern unterstützt (Kimura u. Harshman 1984).
weiße Substanz dagegen die axonalen Verbindungs- Diese Unterschiede lassen sich teilweise dadurch
fasern.) Außerdem verteilt sich die graue Substanz erklären, dass bei Frauen Teile des Corpus callo-
bei Frauen symmetrisch auf beide Hemisphären, sum, eines großen Nervenfasersystems, das die
während bei Männern der Prozentsatz grauer Sub- Hemisphären verbindet, stärker ausgeprägt sind,
stanz in der linken Hemisphäre höher ist. wodurch die interhemisphärische Kommunikation
Diese Resultate stimmen mit früheren Beob- verbessert werden könnte (Holloway et al. 1993).
achtungen überein, dass Frauen eine geringere he- Weiterhin gibt es Belege für Geschlechtsunter-
misphärische Spezialisierung aufweisen (Hiscock schiede in der anterioren/posterioren Organisation
et al. 1995). Angesichts der anerkannten Befunde, des Gehirns, da Aphasien bei Frauen öfter nach
dass die linke Hemisphäre für verbale und die Schädigung der vorderen Gehirnregionen auftre-
rechte für räumliche Verarbeitungsprozesse domi- ten, bei Männern dagegen, wenn die Schädigung
nant ist, besteht hier bezüglich der offensichtlichen eher hinten liegt (z. B. Kimura 1992).
Implikationen für Geschlechtsunterschiede bei Interessante Untersuchungen eines ausgepräg-
kognitiven Funktionen weiterer Forschungsbedarf ten Geschlechtsdimorphismus des Gesangssystems
(z. B. Johnson et al. 2002). im Gehirn von Zebrafinken haben gezeigt, dass bei
Neuere bildgebende Studien haben Geschlechts- männlichen Vögeln sowohl Muskeln wie Hirnregi-
unterschiede in der zerebralen Entwicklung und der onen, die den Gesang steuern, vergrößert sind. Of-
Gehirnfunktion während der Adoleszenz beschrie- fenbar wird die geschlechtsspezifische Entwicklung
ben (Yurgelun-Todd et al. 2002). Außerdem weisen dieses Merkmals durch gehirninterne Faktoren re-
manche Gehirnregionen Geschlechtsunterschiede guliert – wahrscheinlich durch die Expression von
im Volumen auf, beispielsweise sind die frontalen Genen auf den Geschlechtschromosomen, die wie-
und medialen paralimbischen Kortizes bei Frauen derum den Östradiolspiegel beeinflussen oder auf
größer. Im Gegensatz dazu sind der frontomedi- Östradiol reagieren. Die Maskulinisierung dieses
ale Kortex, die Amygdala und der Hypothalamus Merkmals erfolgt daher unabhängig von Testo-
bei Männern größer (z. B. Witleson 1991). Solche steron, das in den Testes produziert wird (Wade
Größenunterschiede können beträchtlich sein: Der u. Arnold 2004). Weitere direkte Effekte von ge-
4.5 · Geschlechtschromosomen und Geschlechtsdetermination
69 4

schlechtschromosomalen Genen auf Gehirn und gionen. Auf den pseudoautosomalen Regionen
Verhalten werden in den folgenden Abschnitten befinden sich etwa ein Dutzend Gene, die meis-
vorgestellt. ten davon auf PAR1. Diese Regionen ermöglichen
Sogar bei Drosophila wurde ein spezielles Gen lokale Paarung und die obligatorische Rekombi-
gefunden, das Geschlechtsunterschiede der neura- nation innerhalb von PAR1 zwischen X- und Y-
len Verschaltungen im Gehirn determiniert. Man Chromosom während der Meiose. Die DNA zwi-
fand einen Zusammenhang zwischen dem Genpro- schen den beiden PAR des Y-Chromosoms wird als
dukt des entsprechenden Lokus (fru) und der Pro- männlich-spezifische Region (MSR) bezeichnet
duktion bestimmter Neuronen, deren Anzahl und und enthält Sequenzen, die hauptsächlich für das
Projektionsmuster sich zwischen den Geschlech- Y-Chromosom spezifisch sind. Sie enthält darüber
tern stark unterscheiden. Das fru-Gen fördert die hinaus sehr lange Palindrome, die intrachromo-
Entwicklung von Neuronen mit für männliche somale Rekombination und DNA-Konvertierung
Gehirne spezifischen Dendritenbäumen, während begünstigen könnten (Rozen et al. 2003; Skaletsky
der Entwicklung weiblicher Gehirne sterben diese et al. 2003). Ein großer Teil des langen Arms des
Neuronen ab. Diese besonderen Neuronen sollen Y-Chromosoms bleibt über den Zellzyklus rela-
für das männliche heterosexuelle Werbeverhalten tiv kondensiert. Diese sog. heterochromatische
von Bedeutung sein (Kimura et al. 2005). Region kann interindividuell Größenunterschiede
Insgesamt gesehen ist es daher wohl unver- aufweisen, ohne dass dies erkennbare Auswir-
meidlich, dass die Entwicklung männlicher und kungen auf den Phänotyp hat. Das verbleibende
weiblicher Gehirne unterschiedlichen Pfaden folgt. euchromatische Segment der MSR enthält nur
Obwohl allgemein anerkannt ist, dass den Ge- etwa 23 Mb und trägt die Information für etwa 80
schlechtshormonen eine wichtige Rolle für die proteinkodierende Einheiten, die für verschiedene
Steuerung solch dimorpher Entwicklungsprofile Proteine und Mitglieder der Proteinfamilie kodie-
zukommt, kann auch die Expression von Genen, ren (Skaletsy et al. 2003).
die unabhängig von Hormoneinflüssen sind, be- Individuen mit funktionsfähiger Chromoso-
deutsame geschlechtsspezifische Auswirkungen menkonstitution, denen nur der kurze Arm des
haben. Es sei angemerkt, dass es a priori keinen Y-Chromosoms fehlt, schlagen den weiblichen
Grund gibt, weshalb eine direkte genetische Steu- Entwicklungsweg ein (das weibliche Geschlecht
erung der geschlechtlichen Differenzierung des wird daher auch als das »vorgegebene« Geschlecht
Verhaltens sich nicht unabhängig von der hormo- bezeichnet). Ein Gen, SRY, das sich auf dem kur-
nellen Steuerung entwickeln sollte. zen Arm des Y-Chromosoms unmittelbar unter-
halb von PAR1 befindet, bildet den Hauptschalter,
welcher die Kaskade der männlichen Entwicklung
4.5 Geschlechtschromosomen auslöst. Wenn es bei der männlichen Meiose in
und Geschlechtsdetermination dieser Region zu einem illegitimen Crossing-over
zwischen X- und Y-Chromosom kommt, kann SRY
Man nimmt an, dass die menschlichen X- und Y- möglicherweise auf das X-Chromosom verscho-
Chromosomen, die sich inzwischen in ihrer Form ben werden. Wenn dieses X-Chromosom mit der
und Genausstattung sehr stark unterscheiden, von Translokation auf den Nachwuchs vererbt wird,
einem ursprünglich homologen Paar abstammen. kann ein männliches Lebeweisen mit einer kla-
Die erst kürzlich durchgeführte Charakterisierung ren XX-Chromosomenkonstitution entstehen. Die
der praktisch vollständigen Sequenz beider Chro- grundlegende Bedeutung von SRY wurde demons-
mosomen (Rozen et al. 2003; Skaletsky et al. 2003; triert, indem man ein kleines (14 Kb) DNA-Frag-
Ross et al. 2005) beleuchtete einige wesentliche ment des Maus-Homologs Sry in befruchtete Eier
Besonderheiten. Neben den pseudoautosomalen injizierte. Nach Verpflanzung dieser Eier in pseu-
Regionen des X-Chromosoms an den Enden des doschwangere Mäuse entwickelte sich ein Teil der
kurzen (PAR1 auf Xpter) und des langen (PAR2 auf XX-chromosomalen Mäuse zu Männchen, der ein-
Xqter) Arms existieren noch weitere homologe Re- zige erkennbare Unterschied war Unfruchtbarkeit
70 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

(Koopman et al. 1991). Eine Annahme besagt, dass 1996). Vor kurzem wurde außerdem die Bedeu-
SRY die vorgegebene Entwicklung von Ovarien, tung der Transkriptionsfaktoren WNT4, GATA4
denen der autonome Eintritt von Keimzellen in die und FOG1 für die Gonadenentwicklung aufgezeigt
Meiose vorausgeht, blockiert, indem es vor Beginn (Jordan et al. 2001; Tevosian et al. 2002).
der Meiose die Ausbildung von Hodensträngen Die Rolle von Hormonen und hormonunab-
initiiert, dadurch werden Keimzellen in den Strän- hängigen Wirkungen der Geschlechtschromoso-
gen sequestriert und deren Meiose gehemmt (Yao men wird im Folgenden in separaten Abschnitten
et al. 2002). dargestellt.
4 Obwohl SRY oft als der »Hauptschalter« be-
zeichnet wird, erfordert die geschlechtliche Diffe-
renzierung die Beteiligung und Interaktion weiterer 4.6 Einfluss von Hormonen auf Gehirn
Gene in einer komplexen Abfolge. In Abwesen- und Verhalten
heit von SRY schaltet das X-chromosomale Gen
DAX1, das einen Rezeptor für den Testis-determi- Frühe Tierexperimente zeigten eine Schlüsselrolle
nierenden Faktor kodiert, die Gene für männli- für Testosteron und vermutlich auch für seinen
che Entwicklung aus. Daraufhin kommt es unter aktiveren Metaboliten, 5-Alpha-Dihydroxytestos-
Beteiligung der Gene für weibliche Entwicklung teron (DHT, der bei der Bindung an den Andro-
zur Ausbildung von Ovarien. Wenn jedoch durch genrezeptor mindestens dreimal potenter als Tes-
Duplikation der DAX1-Region eine doppelte Dosis tosteron ist) als Auslöser einer typisch männlichen
des Genprodukts entsteht, kann dies bei einem Gehirnentwicklung. Ihre Einwirkung fördert die
XY-männlichen Individuum zur Geschlechtsum- Ausbildung anatomischer Geschlechtsunterschiede
kehr führen (Bardoni et al. 1994). Ebenso kann und in der Folge geschlechtlich dimorphe Verhal-
die transgene Überexpression von DAX1 bei Mäu- tensweisen und Funktionen (z. B. Goy u. McEwen
sen mit einem Y-Chromosom, auf dem sich ein 1980; Arnold u. Gorski 1984).
»schwaches« Sry befindet, zur Entwicklung von XY- Veränderungen der Gonadenhormone können
Weibchen führen (Swain et al. 1998). Ebenfalls auf grundlegende Auswirkungen auf das Verhalten
dem X-Chromosom befindet sich das Gen (AR), haben. Das vielleicht bekannteste Beispiel für die
das für den Androgenrezeptor kodiert, an 17-Hy- Wirkung von Testosteron auf Verhalten ist die Kas-
droxytestosteron bindet und notwendig ist, damit tration männlicher Tiere; durch Kastration wird
das Hormon die Zielgene im Zellkern beeinflussen die Produktion von Gonadenhormonen gestoppt,
kann. Mutationen, die die Funktion des Rezeptors der Sexualtrieb und das Aggressionsverhalten ver-
blockieren, führen zur Entwicklung von Individuen ringert. Wenn man einer kastrierten Ratte jedoch
mit testikulärer Feminisierung (TFM). Diese sind Testosteron verabreicht, zeigt sie mit höherer Wahr-
äußerlich phänotypisch weiblich, aber unfruchtbar scheinlichkeit Aufreitverhalten auf empfängnisbe-
mit innen liegenden primitiven Testes. reiten Weibchen und Aggressionsverhalten gegen-
Neben den Genen, die sich bei Säugern auf über anderen Männchen. Darüber hinaus spielt
den Geschlechtschromosomen befinden, wurden aber auch die zeitliche Steuerung der Testosteron-
verschiedene weitere Gene identifiziert, die an der einwirkung eine große Rolle. Bei der Geburt kast-
komplexen Kaskade der Geschlechtsdetermination rierte Ratten zeigen nach Verabreichung von Tes-
beteiligt sind. Das Expressionsniveau der Gene tosteronpropianat im Erwachsenenalter dennoch
SOX9 (Chromosom 17), SF1 (steroidogener Faktor weniger Angriffsverhalten als Kontrolltiere. Wenn
1; Chromosom 9); WT1 (Wilms-Tumor-1-Gen; diese kastrierten Tiere aber bereits seit der Geburt
Chromosom 11), WNT4 (Wingless-Genfamilie Testosteron erhielten, entsprach ihr Angriffsverhal-
Mitglied 4; Chromosom 1) und AMH (Anti-Mül- ten dem der Kontrolltiere (einen Überblick über die
lersches-Hormon, Chromosom 19) scheint eben- frühen Forschungsergebnisse gibt Herbert 1977).
falls zur Geschlechtsdeterminierung beizutragen Diese Studien demonstrieren daher, dass Steroid-
(z. B. Luo et al. 1994; Morohashi et al. 2000; Nach- hormone ihre Wirkungen auf Verhalten einerseits
tigal et al. 1998; Jordan et al. 2001; Mishina et al. über Gehirnorganisation und -entwicklung entfal-
4.7 · Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten
71 4

ten, andererseits auch durch direkte funktionale aufwiesen. Also können sowohl geschlechtschro-
Einflüsse der zirkulierenden Hormone. mosomale wie autosomale Gene direkten Einfluss
Bei Nagetieren wurde festgestellt, dass ein ty- auf die frühe geschlechtliche Differenzierung des
pisch männliches Hormonniveau in frühen Ent- Gehirns nehmen, und zwar unabhängig von den
wicklungsphasen die Entwicklung einer typisch offensichtlicheren, hormonell gesteuerten Einflüs-
männlichen neuralen Struktur in verschiedenen sen. Dieser Einfluss von Genen auf die Gehirnent-
geschlechtlich dimorphen Regionen des Gehirns wicklung könnte auf ihren potenziellen Rollen bei
wie dem präoptischen Areal (POA) fördert (Nor- der Transkription und der Kontrolle der Transla-
deen et al. 1985; Dohler et al. 1984). Darüber hin- tion basieren. Da beim Menschen die Sekretion
aus sind diese Unterschiede unabhängig vom adul- von Testosteron und Östrogen erst 7–8 Wochen
ten Hormonniveau (Übersicht in Arnold u. Gorski nach der Empfängnis beginnt, haben Gene in die-
1984;  Kap. 2). Erst kürzlich wurde deutlich, dass sem Zeitfenster die Gelegenheit, hormonunabhän-
Veränderungen des Hormonstatus während Pu- gige Wirkungen zu entfalten.
bertät und Kindheit die Struktur und Funktion
neuraler Schaltkreise wahrscheinlich dauerhaft be-
einflussen (Sisk u. Zehr 2005). 4.7.2 Gene auf dem Y-Chromosom
Allerdings beobachteten Grunt und Young
bereits im Jahr 1953, dass bei kastrierten Meer- Man könnte meinen, dass definitionsgemäß alle
schweinchen individuelle Verhaltensunterschiede Gene, die auf der nicht-pseudoautosomalen Re-
auch nach Gabe von Testosteronersatz erhalten gion des Y-Chromosoms liegen, nur bei Männern
blieben. Diese Befunde legen nahe, dass Unter- exprimiert werden. Im Grunde ist dies auch rich-
schiede in den genetischen Vorgaben die Effekte tig. Komplizierter wird die Angelegenheit aller-
von Veränderungen im Steroidniveau modulieren dings dadurch, dass für einige dieser Loci Pendants
können. Tatsächlich zeigten Untersuchungen mit auf dem X-Chromosom existieren; da diese aber
Mäusen (Compaan et al. 1993) genetische Unter- normalerweise genügend Unterschiede aufweisen,
schiede in der Empfänglichkeit für Testosteron und sind auch ihre Genprodukte unterscheidbar und
Östradiol, die pränatal eine zentrale Rolle bei der ihre Expressionsprofile und Funktionen meist ver-
Organisation der Entwicklung steroidabhängiger schieden. Einige dieser Gene sind an Produktion
neuraler Systeme spielen. und Reifung der Spermien beteiligt, weitere wer-
den in anderen Geweben exprimiert. Xu et al.
(2002) haben mittels RT-PCR die Expression von
4.7 Hormonunabhängige Genwirkungen acht derartigen X-Y-homologen Genen im Ge-
auf Gehirn und Verhalten hirn von Mäusen 13,5 Tage nach der Begattung,
bei der Geburt und im adulten Tier untersucht.
4.7.1 Autosomale Gene Transkripte von sechs Y-chromosomalen Genen
wurden in einer oder sogar mehreren Entwick-
Obwohl sich die Erforschung von Genwirkungen lungsphasen entdeckt (Usp9y, Ube1ly, Uty, Smcy,
auf Geschlechtsunterschiede schwerpunktmäßig Dby und Eif2s3y). Zu beachten ist dabei, dass diese
auf die Geschlechtschromosomen konzentriert, Gene unabhängig von testikulären Sekretionen
gibt es überzeugende Belege dafür, dass in frühen wirken, denn sie werden in ähnlicher Form auch
Entwicklungsphasen auch autosomale Loci betei- in experimentell erzeugten XY-weiblichen Mäusen
ligt sind. Dewing et al. (2003) fanden durch Tran- exprimiert. In den Untersuchungen zu hormon-
skriptanalyse mittels Mikroarray oder RT-PCR in unabhängiger Genexpression im Mäusegehirn, die
den Gehirnen männlicher und weiblicher Mäuse im vorigen Abschnitt beschrieben wurden, waren
(10,5 Tage nach der Begattung, also bevor Gona- zwei Y-chromosomale Gene in männlichen Ge-
denhormone die Entwicklung beeinflussen kön- hirnen stärker exprimiert: Dead Box Polypeptid
nen) mehr als 50 über das Genom verteilte Gene, (Dby) und der eukaryotische Transkriptionsfaktor
die bei ihrer Expression Geschlechtsunterschiede (Eif2s3y) (Dewing et al. 2003).
72 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

SRY wird nicht nur in den Hoden, sondern nen beteiligten Genen. Es ist zu erwarten, dass wei-
auch in weiteren Geweben exprimiert. Besonders tere Gene, die an geschlechtsselektierten Merkma-
interessant im Hinblick auf seine Funktionen ist len und Verhaltensweisen beteiligt sind, ähnliches
dabei seine Expression im Gehirn. Das äquivalente Verhalten zeigen. Beeindruckende Belege hierfür
Gen bei Ratten, Sry, wird in der Substantia nigra stammen aus der detaillierten Sequenzanalyse des
exprimiert (einer Gehirnregion, die normalerweise menschlichen X-Chromosoms.
an motorischen Funktionen beteiligt ist). Dewing Zweitens hat Hemizygotie des X-Chromosoms
et al. (2006) schalteten mittels RNAi (RNA-Inter- bei männlichen Lebewesen zur Folge, dass sich
4 ferenz oder -Hemmung) Injektionen die Genfunk- schädliche X-chromosomale Mutationen bei ihnen
tion reversibel aus und konnten so zeigen, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit im Phänotyp zei-
derart behandelte Ratten motorische Probleme gen – ein gutes Beispiel dafür ist Hämophilie. Ei-
entwickeln, die einigen der Symptome von Morbus nige dieser Mutationen haben schwere Auswirkun-
Parkinson beim Menschen ähneln. Obwohl dieser gen auf Verhalten und Kognition. Die Debatte über
Befund etwas überraschend ist, da zu erwarten war, die mögliche Konzentration von Kognitionsgenen
dass Sry eher typisch männliche Verhaltensweisen auf dem X-Chromosom ist derzeit sehr aktuell.
anstelle von motorischen Funktionen beeinflusst, Als Beleg dafür wird unter anderem angeführt,
ist denkbar, dass die Expression von Sry in frühen dass Gene, die geistige Retardierung verursachen,
Entwicklungsstufen oder in anderen Gehirnregio- in großer Zahl auf dem X-Chromosom liegen,
nen andersartige Konsequenzen haben kann. verglichen mit ihrer Konzentration auf Autosomen
(Ropers et al. 2003; Ropers u. Hamel 2005). Die
Datenbank Online Mendelian Inheritance in Man
4.7.3 Gene auf dem X-Chromosom (OMIM) benennt 25 X-chromosomale Loci, die
mit geistiger Retardierung im Allgemeinen zu-
Während man das männliche Geschlecht an der sammenhängen (bezeichnet als nicht-syndromale
Kombination eines Y-Chromosoms mit einem ein- XGR) sowie 15 für geistige Retardierung, die im
zelnen X-Chromosom erkennt, besitzt das weibli- Zusammenhang mit definierten Syndromen stehen
che Geschlecht zwei Kopien des X-Chromosoms, (bezeichnet als syndromale XGR) –  http://www3.
die sich genetisch unterscheiden können. Beide ncbi.nlm.nih.gov/Omim/.
Kombinationen haben unmittelbare Auswirkun- Die Relevanz dieser Ergebnisse muss vor dem
gen auf den Beitrag des X-Chromosoms zu Ge- Hintergrund beurteilt werden, dass etwa die Hälfte
hirnentwicklung und Verhalten. Zunächst hat die aller Gene im Gehirn exprimiert werden und viele
männliche Hemizygotie zur Folge, dass die Selek- davon bei Defekten zu geistiger Retardierung füh-
tion von evolutionär vorteilhaften rezessiven X- ren. Obwohl die X-chromosomal vererbte geistige
chromosomalen Allelen bei ihrem ersten Auftreten Retardierung (XGR) für den Hauptanteil des um
bevorzugt im männlichen Geschlecht erfolgt. Ross 30–50% höher liegenden Anteils geistiger Retardie-
et al. (2005) fanden 32 MAGE-Gene (Genorte mit rung bei Männern verantwortlich sein soll und die
Wirkung auf die Antigenproduktion in Testis und meisten der bisher identifizierten Gene nur einen
Tumoren) auf dem X-Chromosom, aber nur vier sehr geringen Anteil der Fälle erklären, scheint bei
im übrigen Genom. Ihrer Ansicht nach erklärt etwa 6% der betroffenen Familien nur ein einziges
sich dieses Phänomen möglicherweise mit einer Gen für eindeutig X-chromosomal vererbte geis-
Fixation von Genen mit rezessiven Allelen, die tige Retardierungen verantwortlich zu sein (Man-
vorteilhaft für Männer sind, auf dem X-Chromo- del u. Chelley 2004). Die Autoren schlussfolgern,
som. Dies träfe insbesondere zu, wenn diese Gene dass die monogene XGR bei männlicher geistiger
noch dazu irgendwelche schädlichen Wirkungen Retardierung eine erheblich geringere Prävalenz
bei Frauen hätten. Basierend auf der Annahme, hat als bisher angenommen. In den letzten Jahren
dass bei Männern eine Selektion auf kognitive wurde das X-Chromosom auch in Verbindung mit
Fähigkeiten stattfindet, äußerten Zechner et al. verschiedenen anderen Merkmalen wie Homose-
(2001) eine ähnliche Vermutung für an Kognitio- xualität, affektiven Störungen und antisozialem
4.7 · Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten
73 4

Verhalten gebracht, was zum Teil kontrovers dis- auch Repeat-Expansionen mit deutlich geringerer
kutiert wurde (Craig et al. 2004). Länge eine Beeinträchtigung geistiger Fähigkeiten
Zwei X-chromosomale Gene, die verstärkt verursachen können. Youings et al. (2006) fanden
im weiblichen Gehirn transkribiert werden, wur- in ihrer groß angelegten Studie beispielsweise ein
den im Gehirn der Maus durch eine Analyse von erhöhtes Vorkommen von sog. Grauzonenallelen
mRNA-Profilen vor Beginn der Gonadenentwick- (41–55 Repeats) und Prämutationen (55–200 Re-
lung identifiziert. Dabei handelt es sich um die peats) in einer Stichprobe von Jungen, die son-
Gene für den eukaryotischen Transkriptionsfak- derpädagogische Förderung benötigen. Die bei-
tor Eif2s3x und für ein Tetratricopeptid-Repeat den Genotypen zusammengenommen hatten eine
(TPR)-Protein, Utx, von dem angenommen wird, Häufigkeit von 4,4% in der Stichprobe, verglichen
das es an Protein-Protein-Interaktionen beteiligt mit 2,9% bei den Müttern der Jungen. Darüber
ist (Dewing et al. 2003); zusätzlich zum XIST-Gen, hinaus konnten wir kürzlich in einer männlichen
das nur von dem inaktiven X-Chromosom expri- Stichprobe von Kindern (4- bis 7-Jährige) und
miert wird und daher spezifisch weiblich ist. In- Heranwachsenden eine signifikante negative Kor-
teressanterweise zeigte ein X-chromosomales Gen relation zwischen Allel-Länge und dem Normwert
auch stärkere Expression in männlichen Gehirnen: für den IQ und für allgemeine kognitive Fähigkei-
Cbp/p300 interacting transactivator 1 (das Homo- ten feststellen. Die Vermutung liegt daher nahe,
loge beim Menschen wird auch als melanozyten- dass auch bei Allel-Längen, die im Normalbereich
spezifisches Gen 1, MSG1, bezeichnet, es befindet liegen, längere Repeats Beeinträchtigungen der ko-
sich auf Xp 13.1). gnitiven Leistungsfähigkeit verursachen können
Die häufigste erbliche Ursache geistiger Retar- (Loat et al. 2006).
dierung ist das Fragile-X-Syndrom, das bei Män-
nern mit einer Inzidenz von etwa 1:4000 auftritt
(Turner et al. 1996). Das Syndrom wird durch 4.7.4 Potenzielle Rolle von Genen,
die Expansion eines CGG-Trinukleotids in der 5’ die der Inaktivierung entgehen
untranslatierten Region von Exon 1 des X-chro-
mosomalen FMR1-Gens auf mehr als 200 Repeats Untersuchungen zur X-Inaktivierung bieten einer-
verursacht. Diese Mutation führt zur Methylie- seits eine Methode, um ein potenzielles relatives
rung des Promotor-Abschnittes des Gens und zur Ungleichgewicht zwischen dem X-chromosomalen
Stilllegung des FMR-Proteins (FMRP). FMRP ist Gen-Output von Männern und Frauen festzustel-
ein selektives RNA-bindendes Protein, das einen len, andererseits einen theoretischen Ansatz, um
Messenger-Ribonukleoprotein (mRNP)-Komplex anhand von Zwillingsstudien X-chromosomale
erzeugt, der mit Polyribosomen im Gehirn asso- Gene mit Verhaltenseffekten zu finden.
ziiert ist und die Proteintranslation sowohl in vitro Man geht davon aus, dass die X- und Y-Chro-
(Laggerbauer et al. 2001) wie auch in vivo (Li et al. mosomen die evolutionären Nachfahren eines ur-
2001; Stefani et al. 2004) unterdrücken kann. Es sprünglich homologen Chromosomenpaares sind
wird angenommen, dass die proximale Ursache der und dass das Y-Chromosom wahrscheinlich durch
geistigen Retardierung beim Fragilen-X-Syndrom eine Reihe von Deletionen und Umlagerungen
in einer Fehlsteuerung der Translation von ver- gestrafft wurde, deren potenziell schädliche Aus-
schiedenen, normalerweise mit FRMP-assoziierten wirkungen durch das Vorhandensein äquivalenter
mRNA sowie von Signaltransduktionsmolekülen Informationen auf dem X-Chromosom maskiert
liegt (Brown et al. 2001; Miyashiro u. Eberwine wurde. Die entstandenen Mutationen können da-
2004; Zalfa u. Bagni 2004). her selektionsneutral sein oder durch ihre Effekte
Die Auftretenshäufigkeit von Repeat-Expan- auf die Spermienreifung und/oder -beweglichkeit
sionen dieser Länge in der Population ist zwar sogar einen Selektionsvorteil bieten. Im Endergeb-
signifikant (1 in 4000), aber nicht ausreichend, um nis käme es dabei zu einer reduzierten Genaus-
Geschlechtsunterschiede in der Kognition erklären stattung, die letztlich zu beträchtlichen Gendosis-
zu können. Allerdings mehren sich Hinweise, dass Unterschieden zwischen den Geschlechtern führt.
74 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

Eine Theorie nimmt daher an, dass zum Zweck der jedoch auch eine Basis für das Entstehen von Ge-
Dosiskompensation derjenige Teil des X-Chromo- schlechtsunterschieden als Folge von Expressions-
soms inaktiviert wird, der keine dem Y-Chromo- unterschieden bei Genen, die der Inaktivierung
som äquivalente Information enthält. entgangen sind. Daher ist es wichtig, die Anzahl,
Zur X-Inaktivierung kommt es in einer Früh- Gewebespezifität und Funktion derjenigen Gene
phase der embryonalen Entwicklung. In jeder zu ermitteln, die der Inaktivierung entgehen, um
Zelle werden dabei normalerweise nach dem so die Relevanz dieses Phänomens richtig ein-
Zufallsprinzip alle X-Chromosomen außer ei- schätzen zu können.
4 nem inaktiviert. Die Zelllinien, die von jeder El- Die Interpretation von X-Inaktivierungsprofi-
ternzelle abstammen, behalten dieses Muster der len bringt einige Komplikationen mit sich, insbe-
Inaktivierung entweder des väterlichen oder des sondere wenn man bedenkt, dass potenziell etwa
mütterlichen X-Chromosoms bei. Der kritische 1000 X-chromosomale Gene zu überprüfen sind.
Genlokus, XIST, befindet sich im X inactivation Abgesehen von Untersuchungen, die sich auf ein
center auf Xq 13 und wird nur vom inaktiven einziges oder wenige Gene konzentrierten, waren
X-Chromosom exprimiert. Offenbar verteilen sich die hauptsächlich verwendeten Methoden:
die nicht-translatierten Transkripte und bedecken ▬ RT-PCR (eine Technik, mit der die relative
das gesamte Chromosom, wodurch es zur initia- Konzentration von RNA-Transkripten be-
len Abschaltung der Transkription kommt. Auf- stimmt werden kann) an somatischen Mensch/
rechterhalten wird diese Blockade wahrscheinlich Maus- oder Mensch/Hamster-Zellhybriden mit
auf jedem einzelnen Lokus durch Prozesse, an einem inaktiven menschlichen X-Chromosom
denen DNA-Methylierung und Histonmodifika- ▬ Verwendung von Mikroarrays zum Vergleich
tionen beteiligt sind (z. B. Okamato et al. 2004). der Expressionsverhältnisse zwischen Männern
Allmählich stellt sich jedoch heraus, dass diese und Frauen
Inaktivierung unvollständig ist, so dass außer den ▬ Seit kurzem die allelspezifische Transkriptana-
pseudoautosomalen Abschnitten viele Gene teil- lyse (z. B. Carrel et al. 1999; Craig et al. 2004;
weise oder vollständig der Inaktivierung entgehen. Carrel u. Willard 2005)
Solche »Flüchtlinge« werden daher in weiblichen
Lebewesen stärker exprimiert als in männlichen, Jeder dieser Ansätze ist nur eingeschränkt für Un-
was möglicherweise die genetische Dichotomie tersuchungen von Gehirn und Verhalten des Men-
zwischen den Geschlechtern vergrößert und zu schen verwendbar. Zunächst einmal variieren Aus-
Geschlechtsunterschieden im Verhalten beiträgt. maß und Bandbreite der X-Inaktivierung in den
Verschiedene Gene, die proximal zu PAR1 liegen, verschiedenen Spezies, was einfache Vergleiche
entgehen entweder vollständig oder partiell der zwischen Experimentaltieren und Menschen un-
Inaktivierung (dazu gehört auch das Kallman-Syn- möglich macht. Außerdem tritt die Inaktivierung
drom-Gen KAL1, und das Steroidsulfatase-Gen in unterschiedlichen Geweben in verschiedenen
STS). Der Mensch besitzt für keines dieser Gene Phasen ein und kann daher gewebespezifische Un-
Homologe auf dem Y-Chromosom, obwohl das Y- terschiede aufweisen. Untersuchungen zur Expres-
Chromosom funktionslose Pseudogene beherbergt sion eines inaktivierten X-Chromosoms in somati-
(z. B. Disteche 1995, 1999). Spekulationen zufolge schen Zellhybriden haben nur begrenzte Aussage-
könnten solche Loci Teil einer größeren pseudo- kraft, da sie keine quantitativen Daten liefern und
autosomalen Region gewesen sein, die durch eine der Inaktivierungsstatus des X-Chromosoms in
Serie von Chromosomenveränderungen, wie z. B. Hybridzellen nicht notwendigerweise repräsentativ
perizentrische Inversionen der ursprünglichen Y- für das X-Chromosom in normalem menschlichen
Chromosomen, verloren gegangen sind (Fraser Gewebe ist. Die Untersuchung frischer Gewebe
et al. 1987; Page et al. 1987; Lahn u. Page 1999). mit Mikroarrays beschränkt sich beim Menschen
Grob gesagt stellt X-Inaktivierung daher das Mit- auf Fibroblasten oder aus dem Blut gewonnene
tel dar, durch das die Geschlechter einander in Zellen, außerdem beschränkt sich die Aussagekraft
ihrer Genexpression ähnlicher werden. Sie bietet der Methode auf Gene, die darin auf signifikantem
4.7 · Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten
75 4

Niveau exprimiert werden. Dennoch ergeben sich entgehen (Carrel et al. 1999; Carrel u. Willard
bei einer Kombination der beiden Ansätze starke 2005). Ein Teil dieser X-chromosomalen Gene
Überlappungen, wenn man die signifikantesten besitzt Homologe auf dem Y-Chromosom, der
Beobachtungen aus der Mikroarray-Studie (Craig Mehrzahl fehlt jedoch dieses Y-Homolog was
et al. 2004) mit dem Ergebnis der RT-PCR-Studien dazu führt, dass weibliche Lebewesen vermut-
zu somatischen Zellhybriden (Carrel u. Willard lich ein höheres Transkriptionsniveau haben als
2005) vergleicht (⊡ Tab. 4.1). Auch andere Studien männliche. Möglicherweise spielt die Gendosis
liefern Hinweise darauf, dass die aufgelisteten Gene in diesen Fällen keine Rolle; die größere Gendo-
SEDL, DDX3 und UTX der X-Inaktivierung entge- sis im weiblichen Geschlecht könnte allerdings
hen (Sudbrack et al. 2001). auch für die normale Funktion der Ovarien oder
Insgesamt scheinen 1/5 aller auf dem X-Chro- für ein geschlechtsspezifisches Verhalten rele-
mosom befindlichen Gene der Inaktivierung zu vant sein. Tatsächlich zeigte eine Überprüfung

⊡ Tab. 4.1. Vergleich von Genen, die stärker in menschlichen Lymphozyten exprimiert werden (relative Expression mit
Affymetrix-Mikroarray ermittelt) mit Daten aus Untersuchungen zu Inaktivierungsprofilen von Carrel und Willard (2005).
In der letzten Spalte ist die Anzahl der menschlichen Zellhybriden mit einem inaktiven X-Chromosom aufgelistet, bei
denen das fragliche Gen der X-Inaktivierung entging

Gene Mittelwert Standard- Mittelwert Standard- Verhältnis Carrel u. Willard


Frauen abweichung Männer abweichung Frauen/Männer 2005

STK3 63,84 10,67 34,36 17,49 1,86 9 von 9

ZFX 57 15,39 20,78 10,72 2,74 9 von 9

EIF2S3* 298,12 80,92 182,48 53 1,63 9 von 9

SCML2 74,88 11,14 42,82 7,14 1,75 9 von 9

UTX 51,4 9,41 29,48 14,19 1,74 9 von 9

SYP 31,84 14,13 10,16 3,17 3,13 2 von 9

UTX 115,9 11,35 65,16 14,77 1,78 9 von 9

SRSP2 47,22 7,94 26,68 14,73 1,77 9 von 9

SEDL 66,24 9,7 45,82 13,14 1,45 9 von 9

DDX3 57,76 10,36 38,66 5,43 1,49 9 von 9

UTX* 189,93 12,97 134,24 35,48 1,41 9 von 9

SMCL1 928,38 94 647,04 118,19 1,43 7 von 9

SOX3 26,28 3,9 18,9 5,1 1,39 Nicht ermittelt

TBL1 36,28 5,03 28,28 7,32 1,28 7 von 9

STS 105,36 12,31 86,76 6,95 1,21 9 von 9

ARHGEF6 41,4 4,06 31,02 11,68 1,33 Nicht ermittelt

COL4A6 19,92 6,69 10,94 8 1,82 Nicht ermittelt

CLCN4 321,04 23,43 289,02 10,34 1,11 5 von 9

PCTK1 14,5 4,02 5,54 4,33 2,62 9 von 9


76 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

der mittels Mikroarray- und inaktive X-Hybri- ses sein, insbesondere dann, wenn sich Gewebe
dentechnik identifizierten Gene, dass die Inak- aus relativ wenigen Ausgangszellen entwickelt. In
tivierung Konsequenzen für Unterschiede im manchen Fällen resultieren extreme Muster von
geschlechtsspezifischen Verhalten haben könnte. skewed inactivation jedoch aus Mutationen und X-
Ein signifikanter Anteil der so identifizierten Loci chromosomalen Umlagerungen (Hear et al. 1997).
scheint Steuerungsfunktionen bei Transkription, Es gibt auch Berichte über Stammbäume, in de-
Translation und bei Proteininteraktionen zu über- nen durch skewed inactivation das X-Chromosom,
nehmen und wird darüber hinaus im Gehirn welches Mutationen auf dem XIST-Lokus aufweist,
4 exprimiert (⊡ Tab. 4.2). Zwei wichtige Loci, die abgeschaltet wird (Plenge et al. 1997). Weiterhin
der Inaktivierung entgehen und im weiblichen wurde vermutet, dass skewed inactivation etwas
Gehirn auf höherem Niveau exprimiert werden, mit Zwillingsbildung zu tun hat und die Überzahl
wurden auch im Gehirn weiblicher Mäuse in weiblicher Zwillingspaare erklären kann (Bunge
einer Phase vor Beginn der Produktion gonada- et al. 1986) – die Befunde dazu sind jedoch um-
ler Hormone stärker exprimiert gefunden. Dieser stritten. Dennoch ist erwiesen, dass skewed inacti-
übereinstimmende Befund ist in Anbetracht der vation grundlegende phänotypische Unterschiede
Verschiedenheit der verwendeten Methoden sehr zwischen monozygoten (MZ) weiblichen Zwil-
interessant. Diese beiden Loci, Eif2s3x und Utx, lingen verursacht. Vielleicht am überzeugendsten
sind jeweils an der Regulation einer Reihe von wurde dieses Phänomen an sechs weiblichen MZ-
Gentranskripten und Protein-Protein-Interaktio- Zwillingspaaren demonstriert, die diskordant für
nen beteiligt und könnten daher in der frühen Duchenne-Muskeldystrophie waren (Tiberio 1994;
Gehirnentwicklung von Bedeutung sein. Brown u. Robinson 2000).
Wie bereits erwähnt ist bei X/Y-homologen Man kann die Annahme randomisierter X-
Loci von Mäusen der Beitrag des Y-chromosoma- Inaktivierung zugrunde legen, um zu zeigen, dass
len Gens zum Expressionsniveau im Gehirn oft dichoriale MZ-Zwillingsbildung im Gegensatz zu
kleiner als der des X-chromosomalen Gens. Also monochorialer MZ-Zwillingsbildung bereits vor
können X- und Y-Homologe nicht nur in unter- dem Zeitpunkt der X-Inaktivierung beginnt (Puck
schiedlichen Phasen der Gehirnentwicklung und 1998). Während dies im ersten Fall zu ausgepräg-
in unterschiedlichen Regionen exprimiert werden, terer skewed inactivation führen könnte, sollte das
es kann darüber hinaus noch Geschlechtsunter- gesamte Ausmaß der skewed inactivation bei weib-
schiede im aufsummierten Expressionsniveau ge- lichen monozygoten Zwillingen zu durchschnittlich
ben, sogar bei X-chromosomalen Genen mit funk- höherer Diskordanz für polymorphe X-chromoso-
tionstüchtigem Y-Äquivalent (Xu et al. 2002). male Merkmale führen als bei ihren männlichen
Pendants. Aktuelle Forschungsarbeiten verweisen
auf ein hohes Maß genetischer Heterogenität, so
4.7.5 Zwillingsstudien und dass im Durchschnitt auf jedem Gen einer oder
Inaktivierung: eine Methode zur mehrere Single-Nukleotid-Polymorphismen und
Identifikation X-chromosomaler verstreut variable Repeats einfacher Sequenzen
Gene mit Verhaltenseffekten auftreten können. Infolgedessen ist das Potenzial
für Heterozygosität auf jedem Lokus beträchtlich.
Oberflächlich betrachtet könnte man annehmen, In Verbindung mit unserem Wissen, dass viele
dass eine X-Inaktivierung nach dem Zufallsprinzip multifaktorielle Phänotypen, so auch Verhaltens-
dazu führt, dass sich in den Zellen eine 50:50- merkmale, auf einer großen Zahl von quantita-
Verteilung von aktiven väterlichen (Xpa) und müt- tive trait loci (QTL) basieren sowie aufgrund der
terlichen (Xma) X-Chromosomen befindet. Statt angenommenen X-chromosomalen Konzentra-
dessen kommt es häufig zu Inaktivierungsmustern tion von Loci für Kognitionen resultiert daraus
mit Präferenz für eines der beiden X-Chromoso- die Annahme, dass man über einen Vergleich der
men (die sog. skewed inactivation). Solche Muster Korrelationen innerhalb monozygoter weiblicher
können das Ergebnis eines stochastischen Prozes- und männlicher Zwillingspaare Verhaltensweisen
4.7 · Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten
77 4

⊡ Tab. 4.2. Funktion und Expressionsdaten für Gene, die bei Frauen stärker exprimiert werden (Craig et al. 2004)

Gen Ort Funktion Expressionsdaten aus den Gen-


expressionsdaten der GNF

SCML2 Xp22 Mitglied der Polycomb Group, die für Exprimiert über Medianwert im fötalen
Transkriptionsrepressoren kodieren, Gehirn und Kortex
welche homöotische Gene regulieren

TBL1 Xp22.3 Teil der Regulation von Beta-Catenin- Exprimiert über Medianwert im
abhängigen Transkriptionsfaktoren gesamten Gehirn und Amygdala

STS Xp22.32 Beteiligt am Hormonmetabolismus Keine Daten


(ARAS)

ZFX Xp22.2- Zinkfingerprotein – vermutlich ein Exprimiert über Medianwert im fötalen


p21.3 Transkriptionsfaktor Gehirn und N. caudatus

EIF2S3 Xp22.2– Translationsinitiationsfaktor Exprimiert auf hohem Niveau in


XP22.1 Lymphozyten und lymphoblastoiden
Zelllinien/Pankreas (Maus-Gehirn)

U2AF1RS2 Xp22.1 Potenzieller Splicing-Faktor Exprimiert über Medianwert in verschie-


denen Hirngeweben und 3× Median im
Thalamus

CRSP2 Xp11.4 Kofaktor, notwendig für Aktivierung des Exprimiert über Medianwert in den
– p11.2 Enhancer-Bindungsfaktors SP1 meisten Hirngeweben

DDX3 Xp11.3- Mutmaßliche RNA-Helikase Exprimiert über Medianwert im fötalen


p11.2 Gehirn und Corpus callosum

UTX Xp11.2 Vermittlung von Protein-Protein- Exprimiert über Medianwert in ver-


Interaktionen schiedenen Hirngeweben und An-
näherung an 3× Median im Corpus
callosum

SYP Xp11.23- Integrales Membranprotein von Exprimiert über 3× Medianwert in


p11.22 synaptischen Vesikeln verschiedenen Hirngeweben

ATRX Xq13 Alpha-Thalassämie-Syndrom mit mentaler Exprimiert über Medianwert im Corpus


Retardierung callosum und Rückenmark

ALEX2 Xq21-33- Armadillo-Repeat Protein Exprimiert zwischen Median- und 3×


q22.2 Medianwert in verschiedenen Hirnge-
weben

MST4 Xq26.1 Potenzieller Regulator von mitogen- Keine Daten


aktivierten Proteinkinase-Kaskaden

SOX3 Xq26-q27 Mitglied einer Familie von Transkripti- Scheint auf Medianwert in vielen
onsfaktoren, die an der Regulation der Geweben, einschließlich des Gehirns,
embryonalen Entwicklung und der De- exprimiert zu werden
termination des Zellschicksals beteiligt
sind. Einige Mutationen, die zu mentaler
Retardierung führen
78 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

identifizieren kann, die zumindest teilweise über ren Befunde repliziert, darüber hinaus wurden die
X-chromosomale Gene determiniert werden. vorhandenen Informationen über die fraglichen
In einer vorläufigen Untersuchung von neun Verhaltensweisen durch Berichte von Eltern und
Verhaltensweisen oder kombinierten Verhal- Lehrern ergänzt. Die zusätzlichen Daten aus diesen
tensmerkmalen bei je 1000 MZ weiblichen und Studien lieferten überraschenderweise auch Hin-
männlichen Zwillingspaaren aus der Twins-early- weise darauf, dass es X-chromosomale QTL für die
development-Kohorte (TED) konnten wir feststel- mangelnde soziale Kompetenz von Individuen mit
len, dass die weiblichen Zwillingspaare bei den Autismus-Spektrum-Störungen gibt.
4 meisten untersuchten Verhaltensweisen geringere Weitere Forschung ist nötig, um zu klären, ob
Korrelationen aufwiesen als die männlichen (mit der gefundene potenzielle Zusammenhang zwi-
Ausnahme des Merkmals Ängstlichkeit). Drei der schen X-chromosomalen QTL und Problemen mit
untersuchten Verhaltensmerkmale (Probleme mit Gleichaltrigen sowie sozialen Defiziten durch zu-
Gleichaltrigen, prosoziales Verhalten und verbale sätzliche Befunde erhärtet werden kann. In diesem
Fähigkeiten) zeigten für die weiblichen Zwillinge Zusammenhang muss auch daran erinnert wer-
signifikant geringere Korrelationskoeffizienten. den, dass Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
Darüber hinaus stellten wir fest, dass dieselben und antisoziales Verhalten häufiger bei Männern
Verhaltensweisen bei dizygoten (DZ) männlichen auftreten. Weitere relevante Befunde für beide
Zwillingen ebenfalls signifikant geringere Korrela- Verhaltensstörungen werden im Folgenden vor-
tionen zeigten. Obwohl diese Resultate auf den ers- gestellt.
ten Blick den Beobachtungen bei MZ-Zwillingen
zu widersprechen scheinen, stützen sie eigentlich
die Hypothese, dass die fraglichen Verhaltenswei- Autismus und Autismus-Spektrum-
sen zumindest teilweise durch Gene auf dem X- Störungen
Chromosom beeinflusst werden. Dies ergibt sich Eine spannende, aber bisher nicht zufriedenstel-
aus der Tatsache, dass das gemeinsame väterliche lend erklärte Beobachtung machten Skuse et al.
X-Chromosom bei Mädchen geteilt wird, so dass (1997) mit ihren Tests zu sozialer Kognition bei X0-
Abweichungen, die aus differenzieller Vererbung Mädchen mit Turner-Syndrom. Die Betroffenen
der beiden mütterlichen X-Chromosomen resul- erben ihr einziges X-Chromosom entweder von
tieren, durch das Vorhandensein des gemeinsamen ihrem Vater (45Xp) oder ihrer Mutter (45Xm). Die
väterlichen X-Chromosoms abgemildert werden. erste Gruppe erreichte signifikant höhere Werte in
Bei Männern wirken sich dagegen alle QTL- sozialer Kompetenz als die zweite. Dieser Befund
Unterschiede, die aus der Vererbung des einen oder lässt vermuten, dass das väterliche Allel (das auf
des anderen mütterlichen X-Chromosoms resultie- die Töchter vererbt wird) eine Überlegenheit bei
ren, voll aus. Da das männliche Geschlecht für kognitiven Fähigkeiten, die an sozialer Kompetenz
X-chromosomale Gene, die kein Y-Homolog be- beteiligt sind, vermittelt. Dieselben Autoren stell-
sitzen, hemizygot ist, könnte es besonders extreme ten auch fest, dass Mädchen mit einem normalen
Phänotypen ausbilden, die durch Allele auf dem Karyotyp bessere sozialkognitive Fähigkeiten besit-
X-Chromosom gesteuert werden. Das weibliche zen als Jungen. Ursprünglich wurde angenommen,
Geschlecht besitzt dagegen zwei Allele, jedes davon dass diese Resultate auf die Existenz eines mütter-
ist normalerweise in 50% der Zellen inaktiviert, lich geprägten Gens verwiesen, das ansonsten eine
die Wirkungen der beiden mitteln sich aus und Überlegenheit in den Fertigkeiten vermittelt, die
sind daher wahrscheinlich weniger extrem. Dieser für bessere reziproke soziale Kommunikation not-
Befund könnte das allgemein bekannte, aber nur wendig sind. Im weiteren Sinne könnte man diese
selten diskutierte Phänomen erklären, dass viele Daten auch so interpretieren, dass X-chromoso-
Merkmale bei Männern eine größere Varianz in male Gene zu den Unterschieden im Sozialver-
der Population aufweisen als bei Frauen (Hedges halten zwischen Männern und Frauen beitragen.
u. Nowell 1995). In Folgeuntersuchungen mit den Solch ein Genlokus würde nur vom väterlichen
inzwischen älteren Zwillingen wurden die frühe- X-chromosomalen Allel transkribiert und daher in
4.7 · Hormonunabhängige Genwirkungen auf Gehirn und Verhalten
79 4

Männern nicht exprimiert. Trotz der potenziellen Mitglieder geistige Retardierung (borderline) zu-
Relevanz dieser Untersuchungen wurden sie bis- sammen mit impulsiver Aggression und unange-
lang nicht adäquat repliziert. messenem Verhalten bei Stress aufwiesen. Brunner
Mutationen eines X-chromosomales Gens, et al. (1993) konnten zeigen, dass dies auf einer
MECP2 (Methyl-CpG-bindendes Protein), verur- Nonsense-Mutation des X-chromosomalen MAOA-
sachen das Rett-Syndrom, eine schwerwiegende Gens beruhte, die ein funktionsuntüchtiges Protein
Entwicklungsstörung, von der nur Mädchen be- erzeugt. MAOA ist ein wichtiges Enzym, welches
troffen sind und die vermutlich für männliche das Niveau von Serotonin, Dopamin und Norad-
Kinder tödlich ist (verbunden mit Enzephalopathie renalin reguliert; Anomalien im Metabolismus all
beim Neugeborenen). Das MECP2-Protein bin- dieser Transmitter stehen im Zusammenhang mit
det an einige wenige CpG-Inseln und reguliert verstärkter Aggressionsneigung. MAOA-Knock-
wahrscheinlich die Promotor-Regionen einiger out-Mäuse zeigen ebenfalls erhöhte Aggressions-
Gene, zu denen interessanterweise das FMR1-Gen neigung (Craig 1994).
gehört, außerdem ein wichtiges Enzym, das in Interessanterweise gibt es in der Population
den Neurotransmittermetabolismus, für den das einen weit verbreiteten Polymorphismus in der
BDNF-Gen kodiert, eingebunden ist (Chen et al. Promotor-Region von MAOA, der entweder
2003). Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass »starke« oder »geringe« Expression bewirkt. Da
Rett-Patienten im Alter von 1–4 Jahren deutlich die Daten zu den potenziellen Auswirkungen die-
autistisches Verhalten zeigen und dass 70% al- ses Polymorphismus auf aggressives und antiso-
ler Patienten mit Autismus auch bis zu einem ziales Verhalten sehr widersprüchlich sind, zei-
gewissen Grad geistige Retardierung aufweisen. gen sich keine reproduzierbaren Muster (Craig
So scheint zumindest oberflächlich eine gewisse 2005). In den letzten Jahren finden sich jedoch
Überlappung der beiden Störungsbilder zu beste- zunehmend Belege für die erstmals von Caspi et
hen. Kürzlich wurden 24 Autismuspatienten auf al. (2002) vorgebrachte Annahme einer Interak-
Mutationen des MECP2-Gens untersucht, bei fünf tion zwischen genetischen und umweltgesteuerten
davon fand man Varianten oder Mutationen in der Prädispositionen für Aggression. Man stellte fest,
Kodierregion oder der 3’-untranslatierten Region dass Jungen mit dem niedrigaktiven Allel, die
(Shibayama et al. 2004). Opfer von Misshandlung waren, mit erheblich hö-
herer Wahrscheinlichkeit antisoziale Verhaltens-
weisen und einen Hang zur Gewalttätigkeit ent-
Antisoziales Verhalten wickelten als Jungen mit hoher MAOA-Aktivität.
Während im Tierversuch eine Korrelation zwi- Starke MAOA-Expression scheint eine Schutzwir-
schen Testosteronniveau und Aggression gut kung gegen die potenziell aggressionssteigernden
dokumentiert ist (Turner 1994), sind die Daten Folgen von Misshandlungen in der Kindheit zu
beim Menschen widersprüchlicher. Obwohl einige bieten. Nach dieser Untersuchung von 2002 ha-
Forschungsarbeiten zeigten, dass Aggression und ben verschiedene weitere Studien das Phänomen
Testosteron tatsächlich positiv korreliert sind (Ar- erforscht. Eine rigorose Metaanalyse der aktuell
cher 1991), erweist sich die Interpretation als pro- vorliegenden Daten bestätigt, dass das Risiko für
blematisch. Beispielsweise zeigte eine Studie, dass aggressives Verhalten durch Wechselwirkungen
bei 12- bis 13-jährigen Jungen zwar eine positive zwischen Genen und Umwelt determiniert wird.
Korrelation zwischen Testosteron und aggressivem Niedrigaktives MAOA und Misshandlung in der
Verhalten bestand, nicht aber bei 15- bis 16-jähri- Kindheit sind einzeln potenzielle Risikofaktoren,
gen (Turner 1994). zusammen sind sie jedoch nützlichere Prädikto-
Die ersten Belege für einen Zusammenhang ren als jeder für sich allein. Allerdings sind die
zwischen einem bestimmten Genlokus und Ge- bislang festgestellten Effekte spezifisch für Män-
schlechtsunterschieden bei antisozialem Verhalten ner, für Frauen liegen nicht genug Daten vor, um
stammt aus der Untersuchung eines niederländi- allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können
schen Stammbaums, in dem mehrere männliche (Kim-Cohen et al. 2006).
80 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

Fazit
Wir haben gesehen, dass sich Männer und Frauen ben, hinkt die Evolution dieser Entwicklung
in vielen relevanten Aspekten unterscheiden, von unvermeidlich hinterher, so dass ihr Einfluss auf
hormonellem Status, Gehirnstruktur und Genex- unser Verhalten noch in vielen zukünftigen Ge-
pression bis hin zu den sichtbaren Auswirkungen nerationen zu sehen sein wird. Da die Existenz
dieser biologischen Substrate im Verhalten, z. B. von Genen, die Verhalten und Hirnfunktionen
im kognitiven Stil oder der Anfälligkeit für psychi- beeinflussen, in Anbetracht der zahlreichen
sche Störungen. Die potenziellen Konsequenzen Belege nicht mehr bezweifelt werden kann,
4 differenzieller Genexpression für geschlechtsty- reicht ein kleiner Verständnisfortschritt, um zu
pisches Verhalten werden gegenwärtig intensiv akzeptieren, dass einige dieser Gene potenziell
erforscht, wobei viele der spezifischen Folge- und real unterschiedliche Auswirkungen in den
wirkungen von Genen, die der X-Inaktivierung beiden Geschlechtern haben. Natürlich können
entgehen, noch nicht gänzlich verstanden sind. nicht alle Geschlechtsunterschiede auf diese
Immerhin wird ihre Bedeutung zunehmend aner- Weise erklärt werden, denn Umweltfaktoren
kannt. Männer und Frauen unterlagen über tau- wie Lebenserfahrungen und soziokulturelle
sende von Jahren unterschiedlichem Selektions- Einflüsse, ebenso wie andere biologische Mecha-
druck, daher wäre es erstaunlich, wenn sich die nismen, beispielsweise Hormonveränderungen,
Gene auf den Geschlechtschromosomen in der spielen ebenso eine Rolle für Verhaltensunter-
Evolution nicht unterschiedlich entwickelt hät- schiede zwischen Männern und Frauen. Man
ten. Auch wenn Kommentare über Geschlechts- könnte sogar argumentieren, dass nach frühen
rollen von Vertretern der political correctness ab- Entwicklungsstadien, in denen die Gene eine
gelehnt werden, ist die Tatsache unübersehbar, geschlechtlich divergente Gehirnentwicklung
dass Männer in der Menschheitsgeschichte die programmieren, solche Umwelteinflüsse zuneh-
Rolle von Jägern und Sammlern übernommen mend an Bedeutung gewinnen, selbst wenn sie
haben. Ihr Konkurrieren mit anderen Männern auf Gehirne einwirken, die neutral unterschied-
um Nahrung, Ressourcen und Frauen sowie die lich verschaltet sind.
fehlende biologische Notwendigkeit einer be- Wir sind sicher, dass ein besseres Verständnis
deutenden Investition in die Aufzucht der Kinder für die subtilen, aber dennoch deutlichen Ge-
steht im Einklang mit der Entwicklung von Merk- schlechtsunterschiede im Verhalten und Denken
malen wie Aggression, Konkurrenzdenken und nicht nur unser grundlegend klinisches Wissen
räumlichen Fähigkeiten. Für Frauen dagegen war vermehren wird, sondern auch Hinweise dafür
es wahrscheinlich wichtiger, die Kinder aufzu- liefern wird, was wir verändern müssen, um in
ziehen und in einer kooperativen Gemeinschaft verschiedenen Bereichen die bestmögliche Le-
überleben zu können, daher entwickelten sie bensqualität zu erzielen, beispielsweise durch die
eher kommunikative und soziale Kompetenzen. Entwicklung eines erfolgversprechenden Schul-
Obwohl sich diese Geschlechtsrollen in den und Ausbildungssystems oder bei der Prävention
letzten Generationen massiv gewandelt ha- und Behandlung geistiger Störungen.

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82 Kapitel 4 · Genetische Grundlagen von Geschlechtsunterschieden in ZNS-Funktionen

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II

II Psychische Funktionen

Kapitel 5 Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht – 87


Onur Güntürkün, Markus Hausmann

Kapitel 6 Kognitive Geschlechtsunterschiede – 105


Markus Hausmann

Kapitel 7 Das transsexuelle Gehirn – 125


Peggy T. Cohen-Kettenis, Stephanie H.M. van Goozen,
Michael A.A. van Trotsenburg

Kapitel 8 Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität


aus der Sicht des Neuroimaging – 143
Anne Schienle

Kapitel 9 Riechen Frauen anders als Männer? – 161


Gerard Brand, Laurence Jacquot

Kapitel 10 Schlaf und Traum – 175


Hartmut Schulz, Stephany Fulda
Michael Schredl

Kapitel 11 Der »kleine« Unterschied beim Schmerz – 199


Stefan Lautenbacher
5

Funktionelle Hirnorganisation
und Geschlecht
Onur Güntürkün, Markus Hausmann

5.1 Einführung – 88

5.2 Neokortex – 88
5.2.1 Allgemeine kortikale Geschlechtsdimorphismen – 88
5.2.2 Kortikale Subregionen – 90
5.2.3 Corpus callosum – 92

5.3 Subkortikale Regionen – 92


5.3.1 Bettnukleus der Stria terminalis – 93
5.3.2 Amygdala – 94
5.3.3 Präoptische Region – 95
5.3.4 Nucleus bulbocavernosus – 96

5.4 Zerebrale Asymmetrien – 97

Literatur – 100
88 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

> Wir sind unser Gehirn. Alles was wir denken, fühlen, planen und erinnern, un-
sere geheimsten Wünsche und unsere offenen Erklärungen, unsere Eigenarten,
Meinungen und Handlungsweisen; sie alle sind identisch mit der strukturier-
ten Aktivität von Milliarden Nervenzellen unseres Gehirns. Dieses gewaltige
System vielfach miteinander verwobener Neurone ist die morphologische
Entsprechung unsereres momentanen Ichs. Die Feinstruktur unseres Gehirns
und somit unsere Identität ändert sich jeden Augenblick ein kleines bisschen
durch den ununterbrochene Strom von Wahrnehmungen und Handlungen, die
ihre Spuren in den synaptischen Kontakten zwischen unseren Nervenzellen hin-
terlassen. Und so wird auch dieses Buchkapitel Ihr Gehirn verändern und sich
5 festsetzen in die Sphäre Ihrer Gedanken.

5.1 Einführung subtil sind, wurde verworfen. Mittlerweile wurden


Geschlechtsunterschiede des Gehirns entdeckt, die
Wenn wir unser Gehirn sind, dann müssen Ge- sogar mit einer einfachen Lupe sichtbar sind. Von
schlechtsunterschiede des Denkens und Handelns diesen Entdeckungen wird nun die Rede sein.
auf geschlechtsabhängige Differenzen in der ana- Wir wollen strukturelle und funktionelle Se-
tomischen und funktionellen Organisation des xualdimorphismen des Gehirns auf drei Ebenen
Gehirns zurückgeführt werden können. Solche abhandeln:
anatomischen Unterschiede zwischen den Ge- ▬ Die erste ist der Neokortex. Es ist wahrschein-
schlechtern nennt man »Sexualdimorphismen«. lich, dass kognitive Geschlechtsunterschiede
Wahrscheinlich etablieren sich diese Sexualdi- durch diese kortikalen Differenzen entstehen.
morphismen in der frühen Entwicklungsphase des ▬ Die zweite Ebene sind die subkortikalen Se-
Nervensystems unter dem Einfluss von Sexualhor- xualdimorphismen, die evtl. mit den unter-
monen. Diesen prägenden Effekt von Steroiden schiedlichen sexuellen Orientierungen und
nennt man »organisierend«. Früher glaubte man, Handlungsweisen von Männern und Frauen
dass die dabei entstehenden neuroanatomischen im Zusammenhang stehen.
Geschlechtsunterschiede so subtil sind, dass man ▬ Die dritte Ebene bilden Geschlechtsunter-
sie mit einfachen neuroanatomischen Mitteln nicht schiede der zerebralen Asymmetrien, die wahr-
sehen kann. Ferner nahm man an, dass nach dem scheinlich einen Teil der Unterschiede in den
Abschluss der Hirnentwicklung Sexualhormone kognitiven Strategien und Leistungen zwischen
nur noch zuvor etablierte Schaltkreise aktivieren Männern und Frauen bedingen.
oder dämpfen können, aber nicht mehr in der
Lage sind, die Hirnanatomie zu verändern. Diesen
Funktionsmechanismus von Steroiden bei Erwach- 5.2 Neokortex
senen nennt man »aktivierend«.
Die meisten dieser Annahmen haben sich als 5.2.1 Allgemeine kortikale
falsch herausgestellt, da Sexualhormone ein Leben Geschlechtsdimorphismen
lang die Morphologie des Gehirns verändern kön-
nen und somit die Unterscheidung zwischen »or- Studien zu Gehirngrößenunterschieden zwischen
ganisierend« und »aktivierend« kaum noch Sinn Männern und Frauen haben eine lange Tradition
macht. Trotzdem gebraucht man noch beide Be- und wurden früher mit einfachen volumetrischen
griffe, sieht sie aber als fließende Übergänge. Auch Techniken durchgeführt. Aus dieser Zeit stam-
die Ansicht, dass Sexualdimorphismen extrem men die Beobachtungen, dass Männer ein größeres
5.2 · Neokortex
89 5

und schwereres Gehirn haben als Frauen (Broca Bildgebende Verfahren konnten in den letzten Jah-
1861). Spätere Studien erkannten, dass Hirngröße ren weitere Evidenzen für Geschlechtsunterschiede
mit Körpergröße kovariiert und somit der Ge- in der Hirnorganisation zusammentragen. Nopou-
schlechtsunterschied evtl. eine simple Folge des los et al. (2000) und Carne et al. (2006) wiesen nach,
Größenunterschieds zwischen den Geschlechtern dass der von Pakkenberg und Gundersen (1997)
sein könnte (Zusammenfassung in Ankney 1992). berichtete Geschlechtsunterschied im Kortex be-
Hirngröße und Hirngewicht sind allerdings ein stätigt werden, im Kleinhirn aber kein entspre-
grobes und letztendlich nichts sagendes Maß. Ein chender Sexualdimorphismus gefunden werden
sinnvoller Geschlechtsvergleich sollte stattdessen kann. Das bedeutet, dass das männliche Gehirn
die Feinstruktur des Gehirns quantitativ erfassen. nicht insgesamt größer ist, sondern nur bezüglich
Dies ist allerdings nicht einfach. seiner Hirnrinde mehr Neurone aufweist. Auch die
Erstens ist es praktisch unmöglich, die Anzahl Messungen im Kernspintomographen zeigen, dass
der Neuronen im menschlichen Gehirn zu zählen. dieser Geschlechtseffekt nicht durch die unter-
Allein der menschliche Neokortex besitzt mehr als schiedliche Körpergröße von Frauen und Männern
20 Milliarden Nervenzellen (Pakkenberg u. Gun- entsteht (Raz et al. 2004). Obwohl Frauen einen et-
dersen 1997). Die Anzahl der Körnerzellen im was höheren Anteil von grauer zu weißer Substanz
Kleinhirn liegt sogar um 110 Milliarden (Andersen haben, sind die absoluten Werte sowohl für die
et al. 2003). Ihr Auszählen würde selbst für ein graue Substanz als auch für das Gesamtvolumen
einziges Gehirn Jahrtausende erfordern. Man muss des Neokortex bei Männern höher (Lemaitre et al.
also Proben entnehmen und von der Auszählung 2005; Luders et al. 2005). Zwar haben Frauen ein
dieser Proben auf das Gesamtgehirn schließen. komplexeres Faltungsmuster im superiofrontalen
Zweitens ergeben sich durch den Wasserverlust und parietalen Kortex, aber dieses Faktum besagt
des Gehirns während der Vorbereitung für die His- nur etwas über die dreidimensionale Anordnung
tologie morphometrische Probleme. Durch diese des Kortex und nichts über seine Volumenmaße
Hirnschrumpfung überschätzt man die Zellzahlen (Luders et al. 2004). Aus diesen Resultaten ergeben
im lebenden Gehirn, wenn man nur die Anzahl der sich zwei verschieden Fragen:
Neuronen im (geschrumpften) mikroskopischen ▬ Welche Faktoren erzeugen diese neokortikalen
Hirnschnitt zählt und dann auf das Lebendvolu- Sexualdimorphismen?
men hochrechnet. Auch das Mehrfachzählen von ▬ Welche funktionellen Konsequenzen haben sie?
Nervenzellen in aufeinander folgenden Schnittse-
rien ist sehr wahrscheinlich und muss mit geeigne- Geschlechtsunterschiede in der Größe des Neo-
ten Korrekturfaktoren kontrolliert werden. kortex sind schon wenige Jahre nach der Geburt

Messung der Neuronenzahl

Pakkenberg und Gundersen (1997) arbeiteten die Korrelation auf r=0,30, ist aber immer noch
mit dem »optischen Dissektor«, dem modernsten signifikant. Wird sie allerdings für das Geschlecht
und zuverlässigsten morphometrischen Verfah- korrigiert, sinkt sie auf r=0,10 und ist nicht mehr
ren, und berichteten, dass der weibliche Neo- signifikant. Das Geschlecht ist der bedeutendste
kortex durchschnittlich 19,3 und der männliche Prädiktor für Hirngröße und diese beiden Vari-
22,8 Milliarden Nervenzellen beherbergt. Dies ablen korrelieren mit 0,47. Der Geschlechtsun-
ist ein Unterschied von 16%. Im Alterszeitraum terschied in der Neuronenzahl des Neokortex ist
von 20–70 Jahren verlieren beide Geschlechter somit ein Faktum, dass nicht durch das größere
ungefähr 10% neokortikale Neurone, also ca. Körpergewicht von Männern erklärt werden
85.000 pro Tag. Die neokortikale Zellzahl und Kör- kann, sondern unabhängig davon besteht. Dies
pergröße korrelieren mit r=0,39. Wird dieser Zu- bestätigt auch eine große Zahl früherer Studien
sammenhang für den Altersabbau korrigiert, sinkt (Breedlove 1994).
90 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

nachweisbar (Giedd et al. 1996). Das bedeutet, ten IQ-Test, dem Stanford-Binet, leichte Vorteile
dass die geschlechtsabhängige Differenzierung der (Hines 2004).
Hirnrinde entweder direkt genetisch kodiert wird Nach wie vor lässt sich die Frage nach mög-
oder indirekt über die pränatalen männlichen oder lichen Intelligenzunterschieden zwischen den
weiblichen Sexualhormone entsteht. Tatsächlich ist Geschlechtern nicht befriedigend beantworten.
die kortikale Dichte gonadaler Rezeptoren vor der Neuroanatomische Geschlechtsunterschiede sind
Geburt maximal (Clark et al. 1988). Zudem entfal- biologische Phänomene. Intelligenz ist dagegen ein
ten Sexualhormone während der frühen Hirnent- psychologisches Konstrukt, dessen Messung mit
wicklung unumkehrbare Wirkungen auf die Hirn- Annahmen und Operationalisierungen verbunden
morphologie (Pilgrim u. Hutchison 1994). Außer- ist. Heutige Verfahren sind meist so konstruiert,
5 dem zeigen sich anatomische Sexualdimorphismen dass sie keine Geschlechtsunterschiede erzeugen.
vor allem in Hirnregionen, in denen die Dichte der Man kann natürlich Intelligenztests entwerfen, die
Androgenrezeptoren sehr hoch ist (Goldstein et durch den Einsatz geschlechtssensitiver Subtests
al., 2001). All dies macht es wahrscheinlich, dass Frauen bzw. Männer bevorzugen. Ein objektiver
Geschlechtsunterschiede in der Hirnorganisation Standard für die Messung von Geschlechtsunter-
durch die pränatale Wirkung von Sexualhormo- schieden in der Intelligenz existiert somit nicht.
nen bedingt sind (Kawata 1995).
Das Hirnvolumen korreliert positiv mit dem
Kopfumfang (Wickett et al. 2000), Anzahl neokor- 5.2.2 Kortikale Subregionen
tikaler Neurone (Pakkenberg u. Gundersen 1997),
Geschlecht (Luders et al., 2005) und Intelligenz Analysiert man die neokortikalen Regionen im
(Andreasen et al. 1993), aber nicht mit dem sozi- Einzelnen, zeigt sich, dass es einige kritische Regi-
oökonomischen Status der Person (Ivanovic et al. onen gibt, die regionale Geschlechtsunterschiede
2004). Sowohl der Zusammenhang zwischen Hirn- aufweisen (⊡ Abb. 5.1).
volumen und Geschlecht (Pakkenberg u. Gunder-
sen 1997) als auch der zwischen Hirnvolumen Planum temporale. Ein kritisches Areal für Ge-
und Intelligenz (Wickett et al. 2000) liegen bei ca. schlechtsdimorphismen ist das Planum temporale,
r=0,50. Kann man dann auch einen Zusammen- ein posterior des auditorischen Kortex gelegenes
hang zwischen Geschlecht und Intelligenz erwar- Areal auf der Oberfläche des Gyrus temporalis
ten? Es gibt keine starken Evidenzen für diesen superior. Traditionell wird angenommen, dass das
Zusammenhang (Mackintosh 1998). Allerdings Planum temporale mit Sprachprozessen in Zusam-
argumentiert Lynn (1994), dass dies daran liegt, menhang steht, da es zum Teil mit dem Wernicke-
dass bei der Erstellung des am häufigsten ver- Areal überlappt (Moffat et al. 1998; doch siehe
wendeten Intelligenztests, dem Wechsler IQ-Test, Habib u. Robichon 2003). Das Planum temporale
diejenigen Subkomponenten entfernt wurden, die ist bei den meisten Menschen linkshemisphärisch
einen starken Geschlechtsunterschied zugunsten größer (Geschwind u. Levitsky 1986). Diese Asym-
von Männern erzeugen. Tatsächlich wird der men- metrie scheint bei Frauen aber signifikant reduziert
tale Rotationstest, der die deutlichsten Geschlech- zu sein (De Courten-Meyers 1999; Shapleske et
tseffekte zeigt, in den meisten IQ-Verfahren nicht al. 1999; doch siehe Zaidel et al. 1995) oder so-
eingesetzt. Obwohl somit viele Intelligenztests so gar vollständig zu fehlen (Kulynych et al. 1991).
konzipiert wurden, dass sie Geschlechtsunter- Die reduzierte Asymmetrie des Planum temporale
schiede minimieren, gibt es trotzdem Evidenzen, könnte evtl. mit der geringeren Sprachasymmetrie
dass Männer einen leichten IQ-Vorteil von bis zu von Frauen in Zusammenhang stehen (McGlone
4 Punkten haben (Lynn 1994; Alexopoulos 1996). 1977). Darüber hinaus findet man Geschlechts-
Eventuell spiegelt dieser leichte Intelligenzvorteil unterschiede auch in dem zytoarchitektonischen
die größere Anzahl neokortikaler Neurone im Ge- Aufbau des Planum temporale (Witelson et al.
hirn von Männern wieder. Auf der anderen Seite 1995). Die Schichten II und IV weisen bei Frauen
haben Frauen in einem anderen häufig verwende- eine höhere Packungsdichte auf. Da in Lamina IV
5.2 · Neokortex
91 5

⊡ Abb. 5.1. Schematische Darstellung der Hirnregionen, bei bar). Die mit A und B gekennzeichneten Striche geben zwei
denen sich Geschlechtsunterschiede nachweisen lassen. Oben Frontalschnittebenen wieder, bei denen unten ein kleiner
sind zwei Hirnhälften dargestellt, wobei die linke in seitlicher Ausschnitt in Vorderansicht gezeigt wird. Die Schnittebene B
und die rechte in medialer Ansicht vorliegt. Der Pfeil auf das wird rechts unten noch weiter vergrößert, um die Details der
Planum temporale verweist eigentlich auf den Sulcus lateralis präoptischen Region zu zeigen. Nur die im Text besprochenen
auf dem das Planum temporale aufliegt (hier nicht sicht- Strukturen wurden in den Teilabbildungen bezeichnet
92 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

die Fasern aus dem Thalamus terminieren, könnte differenzen (Holloway et al. 1993) während andere
dieser Sexualdimorphismus auf geschlechtsspezi- nur sehr geringe (Constant u. Ruther 1996; Matano
fische Unterschiede in der Verarbeitung auditori- u. Nakano 1998) oder gar keine Geschlechtsun-
scher Informationen im Sprachsystem hindeuten. terschiede im Corpus callosum beobachtet haben
Hutsler und Galuske (2003) zeigten, dass sich im (Aboitiz et al. 1992; Hopper et al. 1994; Weis et al.
Wernicke-Areal Kolumnen von Neuronen nach- 1989).
weisen lassen, die konstante Abstände zueinander Auch Metaanalysen brachten keine Klarheit.
aufweisen. Linksseitig sind die Abstände zwischen Auf der Basis von 43 Studien finden Driesen u. Raz
diesen Kolumnen größer und könnten somit mehr (1995), dass das relative Ausmaß des Corpus callo-
Verarbeitungsraum für den auditorischen Input sums bei Frauen größer ist, das absolute hingegen
5 aus dem Thalamus bereitstellen. Eine höhere Pa- bei Männern. Im Gegensatz fanden Bishop und
ckungsdichte in dieser Eingangsschicht bei Frauen Wahlsten (1997) in ihrer Metaanalyse von 49 Stu-
würde evtl. somit eine weniger differenzierte Ana- dien weder absolute noch relative Geschlechtsun-
lyse des frequenzspezifischen Inputs bedeuten. terschiede in der Form oder Größe des Spleniums.
Tierexperimentelle Untersuchungen weisen auf
Sulcus centralis. Der Sulcus centralis markiert die Wirkung gonadaler Steroidhormone wie Östra-
die Grenze zwischen Frontal- und Parietalkortex. diol oder Testosteron, die Geschlechtsunterschiede
Rechtshändige Männer weisen einen deutlich tie- im Corpus callosum erzeugen könnten (Fitch u.
feren Sulcus centralis in der linken Hemisphäre Denenberg 1998; Mack et al. 1993; Nunez u. Jura-
auf als in der rechten. Dieser Geschlechtsdimor- ska 1998). In einer Humanstudie, an der 70 männ-
phismus interagiert mit Händigkeit, sodass die liche Versuchspersonen teilnahmen, korrelierte die
Asymmetrie des Sulcus centralis bei rechtshändi- Konzentration von Testosteron der untersuchten
gen Männern mit zunehmender Linkshändigkeit Probanden mit der Morphologie des posterioren
abnimmt und 62% der konsistent linkshändigen Teils des Corpus callosums (Moffat et al. 1997).
Männer sogar eine invertierte Asymmetrie zeigen. Die Autoren vermuten, dass dem Steroidhormon
Frauen zeigen keine entsprechende Asymmetrie Testosteron während einer frühen Phase der In-
(Amunts et al. 2000). dividualentwicklung eine bedeutende Rolle beim
Aufbau der callosalen Architektur zukommt.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass für ge-
5.2.3 Corpus callosum schlechtsspezifische Unterschiede des Corpus cal-
losums kein klares Bild existiert. Eventuell ließe
Das Corpus callosum verbindet die beiden korti- sich ein Teil der anatomischen Varianz reduzieren,
kalen Hemisphären miteinander (⊡ Abb. 5.1). Bis wenn das individuelle Niveau von Geschlechtshor-
zu 800 Millionen Fasern verlaufen durch diese monen stärker berücksichtigt werden würde.
Kommissur und machen sie zur größten inter-
hemisphärischen Verbindung des menschlichen
Gehirns (Aboitiz et al. 1992; Tomasch 1954). Der 5.3 Subkortikale Regionen
posteriore Teil des Corpus callosums (Isthmus und
Splenium) stellt die Interaktion zwischen den visu- Lange Zeit war unklar, wo man im Gehirn nach Se-
ellen Arealen sicher und scheint bei Frauen größer xualdimorphismen suchen muss. Das änderte sich,
zu sein (Clark u. Zaidel 1994; DeLacoste-Utamsing nachdem Hirnregionen gefunden wurden, deren
u. Holloway 1982; Holloway et al. 1993; Oka et al. Nervenzellen Rezeptoren für Sexualhormone be-
1999; Steinmetz et al. 1992). Prinzipiell könnte die- sitzen. Diese liegen vor allem in der Amygdala, in
ser Unterschied ein Artefakt sein, dass durch Ge- Kernen der präoptischen Region sowie im Bett-
hirngrößendifferenzen zwischen den Geschlech- nukleus der Stria terminalis (BNST). Tatsächlich
tern entsteht (Jäncke et al. 1997). Allerdings finden unterscheiden sich all diese Bereiche anatomisch
einige Autoren auch nach entsprechenden Hirn- zwischen Männern und Frauen. Und diese Areale
größenkorrekturen geschlechtsspezifische Größen- haben noch etwas gemeinsam: Sie alle verarbei-
5.3 · Subkortikale Regionen
93 5

ten bei Nagetieren wie z. B. Ratten und Hamstern Frauen sind z. B. in der Lage, den Zyklus von
Informationen über Pheromone, die ihnen das Frauen zu synchronisieren (McClintock 1984).
Vomeronasalorgan (VON) liefert. Pheromone aus dem männlichen Achselschweiß
Pheromone sind biochemische Substanzen, die führen bei Frauen und männlichen Homosexuellen
innerhalb einer Art für die soziale Kommunikation zu Aktivierungen in hypothalamischen Regionen,
verwendet werden. Das Riechen von Pheromonen die mit Sexualverhalten in Zusammenhang stehen
kann das sexuelle Interesse zwischen Männchen (Savic et al. 2005). Heterosexuelle Männer zeigen
und Weibchen wecken oder auch zwischen Männ- keine entsprechenden Aktivierungen. Das bedeu-
chen Aggressionshandlungen erzeugen. Pheromone tet, dass wir evtl. auch ohne ein funktionstüchtiges
werden durch das VNO an der Basis der Nasenöff- VNO Pheromone ähnlich verarbeiten wie Nager.
nung wahrgenommen. Das VNO projiziert dann Wahrscheinlich hat unser primäres olfaktorisches
direkt bzw. über den akzessorischen olfaktorischen System im Laufe der Evolution die Fähigkeit er-
Bulbus zu den oben aufgelisteten Strukturen des worben, Pheromone zu verarbeiten. Da diese bei
Gehirns (Guillamón u. Segovia 1997). Der Sexual- Frauen und Männern unterschiedliche Wirkungen
dimorphismus des gesamten Systems ist bei Ratten haben, besitzen wir zusätzlich die Sexualdimor-
wahrscheinlich eine Folge seiner Einbettung in das phismen der Amygdala, des Bettnukleus der Stria
pheromonale System, da alle Strukturen, die sich terminalis und der präoptischen Region. Von die-
zwischen Männchen und Weibchen unterscheiden, sen Strukturen wird nun die Rede sein.
Pheromoneindrücke verarbeiten und Informatio-
nen aus dem VNO erhalten. Bei Menschen ist die
Situation merkwürdig: Unser VNO scheint nicht 5.3.1 Bettnukleus der Stria terminalis
mehr funktionstüchtig zu sein und trotzdem be-
sitzen wir noch die Sexualdimorphismen in seinen Der Bettnukleus der Stria terminalis (BNST) liegt
früheren Projektionszielen. Wie kommt das? im ventralen Vorderhirn und kommuniziert über
Das menschliche VNO findet sich noch bei den die Stria terminalis mit der medialen Amygdala
meisten Individuen (Knecht et al. 2001), hat aber (⊡ Abb. 5.1). Dichte und Verteilung von Andro-
keine Verbindungen mehr zum Gehirn (Keverne gen- und Östrogenrezeptoren in der BNST sind
2002). Genetische Studien zeigen, dass Vorfahren bei Frauen und Männern unterschiedlich (Fern-
der Altweltaffen, aus denen sich dann später Men- andez-Guasti et al. 2000; Kruijver et al. 2003).
schenaffen und auch der Mensch entwickelten, Zwei Forschungsgruppen konnten zeigen, dass die
vor ca. 23 Millionen Jahren die Fähigkeit verlo- Volumina von Unterregionen der BNST bei Män-
ren, Pheromone im VNO zu verarbeiten (Zhang nern größer sind als bei Frauen (Allen u. Gorski
u. Webb 2003). Fast zeitgleich entwickelte sich 1990; Zhou et al. 1995). Die Situation bei Ratten
bei Altweltaffen das trichromatische Farbsehen ist identisch, nur dass hier in anderen Subregionen
(und somit die Möglichkeit, die Farbe Rot wahr- der BNST auch größere Volumina für Weibchen
zunehmen) sowie die stark durchbluteten genita- gefunden wurden und gezeigt werden konnte, dass
len Schwellungen während der geschlechtsbereiten diese Geschlechtsdimorphismen von frühen orga-
Tage bei Weibchen (die von Männchen als Auffor- nisierenden Effekten der Sexualhormone abhängen
derung wahrgenommen werden). Wahrscheinlich (Guillamón u. Segovia 1997). Bei Menschen belegt
durchliefen unsere Vorfahren eine Veränderung, die Arbeit von Zhou et al. (1995), dass bei Mann-
an deren Ende nicht mehr olfaktorische, sondern zu-Frau-Transsexuellen die Größe des BNST dem
visuelle sexuelle Signale verwendet wurden. Das von Frauen entsprach. Da diese Struktur nicht
VNO verlor seine Bedeutung und ist heute bei durch spätere Hormonsubstitutionen zu schrump-
Erwachsenen nicht mehr sexualdimorph, obwohl fen scheint und nicht mit der sexuellen Orientie-
es während der fötalen Entwicklung noch Ge- rung kovariiert, könnte der Größenunterschied et-
schlechtsunterschiede aufweist (Smith et al. 1997). was mit der Geschlechtsidentität zu tun haben. Bei
Und trotzdem reagieren wir auf einige Phe- Ratten zeigen Neurone des BNST erhöhte Aktivität
romone. Pheromone aus dem Achselschweiß von beim Riechen von Weibchen, die geschlechtsbereit
94 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

sind (Kelliher et al. 1999). Läsionen der BNST füh- von Adrenalin die Amygdala erreichen. Tatsächlich
ren zu der Unfähigkeit der Männchen, nur durch moduliert Adrenalin die peripheren Anteile des
diese Geruchsstoffe eine Erektion zu erzielen (Liu Vagusnervs. Dieser projiziert u. a. auf den Nuc-
et al. 1997). leus solitarius des Hirnstamms, der wiederum mit
noradrenergen Fasern in die Amygdala projiziert
(McGaugh et al. 1996).
5.3.2 Amygdala Die Wirkung dieser noradrenergen Projektion
kann durch den β-adrenerge Antagonisten Propra-
Goldstein et al. (2001) wiesen nach, dass bei Män- nolol beeinflusst werden. Wenn direkt nach einer
nern das Volumen der Amygdala relativ zum Ge- Lernsitzung Propranolol in die Amygdala injiziert
5 samtvolumen des Gehirns größer ist. Die Amyg- wird, entfällt die gedächtnisfördernde Wirkung
dala ist ein aus vielen Substrukturen zusammen- der Adrenalinvergabe (Liang et al. 1986). Dem-
gesetzter Bereich des limbischen Systems, das nach moduliert das Nebennierenmark über die
sowohl mit der Verarbeitung emotionaler Prozesse Adrenalinfreisetzung indirekt die Amygdala. Die
als auch mit der emotionsabhängigen Konsolidie- Projektionen der Amygdala zum Hippokampus
rung von Gedächtnisinhalten in Zusammenhang und zum präfrontalen Kortex beeinflussen ent-
steht (⊡ Abb. 5.1). Im Folgenden soll besonders ihre sprechend dem Grad der emotionalen Erregung
Rolle bei der geschlechtsspezifischen Gedächtnis- die Konsolidierung der Gedächtnisbildung.
modulation dargestellt werden. Diese tierexperimentellen Ergebnisse legten
Emotionale Erregung, wie z. B. beim Betrach- die Grundlage für Untersuchungen am Menschen.
ten einer schrecklichen Filmszene, führt zur Ak- Cahill et al. (1994) lasen ihren Versuchspersonen
tivierung der Amygdala (Canli et al. 2002). Diese zwei Geschichten vor, die mit jeweils 12 Bildern
wiederum moduliert andere Hirnstrukturen, die illustriert waren. Eine der Geschichten war emotio-
an der Bildung von Gedächtnisspuren zu dieser nal neutral, die andere aufwühlend. Allerdings war
Filmszene beteiligt sind (McGaugh et al. 1996). die emotionale Geschichte nur in ihrem mittleren
Das bedeutet, dass die Amygdala nicht bei allen Handlungsstrang aufregend, während Anfang und
Gedächtnisbildungsprozessen involviert ist, son- Ende der Handlung neutral waren. Während der
dern nur bei solchen mit emotionaler Bedeutung. Sitzung bekamen die Versuchspersonen entweder
Ferner scheint die Amygdala nicht beim Abruf, Propranolol oder ein Plazebo. Eine Woche später
sondern nur bei der Bildung emotional getönter erinnerte sich die die Plazebogruppe besonders
Gedächtnisinhalte eine Rolle zu spielen. Wie dies an den aufwühlenden Mittelteil der emotionalen
passiert, konnte zu einem großen Teil im Tierexpe- Geschichte und weniger an den Anfangs- oder
riment geklärt werden. Schlussteil. Die Propranololgruppe zeigte eine re-
Das Adrenalin des Nebennierenmarkes wird duzierte Erinnerung für den mittleren Teil des
vor allem in stressinduzierenden Lernsituationen emotionalen Films, konnte sich aber an alles an-
freigesetzt (McCarty und Gold 1981). Adrenali- dere sehr gut erinnern. In einer nachfolgenden
ninjektionen nach Lernsitzungen erhöhen den Er- Studie konnte bei einer Patienten, die praktisch
innerungserfolg (McGaugh 1983). Die gedächtnis- keine Amygdala mehr besaß, ein ähnlicher Effekt
fördernde Wirkung von Adrenalin scheint durch gezeigt werden (Cahill et al. 1995).
die Amygdala vermittelt zu sein, da die elektrische Schauen Versuchspersonen einen emotional
Reizung der Amygdala die Gedächtniskonsolidie- aufwühlenden Film an oder betrachten sie absto-
rung verändert und diese Wirkung durch periphere ßende bzw. sexuell erregende Bilder, kommt es zur
Adrenalinvergabe nach dem Lernen moduliert Aktivierung der Amygdala. Bei Männern ist diese
wird (Liang et al. 1985). Läsionen der Amygdala Aktivierung hauptsächlich rechtsseitig, bei Frauen
verhindern diesen gedächtnisfördernden Effekt linksseitig (Canli et al. 2002; Cahill et al. 2004). Je
der Adrenalinvergabe. Da Adrenalin nur marginal größer die rechtsseitige (bei Männern) bzw. die
die Blut-Hirn-Schranke passiert, müssen die im linksseitige (bei Frauen) amygdaläre Aktivierung
peripheren Nervensystem vermittelten Wirkungen ist, desto besser können sich die Versuchsperson
5.3 · Subkortikale Regionen
95 5

an die gesehenen Szenen erinnern (Cahill et al. männliche Rattenjungen früh kastriert, entspra-
2001). Aus der Forschung zur Asymmetrie der chen ihre Synapsen denen von Weibchen. Beka-
visuellen Informationsverarbeitung ist bekannt, men weibliche Rattenjungen Androgene, entwi-
dass die linke Hemisphäre eine Tendenz zur Ana- ckelte sie als ausgewachsene Tiere ein männliches
lyse lokaler Stimuluskomponenten hat, während Synapsenmuster. Diese Arbeit war die Initialzün-
rechtshemisphärisch eher globale Musteranteile dung für Untersuchungen zu morphologischen
verarbeitet werden (Evert u. Kmen 2003). Die Geschlechtsunterschieden in subkortikalen Regi-
Links-rechts-Unterschiede der Amygdalaakti- onen.
vierung könnten evtl. implizieren, dass Frauen Die POA liegt vor und über der Kreuzung
bei emotional erregenden Ereignissen die Ten- der optischen Nerven (optisches Chiasma) und
denz haben, Stimulusdetails zu speichern, wäh- bildet den vorderen Abschluss des Hypothalamus
rend Männer eher allgemeine Zusammenhänge (⊡ Abb. 5.1). Sie beherbergt eine Vielzahl von Ker-
enkodieren. Cahill und van Stegeren (2003) tes- nen, die wahrscheinlich mit verschiedenen Aspek-
teten diese Hypothese, indem sie weiblichen bzw. ten des Sexualverhaltens assoziiert sind (Baltha-
männlichen Versuchspersonen Propranolol bzw. zart et al. 1998). Entsprechend unterscheiden sich
Plazebo verabreichten und sie dann eine emotio- Männer und Frauen in der Dichte und Verteilung
nale Geschichte hören ließen. Eine Woche später von Androgen- und Östrogenrezeptoren in die-
wurden die Versuchspersonen unerwartet auf ihre sem Bereich des Hypothalamus (Fernandez-Gu-
Erinnerungen zu dem Film befragt. Tatsächlich asti et al. 2000; Kruijver et al. 2003). 1978 ent-
erinnerten sich in der Propranololgruppe Frauen deckten Gorski et al., dass bei männlichen Ratten
weniger häufig an periphere Details und Männer ein Kern im medialen Aspekt der POA sechsmal
seltener an zentrale Elemente. so groß ist wie bei Weibchen. Sie nannten diese
Zusammengefasst ergibt sich folgendes Sze- Struktur den sexually dimorphic nucleus des
nario: Emotional aufwühlende bzw. stressindu- POA (SDN-POA). Entsprechend den Konzepti-
zierende Situationen führen zu einer Freisetzung onen der »organisierenden« Effekte von Sexual-
von Adrenalin in der Nebennierenrinde. Das im hormonen reduziert eine Kastration männlicher
Blut zirkulierende Adrenalin aktiviert den Nervus Ratten die Vergrößerung der SDN-POA bei der
vagus, welcher über den Nucleus solitarius die Geburt, während die Vergabe von Androgenen bei
Prozesse der Amygdala moduliert. Abhängig vom der Geburt zu einer Vergrößerung dieser Struktur
Grad der Erregung können die Projektionen der bei weiblichen Ratten führt. Offensichtlich führt
Amygdala in den Hippokampus und das Fron- die Anwesenheit von Androgenen im männlichen
talhirn den Grad der Gedächtniskonsolidierung Embryo zu einer Erhöhung der Neuronenanzahl
für das emotionale Ereignis beeinflussen. Dadurch, von neugeborenen Neuronen, die in den SDN-
dass bei Frauen die amygdaläre Aktivierung primär POA einwandern, während beim weiblichen Jung-
linksseitig ist, neigen Frauen dazu, die Details eines tier mehr Neurone absterben (Jacobson u. Gorski
emotionalen Ereignisses zu behalten. Die rechts- 1981). Dadurch maximiert sich der Unterschied in
seitige amygdaläre Aktivierung bei Männern führt der Anzahl der SDN-POA-Neurone zwischen den
dagegen eher zu einer Speicherung essenzieller Geschlechtern.
Hauptmerkmale des Ereignisses. Bei sexuell unerfahrenen männlichen Ratten
führen Läsionen der SDN-POA zu einer verzöger-
ten Kopulation mit geschlechtsbereiten Weibchen
5.3.3 Präoptische Region sowie zu einer Verlängerung der Zeit bis zur Eja-
kulation (De Jonge et al. 1989). Es ist sehr wahr-
Im Jahre 1971 entdeckten Raisman und Field, scheinlich, dass diese Verhaltenseffekte nicht das
dass sich die Proportionen unterschiedlicher Sy- Resultat motorischer, sondern motivationaler Na-
napsentypen in der Grenzregion der präoptischen tur sind. Männliche Tiere mit SDN-POA-Läsionen
Region (POA) zum BNST zwischen weiblichen haben kein Interesse, sich in der Nähe geschlechts-
und männlichen Ratten unterschieden. Wurden bereiter Weibchen aufzuhalten (Balthazart et al.
96 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

1998). Sexuelle Handlungen führen bei Männchen 5.3.4 Nucleus bulbocavernosus


zu einer dramatischen neuralen Aktivierung der
SDN-POA (Mas 1995), und eine Kopulation zieht Die Musculi bulbocavernosus und ischiocaverno-
einen erhöhte metabolischen Umsatz nach sich sus sind bei Männern mit der Basis des Penis und
(Wood u. Newman 1993). bei Frauen mit der Basis der Klitoris verbunden.
Der bei Weibchen wesentlich kleinere SDN- Die Motoneurone, die die Kontraktion des M. bul-
POA spielt ebenfalls bei der Regulation des Sexual- bocavernosus kontrollieren befinden sich am medi-
verhaltens eine Rolle, wenn auch deutlich anders als alen Rand des spinalen Ventralhorns im lumbalen
bei Männchen. Läsionen dieser Struktur bei weib- Rückenmark (⊡ Abb. 5.1). Sie bilden einen eigenen
lichen Ratten führen zur Auslösung der Lordosis, Hirnkern, den spinalen Nucleus des bulbocaver-
5 eine Aufforderungshandlung zur Kopulation, bei nosus (SNB). Da die entsprechenden Muskeln bei
der das Weibchen ihr Hinterteil und den Schwanz Männern wesentlich größer sind, ist der männliche
hebt, damit es vom Männchen bestiegen werden SNB größer als der weibliche (Forger et al. 1992).
kann. Offensichtlich liegt die Funktion der SDN- Bei Ratten haben die Weibchen keine entsprechen-
POA im intakten weiblichen Tier in der Hemmung den Muskeln und daher vermutlich als adulte Tiere
der Lordosis (McCarthy und Becker 2002). keinen SNB. Sie werden aber mit einem SNB und

Nucleus interstitialis des anterioren Hypothalamus

Auch bei Menschen findet sich ein Sexualdi- bei homosexuellen Männern signifikant kleiner
morphismus in der Region, die dem SDN-POA ist als bei heterosexuellen und ungefähr das
der Ratte entspricht. Hier liegen vier kleine Volumen aufweist wie bei Frauen (über die se-
Hirnkerne, die von Allen und Gorski (1991) Nu- xuelle Orientierung dieser Frauen hatte er keine
cleus interstitialis des anterioren Hypothalamus Auskunft). Potenzielle hirnstrukturelle Verände-
1–4 (INAH 1–4) benannt wurden. INAH 1–4 rungen in Folge einer AIDS Erkrankung konnten
beim Menschen zeigen die gleichen neuroche- ausgeschlossen werden. Zehn Jahre später un-
mischen Merkmale wie SDN-POA bei Ratten tersuchte ein neues Team von Wissenschaftlern
(Gao u. Moore 1996). INAH 3 ist bei männlichen mit wesentlich mehr Gehirnen von hetero- und
Rhesusaffen (Byne 1998) und Männern (Byne homosexuellen Menschen die präoptische
et al. 2000) größer und hat mehr Nervenzellen Region. Sie bestätigten, dass der INAH 3 bei
als bei Frauen. Allerdings entsteht der Sexual- Männern signifikant größer ist und mehr Neu-
dimorphismus bei Menschen zwischen dem 4. ronen beinhaltet. Auch in dieser Studie konnten
und 10. Lebensjahr (Swaab et al. 1992) und somit potenzielle Effekte durch AIDS ausgeschlossen
deutlich nach der Hauptwirkung embryonaler werden. Homosexuelle Männer hatten eine
bzw. fötaler organisierender Effekte durch Sexu- deutliche Tendenz zu einem kleineren INAH-3-
alhormone. Es ist somit möglich, dass zwar die Volumen als heterosexuelle Männer, die Anzahl
Grundlage des Geschlechtsunterschieds in der der Nervenzellen war aber nicht unterschiedlich.
menschlichen präoptischen Region früh ange- Insgesamt bedeuten diese Ergebnisse, dass nicht
legt wird, aber erst spät nachweisbar ist. Es ist nur das Geschlecht, sondern auch die sexuelle
allerdings auch denkbar, dass Androgene den Orientierung eine Größendifferenz im Volumen
Sexualdimorphismus erst in späteren Entwick- von neuronalen Strukturen in der präoptischen
lungsphasen bedingen und somit Umweltein- Region nach sich ziehen könnte. Da nicht die
flüssen unterliegen können (Cooke et al. 1999). Zellzahl betroffen ist, sondern das Volumen,
Im Jahre 1991 konnte LeVay bestätigen, dass resultiert der Unterschied wahrscheinlich aus
INAH 3 bei Männern größer ist als bei Frauen. Differenzen in dem Raum, den dendritische und
Darüber hinaus zeigten seine Daten, dass INAH 3 axonale Verschaltungen einnehmen.
5.4 · Zerebrale Asymmetrien
97 5

den entsprechenden Muskeln geboren. Eine Wo- und entspricht dem Prinzip der organisierenden
che nach der Geburt sterben sowohl Muskeln als Effekte. Einige kritische Regionen für solche struk-
auch der SNB ab (Rand u. Breedlove 1987). Eine turelle Asymmetrieunterschiede zwischen Män-
einzige Testosteroninjektion bei Weibchen sichert nern und Frauen wurden bereits in  Kap. 5.2.2
das Überleben des SNB (Breedlove und Arnold besprochen. Die asymmetrische Interaktionsebene
1983). Hierbei wird auch das Überleben der Mus- resultiert dagegen aus dem momentanen kommis-
keln gesichert. Die Motorneurone sterben deshalb suralen Austausch zwischen den Hemisphären und
nicht ab, weil ihre Zielmuskeln erhalten bleiben kann dynamisch über kurze Zeitabstände variie-
(Fishman u. Breedlove 1988). ren. Tatsächlich gibt es einige Evidenzen für asym-
metrische Interaktionen über das Corpus callosum
(Marzi et al. 1991; Novicka et al. 1996; Nalcaci et
5.4 Zerebrale Asymmetrien al. 1999). Geschlechtsunterschiede könnten somit
sowohl eine strukturelle (statische und überdau-
Frauen und Männer unterscheiden sich bei einigen ernde) als auch eine dynamische (kurzfristig ver-
verbalen und räumlichen kognitiven Fähigkeiten änderbare) Ebene besitzen. Die dynamische Ebene
( Kap. 6). Sowohl verbale (primär linkshemisphä- kann durch die momentane Konzentration von
rische) als auch räumliche (primär rechtshemis- Sexualhormonen moduliert werden und variiert
phärische) Verarbeitungsprozesse sind lateralisiert somit z. B. bei Frauen über den Zyklus. Dieser Zu-
(Hugdahl u. Davidson 2002). Die Mehrzahl der sammenhang soll nun erläutert werden.
Untersuchungen weist zudem daraufhin, dass die Zerebrale Asymmetrien verändern sich bei
Lateralisation dieser Funktionen bei Männern stär- Frauen über die verschiedenen Phasen des Mens-
ker ausgeprägt ist als bei Frauen (McGlone 1980; truationszyklus. Allerdings liefern die bisherigen
Meinschaefer et al 1999; Rasmjou et al. 1999). Nach Studien ein recht heterogenes Bild bezüglich der Art
lokalisierten Hirnläsionen zeigen z. B. Männer stär- und Richtung der Veränderungen. Einige Untersu-
kere verbale Defizite nach linkshemisphärischen chungen fanden die größten Hemisphärenasymme-
Schädigungen und ausgeprägtere visuell-räumli- trien während der Zyklusphasen mit hohen Steroid-
che Defizite nach rechtshemisphärischen Läsionen, hormonkonzentrationen (meist mittluteale Phase)
während die Defizite für Frauen weniger hemisphä- (Objekterkennung: Bibawi et al. 1995; dichotisches
renspezifisch sind (McGlone 1977; Inglis u. Lawson Hören: Hampson 1990; Sanders u. Wenmoth 1998;
1981). Die Geschlechtsunterschiede bei Untersu- Linien halbieren: McCourt et al. 1997). In anderen
chungen an hirngesunden Probanden sind zum Teil Aufgaben erscheint dagegen zur gleichen Zyklus-
nicht sehr konsistent, lassen sich aber trotzdem in phase keine Asymmetrie (Gesichtserkennung: Bi-
Metaanalysen nachweisen (Voyer 1996). Wenn sich bawi et al. 1995; lexikale Entscheidung: Chiarello et
Männer und Frauen sowohl in einigen kognitiven al. 1989; Heister et a. 1989; Rode et al. 1995). Andere
Leistungen als auch in der Lateralisation dieser Fä- Studien finden die stärksten Lateralisationsmuster
higkeiten unterscheiden, ist es denkbar, dass die Ge- während der Menses (niedrigstes Hormonniveau
schlechtsunterschiede in den Asymmetrien und in von Östradiol und Progesteron) (Gesichtserken-
den kognitiven Leistungen kausal verknüpft sind. nung: Heister et al. 1989; Objektvergleich: Rode
Güntürkün und Hausmann (2003) entwickelten et al. 1995; dichotisches Hören von verbalen Sti-
auf Grundlage dieser Überlegungen und tierexpe- muli: Mead u. Hampson 1996; dichotisches Hören
rimenteller Evidenzen (Skiba et al. 2000; Keysers et von Musik: Sanders u. Wenmoth 1998). Sanders
al. 2000) das Konzept der dualen Kodierung zere- und Wenmoth (1998) beobachteten komplementäre
braler Asymmetrien. Es sieht vor, dass Lateralisati- Modulationen der Asymmetrien mit einem Rechts-
onen sowohl aus strukturellen Links-Rechts-Unter- Ohr-Vorteil für verbale Aufgaben während der mitt-
schieden des Gehirns als auch aus asymmetrischen lutealen Phase und einem Links-Ohr-Vorteil für
Interaktionen zwischen den Hemisphären resultie- dichotische Musikaufgaben während der Menses.
ren. Die strukturelle Ebene wird wahrscheinlich in Ein Teil der Widersprüche resultiert aus der
der frühen Ontogenese festgelegt, ist überdauernd Tatsache, dass nur die wenigsten Studien die Hor-
98 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

monkonzentrationen der Frauen zum Testzeit-


punkt tatsächlich gemessen haben. Da ein gro-
ßer Prozentsatz weiblicher Versuchspersonen ein
anderes Hormonbild zeigen, als aus der Angabe
ihres Zyklustages geschlussfolgert, ist die Kon-
trolle dieser Variable extrem wichtig (Gordon et
al. 1986). Außerdem testen alle diese Studien jede
Frau mehrmals zu hormonell distinkten Zyklus-
phasen. Diese Messwiederholung stellt aber eine
weitere konfundierende Variable dar, weil sie zu
5 »Carry-over-Effekten« führen kann (Hampson
1990; Hausmann u. Güntürkün 1999; Mead u.
Hampson 1996).
Die erste Studie, die all diese konfundierenden
Effekte kontrollierte, untersuchte funktionelle zere-
brale Asymmetrien bei spontanzyklischen Frauen
zur Menses und zur mittlutealen Zyklusphase mit ⊡ Abb. 5.2. Leistung der linken (LH) bzw. rechten Hemisphäre
sowohl links- (Wortvergleich) als auch rechtshe- (RH) junger Frauen während der Menses bzw. der lutealen
Phase ihres Menstruationszyklusses in einer Figurerkennungs-
misphärischen (geometrische Figuren und Ge-
aufgabe. Hierbei mussten die Versuchspersonen angeben,
sichterdiskrimination) visuellen Halbfeldaufgaben ob eine geometrische Figur, die sie sich einige Sekunden
(Hausmann u. Güntürkün 2000). Messungen der anschauten, identisch ist mit einer zweiten, die ihnen für
Speichel-Steroidhormonkonzentrationen sorgten Sekundenbruchteile im linken oder rechten visuellen Halb-
für die Post-hoc-Validierung der Zyklusphasen. feld dargeboten wurde. Die rechte Hirnhälfte ist bei solchen
Aufgaben überlegen. Dies zeigt sich bei jungen Frauen nur
Die Ergebnisse der jungen Frauen wurden mit de-
während der Hormonniedrigphase der Menses
nen von Männern und postmenopausalen Frauen
verglichen, die ebenfalls zweimal, mit einem In-
tertestintervall von 14 Tagen, mit diesen Aufgaben
getestet wurden. Die spontanzyklischen Frauen tägigen Abstand über einen Zeitraum von sechs
zeigten unabhängig von der verwendeten Aufgabe Wochen mit den drei bereits genannten visuellen
eine reduzierte zerebrale Asymmetrie zur mittlu- Halbfeldaufgaben untersucht wurden. Zu diesen
tealen Hormonhochphase, wohingegen deutliche 15 Messzeitpunkten wurden neben den Verhaltens-
Links-rechts-Unterschiede zur Menses auftraten daten Blutproben von jeder Probandin erhoben,
(⊡ Abb. 5.2). Männer und postmenopausale Frauen um die Serumkonzentrationen von Progesteron,
zeigten starke funktionelle zerebrale Asymmetrien, Östradiol, Testosteron, LH (luteinisierendes Hor-
die über beide Messzeitpunkte stabil blieben. In der mon) und FSH (follikelstimulierendes Hormon)
Gruppe der spontanzyklischen Frauen korrelierte zu ermitteln. Durch dieses Vorgehen gelang eine
Progesteron, in der figuralen Vergleichsaufgabe si- nahezu perfekte Validierung der Zyklusphasen.
gnifikant mit der Asymmetriestärke. Je höher die Erneut korrelierte Progesteron sowohl im Quer-
Konzentration von Progesteron bei der einzelnen schnitt als auch im Längsschnitt negativ mit der
Probandin war, umso stärker reduzierte sich die Asymmetriestärke in der figuralen Vergleichsauf-
funktionelle zerebrale Asymmetrie. gabe. Östradiol zeigte dagegen insbesondere im
Die meisten Experimente wählen zur Unter- Querschnittsdesign einen gleichgerichteten Effekt
suchung der Wirkung von Sexualhormonen auf auf beide Hemisphären und veränderte dadurch
Asymmetrien ein Querschnittsdesign, bei dem die zerebrale Asymmetrie nicht.
Frauen zu verschiedenen Phasen ihres Zyklus un- Aus diesen Daten wurde die Hypothese der
tersucht werden. Hausmann et al. (2002) unter- progesteronmodulierten interhemisphärischen
suchten diese Frage in einer Längsschnittstudie Interaktion formuliert (Hausmann u. Güntürkün
bei der 12 spontanzyklische Frauen in einem drei- 2000). Dieses Modell basiert auf der Annahme,
5.4 · Zerebrale Asymmetrien
99 5

dass der interhemisphärische Informationstrans- Wirkung von Progesteron und Östradiol (ähnlich
fer einen zentralen Mechanismus darstellt, um der mittlutealen Phase) die Glutamatrezeptoren
funktionelle zerebrale Asymmetrien zu generieren so herunterreguliert, wie durch Progesteron allein
bzw. aufrechtzuerhalten (Hellige 1993; Chiarello (Smith et al. 1987a).
u. Maxfield 1996). Da die linke und die rechte Hausmann et al. (2006) haben die Annahmen
Hemisphäre parallele und teilweise voneinander dieser Hypothese einer direkten physiologischen
unabhängige Prozessoren repräsentieren, werden Überprüfung mittels transkranieller Magnetstimu-
regulative Mechanismen notwendig, die die Out- lation unterworfen. Hierbei wurde bei 13 Frauen
puts der beiden Prozessoren koordinieren, selek- in drei verschiedenen Zyklusphasen der Motor-
tieren und integrieren. Die interhemisphärische kortex über der Repräsentation des kontralateralen
Inhibition könnte der Mechanismus sein, durch Daumens aktiviert. Da die kortikale Erregung als
den die Leistung des bilateralen Systems vereint Inhibition auch über das Corpus callosum auf die
wird (Chiarello u. Maxfield 1996). homotope kontralaterale Seite transferriert wird,
Die durch das Corpus callosum verlaufenden lässt sich die transkallosale Hemmung aus der
Axone stammen zu 95% von exzitatorischen glut- Länge der ipsilateralen »silent period« im Elek-
amatergen Pyramidalneuronen (Conti u. Manzoni tromyogramm des ersten M. interosseus des Dau-
1994). Trotzdem führt die kallosale Erregung durch mens abschätzen.
die sekundäre Aktivierung GABAerger Interneu- Die Studie zeigte, dass der interhemisphäri-
rone durch Pyramidalneurone der kontralatera- sche Transfer zyklusabhängig variiert und einen
len Seite (Toyama u. Matsunami 1976), zu einer Zusammenhang mit den Progesteron- und Öst-
weitverbreiteten Inhibition in der kontralateralen radiolkonzentrationen aufweist. In einer weiteren
Hemisphäre (Conti u. Manzoni 1994; Innocenti Studie (Hausmann et al., in Bearbeitung) wurde ein
1980). Das Corpus callosum übt demnach auf die einfaches Reaktionszeitparadigma (Poffenberger
kontralaterale Hirnhälfte keine einfache Exzita- 1912) verwendet, um die zyklusbedingten Verän-
tion oder Inhibition aus, sondern induziert dort derungen in der interhemisphärischen Transferzeit
ein kurzes exzitatorisches postsynaptisches Poten- (IHTT) mittels Elektroenzephalogramm (EEG) zu
zial, dem eine längere Inhibition folgt (Kawaguchi messen. Poffenberger nahm an, dass es möglich
1992). Unterbricht man pharmakologisch durch ist die Interhemisphärische Transferzeit abzuschät-
einen Non-NMDA-Glutamat-Rezeptorblocker den zen. Da sowohl die visuellen als auch die distal
Interhemisphärischen Transfer, unterbindet man motorischen Projektionen kontralateral verlaufen,
sowohl die kurze exzitatorische als auch die lange sollte die Hand schneller auf einen visuellen Reiz
inhibitorische Wirkung (Kawaguchi 1992). Dieser reagieren, der ihr im ipsilateral visuellen Halbfeld
Effekt könnte sich funktionell in schwächeren ze- präsentiert wurde (ungekreuzter Pfad). Muss die
rebralen Asymmetrien ausdrücken. Hand dagegen auf einen Reiz im kontralateral visu-
Physiologische Dosen von Progesteron be- ellen Halbfeld reagieren, (ungekreuzter Pfad) dann
sitzen ähnliche pharmakologische Eigenschaften sollte die Reaktion mit einer kurzen Verzögerung
(Smith et al. 1987a,b). Daraus lässt sich folgern, auftreten. Dieser Zeitunterschied zwischen der
dass Progesteron die kortikokortikale Transmis- gekreuzten und ungekreuzten Bedingung wurde
sion reduziert, indem es insbesondere die ex- als direkter Schätzer der IHTT angenommen. Die
zitatorische Antwort der Neurone auf Glutamat IHTT bei gesunden Probanden liegt zwischen 2
unterdrückt. Dieser Effekt könnte während der und 6 ms (Braun 1992). Auf der neuronalen Ebene
mittlutealen Phase des Menstruationszyklus zu lässt sich die IHTT durch die Messung der evozier-
einer funktionellen Entkopplung beider Hemis- ten Potenziale (EP) bestimmen. Die EP-IHTT über
phären und damit zu einer temporären Reduktion den okzipitalen und parietalen Hirnarealen werden
der funktionellen Asymmetrie führen. Obwohl abgeleitet von den frühen EP-Komponenten nach
Östradiol im Gegensatz zu Progesteron die neuro- lateraler Stimulation der visuellen Halbfelder und
nale Antwort auf Glutamat um bis zu 86% erhöht variieren über verschiedene Studien zwischen 5
(Smith et al. 1988), werden bei der kombinierten und 20 ms (Brown et al. 1994). Tatsächlich konnte
100 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

gezeigt werden, dass die EP-IHTT während der Literatur


lutealen Phase signifikant länger als während der
Menses ausfällt. Diese Ergebnisse unterstützen so- Aboitiz F, Scheibel AB, Fischer RS, Zaidel E (1992) Fiber com-
position of the human corpus callosum. Brain Research
mit die Annahme, dass die interhemisphärische In-
598:143–153
teraktion über den Menstruationszyklus variiert. Alexopoulos DS (1996) Sex differences and IQ. Pers Indiv Diff
Neuere Studien zu der aktivierenden Hormon- 20:445–450
effekten auf die funktionelle Hemisphärenasym- Allen LS, Gorski RA (1990) Sexual difference in the bed nucleus
metrie und die interhemisphärische Interaktion of the stria terminalis of the human brain. J Comp Neurol
302:697–706
deuten darauf hin, dass auch Östradiol in der Lage
Allen LS, Gorski RA (1991) Sexual dimorphism of the anterior
ist die Interaktion zwischen der linken und rech- commissure and massa intermedia of the human brain. J
5 ten Hemisphäre zu modulieren (Hausmann 2005; Comp Neurol 312: 97–104
Holländer et al. 2005). Diese aktuellen Befunde Amunts K, Jäncke L, Mohlberg H, Steinmetz H, Zilles K (2000)
könnten dafür sprechen, dass verschiedene Sexu- Interhemispheric asymmetry of the human motor cortex
related to handedness and gender. Neuropsychologia
alhormone durch ihre spezifischen neuromodula-
38:304–312
torischen Eigenschaften unterschiedliche Aspekte Andreasen NC, Flaum M, Swayze II V, O’Leary DS, Alliger R,
der interhemisphärischen Interaktion beeinflussen Cohen G, Ehrhardt J, Yuh WTC (1993) Intelligence and
können. Das Ziel zukünftiger Forschung wird es brain structure in normal individuals. Am J Psychiat
sein, diese spezifischen Hormonwirkungen zu be- 150:130–134
Andersen BB, Gundersen HJ, Pakkenberg B (2003) Aging of the
schreiben und das bisherige Modell zur hormon-
human cerebellum: a stereological study. J Comp Neurol
modulierten interhemisphärischen Entkopplung 466:356–365
zu präzisieren (Hausmann 2005). Ankney CD (1992) Sex differences in relative brain size: The
mismeasure of woman, too? Intelligence 16:329–336
Balthazart J, Absil P, Gerard M, Appeltants D, Ball GF (1998) Ap-
Fazit
petitive as well as consummatory male sexual behavior in
Männer und Frauen haben unterschiedliche Japanese quail are differentially regulated by subregions
Gehirne. Die neuroanatomischen Geschlechts- of the preoptic medial nucleus. J Neurosci 18:6512–6527
unterschiede finden sich auf allen Ebenen, Bibawi D, Cherry B, Hellige JB (1995) Fluctuations of perceptual
vom Neokortex bis zum Rückenmark. Die asymmetry across time in women and men: Effects related
to the menstrual cycle. Neuropsychologia 33:131–138
Geschlechtsdifferenzen in den subkortikalen
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Strukturen sind wahrscheinlich maßgeblich an corpus callosum: myth or reality? Neuroscience and Bio-
den Mechanismen der sexuellen Orientierung behavioral Reviews 21:581–601
und der sexuellen Handlungsweisen beteiligt. Braun CMJ (1992) Estimation of interhemispheric dynamics
Für die Geschlechtsunterschiede des Neokortex from simple unimaual reaction to extrafoveal stimuli.
Neuropsychology Review 3:321–65
existiert momentan noch kein klares funktio-
Breedlove SM (1994) Sexual differentiation of the human ner-
nelles Korrelat, aber wahrscheinlich sind sie, vous system. Ann Rev Psychol 45:389–418
ähnlich wie die zerebralen Asymmetrien, an Breedlove SM, Arnold AP (1983) Hormonal control of a develo-
der Generierung kognitiver Geschlechtsunter- ping neuromuscular system II Sensitive periods for the an-
schiede beteiligt. Zerebrale Asymmetrien sind drogen-induced masculinization of the rat spinal nucleus
of the bulbocavernosus. J Neurosci 3:424–432
wahrscheinlich das kombinierte Ergebnis struk-
Broca P (1861) Perte de la parole, ramollissement chronique
tureller Asymmetrien und Links-Rechts-Unter- et destruction partielle du lobe anterieur gauche du cer-
schieden in der interhemisphärischen Kom- veau. Bull Soc Anthropol 2:235–238
munikation über die Kommissuren. Da dieser Brown WS, Larson EB, Jeeves MA (1994) Directional asymmet-
kommissurale Transfer durch die Konzentration ries in interhemispheric transmission time: Evidence from
visual evoked potentials. Neuropsychologia 32:439–448
von weiblichen Sexualhormonen moduliert
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104 Kapitel 5 · Funktionelle Hirnorganisation und Geschlecht

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6

Kognitive Geschlechtsunterschiede
Markus Hausmann

6.1 Einführung – 106

6.2 Geschlechtsunterschiede in spezifischen kognitiven Funktionen – 107


6.2.1 Raumkognition – 107
6.2.2 Sprachliche Kognition – 110
6.2.3 Wahrnehmungsgeschwindigkeit – 112
6.2.4 Motorische Fertigkeiten – 112
6.2.5 Mathematische Fähigkeiten – 114

6.3 Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede – 114


6.3.1 Hirnstrukturen – 115
6.3.2 Geschlechtshormonelle Einflüsse – 115
6.3.3 Geschlechterrollen und Geschlechtsstereotypen – 118

6.4 Der psychobiosoziale Ansatz – 119

6.5 Alltagsrelevanz kognitiver Geschlechtsunterschiede – 120

Literatur – 121
106 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

> Inspektor Craddock: »Ich glaube, bloß ein Weibergehirn und bestimmt auch
nur Ihres konnte auf so was kommen.« Miss Marple: »Es mag Sie ja irritieren,
Inspektor, das weibliche Gehirne manchmal den männlichen überlegen sind,
doch Sie müssen sich nun leider damit abfinden.« (Agatha-Christie-Verfilmung
»16 Uhr 50 ab Paddington«)
»Männer sind Frauen geistig überlegen«, »Frauen können nicht einparken«,
»Männer können nicht zuhören«, »Frauen können keine Landkarten lesen«,
»Männer können sich nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren«, »Frauen
sind geschickter«, »Frauen verwechseln Links und Rechts«. Dies ist nur einer
kleine Auswahl von Vorurteilen, die uns die Teilnehmer zu Beginn eines Ein-
führungskurses zu kognitiven Geschlechtsunterschieden nannten. Solche
und ähnliche Vorteile über die Unterschiede in den mentalen Fähigkeiten von
6 Frauen und Männern gelten sicherlich nicht nur für Bochumer Psychologie-
studenten, sondern sind tief verwurzelt in unserer Gesellschaft. Dieses Kapitel
möchte einen kleinen Einblick in die Forschung zu den empirischen Befunden
kognitiver Geschlechtsunterschiede geben und die Frage beantworten, ob sich
Männer und Frauen tatsächlich in bestimmten Denkprozessen und Fertigkeiten
voneinander unterscheiden. Lassen sich bestimmte Vorurteile wissenschaftlich
belegen?

6.1 Einführung Faktoren diskutiert worden. Aussagen darüber,


welche dieser Faktorengruppen bedeutsamer für
In der Tat beobachtet eine Vielzahl von Studien kognitive Geschlechtsunterschiede sind, lassen sich
Geschlechtsunterschiede in kognitivem Verhal- in der Regel nicht treffen. Beide Faktorengruppen
ten. Das bedeutet nicht, dass ein Geschlecht ge- haben sich als relevant herausgestellt. Darüber hin-
nerell intelligenter ist als das andere, sondern dass aus gibt es einige Beispiele dazu, wie diese Faktoren
es spezifische kognitive Funktionen gibt, in denen miteinander interagieren bzw. wie soziale Einflüsse
sich Frauen und Männer voneinander unterschei- durch biologische Faktoren vermittelt werden kön-
den. Von vornherein sei dabei angemerkt, dass nen und vice versa. Kognitive Geschlechtsunter-
es sich hier nicht um absolute, sondern relative schiede werden in der aktuellen Forschung im
Leistungsunterschiede handelt. Die kognitiven Rahmen eines psychobiosozialen Ansatzes unter-
Unterschiede innerhalb einer Geschlechtergruppe sucht. Der Ausbau eines solchen Modells ist si-
sind deutlich größer als zwischen den Geschlech- cherlich eine der größten Herausforderungen der
tern. Aufgrund dieser großen Überschneidung aktuellen Geschlechterforschung. Das vorliegende
sind Leistungsvoraussagen alleine auf der Basis Überblickskapitel gibt einen kleinen Einblick in
der Geschlechtszugehörigkeit eines Individuums die aktuelle Forschung kognitiver Geschlechtsun-
nicht möglich. terschiede und räumt so mit einer Vielzahl der
Als Ursachen für kognitive Geschlechtsunter- Mythen und Vorurteile in diesem faszinierenden
schiede sind sowohl biologische als auch soziale Gebiet auf.
6.2 · Geschlechtsunterschiede in spezifischen kognitiven Funktionen
107 6
6.2 Geschlechtsunterschiede in umgekehrt Frauen im Durchschnitt den Männern
spezifischen kognitiven Funktionen überlegen sind (Kimura 2002). Einige dieser spe-
zifischen kognitiven Funktionen sind in ⊡ Abb. 6.1
Geschlechtsunterschiede bei Laut- und aufgeführt. Grundsätzlich lassen sich die Tests grob
Formtests in wenige Funktionsbereiche unterteilen. In spezi-
fischen verbalen und feinmotorischen Aufgaben
Ein britisches Forscherteam berichtete 1975 in
sind Frauen den Männern eher überlegen, während
dem renommierten amerikanischen Wissen-
in spezifischen räumlichen Aufgaben die Männer
schaftsmagazin Science von einem einfachen
durchschnittlich bessere Leistungen zeigen.
Experiment. Coltheart und seine Mitarbeiter
Kann dies als ein klarer Hinweis für die oben
(1975) instruierten männliche und weibliche
genannten Vorurteile angesehen werden? Die Ge-
Versuchspersonen, alle Buchstaben des Alpha-
schlechterforschung der letzten Jahrzehnte zeigt,
bets zu zählen, die den Laut »e« enthalten (Laut-
dass es keine globalen Funktionskategorien gibt, in
test). In einem zweiten Teilexperiment sollten
denen das eine oder das andere Geschlecht einen
die gleichen Versuchspersonen die Buchstaben
eindeutigen Leistungsvorteil aufzeigt.
zählen, die als Großbuchstaben eine Rundung
enthalten (Formtest). Alle Versuchspersonen
sollten die beiden Aufgaben mental durchfüh- 6.2.1 Raumkognition
ren, ohne dabei die Buchstaben laut auszuspre-
chen oder sie zu notieren. Die Gesamtleistung in
Insgesamt werden drei Kategorien der Raumkog-
beiden Aufgaben unterschied sich für die unter-
nition voneinander unterschieden. Hierbei handelt
suchten Personen nicht voneinander. Allerdings
es sich um die räumliche Wahrnehmung, räumli-
zeigte sich, dass die Leistung in den beiden Auf-
che Visualisierung und mentale Rotation (Linn u.
gabentypen mit dem Geschlecht der Probanden
Petersen 1985).
variierte. Deutlich mehr Frauen als Männer führ-
ten die verbale Aufgabe (Lauttest) korrekt durch,
Räumliche Wahrnehmung. Bei den Tests zur
wohingegen die räumliche Aufgabe (Formtest)
räumlichen Wahrnehmung müssen die Versuchs-
von deutlich mehr Männern korrekt gelöst
personen räumliche Beziehungen zwischen Objek-
wurde. Diese Untersuchung zeigte zweierlei: Ei-
ten oder in Bezug zum eigenen Körper herstellen.
nerseits unterscheiden sich Männer und Frauen
Zu diesen Tests gehört z. B. der Rod-and-frame-
nicht in der Gesamtleistung dieses Tests, son-
Test, bei dem die Versuchspersonen einen Stab
dern nur in den spezifischen Aufgabentypen,
vertikal in einem Rahmen platzieren müssen, der
des Weiteren zeigen Männer durchschnittlich
um einige Winkelgrad gedreht ist (Witkin et al.
bessere Leistungen in der räumlichen Aufgabe,
1962). Ein anderes prominentes Beispiel ist der
wohingegen Frauen durchschnittlich bessere
Wasserlevel-Test (Inhelder u. Piaget 1958). Dieser
Leistungen im verbalen Test aufweisen. Das
Test verlangt das Einzeichnen einer horizontalen
Ergebnis von besseren räumlichen Leistungen
Linie in einer gekippten Flasche (⊡ Abb. 6.1c).
von Männern (Beispiel Formtest) und besseren
sprachlichen Leistungen von Frauen (Beispiel
Räumliche Visualisierung. Die räumliche Vi-
Lauttest) konnte in mehreren nachfolgenden
sualisierung bezeichnet eine Funktion bei der
Studien repliziert werden.
eine komplizierte, mehrstufige mentale Manipu-
lation räumlicher Informationen verlangt wird
Die kanadische Psychologin Doreen Kimura hat (⊡ Abb. 6.1). Diese Aufgabe kann auch räumliche
eine Liste von spezifischen kognitiven Funktionen Prozesse beinhalten, wie sie bei der räumlichen
zusammengestellt, für die in der Fachliteratur häu- Wahrnehmung und der mentalen Rotation gefor-
fig Geschlechtsunterschiede beschrieben wurden, dert werden. Zu solchen Aufgaben gehören z. B.
d. h. Funktionen, in denen Frauen durchschnitt- die »versteckten Figuren« (hidden figures) oder
lich bessere Leistungen zeigen als Männer, und der Paper-folding-Test.
108 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

b
c

⊡ Abb. 6.1a–d. Die funktionellen


Domänen der Männer. a Mentaler
6 Rotationstest (Peters 1995). Es sollen
die zwei Vergleichsfiguren markiert
werden, die die Originalfigur in
rotierter Position abbilden. Richtige
Antwort ist A und C. b Test zur räum-
lichen Visualisierung. Probanden
müssen entscheiden, welcher Würfel
d
der Faltvorlage nicht entspricht.
Richtige Antwort ist B. c Wasserlevel-
Test. Probanden müssen die physi-
kalisch korrekte Alternative nennen.
Richtige Antwort ist A. d Zielgerich-
tetes Werfen

Mentale Rotation. Hierbei geht es um die räum- 2002). Die mentale Rotation kann somit sicherlich
liche Fähigkeit, dreidimensionale (3D) Figuren als ein Sonderfall räumlichen Vorstellungsvermö-
schnell und möglichst akkurat um eine oder meh- gens und kognitiver Geschlechtsunterschiede ins-
rere räumliche Achsen mental zu rotieren, um zwei gesamt angesehen werden.
oder mehrer Objekte so miteinander vergleichen Der mentale Rotationstest (Vandenberg u.
zu können (⊡ Abb. 6.1a). Kuse 1978) gilt als der geschlechtssensitivste Pa-
pier-Bleistift-Test, der in der (neuro-)psychologi-
Geschlechtsunterschiede in der Raumkognition schen Forschung bekannt ist. In einer einfacheren
lassen sich jedoch nicht für alle diese Aufgaben be- Variante des Tests müssen die Probanden ent-
obachten. Basierend auf den Richtlinien für die Ef- scheiden, ob es sich bei zwei abstrakten Würfelfi-
fektstärke d von Cohen (1977) bezeichnet ein d von guren (Shepard u. Metzler 1971) um identische,
0,20, 0,50 und 0,80 (Minimalwerte) kleine, mittlere aber rotierte Stimuli handelt, oder ob sich diese
und große Effektstärken. Insbesondere Aufgaben Figuren voneinander unterscheiden (Spiegelbild)
zur mentalen Rotation zeigen in verschiedenen und nicht durch mentales Rotieren um eine oder
Studien sehr robuste Geschlechtsunterschiede von mehrere Achsen in Übereinstimmung gebracht
bis zu einer ganzen Standardabweichung (d=1,00) werden können. In einer revidierten Fassung des
oder sogar darüber hinaus (Linn u. Peterson 1985; mentalen Rotationstests (Peters 1995), werden den
Masters u. Sanders 1993). Für die Aufgaben zur Versuchspersonen eine Ausgangsfigur sowie vier
räumlichen Wahrnehmung und Visualisierung, die Vergleichsfiguren gezeigt. Aufgabe der Probanden
einen Geschlechtsunterschied zeigen, ist die Effekt- in diesem Papier-Bleistift-Test ist es genau die bei-
stärke d mit 0,50 dagegen eher moderat (Kimura den Vergleichsfiguren zu markieren, die die Ori-
6.2 · Geschlechtsunterschiede in spezifischen kognitiven Funktionen
109 6

ginalfigur in rotierter Position abbilden. Die zwei vermuten, dass der Faktor Zeit, vermittelt durch
weiteren Figuren unterscheiden sich deutlich vom geschlechtsspezifische Lösungsstrategien, vielleicht
Original und zeigen in der Regel eine gespiegelte doch einen Einfluss auf die Leistungsunterschiede
Figur. Insgesamt besteht der Test aus 24 solcher in der mentalen Rotation nehmen könnte. Wenn
Items, die unter Zeitdruck in zwei unterschiedli- Frauen nur zwei rotierte bzw. gespiegelte Figuren
chen Sätzen à 12 Items absolviert werden müssen miteinander vergleichen müssen, so sind sie in etwa
(⊡ Abb. 6.1a). gleich schnell und akkurat wie eine männliche Ver-
Bestimmte Charakteristika der Aufgabe, die gleichsgruppe. Wenn jedoch mehrere Figuren mit
nicht in direkten Zusammenhang mit der mentalen dem Original für die Lösung eines Items verglichen
Rotation stehen, beeinflussen die Stärke des Leis- werden müssen, dann zeigen Männer einen Vorteil.
tungsunterschiedes zwischen Männern und Frauen Diese Befund könnten dafür sprechen, dass Frauen
zum Teil erheblich. Die Tatsache, dass es sich bei jede der vier Vergleichsfiguren mit dem Original
den Shepard-Metzler-Figuren um dreidimensio- vergleichen (um absolut sicher zu gehen), wohinge-
nale (3D) Stimuli handelt, scheint die Stärke des gen Männern sofort zum nächsten Item wechseln,
Geschlechtsunterschiedes in diesen Papier-Bleistift- wenn die beiden gesuchten identischen/rotierten
Tests nur unwesentlich zu beeinflussen. Der starke Figuren identifiziert worden sind. Männer verzich-
Geschlechtsunterschied bleibt in dem gleichen ten auf die Gegenprobe. Diese Strategie deckt sich
Ausmaß erhalten, wenn die Probanden »schwie- mit den Aussagen von Versuchspersonen nach dem
rige« zweidimensionale (2D) Figuren mental ro- Absolvieren des mentalen Rotationstest in einer
tieren müssen (Collins u. Kimura 1997). Als ein eigenen unpublizierten Studien. Zumindest beim
wesentlicher Leistungsfaktor wurde der Zeitzwang Paarvergleich von Shepard-Metzler Figuren ließen
bei der Durchführung der verschiedenen mentalen sich trotz großer Leistungsunterschiede weder Re-
Rotationstests diskutiert. Obwohl Widersprüche aktionszeitunterschiede in der Beantwortung der
existieren (z. B. Prinzel u. Freeman 1995; Resnick einzelnen Items zwischen Männern und Frauen
1993), beobachteten einige Studien, dass sich die beobachten, noch gab es einen Zusammenhang
Geschlechtsunterschiede nahezu auflösen, wenn die zwischen dem Leistungs- und dem Reaktionsmaß
Probanden genügend Zeit zur Lösung der Aufgaben (Peters 2005). Insgesamt scheinen Leistungsfak-
zur Verfügung haben (Goldstein et al. 1990; Voyer toren, die nicht in direktem Zusammenhang zur
1997). Eine aktuelle Studie von Peters (2005) unter- Raumkognition stehen, nur zum Teil die robusten
suchte den Faktor Zeit bei der Durchführung des Geschlechtsunterschiede in der mentalen Rotation
mentalen Rotationstest auf verschiedene Art und zu beeinflussen.
Weise. Diese Studie untersuchte in einem ersten Ex- Geschlechtsunterschiede in der Raumkognition
periment die geschlechtsspezifische Leistungsver- zeigen sich aber nicht ausschließlich zugunsten der
teilung in Abhängigkeit von der fortschreitenden männlichen Population. In einem Test zum Ortsge-
Zeit. Die Ergebnisse, die auf einer großen Stich- dächtnis von Objekten (object location memory,
probe basierten (N=1765), zeigten, dass der Ge- Eals u. Silverman 1994) wurde eine Überlegenheit
schlechtsunterschied im Fortlauf des Experiments für Frauen beobachtet. Aufgabe der Versuchsper-
ansteigt, und dass weniger Frauen als Männer das sonen in diesem Papier-Bleistift Test ist das Memo-
letzte Item innerhalb eines Aufgabensatzes erreich- rieren einer Ansammlung von Objekten und deren
ten. Wird den Versuchspersonen im Vergleich zur Position auf einem Blatt Papier. In der zweiten
Standardbedingung doppelt soviel Zeit zur Durch- Phase des Tests erhalten die Versuchspersonen ein
führung des Tests gelassen, so zeigte sich allerdings weiteres Blatt, auf dem einige Objektpaare ihre
ein unverändert starker Geschlechtsunterschied, Position getauscht haben. Diese Objektpaare sollen
obwohl die Leistung für beide Geschlechter be- von den Versuchspersonen ohne Zeitrestriktionen
trächtlich anstieg. Das letzte Ergebnis spricht klar markiert werden (⊡ Abb. 6.2d). Der weibliche Vor-
dagegen, dass es sich bei dem Zeitdruck um einen teil im object location memory konnte in mehreren
kritischen Leistungsfaktor in dieser Aufgabe han- Studien repliziert werden (James u. Kimura 1997;
delt. Eine andere Studie (Kerkman et al. 2000) lässt McBurney et al. 1997; Postma et al. 1998). Verän-
110 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

dert man die Aufgabe jedoch so, dass ausschließ- ren, ihrer jeweiligen Operationalisierung und der
lich Positionen rekonstruiert werden müssen (alle individuellen kognitiven Strategie abhängt.
Objekte waren identisch), dann schneiden Frauen
deutlich schlechter in diesem Test ab, und es findet
sich ein Vorteil für Männer (James u. Kimura 1997; 6.2.2 Sprachliche Kognition
Postma et al. 1998).
Dies könnte dafür sprechen, dass Frauen, anders Hartnäckig hält sich das Vorurteil, dass Frauen ge-
als Männer, ein gemeinsames System für die Objek- nerell bessere verbale Leistungen zeigen als Männer.
tidentität und dessen Lokalisation nutzen (James u. Insgesamt lassen sich aber nur wenige verbale Funk-
Kimura 1997). Diese Annahme passt auch zu der tionen finden, die tatsächlich einen konsistenten
Beobachtung, dass sich Frauen eher an Landmar- und robusten Vorteil für Frauen finde aufweisen.
ken orientieren (»Am Hauptbahnhof links abbie- Eine umfassende Metaanalyse (Hyde u. Linn
6 gen, dann die breite Allee entlang, am Arbeitsamt 1988) untersuchte auf der Basis von 165 Studien
vorbei … das weiße Haus, neben dem Postgebäude Geschlechtsunterschiede in den verschiedensten
…«), wohingegen Männer eher geometrische In- verbalen Aufgabentypen (Wortschatz, Analogien,
formationen bei der Navigation einbeziehen (»nach Leseverständnis, Sprachproduktion, Anagramme
200 Metern links abbiegen, dann 500 Meter in süd- etc.). Für beinahe alle Aufgabentypen (mit Aus-
östliche Richtung …« (Miller u. Santoni 1986; Ward nahme der Analogien, männlicher Vorteil) konnte
et al. 1986). Darüber hinaus zeigen neuere Befunde, für Kinder im Alter von fünf Jahren oder jünger
dass der Kontext einen wesentlichen Einfluss auf sowie für Erwachsene älter als 26 Jahre ein Vorteil
den Geschlechtsunterschied im object location me- für das weibliche Geschlecht gefunden werden. Im
mory hat. Der klassische weibliche Vorteil in dieser Alter zwischen 5 und 26 Jahren zeigten sich kaum
Aufgabe zeigt sich nur dann, wenn konkrete Ob- Geschlechtsunterschiede. Die (gewichtete) mittlere
jekte verwendet werden, was vermutlich auf die Effektstärke d von 0,11 ist über alle Aufgabenty-
weibliche Überlegenheit im verbalen Gedächtnis pen hinweg insgesamt jedoch so klein, dass die
zurückgeführt werden kann (siehe nächster Ab- Autoren hieraus ableiteten, dass tatsächlich keine
schnitt). Ein männlicher Vorteil zeigt sich dagegen, Geschlechtsunterschiede in verbalen Fähigkeiten
wenn die Lokalisation abstrakter Objekte wieder- existieren. Die amerikanische Psychologin Diane
gegeben werden muss, wobei vermutlich insbeson- Halpern (2000) gibt in ihrer Monographie jedoch
dere räumliche Lösungsstrategien an Effektivität zu bedenken, dass die Metastudie beinahe 20 Jahre
gewinnen (Choi u. L’Hirondelle 2005). alt ist, und dass das Ausmaß verbaler Geschlechts-
Ähnliche geschlechtsspezifische Prozesse lassen unterschiede auf der Basis neuerer Befunde tat-
sich beim Labyrinthlernen beobachten. Bei Frauen sächlich unterschätzt wurde. Halpern bezieht sich
lässt sich die Leistung beim Navigieren durch ein dabei auf den klaren weiblichen Vorteil in Aufga-
virtuelles Labyrinth gleichermaßen durch räumli- ben, die das Verfassen von Texten erfordern, gram-
che (z. B. mentaler Rotationstest) wie auch durch matikalische Konstruktionen und einen akkuraten
sprachliche Faktoren (Wortschatztest und Test zur Gebrauch von Wörtern etc. involvieren. Darüber
verbalen Kreativität) vorhersagen, wohingegen bei hinaus merkt die Autorin an, dass junge Mädchen
Männern fast ausschließlich räumliche Faktoren im Alter bis zu fünf Jahren bessere Sprachleistun-
zum tragen kommen (Moffat et al. 1998). Dies gen zeigen (McGuiness 1976; Smolak 1986), ca.
könnte bedeuten, dass Frauen, anders als Männer, einen Monat früher zu sprechen beginnen (z. B.
auch verbale Strategien einsetzen, um bestimmte Gazzaniga et al. 1998) sowie im Kleinkindalter ein
räumliche Probleme zu lösen. größeren Wortschatz aufweisen als gleichaltrige
Insgesamt zeigen die Studien, dass es sich bei Jungen (Huttenlocher et al. 1991).
der Raumkognition mit seinen Subkategorien um Sowohl in der klinischen als auch in der experi-
ein multidimensionales Konzept handelt, und dass mentellen Forschung wird die Wortflüssigkeit häu-
das Auftreten von Geschlechtsunterschieden sowie fig in Zusammenhang mit verbalen Geschlechtsun-
deren Richtung von spezifischen Leistungsfakto- terschieden genannt (Lezak 1995). In Aufgaben zur
6.2 · Geschlechtsunterschiede in spezifischen kognitiven Funktionen
111 6

Wortflüssigkeit müssen Versuchspersonen in einer 2003). Hines (1990) berichtet in einer Studie von
begrenzten Zeit möglichst viele Wörter generieren, einem weiblichen Vorteil mit einer Effektstärke
die entweder mit dem gleichen Anfangsbuchstabe d von 1,2. Crossley et al. (1997) beobachteten,
beginnen (letter fluency, ⊡ Abb. 6.2c) oder die zu ei- dass ältere Frauen den Männern nur in der letter
ner spezifischen Kategorie (z. B. Tiere) gehören (ca- fluency überlegen sind, nicht aber in der category
tegory fluency). Bei der Wortflüssigkeit handelt es fluency. Eine andere Studie findet sogar eine bes-
sich jedoch um eine Funktion, die nicht nur Sprach- sere category fluency bei Männern (Kempler et
funktionen, wie z. B. die Größe des Vokabulars oder al. 1998). Gründe für diese inkonsistenten Ergeb-
das verbale Langzeitgedächtnis misst, sondern dar- nisse basieren vermutlich auf der häufig fehlenden
über hinaus auch Aufmerksamkeitsprozesse, Ant- Kontrolle der Schuldbildung, des Alters oder der
wortgeschwindigkeit und exekutive Funktionen, wie kulturellen Unterschiede. In einer aktuellen Studie
z. B. Arbeitsgedächtnis, Monitoring, Suchstrategien, verschwinden Geschlechtsunterschiede in beiden
Vermeiden von Regelverstößen (z. B. keine Eigenna- Aufgabentypen zur Wortflüssigkeit, wenn das Alter
men nennen) etc. (Ruff et al. 1997). und die Schulbildung kontrolliert werden (Matura-
Tatsächlich ist die Literatur uneindeutig, ob nath et al. 2003).
Frauen den Männern tatsächlich in dieser sprach- Ein konsistenter weiblicher Vorteil lässt sich
lichen Funktion überlegen sind (Maturanath et al. scheinbar insbesondere in Aufgaben zum verba-

c
b

⊡ Abb. 6.2a–d. Die funktionellen Domä-


nen der Frauen. a Purdue-pegboard-Test
untersucht die komplexe Willkürmotorik.
Stifte, Unterlegscheiben etc., müssen auf
vordefinierte Art und Weise und unter
Zeitdruck auf einem Steckbrett arran-
giert werden. b Beispiel eines Tests zur
Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Item B
unterscheidet sich von den beiden an-
deren Alternativen. c Letter-fluency-Test.
d Probanden sollen in einer begrenzten
Zeit möglichst viele Wörter generieren,
die mit den Anfangsbuchstaben »P«
und »L« beginnen. d Object location
memory. In Phase 1 muss eine Ansamm-
lung von Objekten sowie deren Position
auf einem Blatt Papier memoriert wer-
den. In Phase 2 erhalten die Probanden
ein zweites Blatt, auf dem einige Ob-
jektpaare ihre Position getauscht haben.
Diese gilt es zu markieren
112 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

len Gedächtnis beobachten. Dieser Geschlechts- Nettelbeck 2005). Der Zahlen-Symbol-Test misst
unterschied findet sich vor allem dann, wenn zu- dabei nicht nur die psychomotorische Geschwin-
vor gelernte Wortlisten frei wiedergegeben werden digkeit, sondern insbesondere auch das Enkodie-
müssen (Bleeker et al. 1988; Chipman u. Kimura ren und die Evaluation symbolischer Information
1998; Kramer et al. 1988). Beim einfachen Wie- (Guilford 1967) und bildet somit zum Teil auch
dererkennen von gelernten Wörtern beobachteten verbale Gedächtnisprozesse ab (Royer 1978). Für
diese Studien keinen Geschlechtsunterschied. Ins- den Geschlechtsunterschied in der Wahrneh-
gesamt geht Kimura (2002) jedoch davon aus, dass mungsgeschwindigkeit könnte dies bedeuten, dass
Aufgaben zum verbalen Gedächtnis den stärks- dieser mit dem symbolischen (verbalen) versus
ten Geschlechtsunterschied zugunsten von Frauen räumlichen Charakter der Aufgabe in Zusammen-
ausmachen. Basierend auf ihrer eigenen Forschung hang steht (Majeres 1983).
(Chipman u. Kimura 1998) ergeben sich Effekt- Diese Befunde zeigen, wie untrennbar räumli-
6 stärken d zwischen 0,58 und 0,97 bei der freien che oder verbale Prozesse mit anderen kognitiven
Wiedergabe einer Wortliste. Funktionsbreichen verbunden sein können. Dar-
über scheint die Wahl der kognitiven (verbalen/
räumlichen) Strategie die Leistungen in bestimm-
6.2.3 Wahrnehmungsgeschwindigkeit ten Problemlösungsaufgaben auf geschlechtsspe-
zifische Art und Weise zu beeinflussen. In einer
Die Wahrnehmungsgeschwindigkeit bezeich- eigenen unpublizierten Studie beobachteten wir,
net die Fähigkeit zum raschen Auffinden von dass die Wahrnehmungsgeschwindigkeit nur bei
Unterschieden zwischen Objekten (⊡ Abb. 6.2b). Männern ein guter Prädiktor für das Abschneiden
Tests zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit sind in der mentalen Rotationsaufgabe ist, nicht aber
Bestandteil nahezu aller bekannten Intelligenz- bei Frauen. Bei Letzteren scheint die Leistung in
tests. Die Wahrnehmungsgeschwindigkeit spielt räumlichen Tests eher mit verbalen Testleistungen
eine wichtige Rolle in der neuropsychologischen wie z. B. der Wortflüssigkeit in Zusammenhang zu
Diagnostik und in Studien zum kognitiven Al- stehen (s. oben, Abschnitt Raumkognition: Moffat
tern (Burns u. Nettelbeck 2005). Ein prominentes et al. 1998).
Beispiel für einen Wahrnehmungsgeschwindig-
keitstest ist der Zahlen-Symbol-Test (digit sym-
bols), ein Subtest des Wechsler-Intelligenztests. In 6.2.4 Motorische Fertigkeiten
dieser Aufgabe wird den Versuchspersonen eine
Liste von Zahlen-Symbol-Paaren vorgegeben. Auf Große Geschlechtsunterschiede sind auch in mo-
einem Antwortbogen müssen den Zahlen dann torischen Aufgaben beobachtet worden. Wie je-
die entsprechenden Symbole möglichst schnell doch in den anderen Funktionsbereichen auch,
zugeordnet werden. Geschlechtsunterschiede in lassen sich hier Aufgabentypen finden, bei denen
Tests zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit favori- mal Frauen und mal Männer durchschnittlich
sieren konsistent Frauen (Halpern 2000; Kimura bessere Leistungen zeigen. Zahlreiche Studien be-
1999). Auf der Basis von Subtestanalysen ver- obachten, dass Frauen durchschnittlich bessere
schiedener Intelligenztest kommen unterschiedli- Leistungen in feinmotorischen Aufgaben zeigen
che Autoren zu dem Schluss, dass die Effektstärke als Männer. Zu den klassischen feinmotorischen
d für den Geschlechterunterschied in der Wahr- Tests gehört z. B. der Purdue-pegboard-Test
nehmungsgeschwindigkeit als klein bis moderat (⊡ Abb. 6.2a) oder der Grooved-pegboard-Test.
angesehen werden kann (Feingold 1992; Hedges Hierbei handelt es sich um Steckbretttests zur
u. Nowell 1995). Erfassung der feinmotorischen Schnelligkeit und
Diese Annahme konnte in einer aktuellen Stu- Genauigkeit (Lezak 1995). Der weibliche Vorteil
die auf der Basis von 653 Versuchspersonen im in diesen Tests basiert auf einer präziseren und
Alter zwischen 8 und 78 Jahren mit einer mittleren schnelleren Kontrolle der Finger- und Handmus-
Effektstärke d von 0,42 bestätigt werden (Burns u. kulatur sowie der Fähigkeit, verschiedene Ein-
6.2 · Geschlechtsunterschiede in spezifischen kognitiven Funktionen
113 6

zelbewegungen zu einer komplexen motorischen nen über die Lokalisation des Ziels, die Richtung
Handlung zu vereinen. und Geschwindigkeit der Zielbewegung von Hän-
Für solche und ähnliche Aufgaben wurde ein den, Armen und des gesamten Körpers koordi-
»echter« Geschlechtsunterschied jedoch in Frage niert werden müssen. Wenn sich darüber hinaus
gestellt, da die statistische Kontrolle der Finger- das Zielobjekt bewegt, dann sind eine besonders
größe den Geschlechtsunterschied auflöste (Peters schnelle räumliche Analyse und ein genaues Ti-
et al. 1990). Auch die direkte Kontrolle durch den ming bei der Ausrichtung der Muskelgruppenak-
Gebrauch von Pinzetten anstelle der Finger bei tivität gefordert.
der Manipulation der kleinen Objekte (Stifte, Un- Hierbei schnitten die Männer mit ähnlichen
terlegscheiben etc.) eliminierte den sonst robusten Effektstärken wie bei der mentalen Rotation deut-
Geschlechtseffekt (Peters u. Campagnaro 1996). lich besser ab als die Frauen (Hall u. Kimura
Das erklärt aber nicht, warum Geschlechtsun- 1995; Sykes Tottenham et al. 2005; Watson u.
terschiede in solchen feinmotorischen Aufgaben Kimura 1989, 1991). Wichtig dabei ist, festzustel-
insbesondere dann auftreten, wenn die nicht-do- len, dass diese Geschlechtsunterschiede nicht auf
minante Hand verwendet wird (Bryden u. Roy Unterschiede im Körperbau oder unterschiedliche
2005). Andere Studien konnten den potenziellen Sportgewohnheiten reduzierbar sind (Watson u.
Handeffekt nicht bestätigen und lassen eher ver- Kimura 1989, 1991). Auch geschlechtsspezifische
muten, dass der weibliche Vorteil vielleicht doch Unterschiede in der Anatomie (z. B. längere Arme
primär zentralnervösen Ursprungs sein könnte bei Männern) oder Biomechanik (z. B. höhere
(Hall u. Kimura 1995). Wurfgeschwindigkeiten bei Männern) scheinen
Ganz andere Ergebnisse zeigt dagegen die sog. für das Auftreten von Geschlechtsunterschieden
Finger-tapping-Aufgabe, bei der eine möglichst in diesen Aufgaben irrelevant zu sein, da sie bei
schnelle Abfolge von einfachen Fingerbewegungen den Wurfaufgaben, bei denen das Ziel nur wenige
(in der Regel mit dem Zeigefinger) in einer vorge- Meter entfernt ist, weniger ins Gewicht fallen.
benden Zeit durchgeführt werden muss. In diesen Eine längere Armlänge scheint beim Zielwerfen
Tests sind männliche Probanden nicht nur schnel- sogar eher von Nachteil zu sein, da durch sie mo-
ler (größere Tapping-Frequenz) sonder auch regel- torische Ungenauigkeiten am distalen Ende des
mäßiger (kleinere Intertap-Variabilität) als Frauen Armes verstärkt würden. Dafür spricht auch, dass
(z. B. Bornstein 1986; Hausmann et al. 2004; Peters die Körpergröße von Männern negativ mit der
1980; Schmidt et al. 2000). Obwohl dieser durch- Leistungen beim Fangen von Objekten korreliert
schnittliche männliche Vorteil sehr wahrscheinlich (Watson u. Kimura 1991).
durch die Wirkung von Testosteron auf die Fin- Zumindest innerhalb des näheren extraper-
ger- und Handmuskulatur bedingt ist (Schmidt et sonalen Raumes beeinflusst die Entfernung des
al. 2000), nimmt der männliche Vorteil mit einem Ziels den Geschlechtsunterschied nicht (Sykes Tot-
Komplexitätsanstieg des auszuführenden moto- tenham et al. 2005). Es ist vielmehr wahrschein-
rischen Programms ab (Hausmann et al. 2004). lich, dass diese Geschlechtsunterschiede mit dem
Diese Befunde sprechen daher eher für einen ge- männlichen Vorteil in der Raumkognition zusam-
nerellen weiblichen Vorteil in der feinmotorischen menhängen könnten, da sowohl das zielgenaue
Koordination, wenn peripher-physiologische Fak- Werfen als auch das Fangen eine präzise räumli-
toren kontrolliert werden. che (3D) Analyse der Zielkoordinaten erfordern.
Einer der stärksten und robustesten Ge- Einige Studien konnten tatsächlich einen statis-
schlechtsunterschiede, die in der Literatur be- tischen Zusammenhang zwischen den Leistungs-
schrieben worden sind, ist derjenige bei zielgerich- werten von Versuchspersonen in verschiedenen
teten motorischen Fertigkeiten, wie dem präzisen Papier-Bleistift Tests zur Raumkognition und der
Werfen eines Projektils auf ein stationäres oder sich Zielgenauigkeit beim Werfen beobachten (Jardine
bewegendes Ziel oder auch beim Auffangen eines u. Martin 1983; Watson u. Kimura 1988). Solche
Objektes (⊡ Abb. 6.1d). Das zielgerichtete Werfen Zusammenhänge zeigten sich aber nicht immer
ist eine motorische Aufgabe, bei der Informatio- (Watson u. Kimura 1991).
114 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

6.2.5 Mathematische Fähigkeiten seiner Metaanalyse sogar zu der Überzeugung,


dass die Leistung in mathematischen Tests stärker
Hartnackig hält sich das Vorurteil eines männli- mit verbalen Fähigkeiten korreliert als mit räumli-
chen Vorteils in den mathematischen Fähigkeiten. chen Kompetenzen. Der Zusammenhang zwischen
Wie bei den anderen kognitiven Funktionsberei- räumlichen und mathematischen Fähigkeiten ist
chen jedoch auch, handelt es sich bei den mengen- vermutlich durch eine gemeinsame Kovariation
bezogenen oder mathematischen Fähigkeiten um mit der Intelligenz bedingt und steht in keinem
ein multidimensionales Konzept, von denen einige kausalen räumlich-mathematischen Zusammen-
Funktionsbereiche Geschlechtsunterschiede in die hang (Linn u. Petersen 1985; s. auch Geary et al.
eine oder andere Richtung zeigen und andere nicht 2000). Kimura (1999) berichtet von einer eigenen
(Hampson 2000). Studie, in der der Zusammenhang zwischen der
Auf der Basis von 100 Studien kommt eine Me- Leistung in mathematischen Problemlösungsauf-
6 taanalyse (Hyde et al. 1990) zu dem Schluss, dass gaben mit einem mentalen Rotationstest nicht grö-
der männliche Vorteil mit einer durchschnittlichen ßer war als mit einem Wortschatztest. Die kanadi-
gewichteten Effektstärke d von 0,15 (basierend auf sche Wissenschaftlerin kommt ebenfalls zu dem
254 Effektstärken) insgesamt sehr klein ist. Für nu- Schluss, dass das Ergebnis eher dafür spricht, dass
merische Kalkulationen zeigte sich sogar ein weib- die Fähigkeit, abstrakte Figuren mental zu rotieren,
licher Vorteil mit einer Effektstärke d von 0,14. nicht mehr zur mathematischen Begabung beiträgt
Obwohl die Geschlechtsunterschiede in der mathe- als ein generelles Intelligenzmaß (Kimura 1999,
matischen Kompetenz minimale Effektstärken auf- p=0,70).
weisen, muss an dieser Stelle gesagt werden, dass Neben einer besseren Fähigkeit, Informa-
die große Mehrheit der eingeschlossenen Studien tionen im Kurzzeitgedächtnis zu repräsentieren
an Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurde, bzw. zu manipulieren, sind Personen mit guten
sich aber starke, altersbedingte Trends beobachten Leistungen in mathematischen Problemaufgaben
ließen. Über alle Studien gemittelt zeigten Schü- besser darin, die verbal gestellten Probleme so
lerinnen der Grund- und Mittelschule (bis zum zu übersetzen, dass sie numerisch gelöst werden
14. Lebensjahr) eine leichte Überlegenheit in der können (Dark u. Benbow 1990). Dies könnte dafür
mathematischen Kompetenz. Im weiteren Alters- sprechen, dass Männer und Frauen sich vielleicht
verlauf ließ sich dagegen ein kleiner männlicher gar nicht in der mathematischen Begabung per
Vorteil in der Highschool (d=0,29) beobachten, der se unterscheiden, beide Geschlechter aber un-
mit d=0,41 bei College-Studenten und bei Erwach- terschiedliche Basiskompetenzen einsetzen, die
senen mit d=0,59) auf eine moderate Effektstärke sich je nach Aufgabentyp als mehr oder weni-
anstieg. Neben dem Alter sorgten auch die ethni- ger effektiv erweisen. Wird die Lösungsstrategie
sche Zugehörigkeit und andere Stichprobenkrite- experimentell beeinflusst, z. B. indem man die
rien für eine große Variationsbreite in den Effekt- Probanden ermutigt. eine räumliche Strategie bei
größen der einzelnen eingeschlossenen Studien. der Lösung eines mathematischen Problems anzu-
Generelle Annahme ist es, dass Frauen insbe- wenden, so kann sich der Geschlechtsunterschied
sondere besser in der numerischen Kalkulation reduzieren (Geary 1996).
abschneiden als Männer (Kimura 2002), wohinge-
gen Männer dagegen bessere Leistungen in Aufga-
ben zur Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung 6.3 Ursachen kognitiver
und Statistik zeigen, was durch den Gebrauch von Geschlechtsunterschiede
visuell-räumlichen Strategien gekennzeichnet sein
könnte (Hampson 2000). Damit sind insbesondere Auch wenn wir geschlechtsspezifische Unter-
Kompetenzen in der mentalen Rotation gemeint schiede in spezifischen Funktionsbereichen akzep-
(z. B. Geary 1996). Tatsächlich gibt es aber kaum tieren, so ist damit noch nicht die Frage geklärt,
empirische Daten, die diese Annahme untermau- woher diese Unterschiede eigentlich stammen bzw.
ern. Friedman (1995) kommt auf der Grundlage wodurch sie bedingt sind. Als potenzielle Ursa-
6.3 · Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede
115 6

chen kognitiver Geschlechtsunterschiede werden nern für die bemerkenswerten Gemeinsamkeiten


sowohl biologische, als auch soziokulturelle Ein- im kognitiven Verhalten beider Geschlechter ver-
flüsse angenommen. antwortlich sind.
Der folgende Abschnitt versucht einen kur-
zen Überblick über die besonders augenfälligen
Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede zu 6.3.2 Geschlechtshormonelle Einflüsse
geben bzw. verweist auf die entsprechenden Kapi-
tel in diesem Buch, die sich mit den geschlechts- Die Neurowissenschaften gehen davon aus, dass
spezifischen Unterschieden beschäftigen, die als die kognitiven Geschlechtsunterschiede zu einem
Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede dis- erheblichen Teil auf die Wirkungen von Sexual-
kutiert werden. hormonen zurückgehen. Der folgende Abschnitt
gibt einen Überblick über die organisierenden
und aktivierenden Effekte von Sexualhormonen
6.3.1 Hirnstrukturen auf kognitives Verhalten. Organisierende Effekte
von Sexualhormonen beeinflussen die neuronale
Eine mögliche Ursache kognitiver Geschlechtsun- Entwicklung insbesondere während der prä- und
terschiede sind die hirnstrukturellen Unterschiede neonatalen Individualentwicklung. Aktivierende
zwischen den Geschlechtern. Diese als Sexualdi- Effekte von Sexualhormonen beeinflussen die
morphismen bezeichneten Unterschiede beziehen funktionelle Interaktion innerhalb einer bereits
sich insbesondere auf den Neokortex und seine existierenden neuronalen Struktur, gewöhnlich
spezifischen Subarealen, aber auch auf subkorti- beginnend mit der Pubertät bis ins höhere Alter
kale Strukturen. Eine besondere Bedeutung für ( Kap. 1).
kognitive Geschlechtsunterschiede scheint der He-
misphärenasymmetrie zuzukommen, die als ein
fundamentales Organisationsprinzip des mensch- Organisierende Hormoneffekte
lichen Gehirns angesehen werden kann. Für eine Die tierexperimentelle Forschung zeigt, dass das
detaillierte Beschreibung der Sexualdimorphismen räumliche Denken zum Teil bereits durch die
und ihrer funktionellen Relevanz sei an dieser hormonelle Umwelt vor der Geburt determiniert
Stelle auf  Kap. 5 verwiesen. wird (z. B. Williams et al. 1990; Williams u. Meck
Obwohl es plausibel ist, anzunehmen, dass die 1991). Obwohl der Zusammenhang zwischen der
strukturellen Unterschiede zwischen dem männ- frühen hormonellen Umwelt und den kognitiven
lichen und weiblichen Gehirn ursächlich an den Fähigkeiten beim Menschen aus ethischen Grün-
kognitiven Geschlechtsunterschieden beteiligt den eher indirekt untersucht worden ist, gibt es
sind, wird neuerdings die Möglichkeit diskutiert, auch hier deutliche Hinweise für einen solchen
dass die Sexualdimorphismen den kognitiven Ge- Zusammenhang. Um den organisierenden Einfluss
schlechtsunterschieden sogar entgegenwirken. Die von Sexualhormonen auf kognitive Leistungen zu
Annahme dieser Hypothese ist es, dass transiente testen, werden häufig Frauen und Männer unter-
geschlechtsspezifische Unterschiede in der Genex- sucht, die aufgrund verschiedener, meist geneti-
pression während der Hirnentwicklung zu per- scher Ursachen, vor oder früh nach der Geburt
manenten Sexualdimorphismen führen, aber sie einer ungewöhnlichen geschlechtshormonellen
gleichzeitig auch verhindern können. Letzteres, Umwelt ausgesetzt waren. Hierbei handelt es sich
indem sie die differenzierenden Effekte kompen- um Erkrankungen, bei denen Männer und Frauen
sieren, die durch Geschlechtsunterschiede in den sehr niedrige oder sehr hohe Konzentrationen von
gonadalen Hormonspiegeln und der gonosomalen Sexualhormonen im Blut aufweisen. Dazu gehören
Genexpression verursacht werden (De Vries 2004; z. B.:
De Vries u. Boyle 1998). Wenn diese Annahme ▬ Androgeninsensitivitäts-Syndrom (AIS, voll-
stimmt, so würde das bedeuten, dass die hirnstruk- ständige oder partielle Androgeninsensitivität
turellen Unterschiede zwischen Frauen und Män- durch Mutation des Androgenrezeptors)
116 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

▬ Hypogonadotroper Hypogonadismus (Andro- sondern halten es für möglich, dass der organi-
genmangel durch Gonadenunterfunktion) sierende Hormoneffekt die verschiedenen kogniti-
▬ Klinefelter-Syndrom (Androgenmangel durch ven Funktionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten
Gonadenunterfunktion im Pubertätsalter, XXY- beeinflussen könnte. Die organisierende Andro-
Genotyp) genwirkung könnte das zielgerichtete Werfen prä-
▬ Turner-Syndrom (Östrogenmangel durch Go- natal, die mentale Rotation aber erst postnatal
nadendysgenesie, X0-Genotyp) beeinflussen, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem
▬ Androgenitales Syndrom (congenital andrenal die Hormonspiegel der teilnehmenden CAH-Pa-
hyperplasia, CAH) tienten bereits klinisch reguliert wurden (Hines et
al. 2003). Darüber hinaus untersuchte diese Stu-
Die meisten Studien untersuchten kognitive Ef- die CAH-Patienten im Alter zwischen 12 und 45
fekte bei Patienten mit androgenitalem Syndrom Jahren, so dass auch aktivierende Hormoneffekte
6 (CAH) (Hines et al. 2004), die aufgrund eines ge- zum Testzeitpunkt (s. unten) nicht ausgeschlossen
netischen Defekts u. a. eine exzessive Androgense- werden können.
kretion in der Nebenniere aufweisen. Bei Mädchen Die Zusammenhänge zwischen der Leistung in
führt CAH zu einer Vermännlichung des Genita- einer bestimmten kognitiven Aufgabe und der frü-
les, was das erste Anzeichen für diese Störung ist hen geschlechtshormonellen Umwelt sind häufig
und gewöhnlich sehr früh chirurgisch korrigiert sehr komplex. Es ist z. B. denkbar, dass CAH-Mäd-
wird. Durch eine korrigierende Hormontherapie chen eher als Jungen aufwachsen, da den Eltern das
wird die exzessive Androgensekretion gestoppt. Im genetische Geschlecht ihrer Kinder in der Regel
Idealfall sind die Androgenspiegel nur vor und unbekannt ist. Tatsächlich scheinen die Erfahrun-
kurz nach der Geburt erhöht, so dass ihre Wirkung gen von CAH-Kindern teilweise sogar durch die
auf mentale Fähigkeiten im späteren Leben mit hormonelle Umwelt vermittelt zu werden. In einer
größter Wahrscheinlichkeit durch den hormonel- der wenigen Untersuchungen, die sich mit solchen
len Einfluss während eines zeitlich begrenzten frü- Wechselwirkungen befasste, konnten die ameri-
hen Zeitraumes bedingt ist (Kimura 1999). kanischen Psychologinnen Sheri A. Berenbaum
Frühere Untersuchungen berichten davon, dass und Melissa Hines zeigen, dass CAH-Mädchen,
CAH-Mädchen eine überdurchschnittliche Intel- ähnlich wie gleichaltrige gesunde Jungen, von sich
ligenz aufweisen (Kimura 1999). Neuere Unter- aus typisches Jungen-Spielzeug (Autos, Flugzeuge,
suchungen zeigen, dass insbesondere räumliche Bauklötze usw.) bevorzugen und sich weniger für
Fähigkeiten bei androgenexponierten CAH-Mäd- typisches Mädchen-Spielzeug (Puppen, Küchenge-
chen erhöht sind (Hampson et al. 1998; Resnick et genstände usw.) interessieren (Berenbaum u. Hi-
al. 1986). Es handelt sich hierbei um die gleichen nes, 1992). Die beiden Wissenschaftlerinnen sehen
räumlichen Tests, in denen Männer durchschnitt- dieses Ergebnis als deutlichen Hinweis darauf, dass
lich besser abschneiden als Frauen: mentale Rota- die frühe hormonelle Umwelt bei Mädchen ei-
tion, hidden figures, paper folding ( Kap. 6.1). We- nen »vermännlichenden« Effekt auf die Präferenz
niger zuverlässige Unterschiede bei CAH-Kindern geschlechtsspezifischen Spielzeugs haben und so
wurden dagegen für die Wortflüssigkeit oder die die kognitive Entwicklung geschlechtsspezifisch
Wahrnehmungsgeschwindigkeit beobachtet. beeinflussen kann.
Eine neuere Studie (Hines et al. 2003), die Es ist auch falsch davon auszugehen, dass sich
auf eine vergleichsweise große CAH-Stichprobe die Raumkognition mit steigenden Androgenkon-
zurückgreifen konnte, beobachtete im Vergleich zentrationen stetig verbessert. Die Androgenüber-
zu einer weiblichen Kontrollgruppe dagegen keine produktion führt bei CAH-Jungen, im Vergleich zu
bessere räumliche Leistung in der mentalen Ro- einer gesunden männlichen Kontrollgruppe, zu ei-
tation bei CAH-Mädchen, wohl aber ein besse- ner verminderten räumlichen Leistung (Hampson
res zielgerichtetes Werfen. Die Autoren schließen et al. 1998). Obwohl eine Reihe von Widersprüchen
dennoch nicht aus, dass Sexualhormone auf die existieren (Hines et al. 2003), deuten die Ergebnisse
Entwicklung räumlicher Fähigkeiten einwirken, insgesamt eher darauf hin, dass die Raumkognition
6.3 · Ursachen kognitiver Geschlechtsunterschiede
117 6

durchschnittlich besser bei Menschen funktioniert, u. a. aus der Tatsache, dass nur die wenigsten Stu-
die früh mittleren Konzentrationen männlicher dien die Konzentrationen der Sexualhormone bei
Sexualhormone ausgesetzt waren. ihren Probandinnen gemessen haben ( Kap. 5).
Studien, die mit jungen Männern und Frauen
durchgeführt wurden, die unter normalen hor- Rotationstest und Zyklusphase
monellen Bedingungen aufgewachsen sind, las- In einer eigenen Untersuchung (Hausmann
sen zum Teil ähnliche Schlussfolgerungen zu, wie et al. 2000) registrierten wir die hormonellen
Untersuchungen an Menschen mit geschlechts- Schwankungen in einer Gruppe von Frauen
hormonellen Anomalien. Die Androgenspiegel über einen Zeitraum von sechs Wochen. Da-
im unteren männlichen Normalbereich scheinen durch gelang eine nahezu präzise Bestimmung
auch hier mit besseren räumlichen Fähigkeiten der Zyklusphasen. Alle Probandinnen wurden
zusammenzuhängen, d. h. Frauen mit hohen Tes- mit einer Auswahl räumlicher Tests während
tosteronkonzentrationen zeigen bessere räumliche der Menstruation, die sich insbesondere durch
Leistungen als Frauen mit niedrigen Konzentratio- niedrige Östradiolkonzentrationen auszeichnet,
nen. Bei Männern ist dieser Zusammenhang genau und während der mittlutealen Phase (hohe
entgegengesetzt. Männer mit niedrigen Testoste- Östradiolspiegel) untersucht. In einem der
ronspiegeln zum Testzeitpunkt zeigen die besten verwendeten räumlichen Tests, dem menta-
räumlichen Leistungen (Gouchie u. Kimura 1991). len Rotationstest, beobachteten wir deutlich
Unbekannt ist jedoch, inwieweit die pränatalen bessere Leistungen während der Menstrua-
bzw. früh postnatalen Hormonkonzentrationen tion im Vergleich zur mittlutealen Phase. Die
mit den aktuellen Spiegeln korrespondieren. Leistungsschwankungen zeigten dabei einen
starken Zusammenhang mit Östradiol und
Testosteron. Je höher der Testosteronspiegel
Aktivierende Hormoneffekte in Verbindung mit einem niedrigen Östradiol-
Menstruationszyklus. Die aktivierenden Effekte spiegel war, desto besser war die Leistung in
durch Sexualhormone zeigen sich z. B. darin, dass dem 3D-mentalen Rotationstest. In den beiden
bestimmte kognitive Prozesse bei gesunden jungen anderen verwendeten räumlichen Aufgaben,
Menschen durch natürliche Schwankungen in den einer 2D-mentalen Rotationsaufgabe und den
Sexualhormonspiegeln beeinflusst werden kön- hidden figures, zeigten sich dagegen keine
nen. Sicherlich die dramatischsten hormonellen Interaktionen mit der Zyklusphase. Ähnlich
Schwankungen innerhalb eines kurzen Zeitraums wie in den Untersuchungen zu den kognitiven
finden sich bei Frauen während ihres Menstrua- Geschlechtsunterschieden scheinen bestimmte
tionszyklus. Aus diesem Grund ist der weibliche Charakteristika der Aufgabe ( Kap. 6.1) einen
Zyklus Gegenstand zahlreicher Studien geworden, Einfluss darauf zu haben, ob sich Zykluseffekte
die den Einfluss von Sexualhormonen auf mentale zeigen oder nicht.
Prozesse untersuchen.
Wenn Sexualhormone aktivierende Effekte auf
kognitive Fähigkeiten haben, dann sollte die Leis- In Studien zu den zyklusabhängigen Fluktuationen
tung in spezifischen sprachlichen und räumlichen in den kognitiven Fähigkeiten wurde beobachtet,
Tests über die Phasen des weiblichen Zyklus variie- dass Frauen in den Phasen hoher Östradiolspiegel
ren. In diesem Zusammenhang wird insbesondere besonders gut in den kognitiven Funktionen ab-
für die Raumkognition ein Einfluss hormoneller schneiden, in denen sie den Männern durchschnitt-
Faktoren diskutiert (Phillips u. Silverman 1997). lich überlegen sind. Im Gegensatz dazu schneiden
Die Befundlage zu den dynamischen Fluktuationen Frauen in der Menstruation besser in den Tests ab,
in den Leistungen räumlicher Aufgaben während in denen Männer durchschnittlich bessere Leis-
unterschiedlicher Phasen des Menstruationszyklus tungen zeigen (Hampson 1990a b; Hampson u.
ist jedoch sehr widersprüchlich (Epting u. Over- Kimura 1988, Phillips u. Silverman 1997; siehe
man 1998). Ein Teil der Widersprüche resultiert aber auch Epting u. Overman 1998). Diese Beob-
118 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

achtungen stimmen zum Teil mit den Ergebnissen die Hirnorganisation modulieren können, die den
überein, die von aktivierenden Effekten der Andro- spezifischen kognitiven Funktionen zugrunde lie-
gensubstitution auf räumlichen und verbale Fähig- gen ( Kap. 5).
keiten bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen berichten
(van Goozen et al. 1994; van Goozen et al. 1995;
Slabbekoorn et al. 1999, siehe Kapitel 6). 6.3.3 Geschlechterrollen und
Die Studien zum Menstruationszyklus legen Geschlechtsstereotypen
die Vermutung nahe, dass die beobachteten Ge-
schlechtsunterschiede in spezifischen räumlichen Neben biologischen Faktoren werden auch ganz
Aufgaben darauf zurückzuführen sind, dass die andere Ursachen diskutiert. Die Interpretation der
Mehrheit der Probandinnen zu Zeitpunkten getes- jeweiligen Testsituation hat einen wesentlichen
tet worden sind, die sich durch schlechtere räum- Einfluss darauf, wie eine Person in bestimmten
6 liche Leistungen auszeichnen, also nicht während kognitive Tests abschneidet. In diesem Zusammen-
der relativ kurzen Menstruationsphase (McKeever hang zeigen Untersuchungen zu den Geschlech-
1995). Diese Ergebnisse zeigen die Notwendigkeit, terrollen, dass eine Versuchsperson sich stärker
den Menstruationszyklus in jede Untersuchung zu anstrengt, eine bestimmte kognitive Aufgabe zu lö-
den kognitiven Geschlechtsunterschieden mit ein- sen, wenn die Person davon überzeugt ist, dass mit
zubeziehen (Rogers, 2001). dieser Aufgabe Funktionen getestet werden, die
eher konsistent mit der eigenen Geschlechterrolle
Hormonschwankungen bei Männern. Natürli- sind. Tatsächlich schneiden weibliche Studenten
che Fluktuationen in den Hormonspiegeln zeigen mit einer eher maskulinen Geschlechterrolle besser
sich nicht nur bei Frauen, sondern lassen sich im Embedded-figures-Test (ein Test zur räumli-
auch bei Männern beobachten. Der männliche chen Visualisierung) ab, wenn dieser Test in der
Testosteronspiegel unterliegt Tages- und saiso- Instruktion als räumlicher Test deklariert wurde.
nalen Schwankungen. Die männlichen Testos- Frauen mit einer eher weiblichen Geschlechter-
teronkonzentrationen sind am Morgen höher als rolle schneiden deutlich besser ab, wenn man die
am Abend. Außerdem zeigen Männer deutlich Versuchspersonen glauben machte, dass dieser
niedrigere Testosteronspiegel im Frühling als im Test ein Empathiemaß ist (Massa et al. 2005). Bei
Herbst. Die Tagesschwankungen in den Testo- der männlichen Stichprobe dieser Studie hatte die
steronspiegeln zeigen tatsächlich einen Zusam- Geschlechterrolle dagegen keinen Einfluss auf die
menhang mit der räumlichen Leistung, mit den Testleistung.
besten Testresultaten bei mittleren Testosteron- Die Beobachtung, dass die kognitive Leistung
konzentrationen. Allerdings zeigte sich dieser von Frauen und Männern durch solche Geschlechts-
Effekt nur bei Rechtshändern. Linkshänder zeig- stereotypen beeinflusst wird, steht momentan im
ten keinen Zusammenhang zwischen Testosteron Fokus zahlreicher sozialpsychologischer Studien.
und der Leistung in verschiedenen räumlichen Claude M. Steele von der Stanford Universität in
Tests (Moffat u. Hampson 1996). Bezüglich der Kalifornien hat in diesem Zusammenhang den Be-
saisonalen Testosteronschwankungen ließ sich griff des stereotype threat geprägt (Steele 1997).
bei Männern eine bessere räumliche Leistung im Dieses Konstrukt kennzeichnet ein Phänomen, bei
Frühling im Vergleich zum Herbst beobachten, dem die negativen Stereotypen, die einer Gruppe
was mit der Annahme kompatibel ist, dass nied- gesellschaftlich zugesprochen werden, die eigenen
rige Testosteronspiegel bei Männern mit besseren kognitiven Fähigkeiten negativ beeinflussen kön-
räumlichen Fähigkeiten einhergehen (Kimura u. nen, wenn die Identifikation zu der stereotypisier-
Hampson 1994). ten Gruppe aktiv ist, bzw. aktiviert wurde. Dieses
Über welchen neuronalen Mechanismus Sexu- Phänomen ist übrigens nicht auf Geschlechter-
alhormone kognitive Leistungen beeinflussen, ist gruppen begrenzt und kann selbst dann auftreten,
weitestgehend unbekannt. Es gibt jedoch zahlrei- wenn die betroffene Person selbst nicht an ein ent-
che Studien die zeigen, dass Geschlechtshormone sprechendes Stereotyp glaubt (Steele 1997).
6.4 · Der psychobiosoziale Ansatz
119 6

Die Aktivierung eines Stereotyps scheint sich 6.4 Der psychobiosoziale Ansatz
jedoch nicht nur negativ auszuwirken, sondern
kann die Leistung auch positiv beeinflussen (Shih Wie andere Autoren (z. B. Halpern 1997, 2000) bin
et al. 1999). Im Einklang mit dem Stereotyp, dass ich der Meinung, dass die Anlage- und Umwelt-
Asiaten bessere mathematische Fähigkeiten zei- Diskussion in eine Sackgasse führt. Auch geht es
gen als andere ethnische Gruppen (Stehen 1987), schon lange nicht mehr darum, die Gewichte bio-
zeigten amerikanische Frauen asiatischer Herkunft logischer oder sozialer Faktoren zu bestimmen. Das
bessere Leistungen in einem Mathematiktest, wenn Ziel der gegenwärtigen Geschlechterforschung sollte
das Stereotyp ihrer ethnische Zugehörigkeit akti- vielmehr sein, die komplexe Interaktion zwischen
viert wurde, als eine Kontrollgruppe ohne Akti- diesen Faktoren zu verstehen. Leider fokussieren
vierung dieses Stereotyps. In der gleichen Studie viele Forschergruppen immer noch nur eine der
zeigten amerikanische Frauen asiatischer Herkunft Faktorengruppen, ohne dabei auch nur ansatzweise
jedoch schlechtere Leistungen in dem Mathema- die andere Gruppe von Einflussfaktoren ebenfalls
tiktest, wenn ausschließlich die Geschlechteriden- zu berücksichtigen. Ein Grund dafür liegt sicherlich
tität aktiviert wurde. Letzterer Befund stimmt mit darin, dass eine solche Forschung multidisziplinäre
dem Stereotyp überein, dass Frauen schlechtere Kompetenzen erfordert, bei der experimentelle Pa-
mathematische Fähigkeiten aufweisen als Männer radigmen aus den Bio-, Entwicklungs-, Neuro- und
(Hedges u. Nowell 1995). Eine solche positive und Sozialwissenschaften kombiniert werden müssen.
negative Wirkung von Geschlechtsstereotypen auf Ein anderer wesentlicher Grund basiert auf der Tat-
mathematische Fähigkeiten zeigte sich nicht nur sache, dass die Wissenschaft nach eleganten einfa-
bei Erwachsenen, sondern konnte zum Teil bereits chen Antworten strebt, um komplexe Sachverhalte
im Vorschulalter beobachtet werden (Ambady et erklären zu können. Wie dieses Kapitel (hoffentlich)
al. 2001). zeigen konnte, werden einfache Erklärungsmodelle
Interessanterweise scheint es möglich zu sein, den Interaktionen zwischen biologischen, psycholo-
Geschlechtsunterschiede in bestimmten mathema- gischen und sozialen Einflussfaktoren nicht gerecht,
tischen Fähigkeiten aufzuheben, wenn der Test um kognitive Geschlechtsunterschiede in ihrer Ge-
vor der Durchführung als nicht geschlechtssensitiv samtheit und Komplexität zu erfassen (⊡ Abb. 6.3).
beschrieben wird und so die existierenden Ge-
schlechtsstereotypen abgeschwächt werden (Spen-
cer et al. 1999). Eine aktuelle Studie beobachtete
sogar, dass allein das Wissen der Versuchsper-
sonen über das Phänomen des stereotype threat
ausreicht, um die Geschlechtsunterschiede in den
mathematischen Fähigkeiten zu eliminieren (Johns
et al. 2005). Solche Befunde sind nicht nur von
praktischem Interesse für Schule und Erziehung,
sondern auch von theoretischer Bedeutung für die
Geschlechterforschung, da die Mehrheit der Ver-
suchspersonen, die an Experimenten zu den kog-
nitiven Geschlechtsunterschieden teilnimmt, sich
eben dieser Tatsache bewusst ist. Implizit aktive
Geschlechtsstereotype können so die wahren ko-
gnitiven Leistungen beeinflussen. Diese Tatsache
führt sicherlich zur Überschätzung der wahren
kognitiven Geschlechtsunterschiede und könnte
⊡ Abb. 6.3. Der psychobiosoziale Ansatz. Kognitive Ge-
ein Grund dafür sein, dass die Stärke der kogniti- schlechtsunterschiede basieren auf komplexen Wechselwir-
ven Geschlechtsunterschiede in den verschiedenen kungen zwischen biologischen, psychologischen und sozia-
Studien zum Teil stark variiert. len Einflussfaktoren
120 Kapitel 6 · Kognitive Geschlechtsunterschiede

Einige wenige Studien haben versucht, kog- den Fragebogen aktiviert wurden, nicht aber in
nitive Geschlechtsunterschiede im Rahmen eines der Krontrollgruppe.
psychobiosozialen Ansatzes zu untersuchen. Eine Interessanterweise gaben Frauen wie Männer
dieser Studien (Halpern u. Tan 2001) untersuchte im Stereotypenfragebogen an, dass Männer es sich
den Zusammenhang zwischen den zyklusabhän- bei der mentalen Rotation um eine männliche
gigen Hormonfluktuationen und den geschlechts- Domäne handelt. Die Ergebnisse dieser Studie
sensitiven kognitiven Fähigkeiten (mentale Rota- sprechen dafür, dass erst die Aktivierung die-
tion, Wahrnehmungsgeschwindigkeit) in Abhän- ses Stereotyps zu einem robusten Geschlechts-
gigkeit der kulturspezifischen Geschlechterrollen unterschied in der 3D-mentalen Rotation führte.
(Nordamerika versus Osttürkei). Die wesentlichen Bemerkenswerterweise zeigten Männer nach Ak-
Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusam- tivierung der Geschlechtsstereotype einen Testos-
menfassen: teronspiegel, der im Vergleich zu der männlichen
6 ▬ Die erwarteten kognitiven Geschlechtsunter- Kontrollgruppe um beinahe 100% erhöht war.
schiede zeigten sich in beiden Kulturen. Wenn sich dieser Hormonanstieg nach der Stere-
▬ Die tatsächliche kognitive Leistung folgte nicht otypenaktivierung bestätigen sollte und nicht nur
den existierenden Geschlechtsstereotypen (ob- einen Selektionsbias darstellt, dann könnte dieses
wohl in der türkischen Stichprobe typische Ergebnis bedeuten, dass der kognitive Effekt der
männliche und weibliche Stereotypen auftra- Geschlechtsstereotypenaktivierung durch Sexual-
ten). hormone vermittelt wird.
▬ Die kognitiven Leistungen zeigten Zusammen- Natürlich sollten anhand solcher Befunde keine
hänge mit der Zyklusphase und den aktuellen verfrühten Schlüsse gezogen werden, aber diese
Östradiol- und Progesteronspiegeln. Beispiele deuten an, wie kognitive Geschlechts-
unterschiede durch das Zusammenspiel von bio-
In einer eigenen Studie (Hausmann et al. 2007, logischen, psychologischen und sozialen Faktoren
in Bearbeitung) untersuchten wir eine Stichprobe beeinflusst sein könnten.
von 116 Versuchspersonen, davon 61 Frauen,
mit einer Batterie geschlechtssensitiver kogniti-
ver Tests (3D- und 2D-mentale Rotation, Wort- 6.5 Alltagsrelevanz kognitiver
flüssigkeit, Wahrnehmungsgeschwindigkeit). Im Geschlechtsunterschiede
Anschluss an die kognitiven Tests wurden Spei-
chelproben erhoben, um die Östradiol- und Tes- Die Übertragbarkeit der Testergebnisse auf den
tosteronspiegel bestimmen zu können. Die Ver- Alltag ist problematisch. Die meisten der hier
suchspersonen wurden zufällig auf zwei Gruppen vorgestellten psychologischen Tests messen spe-
aufgeteilt, von denen die erste einen Fragebogen zifische kognitive Fähigkeiten. Damit unterschei-
bearbeiteten, der die existierenden Geschlechts- den sie sich deutlich von Alltagsproblemen, für
stereotypen dieser Gruppe in den nachfolgenden deren Bewältigung in der Regel ein ganzes Pot-
kognitiven Funktionen abbildeten und darüber pourri verschiedener Kompetenzen aufgewendet
hinaus eine Stereotypenaktivierung bewirken werden muss. Aus diesem Grund macht die Tat-
sollte. Die zweite Gruppe erhielt einen identi- sache, dass Frauen in einigen spezifischen Auf-
schen, aber geschlechtsneutralen Fragebogen. gaben zum räumlichen Vorstellungsvermögen im
Obwohl keine Geschlechtsunterschiede in der Durchschnitt schlechter abschneiden, sie nicht
Wahrnehmungsgeschwindigkeit auftraten, zeigte zwangsläufig zu einer Geschlechtergruppe, die
sich erwartungsgemäß eine bessere Leistung in schlecht einparken kann, wie es immer wieder in
der Wortflüssigkeit bei Frauen und Männer bes- populärwissenschaftlichen Publikationen zu lesen
sere Ergebnisse in der mentalen Rotation. Eine ist, und wogegen vermutlich auch die Unfallstatis-
robuste männliche Überlegenheit in der 3D-men- tiken sprechen. Das Einparken ist ein komplexes,
talen Rotation trat jedoch nur in der Gruppe auf, aus einer ganzen Reihe verschiedener Verhaltens-
bei der die Geschlechtsstereotypen vorher durch weisen zusammengesetztes Verhalten, das deutlich
Literatur
121 6

mehr mentale Prozesse erfordert als ausschließ- Fazit


lich räumliche Informationsverarbeitung. Manu- Auch wenn die genauen neuronalen Mecha-
elles Geschick sowie eine hohe Wahrnehmungsge- nismen zum großen Teil noch im Verborgenen
schwindigkeit, Domänen, in denen Frauen durch- liegen, so zeigt die Geschlechterforschung der
schnittlich besser abschneiden als Männer, sind letzten Jahrzehnte eindeutig, dass sich Frauen
sicherlich nur zwei weitere kognitive Funktionen, und Männer in bestimmten kognitiven Fähig-
die beim Einparken nützlich sind. Aufgrund der keiten unterscheiden. Auf der biologischen
zuletzt genannten Fähigkeiten könnte man sich Seite sind die hirnstrukturellen Unterschiede
auch vorstellen, dass Frauen die besseren Einpar- zwischen Männern und Frauen sowie ge-
ker sind. Die Häufigkeit des Parkens, die Vertraut- schlechtshormonelle Einflüsse die wohl be-
heit mit einem Fahrzeugtyp usw. sind sicherlich deutsamsten Faktoren. Auf der soziokulturellen
weitere Faktoren, die über die Einparkfähigkeit Seite sind insbesondere die Geschlechterrollen
entscheiden. und Geschlechtsstereotypen als Wirkfaktoren
Geschlechtsunterschiede in der kognitiven beschrieben worden. Es handelt sich hierbei je-
Leistung beziehen sich immer nur auf die durch- doch nicht um dichotome Ursachenkategorien,
schnittliche Leistung oder auf die Extremeberei- sondern um Faktoren, die stark miteinander
che in einer Leistungsverteilung der Geschlecht- interagieren und im Rahmen eines psychobio-
ergruppen. Voraussagen über die kognitive Kom- sozialen Ansatzes betrachtet werden müssen.
petenz eines Individuums allein auf der Basis des
Geschlechts sind nicht möglich. Dass eine Ge-
schlechtergruppe für bestimmte Berufe generell Literatur
besser oder weniger gut geeignet ist, lässt sich
aus den Forschungsergebnissen ebensowenig ab- Ambady N, Shih M, Kim A, Pittinsky TL (2001) Stereotype
leiten. Es ist vorstellbar, dass die individuellen susceptibility in children: effects of identity activation on
Stärken und Schwächen in bestimmten kognitiven quantitative performance. Psychol Sci 12:385–390
Funktionen, die teilweise durch hirnstrukturelle, Berenbaum SA, Hines M. (1992) Early androgens are rela-
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werden, das Interesse an bestimmten Berufen Bleeker ML, Bolla-Wilson K, Agnew J, Meyers DA (1988) Age
erhöhen oder reduzieren. Unabhängig von dem related sex differences in verbal memory. J Clin Psychol
genetischen oder hormonellen Geschlecht wird je- 44:403–411
mand mit miserablen räumlichen Fähigkeiten ver- Bornstein RA (1986) Normative data on intermanual diffe-
mutlich ebenso wenig Pilot(in) werden wollen, wie rences on the tests of motor performance. J Clin Exp
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jemand mit schwachen sprachlichen Fähigkeiten Bryden PL, Roy EA (2005) A new method of administering the
sich für ein Germanistikstudium begeistern wird. Grooved Pegboard Test: performance as a function of
Ausnahmen davon werden Männer und Frauen handedness and sex. Brain Cogn 58:258–268
gleichermaßen betreffen. Burns NR, Nettelbeck T (2005) Inspection time and speed of
Die Summe der geschlechtsspezifischen struk- processing: sex differences on perceptual speed but not
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turellen und funktionellen Besonderheiten könnte Chipman K, Kimura D (1998) An investigation of sex diffe-
aber ein Grund dafür sein, dass Männer und rences on incidental memory for verbal and pictorial
Frauen manchmal unterschiedliche Wege finden, material. Learn Individ Differ 10:259–272
bestimmte Probleme zu lösen. Das bedeutet nicht Choi J, L’Hirondelle N (2005) Object location memory: a direct
zwangsläufig, dass eine Strategie besser ist als die test of the verbal memory hypothesis. Learn Individ Differ
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Early hormonal influences of cognitive functioning in con- Witkin HA, Dyk RB, Faterson HF (1962) Psychological differen-
genital adrenal hyperplasia. Dev Psychol 22:191–198 tiation. Wiley, New York
7

Das transsexuelle Gehirn


Peggy T. Cohen-Kettenis, Stephanie H.M. van Goozen,
Michael A.A. van Trotsenburg

7.1 Terminologie und Diagnose – 126


7.1.1 Kinder – 126
7.1.2 Geschlechtsidentitätsstörung bei Jungen – 127
7.1.3 Geschlechtsidentitätsstörung bei Mädchen – 127

7.2 Prävalenz und Geschlechterverhältnis in der


Geschlechtsidentitätsstörung – 127

7.3 Theorien zur atypischen Geschlechtsentwicklung – 128


7.3.1 Biopsychologische Theorien – 129
7.3.2 Biologische Theorien – 130

7.4 Verändern sich transsexuelle Gehirne nach der Geburt? – 135

Literatur – 138
126 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

> Dank zahlreicher entwicklungspsychologischer Untersuchungen ist unser Wis-


sen um die Prozesse der normalen Geschlechtsentwicklung in den letzten drei
Jahrzehnten beträchtlich angewachsen. Wenn es jedoch um Abweichungen
vom der normalen Entwicklung geht, bleibt noch vieles rätselhaft (Cohen-Ket-
tenis u. Pfafflin 2003). Es gibt nur wenige empirische Arbeiten zu atypischer
Geschlechtsentwicklung, zum einen, weil solche Fälle selten sind, zum anderen,
weil manche Untersuchungen aus ethischen Gründen nicht durchführbar sind.
In diesem Kapitel geben wir einen kurzen Überblick über die aktuellen Theorien
zu atypischer Geschlechtsentwicklung, wie man sie bei Kindern mit Geschlecht-
sidentitätsstörung (GIS) und erwachsenen Transsexuellen beobachtet. Besonde-
re Aufmerksamkeit gilt hierbei möglichen biologischen Erklärungsansätzen.

7 7.1 Terminologie und Diagnose eingeführt. In der aktuellen Fassung des DSM, dem
DSM-IV (American Psychiatric Association 1994),
Der Begriff transsexuell tauchte in der Fachlitera- gibt es nur eine spezielle Diagnose, Geschlecht-
tur erstmals 1923 in den Arbeiten von Hirschfeld sidentitätsstörung. Hier wird die Geschlechtsiden-
auf. In seinen Arbeiten unterschied er jedoch titätsstörung als im Grunde einheitliche Störung
noch nicht zwischen Transvestitismus, effemi- angesehen, die sich über verschiedene Wege entwi-
nierter Homosexualität und Transsexualität. Erst ckeln und in unterschiedlicher Intensität auftreten
in den späten 40er-Jahren wurde der Begriff in kann (Bradley et al. 1991). Infolgedessen impliziert
seiner modernen Bedeutung gebraucht: zur Be- die Diagnose einer Geschlechtsidentitätsstörung
schreibung von Individuen, die dauerhaft in der keine spezielle Behandlung mehr.
sozialen Rolle des anderen Geschlechts leben
möchten (oder tatsächlich leben) und sich einer
Geschlechtsumwandlung unterziehen möchten 7.1.1 Kinder
(Cauldwell 1949). Dieser Wunsch nach einer Ge-
schlechtsumwandlung resultiert aus einer erleb- Bei Kindern kann sich eine GIS bereits im Alter
ten Diskrepanz zwischen dem biologisch vorge- von zwei Jahren entwickeln. Kleine Kinder sagen
gebenen Geschlecht einerseits und dem Empfin- möglicherweise, dass sie dem anderen Geschlecht
den von sich selbst als männlich oder weiblich angehören oder es später tun werden. Kinder
andererseits. Im Jahr 1973 prägte Fisk den Begriff mit GIS scheinen bei bestimmten Aspekten ge-
Geschlechtsdysphorie-Syndrom. Dieser Begriff schlechtsbezogenen Lernens einen Entwicklungs-
umfasste Transsexualität und andere Geschlecht- rückstand zu haben (Zucker et al. 1999). Kleine
sidentitätsstörungen. Geschlechtsdysphorie be- Kinder mit GIS benennen die Geschlechter mit
zeichnet den Stress, der aus einem Konflikt zwi- geringerer Wahrscheinlichkeit korrekt als Kinder
schen Geschlechtsidentität und dem biologischen ohne GIS. Sie machen auch mehr Fehler, wenn sie
Geschlecht resultiert. auf Fragen zur Stabilität des Geschlechts über die
In dem weit verbreiteten psychiatrischen Klas- Zeit und über Situationen antworten. Daher ist
sifikationssystem Diagnostic and Statistic Manual möglich, dass Kinder mit GIS mehr kognitive Ver-
of Mental Disorders III (DSM-III; Diagnostisches wirrung über das Thema Geschlechter erleben. Es
und Statistisches Manual psychischer Störungen) ist allerdings auch möglich, dass diese »kognitiven
tauchte Transsexualität erstmals 1980 als eigenstän- Fehler« eigentlich Verzerrungen der Realität dar-
dige Diagnose auf (American Psychiatric Associa- stellen, motiviert durch den starken Wunsch, dem
tion 1980). Für Kinder wurde eine separate Diag- anderen Geschlecht anzugehören (mehr Details
nose, Geschlechtsidentitätsstörung in der Kindheit, hierzu in Cohen-Kettenis u. Pfafflin 2003).
7.2 · Prävalenz und Geschlechterverhältnis in der Geschlechtsidentitätsstörung
127 7
7.1.2 Geschlechtsidentitätsstörung jungenhafte Weise zu bewegen. Andere Mädchen
bei Jungen bemühen sich, möglichst tief zu sprechen.
Mädchen mit GIS können sehr darunter leiden,
Jungen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung ein Mädchen zu sein und einen weiblichen Körper
interessieren sich normalerweise eher dafür, mit zu haben. Im Gegensatz zu Jungen zeigen sie weni-
Spielsachen für Mädchen zu spielen, und finden ger Ablehnung ihrer eigenen Genitalien, beschäf-
die Spiele und Aktivitäten von Mädchen (z. B. Seil- tigen sich aber viel damit, wie es wäre, einen Penis
springen) viel reizvoller als die Spiele und Aktivitä- zu haben. Der Gedanke, dass sie Brüste entwickeln
ten von Jungen (z. B. Fußball). Die meisten Jungen und zu menstruieren beginnen, wenn sie älter wer-
mit einer GIS zeigen eine deutliche Präferenz für den, ist ihnen normalerweise zuwider.
Mädchen als Spielkameraden. Wenn die Freun-
dinnen heranwachsen, finden diese es manchmal
schwierig, ihre Freundschaft zu einem Jungen auf- 7.2 Prävalenz und Geschlechter-
rechtzuerhalten. Da Feminität bei Jungen kaum verhältnis in der Geschlechts-
akzeptiert ist, werden Jungen mit GIS häufig von identitätsstörung
anderen Jungen gehänselt oder sogar schikaniert.
Die Stichelei steigert sich mit zunehmendem Alter, Die meisten Kinder mit einer Geschlechtsiden-
insbesondere wenn die Jungen sich auf weibliche titätsstörung entwickeln sich nach der Pubertät
Art bewegen oder mit hoher Stimme sprechen nicht zu Transsexuellen. Prospektive Untersuchun-
(Rekers u. Morey 1989). Jungen mit GIS sagen gen von Jungen mit GIS (z. B. Zucker u. Bradley
oft, dass sie darunter leiden, ein Junge zu sein und 1995), zeigen, dass dieses Phänomen eher mit spä-
einen männlichen Körper zu haben. Manche Jun- terer Homosexualität als mit späterer Transsexu-
gen scheinen ihre Genitalien geradezu abzulehnen. alität zusammenhängt. Diese Resultate stimmen
Wenn sie duschen, verstecken sie ihre Genitalien mit retrospektiven Studien überein, aus denen
und setzen sich beim Urinieren hin. hervorgeht, dass männliche und weibliche Ho-
mosexuelle mehr gegengeschlechtliches Verhal-
ten in der Kindheit erinnern als männliche und
7.1.3 Geschlechtsidentitätsstörung weibliche Heterosexuelle (einen Überblick dazu
bei Mädchen geben Bailey u. Zucker 1995). Für dieses Resultat
wurden verschiedene Erklärungen vorgeschlagen.
Mädchen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung Möglicherweise treten Identitätsstörungen in der
zeigen im gleichen Alter wie Jungen ebenfalls ty- Kindheit mit variablerem Schweregrad auf als im
pische gegengeschlechtliche Verhaltensweisen. Ihr Erwachsenenalter. Wenn dies gilt, werden nur die
jungenhafter Kleidungsstil ist jedoch weniger deut- extremeren gegengeschlechtlichen Fälle später zu
lich und fällt meist erst mit dem Eintritt in die Transsexuellen, die milderen Fälle werden Homo-
Schule auf. Stattdessen berichten Eltern lediglich, oder Heterosexuelle.
dass ihre Töchter von klein auf gern bequeme Klei- Es liegen keine epidemiologischen Untersu-
dung und ihr Haar sehr kurz tragen und meist für chungen vor, aus denen Daten über die Prävalenz
Jungen gehalten werden. von GIS in der Kindheit hervorgehen. Die Präva-
Mädchen mit GIS spielen bevorzugt mit Jungen lenz kann nur auf Grundlage indirekter Quellen
und interessieren sich für die Spielsachen von Jun- geschätzt werden. Auf Grundlage der retrospekti-
gen; außerdem mögen sie Sport und wildere Spiele. ven Feststellung (Bailey u. Zucker 1995), dass viele
Gegengeschlechtliches Verhalten wird bei Mäd- homosexuelle Männer und Frauen sich an gegen-
chen eher akzeptiert als bei Jungen, daher werden geschlechtliches Verhalten in der Kindheit erin-
Mädchen mit GIS weniger gehänselt und geächtet nern, könnte die Prävalenz von Homosexualität
als Jungen mit GIS. Mädchen sind auch in ihren einen Anhaltspunkt für die Prävalenz von GIS in
Bewegungen nicht immer deutlich maskulin. Man- der Kindheit liefern. Laut Sandfort (1998) beträgt
che Mädchen versuchen allerdings, sich auf typisch diese 2–6% für Männer und 2% für Frauen.
128 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

Schätzungen der Prävalenz von Transsexualität den meisten Untersuchungen erscheint Transsexua-
unter (älteren) Heranwachsenden und Erwachsenen lität bei Männern häufiger als bei Frauen. Normaler-
(16 Jahre und älter) basieren normalerweise auf der weise wird ein 3:1- oder 2:1-Verhältnis beobachtet
Zahl der Transsexuellen, die in den größeren Zen- (Überblick in Landèn et al. 1996). Die Mehrzahl
tren behandelt werden, oder auf Antworten von Spe- der präpubertären Kinder, die in Spezialkliniken für
zialkliniken für Transsexuelle sowie von Psychiatern Transsexuelle behandelt werden, sind Jungen. Das
und Psychologen in verschiedenen Ländern oder Verhältnis Jungen zu Mädchen beträgt in Kanada
Regionen bezüglich der Anzahl ihrer transsexuellen 5,75:1 (n=358), in den Niederlanden 2,93:1 (n=130)
Patienten. Die Zahlen unterscheiden sich je nach (Cohen-Ketteniset al. 2003) und in Großbritannien
Studie erheblich. Die wissenschaftliche Dachorga- (n=53) 3,81:1 (DiCeglie et al. 2002).
nisation für Geschlechtsdysphorie (World Professi-
onal Association for Transgender Health, WPATH,
früher: Harry Benjamin International Gender Dys- 7.3 Theorien zur atypischen
phoria Association, HBIGDA) gründete ihre Prä- Geschlechtsentwicklung
valenzschätzungen auf epidemiologische Daten aus
7 den Niederlanden. Laut diesen Daten ist einer von In der Erforschung determinierender Faktoren für
11.900 Männern und eine von 30.400 Frauen trans- starke Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschlecht
sexuell. Weitere Beobachtungsstudien, die noch wurden bei Kindern und Erwachsenen mit GIS
nicht durch systematische Untersuchungen gestützt unterschiedliche Faktoren untersucht. Unzufrie-
werden, vermuten eine noch höhere Prävalenz. In denheit mit dem eigenen Geschlecht bei Kindern

Beispiel

Larissa beantragte mit 16 Jahren eine Geschlechts- Kriterien für einen Behandlungsbeginn zwischen
umwandlung (sex reassignment surgery, SRS). Ihr 16 und 18 Jahren. Mit 17 Jahren wurde die Mens-
Vater war Buchhalter, ihre Mutter Hausfrau. Larissa truation medikamentös unterbunden und nach
hatte zwei Schwestern, die ältere Schwester stu- weiteren vier Monaten Testosteron verschrieben. Ein
dierte, die jüngere besuchte noch die Mittelschule. Jahr später unterzog sie sich einer Brustoperation,
Larissa war immer ein ruhiges, »pflegeleichtes« Kind. Uterus und Eierstöcke wurden entfernt. Mit 19 Jah-
Als Kind verhielt sie sich nicht mädchentypisch, ren erfolgte die Personenstandsänderung. In dieser
das taten ihre Schwestern allerdings auch nicht, Phase besuchte Larissa/Lars bereits die Universität.
daher alarmierte ihr Verhalten ihre Eltern nicht. Im Mit 23 Jahren suchte er wieder unsere Klinik auf,
Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie jedoch mit dem Wunsch nach äußerlicher Angleichung
Spaß an Fußball und besaß einige sehr enge männ- des Genitals an das männliche Geschlecht, eine
liche Freunde. Als auch sie zur Mittelschule ging, sog. Metaidoioplastik (Umwandlung der hormonell
wurde sie noch stiller als davor und begann, einen hypertrophierten Klitoris in einen Mikropenis und
unglücklichen Eindruck auf ihre Eltern zu machen. Konstruktion eines Neoskrotums aus den großen
Ihre männlichen Freunde besuchten andere Schulen. Schamlippen mit Hodenprothesen). An der Universi-
Im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie niemals tät hatte er seinen Master in Psychologie abgeschlos-
Verabredungen mit Jungen und wurde zum Einzel- sen und arbeitete in einer Klinik für die Behandlung
gänger. Ihre Schulnoten blieben aber gut und es gab psychischer Störungen. Er hatte seit mehr als vier
keine weiteren Anzeichen dafür, dass etwas nicht Jahren eine stabile Beziehung. Lars wollte auch den
stimmte. Als ihre Mutter eines Tages bemerkte, dass letzten chirurgischen Schritt machen, um sich voll-
sie ein sehr enges T-Shirt ihrer Schwester anzog, um ständiger als Mann zu fühlen. Er hatte Wege gefun-
ihre Brüste zu verstecken, wurde ihre Transsexuali- den, seine Sexualität ohne Koitus auszuleben. Vor
tät offenbar. Trotz des Schocks suchten ihre Eltern einiger Zeit erhielt die Klinik zwei Karten von ihm:
unmittelbar nach Hilfe. Der Hausarzt verwies sie eine mit der Ankündigung seiner Hochzeit, eine mit
an unsere Klinik. Larissa erfüllte alle notwendigen der Ankündigung der Adoption einer Tochter.
7.3 · Theorien zur atypischen Geschlechtsentwicklung
129 7

wurde bislang kaum hinsichtlich biologischer Fak- ologischen Forschung über GIS in der Kindheit
toren untersucht. Die wenigen vorliegenden Daten neue Impulse gegeben haben. Coates (1990) führt
verweisen darauf, dass dieses Phänomen mit dem an, dass während einer kritischen Entwicklungs-
Geschlechterverhältnis der Geschwister und mit phase multiple kumulative Risikofaktoren zusam-
der Geburtsreihenfolge von Brüdern und Schwes- menkommen müssen, und dass manche Jungen
tern zusammenhängt, außerdem mit der Händig- aufgrund ihres ängstlichen Temperamentes eine
keit und einem ängstlichen Temperament, was ver- Anfälligkeit für GIS entwickeln. Aufgrund des
muten lässt, dass biologische/hormonelle Faktoren Zusammenwirkens dieser Faktoren verfügen sie
eine Rolle spielen (Überblick bei Cohen-Kettenis über wenig oder gar keine Erfahrung mit ande-
u. Pfäfflin 2003). Extreme Geschlechtsdysphorie ren Jungen, was mit ihrer Entwicklung maskuliner
im Erwachsenenalter (Transsexualität) wurde mit Spielfertigkeiten interferiert. Laut Coates (1990) ist
genetischen und hormonellen Faktoren in Verbin- die Lebenssituation vieler Mütter von GIS-Kindern
dung gebracht, wobei die Mehrzahl der Befunde aus während der ersten drei Lebensjahre des Kindes
Einzelfallstudien stammt oder die Untersuchungen durch eine chronisch dysfunktionale Familie oder
Inkonsistenzen aufweisen. Bis heute gibt es nicht ein traumatisches Erlebnis (z. B. Todesfall oder
eine einzige Studie, die schwere Geschlechtsdys- schwere Krankheit in der Familie) geprägt. Die
phorie zweifelsfrei mit hormonellen Störungen resultierende Psychopathologie der Mutter führt
oder genetischen Abweichungen verknüpft. Einige zu einer Prädisposition des Kindes für chronische
sehr beeindruckende Studien verweisen jedoch auf Trennungsangst und Depressionen, wobei Jungen
eine somatische Verursachung (Zhou et al. 1995). gegengeschlechtliche Symptome als Schutzwall ge-
gen ihre Trennungsangst entwickeln.

7.3.1 Biopsychologische Theorien Unsicherheit über den Selbstwert


Zucker u. Bradley (1995) haben verschiedene
Physisches Erscheinungsbild
Aspekte der obigen Ideen in eine umfassen-
Das Erscheinungsbild von Kindern kann bei den dere Theorie integriert. Ihrer Ansicht nach ist
Eltern Gefühle und Verhaltensweisen auslösen, die »Unsicherheit über den Selbstwert« eine
welche die kindliche Geschlechtsentwicklung be- zentrale Komponente für die Entwicklung von
einflussen. Tatsächlich zeigen klinische und expe- GIS. Aufgrund dieser Unsicherheit steht die
rimentelle Untersuchungen (Green 1987; Zucker et Identifikation mit dem anderen Geschlecht für
al. 1993), dass Jungen mit GIS ein attraktives Äuße- die Identifikation mit einem sichereren oder
res haben, während für Mädchen mit GIS das Ge- höher bewerteten Geschlecht. Laut Zucker
genteil gilt (Fridell et al. 1996). Es ist denkbar, dass u. Bradley (1995) müssen zwei Bedingungen
die körperlichen Merkmale (Gesicht) des Kindes erfüllt sein, damit das Gefühl entsteht, das
von klein auf zu Verstärkung einer atypischen Ge- andere Geschlecht sei sicherer. Erstens müssen
schlechtsrolle durch die Eltern beitragen. Es bleibt Kinder solch starke emotionale Verzweiflung
jedoch sehr unwahrscheinlich, dass die Faktoren, erleben, dass sie nach einer »Lösung« zum
bei denen Unterschiede zwischen Kindern mit und Überleben suchen. Diese Verzweiflung kann
ohne GIS auftreten, für sich allein ausreichen, um aus allgemeinen Faktoren resultieren, die mit
GIS zu induzieren. Aus diesem Grunde postulieren dem Temperament des Kindes, den Merkmalen
einige Theorien, dass diese Faktoren nur in Kombi- der Eltern oder beidem zusammenhängen.
nation mit anderen zu einer gegengeschlechtlichen Zweitens müssen während einer sensiblen
Identität bei Kindern führen. Entwicklungsphase (d. h. wenn das Kind ein
kohärentes Selbstgefühl entwickelt) spezifische
Faktoren zu einer Situation führen, in der die
Ängstlichkeit als Temperamentsmerkmal
resultierende Unsicherheit und Angst gegen-
Seit den frühen 90er-Jahren sind zwei relativ um- geschlechtliches Verhalten induziert.
fassende Theorien formuliert worden, die der äti-
130 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

Ein allgemeiner prädisponierender Faktor ist eine wurden, stützte diese Beobachtungen aber nicht
konstitutionell bedingte Neigung zu einem sehr uneingeschränkt (Wallien et al. 2007).
hohen Erregungsgrad in stressgeladenen Situ-
ationen. Laut Zucker u. Bradley (1995) haben
diese Kinder größere Schwierigkeiten bei der Re- 7.3.2 Biologische Theorien
gulation ihrer eigenen Affekte, insbesondere im
Kontext einer unsicheren Mutter-Kind-Beziehung. Organisierende Wirkungen von
Ein anderer allgemeiner Faktor sind Schwierig- Geschlechtshormonen
keiten der Eltern mit ihrer Affektregulation, die Mit dem Prozess geschlechtlicher Differenzierung
ebenfalls konstitutionell begründet sein können. ist nicht nur die Ausbildung der internalen und ex-
Solche Schwierigkeiten können verhindern, dass ternalen Genitalien gemeint, sondern auch die Dif-
das Kind eine sichere Bindung an die Eltern entwi- ferenzierung des Gehirns in männlich oder weib-
ckelt, oder dazu führen, dass die Eltern Probleme lich. Die pränatale Einwirkung gonadaler Steroide
nicht effektiv lösen und schlecht Grenzen setzen organisiert die neuralen Schaltkreise im sich ent-
können. Wenn die Eltern nur unzureichend Gren- wickelnden Gehirn. Diese Wirkungen werden als
7 zen aufzeigen, wird gegengeschlechtliches Verhal- »organisierend« bezeichnet, während hormonelle
ten nicht ausreichend sanktioniert und derartiges »aktivierende« Effekte eine Wirkung auf das Ner-
Verhalten nimmt zu. Auf diese Weise verschlech- vensystem haben, durch die bestimmte Verhaltens-
tern sich Eltern-Kind-Beziehungen, die schon vor- muster ausgelöst werden. Diese Wirkungen sind
her aufgrund von Bindungsproblemen problema- nicht permanent, da die Verhaltensänderungen das
tisch waren, noch weiter. Die Situation ermöglicht Ergebnis veränderter Hormonniveaus sind.
dem Kind auch, sich vorzustellen, dem anderen Eine Diskrepanz zwischen der Differenzierung
Geschlecht anzugehören und verstärkt damit die der Genitalien einerseits und der geschlechtlichen
gegengeschlechtlichen Interessen und Verhaltens- Differenzierung des Gehirns andererseits wurde
weisen des Kindes. als eine mögliche Erklärung für GIS oder Trans-
Die Bedeutung von Faktoren, die Zucker u. sexualität vorgeschlagen. Bislang fehlen allerdings
Bradley als zentral für die Entwicklung einer GIS noch zweifelsfreie neurophysiologische Belege für
bezeichnen, wurde auch in einigen Studien aufge- diese attraktive Hypothese. Aktuelle systematische
zeigt. So fanden sich in einigen Studien Hinweise auf Studien zum Vorkommen von Östrogenrezeptoren
vermehrte psychopathologische Variablen bei Eltern vom Typ ER-alpha und ER-beta in denjenigen
von Jungen mit GIS (Marantz u. Coates 1991; Rekers Regionen des Gehirns, die wahrscheinlich für die
et al. 1983; Wolfe 1990): Daher ist es möglich, dass geschlechtliche Differenzierung relevant sind, wie
emotionale Unverfügbarkeit der Eltern bei deren Nuklei des Hypothalamus, verweisen auf potenzi-
Söhnen zu Unsicherheit und daher Identifikation elle Geschlechtsunterschiede in den Expressions-
mit dem anderen Geschlecht führen kann. mustern von sowohl ER-alpha als auch -beta, die
In beiden Theorien, sowohl von Coates wie von eher auf »aktivierende« denn auf »organisierende«
Zucker und Bradley, wird ein ängstliches Tempera- Wirkungen schließen lassen (Kruijver et al. 2002,
ment des Kindes als ein Faktor angesehen, der das 2003).
Kind konstitutionell anfällig für die Entwicklung Darüber hinaus zeigen aktuelle Forschungs-
einer GIS macht. Eine Studie mit einer großen ergebnisse, dass XY- und XX-Gehirnzellen unter-
Stichprobe kanadischer und niederländischer Kin- schiedliche Muster der Genexpression aufweisen,
der (n=448) stellte fest, dass Verhaltensprobleme die die Zelldifferenzierung und -funktion unab-
vorherrschend internalisiert wurden (Cohen-Ket- hängig von den maskulinisierenden Effekten gona-
tenis et al. 2003). Die Untersuchung basierte auf daler Sekretion beeinflussen. Beispielsweise wurde
Elternberichten und bestätigte die Vorstellung, ein spezifischer direkter Effekt des auf dem Y-Chro-
dass Kinder mit GIS mehr internalisierte Probleme mosom lokalisierten SRY-Gens auf das männliche
haben (Ängste und Depressionen). Eine Untersu- Gehirn demonstriert, der dem Einfluss gonadaler
chung, in der physiologische Reaktionen getestet Hormone vorausgeht (Dewing et al. 2006).
7.3 · Theorien zur atypischen Geschlechtsentwicklung
131 7

Zur Verifizierung der Annahme, dass pränatale Geschlecht zu entwickeln, in dem man aufgezogen
Geschlechtshormone die Entwicklung von Trans- wird, auch wenn in vielen Studien einige Aspekte
sexualität beeinflussen, wurde in verschiedenen von Geschlechtsrollenverhalten als atypisch festge-
Untersuchungen die Prävalenz von GIS bei klini- stellt wurden (Cohen-Kettenis 2005).
schen Auffälligkeiten wie beispielsweise abnormer
pränataler Hormoneinwirkung ermittelt und/oder
Unterschiede zwischen transsexuellen und nicht Neuroendokrine Regulation des
von GIS betroffenen Subgruppen bezüglich bi- luteinisierenden Hormons
ologischer Merkmale untersucht. Ähnliche Stu- In einer Reihe weiterer Untersuchungen ging man
dien sind auch mit erwachsenen Homosexuellen davon aus, dass die neuroendokrine Steuerung des
durchgeführt worden (Überblicksarbeiten zu bio- luteinisierenden Hormons (LH) beim Menschen
logischer Forschung über Homosexualität z. B. ebenso wie bei niederen Säugetieren einen verläss-
von Ellis u. Ebertz 1997; Gooren 1988; Zucker u. lichen Indikator für die geschlechtliche Differen-
Bradley 1995). zierung des Gehirns darstellt. Von der Annahme
ausgehend, dass man Transsexualität mit einem
pränatalen Ungleichgewicht der Steroidhormone
Anomalien in pränatalen Hormon- erklären kann, wurde postuliert, dass Mann-zu-
einwirkungen Frau-Transsexuelle (MzF) genau wie Frauen einen
Wenn Androgene ein entscheidender Faktor für Anstieg des LH-Niveaus aufweisen, der über einen
die Ausbildung der Geschlechtsidentität wären, durch exogene Östrogenstimulation ausgelösten po-
würden genetisch weibliche Individuen, die einem sitiven Feedback-Mechanismus vermittelt wird. Das
abnorm hohen Niveau von Testosteron ausgesetzt Gegenteil wurde für Frau-zu-Mann-Transsexuelle
sind (wie in Fällen von kongenitaler adrenaler Hy- (FzM) erwartet. Die Hypothese basierte auf tierex-
perplasie), vermutlich eine männliche Geschlecht- perimentellen Resultaten und fand Unterstützung
sidentität entwickeln, auch wenn sie als Mädchen aus zwei Humanstudien (Dörner et al. 1976; Seyler
aufgezogen werden. Über einige wenige solcher et al. 1978), andere kamen jedoch zu anderen Re-
Fälle wurde berichtet (Dessens, Slijper u. Drop sultaten (Goodman et al. 1985; Spijkstra et al. 1988;
2005). Obwohl die Betroffenen ein erhöhtes Risiko Spinder et al. 1989; Wiesen u. Futterweit 1983).
für geschlechtsbezogene Probleme haben könnten Da der positive Feedback-Effekt des Östrogens
(z. B. aufgrund ihres zweideutigen Genitals oder auch bei Homosexuellen beobachtet wurde, wurde
Reaktionen der Umwelt auf diese Ambiguität), vorgeschlagen, dass diese Reaktion eher im Zu-
wollen die meisten ihr späteres Leben nicht als sammenhang mit der sexuellen Orientierung als
Männer verbringen. Dasselbe scheint für Personen mit Transsexualität stehe. In einer Untersuchung
mit partieller Androgeninsensitivität zu gelten, die (Dörner, Rohde, Schott u. Schnabl 1983) wurde
als Mädchen aufgezogen wurden (Mazur 2005). ein positives Östrogen-Feedback nur bei denjeni-
Bei Männern und Frauen, die in utero Substanzen gen Transsexuellen gefunden, die sich von Sexu-
mit (de)maskulinisierenden oder feminisierenden alpartnern desselben biologischen Geschlechts an-
Eigenschaften ausgesetzt waren, wurde nur selten gezogen fühlen. Dieses Einzelresultat kann jedoch
der Wunsch beobachtet, in der Rolle des anderen nicht mit der pränatalen geschlechtlichen Differen-
Geschlechts zu leben (Collaer u. Hines 1995). Des- zierung des Gehirns in Zusammenhang gebracht
sens et al. (1999) fanden allerdings drei Transse- werden. Gooren (1986a,b) zeigte, dass MzF-Trans-
xuelle in einer Stichprobe von 243 Männern und sexuelle nur nach einer Östrogenbehandlung, bei
Frauen, die im Mutterleib antiepileptischer Medi- erniedrigtem Testosteronniveau einen positiven
kation ausgesetzt waren, die der Mutter während Feedback-Effekt von Östrogen zeigten. Seiner An-
der Schwangerschaft verabreicht wurde. In Anbe- sicht nach sollte die Annahme, dass die neuro-
tracht der Seltenheit von Transsexualität ist dies endokrinen Regulation der LH-Ausschüttung ein
eine bemerkenswerte hohe Rate. Insgesamt scheint verlässlicher Indikator der geschlechtlichen Diffe-
sich die Geschlechtsidentität entsprechend dem renzierung des Gehirns sei, verworfen werden.
132 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

Sexuell dimorphe Nuklei im Gehirn dimorphe Regionen im Hypothalamus geschlecht-


Eine dritte Forschungsrichtung zu biologischen lich differenziert (Quadros et al. 2002).
Determinanten von GIS befasst sich mit Unter-
suchungen zu sexuell dimorphen Kerngebieten
bei Transsexuellen. Beim Menschen sind verschie- Kognitive Fähigkeiten, funktionelle
dene Nuklei im Hypothalamus im Hinblick auf zerebrale Asymmetrien, Händigkeit und
Größe und/oder Form sexuell dimorph (Überblick Verhältnis der Fingerlängen zueinander
in Gorski 2000). Diese Geschlechtsunterschiede Eine vierte Forschungsrichtung widmet sich ge-
im Hypothalamus könnten möglicherweise Ge- schlechtsbezogenen kognitiven Funktionen, funk-
schlechtsunterschieden in der Geschlechtsidenti- tionellen zerebralen Asymmetrien und Händigkeit
tät und/oder der sexuellen Orientierung zugrunde bei Personen mit GIS. Geschlechtsunterschiede in
liegen. diesen Bereichen sind gut belegt, wobei die Unter-
Bei sechs MzF-Transsexuellen wurde fest- schiede in der funktionellen Asymmetrie gering
gestellt, dass der zentrale Teil des Bed Nucleus sind (Bryden 1988; Harris 1992; Hiscock et al.
der Stria terminalis (BSTc) nicht nur signifikant 1994).
7 kleiner war als bei männlichen Kontrollperso-
nen (gemessen an der Neuronenzahl), sondern Kognitive Fähigkeiten. Im Allgemeinen verar-
auch vollständig innerhalb der Bandbreite weibli- beiten Männer verbale Stimuli lateralisierter als
cher Kontrollpersonen lag (Zhou et al. 1995). Das Frauen und zeigen eine schwächere Bevorzugung
Gegenteil wurde für einen FzM-Transsexuellen der rechten Hand. Im Hinblick auf spezifische ko-
festgestellt (Kruijver et al. 2000). Zu beachten ist, gnitive Funktionen wurde festgestellt, dass Frauen
dass nicht transsexuelle Männer, die aus medi- Männern tendenziell in bestimmten verbalen Auf-
zinischen Gründen Östrogene einnahmen, keine gaben überlegen sind, wohingegen Männer in be-
Verkleinerung des BSTc aufwiesen. Daher ist es stimmten visuell-räumlichen Aufgaben überlegen
unwahrscheinlich, dass dieser Größenunterschied sind (z. B. Halpern 1992; Linn u. Peterson 1985). Es
auf die Hormonbehandlung der Transsexuellen gibt Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen
zurückzuführen ist. pränatalen hormonellen Einflüssen einerseits und
Die meisten Untersuchungen zur geschlechtli- funktioneller zerebraler Asymmetrie, geschlechts-
chen Differenzierung des Gehirns wurden jedoch bezogenen kognitiven Fähigkeiten und Händigkeit
an Tieren durchgeführt, was eine Übertragung der andererseits. Diese Hinweise stammen aus prä-
Befunde auf die entsprechenden Prozesse beim und postpubertären klinischen Stichproben, wie
Menschen erschwert. In niederen Tieren scheint beispielsweise Frauen mit CAH, sowie aus Unter-
das Vorhandensein oder Fehlen von Testosteron suchungen normaler Kinder (Übersicht in Hines
während einer kritischen Phase der geschlechtli- 2004). Im Hinblick auf die Ursachen von Trans-
chen Differenzierung des Gehirns die Morpho- sexualität, führt die Hypothese, dass eine gegen-
logie bestimmter Gehirnkerne zu beeinflussen. geschlechtliche Identität (teilweise) auf abnorme
Insbesondere die Entwicklung und Differenzie- pränatale Einwirkung von Geschlechtshormonen
rung der zentralen Komponente des medialen auf das Gehirn zurückzuführen ist, dazu, bei FzM
präoptischen Nukleus (MPNc) wird durch Tes- stärker männertypische Merkmale und Funktio-
tosteron und – aufgrund topischer starker Expres- nen zu erwarten und bei MzF eher frauentypische
sion von Aromatase – durch Östradiol gesteuert. Merkmale und Funktionen.
Darüber hinaus liegen sowohl prä- wie perinatal Im Bereich derjenigen kognitiven Fähigkeiten,
geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Ex- bei denen Frauen besser abschneiden, zeigten effe-
pression von Progesteronrezeptoren in dieser minierte Jungen und Heranwachsende einen hö-
Region vor, die unmittelbar mit der Einwirkung heren verbalen als Handlungs-IQ in den Wechsler
von Testosteron zusammenhängen. Die Induktion Intelligenztests. Darüber hinaus war auch die Score
von Progesteronrezeptoren könnte daher ein Me- für den Faktor verbales Verständnis höher als für
chanismus sein, durch den Testosteron die sexuell den Faktor Wahrnehmungsorganisation (Money
7.3 · Theorien zur atypischen Geschlechtsentwicklung
133 7

u. Epstein 1967). Obwohl Zucker u. Bradley (1995) kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die
bei 164 präpubertären Jungen und 25 Mädchen Resultate in einer größeren Stichprobe signifikant
mit GIS keine Unterschiede zwischen Wechslers geworden wären. Unerwarteterweise zeigten die
Verbal- und Handlungs-IQ fanden, stellten sie fest, 34 FzM-Transsexuellen im Vergleich zur weibli-
dass die Jungen in zwei verbalen Subtests (Wort- chen Kontrollgruppe geringere anstatt stärkere
schatz und allgemeines Verständnis), die auf dem Lateralisierung. In einem verbalen Gedächtnistest
Faktor verbales Verständnis basierten, besser ab- zeigten die FzM-Transsexuellen das vorhergesagte
schnitten als in zwei eher »räumlichen« Subtests Muster geschlechtsuntypischer kognitiver Leis-
(Mosaiktest und Figurenlegen). Im Vergleich mit tung, in visuell-räumlichen Fähigkeiten wurden
einer klinischen Stichprobe und normalen Kon- jedoch keine Unterschiede gefunden. In einer spä-
trollen schienen die Jungen mit GIS ein relatives teren Studie, an der ausschließlich ein spezifischer
Defizit bei räumlichen Fähigkeiten zu haben, je- Subtyp von Transsexuellen teilnahm (Transsexu-
doch keinen relativen Vorteil bei verbalen Fähig- elle, die sich von Partnern ihres eigenen biologi-
keiten. Die Resultate anderer Studien sind jedoch schen Geschlechts angezogen fühlen) lag deren
inkonsistent und es muss angemerkt werden, dass Leistung in visuell-räumlichen Aufgaben zwischen
die Wechsler-Skalen nicht zu dem Zweck konstru- der normaler männlicher und weiblicher Kontroll-
iert wurden, Konstrukte mit großen Geschlechts- gruppen (van Goozen et al. 2002).
unterschieden zu messen. In einer anderen Studie
unterschieden sich die Werte von acht MzF-Trans- Händigkeit. Mögliche Händigkeitsunterschiede
sexuellen im Embedded-figures-Test signifikant zwischen gegengeschlechtlichen Individuen und
von einer männlichen, aber nicht von einer weibli- Kontrollen wurden bei Kindern und Erwachsenen
chen Kontrollgruppe (La Torre et al. 1976). untersucht. Diesen Untersuchungen lag die An-
nahme zugrunde, dass pränatale Hormoneinwir-
Funktionelle zerebrale Asymmetrie. Beim Test kung sowohl GIS wie auch Nicht-Rechtshändigkeit
lateralisierter Verarbeitung von visuell präsen- erkläre, obwohl bereits andere Mechanismen zur
tierten verbalen und räumlichen Stimuli zeigten Erklärung von (Nicht-)Rechtshändigkeit vorge-
sich keine Unterschiede zwischen 12 FzM-Trans- schlagen wurden (z. B. Annett 1985; Coren 1995).
sexuellen und Kontrollen (Herman et al. 1993). Bei 205 Jungen mit GIS wurde im Vergleich zu
10 männliche Kontrollpersonen zeigten stärkere einer klinischen Kontrollgruppe und drei Popula-
Lateralisationsmuster für nonverbale (aber nicht tionsstudien mit gesunden Jungen (Zucker et al.
für verbale) Stimuli als 13 MzF-Transsexuelle 2001) häufiger Linkshändigkeit festgestellt. In an-
und 10 weiblichen Kontrollpersonen (Cohen u. deren Untersuchungen wurden ebenfalls erhöhte
Forget 1995). Auch Cohen-Kettenis et al. (1998) Prozentzahlen für Nicht-Rechtshändigkeit bei un-
berichten über weibliche Muster kognitiver Funk- behandelten erwachsenen MzF- und FzM-Trans-
tionen und funktioneller zerebraler Asymmetrien sexuellen festgestellt (Cohen-Kettenis et al. 1998;
bei MzF-Transsexuellen. In dieser Studie zeigten Green u. Young 2001; Herman et al. 1993; Orlebeke
44 MzF-Transsexuelle weniger funktionale zere- et al. 1992; Slabbekoorn et al. 2000; Watson u. Co-
brale Asymmetrien bei der Verarbeitung audi- ren 1992; Wisniewski et al. 2005).
tiver verbaler Stimuli und gaben in einem Fra-
gebogen geringere Lateralisierung an, darüber Fingerlängenverhältnis. Auch das Verhältnis der
hinaus waren ihre Leistungen in einem verba- Länge von Zeigefinger zu Ringfinger (2. und 4.
len Gedächtnistest besser als die von männlichen Finger, 2D:4D-Verhältnis) soll negativ mit präna-
Kontrollen. Allerdings wurden bei der mentalen taler Androgeneinwirkung korreliert sein, dieser
Rotation keine Unterschiede gefunden. Weil die Parameter wurde ebenfalls im Zusammenhang mit
Standardabweichungen groß und die Geschlechts- den Ursachen von Transsexualität untersucht. Es
unterschiede in der männlichen und weiblichen zeigte sich, dass das 2D:4D-Verhältnis bei MzF-
Transsexuellen-Gruppe kleiner als in den weib- Transsexuellen höher ist als bei normalen männli-
lichen und männlichen Kontrollgruppen waren, chen Kontrollpersonen (Schneider et al. 2006).
134 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

Geburtsreihenfolge und Geschlechter- verhältnis der Geschwister berechnet. Für Mäd-


verhältnis der Geschwister chen oder Frauen mit GIS ergaben sich aus dem
Geburtenreihenfolge. Bei Männern scheint ein Geschlechterverhältnis keine deutlichen Hinweise.
Zusammenhang zwischen der Anzahl älterer Brü- Blanchard (1997) stellte jedoch in einer Über-
der und der sexuellen Orientierung zu bestehen. blicksarbeit zu den 13 Studien mit Männern fest,
Blanchard (2001) nennt dies den »Geburtsreihen- dass das Geschlechterverhältnis der Geschwister
folgeeffekt von Brüdern«. Dieser Effekt wurde in sich nur in einer kombinierten homosexuell weib-
drei Untersuchungen mit Kindern, Heranwachsen- lichen/transsexuellen Stichprobe (n=896) signifi-
den und Erwachsenen mit geschlechtsbezogenen kant von 106 unterschied, nicht jedoch in homo-
Problemen beobachtet. Bei Frauen konnte kein sexuellen (n=2365) oder heterosexuellen (n=5308)
derartiger Effekt festgestellt werden. Blanchard Stichproben. Er berechnete das Verhältnis älterer
(1997, 2001) postuliert, dass dieser Effekt die pro- und jüngerer Geschwister und zeigte so, dass das
gressive Immunisierung der Mütter gegenüber Mi- Geschlechterverhältnis der Geschwister nicht nur
nor-Histokompatibilitäts-Antigenen, die mit dem durch eine große Zahl älterer Brüder geprägt war.
Y-Chromosom verbunden sind (H-Y Antigene) Die femininen/transsexuellen Männer besaßen
7 widerspiegelt, die ab einer sehr frühen Entwick- darüber hinaus mehr jüngere Brüder als jüngere
lungsphase des männlichen Fötus auf den Zello- Schwestern. Daher ist es möglich, dass die Be-
berflächen vorhanden sind. Er nimmt an, dass die funde zum Geschlechterverhältnis von Geschwis-
Antikörper der Mutter die Plazentaschranke über- tern nicht mit der sexuellen Orientierung, sondern
winden und in das Gehirn des Fötus gelangen, wo- nur mit einer Identifikation mit dem anderen Ge-
durch eine typisch männliche Gehirnentwicklung schlecht zusammenhängen.
verhindert wird Da jeder nachfolgende männliche Die Resultate verweisen außerdem auf eine be-
Fötus die mütterliche Immunisierung verstärkt, sondere Art der Entwicklung von Geschlechtspro-
steigt die Wahrscheinlichkeit von Homosexualität blemen, bei der sowohl ein später Platz in der Ge-
bei später geborenen Söhnen. Nicht homosexuelle burtsreihenfolge wie auch eine große Zahl an Brü-
gegengeschlechtliche Personen zeigen diesen Ge- dern von Bedeutung sind. Blanchard (1997) lieferte
burtsreihenfolgeeffekt nicht, daher scheint er eher auch eine psychosoziale Post-hoc-Erklärung für
mit Homosexualität als mit gegengeschlechtlicher diesen Befund: Eltern bemühten sich möglicher-
Identität zusammenzuhängen. weise weniger um die »Maskulinisierung« eines fe-
Im Gegensatz zu Jungen werden Mädchen mit mininen Sohnes, wenn bereits mehr Geschwister in
GIS eher früh in einer Geschwisterreihenfolge ge- der Familie vorhanden sind. Alternativ könnten die
boren (Zucker et al. 1998). Zur Erklärung führen hohen Geschlechterverhältnisse der Geschwister
die Autoren an, dass frühgeborene Mädchen ak- aus starken mütterlichen Immunreaktionen auf das
tiver sind als später geborene (Eatonet al. 1989) H-Y-Antigen resultieren, da Zygoten, die stärkere
und dass ältere Geschwister verbal und körper- mütterliche Immunreaktionen hervorrufen, bei
lich aggressiver sind als jüngere (Abramovitch et der Einnistung bevorzugt werden. Daher könnten
al. 1986). Diese Temperamentsmerkmale könnten starke Immunreaktionen auf das H-Y-Antigen eine
früher geborene Mädchen zu maskulinen Verhal- gegengeschlechtliche Identität und ein hohes Ge-
tensweisen und Interessen prädisponieren. schlechterverhältnis der Geschwister verursachen,
wohingegen schwache Immunreaktionen lediglich
Geschlechterverhältnis der Geschwister. Das Homosexualität verursachen könnten.
Geschlechterverhältnis von Geschwistern ist das
Verhältnis von Brüdern zu Schwestern in einer
gegebenen Gruppe. In hellhäutigen Populationen Genetische Faktoren
liegt das Geburtenverhältnis von männlichen zu Aus den betrachteten Untersuchungen kann ge-
weiblichen lebend geborenen Kindern bei 106:100. folgert werden, dass hormonelle Faktoren bei der
In den meisten Untersuchungen zur Geburtsrei- Entwicklung von GIS oder Transsexualität eine
henfolge wurde darüber hinaus das Geschlechter- Rolle spielen. Es ist jedoch ebenfalls klar geworden,
7.4 · Verändern sich transsexuelle Gehirne nach der Geburt?
135 7

dass Steroide in komplexe Regelkreise eingebun- der Hormonersatztherapie abhängen, sicherlich


den sind und nicht exklusiv agieren. Die Entwick- eine gewisse Entlastung. Beispielsweise führt eine
lung von Geschlechtsidentität muss als ein orchest- polymorphe Mutation (M158V) des Enzyms Cate-
rales Zusammenwirken verschiedener genetischer, chol-O-Methyltransferase zu einer geringeren Ak-
hormoneller und soziopsychologischer Faktoren tivitätsrate und damit zu einer erhöhten Langzeit-
verstanden werden. belastung mit östrogenaktiven Metaboliten. Diese
Numerische oder strukturelle chromosomale Mutation tritt bei etwa 25% der weißhäutigen Be-
Anomalien wurden im Zusammenhang mit Trans- völkerung auf, sie wurde in Zusammenhang mit
sexualität bereits seit langem vermutet, aber nie hormonsensitiven Tumoren, Herzerkrankungen
bewiesen. Sogar spezielle Analysen des Lokus des und der Wirksamkeit von Hormonersatztherapie
Androgenrezeptors auf Chromosom Xq12, der ge- in Zusammenhang gebracht. Bislang gibt es keine
schlechtsbestimmenden Region (SYR) auf Chro- Hinweise darauf, dass eine polymorphe Mutation
mosom Yp11.3, sowie des Azoospermien-Faktors eines Enzyms, das an der Metabolisierung von Ste-
(AZF) auf dem langen Arm des Y-Chromosoms roiden beteiligt ist, mit den Ursachen von Transse-
haben bei jeweils 30 transsexuellen Personen bei- xualität zusammenhängt.
der Geschlechter keine Mikrodeletionen aufgezeigt
(Hengstschläger u. van Trotsenburg 2003). Nicht
apparente strukturelle oder numerische Aberra- Zusammenfassung
tionen sind bei Transsexuellen, ebenso wie in der Die Resultate der bislang durchgeführten Unter-
allgemeinen Population, zufällig und daher nicht suchungen weisen in keine einheitliche Richtung.
geeignet, die Diagnose in Frage zu stellen. Besonders bei FzM-Transsexuellen sind inkonsis-
In einer verhaltensgenetischen Studie mit tente Resultate an der Tagesordnung. Beispiels-
309 Zwillingen (Kindern und Heranwachsenden) weise konnten Haraldsen et al. (2003) die verschie-
jedoch betrug die Prävalenz von GIS-Symptomen denen kognitiven Unterschiede zwischen Transse-
2,3% und die geschätzte Heritabilität von GIS lag xuellen und Kontrollen nicht replizieren. Darüber
bei 62% (Coolidge et al. 2002). In zwei anderen hinaus scheinen die potenziellen Wirkungen von
Untersuchungen wurde eine erbliche Komponente Geschlechtshormonen zwischen MzF- und FzM-
für atypisches Geschlechtsverhalten festgestellt Transsexuellen zu unterscheiden. Zum Test der
(Coolidge et al. 2002; Iervolino et al. 2005; Knafo Hypothese, dass Transsexualität auch durch Ge-
et al. 2005). schlechtshormone determiniert wird, sind multi-
Für verschiedene Krankheiten wie Arterioskle- disziplinäre Forschungsarbeiten mit größeren und
rose, Hypertonie, Osteoporose oder Thrombose, homogeneren (Sub-)Gruppen von Transsexuellen
aber auch für neuropsychiatrische Störungen, wur- erforderlich.
den krankheitsrelevante polymorphe genetische
Veränderungen (Polymorphismen) gefunden. Vor
kurzem wurden polymorphe Mutationen auch 7.4 Verändern sich transsexuelle
im Zusammenhang mit möglichen Ursachen von Gehirne nach der Geburt?
Transsexualität genannt (Henningson et al. 2005).
Henningson und Kollegen stellten die Hypothese Untersuchungen zu Gehirnfunktionen von Trans-
auf, dass ein langes Allel auf dem ER-beta-Gen sexuellen sind nicht nur interessant, weil wir
die Anfälligkeit für Transsexualität erhöhen könne, daraus neue Einsichten in die Entwicklung einer
und dass bestimmte Varianten von Genen (Poly- Geschlechtsidentitätsstörung gewinnen können,
morphismen), die für den Androgenrezeptor und sondern auch weil sie die einzigartige Gelegen-
Aromatase kodieren, ebenso wie ER-beta auch, heit bieten, an körperlich gesunden Probanden die
das Risiko für Transsexualität erhöhen könnten. Wirkung von Steroiden des anderen Geschlechts
Größeres Wissen über Mutationen und Polymor- auf Gehirnfunktionen zu studieren.
phismen liefert in der risikobehafteten Situation Derartige Untersuchungen sind ansonsten
transsexueller Personen, die quasi existenziell von hauptsächlich bei gesunden Frauen über den Ver-
136 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

lauf ihres Menstruationszyklus und mit postmeno- krankungen oder Veränderungen im Zusammen-
pausalen Frauen vor und während Hormonersatz- hang mit gestörter Synthese von Steroidhormonen
therapie durchgeführt worden. In diesen Studien leiden, z. B. an idiopathischen hypogonadotro-
sind jedoch die Veränderungen der Hormonni- phen Hypogonadismus (IHH). Männer mit idio-
veaus relativ klein, was die Untersuchung ihrer pathischem Hypogonadismus zeigen im Vergleich
Effekte erschwert, wenn man zur Verbesserung zu Kontrollen und Personen mit erworbenem Hy-
der Ergebnisvalidität gleichzeitig andere Einflus- pogonadismus defizitäre räumliche Fähigkeiten
squellen ausschließen will. Auch basierten insbe- (Hier u. Crowley 1982). Dieser Befund und die Be-
sondere die frühen Studien auf Selbstauskünften obachtung, dass Androgenersatztherapie die räum-
der Frauen zu ihrem Menstruationszyklus, anstatt lichen Fähigkeiten nicht verbessert, verweist auf
auf Erhebungen des Hormonstatus aus dem Blut- einen dauerhaften »organisierenden« Einfluss von
plasma. Diese Methode lässt einige der Resultate Androgenen auf das Gehirn, der vor oder während
fragwürdig erscheinen. der Pubertät von Jungen stattfindet.
In aktuelleren Studien wurden stattdessen zur Langzeitbehandlungen mit Geschlechtshor-
Ermittlung der spezifischen Zyklusphase Blutpro- monen in hoher Dosierung wurden bislang noch
7 ben entnommen, weiterhin wurden geschlechtsspe- selten untersucht. Aus offensichtlichen ethischen
zifische Tests durchgeführt, um aktivierende Ef- Gründen können solche Untersuchungen nicht bei
fekte von Östrogenen auf kognitive Fähigkeiten zu gesunden Probanden durchgeführt werden. Trans-
untersuchen. Hiermit konnten Veränderungen in sexuelle sind die einzigen gesunden Personen, die
bestimmten kognitiven Fähigkeiten über den Mens- sich einer solchen Behandlung unterziehen. Für
truationszyklus besser untersucht werden. Viele, je- sie sind die körperlichen Auswirkungen, die den
doch nicht alle dieser Studien kamen zu dem Ergeb- meisten Menschen als negative Nebenwirkungen
nis, dass Frauen in kognitiven Aufgaben, in denen erscheinen (z. B. tiefe Stimme und Bartwuchs bei
weibliche Personen normalerweise gut abschneiden, Frauen und Gynäkomastie (Brustwachstum) bei
während der Midlutealphase bessere Leistungen zei- Männern) positive Hauptwirkungen.
gen als während den übrigen Zyklusphasen. Diese In mehreren Studien wurde die kognitive Leis-
Resultate weisen darauf hin, dass verbale und fein- tungsfähigkeit von Transsexuellen vor Beginn der
motorische Fähigkeiten durch Östrogen gefördert gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung und
werden (Überblick in Sherwin 2003). 3–4 Monate danach verglichen. Man weiß, dass
Bei perimenopausalen Frauen zeigten sich die untersuchten Funktionen empfindlich für Ge-
noch stärkere Hinweise auf aktivierende Hormon- schlechtsunterschiede sind und nimmt an, dass
wirkungen. Der Beginn einer Östrogenbehandlung diese Unterschiede auf das Niveau zirkulierender
zum Zeitpunkt der Menopause oder kurz nach Geschlechtshormone zurückzuführen sind. Die
einer Ovariektomie stellt den besten Schutz für Hypothese lautete, dass gegengeschlechtliche Hor-
das Gedächtnis bei Frauen dar. Eine Östrogenbe- mone die kognitiven Funktionen in Richtung des
handlung erst lange Zeit nach einer natürlichen anderen Geschlechts verändern würden, da diese
Menopause hat kaum oder keine förderlichen Wir- Funktionen mit dem Niveau der Geschlechtshor-
kungen auf kognitive Leistungen (Sherwin 2006). mone zusammenhängen. Die in diesen Untersu-
Umgekehrt ist die Leistung in visuellen und räum- chungen verwendeten Aufgaben messen räumliche
lichen Aufgaben (in denen normalerweise Männer und verbale Fähigkeiten und bestimmte Formen des
besser abschneiden) bei Frauen in solchen Phasen verbalen Gedächtnisses. Van Goozen et al. (1994,
ihres Menstruationszyklus besser, in denen das Ös- 1995) stellten fest, dass sich einige geschlechtsspe-
trogenniveau relativ niedrig ist. Interessanterweise zifische Fähigkeiten nach der Hormonbehandlung
zeigten sich Verbesserungen nicht nur in solchen veränderten. Nach Testosteronbehandlung ver-
Bereichen, in den bekanntermaßen Geschlechtsun- besserten sich die visuell-räumlichen Fähigkeiten
terschiede auftreten (Überblick in Hines 2004). von FzM-Transsexuellen, während ihre Leistung
Andere Untersuchungen wurden mit Perso- in verbaler Flüssigkeit schlechter wurde. In der
nengruppen durchgeführt, die an angeborenen Er- Untersuchung von 1995 wurden die Resultate rep-
7.4 · Verändern sich transsexuelle Gehirne nach der Geburt?
137 7

liziert und zusätzlich auch MzF-Transsexuelle ein- Studie auch potenzielle organisierende Effekte der
bezogen. Die Blockade von Androgenrezeptoren Geschlechtshormone (siehe unten) untersuchen
und die Gabe von Östrogenen führten bei ihnen zu wollte und diese primär in der homosexuellen
einer Verschlechterung der räumlichen Fähigkei- Gruppe erwartet wurden. Es ist möglich, dass die
ten und einer Verbesserung bestimmter verbaler homosexuelle Patientengruppe weniger empfäng-
Fähigkeiten. lich für Veränderungen des Hormonniveaus ist als
In anderen Studien konnten diese Resultate die nicht-homosexuellen Patienten.
jedoch nicht immer repliziert werden. Miles et al. Wisniewski et al. (2005) untersuchten 27 MzF-
(1998) fanden in Aufgaben zu verbaler Flüssigkeit Transsexuelle, die Hormone über einen Mindest-
und räumlichen Fähigkeiten keine Unterschiede zeitraum von drei Monaten verwendeten. Sie tes-
zwischen einer Gruppe von 29 MzF-Transsexu- teten diese Gruppe mit den kognitiven Aufgaben
ellen mit Östrogenbehandlung und einer Gruppe »identische Bilder«, »mentale Rotation« und »vi-
von 30 MzF-Transsexuellen ohne Östrogenbe- suelles Ortsgedächtnis« (building memory) und
handlung. Slabbekoorn et al. (1999) untersuchten verglichen die Resultate mit einer männlichen
nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Kontrollgruppe. Da sie keine Unterschiede in der
Wirkungen der Hormone auf räumliche Fähig- Leistung zwischen diesen beiden Gruppen fanden,
keiten. Vor der Hormonbehandlung zeigten MzF- zeigten sich in dieser Untersuchung keine Hin-
Transsexuelle bessere Leistungen in Aufgaben zu weise auf aktivierende Effekte.
räumlichen Fähigkeiten als FzM-Transsexuelle. Bei Eine mit MRI durchgeführte Studie (Hulshoff-
einer zweiten Messung drei Monate nach Beginn Pol et al. 2006) zur Messung von Veränderungen in
der Hormonbehandlung war dieser Unterschied der Gehirnstruktur als Folge gegengeschlechtlicher
verschwunden. Nach dieser Zeit wurde die Hor- Hormonbehandlung zeigte, dass – verglichen mit
monbehandlung für fünf Wochen vor dem operati- Kontrollen – eine Behandlung mit Antiandrogenen
ven Eingriff ausgesetzt; hier wurden die räumlichen und Östrogenen die Gehirnvolumina von MzF-
Fähigkeiten nochmals vor (dritter Messzeitpunkt) Transsexuellen auf weibliche Proportionen ver-
und nach Aussetzung der Hormonbehandlung änderte, während eine Androgenbehandlung bei
(vierter Messzeitpunkt) getestet. Auf diese Weise FzM-Transsexuellen die Volumina des gesamten
wurde überprüft, ob die Effekte reversibel waren. Gehirns und des Hypothalamus in Richtung auf
Dies schien jedoch nicht der Fall zu sein. Die männliche Proportionen veränderte.
Resultate waren invertiert und die Unterschiede Zusammengefasst bleibt es daher unklar, ob
zwischen den MzF- und FzM-Transsexuellen hatte die Geschlechtshormone einen aktivierenden Ein-
sich weiter vergrößert. fluss auf die kognitiven Fähigkeiten ausüben, bei
Van Goozen et al. (2002) untersuchten darüber denen sich Geschlechtsunterschiede zeigen. Es gibt
hinaus die Interaktion zwischen potenziellen orga- Hinweise darauf, dass Veränderungen infolge der
nisierenden und aktivierenden Hormonwirkungen Hormonbehandlung nur bei räumlichen Fähig-
auf räumliche Fähigkeiten. In dieser Studie wurden keiten auftreten. Die unterschiedlichen Ergebnisse
keine aktivierenden Effekte gefunden. Eine Ursa- sind nicht selten auf bestimmte Merkmale der
che für die Unterschiede zwischen diesen und den untersuchten Stichprobe zurückzuführen, wie bei-
früheren Resultaten liegt möglicherweise in den spielsweise auf den Subtyp von Transsexuellen.
Merkmalen der untersuchten Stichprobe. In der Es ist denkbar, dass bestimmte Subtypen emp-
Untersuchung von 2002 wurden lediglich homose- findlicher auf hormonelle Einflüsse reagieren als
xuelle Transsexuelle getestet (in der Literatur wird andere. Obwohl es den Anschein hat, dass nach
dieser Begriff für Transsexuelle verwendet, die sich gegengeschlechtlicher Hormonbehandlung struk-
von Personen desselben biologischen Geschlechts turelle Veränderungen im Gehirn auftreten, sind
angezogen fühlen; die Ähnlichkeit zwischen die- mehr Untersuchungen erforderlich, um die ersten
ser Gruppe und der vorher beschriebenen pri- Befunde in diesem Bereich zu untermauern.
mären (early-onset) Transsexualität ist groß). Der Es gibt zunehmende, aber immer noch weit-
Grund für diese Auswahl war, dass man in dieser gehend indirekte Belege dafür, dass die Gehirne
138 Kapitel 7 · Das transsexuelle Gehirn

mancher Typen von Transsexuellen (insbesondere die mit der Familienkonstellation und mit Psy-
MzF-Transsexuelle, die sich sexuell von Männern chopathologien der Eltern zusammenhängen, zu
angezogen fühlen; van Goozen et al. 2002) pränatal manchen, aber sicher nicht allen Formen von GIS
einem atypischen Niveau von Geschlechtshormo- führen können. Für die Entwicklung bestimmter,
nen ausgesetzt waren. Jedoch reicht eine solche vielleicht milder Formen von Geschlechtsidenti-
Hormoneinwirkung allein höchstwahrscheinlich tätsstörungen könnten sie ein ausreichender Faktor
nicht aus, um eine gegengeschlechtliche Identität sein. Für die Entwicklung anderer Formen sind
zu entwickeln. Trotz gewisser maskuliner Interes- Umweltfaktoren möglicherweise nicht ausreichend
sen und Verhaltensweisen, bei 46,XX-CAH-Frauen oder nicht einmal notwendig.
beispielsweise, entwickelt die Mehrzahl keine Ge-
Fazit
schlechtidentitätsstörung. Andererseits gibt es
Es ist unwahrscheinlich, dass Transsexualität
nur schwache Belege dafür, dass für andere Typen
durch einen einzigen psychologischen oder
Transsexueller, beispielsweise für MzF-Transsexu-
biologischen Faktor verursacht wird, auch
elle, die sich sexuell von Frauen angezogen fühlen,
wenn Hinweise vorliegen, dass genetische und
die pränatale Hormoneinwirkung auf das Gehirn
7 einen signifikanten Faktor darstellt.
hormonelle Faktoren eine Rolle spielen. Insbe-
sondere gibt es zunehmende, aber weitgehend
Bei Frauen ist das Bild noch unklarer, sogar für
indirekte Belege, dass die Gehirne bestimmter
FzM-Transsexuelle, die sich von Frauen angezogen
Typen von gegengeschlechtlichen Personen
fühlen (van Goozen et al. 2002). Bei ihnen sind
(insbesondere MzF-Transsexuellen, die sich se-
Belege für die Hormonhypothese wesentlich un-
xuell von Männern angezogen fühlen) pränatal
einheitlicher als für ihre männlichen Pendants. Es
einem atypischen Niveau von Geschlechtshor-
kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass au-
monen ausgesetzt waren. Jedoch reicht eine
ßer den organisierenden Hormonwirkungen noch
solche Hormoneinwirkung allein wahrschein-
andere biologische Faktoren zu Formen von gegen-
lich nicht aus, um eine gegengeschlechtliche
geschlechtlicher Entwicklung führen können. Bei-
Identität zu entwickeln. Obwohl es Anzeichen
spielweise wurde kürzlich gezeigt, dass bei Mäusen
dafür gibt, dass Struktur und Funktion der
genetische Einflüsse auf die Gehirnentwicklung
Gehirne von Transsexuellen sich infolge der
der Ausbildung der Gonaden vorausgehen. Da-
Hormonbehandlung verändern, sind noch wei-
her sind Gonadenhormone wahrscheinlich nicht
tere Untersuchungen nötig, um einschätzen zu
allein für Geschlechtsunterschiede in der Gehirn-
können, ob solche Auswirkungen Implikationen
entwicklung verantwortlich (Dewing 2003, 2006).
für die Behandlung haben.
Beim Menschen wurde ein weiterer Mechanismus,
nämlich die progressive Immunisierung von Müt-
tern gegen H-Y-Antigene, als eine Erklärung für
GIS bei Männern vorgeschlagen. Obwohl die vor- Literatur
handenen empirischen Daten zu einem solchen
Mechanismus passen, fehlen noch direkte Belege Abramovitch R, Corter C, Pepler DJ, Stanhope L (1986) Sibling
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8

Geschlechterdifferenzen
in der Emotionalität aus der Sicht
des Neuroimaging
Anne Schienle

8.1 Geschlecht und emotionales Erleben – 144

8.2 Emotionen und Gehirn – 145

8.3 Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit emotionsrelevanten Reizen – 147


8.3.1 Studien zu Geschlechterunterschieden bei der Dekodierung emotionaler Mimik – 149
8.3.2 Studien zu Geschlechterunterschieden beim Erleben von Emotionen – 151
8.3.3 Studien zu Geschlechterunterschieden bei der Erinnerung an emotionale Reize – 152

8.4 Kritische Wertung – 154

Literatur – 157
144 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

> Frauen sind emotionaler als Männer. Sie fürchten und ekeln sich stärker und
sind öfter traurig. Diese Aussagen spiegeln das Laienverständnis über Ge-
schlechterdifferenzen in der Emotionalität wieder, finden sich aber auch in der
wissenschaftlichen psychologischen Literatur. Deshalb erscheint es nahe lie-
gend, mittels bildgebender Verfahren wie funktioneller Magnetresonanz- und
Positronenemissionstomographie einen Blick in das »emotionale Gehirn« zu
werfen, um mögliche neurobiologische Grundlagen dieser Unterschiede aufzu-
finden. Im folgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob es geschlech-
terspezifische neuronale Korrelate der emotionalen Verarbeitung von Angst,
Ekel und Traurigkeit gibt. Dabei werden drei unterschiedliche Prozesse näher
betrachtet, nämlich das Emotionserleben, die Emotionserkennung sowie das
Gedächtnis für emotional relevante Reize.

8 8.1 Geschlecht und emotionales Erleben und Niedergeschlagenheit gekennzeichnet sind,


häufiger in der weiblichen Bevölkerung vorkom-
Unterscheiden sich Männer und Frauen im Erleben men (z. B. Epidemiological Catchment Area Study,
der Basisemotionen? In der wissenschaftlichen Li- Regier et al. 1990; General Health Survey, Jacobi
teratur gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass dem et al. 2002). Obwohl über die verschiedenen Stu-
so ist. So berichten Frauen, im alltäglichen Leben dien hinweg eine große Streubreite der berichteten
häufiger und intensiver Angst zu empfinden, d. h. Prävalenzen vorliegt, besteht dennoch Überein-
sie besitzen Fragebogendaten zufolge eine grö- stimmung darin, dass Frauen ein erhöhtes Erkran-
ßere Ängstlichkeit (z. B. Egloff u. Schmukle 2004). kungsrisiko für Angststörungen wie spezifische
Auch experimentelle Bedrohungsreize werden von Phobien, Panikstörungen/Agoraphobien, generali-
Probandinnen negativer und erregender bewertet sierte Angststörungen und posttraumatische Belas-
(Bradley et al. 2001). Ähnliches gilt für das ak- tungsstörungen tragen (Regier et al. 1990).
tuelle Ekelerleben sowie die Ekelempfindlichkeit, Von Tierphobien (Spinnen, Schlangen) sind
also die zeitlich stabile Neigung einer Person mit Frauen ca. 4-mal häufiger betroffen als Männer
Abscheu und Widerwillen zu reagieren, die gemäß (Fredrikson et al. 1996). Bei der Panikstörung,
Selbstbeschreibungen beim weiblichen Geschlecht bei der die Befürchtung, einen unerwarteten und
stärker ausgeprägt sind als beim männlichen (z. B. unkontrollierbaren Angstanfall mit ausgeprägten
Schienle et al. 2002). Schließlich schildern Frauen körperlichen Symptomen zu erleiden im Vorder-
häufiger, niedergeschlagen zu sein und stufen in grund steht, was häufig zu situationsbezogenen
Studien zur emotionalen Verarbeitung solche Bil- Vermeidungsreaktionen führt (Agoraphobie), sind
der, die Verlust oder Krankheit darstellen als unan- bis zu zwei Drittel der Patienten weiblich. Ein
genehmer ein und beschreiben die dadurch ausge- zu Ungunsten der weiblichen Bevölkerung ver-
löste Traurigkeit als intensiver, als dies Männer tun schobenes Erkrankungsrisiko ähnlichen Ausmaßes
(Bradley et al. 2001). findet sich auch bei der generalisierten Angst-
Die aufgeführten Geschlechterdifferenzen fin- störung, deren Leitsymptom übermäßige Sorgen
den sich nicht nur im »normalen« Emotionserle- sind. Schließlich reagieren Frauen etwa doppelt so
ben, sondern lassen sich ebenso bei pathologischen häufig wie Männer mit einer posttraumatischen
Manifestationen ausfindig machen. Epidemiologi- Belastungsstörung nach einem einschneidenden
sche Studien konnten wiederholt nachweisen, dass Erlebnis (Übersicht in Schmidt-Traub u. Lex 2005).
solche psychischen Störungen, die durch intensive Insgesamt finden die verschiedenen epidemiologi-
und schwer kontrollierbare Zustände der Angst schen Studien des In- und Auslandes somit etwa
8.2 · Emotionen und Gehirn
145 8

doppelt so häufig Angststörungen bei Frauen im lich des emotionalen Erlebens von Männern und
Vergleich zu Männern. Frauen erklären.
Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich bei depressi- Die Literatur belegt somit Geschlechterunter-
ven Störungsbildern. Sowohl Episoden einer Ma- schiede im emotionalen Erleben, der emotionalen
jor Depression als auch chronische depressive Ver- Expressivität und der Gedächtnisleistung für emo-
stimmungen (Dysthymien) sind in der weiblichen tionale Ereignisse. Für alle drei Bereiche könnte es
Bevölkerung weiter verbreitet. Frauen erkranken neurobiologische Korrelate geben.
2- bis 3-mal häufiger an unipolaren Depressionen
als Männer (Kessler et al. 2003; Wittchen 2004).
Darüber hinaus weisen sie ein früheres Ersterkran- 8.2 Emotionen und Gehirn
kungsalter auf, haben mehr Rückfälle im Laufe ih-
res Lebens und unterscheiden sich demnach auch Reagieren weibliche und männliche Gehirne un-
in der Syndromschwere (Wittchen 2004). terschiedlich auf emotional relevante Reize? Bevor
Obwohl keine psychische Störung expli- dieser Frage nachgegangen wird, sollen zunächst
zit als »Ekelstörung« bezeichnet wird, existieren allgemeine neurobiologische Emotionsmodelle
dennoch Syndrome, für die übersteigerte Ekel- (Adolphs 2002; Davidson et al. 1999, 2000; Rolls
reaktionen kennzeichnend sind. Hierzu zählen 1999, LeDoux 1996, 2000; Damasio 1999, 2000)
vor allem Angststörungen wie Tierphobien und beschrieben werden.
Waschzwänge, bei denen das ausgeprägte Vermei- Übereinstimmung besteht bei allen Theorien
dungsverhalten häufig durch die Befürchtung einer darin, dass eine evolutionsbiologische Herkunft
Kontamination, also Ekel, motiviert ist. Wie bereits von Emotionen und deren Verankerung in spe-
vorher beschrieben, überwiegen diese Störungen zifischen Strukturen bzw. Netzwerken im Gehirn
in der weiblichen Bevölkerung. angenommen wird. Emotionen haben dabei die
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Funktion, den Organismus darauf vorzubereiten,
die Daten zum alltäglichen emotionalen Erleben, adäquat mit der Umwelt zu interagieren. Im Rah-
zu Einstufungen der affektiven Qualität von expe- men von Furchtreaktionen geht es darum, lebens-
rimentellen Stimuli sowie zum Vorkommen psy- bedrohliche Reize schnell und zuverlässig zu iden-
chischer Störungen, wie sie in epidemiologischen tifizieren, um dann auf sie mit Verhaltensmustern
Untersuchungen erfasst werden, auf subjektiven wie Flucht, Bewegungsstarre, Unterwerfung oder
Darstellungen der Befragten basieren. Die berichte- Aggression rasch, situationsgerecht und flexibel zu
ten Unterschiede im emotionalen Erleben könnten antworten. Auch Ekel stellt eine sinnvolle Reaktion
daher auch auf Differenzen in der affektiven Ex- des Organismus auf eine Bedrohung dar, nämlich
pressivität zurückgehen. So konnten verschiedene auf die Gefährdung durch unbekömmliche oder
Studien zeigen, dass Frauen eine markantere emo- giftige Nahrung; er ist mit spezifischen Reaktions-
tionale Mimik aufweisen und bereitwilliger über komponenten wie Übelkeit und Erbrechen ver-
ihr emotionales Erleben Auskunft geben (Kring knüpft. Schließlich tritt Traurigkeit als Reaktion
u. Gordon 1998). Dies mag auch ihre größere auf Trennung und Verlust auf. Die adaptive Funk-
Bereitschaft erklären, bei psychischen Störungen tion besteht in der Auslösung von Hilfereaktionen
therapeutische Hilfe anzunehmen (Schmidt-Traub bei anderen Individuen, wodurch die soziale Ver-
u. Lex 2005). bundenheit und Gruppenzugehörigkeit gefördert
Schließlich scheinen Frauen emotionale Ereig- wird. Zusätzlich motiviert Kummer, wie Ekel und
nisse besser zu erinnern als Männer. Sie memo- Angst auch, die Person selbst, etwas zur Ursachen-
rieren in Experimenten mehr emotionsrelevante beseitigung der Negativemotion beizutragen (Izard
Vorkommnisse innerhalb eines festgelegten Zeit- 1999).
rahmens und produzieren diese Erinnerungen Aufgrund dieser basalen bioregulatorischen
schneller sowie mit intensiveren Begleitemotio- Emotionsfunktionen liegt es nahe anzunehmen,
nen (Seidlitz u. Diener 1998). Auch dieser Be- dass sich im Laufe der Evolution neuronale Schalt-
fund könnte die unterschiedlichen Berichte bezüg- kreise für die Dekodierung von Bedrohungsrei-
146 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

zen sowie für eine effiziente Verhaltenssteuerung aus, von denen die motorischen und vegetativen
entwickelt haben. Zurzeit gibt es jedoch keine Komponenten der Angstreaktion gesteuert wer-
einheitliche Vorstellung darüber, wie eine solche den. Verarbeitungen dieser Art finden statt, bevor
emotionale Verarbeitung im Gehirn organisiert ist, aus einfachen Sinneswahrnehmungen besondere
sondern es bestehen unterschiedliche, sich zum Objektmerkmale herauskristallisiert, d. h. die ih-
Teil ausschließende Konzeptionen. Dazu zählen: nen eigene Bedrohlichkeit bewusst wahrgenom-
▬ Funktionelle Asymmetrien beider Hemisphären men wurde. In diesem automatisierten, raschen
▬ Spezifische Emotionsprozessoren im Gehirn Verarbeitungsmodus liegt der biologisch-adaptive
▬ Integrative zentrale Netzwerke Vorteil begründet, und zwar im Sinne von rechtzei-
tig eingeleitetem Flucht- bzw. Angriffsverhalten. Es
Ein Hauptvertreter der Annahme einer laterali- handelt sich also um ein emotionales Frühwarnsys-
sierten Verarbeitung von emotionsrelevanten Rei- tem. Davon unabhängig erhält die Amygdala aus
zen ist Richard Davidson (Überblick bei Davidson dem Neokortex Signale. Dadurch ist es möglich,
et al. 2000). Er postuliert, dass es beim Erleben wenn auch wesentlich langsamer, die akute Aversi-
solcher Gefühle, die Annäherungsverhalten moti- vität des Wahrgenommenen als solche bewusst zu
vieren (z. B. Freude, Ärger) zu einer relativen Zu- erleben und die Vermeidungsstrategie daraufhin
nahme der Aktivierung in der linken Hemisphäre situationsgerecht zu gestalten. Insofern besitzt die
8 kommt. Das komplementäre rechtshemisphärische Amygdala eine Schlüsselfunktion innerhalb eines
Rektionsmuster zeigt sich dann, wenn das Rück- zentralen Angstnetzwerkes.
zugssystem involviert wird, also Emotionen wie Edmund Rolls (1999) vertritt ein integratives
Angst oder Traurigkeit erlebt werden. Relevant für neurobiologisches Emotionsmodell, das im We-
die Verarbeitung der verschiedenen Emotionen ist sentlichen auf der Basis tierexperimenteller Be-
nach diesem Ansatz vor allem der Präfrontalkor- funde entwickelt wurde. Er definiert Emotionen als
tex. Gestützt wird das Modell durch zahlreiche Zustände, die durch positive bzw. negative Verstär-
Experimente, die als Methode das Elektroenzepha- ker ausgelöst werden und sich in ein Zwei-Achsen-
logramm verwendeten, sowie durch Läsionsstu- Schema einordnen lassen, dessen eine Achse die
dien, bei denen Schädigungen des linken Präfron- Darbietung, die andere Achse dagegen das Ausblei-
talkortex gehäuft mit dem Auftreten depressiver ben von Belohnung oder Bestrafung repräsentiert.
Symptome gepaart waren. Neben dem aktuellen Darüber hinaus wird berücksichtigt, ob ein Indivi-
Erleben positiver und negativer Emotionen, die duum in einer entsprechenden Situation eine ak-
nach Davidson auf einer funktionellen frontalen tive oder passive Verhaltensantwort zeigt. Auf diese
Asymmetrie basieren, nimmt er weiterhin an, dass Weise sind verschiedenste Emotionen beschreibbar
es hier auch zeitlich stabile Aktivierungsmuster und, auf Verstärkungskontingenzen bezogen, in
gibt, die erklären können, warum eine Person zu eine funktionale Ordnung zu bringen. So entsteht
einem bestimmten »affektiven Stil« neigt, also eher Ärger, wenn aktiv auf das Ausbleiben oder die
»Annäherungs- oder Rückzugsstimmungen« hat vorzeitige Beendigung einer Belohnung reagiert
bzw. vulnerabel für bestimmte psychische Störun- wird oder Traurigkeit, wenn lediglich eine passive
gen ist, wie Depressionen oder Angststörungen. Antwort möglich ist. Die neuronalen Bahnen, die
Im Modell von LeDoux (1996, 2002) wird eine für die emotionale Verarbeitung benötigt werden,
spezifische Hirnstruktur genannt, die mit der Ver- involvieren nach Rolls (1999) sensorische Kortizes,
arbeitung von Bedrohungsreizen beschäftigt ist, die ihre Information zur Amygdala, zur Insula und
nämlich die Amygdala. Sobald dieser Kernbereich zum orbitofrontalen Kortex (OFC) schicken. Ins-
über den Thalamus Signale aus dem Wahrneh- besondere die Amygdala sowie der OFC sind mit
mungsapparat erhält, wird – ohne die Beteiligung der Dekodierung des Verstärkerwertes eines Reizes
des sensorischen Kortex – bereits hier entschieden, beschäftigt. Sie arbeiten nicht emotionsspezifisch,
ob das Wahrgenommene eine aversive Qualität be- sondern emotionsübergreifend.
sitzt. Vom zentralen Nukleus der Amygdala gehen Antonio Damasio (1999, 2000) postuliert in
zahlreiche Verbindungen zu anderen Kerngebieten seinem Modell, dass beim Erleben von Emotio-
8.3 · Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit emotionsrelevanten Reizen
147 8

nen solche Hirnregionen aktiviert werden, die mit Hippokampus, aber auch solche, die für die Deko-
der Repräsentation und/oder der Regulation des dierung von Reizsalienz und -valenz entscheidend
Körperzustandes beschäftigt sind. Dazu gehören sind, wie die Amygdala (Cahill et al. 2001).
sowohl subkortikale (z. B. Hypothalamus, Hirn-
stamm) als auch kortikale Areale (z. B. anteriorer
zingulärer Kortex (ACC), Insula, sekundäre soma- 8.3 Gehirnaktivierung bei Stimulierung
tosensorische Kortizes). Alle genannten Regionen mit emotionsrelevanten Reizen
erhalten auf direktem oder auch indirektem Weg
Signale aus dem inneren Milieu, den Viszera und Wie dargelegt bestehen also unterschiedliche Vor-
dem muskuloskelettalen System. Darüber hinaus stellungen darüber, wie die affektive Verarbeitung
sind Strukturen wie die Insula und der ACC nicht im Gehirn organisiert ist, und je nach zugrunde
nur in der Lage, Informationen zu empfangen, gelegtem Modell für ein spezifisches Experiment
sondern sind auch aktiv an der Aufrechterhaltung sind andere emotionsassoziierte Aktivierungsmus-
der Homöostase beteiligt. Es besteht somit eine ter zu erwarten. Da gerade bildgebende Verfahren
enge Beziehung zwischen der Überwachung des wie die funktionelle Magnetresonanztomographie
aktuellen Körperzustandes und dem Gefühlsleben. (fMRT) und die Positronenemissionstomographie
Durch das Zusammenwirken der genannten Struk- (PET) Einblicke in die neurobiologischen Kom-
turen können unterschiedliche Erregungsmuster ponenten der aktuellen emotionalen Verarbeitung
entstehen, die mit dem Empfinden spezifischer ermöglichen, soll anhand von Experimenten, die
Emotionen einhergehen. Somit sind im Gehirn diese Methoden verwendeten, geklärt werden, ob
repräsentierte distinkte perzeptuelle Landschaften sich hierbei Geschlechterunterschiede auffinden
des Körperzustandes die Basis für das Erleben un- lassen. Dabei werden im Folgenden insbesondere
terschiedlicher affektiver Qualitäten. Diese können neuere Arbeiten betrachtet, die seit 2000 veröf-
zudem durch kortikale Einflüsse modifiziert wer- fentlicht wurden und sich mit folgenden Aspekten
den, die u. a. von Strukturen wie dem orbitofron- beschäftigten:
talen Kortex ausgehen. Somit enthält das Konzept ▬ Dekodierung emotionaler Reize (emotion re-
Damasios (1999, 2000) klare emotionsspezifische cognition)
Komponenten, die sich mit der Annahme eines ▬ Emotionales Erleben (feeling)
integrativen Gesamtsystems vereinen. ▬ Erinnerung an emotionale Stimuli (memory
Darüber hinaus existieren verschiedene Vor- for emotion)
stellungen bezüglich neuronaler Systeme, die für
die Emotionserkennung wichtig sind (Übersicht Das Standardparadigma für die Untersuchung der
bei Adolphs 2002). Dabei wird davon ausgegangen, Emotionserkennung im Humanbereich besteht
dass eine große Anzahl unterschiedlicher Hirn- aus der Präsentation emotionaler Mimik. Den
strukturen für die Wahrnehmung und Klassifi- Probanden werden dabei Bilder dargeboten, auf
zierung affektiv bedeutsamer Reize notwendig ist. denen Personen beispielsweise einen ängstlichen,
Dazu zählen vor allem der okzipitotemporale Kor- traurigen, ärgerlichen oder angewiderten Gesichts-
tex, die Amygdala, der orbitofrontale Kortex, die ausdruck zeigen. Am häufigsten wurde hierzu das
Basalganglien und der Parietalkortex. Inwieweit Bilderset von Ekman und Friesen (1976) verwen-
bestimmte Hirnregionen auf die Analyse distinkter det. Analysiert man Reaktionen auf Emotionsaus-
Emotionssignale spezialisiert sind, wird – wie auch druck, so interessiert den Forscher deren kom-
für den Bereich des affektiven Erlebens – kontro- munikative Funktion. Mimische Signale können
vers diskutiert. unter anderem wichtige Informationen über Be-
Schließlich arbeiten bei der Enkodierung von drohungssignale liefern, ohne dass ein Individuum
und der Erinnerung an emotional relevante Er- direkt dieser Bedrohung ausgesetzt sein muss (z. B.
eignisse solche Areale zusammen, die generell in ängstliche Ausdrücke von flüchtenden Personen).
Gedächtnisprozesse involviert sind, wie z. B. der Inwieweit bei der Analyse der mimischen Infor-
dorsolaterale Präfrontalkortex (DLPFC) oder der mation auch emotionales Erleben beim Betrachter
148 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

ausgelöst wird, ist umstritten. Manche Autoren sche, gustatorische, olfaktorische und taktile Emo-
(z. B. Hatfield et al. 1994) gehen davon aus, dass tionsauslöser zum Einsatz; außerdem wurde mit
emotionale Mimik »kontaminierend« wirkt. Dies Skripten gearbeitet, die emotionale Imaginationen
bedeutet, dass durch Nachahmung des gesehenen leiteten. Am häufigsten wurden jedoch szenische
Ausdrucks ein vergleichbares emotionales Emp- Materialen verwendet, d. h. Bilder mit typischen
finden im Beobachter entsteht, wobei es Hinweise Auslösern der Zielemotionen. Dazu zählen Szenen
dafür gibt, dass Frauen eine stärker ausgeprägte mit bedrohlichen Inhalten für Angst (z. B. Waf-
»emotionale Nachahmungsneigung« aufweisen als fen, Raubtiere), mit abstoßenden für Ekel (z. B.
Männer (Hatfield et al. 1994). Körperausscheidungen) oder mit Verlustthematik
In der Mehrzahl der Neuroimaging-Experi- für Traurigkeit (z. B. Tod, Krankheit). Ein hierfür
mente zur Dekodierung affektiver Mimik wurde validiertes Stimulusset stellt das International Af-
jedoch nicht erhoben, ob Emotionen tatsächlich fective Picture System (IAPS; Lang et al. 1997)
induziert wurden. Einzelne Studien, in denen dies dar. Dieses ist allerdings nicht nach den Basise-
doch geschah, kamen zum Ergebnis, dass Freude- motionen, sondern nach den Dimensionen Valenz
mimik noch am ehesten in der Lage war die Zie- und Erregung organisiert.
lemotion im Empfänger auszulösen, während dies Betrachtet man die Ergebnisse zu zentralen
kaum gelang, wenn es sich um Expressionen von Aktivierungsmustern aufgrund emotionalen Erle-
8 Angst oder Traurigkeit handelte (z. B. Kesler-West bens, so ist die Befundlage weit weniger einheitlich
et al. 2001). Wurden Gesichtsausdrücke gezeigt, die als für den Bereich des Erkennens. So fanden einige
Ärger widerspiegelten, provozierte dies eher Angst Forscher, dass Szenen zur Angst- und Ekelinduk-
oder andere negative Gefühle beim Betrachter tion dieselben Areale, nämlich die Amygdala und
(Hatfield et al. 1994). Folglich gibt es keine direkte die Insula aktivierten, wie die korrespondierenden
Übereinstimmung zwischen der gesendeten und mimischen Signale (z. B. Phillips et al. 2000; Wi-
der im Beobachter hervorgerufenen Emotion. cker et al. 2003). Andere Arbeitsgruppen wiesen
Die Mehrzahl der Befunde aus dem Neuroima- demgegenüber eine Involvierung der Amygdala
ging-Bereich scheint für die Bedeutung spezifischer beim Erleben verschiedener Basisemotionen, wie
Hirnareale für die Dekodierung bestimmter emo- Angst, Ekel oder auch Freude nach (z. B. Damasio
tionaler mimischer Signale zu sprechen. So wurde et al. 2000; Schienle et al. 2002). Somit halten sich
wiederholt eine distinkte Amygdalaaktivierung die Belege für distinkte bzw. integrative Emotions-
als Reaktion auf Angstmimik gefunden, während prozessoren im Gehirn die Waage. Als relevant
Ekel selektiv die Insula involvierte (z. B. Killgore für das Erleben von Traurigkeit wurden durch
et al. 2001, Phillips et al. 1997). Andere Arbeits- eine Metaanalyse zinguläre Areale identifiziert; die
gruppen konnten diese Spezialisierung allerdings Emotionsspezifität dieses Befundes ist jedoch frag-
nicht nachweisen und fanden bei unterschiedlicher lich (Phan et al. 2002).
Mimik (Freude, Angst, Ekel) Amygdalareaktionen Vergleichsweise wenige Arbeiten beschäftigten
(Breiter et al. 1996; Winston et al. 2003). Interes- sich mit dem Bereich des »emotionalen Gedächt-
santerweise sind die Aktivierungsdaten bezüglich nisses«. Befunde aus Neuroimaging-Studien weisen
Trauermimik so uneinheitlich, dass noch keine daraufhin, dass die Amygdala für die Enkodierung
Hypothesen bezüglich eines spezifischen neuro- emotionaler Stimuli und für die Konsolidierung
nalen Korrelates für diesen Reiztypus formuliert von Gedächtnisinhalten bedeutsame Funktionen
wurden (Phillips et al. 1998). ausübt. So korrelierte die Langzeitgedächtnisleis-
Neben der kommunikativen haben Emotio- tung für affektiv bedeutsame Reize positiv mit der
nen auch eine motivierende Funktion, indem sie Amygdalaaktivierung während der Enkodierung
der Initiierung spezifischer Verhaltensprogramme (Cahill et al. 1996).
dienen (Rolls 1999). Um bei den Teilnehmern von Am Beispiel von fMRT- und PET-Befunden soll
Emotionsexperimenten affektive Zustände auszu- nun im Folgenden geklärt werden, ob und in wel-
lösen, wurden in der Vergangenheit verschiedene chen Hirnregionen es geschlechtsabhängige Un-
Induktionsmethoden gewählt. So kamen akusti- terschiede in der Aktivierung beim Erkennen von
8.3 · Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit emotionsrelevanten Reizen
149 8

Emotionssignalen, beim affektiven Erleben und bei ber hinaus war die Interaktion der Faktoren Ge-
der Erinnerung an emotionale Reize gibt, wobei schlecht und Aktivierungslateralisierung statistisch
aus Gründen der Vergleichbarkeit ausschließlich nicht signifikant. Ein bedeutsamer Interaktions-
solche Arbeiten vorgestellt werden, die visuelle Sti- effekt wurde allerdings während der Betrachtung
mulation bzw. Imaginationstechniken einsetzten. von Freude-Mimik gefunden, der durch die stär-
kere rechtsseitige Amygdalaaktivierung der Män-
ner bedingt war.
8.3.1 Studien zu Geschlechter- Die Verarbeitung von mimischen Angstsi-
unterschieden bei der Dekodierung gnalen bei Kindern war auch der Fokus einer
emotionaler Mimik fMRT-Studie von Thomas et al. (2001). 12 Kinder
mit einem Durchschnittsalter von 11 Jahren und
Furcht vergleichbarem Tanner-Status (Index körperlicher
In einer fMRT-Studie gingen Killgore et al. (2001) und hormoneller Reifung) betrachteten zweimal
der Frage nach, ob geschlechts- und altersabhän- hintereinander Bildersets mit ängstlich blickenden
gige Effekte in der Aktivierung limbischer Struk- und affektiv neutralen Gesichtern. Relativ zu einer
turen bei der Betrachtung von Bildern mit Angst- Fixationsbedingung wiesen beide Gruppen eine si-
mimik existieren. Die Probanden, 19 Kinder und gnifikante Amygdalaktivierung in der Angst- und
Jugendliche im Alter zwischen neun und 17 Jah- Neutral-Bedingung auf. Die Gesichtsausdrücke
ren, betrachteten Angstgesichter bzw. ein Fixati- waren in Dreiviertel der Fälle korrekt zugeordnet
onskreis. Bei den 10 weiblichen Teilnehmern fand worden, wobei nicht berichtet wird, ob sich Jun-
sich eine positive Korrelation des Alters mit der gen und Mädchen in der Klassifikationsleistung
Aktivierungsdifferenz zwischen dorsolateralem unterschieden. Mit der wiederholten Bilddarbie-
Präfrontalkortex (DLPFC) und Amygdala, wäh- tung nahm die Reaktionsamplitude ab, jedoch nur
rend bei den männlichen Teilnehmern ein entge- bei Jungen. Die Autoren vermuten deshalb, dass
gengesetzter Trend vorhanden war. Die Korrela- das Ausbleiben der Habituation in der weiblichen
tionskoeffizienten unterschieden sich signifikant Stichprobe deren größere Sensitivität für Bedro-
zwischen den beiden Gruppen. Die Autoren sehen hungsreize widerspiegelt.
das Ergebnis als Hinweis auf einen geschlechtsab- Entwicklungsbezogene Geschlechterunter-
hängigen Dimorphismus bei der Entwicklung präf- schiede bei der Verarbeitung mimischer Reize bil-
rontal-amydalärer Schleifen. Kritisch muss jedoch deten auch den Gegenstand der fMRT-Studie von
angemerkt werden, dass das Alter in der weiblichen McClure et al. (2004). Teilnehmer waren 17 Ju-
Stichprobe deutlich stärker streute und das Feh- gendliche im Alter zwischen neun und 17 Jahren
len signifikanter Korrelationen in der männlichen sowie 17 Erwachsene (25–36 Jahre). Ihre Aufgabe
Gruppe durch einzelne Ausreißerwerte erklärbar bestand in der Betrachtung von Angst-, Ärger-,
ist. Außerdem wurden keine weiteren Indikatoren Freude- und Neutralmimik, wobei zu entschei-
für den körperlichen bzw. pubertären Entwick- den war, wie intensiv der Sender die Emotion
lungsstand der Probanden neben dem chronologi- empfunden hatte. Beim Vergleich der Ärger- mit
schen Alter erhoben, so dass die Interpretation der der Neutralbedingung zeigte sich, dass erwachsene
Autoren gewagt scheint. Frauen (nicht aber Mädchen) stärkere Reaktionen
In derselben Arbeitsgruppe (Killgore u. Yurge- der Amygdala und des orbitofrontalen Kortex auf-
lun-Todd 2001) wurden 13 erwachsene Probanden wiesen als die männliche Stichprobe. Ein ähnlicher
(sieben Männer, sechs Frauen) mit Angst- und Befund ergab sich auch bei der Kontrastierung
Freudemimik konfrontiert, wobei nach jeder Prä- von Ärger und Angst. Die Analyse der subjektiven
sentation zu entscheiden war, um welche darge- Beurteilungen der gesendeten Emotionen ergab
stellte Emotion es sich handelte. Es zeigten sich keine Geschlechterdifferenzen. Es blieb jedoch of-
keine geschlechtsbezogenen Reaktionsunterschiede fen, welche Emotionen in den Empfängern ausge-
der Amygdala bei der Betrachtung angstrelevanter löst wurden. So kann – wie oben beschrieben – die
Bilder relativ zu einer Fixationsbedingung. Darü- Betrachtung eines feindseligen Gesichtsausdruckes
150 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

zu Angst führen; ebenso ist es aber auch möglich, relate der Dekodierung emotionaler Mimik exis-
dass mit Abscheu oder Ärger reagiert wird. tieren. In einer neueren Studie mit vergleichbarem
Tessitore et al. (2005) gingen der Frage nach, Design (Lee et al. 2005) wurde ein anderes Aktivie-
ob sich jüngere und ältere Menschen in der neu- rungsmuster gefunden. Hier waren Männer (n=8)
ronalen Verarbeitung von Angst- bzw. Aggres- in beiden affektiven Bedingungen (Traurigkeit und
sionsgesichtern unterscheiden. Dabei war es die Freude) durch eine rechtsseitige Insula- und links-
Aufgabe der beiden Stichproben (Gruppe 1: M = seitige Thalamusaktivierung gekennzeichnet, die
67 Jahre, sieben Frauen, acht Männer; Gruppe 2: bei ihnen eine signifikant größere Ausdehnung
M = 25 Jahre, Geschlechterverhältnis 6:6) festzu- hatte als bei Frauen (n=8).
stellen, ob zwei emotionale Ausdrücke (Angst oder Kesler-West et al. (2001) verwendeten ebenfalls
Ärger) mit einem Zielreiz übereinstimmten. In Bilder mit Gesichtsausdrücken, die unter anderem
der Kontrollbedingung waren geometrische Figu- Traurigkeit und Angst widerspiegelten. Nach der
ren zu vergleichen. Beide Gruppen unterschieden Beendigung des Scannens hatten die Probanden
sich nicht in der Genauigkeit, jedoch in der Ge- jedes Bild bezüglich der dargestellten Emotion
schwindigkeit der Aufgabenbewältigung mit einem klassifiziert sowie Intensitätseinstufungen dafür
Nachteil für die ältere Stichprobe. Die emotionalen abgegeben. Hier zeigten sich keine Unterschiede
Gesichtsausdrücke (Angst und Ärger) führten zu zwischen der weiblichen (n=10) und männlichen
8 einer Aktivierung der Amygdala, des ACC sowie (n=11) Stichprobe. Außerdem hatten die Proban-
präfrontaler und parietookzipitaler Regionen. In den berichtet, dass sie während der Betrachtung
keiner der beiden Altersgruppen waren dabei ge- die Zielemotionen nicht selbst erlebt hatten. Die
schlechtsspezifische Aktivierungen feststellbar. fMRT-Daten beinhalteten, dass es in der Traurig-
Schließlich sei noch auf zwei fMRT-Arbeiten keits- relativ zur Freude-Bedingung bei den Män-
zur Verarbeitung ängstlicher Gesichtsausdrücke nern zu einer linkshemisphärischen Aktivierung
verwiesen (Monk et al. 2003; Nelson et al. 2003), gekommen war, während es keine Lateralisierung
bei denen die Autoren – ohne näher auf die Be- bei den Frauen gab. Der Interaktionseffekt war
funde einzugehen – keine Hinweise dafür fanden, statistisch signifikant.
dass der Faktor Geschlecht die Hirnaktivierung
beeinflusste.
Ekel
Meines Wissens existiert nur eine einzige Arbeit
Trauer zur Verarbeitung von Ekelmimik mit Testung von
Lee et al. (2002) führten eine fMRT-Studie zur Er- Geschlechterunterschieden (Schroeder et al. 2004).
kennung von Trauer- und Freudemimik durch. Den In diesem fMRT-Experiment hatten Frauen (n=10)
Probanden wurden Bildpaare bestehend aus jeweils und Männer (n=10) eine vergleichbare Aktivie-
einem neutralen und einem affektiven Ausdruck rung des insulären Kortex sowie medialer tempo-
präsentiert, wobei mittels Knopfdruck anzuzeigen raler Regionen bei der Betrachtung von mimischen
war, um welche Emotion es sich handelte. Die Au- Ekelreizen gezeigt. In einer PET-Studie von Hall et
toren berechneten Analysen getrennt für Frauen al. (2004) wurden Reaktionen auf eine Kombina-
(n=12) und Männer (n=12). Bei der Betrachtung tion verschiedener Gesichtsausdrücke untersucht,
von traurigen Gesichtern waren die männlichen unter denen sich auch Ekelmimik befand. Hier
Teilnehmer durch Aktivierungen in bilateralen hatten acht Männer und acht Frauen die Aufgabe,
frontalen, in rechtstemporalen Regionen sowie im eines von zwei Gesichtern mit emotionalem Aus-
rechten N. lentiformis gekennzeichnet; bei Frauen druck auszuwählen, welches einem dritten ent-
hingegen waren der linke N. lentiformis nebst lin- sprach. Die Leistung bei dieser »emotion matching
ken parietalen und rechten okzipitalen Regionen task« war bei beiden Geschlechtern über die Emo-
involviert. Obwohl die Autoren beide Gruppen tionskategorien Ekel, Freude, Traurigkeit, Ärger,
nicht direkt miteinander verglichen, schlussfolger- Angst und Überraschung vergleichbar. Relativ zu
ten sie, dass geschlechtsspezifische neuronale Kor- einer Aufgabe, bei der die Identität der gezeigten
8.3 · Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit emotionsrelevanten Reizen
151 8

Gesichter überprüft werden musste, waren Frauen deren Geschlecht zu bestimmen (Kontrollbedin-
bei der Emotionszuordnung durch einen stärkeren gung). Die ausgelöste Intensität der Emotionen
zerebralen Blutfluss in der rechten Amygdala sowie wurde von den Probanden auf 5-stufigen Skalen
im linken fusiformen Gyrus gekennzeichnet. Bei bewertet und unterschied sich nicht zwischen den
Männern zeigte sich mehr Aktivierung im rechts- Geschlechtern. Männer zeigten jedoch während
hemisphärischen medialen frontalen und superio- der Traurigkeits- relativ zu einer Ruhebedingung
ren okzipitalen Gyrus. Dieses Reaktionsmuster se- eine stärkere rechtsseitige Amygdalaaktivierung als
hen die Autoren als Resultat der eher analytischen Frauen; bei Freude ergaben sich keine Geschlech-
Herangehensweise der männlichen Stichprobe bei terunterschiede. Darüber hinaus war in der männ-
der Verarbeitung emotionaler Mimik, da nur sie lichen Stichprobe eine positive Korrelation zwi-
den medialen Präfrontalkortex nutzten, der für schen erlebter Traurigkeitsintensität und rechter
die Modulation und Inhibition emotionaler Reak- Amygdalaaktivierung (r=0,64) feststellbar, die in
tionen relevant ist. Beim Gruppenvergleich wurde der weiblichen nicht signifikant war (r=0,14). Die
allerdings ein für multiples Testen unkorrigiertes Autoren schlussfolgern, dass eine traurige Stim-
Kriterium verwendet. mung bei Männern zu einer stärker fokussierten
und lateralisierten Aktivierung führt.
In der fMRT-Studie von Hariri et al. (2001)
8.3.2 Studien zu Geschlechterunterschieden wurden Szenen aus dem International Affective
beim Erleben von Emotionen Picture System (IAPS, Lang et al. 1997) und Bilder
mit Angst- und Ärger-Mimik verwendet. Sechs
Damasio et al. (2000) führten ein PET-Experiment Frauen und sechs Männer betrachteten diese Reize
durch, in dem sich die Probanden an persönliche sowie geometrische Figuren (Kontrollbedingung)
Episoden ihres Lebens erinnerten, die mit den während sie eine Zuordnungsaufgabe ausführten.
vier Emotionen Freude, Traurigkeit, Ärger und Weder bei der Szenen- noch der Mimik-Bedin-
Angst verknüpft waren. Die Zielemotionen wur- gung ergaben sich Geschlechterunterschiede be-
den mit ausreichender Intensität realisiert und wa- züglich der Amydalareaktion.
ren im Vergleich zu einer affektiv neutralen Ima- Das IAPS kam ebenfalls in der fMRT-Studie
gination mit Aktivierungsmustern assoziiert, die von Wrase et al. (2003) zum Einsatz. Eine weibliche
sowohl emotionsübergreifende als auch distinkte und männliche Stichprobe mit jeweils 10 Proban-
Komponenten aufwiesen. So fand sich über alle den sahen affektiv neutrale, negative und positive
Emotionsbedingungen hinweg eine Zunahme der Szenen. Beide Gruppen waren vergleichbar hin-
Durchblutung im Bereich der rechten Insula. Beim sichtlich der Bewertung der affektiven Qualität der
Erleben von Freude waren der rechte posteriore Bilder, der Hautleitwert- und der Schreckreflex-
zinguläre Kortex und der rechte somatosensorische Reaktionen während der Bildbetrachtung. Bei der
Integrationskortex aktiviert, während eine relative Kontrastierung der hämodynamischen Reaktionen
Deaktivierung in diesen Regionen bei Traurigkeit zwischen den Geschlechtern waren Männer durch
auftrat. Im Rahmen der Testung von Geschlechts- eine intensivere Aktivität des inferioren und medi-
unterschieden (16 Frauen, 16 Männer) gab es ein alen frontalen Gyrus sowie der linken Amygdala
einziges statistisch signifikantes Ergebnis, das da- bei positiven Bildern (Sport, Erotika) gekennzeich-
rin bestand, dass Frauen in allen Emotionsbe- net; ansonsten gab es keine geschlechtsbezogenen
dingungen eine stärkere Aktivierung der linken Unterschiede.
anterioren Insula gezeigt hatten. Sabatinelli et al. (2004) registrierten die Aktivi-
Das Ziel der fMRT-Studie von Schneider et al. tät des visuellen Assoziationskortex mittels fMRT
(2000) war es, bei den 26 Teilnehmern (13 Frauen, bei Stimulation durch IAPS-Bilder der Kategorien
13 Männer) Traurigkeit bzw. Freude auszulösen. Erotik, Familie, Haushaltsgegenstände, neutrale
Diese betrachteten dafür Bilder mit Darstellungen und ärgerliche Gesichtsausdrücke, Bedrohungs-
der Zielemotionen durch Schauspieler mit der In- szenen sowie Verletzungen. Die 14 untersuchten
struktion, die Stimmung nachzuempfinden bzw. Männer reagierten stärker bei der Betrachtung von
152 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

erotischen Szenen als die 14 Frauen. Dies wird von zeigten sich geschlechtsbezogene Aktivierungsun-
den Autoren als selektiver Aufmerksamkeitseffekt terschiede.
interpretiert, der evolutionsbiologisch betrach- Schließlich gingen Wager et al. (2003) im Rah-
tet einen Vorteil bezüglich der Partnerselektion men einer Metaanalyse von insgesamt 65 Neuroi-
bieten soll. Die zuvor gefundenen Geschlechts- maging-Studien der Frage nach, ob sich Unter-
unterschiede derselben Arbeitsgruppe, die in der schiede zwischen Männern und Frauen bei der
stärkeren Aktivierung visueller Areale bei Frauen Verarbeitung von Reizen mit positiver und negativ
während aversiver Stimulation bestanden, konnten Valenz ergeben. In beiden Valenz-Bedingungen
nicht repliziert werden (Lang et al. 1998). zeigten Frauen eine stärkere Hirnstammaktivie-
In einer fMRT-Untersuchung von Schienle et rung, während Männer generell eine ausgeprägtere
al. (2005) betrachteten 51 Männer und 41 Frauen Involvierung des linksseitigen inferioren frontalen
Ekel und Angst auslösende Bilder. Nach den Ein- sowie posterioren Kortex aufwiesen. Es konnte
schätzungen der Probanden zufolge konnten beide keine signifikante frontale Lateralisierung bezüg-
Emotionen spezifisch ausgelöst werden, wobei lich positiver/negativer Valenz nachgewiesen wer-
Frauen angaben, diese intensiver zu fühlen. In den, sondern je nach betrachteter Hirnregion wa-
den fMRT-Daten zeigten sich über das gesamte ren die Aktivierungsasymmetrien unterschiedlich.
Gehirn betrachtet keine Geschlechterdifferenzen. Kritisch muss zu dieser Studie angemerkt werden,
8 Die Analyse von spezifischen emotionsrelevanten dass sich die Stichproben deutlich hinsichtlich der
Hirnregionen im Rahmen von sog. Region-of-in- Geschlechterzusammensetzung und des Alters un-
terest-Analysen erbrachte keine Gruppenunter- terschieden. Darüber hinaus variierten die verwen-
schiede für die Ekel relevante Szenen, jedoch für deten emotionalen Stimuli (z. B. emotionale Worte,
solche der Kategorie »Angst«. Männer reagierten Filme, Gesichter, Szenen) und die zugeordneten
mit einer stärkeren bilateralen Aktivierung der Aufgaben für die Probanden (z. B. Klassifizierung,
Amygdala und des fusiformen Gyrus auf Bilder, die Emotionserleben, Erinnerung).
Bedrohungen durch menschliche Angreifer bzw.
Tiere zeigten. Beide Geschlechter unterschieden
sich während den Emotionsbedingungen nicht in 8.3.3 Studien zu Geschlechterunterschieden
der Lateralisierung der Aktivierung. bei der Erinnerung an emotionale
Eine Auswahl derselben Bilder war in einer Reize
Studie von Stark et al. (2003) verwendet worden,
an der 10 Frauen und neun Männer teilnahmen. Im Rahmen einer PET-Untersuchung erfassten
Hier gab es keinerlei statistisch signifikante Ge- Cahill et al. (2001) die Amygdalareaktionen von
schlechtereffekte. Ebenso unterschieden sich bei- 11 Männern und 11 Frauen auf emotionsrelevante
den Gruppen nicht in den subjektiven Ratings (Ekel, Angst) und neutrale Filmsequenzen. Die bei-
bezüglich der erlebten Angst und des Ekels. den Stichproben hatten direkt nach der Betrachtung
Der Fokus der fMRT-Studie von Nitschke et al. der insgesamt 24 Sequenzen vergleichbare affek-
(2006) lag beim Vergleich involvierter Hirnstruk- tive Einstufungen dafür abgegeben. Drei Wochen
turen während der Antizipation bzw. der tatsäch- nach der Emotionsinduktion wurde überprüft, wie
lichen Präsentation aversiver Bilder (u. a. Verlet- viele Filme erinnert werden konnten (freie Wie-
zungen). Den Probanden (11 Frauen, 10 Männern) dergabe), wobei sich beide Gruppen nicht in der
wurde in einer Vorbereitungsphase durch einen Si- Anzahl unterschieden. Bei den Männern ergab sich
gnalreiz angezeigt, dass eine negative bzw. neutrale eine positive Korrelation der rechtsseitigen Amyg-
IAPS-Szene gezeigt würde. Sowohl während der dalaaktivität mit der Gedächtnisleistung für emoti-
Erwartung als auch während der Betrachtung der onale Filme, während Frauen ein komplementäres
aversiven relativ zu den neutralen Bilder waren die Lateralisierungsmuster aufwiesen.
Amygdala, die Insula, der ACC, der orbitofrontale Die fMRT-Studie von Canli et al. (2002) ging
Kortex (OFC) und der dorsolaterale Präfrontalkor- ebenfalls der Frage nach, ob sich Männer und
tex (DLPFC) involviert. In keiner dieser Regionen Frauen in der Evaluation und im Gedächtnis für
8.3 · Gehirnaktivierung bei Stimulierung mit emotionsrelevanten Reizen
153 8

emotionale Reize unterscheiden. Dazu betrachte- Van Stegeren et al. (2005) beschäftigten sich
ten 12 Männer und 12 Frauen zunächst nega- ebenfalls mit dem Gedächtnis für aversive Szenen
tive und neutrale Bilder, die einzeln hinsichtlich im Rahmen einer fMRT-Studie. Die Probanden
der ausgelösten emotionalen Erregung eingestuft (15 Frauen, 15 Männer) hatten jedes Bild hinsicht-
wurden. Drei Wochen nach dem Scannen fand lich der induzierten Erregung auf einer 4-stufi-
ein Wiedererkennenstest statt, bei dem neue und gen Skala bewertet und zwei Wochen nach dem
bekannte Bilder präsentiert wurden. Die Analyse Scannen einen Gedächtnistest bezüglich der Bil-
der Verhaltensdaten erbrachte, dass Frauen mehr der absolviert. In der Studie war unter anderem
Bilder als stark erregend einstuften und diese bes- der Effekt eines Beta-Blockers untersucht werden;
ser erinnerten als Männer. Bei der Korrelation der hier soll jedoch lediglich auf die Placebogruppe
Erregungseinstufungen mit der Gehirnaktivierung eingegangen werden. Die Ergebnisse beinhalteten,
erwiesen sich verschiedene Regionen für beide dass Frauen relativ zu Männern mehr Bilder als
Geschlechter als relevant; dazu zählten die linke extrem intensiv eingestuft hatten. In beiden Ge-
Amygdala, die linke Insula, der linke ACC und schlechtergruppen gab es vergleichbare positive
präfrontale Areale. Nur bei Frauen gab es darüber Korrelationen zwischen der Gedächtnisleitung und
hinaus eine positive Korrelation der Erregung mit der emotionalen Intensität der Bilder. Während der
der Hippokampus-, und nur bei Männern mit Betrachtung erfolgreich enkodierter Bilder zeigte
der Putamen-Aktivität. Weiterhin existierte eine sich eine linksseitige Amygdalaaktivierung bei
geschlechtsspezifische Asymmetrie: In der weibli- Frauen, jedoch nicht bei Männern.
chen Stichprobe waren signifikant mehr links- im In der Studie von Sergerie et al. (2005) war es
Vergleich zu rechtshemisphärischen Clustern akti- die Aufgabe der Probanden (neun Frauen, neun
viert. Für hoch erregende Bilder bestand eine po- Männer), Schwarzweiß-Photographien zu betrach-
sitive Korrelation der Erinnerungsleistung mit der ten, auf denen insgesamt 84 ängstliche, fröhliche
linksseitigen Amygdalaaktivierung bei Frauen und oder neutrale Gesichtsausdrücke dargestellt waren.
mit der rechtsseitigen bei Männern, was die Auto- Die Instruktion dabei lautete, das Geschlecht der
ren auf unterschiedliche Enkodierungsstrategien gezeigten Personen mittels Knopfdruck rückzu-
zurückführen. In beiden Geschlechtern erwiesen melden und sich jedes Bild einzuprägen. In einer
sich der ACC, präzentrale und okzipitale Regio- zweiten Versuchsphase wurden diese Stimuli zu-
nen als wichtig für das korrekte Wiedererkennen. sammen mit 84 neuen präsentiert, wobei zu ent-
Somit gab es große Überschneidungen bezüglich scheiden war, ob es sich um ein bekanntes oder
evaluations- und erinnerungsbezogener Aktivie- zuvor noch nicht gesehenes Bild handelte. Ängst-
rungen in beiden Geschlechtergruppen, aber auch liche Gesichter wurden am besten memoriert. Bei
einzelne klare Unterschiede. der Kontrastierung von erinnerten vs. vergessenen
In einer aktuellen fMRT-Studie der Arbeits- emotionalen Bildern zeigte sich eine linkshemis-
gruppe um Cahill (2004) wurde erneut untersucht, phärische Beteiligung des dorsolateralen Präfron-
ob es geschlechtsspezifische Amygdalaeffekte bei talkortex (DLPFC), die sich nicht zwischen den
einer emotionalen Gedächtnisaufgabe gibt. Zwölf Geschlechtern unterschied.
Männer und 11 Frauen betrachteten affektiv rele- Schließlich untersuchten Piefke et al. (2005)
vante Bilder mit unterschiedlicher Intensität, wäh- neuronale Korrelate des autobiographischen Ge-
rend fMRT-Aufnahmen registriert wurden. Zwei dächtnisses bei 10 Frauen und 10 Männern via
Wochen später erfolgte die Durchführung eines fMRT. Von ihnen wurden persönliche Erinnerun-
Wiedererkennens-Test. Im Gegensatz zu früheren gen erfragt, die sich hinsichtlich zweier Faktoren
Studien (Canli et al. 2002) zeigten Männer eine unterschieden, nämlich der Zeit (Erinnerungen
überlegene Gedächtnisleistung für erregende Bil- aus der Kindheit und der jüngeren Vergangenheit)
der. Bei ihnen war die Anzahl memorierter Bil- und der Valenz (positiv und negativ). Die Berichte
der diesen Typus mit der Aktivierung der rechten wurden in Sätzen zusammengefasst und visuell
Amygdala assoziiert, während es bei Frauen die präsentiert. Über alle vier Bedingungen hinweg
linke war. zeigten Frauen eine differentielle Aktivierung der
154 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

rechten Insula und des rechten DLPFC, während terunterschiede über das ganze Gehirn hinweg be-
bei Männern der linke parahippokampale Gyrus trachtet kaum vorhanden. Dies bedeutet, dass eine
involviert war. Dies wurde als Resultat geschlechts- vergleichbare Gesamtaktivierung bei Männern
spezifischer kognitiver Strategien bei der Gedächt- und Frauen vorlag. Von einer evolutionsbiologi-
nisabfrage gedeutet. In beiden Gruppen waren schen Perspektive aus gesehen erscheint dies auch
darüber hinaus der bilaterale posteriore zinguläre sinnvoll, da die korrekte Entschlüsselung primä-
Kortex, temporookzipitale und hippokampale Re- rer Emotionsauslöser (z. B. Angst- und Ekelreize)
gionen sowie der linke DLPFC beteiligt. sowie eine adäquate Anpassungsreaktion darauf
für beide Geschlechter gleichermaßen relevant ist.
Wurden in Neuroimaging-Studien geschlechtsspe-
8.4 Kritische Wertung zifische Effekte identifiziert, so betrafen diese in
der Regel lokalisierte Aktivierungen. Für den Be-
Die Verwendung von bildgebenden Verfahren zur reich der Emotionserkennung bezogen sich diese
Untersuchung der neurobiologischen Basis von Ge- fast ausschließlich auf die Amygdala; darüber hi-
schlechterdifferenzen bei der Verarbeitung emotio- naus wurden vereinzelt Unterschiede in präfronta-
nal relevanter Reize gilt heute als vielversprechen- len Regionen (DLPFC, OFC) detektiert (Killgore et
der Forschungsansatz. Dabei wird häufig vom Vor- al. 2001; Thomas et al. 2001; McClure et al. 2004).
8 liegen eines sexuellen Dimorphismus ausgegangen: Auch bei Untersuchungen zum emotionalen Ge-
Frauen reagieren demnach insbesondere auf nega- dächtnis waren Geschlechterdifferenzen auf den
tive Emotionsreize mit stärkerer neuronaler Akti- Bereich des DLPFC und der Amygdala beschränkt
vierung, während Männer eine deutlichere Akti- (Cahill et al. 2001; Canli et al. 2001; Piefke et al.
vierungslateralisierung aufweisen. Damit soll die 2005; van Stegeren et al. 2005). Schließlich waren
größere Emotionalität des weiblichen Geschlechts in Experimenten zum emotionalen Erleben Män-
bzw. die unterschiedliche Herangehensweise von ner durch stärkere bilaterale Aktivierungen der
Männern und Frauen bei der Dekodierung affektiv Amygdala und des Gyrus fusiformis als Antwort
bedeutsamer Reize erklärt werden. auf Bedrohungsszenen gekennzeichnet (Schienle
Diese Aussage steht jedoch, gerade was den et al. 2005). Männer zeigten weiterhin intensivere
Neuroimaging-Bereich betrifft, auf einer schwa- hämodynamische Reaktionen auf erotisches Mate-
chen empirischen Basis. So stellt Zald (2003) in sei- rial im Bereich der linken Amygdala, des ventralen
nem Übersichtsartikel zur Bedeutung der Amyg- Präfontalkortex und des visuellen Assoziationskor-
dala für die emotionale Evaluation sensorischer tex (Sabatinelli et al. 2004; Wrase et al. 2003) sowie
Reize fest, dass eine Bewertung der Befundlage eine stärkere Involvierung der rechten Amygdala
bezüglich des Vorliegens von Geschlechtereffekten beim Erleben von Traurigkeit (Schneider et al.
schwierig ist, da nur etwa die Hälfte der durchge- 2000). Über verschiedene Emotionsbedingungen
führten Experimente mit bildgebenden Verfahren hinweg (Angst, Freude, Traurigkeit, Ärger) war
überhaupt gemischte Stichproben verwendete und die linkshemisphärische Insula-Aktivierung bei
lediglich in vereinzelten Untersuchungen gezielte Frauen größer als die bei Männern (Damasio et
Vergleiche der Amygdalaaktivierung zwischen al. 2000).
den Geschlechtern angestellt wurden. Auch in der Neben Geschlechterunterschieden in der Akti-
Meta-Analyse von Wager et al. (2003) mit insge- vierung emotionsrelevanter Hirnstrukturen wurde
samt 65 fMRT- und PET-Emotionsstudien waren deren Lateralisierung untersucht. Gezielte Tests
die Stichproben in 22 Fällen ausschließlich männ- finden sich dabei aber nur selten in der Neuroima-
lich und in 14 ausschließlich weiblich. Damit ist ging-Literatur (Cahill et al. 2004; Canli et al. 2002;
die Geschlechterdifferenzforschung im Bereich der Kesler-West et al. 2001; Killgore u. Yorgelun-Todd
affektiven Neurowissenschaften zurzeit noch völlig 2001; Nitschke et al. 2005; Schienle et al. 2005). In
unzureichend. diesen Arbeiten zeigten sich zum Teil ausgepräg-
In den wenigen Arbeiten, in denen direkte tere Lateralisierungen bei Männern im Vergleich
Vergleiche ausgeführt wurden, waren Geschlech- zu Frauen (Kesler-West et al. 2001; Schneider et al.
8.4 · Kritische Wertung
155 8

2000), aber auch konträre geschlechtsspezifische läufe gekennzeichnet oder der Introspektion nur
Asymmetrien (Canli et al. 2002; Cahill et al. 2004) schwer zugänglich sind. Im Falle der differentiellen
oder keine Differenzen zwischen Männern und Rekrutierung der Amygdala bei Männern als Reak-
Frauen (Killgore u. Yorgelun-Todd 2001; Nitschke tion auf bedrohliche und sexuelle Stimuli lässt sich
et al. 2005; Schienle et al. 2005). Darüber hinaus auch daran denken, dass Prozesse, wie z. B. Auf-
traten geschlechtsunabhängige modellinkompa- merksamkeits- oder Orientierungsreaktionen ab-
tible Lateralisierungsmuster auf, wie linkshemis- gebildet wurden. Demnach wären Männer lediglich
phärische Aktivierungen bei negativen Emotionen attentiver für bestimmte Hinweissignale der Um-
(Wager et al. 2003; Schienle et al. 2005). welt, insbesondere für solche, die die Fortpflanzung
Die Befunde sind somit uneinheitlich und und Aggressionsbereitschaft betreffen, nicht aber
schwer interpretierbar, auch deshalb, weil die ge- emotionaler. Bei der Interpretation geschlechts-
fundenen geschlechtsspezifischen Aktivierungen spezifischer Aktivierungslateralisierungen muss
häufig keine Entsprechung in den Verhaltensda- auch bedacht werden, dass diese auf unterschiedli-
ten aufweisen. So ergaben sich in Experimenten che Weise zustande gekommen sein können. Es ist
zum emotionalen Erleben (Sabatinelli et al. 2004; möglich, dass die Hemisphären von Männern und
Schneider et al. 2000; Wrase et al. 2003) keine Un- Frauen tatsächlich unterschiedlich involviert waren.
terschiede bezüglich der Einstufungen der affekti- Es ist jedoch auch vorstellbar, dass unterschiedliche
ven Bildqualitäten zwischen Männern und Frauen, lokale Aktivierungen und Deaktivierungen bei bei-
obwohl Differenzen in neuronalen Aktivierungs- den Geschlechtern oder Unterschiede bei der Auf-
muster bestanden. In der Studie von Schienle et gabeninvolvierung (Motivation) vorhanden waren
al. (2005) waren sogar gegensätzliche subjektive (Grabowsky et al. 2003). Selbst beim Auffinden von
und hämodynamische Reaktionen zu verzeichnen; Geschlechtereffekten liegt deren Bedeutung somit
so hatte die weibliche Stichprobe die Bedrohungs- nicht immer gleich auf der Hand.
szenen als erregender eingestuft, die männliche Abschließend erscheint es noch notwendig auf
Stichprobe wies jedoch die stärkere Amygdalare- methodische Probleme der aufgeführten Emo-
aktion auf. tionsstudien einzugehen. Hier kam es vor, dass
Im Falle der Gedächtnisleistung für affektiv Aktivierungsmuster bei der Betrachtung emotio-
bedeutsame Reize zeigten sich ebenfalls Divergen- naler Mimik nur getrennt für Männer und Frauen
zen zwischen Neuroimaging- und Verhaltensdaten. untersucht wurden und augenscheinliche Diver-
Hier unterschieden sich Männer und Frauen nicht genzen als Geschlechterunterschiede interpretiert
in der Performanz beim Wiedererkennen oder bei wurden (Lee et al. 2002). Auch bei van Stegeren et
der freien Wiedergabe, es wurden jedoch diffe- al. (2005) wird von der Replikation geschlechtsbe-
rentielle Aktivierungseffekte gefunden (Cahill et zogener amydalärer Aktivierungsunterschiede bei
al. 2001; Piefke et al. 2005). Ähnliches gilt für den einer emotionalen Gedächtnisaufgabe gesprochen,
Bereich der Klassifikationsleistung für emotionale da Frauen eine über- und Männer eine unter-
Mimik, die in beiden Geschlechtergruppen trotz schwellige Aktivierung zeigten. Der direkte Ver-
neuronaler Reaktionsunterschiede vergleichbar gleichstest fehlt jedoch. Schließlich wird das Auf-
war (Kesler-West et al. 2001; McClure et al. 2004; finden signifikanter Rechts-Links-Unterschiede in
Tessitore et al. 2005). der Gruppe der Männer, während diese in der
Was bedeuten demnach geschlechtsassoziierte weiblichen Stichprobe unterhalb der statistischen
Aktivierungsdifferenzen? Zunächst sei darauf hin- Signifikanzschwelle liegen, als Hinweis auf eine
gewiesen, dass es im Rahmen psychophysiologi- stärkere Lateralisierung der Männer interpretiert,
scher Untersuchungen nicht ungewöhnlich ist, dass obwohl die Interaktion der Faktoren Geschlecht
Indikatoren verschiedener Verhaltensebenen disso- und Lateralisierung nicht signifikant war (Killgore
ziiert sind, d. h. dass der Verbalreport und somati- u. Yurgelun-Todd 2001).
sche Reaktionen nicht übereinstimmen. Dies kann Die genannten Untersuchungen bilden sicher-
unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass lich Ausnahmen, doch auch wenn es Vergleichs-
einzelne Parameter durch unterschiedliche Zeitver- tests gab, sind diese zum Teil hinsichtlich der sta-
156 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

tistischen Standards hinterfragbar. So wurde in proben (n≈10) wirkt dem Auffinden geringfügiger
vielen Studien in bestimmten Hirnregionen nach geschlechtsassoziierter Aktivierungsunterschiede
geschlechtbezogenen Aktivierungsunterschieden entgegen. Schließlich könnten die Unterschiede
gesucht. Dazu dienten so genannte Region-of-in- von komplexerer Natur sein als bisher angenom-
terest (ROI)-Analysen, in denen das Suchvolumen men. Neben einfachen Divergenzen in Intensi-
auf zuvor festgelegte Hirnareale beschränkt war. tät oder Lateralität der Aktivierung könnten sich
Dieses Vorgehen ist adäquat; häufig werden aber Männer und Frauen bezüglich der Konnektivität
bei solchen ROI-Tests minimale und nicht für bestimmter Hirnareale unterscheiden, also darin,
multiples Testen korrigierte Effekte berichtet (z. B. wie zentrale Netzwerke zeitlich und funktional
Fischer et al. 2004; Hall et al. 2004). zusammenarbeiten. Solche Hypothesen sind je-
Dies mag zum Teil erklären, warum die Ge- doch zurzeit aufgrund noch nicht voll ausgereifter
schlechterbefunde zur emotionalen Verarbeitung Auswertungsansätze nur schwer testbar. Darüber
in der Neuroimaging-Literatur heterogen sind und hinaus ist es vorstellbar, dass weitere Faktoren,
nur wenige Replikationen vorliegen. Allerdings wie Alter, Persönlichkeit, Lernerfahrungen u.ä.
muss auch bemerkt werden, dass sich die Designs mit dem Geschlecht interagieren und so einfache
der einzelnen Studien deutlich voneinander unter- Haupteffekte überdecken.
schieden, was natürlich die Vergleichbarkeit der Schließlich wäre die Untersuchung von Indivi-
8 Ergebnisse erschwert. Exemplarisch soll hier die duen mit extremen Ausprägungen bzw. Dysfunk-
Problematik der gewählten Kontrollbedingung in tionen im emotionalen Erleben, Erkennen und
einem experimentellen Paradigma genannt werden. Gedächtnis ein vielversprechender Ansatz zum
In den verschiedenen Arbeiten betrachteten die Auffinden möglicher Geschlechterdifferenzen,
Probanden in der nicht affektiven Bedingung zum der bisher jedoch kaum genutzt wurde. So liegen
Teil Fixationskreise, neutrale Stimuli (Gesichter, meines Wissens keine Neuroimgaging-Studien zu
Szenen), oder sie lasen Instruktionen. Da die Aus- Angststörungen, wie Tierphobien, posttraumati-
wertung von Neuroimaging-Daten die Kontrastie- schen Belastungsstörungen, Panikstörungen und
rung von jeweils zwei Bedingungen beinhaltet, ist generalisierten Angststörungen vor, in denen Ge-
die Wahl der Kontrollkondition entscheidend für schlechtervergleiche vorgenommen wurden. Sol-
das resultierende Aktivierungsmuster. Nachweis- che Tests finden sich auch nur vereinzelt für den
lich kann auch die mit der Stimulation assoziierte Depressionsbereich (z. B. Irwin et al. 2004). Hier
Aufgabe das Aktivierungsmuster beeinflussen (z. B. besteht somit großer Forschungsbedarf.
Critchley et al. 2000). Es macht einen Unterschied, Zusammenfassend kann festgehalten werden,
ob ein sog. »passive viewing« zum Einsatz kommt dass die Ähnlichkeiten in der Gehirnaktivierung
oder ob die Probanden eine bestimmte Aufgabe von Männern und Frauen bei der emotionalen
ausführen. Bei mimischer Stimulation bestand die Verarbeitung die Unterschiede deutlich übertreffen
typische Aufgabe in der Geschlechterdiskrimina- (Wager u. Ochsner 2005). ⊡ Abb. 8.1 illustriert die-
tion, während bei Szenen oder Imaginationen mit sen Befund. Dargestellt sind die Aktivierungen von
Instruktionen gearbeitet wurde, die das Einfühlen 51 Männern und 41 Frauen bei der Betrachtung
bzw. Nachfühlen der Zielemotion implizierten. Ekel und Angst auslösender Bilder (Schienle et al.
Obwohl nur vereinzelte Hinweise auf ge- 2005). Dabei war die Gesamtaktivierung in beiden
schlechtsspezifische Aktivierungen gefunden wur- Gruppen über beide Bedingungen hinweg ver-
den, kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese gleichbar (links). Aktivierungsdifferenzen betrafen
dennoch in größerem Ausmaß als bisher nachge- spezifische Hirnareale, nämlich die Amygdala und
wiesen existieren. Ein Nichtauffinden von solchen ein visuelles Areal (Gyrus fusiformis), die bei der
Effekten könnte auf messmethodische Probleme Betrachtung von bedrohungsrelevanten Szenen bei
zurückgehen, z. B. auf Schwierigkeiten bei der Er- Männern stärker rekrutiert wurden (rechts). Aus
fassung des MR-Signals von sehr kleinen Struktu- der Sicht des Neuroimaging werden Geschlech-
ren, die sich in der Nähe von Gefäßen befinden. terdifferenzen in der Emotionalität somit häufig
Auch die Verwendung generell sehr kleiner Stich- überschätzt.
Literatur
157 8

⊡ Abb. 8.1. Gehirnaktivierung bei Männern und Frauen während der Betrachtung Ekel und Angst auslösender Szenen

Fazit ceedings of the National Academy of Science 93:8016–


Gegenstand dieses Kapitels bildeten Neuro- 8021
Cahill et al. (2001) Sex-related differences in amygdala activity
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Reize. Die ausgewählten Untersuchungen be- amygdala function in emotionally influenced memory:
schäftigten sich mit visuellen Reizen, die den an fMRI investigation. Learning and Memory 11:261–
266
Basisemotionen Angst, Ekel und Traurigkeit zu-
Canli T, Desmond JE, Zhao Z, Gabrieli JD (2002) Sex differences
zuordnen waren. Die kritische Betrachtung der in the neural basis of emotional memories. Proceedings of
Daten zeigte, dass sich die Aktivierungsmuster the National Academy of Science 99:10789–10894
von Männern und Frauen weitgehend gleichen, Critchley H, Daly H, Phillips M, Brammer M, Bullmore E, Wil-
und dass Abweichungen nur in geringem Aus- liams S, Van Amelsvoort T, Robertson D, David A, Murphy
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158 Kapitel 8 · Geschlechterdifferenzen in der Emotionalität aus der Sicht des Neuroimaging

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9

Riechen Frauen anders als Männer?


Gerard Brand, Laurence Jacquot

9.1 Einführung – 162

9.2 Deskriptive Daten – 163


9.2.1 Sensibilität – 163
9.2.2 Hedonische Valenz – 164
9.2.3 Diskrimination – Identifikation – 164
9.2.4 Gedächtnis – 165
9.2.5 »Sonderfall Androstenon« – 166
9.2.6 Anmerkungen zur Methodik – 167

9.3 Mögliche Ursachen – 168


9.3.1 Anatomische Unterschiede – 168
9.3.2 Genetische Unterschiede – 169
9.3.3 Hormonelle Unterschiede – 169
9.3.4 Kognitive Unterschiede – 170
9.3.5 Umweltunterschiede – 171

Literatur – 171
162 Kapitel 9 · Riechen Frauen anders als Männer?

> In der Forschung zu Geschlechtsunterschieden bei sensorischen Funktionen


werden deren Beiträge zu individuellen Unterschieden betont. Welche Rolle
das Geschlecht für die olfaktorische Wahrnehmung spielt, interessiert insbe-
sondere die differenzielle Psychologie und biologische Disziplinen. Wir wissen
inzwischen, dass interindividuelle Unterschiede bei olfaktorischen Fähigkeiten
mit verschiedenen anderen Faktoren wie Alter, Krankheiten usw. zusammen-
hängen. Geschlechtsunterschiede scheinen allerdings ein komplexes und
verwirrendes Terrain zu sein, das noch weitgehend unerforscht ist. In diesem
Kapitel werden deskriptive Daten präsentiert, die zeigen, dass Frauen Männern
in olfaktorischen Fähigkeiten überlegen sein können, insbesondere bei Iden-
tifikations- und Diskriminationsaufgaben. Obwohl ein Großteil dieser Studien
methodische Schwächen aufweist, resultiert daraus doch die Frage nach den
Ursachen dieses Geschlechtsunterschiedes. Die beiden gängigsten Hypothesen
lassen vermuten, dass eine weibliche Überlegenheit in kognitiven Aufgaben
bzw. größere Erfahrung bezüglich Geruchsstimuli bei Frauen existieren. Aktu-
elle Fortschritte in so unterschiedlichen Feldern wie Genetik oder Bildgebung
des Gehirns könnten in der näheren Zukunft zu einem besseren Verständnis
geschlechtsspezifischer Prozesse in der Olfaktion beitragen.

9.1 Einführung Vorstellung von Geschlechtsunterschieden bei ol-


faktorischen Fähigkeiten interessiert insbesondere
Die Forschung zu menschlichen Wahrnehmungs- die differenzielle Psychologie und die biologischen
leistungen hat den chemischen Sinnen Geschmack Disziplinen und lässt sich lang zurückverfolgen.
und Geruch im Vergleich zum Gehör, zum Ge- Die erste Forschungsarbeit zu diesem Thema
sichts- und Tastsinn bislang verhältnismäßig wenig stammt von Toulouse und Vaschide, die bereits im
Aufmerksamkeit gewidmet. In den letzten Jahren Jahre 1899 behaupteten, dass Frauen Männern hin-
sind jedoch einige Publikationen zum Geruchssinn sichtlich Sensibilität, Wahrnehmungs- und Diskri-
erschienen und haben diesem Mangel etwas abge- minationsfähigkeiten überlegen seien. Basierend
holfen. Verschiedene Untersuchungen beschäftig- auf einer Untersuchung von 237 Probanden bei-
ten sich mit physiologischen, psychologischen und derlei Geschlechts und verschiedenen Alters stell-
behavioralen Aspekten. Typisch für die Geruchs- ten sie anhand verschiedener Aufgaben fest, dass
wahrnehmung sind große interindividuelle Unter- sich die olfaktorischen Fähigkeiten von Frauen
schiede in der Reaktion auf Duftstoffe, zu denen früher entwickeln (Toulouse u. Vaschide 1899a,
verschiedene Faktoren beitragen. Die wichtigsten 1899b). In späteren Studien wurden zunächst
sind Alter und Geschlecht. Wie man inzwischen ▬ die getesteten Gerüche (natürliche und synthe-
weiß, verändern sich die olfaktorischen Fähigkeiten tische Gerüche, Gerüche, die aus einem Mo-
mit zunehmendem Alter. Geschlechtsunterschiede lekül oder aus einer Mischung verschiedener
bei olfaktorischen Fähigkeiten stellen dagegen ein Moleküle bestehen),
komplexeres, verwirrenderes Feld mit mehr unge- ▬ die olfaktorischen Aufgaben (Entdeckung, Iden-
klärten Aspekten dar (Brand u. Millot 2001). Die tifikation, Abruf) sowie
Forschung zu Geschlechtsunterschieden bei senso- ▬ die Untersuchungsmethoden (psychophysische,
rischen Funktionen hat deren Beiträge zu interin- elektrophysiologische, bildgebende Methoden)
dividuellen Unterschieden betont (Velle 1992). Die variiert.
9.2 · Deskriptive Daten
163 9

Noch später begann man damit, auch extrinsische elega u. Koster 1974) und Amylacetat (Koelega
Faktoren (z. B. kulturelle, pathologische Aspekte) 1994a,b) bereits bei 20-Jährigen festgestellt. Die
zu analysieren. Überlegenheit von Frauen in Aufgaben, in denen
In Untersuchungen des menschlichen Ge- Gerüche entdeckt werden sollen, scheint nicht
ruchssinnes wurde häufig ein Geschlechtseffekt kulturabhängig zu sein, sie wurde in vielen ver-
gefunden. Der erste Teil dieses Kapitels präsen- schiedenen Ländern für die Gerüche von Rosen,
tiert deskriptive Daten zu verschiedenen olfakto- Eugenol, Mercaptans und Amylacetat gefunden
rischen Funktionen (Sensibilität, Diskrimination, (Gilbert u. Wysocki 1987). Koelega (1979) konnte
Identifikation) und beschreibt, ob und in welchen in seiner Untersuchung an 40 rechtshändigen Pro-
Bereichen Geschlechtsunterschiede auftreten. Zu- banden keine Geschlechtsunterschiede bei den
sätzlich werden einige Anmerkungen zur Methodik unilateralen Wahrnehmungsschwellen für Amyl-
gemacht. Da die genauen Ursachen der beobachte- acetat finden. Zu denselben Resultaten kamen Za-
ten Geschlechtsunterschiede in der olfaktorischen torre und Jones-Gotman (1990) mit ihrer Unter-
Wahrnehmung weiterhin ungeklärt sind, stellt der suchung der unilateralen Wahrnehmungsschwelle
zweite Teil dieses Kapitels einige spekulative Er- für Phenylethylalkohol, ebenso wie Betchen und
klärungen zu den möglichen Ursachen vor, für die Doty (1998), die 66 Männer und 72 Frauen mit
verschiedene Faktoren verantwortlich sein können. demselben Stimulus testeten. Pendse (1987) fand
keine Leistungsasymmetrie der Nasenlöcher bei
Männern, Frauen hingegen zeigten eine bessere
9.2 Deskriptive Daten Leistung mit dem rechten als mit dem linken
Nasenloch.
Während in einigen Studien Geschlechtsunter- Die Stichproben in Bildgebungsstudien sind
schiede in der olfaktorischen Wahrnehmung fest- normalerweise klein. In der fMRI-Untersuchung
gestellt wurden, fand man in anderen Untersu- von Levy et al. (1997) mit einer Stichprobe von
chungen keine Unterschiede – daher ist dieser acht Frauen und neun Männern fand sich kein
Punkt umstritten. Ob Übereinstimmungen erzielt Geschlechtsunterschied bei der Intensitätsein-
werden, hängt wahrscheinlich zum großen Teil von schätzung der drei verwendeten Gerüche (Py-
der Art der untersuchten Funktionen ab. ridin, Amylacetat und Menthon). Allgemein
zeigten Frauen in den aktivierten Gehirnarealen
eine schwächere Reaktion auf die Geruchsstimuli
9.2.1 Sensibilität als Männer. Unterschiede in der Lokalisierung
der Aktivierung wurden jedoch nicht gefunden.
Geruchsschwellen weisen eine extreme Variabili- Yousem et al. (1999) verglichen in einem fMRI-
tät zwischen Probanden auf, die interindividuellen Experiment die Gehirnaktivierungen rechtshän-
Unterschiede bei der olfaktorischen Sensibilität diger Frauen und Männer nach Stimulation des
sind jedoch im Durchschnitt relativ gering – von N. olfactorius. Im Gegensatz zu der Untersu-
Krankheitsfällen und Alterungsprozessen abgese- chung von Levy war die Aktivierung bilateraler
hen. Eine Reihe von Untersuchungen fanden keine inferofrontaler Regionen bei Frauen größer als
signifikanten Geschlechtsunterschiede bei der bei Männern.
Wahrnehmungsschwelle für N-Butanol (Koelega In einer neueren Studie verwendeten Olofsson
1970), Safrol (Koelega u. Köster 1974), Pyridin – und Nordin (2004) drei verschiedene Konzentra-
einem Geruch nach verdorbener Milch – (Dorries tionen von Pyridin, um Geschlechtsunterschiede
et al. 1989) und Phenylethylalkohol (PEA) – einem mittels psychophysikalischer (Intensitätseinschät-
Duft nach Rosen (Zatorre u. Jones-Gotman 1990). zungen) und elektrophysiologischer (chemosen-
Stevens und O’Connell (1991) bestätigten dieses sorische ereigniskorrelierte Potenziale, CSEKP)
Resultat für PEA und fünf weitere Duftstimuli. Im Methoden zu untersuchen. Die Resultate zeig-
Gegensatz dazu wurden Geschlechtsunterschiede ten, dass Frauen Pyridin intensiver wahrnehmen
in der Sensibilität für Pyridin und M-Xylen (Ko- als Männer, speziell in der höchsten Konzentra-
164 Kapitel 9 · Riechen Frauen anders als Männer?

tion. Diese Geschlechtsunterschiede in der wahr- führte die Stimulation des rechten Nasenloches
genommenen Intensität spiegelten sich in den zu einer höheren hedonischen Bewertung als die
chemosensorischen EKP, in denen bei Frauen des linken.
mehr frühe Komponenten (P1, N1) auftraten. Geschlechtsunterschiede konnten auch in der
Außerdem war bei Frauen die Amplitude der Intensitäts- und hedonischen Bewertung von Kör-
P2/P3-Komponente (die späte positive Kompo- pergerüchen gefunden werden. Im Vergleich zu
nente) größer, was frühere Resultate bestätigte Männern bewerten Frauen den Geruch von Ach-
(Evans et al. 1995; Morgan et al. 1997). Für die sel- und Vaginalsekretionen und Androstenon (ei-
Autoren zeigen diese Befunde, dass die beob- nem Bestandteil von Schweiß) als intensiver und
achteten Geschlechtsunterschiede in der Wahr- weniger angenehm (Doty et al. 1975; Doty 1987).
nehmung auf einem relativ hohen Niveau der Bei heterosexuellen Paaren bewerteten Männer
neuralen Verarbeitung basieren. Lundström und den Geruch ihrer Partnerin stets als angenehm,
Hummel (2006) erforschten geschlechtsspezifi- während die Bewertung des Partnergeruchs durch
sche Hemisphärenunterschiede bei olfaktorischen die Frau kulturell bedingt variierte (Schleidt et
ereigniskorrelierten Potenzialen (EKP) mit einem al. 1981). Zur Identifikation ihres eigenen Kör-
Pfefferminzöl-Stimulus. Die Resultate zeigten pergeruchs waren 59,4% der getesteten Frauen,
keine signifikanten Unterschiede der olfaktori- aber nur 5,6% der Männer in der Lage (Platek et
schen Sensibilität zwischen Männern und Frauen. al. 2001). Hold und Scheidt (1977) stellten fest,
Allerdings fand sich eine geschlechtsspezifische dass der eigene Körpergeruch von Frauen als an-
9 Hemisphärenasymmetrie: Bei Frauen waren die genehm, von Männern dagegen als unangenehm
Amplituden über der linken Hemisphäre größer, bewertet wird.
bei Männern über der rechten.

9.2.3 Diskrimination – Identifikation


9.2.2 Hedonische Valenz
Im Gegensatz zu ihrer ausgeprägten Fähigkeit,
Bei der olfaktorischen Wahrnehmung spielt die Gerüche wahrzunehmen, ist die Fähigkeit von
hedonische Valenz eine wesentliche Rolle. Die Menschen, einen individuellen Geruch zu erken-
Charakterisierung eines Geruchs als angenehm/ nen und zu identifizieren, sehr begrenzt. Unter-
unangenehm ist bei jeder olfaktorischen Stimula- schiede zwischen Jungen und Mädchen in der
tion von großer Bedeutung, sie war jedoch kaum Identifikationsleistung wurden bereits beschrie-
jemals Gegenstand von geschlechtervergleichen- ben (Richman et al. 1992, 1995). Erwachsene
den Analysen. Geschlechtsunterschiede bei der Frauen zeigen marginal bessere Leistungen als
Bewertung eines Geruchs als angenehm scheinen Männer im Benennen einzelner Gerüche (Cain
von der Art des Geruchs abhängig zu sein (Wyso- 1982; Doty et al. 1985; Oberg et al. 2002; En-
cki u. Gilbert 1989). Männer bewerten beispiels- gen 1987). Über Geschlechtsunterschiede bei der
weise Amylacetat als angenehmer, Frauen Eugenol Diskrimination der wahrgenommenen Geruchs-
und Rosenduft. In der Untersuchung von Olofsson qualität, einer Diskriminationsleistung höherer
und Nordin (2004) wurde Pyridin von Frauen Ordnung, ist wenig bekannt (Gilbert et al. 1989).
als unangenehmer bewertet als von Männern. In Für die weibliche Überlegenheit bei der Diskri-
einer anderen Studie untersuchten Dijksterhuis et mination von Geruchsqualitäten könnten zwei
al. (2002) Geschlechtsunterschiede bezüglich der Faktoren in Betracht kommen. Zum einen spielen
hedonischen Valenz von 16 verschiedenen Sub- bei der Geruchsidentifikation verbale Fähigkei-
stanzen. Es zeigten sich keine Unterschiede zwi- ten, in denen Frauen überlegen sind, eine Rolle.
schen Männern und Frauen in den hedonischen Zum anderen kommen Frauen im Allgemeinen
Bewertungen, allerdings fand sich bei Männern bei der Hausarbeit, z. B. beim Kochen, häufiger
ein signifikanter Effekt des stimulierten Nasen- mit olfaktorischen Reizen in Kontakt als Männer,
loches, nicht jedoch bei Frauen. Bei Männern so dass sie möglicherweise einfach mehr Erfah-
9.2 · Deskriptive Daten
165 9

rung mit Geruchsstoffen haben (Klutky 1990). dass der Leistungsabfall bei der Geruchsidentifi-
Es ist bekannt, dass die Sensibilität für bestimmte kation bei Männern und Frauen ähnlich verläuft,
Gerüche bei Erwachsenen durch wiederholte Ex- die Verschlechterung bei Frauen aber ca. 20 Jahre
position verbessert werden kann (Doty 1991a). später eintritt. Männer erfahren eine frühere und
Weiterhin ist gut dokumentiert, dass Erfahrung intensivere Beeinträchtigung ihrer Fähigkeit zur
die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Diskrimi- Geruchsidentifikation als Frauen. Die Leistung
nation bestimmter Gerüche steigern kann (Distel der Männer verschlechtert sich im Alter von ca.
et al. 1997, 1999; Hudson 1999). 55 Jahren signifikant, dieser Leistungsabfall wird
Hummel et al. (1998) verglichen Rechts- und bei Frauen erst im Alter von 75 Jahren erkenn-
Linkshänder und stellten fest, dass Frauen unab- bar. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass – im
hängig von ihrer Händigkeit etwas bessere Ge- Vergleich mit jüngeren Frauen – gesunde Frauen
ruchsdiskriminationsleistungen zeigten als Män- bis zum Alter von ca. 80 Jahren nur geringe Ver-
ner. Gilbert et al. (1989) verglichen die Fähigkeit, änderungen der sensorischen Funktionen zeigen
über beide Nasenlöcher separat wahrgenommene (Larsson u. Bäckman 1993; 1997).
Gerüche als identisch zu erkennen. Dabei scheint Viele Untersuchungen haben sich mit olfak-
die Asymmetrie der Nasenlöcher bei Männern grö- torischen Prozessen bei so unterschiedlichen
ßer zu sein als bei Frauen – ein Resultat, das auch Krankheiten wie Gehirnläsionen, Epilepsie, Alz-
von Millot und Brand (2000) bestätigt wurde. In heimer-Demenz, Morbus Parkinson und Cho-
weiteren Untersuchungen zeigten Frauen unabhän- rea Huntington befasst. Vergleichende Studien
gig von der Art des Geruchs bessere Leistungen bei zu Geschlechtsunterschieden haben sich dagegen
der Identifikation von Körpergerüchen, gleichgül- stärker mit psychiatrischen Störungen beschäf-
tig, ob es sich um Geruch der Achseln (Doty 1977; tigt, insbesondere mit Schizophrenie (Moberg
Schleidt et al. 1981), der Hand (Wallace 1977) et al. 1999). In der Untersuchung von Kopala
oder des Atems (Doty et al. 1982a) handelte. Doty et al. (1989) war die olfaktorische Identifika-
et al. (1985) demonstrierten in ihrem Vergleich tionsleistung und -genauigkeit bei männlichen
von vier verschiedenen Populationen, dass sich die Schizophreniepatienten signifikant geringer als
Identifikationsleistungen in den ethnischen Grup- bei weiblichen Schizophreniepatienten und der
pen unterschieden. Allerdings zeigten in jeder Po- männlichen und weiblichen Kontrollgruppe. Ko-
pulation Frauen bessere Leistungen als Männer. pala und Clark (1990) stellten fest, dass 50% der
Diese Daten lassen vermuten, dass Geschlechtsun- männlichen Patienten mit Schizophrenie an einer
terschiede in der Geruchsidentifizierung, falls sie olfaktorischen Agnosie litten.
vorhanden sind, ethnische oder kulturelle Grenzen
überschreiten.
Die Auswirkungen des Alters auf die Leis- 9.2.4 Gedächtnis
tung in olfaktorischen Identifikations- und Dis-
kriminationsaufgaben sind gut bekannt (Doty et Das Gedächtnis für Gerüche ist in zahlreichen Stu-
al. 1984), der Leistungsabfall mit zunehmendem dien untersucht worden (Übersichten bei Schab u.
Alter scheint sich jedoch zwischen Männern und Crowder 1995; Annett 1996; Herz u. Engen 1996).
Frauen zu unterscheiden (Lehrner et al. 1999; Die meisten stellten fest, dass das Geschlecht kei-
Larsson et al. 2005). Dieser altersbedingte Leis- nen Einfluss auf die Kurzzeit- und Langzeit-Wie-
tungsabfall bei olfaktorischen Fähigkeiten hängt dererkennensleistung hat (Richardson u. Zucco
zum Teil mit strukturellen Veränderungen im ol- 1989). Klukty (1990) fand allerdings eine signifi-
faktorischen System zusammen (Meisami et al. kante Überlegenheit von Frauen gegenüber Män-
1998). In der ersten publizierten Längsschnitt- nern in Aufgaben zum olfaktorischen Gedächtnis
studie, die den Geruchssinn bei Erwachsenen er- im Vergleich zu Aufgaben zum auditorischen oder
forschte, replizierten und erweiterten Ship et al. visuellen Gedächtnis, wo kein solcher Unterschied
(1996) frühere Resultate aus Querschnittstudien auftrat. Bromley und Doty (1995) stellten in ih-
(Ship u. Weiffenbach 1993), indem sie zeigten, rer Untersuchung Geschlechtsunterschiede für
166 Kapitel 9 · Riechen Frauen anders als Männer?

bestimmte Wiedererkennungsaufgaben von Gerü- anosmisch für Androstenon klassifiziert wurden,


chen fest, bei denen die Frauen den Männern über- konnte dieses Molekül jedoch nach wiederholter
legen waren. Lehrner (1993) testete die Wiederer- Exposition wahrnehmen (Wysocki et al. 1989).
kennungsleistung für Gerüche mit einem 2-Alter- Auch zeigten viele Probanden mit dieser spezifi-
native-forced-choice-Test mit Behaltensintervallen schen Anosmie dennoch eine psychophysiologi-
von bis zu 21 Tagen. Frauen zeigten dabei über alle sche Reaktion auf diesen Geruch, beispielsweise
Behaltensintervalle bessere Leistungen als Männer, eine elektrodermale Reaktion. Van Troller et al.
eine Analyse der Konsistenz der Benennungsleis- (1983) haben zahlreiche Geschlechtsunterschiede
tung ergab aber keinen Vorteil für die Frauen. bei elektrodermalen Reaktionen beschrieben, die
Diesem Autor zufolge beruht die Überlegenheit sich auf die Latenzzeit, Dauer und Amplitude die-
der Frauen eher auf sensorischen als auf kognitiven ser Reaktion beziehen.
Faktoren – eine kontroverse Hypothese (Larsson et Geschlechtsunterschiede bei der Sensibili-
al. 2003). In ähnlicher Weise erforschten Choud- tät für Androstenon können bereits bei jungen
hury et al. (2003) den Einfluss des Geschlechts auf Menschen auftreten (Dorries et al. 1989), die
die Leistung in einem standardisierten Test des Überlegenheit von Frauen bei der Wahrnehmung
Kurzzeitgedächtnisses für Gerüche mit Behalten- dieses Geruchs zeigt sich in allen Altersgruppen
sintervallen von 10, 20, 30 und 60 Sekunden, sie (Wysocki u. Gilbert 1989) sowohl in Stichpro-
konnten zeigen, dass Frauen in allen Behaltensin- ben aus den USA wie aus Afrika (Wysocki u.
tervallen bessere Leistungen zeigten als Männer. In Beauchamp 1991; Barber 1997). Die National Ge-
9 einer neueren Studie (Doty u. Kerr 2005) wurde ographic Smell Survey stellte einen schwachen,
demonstriert, dass bei Frauen, nicht jedoch bei aber konstant zunehmenden Unterschied in der
Männern, die Behaltensleistung für mit dem linken Intensitätswahrnehmung zwischen Männern und
Nasenloch wahrgenommene Gerüche besser war Frauen im Alter zwischen 20 und 80 Jahren fest.
als mit dem rechten. Den Autoren zufolge zeigen Bei der Bewertung von Androstenon als ange-
diese Ergebnisse wahrscheinlich einen größeren nehm scheinen ebenfalls starke Geschlechtsun-
Rückgriff auf linkshemisphärische semantische terschiede vorzuliegen, Männer bewerteten den
Prozesse. Geruch angenehmer als Frauen (Griffiths u. Pat-
terson 1970; Koelega 1980; Wysocki u. Gilbert
1989). Die hedonischen Bewertungen von Frauen
9.2.5 »Sonderfall Androstenon« änderten sich jedoch im Verlauf ihres Menstru-
ationszyklus signifikant, sofern sie keine oralen
Androstenon wurde erstmals im Speichel von Kontrazeptiva einnahmen (Grammer 1993). In
Ebern isoliert und als ein chemisches Signal iden- der Untersuchung von Filsinger et al. (1984) fand
tifiziert, welches das Sexualverhalten dieser Spe- sich eine signifikante Wechselwirkung von Ge-
zies beeinflusst. Später konnte Androstenon auch schlecht und dem präsentierten Geruch. Männer
aus menschlichem Achselschweiß und aus Urin bewerteten einen auf einem Foto gezeigten Mann
isoliert werden. Um dieses mutmaßliche Sexual- unter Einwirkung von Alpha-Androstenon als
pheromon beim Menschen zu erforschen, wur- passiver als unter Einwirkung von Methylanthra-
den in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Studien nilat (Bedingung: angenehm), Skatol (Bedingung:
zu Geschlechtsunterschieden bei der Sensibilität unangenehm) oder wenn kein Geruch einwirkte,
für diese Substanz oder ihren Auswirkungen auf außerdem passiver als Frauen (die sich selbst als
Verhalten durchgeführt. Ein beträchtlicher Pro- weniger sexy einschätzten). Filsinger et al. (1990)
zentsatz normaler Erwachsener – laut Aussagen zeigten darüber hinaus, dass Männer, die diesen
der Studien 26,8–44,3% der männlichen Popu- Geruch als angenehm empfanden, den auf dem
lation und 7,6–25% der weiblichen Population Foto gezeigten Mann positiv bewerteten.
– konnte diese Substanz nicht detektieren (Grif- Androstenon scheint die Präferenz von Pro-
fiths u. Patterson 1970; Dorries et al. 1989; Baydar banden für Objekte oder Orte geschlechtsabhängig
et al. 1993). Ein großer Teil der Probanden, die als zu beeinflussen. Kirk-Smith und Booth (1980) no-
9.2 · Deskriptive Daten
167 9

tierten die Häufigkeit, mit der bestimmte Sitzplätze feststellten. Dieses Phänomen ist möglicherweise
im Wartezimmer eines Arztes benutzt wurden, auf eine olfaktorische Präferenz für Individuen mit
in Abhängigkeit davon, ob sie mit Androstenon einer anderen genetischen Ausstattung zurückzu-
imprägniert waren oder nicht. Sie stellten fest, dass führen (Wedekind u. Füri 1997).
Frauen die imprägnierten Sitzplätze bevorzugten Weiterhin wurde festgestellt, dass Männer mit
und Männer diese vermieden. Eine ähnliche Stu- Schizophrenie eine höhere olfaktorische Sensibili-
die, die in einem Theater durchgeführt wurde, tät für Androstenon haben als normale Männer, ein
erbrachte vergleichbare Resultate (Clark 1978). Unterschied, der bei Frauen nicht auftritt (Bradley
Androstenol, ein weiteres Sexualpheromon, 1984). Diese Befunde könnten auf eine veränderte
das durch einen moschusartigen Geruch gekenn- Ausschüttung von Sexualsteroiden bei männlichen
zeichnet ist, ist ein Bestandteil des Achselschwei- Schizophrenen zurückzuführen sein (Brooksband
ßes. Bereits 1961 berichtete Kloek, dass spezifische u. Pryse-Phillips 1964).
Anosmien für dieses Molekül bei Männern (38%)
häufiger auftreten als bei Frauen (22%). Koelega
und Koster (1974) stellten bei Frauen eine höhere 9.2.6 Anmerkungen zur Methodik
Sensibilität für zwei verschiedene Formen von An-
drostenol fest. In der Studie von Gustavson et al. Diese Übersicht zeigt deutlich, dass die Forschungs-
(1987) wurde die Wirkung von Androstenol im resultate und Perspektiven zu Geschlechtsunter-
Vergleich mit einem Kontrollgeruch auf die Präfe- schieden beim menschlichen Geruchssinn sehr
renz für Toilettenkabinen untersucht. Männer ver- widersprüchlich sind. Zum besseren Verständnis
mieden die mit Androstenol behandelten Kabinen, von olfaktorischen Geschlechtsunterschieden ist
während bei Frauen der Geruch die Auswahl der noch sehr viel mehr Forschung notwendig. Leider
Kabinen nicht beeinflusste. zeigen sich in den vorhandenen Forschungsar-
Koelaga und Koster (1974) und Koelega beiten eine Reihe von methodischen und kon-
(1994a) fanden auch einen Geschlechtsunterschied zeptuellen Schwächen. Das vorrangige Problem
in der Sensibilität für Moschus R1 (11-Oxohexa- sind zu kleine Stichproben. Häufig können Ge-
decanolid) zugunsten von Frauen, der aber nur für schlechtsunterschiede nur einen geringen Anteil
Nichtraucher zu gelten schien (Koelega 1980). In der Gesamtvarianz aufklären. Bei Verwendung
der National Geographic Smell Survey wurde eine einer großen Stichprobe könnten hingegen mög-
synthetische moschusartige Komponente (Galaxo- licherweise Schlussfolgerungen gezogen werden,
lid) getestet. Frauen zeigten bei der Entdeckung die eine kleine Stichprobe nicht zulässt. Außerdem
und Identifikation dieses Geruchs bessere Leistun- sind die Merkmale der männlichen und weiblichen
gen als Männer. Im Vergleich zu Männern bewer- Stichproben manchmal nicht klar genug definiert.
teten sie den Geruch außerdem als angenehmer Das zweite Problem ist, dass häufig keine stan-
und seine Intensität als höher (Wysocki u. Gilbert dardisierten Tests verwendet werden und dass
1989). Später zeigten Baydar et al. (1993), dass man der Validität und Reliabilität der verwen-
mehr Frauen als Männer eine gleichzeitige Anos- deten Tests keine Aufmerksamkeit schenkt. Da-
mie für Galaxolid und Androstenon aufwiesen. Sie her können die Forscher nur sehr bedingt davon
folgerten daraus, dass es eine geschlechtsspezifisch ausgehen, dass die Resultate olfaktorischer Tests
modulierte Verbindung zwischen den Fähigkeiten tatsächlich die Funktionen messen, die damit ge-
zur Wahrnehmung von Androstenon und Galaxo- messen werden sollen – dies betrifft insbesondere
lid gibt. kognitive olfaktorische Aufgaben. Darüber hinaus
Der Körpergeruch spielt wahrscheinlich eine gilt, dass im Vergleich zu den immens vielen Ge-
Rolle für die interindividuelle Attraktivität. Dies rüchen, die das olfaktorische System diskriminie-
wurde von Rikowski und Grammer (1999) postu- ren kann, bislang nur eine sehr geringe Anzahl
liert, die bei weiblichen Probanden eine positive von Testsubstanzen in der Untersuchung von Ge-
Korrelation zwischen dem Körpergeruch und der schlechtsunterschieden im olfaktorischen System
eingeschätzten Attraktivität männlicher Probanden verwendet wurden. Häufig wurden auch reine,
168 Kapitel 9 · Riechen Frauen anders als Männer?

chemisch gut definierte, monomolekulare Sub- nicht bekannt sind, sollten verschiedene Hypothe-
stanzen verwendet und kaum jemals Alltagsgerü- sen näher betrachtet werden.
che. Hinsichtlich der chemischen Zusammenset-
zung bezieht sich die Frage nach den verwendeten
Substanzen auf 9.3.1 Anatomische Unterschiede
▬ die Zusammensetzung von Geruchssubstanzen
(Verwendung gemischter oder einzelner Gerü- Eine erste mögliche Ursache sensorischer Ge-
che), die bezüglich der trigeminalen Kompo- schlechtsunterschiede liegt in der Anatomie. Un-
nente der olfaktorischen Stimulation eine Rolle terschiede bei olfaktorischen Fähigkeiten könnten
spielen könnte (Doty 1995; Brand 2006), zu der auf anatomische Unterschiede zwischen Männern
es fast keine Untersuchungen zu Geschlechts- und Frauen in der Form der nasalen Luftwege
unterschieden gibt, oder der olfaktorischen neuralen Verbindungen
▬ die Bedeutung der Molekularstruktur, bei- zurückzuführen sein. Nur wenige Untersuchungen
spielsweise der Chiralität (Hildebrand u. She- haben sich bislang mit dieser Frage beschäftigt.
pherd 1997; Laska u. Teubner 1999), und Verschiedene Aspekte wie Atmungswege, Oberflä-
▬ pheromonale Substanzen. che und Gefäßbildung des olfaktorischen Epithels,
anatomische und funktionelle Besonderheiten des
Was Pheromone anbetrifft, geht man davon aus, dass Bulbus olfactorius waren niemals Gegenstand einer
Menschen ein Vomeronasalorgan (VNO) besitzen vergleichenden Analyse der Geschlechter. Die ein-
9 (obwohl dessen Vorhandensein noch nicht systema- zigen dazu veröffentlichten Arbeiten befassen sich
tisch beobachtet wurde). Die funktionale Bedeutung mit den Nasenhöhlen und der Mundhöhle. In vie-
des VNO ist aber noch umstritten. Aufgrund der len Studien wurde vermutet, dass die Unterschiede
räumlichen Nähe dieses Organs zum olfaktorischen im Volumen der Nasenhöhlen für die Unterschiede
Epithel und seiner möglichen Bedeutung für Phy- in olfaktorischen Fähigkeiten verantwortlich sind.
siologie und Verhalten scheinen hier geschlechter- Leopold (1988) zeigte, dass Unterschiede im Be-
vergleichende Studien notwendig zu sein. Bislang reich der mittleren Nasenmuschel am bedeutsams-
wurde nur in der Untersuchung von Monti-Bloch ten sind. Hornung et al. (1999) stellten fest, dass
et al. (1994) die Möglichkeit eines geschlechtlichen eine Vergrößerung des Raumes der Nasenhöhle
Dimorphismus des VNO in Betracht gezogen und um die Riechspalte die olfaktorischen Fähigkeiten
verschiedene spezifische Reaktionen von Männern im Allgemeinen verbessert, sie vermuteten daher,
und Frauen auf die verwendeten Vomeropherine dass möglicherweise anatomische Unterschiede im
aufgezeigt. Eine Herausforderung für die Zukunft Aufbau der Nase zwischen Männern und Frauen
besteht sicherlich darin, herauszufinden, bei wel- bestehen, die zu deren unterschiedlichen olfaktori-
chen Aspekten der olfaktorischen Funktionen Ge- schen Fähigkeiten beitragen. Auch kann die Mund-
schlechtsunterschiede auftreten. Zu diesem Zweck höhle zur olfaktorischen Wahrnehmung beitragen,
müssen Forscher ihre Experimente sorgfältig planen weil Geruchsstoffe das olfaktorische Epithel über
und dabei die Grenzen spezifischer Tests und der die retronasale Route erreichen können.
getesteten Stichproben berücksichtigen. Aus der Untersuchung von Griep et al. (1996)
ergaben sich keine signifikanten Unterschiede in
der Geruchswahrnehmung zwischen Trägern von
9.3 Mögliche Ursachen Teilprothesen und Kontrollpersonen mit natürli-
chem Gebiss oder einer Vollprothese. Es wurde
Signifikante Unterschiede zwischen Männern und allerdings eine Tendenz zu schlechterer Geruchs-
Frauen stellen eine Herausforderung für die psy- wahrnehmung bei Männern mit Teilprothese beo-
chologische und biologische Forschung dar – sie bachtet, speziell bei denen, die eine seltene Mund-
werfen Fragen bezüglich der Ursachen sowie mög- hygiene angaben.
licher funktioneller Konsequenzen auf. Obwohl die Geschlechtsunterschiede im Gehirn sind von
Ursachen der beobachteten Unterschiede bislang vielen Säugetieren bekannt. Gehirnregionen, in
9.3 · Mögliche Ursachen
169 9

denen am häufigsten geschlechtliche Dimorphis- vor 10 Jahren untersucht wurde (Wysocki u. Be-
men auftreten, sind der Hypothalamus und das auchamp 1991). Segal et al. (1995) testeten in
olfaktorische System. Beim Menschen betreffen ihrer Untersuchung die Identifikationsleistung für
einige dieser anatomischen Unterschiede kortikale 40 unterschiedliche Gerüche (aus dem University
Regionen, die mit der Verarbeitung olfaktorischer of Pennsylvania Smell Identification Test) sowie
Information befasst sind (Doty et al. 1997). Die die Wahrnehmungsschwellen für Phenylethylalko-
Großhirnhemisphären weisen geschlechtliche hol bei monozygoten und dizygoten Zwillingen.
Dimorphismen auf (Conklin u. Polemics 1997), Ein genetischer Einfluss auf die Geruchswahrneh-
wobei zerebrale Asymmetrien bei Männern häu- mung wurde für Männer, aber nicht für Frauen,
fig ausgeprägter sind als bei Frauen. Gegenwärtig angenommen. Beim Mann kommen ausbleibende
gibt es allerdings keine Belege für die Hypothese, sexuelle Reifung und Störungen des Geruchssinns
dass anatomische Unterschiede im Zerebrum eine gemeinsam in einer Erbkrankheit, dem sog. Kall-
Rolle für die unterschiedlichen olfaktorischen Leis- mann-Syndrom, vor (Bouloux et al. 1992).
tungen von Männern und Frauen spielen (Brand
1999), dasselbe gilt für das autonome Nervensys-
tem (Brand et al. 1999). Neue Bildgebungstech- 9.3.3 Hormonelle Unterschiede
niken werden zukünftig zweifellos Fortschritte in
diesem Bereich ermöglichen. Die dritte mögliche Ursache sensorischer Ge-
schlechtsunterschiede besteht in hormonellen
Einflüssen. Es ist seit langem bekannt, dass Ge-
9.3.2 Genetische Unterschiede schlechtshormone die olfaktorische Sensibilität
modulieren (Le Magnen 1982; Doty 1986). Ein
Eine zweite mögliche Ursache für sensorische Ge- bekanntes Beispiel sind die messbaren Verände-
schlechtsunterschiede ist die Genetik. Dieser Zu- rungen der Sensibilität von Frauen über ihren
sammenhang wurde am Beispiel der Farbwahr- Menstruationszyklus. Die olfaktorische Leistung
nehmung klar demonstriert. Die verschiedenen erreicht während der Ovulationsphase ihren Hö-
Formen der Farbenblindheit basieren auf rezessi- hepunkt und lässt dann während der Menstruation
ven Genen auf dem X-Chromosom, die nicht für nach (Koelega u. Köster 1974; Doty et al. 1981;
bestimmte visuelle Pigmente kodieren können. In- Velle 1987). Diese Veränderungen treten auch bei
folgedessen tritt Farbenblindheit in den beiden Ge- Frauen auf, die orale Kontrazeptiva einnehmen,
schlechtern mit unterschiedlicher Häufigkeit auf. was die Vermutung nahe legt, dass die Verände-
Beim Menschen gibt es vielfältige Mechanismen, rungen nicht über Steroidkonzentrationen ovari-
mit denen die Gene den Geruchssinn beeinflus- alen Ursprungs, sondern zweifellos durch einen
sen, aber Genaueres dazu ist noch nicht bekannt. infradianen Rhythmus, der vom ZNS bestimmt
Wahrscheinlich resultieren die beobachteten Ge- wird, reguliert werden (Doty et al. 1981, 1982b,
schlechtsunterschiede teilweise aus Unterschie- 1987). Der Einfluss anderer Hormone, speziell der
den im genetischen Programm von Männern und Schilddrüsen- und Nebennierenhormone, wurde
Frauen im Zusammenhang mit der Ausschüttung bei endokrinen Störungen untersucht, bislang al-
von Östrogenen und Androgenen während des lerdings ohne klare Resultate.
Fötalstadiums und nach der Geschlechtsreife. Ge- In anderen Untersuchungen wurden mögliche
netische Aspekte des Geruchssinns wurden haupt- hormonelle Einflüsse auf die Geruchswahrnehmung
sächlich im Zusammenhang mit der molekularen während der Schwangerschaft untersucht. Gilbert
Grundlage olfaktorischer Funktionen untersucht und Wysocki (1991) fanden in einer groß angeleg-
(Buck u. Axel 1991 – Nobelpreis 2004 für Medizin ten Querschnittstudie (National Geographic Smell
und Physiologie). Survey) heterogene Veränderungen in den olfakto-
Die genetische Determinierung von Ge- rischen Fähigkeiten während der Schwangerschaft.
schlechtsunterschieden bei olfaktorischen Fähig- Laska et al. (1996) zeigten in einer Längsschnitt-
keiten ist bis heute ungeklärt, obwohl sie schon studie über den Verlauf der Schwangerschaft und
170 Kapitel 9 · Riechen Frauen anders als Männer?

unter Verwendung einer großen Bandbreite von Geschlechtsunterschieden konzentrieren sich auf
Gerüchen, dass die geringen Veränderungen von ontogenetische bzw. phylogenetische Aspekte.
einem Schwangerschaftstrimester zum nächsten Von einem ontogenetischen Standpunkt be-
nicht mit der Entwicklung der Schwangerschaft trachtet ist es denkbar, dass sich die Lernerfah-
zusammenzuhängen schienen. rungen der beiden Geschlechter unterscheiden.
Zykluslängen von 29,5±3 Tagen werden als Diese Hypothese geht davon aus, dass Frauen im
normal für den Menstruationszyklus angese- Allgemeinen häufiger mit olfaktorischen Reizen
hen. Diese Zykluslängen findet man häufiger bei umgehen, so dass sie einfach mehr Erfahrung mit
Frauen, die wöchentlich Geschlechtsverkehr haben diesen Stimuli haben könnten. Die Hypothese steht
als bei Frauen, für die das nicht zutrifft. In der allerdings zum Teil in Widerspruch zu Untersu-
Untersuchung von Cutler et al. (1986) wurden chungsergebnissen über olfaktorische Fähigkeiten
die Zykluslängen von kinderlosen Frauen nach von Kindern. Laut Doty (1991b) kann man Ge-
regelmäßiger olfaktorischer Gabe von männlichem schlechtsunterschiede bei olfaktorischen Fähigkei-
Axillarextrakt über mehrere Wochen gemessen. ten bereits in den ersten Tagen nach der Geburt
Im Vergleich zu Kontrollgruppen, die nur Ethanol (Balogh u. Porter 1986; Makin u. Porter 1989) und
erhielten, zeigten diese Frauen eine geringere Vari- auch bei 4- bis 5-jährigen Kindern (Verron u. Gau-
abilität ihrer Zykluslänge und seltener Zyklen mit thier 1976; Porter u. Moore 1981; Marlier u. Schall
ungewöhnlicher Länge. 1989) feststellen.
Veränderungen der Sensibilität über den Mens- Außerdem gibt es in diesem Bereich einen
9 truationszyklus und während der Schwangerschaft Aspekt, dem nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet
unterstützen die Annahme, dass Geschlechtshor- wurde, nämlich Suggestionen oder Vorstellungen
mone für die Sollwerteinstellung der olfaktorischen von Gerüchen, die signifikante geschlechtsbezo-
Genauigkeit wichtig sind. Die den hormonellen gene Interaktionen verursachen können (Gilbert et
Einflüssen zugrunde liegenden Mechanismen al. 1997). Diese Hypothese wird durch Bildgebungs-
müssen allerdings noch geklärt werden. studien gestützt. Levy et al. (1999) überprüften per
fMRI die Gehirnaktivierung bei der Vorstellung
von Gerüchen. Bei normalen Probanden war die
9.3.4 Kognitive Unterschiede Aktivierung bei Vorstellung von Gerüchen (Banane
und Pfefferminz) geringer als bei der tatsächlichen
Die Auffassung, dass für bestimmte kognitive Fä- Wahrnehmung dieser Gerüche (Amylacetat und
higkeiten Geschlechtsunterschiede bestehen, war Menthon). Die Aktivierung bei der Vorstellung
bereits weit verbreitet, noch bevor diese empi- von Bananengeruch war bei Männern signifikant
risch dokumentiert wurden (Ellis 1928). Seitdem größer als bei Frauen, dasselbe berichteten die Au-
haben viele Übersichtsarbeiten und Metaanalysen toren zuvor bereits für den tatsächlichen Geruch
Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei von Amylacetat (Levy et al. 1997). Die relativen
bestimmten kognitiven Fähigkeiten aufgezeigt Verhältnisse dieser Reaktionen sahen aber deutlich
( Kap. 6). Insbesondere in verbalen Aufgaben anders aus: das Verhältnis von Aktivierung bei
schneiden Frauen im Allgemeinen besser ab als Vorstellung von Bananengeruch zu Aktivierung
Männer. Die Überlegenheit von Frauen in olfak- bei tatsächlicher Wahrnehmung von Amylacetat
torischen Aufgaben könnte einen kognitiven Vor- war bei Frauen zweimal so hoch wie bei Männern.
teil widerspiegeln, den man auch in den ande- Dies könnte bedeuten, dass einige olfaktorische
ren Sinnessystemen findet. Zur Überprüfung der Stimuli für Frauen größere Bedeutung haben als
Hypothese eines kausalen Zusammenhangs zwi- für Männer. Diese Resultate sind konsistent mit
schen Geschlechtsunterschieden in olfaktorischen der Hypothese von Henkin (1997), dass Frauen mit
und kognitiven Fähigkeiten sind jedoch weitere einigen olfaktorischen Stimuli möglicherweise effi-
empirische Forschungsarbeiten nötig. Die beiden zienter umgehen können als Männer, und könnten
wichtigsten Hypothesen zu olfaktorischen Ge- zum Teil mit Geschlechtsunterschieden im kogni-
schlechtsunterschieden als Folge von kognitiven tiven Stil zusammenhängen.
Literatur
171 9

Es ist verführerisch, aus phylogenetischer Fazit


Perspektive über eine mögliche Erklärung von Ein Überblick über die Literatur zu Ge-
Geschlechtsunterschieden bei olfaktorischen Fä- schlechtsunterschieden im menschlichen
higkeiten zu spekulieren. Trotz der Tatsache, dass Geruchssinn zeigt, dass trotz der vielen Wi-
fast alle Lebewesen im Tierreich über Geruchssinn dersprüche, die teilweise auf methodische
verfügen und dass dieser in einem phylogene- Probleme zurückzuführen sind, dennoch in
tisch früh entwickelten Teil des Gehirns lokalisiert einigen Bereichen Übereinstimmung herrscht.
ist, wissen wir sehr wenig über Geschlechtsun- Erstens sind die beobachtbaren Unterschiede
terschiede bei der Geruchsverarbeitung und die in anatomischer und physiologischer Hinsicht
zugrunde liegenden evolutionären Mechanismen. minimal. Zweitens finden sich kaum Ge-
Eine solche Hypothese nimmt aus einer sehr lang- schlechtsunterschiede hinsichtlich der Sensi-
fristigen evolutionären Perspektive heraus an, dass bilität der Wahrnehmung, wobei die Resultate
sich die Arbeitsteilung der Geschlechter sehr früh in Abhängigkeit vom getesteten Geruch vari-
entwickelt hat. Frauen waren dabei wahrschein- ieren und Androstenon eine Ausnahme bildet.
lich hauptsächlich für die Betreuung des Nach- Diese Geschlechtsunterschiede scheinen sich
wuchses verantwortlich und leisteten einen Beitrag mit zunehmendem Alter zu verstärken. Unter-
zur Nahrungsversorgung durch das Sammeln von suchungen zu kognitiven olfaktorischen Auf-
Nahrung, hauptsächlich von Pflanzen, wobei sie gaben (Identifikation, Erkennung, Gedächtnis)
giftige und nichtgiftige, potenziell nahrhafte Pflan- berichten übereinstimmend über signifikante
zen identifizieren und diskriminieren mussten. Die Überlegenheit der Frauen. Drittens scheint
starken Veränderungen der sozialen Bedingungen die Überlegenheit von Frauen bei Aufgaben,
in der jüngsten Phase der Evolution haben sich auf in denen überschwellige Konzentrationen
den Geruchssinn nicht ausgewirkt. Auf die Frage getestet wurden, unabhängig von kulturellen
der Bedeutung von Geschlechtsunterschieden im Faktoren zu sein.
Geruchssinn beim modernen Menschen gibt es Die genauen Ursachen dieser Geschlechtsun-
bisher noch keine Antwort. terschiede bei olfaktorischen Fähigkeiten sind
noch nicht geklärt, sie sind wahrscheinlich
multifaktoriell bedingt. In diesem Bereich ist
9.3.5 Umweltunterschiede ein endgültiger und schlüssiger Beleg für eine
Hypothese nur schwer zu finden, daher sind
Möglicherweise existieren auch umweltbedingte weitere Untersuchungen erforderlich, um den
Geschlechtsunterschiede. Insbesondere könnten Geschlechtseffekt beim menschlichen Ge-
Männer stärker als Frauen den Einwirkungen be- ruchssinn besser zu verstehen. Aktuelle Fort-
stimmter Substanzen wie Schadstoffen und Che- schritte in so unterschiedlichen Bereichen wie
mikalien, hauptsächlich in der Arbeitsumgebung, Genetik und Bildgebung des Gehirns könnten
ausgesetzt sein, die sich wiederum auf Leistungen zu einem besseren Verständnis der beteiligten
des Geruchssinnes auswirken könnten (Corwin et Prozesse beitragen.
al. 1995). Auch Raucher zeigen schlechtere Leis-
tungen bei Aufgaben zu Wahrnehmungsschwellen
als Nichtraucher (Berglund u. Nordin 1992), wobei Literatur
die Menge des Zigarettenkonsums Auswirkungen
auf die Leistungen des Geruchssinnes hat (Frye Annett JM (1996) Olfactory memory: a case study in cognitive
et al. 1990). Allerdings gab es keine Unterschiede psychology. J Psychol 130:309–319
bezüglich der wahrgenommenen Intensität (Berg- Balogh RD, Porter RH (1986) Olfactory preferences resulting
lund u. Nordin 1992). Geschlechtsunterschiede from more exposure in human neonates. Infant Behav
Develop 9:395–401
beim Geruchssinn könnten auch auf Unterschie- Barber, CE (1997) Olfactory acuity as a function of age and
den im Zigarettenkonsum der Geschlechter be- gender: a comparison of African and American samples.
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10

Schlaf und Traum

10.1 Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich? – 176


Hartmut Schulz, Stephany Fulda

10.1.1 Zirkadianer Schlaf-Wach-Rhythmus – 176


10.1.2 Die Schlafdauer in Bevölkerungsstudien – 178
10.1.3 Geschlechtsunterschiede im gemessenen Schlaf gesunder Personen – 178
10.1.4 Schlafstörungen – 180
10.1.5 Geschlechtsspezifische Reaktionen im Schlafverhalten auf Stressoren – 184
10.1.6 Frauenspezifische Einflussfaktoren auf den Schlaf – 184
Literatur – 187

10.2 Traumerleben bei Männern und Frauen – 190


Michael Schredl

10.2.1 Einführung – 190


10.2.2 Traumerinnerung – 190
10.2.3 Trauminhalt – 192
Literatur – 196
176 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

10.1 Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?

Hartmut Schulz, Stephany Fulda

> Die psychosexuelle Determination des zentralen Nervensystems wird pri-


mär durch genetische Faktoren und das endokrine Milieu bestimmt (Money
u. Ehrhardt 1972) und sekundär durch die Ausbildung und Übernahme der
Geschlechterrolle (Eibl-Eibesfeldt 1984). Es kann davon ausgegangen werde,
dass diese Differenzierung nicht nur das Verhalten im Wachen, sondern auch
das Schlafverhalten und den zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus beeinflusst.
In diesem Kapitel soll ein Überblick über geschlechtsspezifische Differenzen
des Schlafverhaltens gegeben und versucht werden, den Anteil biologischer,
psychischer und sozialer Verursachungen für geschlechtsspezifische Variation
im Schlafverhalten aufzuklären, soweit das bei der beschränkten Datenlage
möglich ist. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass die Größe der indi-
viduellen Differenzen zwischen Männern und Frauen geringer ist als die Größe
der intraindividuellen Veränderungen über die Lebensspanne hinweg.

10

10.1.1 Zirkadianer Schlaf-Wach-Rhythmus mung damit zeigten ältere Frauen im Vergleich zu


Männern unter normalen häuslichen Lebensbe-
Der zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmus ist durch dingungen eine Vorverlagerung des zirkadianen
die regelhafte Abfolge einer langen Schlaf- und Temperaturrhythmus um 1,25 Stunden (Campbell
einer langen Wachphase innerhalb von 24 Stunden et al. 1989). Unter den experimentellen Bedin-
gekennzeichnet. Der Schlaf-Wach-Zyklus steht in gungen einer konstanten Routine (constant rou-
enger Beziehung mit metabolischen Veränderun- tine – liegende Körperposition während 24 Stun-
gen und als deren Ausdruck mit dem zirkadia- den bei gleichmäßiger schwacher Beleuchtung),
nen Rhythmus der Körperkerntemperatur. Ein die in der Chronobiologie angewendet wird, um
weiterer Marker für die zirkadiane Phasenlage ist maskierende Verhaltenseffekte zu kontrollieren,
die Sekretion von Melatonin aus dem Pinealor- wurde dieser Unterschied in der Phasenlage bei
gan mit einem Maximum in der Dunkelphase, notwendigerweise kleiner Fallzahl allerdings nicht
die beim Menschen üblicherweise der Schlafphase gefunden, hingegen eine größere Amplitude des
entspricht. Temperaturrhythmus bei älteren Frauen (Czeisler
Unter frei wählbaren Bedingungen und bei et al. 1992; Monk et al. 1995). Höhere Ampli-
Ausschluss von äußeren Zeitgebern sind die tuden der Temperaturkurven bei Frauen fanden
selbst gewählten Schlafzeiten von Frauen länger auch Moe et al. (1991) sowie Campbell et al.
als die von Männern. Außerdem ist die Peri- (1989) unter Bedingungen mit Zeitgebern (entrai-
ode des freilaufenden zirkadianen Rhythmus der ned condition). Entsprechende Daten für jüngere
Körpertemperatur bei Frauen signifikant kürzer Frauen fehlen vor allem wegen der systematischen
(Wever 1979). Einer kurzen Periode des zirkadi- Veränderungen der Körpertemperatur im Menst-
anen Rhythmus unter zeitgeberfreien Bedingun- ruationszyklus.
gen entspricht im normalen 24-Stunden-Tag eine In guter Übereinstimmung mit den genann-
Vorverlagerung der Schlafphase.-In Übereinstim- ten Daten zur Phasenlage der Körpertemperatur
10.1 · Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?
177 10

bei Frauen lagen in einer aktimetrischen Untersu- lichen. Hier lag die Phase des Melatoninrhythmus
chung mit 400 Erwachsenen, davon 53% Frauen, bei Mädchen früher als bei Jungen, obwohl sich die
im Altersbereich von 20–70 Jahren, bei Frauen zeitliche Position des Schlafes nicht unterschied.
auch die Bettzeiten früher als bei Männern (Rey- Schließlich fand Griefahn (2002) in der Studie mit
ner u. Horne 1995). Roenneberg (2004) bestätigte konstanter Routine deutliche Unterschiede in der
die frühere Phasenlage von Frauen anhand ei- Phase der zirkadianen Rhythmen der Körperkern-
ner großen Datenbasis von 25.000 Personen, die temperatur und der Melatoninsekretion bei Män-
den Münchner Fragebogen zur Typisierung des nern und Frauen mit dem gleichen Chronotyp. So
Chronotyps (Munich Chrono Type Questionnaire, lagen die Phasen für die Körpertemperatur und das
MCTQ) ausgefüllt hatten. Während Knaben und Melatonin bei weiblichen Morgentypen deutlich
Mädchen im Alter von 10 Jahren eine frühe Pha- früher als bei männlichen Morgentypen. Entspre-
senlage ihres Schlafes haben, verlagert sich die chendes galt auch für männliche und weibliche
Phase während der Pubertät auf eine spätere Zeit. Abendtypen.
Diese Entwicklung hin zu einer späteren Phasen- Zusammenfassend ergeben sich aus den chro-
lage verläuft jedoch bei weiblichen und männli- nobiologischen Untersuchungen Hinweise auf eine
chen Jugendlichen unterschiedlich. Junge Frauen längere Bettruhe sowie eine frühere Phasenlage
erreichen im Mittel mit 19,5 Jahren den Gipfel der Frauen. Diese Geschlechtsunterschiede schei-
dieser Verschiebung hin zu späteren Schlafzeiten. nen jedoch altersabhängig zu sein, wobei sich der
Bei männlichen Jugendlichen hingegen dauert die Unterschied in der Phasenlage der Schlafzeit zwi-
Verschiebung länger und erreicht erst mit 20,9 Jah- schen Frauen und Männern mit zunehmendem
ren ihr Maximum. Alter nivelliert.
Nach Erreichen des geschlechtsspezifischen
Maximums beginnt bei Frauen und Männern eine
langsame, über mehrere Dekaden andauernde Ent-
wicklung wieder in Richtung früherer Schlafzei-
Spät
ten. Die Verlaufskurven für Frauen und Männern
differieren in der 2. Lebensdekade deutlich, und
5 M
nähern sich mit zunehmendem Lebensalter wieder
Chronotyp (MSFSC)

an, so dass ab der 5. Lebensdekade im Chronotyp


zwischen Männern und Frauen kein Unterschied
mehr zu erkennen ist (⊡ Abb. 10.1). Die Autoren der
F
4
Untersuchung schlagen vor, den markanten Um-
schlagpunkt von der Phasenrückverlagerung zur
Phasenvorverlagerung als Endpunkt der Pubertät
und als Beginn des Erwachsenenalters anzusehen 3
und interpretieren damit Geschlechtsunterschiede p<0.001
Früh
im Chronotyp als Folge eines unterschiedlichen
biologischen Altersverlaufs. 10 20 30 40 50 60
Die Komplexität der Geschlechtsunterschiede Alter (Jahre)
bei zirkadianen Rhythmen zeigt sich auch in der
⊡ Abb. 10.1. Die altersabhängige Veränderung des Chrono-
unterschiedlichen Koordinierung der Phase ver- typs verläuft bei Männern und Frauen unterschiedlich. Grau
schiedener Rhythmen bei Frauen und Männern. So unterlegte Bereiche zeigen signifikante Geschlechtsunter-
fanden Campbell et al. (1989) ein frühes Minimum schiede an. Der Chronotyp bestimmt die individuell präfe-
der Körperkerntemperatur bei älteren Frauen im rierte Phasenlage für Zubettgehen und Aufstehen (Morgen-
versus Abendtyp) sowie weitere Merkmale wie die Tageszeit
Vergleich zu älteren Männern, ohne dass sich je-
des subjektiven Leistungsmaximums. Zur Bestimmung des
doch die Phase des Schlafes zwischen den beiden Chronotyps wurden verschiedene Fragebögen entwickelt, die
Gruppen unterschied. Ähnliches beobachteten teils über das Internet abgerufen werden können. (Aus Roen-
Carskadon et al. (1998) in einer Studie mit Jugend- neberg et al. 2004)
178 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

10.1.2 Die Schlafdauer in Bevölkerungs- Ähnlich wie bei Männern besteht auch bei
studien Frauen eine Beziehung zwischen der selbst berich-
teten mittleren Schlafdauer und der Mortalität. In
In drei großen deutschen Studien (3755 Studien- beiden Geschlechtern ist das Mortalitätsrisiko bei
teilnehmer der SHIP, 27.301 Teilnehmer der EPIC- einer Schlafdauer von sieben Stunden am gerings-
Potsdam Studie und 1312 Teilnehmer der Dort- ten und erhöhte sich sowohl bei kürzeren als auch
munder Gesundheitsstudie), die den Altersbereich bei längeren Schlafdauern (⊡ Tab. 10.2; Patel et al.
von 25–74 Jahren abdeckten, wurde kein Einfluss 2004). Diese Daten sprechen nicht für die An-
von Geschlecht oder Alter auf die mittlere nächtli- nahme eines erhöhten Schlafbedarfs bei Frauen.
che Schlafdauer beobachtet (http://www.egms.de/
en/meetings/gmds2005/05gmds093.shtml). Diese
Ergebnisse stimmen mit den Daten einer repräsen- 10.1.3 Geschlechtsunterschiede
tativen Umfrage zu den Schlafgewohnheiten der im gemessenen Schlaf gesunder
deutschen Bevölkerung überein (Meier 2004). In Personen
dieser Umfrage bei 1000 Männern und Frauen ab
14 Jahre ergab sich eine vergleichbare Verteilung der In einer Metaanalyse über 65 Studien mit insgesamt
Schlafzeiten von Männern und Frauen (⊡ Tab. 10.1). 3577 Personen im Alter von 5–102 Jahre fassten
Allenfalls in der Gruppe derer, die an Wochentagen Ohayon et al. (2004) die Ergebnisse von objektiven
länger als acht Stunden schlafen, überwiegt der An- Schlafmessungen mittels Polysomnographie oder
teil der Frauen. An Wochenendtagen sind es dann Aktimetrie zusammen. In 17 dieser Studien mit 539
sowohl ein Viertel der Frauen als auch der Männer, Frauen und 506 Männern wurden Geschlechtsun-
10 die länger als acht Stunden schlafen. terschiede in den Schlafparametern geprüft. Auf
Auch mit dem Alter ändert sich die mittlere dem Hintergrund einer monoton abnehmenden
Schlafdauer nur wenig, allerdings nimmt die Streu- Schlafdauer und Schlafeffizienz (Schlafzeit/Bett-
breite der Schlafzeiten im höheren Alter deutlich zeit × 100) mit zunehmendem Lebensalter in der
zu. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse frühe- Gesamtgruppe waren die altersabhängigen Verän-
rer Studien zu altersabhängigen Veränderungen derungen der Schlafdauer und -effizienz bei Frau-
der Schlafdauer findet sich bei Spiegel (1981).
Am anderen Ende des Altersspektrums, näm-
lich in der Zeitspanne von der Geburt bis zum ⊡ Tab. 10.2. Relatives Mortalitätsrisiko bei
16. Lebensjahr, zeigte eine Züricher Longitudinal- unterschiedlichen Schlafdauern (Patel et al. 2004)
studie ebenfalls keine Geschlechtsunterschiede. In
Schlafdauer Relatives 95%-Konfidenz-
dieser Studie wurde das Schlafverhalten von 493
Risiko intervall
Teilnehmern, deren Schlafverhalten schon in den
ersten beiden Lebensjahren 7-mal erfasst wurde, 5 h oder weniger 1,15 1,02–1,29
anschließend bis zum 16. Lebensjahr in einjähri- 6h 1,01 0,94–1,08
gen Abständen untersucht (Iglowstein et al. 2003).
In Übereinstimmung mit früheren Untersuchun- 7 h (Referenzgruppe) 1,00 –

gen bei Kindern fand sich auch in der Züricher 8h 1,12 1,05–1,20
Langzeitstudie kein systematischer Effekt des Ge-
9 h oder länger 1,42 1,27–1,58
schlechts auf die Schlafdauer.

⊡ Tab. 10.1. Verteilung der Schlafdauern bei Männern und Frauen (N=1000) an Wochentagen. (Meier 2004)

Schlafdauer <5 h 5–6 h 6–7 h 7–8 h >8 h


Männer 1,4% 16,3% 39,5% 31,4% 11,4%
Frauen 2,5% 16,5% 31,5% 31,9% 17,6%
10.1 · Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?
179 10

en stärker ausgeprägt als bei Männern. Auch die bély u. Achermann 1992). Ein Grund für die un-
alterskorrelierte Zunahme des Leichtschlafs (Sta- einheitlichen Ergebnisse könnte die Unterteilung
dium 1) und die Abnahme der REM-Latenz waren des SWS in die Schlafstadien 3 (mit einem Anteil
bei Frauen ausgeprägter. Unabhängig vom Alter von 20–50% hochamplitudiger Deltawellen) und
war die Gesamtschlafzeit bei Frauen im Vergleich Stadium 4 (mit mehr als 50% hochamplitudiger
zu Männern länger (Effektstärke, ES 0,26) während Deltawellen) bei der visuellen Schlafauswertung
sich für die Schlafeffizienz kein Unterschied ergab. sein. In der schon erwähnten Untersuchung von
In der Schlafstruktur zeigten sich Geschlechtsun- Gaillard (1990) ergab sich eine signifikante Wech-
terschiede mit längeren Einschlafzeiten (ES 0,35) selwirkung derart, dass Frauen im Mittel zwar we-
aber weniger Wachzeiten nach dem Einschlafen niger Stadium 3 aufwiesen als Männer (32 Minu-
(ES 0,38) bei Frauen. Bei den Schlafstadien unter- ten versus 40 Minuten), dafür aber mehr Stadium
schieden sich Frauen und Männern nicht im pro- 4 (81 Minuten versus 66 Minuten).
zentualen Anteil von Stadium 1, während Frauen Die Ergebnisse einiger Studien deuten darauf
weniger Stadium 2 (ES 0,43), aber mehr Tiefschlaf hin, dass die alterskorrelierte Abnahme der Del-
(Stadien 3 und 4) aufwiesen (ES 0,49) und auch taaktivität bei Frauen und Männern unterschied-
etwas mehr REM-Schlaf (ES 0,16). lich verläuft. Ehlers und Kupfer (1987) fanden bei
Auch wenn man neuere schlafpolygraphische Männern und Frauen im Alter von 20–30 Jahre
Untersuchungen an gesunden Frauen und Männern vergleichbare Werte für SWS (% S3 und S4). In
in die Betrachtung mit einbezieht, bleibt das Bild den nachfolgenden Dekaden von 30 und 40 Jahren
uneinheitlich. Während Voderholzer et al. (2003) kam es dann bei Männern, nicht aber bei Frauen,
bei Gesunden keine signifikanten Geschlechtsun- zu einer Abnahme von SWS. Die Abnahme von
terschiede in schlafpolygraphischen Daten fanden, SWS auf das typisch niedrige Niveau des alten
hatten Frauen in einer Untersuchung von Goel Menschen fand bei Frauen später statt.
et al. (2005) kürzere Schlaflatenzen und längere Als reliable Alternative zur visuellen Auswer-
Schlafzeiten. Hingegen gab es zwischen Männern tung wurden in mehreren Studien auch comput-
und Frauen keine Unterschiede in den Anteilen der ergestützte Algorithmen zur Erkennung von Del-
Schlafstadien am Gesamtschlaf. Die unterschiedli- taaktivität im Schlaf-EEG eingesetzt. Tatsächlich
chen Ergebnisse der beiden letztgenannten Studien zeigen Untersuchungen mit automatischer Analyse
können u. a. auch durch die unterschiedliche Al- übereinstimmend einen Geschlechtsunterschied
tersverteilung der Probanden bedingt sein. Wäh- mit höheren Amplituden oder höherer Power im
rend Goel et al. junge gesunde Schläfer im Alters- Deltafrequenzbereich bei Frauen als bei Männern
bereich von 18–30 Jahre untersuchten, waren die (Armitage 1995). Mourtazaev et al. (1995) fanden
Personen in der Untersuchung von Voderholzer et bei Frauen um 40% höhere Amplituden im Del-
al. im Schnitt doppelt so alt, und der Altersbereich tafrequenzbereich (0,5–2,0 Hz) als bei Männern.
war wesentlich breiter (19–79 Jahre). Da Schlaf- ⊡ Abb. 10.2 zeigt den Anteil von Deltaaktivität in
parameter alterssensitiv sind, kann der fehlende den ersten vier Schlafzyklen bei Frauen und Män-
Gruppenunterschied bei Vorderholzer et al. zu- nern (Latta et al. 2005).
mindest teilweise durch die Altersheterogenität der Die möglichen Ursachen für die unterschied-
untersuchten Gruppen bedingt sein. liche Deltapower bei Frauen und Männern wird
Besondere Aufmerksamkeit erfuhr der ge- derzeit kontrovers diskutiert. Der Geschlechtsun-
schlechtsspezifische Unterschied im Anteil des terschied gilt für die absolute, nicht aber für die
Tiefschlafes (Schlafstadien 3 und 4 oder slow wave relative Deltapower. Darüber hinaus haben Kemp
sleep, SWS), der in vielen, wenn auch nicht al- et al. (2000) ein alternatives Analyseverfahren für
len Studien gefunden wurde (Ohayon et al. 2004; die Analyse der Deltaaktivität entwickelt, die sog.
Voderholzer et al. 2003; Goel et al. 2005), da der slow-wave microcontinuity, das nach Meinung der
Anteil langsamwelliger Delta-Aktivität EEG (Fre- Autoren eine Unterscheidung zwischen schlafspe-
quenz 0,5–2,0 Hz; Amplitude ≥75 μV ) als Aus- zifischen und anderen physiologischen oder ana-
druck von Schlafintensität interpretiert wird (Bor- tomischen Effekten erlaubt. Sie schließen aus ihren
180 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

Männer Frauen
Absolute Delta-Aktivität
500

400

300

200

100

0
NREM REM NREM REM NREM REM NREM REM NREM REM NREM REM NREM REM NREM REM

1 2 3 4 1 2 3 4
Zyklus

⊡ Abb. 10.2. Mittelwertprofil (±SEM) der Deltaaktivität (μV2) im Schlaf-EEG der ersten vier Schlafzyklen der Nacht bei älteren
Männern (links) und Frauen (rechts). (Aus Latta et al. 2005)

Ergebnissen, dass es sich bei dem geschlechts- denen Schlafstörungen nach ihren geschlechtsspe-
spezifischen Unterschied der Deltaaktivität im zifischen Prävalenzen gruppiert.
Schlaf-EEG um einen nicht-schlafspezifischen
10 Effekt handelt, der durch andere physiologische
Insomnie
oder auch anatomische Unterschiede, wie z. B. die
unterschiedliche Kalottendicke bei Männern und Eine Metaanalyse zu Geschlechterdifferenzen in
Frauen, bedingt sein könnte. der Prävalenz der Insomnie, die über 29 Studien
Zusammenfassend ergeben die polysomno- und mehr als eine Million Teilnehmer berechnet
graphischen Untersuchungen Hinweise auf Ge- wurde, ergab ein relatives Risiko (risk ratio) von
schlechtsunterschiede, die allerdings in der Ten- 1,41 (1,28–1,55), d. h. die Wahrscheinlichkeit an
denz nicht einheitlich sind. Frauen haben längere einer Insomnie zu erkranken ist bei Frauen etwa
Schlafzeiten, weniger Wachzeiten im Schlaf, höhere 1,5-mal so hoch als bei Männern (Zhang u. Wing
Anteile an SWS sowie eine höhere Power im Delta- 2006). Wie die Daten zur Insomnie in ⊡ Tab. 10.3
Frequenzbereich. Dies könnte auf einen »besseren« zeigen, können die Prävalenzzahlen zwischen den
Schlaf bei Frauen hinweisen, jedoch bei einer ver- einzelnen Studien in Abhängigkeit von der Defi-
längerten Schlaflatenz. Die alterskorrelierte Ab- nition der Insomnie und den verwendeten Befra-
nahme der Schlafdauer und der Schlafeffizienz bei gungsinstrumenten deutlich variieren. Das relative
Frauen jedoch stärker ausgeprägt als bei Männern. Risiko von Frauen, an Insomnie zu leiden, war
Damit ergibt sich insgesamt ein noch uneinheit- jedoch in allen Studien um einen ähnlichen Betrag
liches Bild für den normalen Schlaf. Im Folgen- erhöht. Die höhere Insomnieprävalenz von Frauen
den sollen geschlechtsspezifische Unterschiede bei gilt sowohl für die akute Insomnie (Anpassungsin-
Schlafstörungen behandelt werden. somnie) als auch für die chronische psychophysi-
ologische Insomnie (American Academy of Sleep
Medicine 2005). Die von Voderholzer et al. (2003)
10.1.4 Schlafstörungen geäußerte Vermutung, dass die höhere Prävalenz
der Insomnie bei Frauen Folge einer höheren Rate
Populationsstudien zeigen Unterschiede in der von Depressionen und Angsterkrankungen sei,
Prävalenz von Schlafstörungen bei Frauen und wurde von anderen Autoren mit dem Argument
Männern (Krishnan u. Collop 2006) (⊡ Tab. 10.3). bezweifelt, dass diese Erkrankungen in der Ge-
In den folgenden Abschnitten werden die verschie- samtbevölkerung zu selten seien, um die hohe
10.1 · Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?
181 10

⊡ Tab. 10.3. Prävalenz von Schlafstörungen bei Frauen und Männern

Studie Land Anzahl Alter Prävalenz (%)


(Jahre)
Frauen Männer
1
Insomnie

Mellinger et al. 1985 USA 20 14

Wittchen et al. 2001 Deutschland 19.155 16–80+ 29,7 21,8

Weyerer u. Dilling 1991 Deutschland 1539 50–70+ 34,3 21,4

Ohayon u. Roth 2001 Europa 24.600 15–80+ 13,5 8,5

Meier 2004 Deutschland 1000 ≥14 24,1 13,0

Restless-leg-Syndrom2

Allen et al. 2005 Europa, USA 15.391 >18 6,2 2,8

Berger et al. 2004 Deutschland 4107 20–79 13,4 7,6

Bjorvatn et al. 2005 Norwegen, Dänemark 2005 >18 13,4 9,4

Ohayon u. Roth 200 Europa 18.980 15–100 7,1 3,6

Tison et al. 2005 Frankreich 10.263 18–80+ 10,8 5,8

Schlafbezogene Atmungsstörungen3

Young et al. 1993 USA 626 30–60 4 9

Bixler et al. 1998, 2001 USA 1741 20–99 2 7

Durán et al. 2001 Spain 400 30–70 7 14


1
Übersicht bei Ohayon 2002, Metaanalyse bei Zhang u. Wing 2006
2
Übersicht bei Zucconi u. Ferini-Strambi 2004
3
Übersicht bei Jordan u. McEvoy 2003; Young et al. 2002; Diagnosekriterium AHI ≥15

Prävalenz für Insomnie bei Frauen ausreichend zu die Art der Berufsarbeit, das Einkommen und den
erklären. Familienstatus kontrollieren.
Das höhere relative Risiko von Frauen für In-
somnie kontrastiert mit dem Befund schlafpoly-
graphischer Untersuchungen, die eine vergleichbare Restless-leg-Syndrom (RLS)
Schlafqualität bei Männern und Frauen fanden. Auch beim RLS ist das relative Risiko für Frauen mit
Beim derzeitigen Kenntnisstand muss offen bleiben, etwa 1,5–2,0 höher als für Männer, bei Prävalenzan-
ob die höhere Prävalenz für Insomnie bei Frauen gaben von 6–13% für Frauen und 3–9% für Männer
▬ aus den weiter oben beschriebenen Unterschie- (⊡ Tab. 10.3). Gehäuft tritt RLS während der Schwan-
den in der physiologischen Schlafstruktur, gerschaft auf. Da dies vor allem für Frauen mit einer
▬ aus anderen physiologischen Unterschieden positiven Familienanamnese gilt, ist die Schwanger-
oder schaft eher als Auslöser denn als Ursache der Symp-
▬ aus unterschiedlichen sozialen Rollen und Auf- tomatik anzusehen (Montplaisir et al. 2005).
gaben resultiert.

Um letztere Frage zu klären, müssten weit mehr als Schlafbezogene Atmungsstörungen


in bisherigen Studien Modelle entwickelt werden, Eine Schlafstörung mit deutlich höherer Präva-
die Faktoren wie beispielsweise den sozialen Status, lenz bei Männern ist das obstruktive Schlafapnoe-
182 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

Syndrom (OSAS) (⊡ Tab. 10.3). In einer umfassen- das Niveau der Männer. In einer großangelegten
den US-amerikanischen Studie von Personen im griechischen Schlaflaborstudie bei 1010 Patienten
mittleren Lebensalter fand sich eine symptoma- mit OSAS, davon 844 Männer und 166 Frauen,
tische Schlafapnoe bei 4% der Männer und 2% unterschieden sich die Gruppen zwar nicht im
der Frauen (Young et al. 1993). Zudem zeigen Körpergewicht (BMI 31,6±5,5 bei Männern und
Männer einen früheren Beginn der Erkrankung. 32,5±8,1 bei Frauen); die weiblichen Patienten wa-
Bei Frauen steigt die Erkrankungsrate erst nach ren jedoch mit 56,9±10,6 Jahren signifikant älter
der Menopause an, erreicht aber auch dann nicht als männliche Patienten mit 50,6±11,7 Jahren. Der

⊡ Tab. 10.4. Mechanismen, die zu geschlechtsspezifischen Unterschieden beim Auftreten von OSAS beitragen

Parameter Männer Frauen


Fett und sein Verteilungsmuster
Body Mass Index (Körpermasse, BMI) ++ +++
Fettverteilung im Oberkörper +++ +
Nackenumfang ++ +
Fettgehalt des Nackens + +
Weiches Gewebe des Nackens ++ +
Volumen des weichen Gaumens ++ +
10 Volumen der Zunge ++ +
Obere Atemwege, Anatomie und Funktion
Pharynxgröße ++ +
Kollapsneigung der oberen Atemwege ++ +
Widerstand der oberen Atemwege im Wachen ++ +
Widerstand der oberen Atemwege im Schlaf + +
Muskelaktivität der oberen Atemwege im Wachen + +
Kontrolle der Ventilation
Nachentladung des Genioglossus und des Diaphragmas + +
Hyperkapnischer Ventilationsantrieb – im Wachen ++ +
Zentraler Antrieb der oberen Atemwegsmuskulatur + +
Apnoe-Schwelle im NREM-Schlaf + ++
Erhöhter zentraler Atemantrieb (erhöhte Chemosensitivität) + ++
Hormonstatus
Gesteigerte Ventilation durch Progesteron + +++
Aktivität der oberen Atemwegsmuskulatur durch Progesteron + +++
Pharynxkollapsibilität durch Testosteron +++ +
Leptinniveau ++ +++

Für die Zitate der Untersuchungen, auf denen die beschriebenen Geschlechtsunterschiede basieren, verweisen wir auf die Arbeit
von Kapsimalis und Kryger (2002). Viele Untersuchungen, die in die Tabelle eingingen, wurden bei Gesunden durchgeführt. Die
Anzahl der Pluszeichen ist ein qualitativer Index für den Vergleich von Männern und Frauen. So ist z. B. ist der Nackenumfang bei
Männern mit OSAS größer als bei Frauen. Bei einigen Mechanismen stimmten die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen
nicht überein.
10.1 · Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?
183 10

Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) als Indikator der einem mehrdimensionalen Fragebogen (Checklist


Schwere der schlafbezogenen Atmungsstörung war Individual Strength, CIS), ein häufiges Problem,
bei Männern mit 42,4±28,2 kritischen Atemereig- wobei in dieser Studie Mädchen mit 20,5% häufiger
nissen pro Stunde höher als bei Frauen die einen betroffen waren als Jungen mit 6,5% (⊡ Abb. 10.3;
mittleren AHI von 32,6±28,7 aufwiesen. Schließ- ter Wolbeek et al. 2006). Dieses Ergebnis stimmt
lich war der Schlaf der weiblichen Patienten in ver- mit der Aussage einer Übersichtsarbeit überein,
schiedenen Aspekten (Einschlafdauer, Schlafeffizi- deren Autoren ebenfalls einen höheren Anteil von
enz und Wachzeit nach dem Einschlafen) stärker Tagesschläfrigkeit bei Mädchen im Schulalter und
gestört als der der männlichen Patienten (Vagiakis Frauen im jungen Erwachsenenalter angaben, je-
et al. 2006). doch keine klaren Geschlechtsunterschiede in der
Auch das relative Risiko für Schnarchen ist in Tagesschläfrigkeit im mittleren und höheren Le-
allen epidemiologischen Studien bei Männern 1,4- bensalter fanden (Partinen u. Hublin 2005).
bis 2,7-mal höher als bei Frauen (Hoffstein 2005). Auch in einer neueren Studie zur Schläfrig-
Das Ergebnis weist auf einen möglicherweise hor- keit, die auf einer normativen amerikanischen Po-
monell bedingten Unterschied in der Regulation pulation mit 703 Personen im Altersbereich von
der Wandspannung der oberen Atemwege und der 20–98 Jahren basiert, ergaben sich keine signifi-
Kollapsneigung bei Männern und Frauen hin. kanten Geschlechtsunterschied im Punktwert der
In einer Übersichtsarbeit haben Kapsimalis Epworth Schläfrigkeits-Skala (ESS), einer häufig
und Kryger (2002) die Mechanismen bewertet,
die im Zusammenhang mit dem protektiven Ef-
fekt des weiblichen Geschlechts auf schlafbezo- A 400
gene Atmungsstörungen untersucht worden sind
Anzahl der Mädchen

(⊡ Tab. 10.4). Einige der beschriebenen Effekte sind 300


kritisch zu beurteilen, da sie auf Unterschieden
zwischen Stichproben gesunder Männern und 200
Frauen basieren und nur eine Minderheit der Ge-
samtpopulation schlafbezogene Atmungsstörun-
100
gen entwickelt. Als zwei gesicherte Risikofaktoren
nehmen die Autoren jedoch den Einfluss von Hor-
0
monen auf die pathophysiologischen Unterschiede 8 13 18 23 28 33 38 43 48 53 56
zwischen den Geschlechtern sowie Unterschiede Schläfrigkeitsscore (CIS)
in der Kollapsneigung der oberen Atemwege zwi-
schen Männern und Frauen an.
B 400
Anzahl der Jungen

Schlafstörungen mit Tagesschläfrigkeit 300


als Leitsymptom
Bei den beiden Hauptformen von Schlafstörungen 200
mit Tagesschläfrigkeit als Leitsymptom, nämlich
bei der Narkolepsie und bei der idiopathischen 100
Hypersomnie, sind Männer und Frauen in etwa
gleich häufig betroffen (Partinen u. Hublin 2005). 0
Tagesschläfrigkeit ist jedoch über diese Krank- 8 13 18 23 28 33 38 43 48 53 56
heitsgruppen hinaus ein häufiges Problem schon Schläfrigkeitsscore (CIS)
bei Jugendlichen, das auch die schulischen Leistun-
⊡ Abb. 10.3. Verteilung der Schläfrigkeits-Scores bei Mädchen
gen beeinträchtigt (Gibson et al. 2006). In einer gro- (A) und Jungen (B), gemessen mit der mehrdimensionalen
ßen holländischen Untersuchung mit 1718 Jungen Skala Checklist Individual Strength (CIS). (Aus ter Wolbeek et
und 1749 Mädchen war Müdigkeit, gemessen mit al. 2006)
184 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

verwendeten, validen Skala zur Selbstbeurteilung häufigeres Auftreten bei Knaben mit einem Ver-
der Schlafneigung in unterschiedlichen Alltagssi- hältnis von bis zu 3:1 (Laberge et al. 2000; Shang et
tuationen (Sanford et al. 2006). al. 2006; Stein et al. 2001).
Bei der sehr seltenen Form der periodischen Zusammenfassend ergibt sich ein differenzier-
Hypersomnie, dem Kleine-Levin-Syndrom mit tes Bild mit krankheitsspezifischen Unterschie-
etwa 200 in der Literatur beschriebenen Fällen, den in den Prävalenzraten für Frauen und Män-
überwiegen männliche Personen im Verhältnis von ner (⊡ Tab. 10.3). Schlüssige Erklärungen für den
4:1 (American Academy of Sleep Medicine 2005). Einfluss des Geschlechts auf die Prävalenz von
Schlafstörungen fehlen derzeit weitgehend. Um
hier weiterzukommen werden zuverlässige Daten
Parasomnien einschließlich möglicher biologischer und sozialer
Als Parasomnien werden ungewöhnliche, den Einflussfaktoren benötigt.
Schlaf begleitende oder störende motorische Ent-
äußerungen oder Verhaltensweisen bezeichnet wie
z. B. Sprechen im Schlaf, Schlafwandeln, Schlafläh- 10.1.5 Geschlechtsspezifische Reaktionen
mung oder REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD). im Schlafverhalten auf Stressoren
Diese sind häufig an bestimmte Phasen des Schlafes
(REM- oder Non-REM-Schlaf) oder an Zustands- Die teils ausgeprägten Unterschiede zwischen
übergänge (Einschlafen, Aufwachen, Übergang von Männern und Frauen bei Schlafstörungen könnten
Tief- in Leichtschlaf) gebunden (American Aca- zumindest teilweise durch geschlechtsspezifisch
demy of Sleep Medicine 2005). Partinen und Hublin unterschiedliche Reaktionen auf Stressoren be-
10 (2005) nennen verschiedene Gründe, wie z. B. die dingt sein. Diese Annahme wurde in einer Studie
Verschiedenheit der Störungen sowie die Schwie- mit zwei unterschiedlichen Stressoren bei männli-
rigkeit, sie zuverlässig zu beobachten, die das Fehlen chen und weiblichen Mäusen (C57BL/6J) geprüft
zuverlässiger epidemiologischer Daten erklären. (Koehl et al. 2006). Die Tiere wurden entweder
Die Arousalstörungen aus dem Non-REM- einem sechsstündigem Schlafentzug oder einer
Schlaf heraus (verwirrtes Erwachen, Schlafwandeln einstündigen Bewegungseinschränkung als Stres-
und Pavor nocturnus) zeigen keine geschlechtsspe- soren ausgesetzt. Während sich männliche und
zifischen Unterschiede in ihrer Prävalenz (Ameri- weibliche Tiere in ihrer Reaktion auf Schlafentzug
can Academy of Sleep Medicine 2005). Das Auf- nicht unterschieden, waren die Veränderungen des
treten von Alpträumen ist häufiger bei Mädchen Schlafes auf den Stressor Fixierung geschlechtsspe-
beschrieben worden (American Academy of Sleep zifisch. Männliche Tiere zeigten nach dem Ende
Medicine 2005). Genaue Prävalenzzahlen zur Häu- der Bewegungseinschränkung initial eine stär-
figkeit der schlafbezogenen Essstörungen (night kere Schlafhemmung sowie einen stärkeren Re-
eating syndrome) fehlen noch, es scheint aber häu- bound von REM-Schlaf. Das Ergebnis weist auf
figer bei Frauen aufzutreten (American Academy geschlechtsspezifische Unterschiede in der Stress-
of Sleep Medicine 2005). empfindlichkeit und im Reaktionsverhalten des
Von den REM-Schlaf assoziierten Parasomnien Schlafes auf Stressoren hin.
zeigt die REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD)
sowohl als idiopathische RBD als auch in Verbin-
dung mit anderen neurologischer Erkrankungen, 10.1.6 Frauenspezifische Einflussfaktoren
wie z. B. Morbus Parkinson, eine sehr viele höhere auf den Schlaf
Prävalenz bei Männern als bei Frauen auf (Verhält-
nis 9:1), wobei die Krankheit vorwiegend Männer Außer den bisher besprochenen Unterschieden im
im Alter über 50 Jahre betrifft (Schenck et al. 1986; normalen oder gestörten Schlaf zwischen Männern
Schenck u. Mahowald 2002). und Frauen, gibt es in der Lebensgeschichte von
Schließlich gibt es bei der Enuresis nocturna, Frauen geschlechtsspezifische Faktoren, die durch
einer typischen Parasomnie des Kindesalters ein hormonelle Umstellungen charakterisiert sind und
10.1 · Schlafen Männer und Frauen unterschiedlich?
185 10

zum Teil mit sozialen Veränderungen assoziiert weiter oben beschriebene Diskrepanz zwischen
sind. Über beide Wege kann das Schlafverhalten in subjektiver Schlafbeurteilung und objektiven Mes-
diesen Lebensituationen beeinflusst werden. sungen des Schlafes mittels Polysomnographie
(PSG) zeigt sich auch bei Schlafuntersuchungen
im Menstruationszyklus. Im Unterschied zu An-
Menstruationszyklus gaben über gestörten Schlaf, vor allem gegen Ende
Der Zeitpunkt der Regelblutung in dem norma- der lutealen Phase und während der Menstruation,
lerweise 28-tägigen menstruellen Zyklus wird als zeigten die PSG-Untersuchungen für diese Zeit-
Tag 1 bezeichnet. Die 14-tägige Phase bis zum spanne bei jungen Frauen weder verlängerte Ein-
Eisprung (Ovulation) wird als präovulatorische, schlaflatenzen noch eine reduzierte Schlafeffizienz
follikuläre Phase, die nachfolgende 14-tägige Phase (Armitage et al. 2005). In einer PSG-Untersuchung,
als postovulatorische, luteale Phase. In der 14- die bei neun jungen Frauen über alle Nächte eines
tägigen ovariellen Reifungsphase steigt der ova- Menstruationszylus durchgeführt wurde, ergaben
riale Östradiolspiegel stetig an und gleichzeitig sich auch keine Unterschiede in der Dauer oder
werden die hypophysären Hormone LH und FSH Abfolge der Tiefschlafphasen mit langsamwelliger
gehemmt. Im Zeitraum zwischen dem 12. und Deltaaktivität im EEG. In Übereinstimmung mit
dem 15. Zyklustag, der Ovulationsphase, kommt anderen Untersuchungen zeigte sich jedoch in der
es nach einem weiteren Anstieg von Östradiol, lutealen Phase eine Zunahme von Schlafstadium 2
zu einem steilen Anstieg von LH und FSH mit sowie eine erhöhte Schlafspindelaktivität. Schließ-
der Folge des Follikelsprungs und der Freisetzung lich kam es in der lutealen Phase, verglichen mit
des befruchtungsfähigen Eizelle (Ovulation). Mit der follikulären Phase des Menstruationszyklus
der Ovulation setzt ein plötzlicher Anstieg des zu einer Verkürzung der REM-Latenz und einer
Progesteronspiegels im Blut ein und als Folge der geringen Abnahme der Menge an REM-Schlaf
thermogenen Wirkung des Progesterons steigt die (Driver et al. 1996; Armitage et al 2005). Es wird
Körperkerntemperatur etwa 0,5°C. Im Falle der vermutet, dass die Veränderungen des Schlafes im
Befruchtung kommt es zum Einnisten eines be- Menstruationszyklus durch ZNS-aktive Neuroste-
fruchteten Eies in die Uterusschleimhaut (Endo- roide bewirkt werden (Driver u. Baker 1998).
metrium). Bei ausbleibender Befruchtung stirbt
das Endometrium ab und wird mit der Menstrua-
tionsblutung ausgeschwemmt. Schwangerschaft
Die wechselnden Phasen des Menstruations- Eine Zunahme von Schlafstörungen in der
zyklus können aufgrund hormoneller Umstellun- Schwangerschaft kann durch Veränderungen im
gen und damit verbundener physiologischer Vor- hormonellen Milieu, dem Wachstum des Fötus
gänge die Schlafregulation beeinflussen (Parry et und dadurch bedingte Einschränkungen der Be-
al. 2006a). Dabei erleben einige Frauen in der weglichkeit im Schlaf, aber auch durch die Er-
prämenstruellen Phase und während der Menst- wartung der Geburt und durch Ängste bedingt
ruation eine erniedrigte Schlafqualität (Baker u. sein. Außerdem treten während der Schwanger-
Driver 2004) und in der postmenstruellen Phase schaft vermehrt spezifische Schlafstörungen wie
Schläfrigkeit. Damit in Übereinstimmung beob- Schlafapnoe und RLS auf. Als Folge des gestörten
achteten Shibui et al. (2000) in einer Schlaflabor- Nachtschlafs kann es vermehrt zu Müdigkeit und
studie in der lutealen Phase, d. h. nach dem Ei- Tagesschläfrigkeit kommen (Wolfson u. Lee 2005;
sprung, einen höheren Anteil an langsamwelligem Parry et al. 2006a). Neben dem Anstieg des Pro-
Schlaf (Tiefschlaf) als in der follikulären Phase. gesteronspiegels von 20–30 ng/ml im ersten Tri-
Wie bei der Komplexität der Fragestellung und mester der Schwangerschaft auf 300–400 ng/ml im
den zu kontrollierenden Einflussvariablen zu er- dritten Trimester, können andere physiologische
warten, gibt es nur wenige schlafpolygraphische Veränderungen den Schlaf in der Schwangerschaft
Studien, die zu unterschiedlichen Zeiten des mens- verändern und beeinträchtigen, beispielsweise das
truellen Zyklus durchgeführt wurden. Die schon vermehrte nächtliche Wasserlassen. Eine Tendenz
186 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

zu vermehrtem Schlaf findet sich im ersten Tri- et al. 2003). In einem Vergleich menopausaler de-
mester, geht aber im zweiten und dritten Trimester pressiver Frauen mit Kontrollpersonen war der
in einen Schlaf mit vermehrten Wachphasen und Schlaf der depressiven Frauen sowohl objektiv als
einer reduzierten Schlafeffizienz über. Vor allem auch subjektiv stärker gestört, sie waren seltener
gegen Ende der Schwangerschaft können Unbe- Morgentypen und sie klagten mehr über Hitzewal-
quemlichkeiten der Lage, verbunden mit Rücken- lungen (Parry et al. 2004)
schmerzen, unregelmäßige Uteruskontraktionen, Gesichert sind bei postmenopausalen Frauen
periodische Beinbewegungen und Beinkrämpfe im ein Anstieg von schlafbezogenen Atmungsstörun-
Schlaf sowie schlafbezogene Atmungsstörungen zu gen (Bixler et al. 2001; Young et al. 2003), eine
diesen Schlafunterbrechungen beitragen. PSG-Un- Gewichtszunahme sowie ein höheres Risiko für
tersuchungen zeigten in allen Stadien der Schwan- Bluthochdruck. Alle drei Faktoren sind abhängig
gerschaft eine Abnahme des Tiefschlafs, der durch voneinander und erhöhen das Mortalitätsrisiko.
langsamwellige Deltaaktivität im Schlaf-EEG ge- Weitere Untersuchungen sind notwendig, um den
kennzeichnet ist (Driver u. Shapiro 1992; Brunner Beitrag der Menopause und des Alters an diesem
et al. 1994). Umgekehrt kommt es nach der Geburt Gesamtrisiko weiter aufzuschlüsseln.
zu einem Anstieg des langsamwelligen Schlafs. Parry et al. (2006b) untersuchten in einer
Übersichtsarbeit den möglichen Zusammenhang
zwischen depressiven Störungen bei Frauen in der
Menopause Menopause und den Veränderungen des Schlafs
Die Menopause bezeichnet den Zeitpunkt an dem und der zirkadianen Rhythmen von Melatonin,
aufgrund eines Nachlassens der Ovarialfunktion Kortisol und Thyreoidea-stimulierendes Hormon
10 die Fortpflanzungsfähigkeit der Frau endet. Die (TSH) und Prolaktin in dieser Lebensphase, sowie
Umstellung beginnt mit einer menopausalen Über- den Effekt von Therapiemaßnahmen. Während die
gangsphase, der Perimenopause. In diesem Zeit- vorliegenden Untersuchungen für die Hormone
raum kommt es zu einer Verlängerung des Mens- Kortisol, TSH und Prolaktin keinen systematischen
truationszyklus sowie zu einem Ausbleiben von Unterschied zwischen Frauen mit einer Depression
zwei oder mehr Zyklen in Folge. Der Beginn der und gesunden menopausalen Frauen ergaben, war
Postmenopause ist durch eine 12-monatige Ame- die nächtliche Melatoninsekretion bei depressiven
norrhö definiert. Das Klimakterium beginnt mit Frauen erhöht und es kam zu einem verzögerten
der Perimenopause, etwa um das 50. Lebensjahr. Absinken der Melatoninsekretion am Morgen. Un-
Im Zusammenhang mit den hormonellen Um- ter dem Einfluss einer Östrogenbehandlung zeigte
stellungen mit erniedrigten Werten der ovariellen sich bei gesunden Frauen keine Veränderung in
Hormone (Östrogen und Progesteron) und erhöh- den genannten Hormonen, hingegen kam es bei
ten Werten der hypophysären Gonatropine sowie depressiven Frauen zu einem Anstieg von Prolak-
den häufigen menopausalen, vasomotorischen Be- tin und zu einer Abnahme von TSH.
schwerden wie Hitzewallungen und nächtlichem Bis zur Veröffentlichung der möglichen nega-
Schwitzen treten vermehrt Schlafstörungen im tiven Folgen einer Hormonersatztherapie (Writing
Sinne einer Insomnie und Müdigkeit am Tage auf Group for the Women’s Health Initiative 2002),
(Moe 2005). Nach einigen Studien kommt es in wurde diese im großen Maßstab auch bei gesun-
diesem Lebensabschnitt zu einer Verdoppelung den postmenopausalen Frauen angewendet. In den
der Schlafstörungen, verglichen mit der der Prä- Jahren zuvor wurde in mehreren Studien nach-
menopause (Young et al. 2003). Die Unterschiede gewiesen, dass es unter der Östrogenbehandlung
bleiben auch dann bestehen, wenn konfundierende oder Hormonersatztherapie zu einer Abnahme
Faktoren wie das Alter und depressive Störungen der Hitzewallungen und einer Verbesserung der
kontrolliert wurden. Auch hier ist es wieder so, Schlafqualität mit verkürzter Schlaflatenz kam, au-
dass die subjektiv erlebten Schlafstörungen weit ßedem zu weniger nächtlichen Wachphasen und
ausgeprägter sind als die objektiven schlafpolygra- einer Zunahme des REM-Schlafs (Polo-Kantola et
phischen (PSG) Befunde (Shaver et al. 2001; Young al. 1998; Parry 2004; Moe 2005).
Literatur
187 10
Fazit
Trotz einer vergleichbaren Grundstruktur un- Störung bei Frauen nach der Menopause stark
terscheidet sich der Schlaf von Frauen und ansteigt.
Männern in mehrfacher Hinsicht. Schlafpoly- Der Schlaf von Frauen wird darüber hinaus in den
graphisch besteht ein Unterschied im Ausmaß verschiedenen Lebensphasen zusätzlich durch
langsamwelliger Deltaaktivität im Schlaf-EEG mit Änderungen des hormonellen Milieus und damit
höheren Anteilen der absoluten Deltapower bei assoziierten biologischen Veränderungen modi-
Frauen. Die Ursache dieses Phänomens sowie fiziert, beginnend mit der Menarche, während
seine Bedeutung für die Schlafregulation sind des Menstruationszyklus, in der Schwangerschaft
noch nicht schlüssig geklärt. Bemerkenswert und in der Menopause. Die Studienlage ist
ist weiterhin der Befund, dass die subjektiv derzeit in vielen Bereichen ungenügend. Weit-
beurteilte Schlafqualität bei Frauen häufiger be- gehend ungeklärt ist zudem die Frage, welche
einträchtigt ist als bei Männern und dass Frauen Anteile biologische, psychologische und soziale
häufiger an Insomnie leiden. Männer zeigen Faktoren, beziehungsweise deren Wechselwir-
hingegen über alle Lebensphasen hinweg ein kungen an den Unterschieden im Schlafverhal-
höheres Risiko für schlafbezogene Atmungsstö- ten, der Schlafstruktur und in der erlebten Schlaf-
rungen, auch wenn das relative Risiko für diese qualität von Männern und Frauen haben.

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190 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

10.2 Traumerleben bei Männern und Frauen

Michael Schredl

> Heute Nacht, im Traum, unglücklicherweis,


Tät ich an der schmutzigsten Magd mich laben,
Und ich konnte doch für denselben Preis
Die allerschönste Prinzessin haben.
(Heinrich Heine)

10.2.1 Einführung 10.2.2 Traumerinnerung

Träume haben die Menschen schon immer fas- Trotz der Tatsache, dass davon ausgegangen wer-
ziniert; so ist es nicht verwunderlich, dass Ge- den kann, dass jede Nacht geträumt wird, ist die
schlechtsunterschiede in der Traumerinnerung Traumerinnerung im Alltag sehr variabel (Schredl
und im Trauminhalt Gegenstand zahlreicher Stu- 1999b). Es gibt Personen, die sich fast jeden Mor-
dien waren. Obwohl die Studien deutliche Unter- gen an Träume erinnern, und andere behaupten,
schiede zwischen den Träumen von Männern und überhaupt nicht zu träumen. Auch innerhalb einer
10 Frauen aufzeigen, liegen bisher nur wenige Studien Person gibt es häufig Phasen mit erhöhter oder
vor, die versuchen, diese Unterschiede auf einer erniedrigter Traumerinnerung. Die Großzahl der
empirisch fundierten Basis zu erklären. Bevor die Studien zum Geschlechtsunterschied in der Trau-
Befunde im Einzelnen vorgestellt werden, ist eine merinnerung bezieht sich auf Fragebogendaten,
Definition des Träumens wichtig. auch wenn weitere Methoden existieren, die Trau-
merinnerung zu messen (Traumtagebuch, Labor-
Definition. Der Traum oder Traumbericht ist eine weckung).
Erinnerung an die psychische Aktivität, die wäh- Die Vorgabe einer Skala innerhalb eines Frage-
rend des Schlafes stattfindet (Schredl 1999a). bogens hat den Vorteil, dass die Zielvariable (Traum-
Zunächst macht diese Definition deutlich, dass erinnerung im Alltag) durch die retrospektive
hier andere veränderte Bewusstseinszustände wie Messung nicht beeinflusst wird, allerdings können
z. B. Erleben unter Narkose, Tagträume, Nahe-To- Erinnerungseffekte eine ungünstige Rolle spielen.
des-Erlebnisse oder Erlebnisse unter psychoaktiven Beim Traumtagebuch sind Erinnerungsfehler mi-
Substanzen, vom Träumen als psychische Aktivität nimiert, da sofort nach dem Erwachen notiert wird,
während des Schlafes unterschieden werden. Zum ob eine Traumerinnerung vorliegt. Allerdings zei-
anderen wird deutlich, dass Traumberichte immer gen viele Studien, dass die Traumerinnerung durch
eine Rückerinnerung darstellen, die zwei Schwellen die Messung beeinflusst wird. Sie nimmt zu, wenn
überwinden muss: den Schlaf-Wach-Übergang und die ProbandInnen ihren Träumen mehr Beachtung
die Zeit. Aufgrund der hohen Traumerinnerung schenken (Schredl 2002a). Bei der Laborweckung
bei REM-Weckungen (80–90% Erinnerungsrate) liegen aufgrund des hohen methodischen Auf-
und der ebenfalls recht hohen Erinnerungsrate wands keine größeren Studien, die eine passable
bei NREM-Weckungen (über 50%; Nielsen 2000) Abschätzung von Geschlechtsunterschieden erlau-
gehen viele Forscher davon aus, dass die psychische ben, vor, zumal für diese Studien häufig hochmo-
Aktivität während des ganzen Schlafes andauert. tivierte Personen ausgewählt werden, so dass hier
Dies bedeutet, das Gehirn – bzw. im Falle des kaum Verallgemeinerungen möglich sind.
Träumens – das Bewusstsein schläft nie (Wittmann Trotz dieser messtechnischen Einflüsse weisen
u. Schredl 2004). die Methoden zur Messung der Traumerinnerungs-
10.2 · Traumerleben bei Männern und Frauen
191 10

häufigkeit moderate Interkorrelationen auf (z. B. Nielsen et al. (1999) findet bereits für 13-Jäh-
zwischen Fragebogenskala und Traumtagebuch: rige deutliche Geschlechtsunterschiede; für jüngere
r=0,557, p<0,0001, N=285; Schredl 2002a). Zu- Kinder weisen die meisten Befunde (z. B. Foulkes
dem zeigen sowohl die Fragebogenskalen (Schredl 1982; Keßels 2004) keine Unterschiede in der Trau-
2004a) als auch die Tagebuchmethoden (Schredl u. merinnerung zwischen Jungen und Mädchen auf.
Fulda 2005) hohe Reliabilitätswerte. In ⊡ Tab. 10.5 Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Datenba-
sind die wichtigsten Studien zu Geschlechtsunter- sis sehr klein ist, groß angelegte Fragebogenunter-
schieden in der Traumerinnerung dargestellt. suchungen fehlen in diesem Altersbereich völlig.
In fast allen Studien sind kleine bis mittlere Angesichts der stabilen Befunde zum Ge-
Effekte nachgewiesen worden, d. h., Frauen erin- schlechtsunterschied bei Erwachsenen stellt sich
nern sich in der Regel etwas häufiger an Träume die Frage, ob es Variablen gibt, die diese Unter-
als Männer. Lediglich in der österreichischen Stu- schiede aufklären können. Da die Traumerinne-
die (Stepansky et al. 1998) zeigte sich kein Effekt. rungshäufigkeit mit einer Vielzahl von Faktoren,
In den beiden anderen repräsentativen Studien z. B. Persönlichkeitsdimensionen wie Offenheit für
(Borbely 1984; Schredl u. Piel 2003) waren Effekte Erfahrungen, Kreativität, Schlafverhalten, Interesse
nachzuweisen, so dass das negative Ergebnis schwer an Träumen in Verbindung steht (Überblick in
zu erklären ist. Auch für die Messung der Traumer- Schredl u. Montasser 1996–97), bietet es sich an,
innerung mit der Tagebuchmethode zeigte sich ein für Variablen, die selbst Geschlechtsunterschiede
Geschlechtseffekt (d=0,16, n=285; Schredl 2002a; aufweisen, zu überprüfen, ob Unterschiede in die-
d=0,48, N=444; Schredl 2004b) in der Richtung, sen Variablen die Unterschiede in der Traumerin-
dass Frauen mehr Träume notierten. nerung erklären können. Sowohl für das Schlaf-

⊡ Tab. 10.5. Geschlechtsunterschiede in der subjektiv eingeschätzten Traumerinnerungshäufigkeit

Autoren Anzahl Altersbereich Effektstärke

Heerwagen (1889) 406 Erwachsene 0,53

Wynaendts-Francken (1907) 300 Erwachsene 0,44

Middleton (1942) 277 Studierende 0,38

Giambra (1979) 1200 17–93 Jahre 0,28

Borbely (1984) 1000 >16 Jahre 0,151

Gruber (1988) 1468 19,8 Jahre 0,35

Pagel et al. (1995) 265 Erwachsene 0,34

Giambra et al. (1996) 2328 17–77 Jahre 0,26

Stepansky et al. (1998) 1000 14–69 Jahre 0,00

Nielsen et al. (1999) 600 13 Jahre 0,50

600 16 Jahre 0,55

Schredl (2000) 762 18–65 Jahre 0,47

Schredl (2002b) 941 18–93 Jahre 0,33

Schredl u. Piel (2003) 5946 >18 Jahre 0,25

1Mögliche
Unterschätzung, da nur 2 von 5 Kategorien publiziert wurden.
192 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

verhalten (niedrigere subjektive Schlafqualität bei zu kennen, wird sie hier kurz erläutert. Ein oder
Frauen, Schredl et al. 1998) und höheres Interesse mehrere externe Beurteiler schätzen die Traumbe-
bzw. positivere Einstellung zu Träumen (Domino richte, die meist in eine zufällige Abfolge gebracht
1982; Schredl et al. 1996; d=0,64, N=444; Schredl werden, anhand von vordefinierten Skalen, z. B.
2004b) wurden ebenfalls stabile Geschlechtsunter- Realitätsnähe, Vorkommen von Aggressionen, ein.
schiede nachgewiesen. Der Vorteil der Methode besteht in einer guten
Während die Schlafvariablen wie subjektive Reliabilität, das bedeutet folgendes: Wird das glei-
Schlafqualität und häufiges nächtliches Erwachen che Traummaterial von unterschiedlichen Ratern
keinen Einfluss auf den Geschlechtsunterschied beurteilt, ist die Übereinstimmung der Skalenwerte
zeigten, wurde der Geschlechtseffekt durch sta- in der Regel recht hoch (Domhoff 1996). Für man-
tistische Berücksichtigung der Variable »Beschäf- che Skalen ist ein Vortraining notwendig, um sehr
tigung mit Träumen« fast zum Verschwinden ge- gute Werte zu erzielen (Schredl et al. 2004).
bracht (Schredl 2000). Das heißt, der in dieser Das Hauptproblem der Methode liegt in der Va-
Studie nachgewiesene Geschlechtsunterschied in lidität; Schredl und Doll (1998) sowie Schredl und
der Häufigkeit, mit der sich die Person mit ihren Erlacher (2003) konnten zeigen, dass sowohl die
Nachtträumen beschäftigte (d=0,71, N=722), er- Gefühlsintensität als auch die Anzahl der bizarren
klärte den Geschlechtsunterschied in der Traumer- Elemente im Traum von den externen Beurteilen
innerung. Dies scheint plausibel, da die bewusste im Vergleich zum Eigenurteil der TräumerInnen
Beachtung der Träume bei vielen Menschen zu unterschätzt wurde. Dies basiert auf der einfachen
einer deutlichen Steigerung der Traumerinnerung Tatsache, dass der Traumbericht als Analyseeinheit
führt (Cory et al. 1975). Allerdings ist es auch der Trauminhaltsanalyse nicht die komplette In-
10 möglich, dass eine höhere Traumerinnerung zu formation über das im Traum erlebte Geschehen
einem größeren Interesse und einer positiveren enthält.
Einstellung zu Träumen führt, so dass eine kau- Die erste Inhaltsanalyse einer großen Stich-
sale Erklärung des Geschlechtsunterschieds in der probe von Traumberichten (N=1000), die in den
Traumerinnerung durch die Variable »Interesse an Jahren 1948–1952 gesammelt wurden, wurde von
Träumen« nicht möglich ist. Hall und Van de Castle 1966 publiziert. Sie ver-
Andere Variablen wie emotionale Intensität der wendeten fünf Träume von je 100 männlichen und
Träume, Gefühlstönung der Träume oder die An- 100 weiblichen Studierenden. Eine Auswahl der
laufzeit am Morgen scheinen für die Erklärung der wichtigsten Ergebnisse ist in ⊡ Tab. 10.6 dargestellt.
Geschlechtsunterschiede in der Traumerinnerung In Männerträumen sind häufiger Umgebungen
nicht in Frage zu kommen, da sie im Falle des Aus- zu finden, die im Freien (outdoor) liegen, ebenso
partialisierens keine signifikanten Effekte zeigten ein höherer Anteil an Männern als Traumperso-
(Schredl 2002, 2003). nen, an unbekannten Personen, mehr physische
So lässt sich zusammenfassen, dass Frauen sich Aggression, Waffen und Sexualität. In Frauenträu-
im Mittel häufiger an ihre Träume erinnern als men finden sich mehr Traumpersonen, explizit
Männer. Bisher wurde nur der Faktor »Beschäf- genannte Emotionen, Haushaltsartikel und Klei-
tigung mit Träumen« als erklärender Faktor für dungsstücke.
diesen Geschlechtsunterschied identifiziert. Durch Nachfolgestudien (Hall et al. 1982;
Domhoff 1996; Schredl et al. 1998, 2003) konn-
ten viele der Unterschiede bestätigt werden. So
10.2.3 Trauminhalt zeigte sich durchgehend ein Unterschied bezüg-
lich des Anteils der männlichen Traumpersonen,
Die in diesem Abschnitt dargestellten Befunde der Sexualität und der physischen Aggressionen
basieren auf der Methode der Trauminhaltsana- (⊡ Tab. 10.6). So weisen z. B. die Träume von Sig-
lyse. Eine ausführliche Beschreibung ist in Schredl mund Freud, die er publiziert hat (N=28) 72%
(1999a) enthalten. Da es für die Bewertung der männliche Traumpersonen auf (Hall 1984); eine
Ergebnisse wichtig ist, die Methode in Grundzügen vergleichbare Zahl wie in den Stichproben von
10.2 · Traumerleben bei Männern und Frauen
193 10

⊡ Tab. 10.6. Geschlechtsunterschiede im Trauminhalt (Hall u. Van de Castle 1966)

Variable Frauen (N=500 Träume) Männer (N=500 Träume)

Settings (outdoor/(indoor + outdoor) 39% 52%

Anteil männlicher Traumpersonen 48% 67%

Anteil unbekannter Traumpersonen 42% 55%

Physische Aggressionen/alle Aggressionen 34% 50%

Sexualität im Traum 3,6% 11,6%


1:
Objekte im Traum
Haushaltsartikel 10,5% 8,1%
Waffen 0,8% 3,0%
Kleidung 10,2% 5,7%

Explizit genannte Emotionen pro Traum 0,70 0,48

Anzahl der Traumpersonen pro Traum 2,7 2,2

1
Gesamtzahl für die Objekte für Männer (N=2422), für Frauen (N=2659)

⊡ Tab. 10.7. Geschlechtsunterschiede im Trauminhalt (Schredl u. 1998)

Variable Frauen (N=177) Männer (N=69) Effektstärke Signifikanztest

Traumlänge 84,9±57,4 91,8±77,8 0,10 t=0,7/p=0,5068

Realitätsnähe 2,47±0,82 2,58±0,86 0,11 z=0,8/p=0,4284

Emotionale Intensität 2,14±1,42 1,91±1,25 –0,14 z=–1,0/p=0,3280

Anteil männlicher Traumpersonen 0,50±0,42 0,66 ±,36 0,33 t=2,3/p=0,0101

Verbale Interaktionen 59,3% 55,1% –0,08 χ2=1,4/p=0,243

Physische Interaktionen 11,9% 13,0% 0,03 χ2=0,1/p=0,800

Sexualität 3,4% 8,7% 0,23 χ2=3,0/p=0,042

Physische Aggression 5,1% 15,9% 0,36 χ2=7,8/p=0,003

Männern. Auch ist es wahrscheinlich kein Zufall, Beurteiler (s. oben). Auch allgemeine Charakte-
dass das Eingangszitat von Heinrich Heine einen ristika wie Traumlänge (Anzahl der Wörter pro
sexuellen Traum andeutet; Sexualität ist in Män- Bericht), Realitätsnähe und Anzahl der verbalen
nerträumen ein häufigeres Thema. und physischen Interaktionen scheinen sich nicht
Nicht bestätigt wurden die Ergebnisse bezüg- zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden
lich der Traumemotionen. Wenn die Selbsturteile (⊡ Tab. 10.7; Übersicht in Schredl et al. 1998).
der Träumenden herangezogen wurden, ergaben Interessanterweise scheinen die Geschlechts-
sich keine Unterschiede zwischen Männern und unterschiede über die Zeit recht stabil zu bleiben.
Frauen (Schredl et al. 1998). Dies steht möglicher- Ca. 30 Jahre nach ihrer ersten großen Studie (Hall
weise in Zusammenhang mit der eingeschränkten u. Van de Castle 1966) konnten die Autoren (Hall
Validität der Gefühlseinschätzung durch externe et al. 1982) zeigen, dass die meisten Geschlechts-
194 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

unterschiede, z. B. vermehrte physische Aggressi- ger von der Arbeit. Von Frauen waren verstorbene
onen, Geschlechtsverhältnis der Traumpersonen, Personen im Traum in allen vier Untersuchungen
genauso wieder aufzufinden waren. Auch in einer häufiger angegeben worden.
neueren Studie (Schredl et al. 2003) wurden die Ein weiterer interessanter Geschlechtsunter-
Geschlechtsunterschiede, die um ca. 1950 auftra- schied bezieht sich auf das Geschlecht von bedroh-
ten, repliziert. Auch für sog. typische Träume zeigte lichen Menschen in Angstträumen von Kindern
sich eine weitgehende Stabilität der Geschlechtsun- und Jugendlichen (⊡ Tab. 10.8).
terschiede (Griffith et al. 1958, Nielsen et al. 2003; Sowohl für Mädchen als auch für Jungen zeigte
Schredl et al. 2004). Schredl und Piel (2005) un- sich, dass unbekannte Männer die häufigste ag-
tersuchten zwei Geschlechtsunterschiede (Thema gressive Figur darstellen, während Frauen nur ca.
Arbeit, Verstorbene Personen im Traum) über 20% der bedrohlichen Traumfiguren ausmachen
einen Zeitraum von 1956–2000 (vier repräsenta- (Schredl u. Pallmer 1998). Obwohl bisher keine
tive Querschnittsuntersuchungen des Instituts für spezifischen Untersuchungen vorliegen, scheint die
Demoskopie, Allensbach). Auch hier zeigte sich Parallele, dass in unserer Gesellschaft der Groß-
trotz der Zunahme der Arbeitsthemen ein stabiler teil der Gewalttaten von Männern begangen wird
Geschlechtsunterschied, Männer träumten häufi- (Brannon 1996), interessant und einleuchtend.

Geschlechtsunterschiede im Traum: eine Zuordnungsstudie (Schredl et al. 2004)

In dieser Studie wurde die Frage gestellt, ob es Beurteilerin 1 hatte 64% korrekte Zuordnungen
externen Beurteilern gelingt, das Geschlecht des (d=0,28) und Beurteilerin 2 64,5% (d=0,29).
Träumers/der Träumerin überzufällig richtig zu Berücksichtigt man, dass die Ratewahrschein-
10 erkennen. Dafür wurden 200 Träume (100 Män- lichkeit bei 50% liegt, ist die Detektierbarkeit
nerträume, 100 Frauenträume) aus anderen des Geschlechts als eher gering einzuschätzen
trauminhaltsanalytischen Studien ausgewählt. In (vgl. die Effektstärke von ca. 0,30). Diese Effekt-
26 Fällen wurden Träume ausgeschlossen, die ei- stärke ist vergleichbar mit den Ergebnissen
nen expliziten Geschlechtsbezug aufwiesen, z. B. der inhaltsanalytischen Studien (⊡ Tab. 10.6).
Ableisten von Zivildienst, lackierte Zehennägel, Interessanterweise hatten beide Beurteilerinnen
Tragen eines Brautkleides. In 73 Träumen wur- mehr Vertrauen in die Einschätzung von Frau-
den Veränderungen vorgenommen, um direkte enträumen als bei Männerträumen, obwohl die
Rückschlüsse auf das Geschlecht zu verhindern, Anzahl der Treffer nicht besser war. Spannend
z. B. »Mein Freund« wurde zu »Mein Freund/ wäre eine Nachfolgestudie mit männlichen Be-
Meine Freundin«. Die 200 Träume wurden in urteilern. Die Implikation dieser Ergebnisse für
eine zufällige Abfolge gebracht und durch zwei den klinischen Alltag sollte sein, dass man sehr
Beurteilerinnen bewertet. Zusätzlich schätzten vorsichtig damit umgehen sollte, zu viel Infor-
sie die subjektive Sicherheit in das Urteil auf ei- mation aus einem einzigen Traumbericht über
ner vierstufigen Ratingskala ein. die Person herauszulesen.

⊡ Tab. 10.8. Menschliche Aggressoren im Traum (Schredl u. Pallmer 1998)

Aggressoren Alle (N=111) Mädchen (N=76) Jungen (N=35)

Männlich (unbekannt) 49,7% 48,7% 51,4%

Weiblich (unbekannt) 3,6% 5,3% 0,0%

Männlich (bekannt) 27,8% 26,2% 31,4%

Weiblich (bekannt) 18,9% 19,8% 17,2%


10.2 · Traumerleben bei Männern und Frauen
195 10

Traumbeispiel 1. Eine wiederholende Sequenz als Persönlichkeitsdimension (d=–0.97; Feingold


von einer Autofahrt von meiner Wohnung zu der 1994) – erklärt möglicherweise das häufigere
meines Freundes/meiner Freundin, auf der ich Auftreten von verstorbenen Personen im Traum
dauernd im Stau stand und eine Zigarette nach (Schredl u. Piel 2005), als Ausdruck einer höheren
der anderen rauchte und Flower-Power-Musik im emotionalen Bezogenheit in zwischenmenschli-
Radio lief, ich kam nie an. chen Beziehungen.
Während Hall (1984) als eine Erklärungsmög-
Traumbeispiel 2. Ich öffnete gerade die Tür zur lichkeit des Übergewichts an männlichen Traum-
Wohnung meiner Eltern. Als ich eintrat, beschlich personen in Männerträumen (im Gegensatz zu
mich ein unangenehmes Gefühl. Ich wusste, dass einem ausgewogenen Verhältnis von männlichen
meine Eltern nicht da sind, hatte aber das Gefühl, und weiblichen Traumfiguren in Frauenträu-
dass Leute in der Wohnung sind, die mir auflauer- men) den Ödipuskomplex heranzieht, konnten
ten. Ich wagte mich vorsichtig weiter in den Flur Schredl und Jacob (1998) nachweisen, dass das
hinein und blickte kurz ins Wohnzimmer, welches Geschlechtsverhältnis von der Wachumgebung
in einem merkwürdig düster-roten Licht erschien. abhängt. Der männliche Träumer hatte in einer
Außerdem war die Balkontür offen und der Wind männerdominierten Umgebung (Studium der
blies den Vorhang ins Zimmer. Ich hatte nicht den Elektrotechnik) 63% männliche Traumpersonen,
Mut, weitere Räume zu besichtigen, sondern lief während er in der »weiblichen« Umgebung (Stu-
aus der Wohnung und benachrichtigte von der dium der Psychologie) nur zu 51% von Männern
Nachbarin aus die Polizei. träumte. Für eine Stichprobe von 35 Frauen zeigte
sich, dass die Zeit, die mit Männern respektive
Die beiden Traumbeispiele stammen aus der Stu- Frauen am Tag (vor allem am Wochenende) ver-
die von Schredl et al. (2004). Bei dem ersten bracht wurde, direkt mit dem Geschlechtsverhält-
Traumbeispiel waren sich beide Beurteilerinnen nis der Traumpersonen korrelierte (Schredl et al.
sicher, dass es sich um einen Männertraum han- 1998).
delte, was aber nicht der Fall war. Beim zwei- Ebenfalls spannend war die Analyse der
ten Beispiel tippten die Beurteilerinnen auf einen Traumpersonen bei einer Gruppe von Singles ver-
Frauentraum, der allerdings tatsächlich von einem sus einer Gruppe von Personen mit fester Partner-
Mann berichtet wurde. Diese ausgewählten Bei- schaft (Schredl 2001). Während sich bei den Sing-
spiele zeigen, wie schwer es im Einzelfall ist, eine les der häufig gefundene Geschlechtsunterschied
richtige Geschlechtszuordnung zu machen. In der (Hall 1984) zeigt (61% männliche Traumpersonen
Regel würde man mehr Traummaterial benötigen, in Männerträumen, 48% männliche Traumper-
um Rückschlüsse auf den Träumer/die Träumerin sonen in Frauenträumen), war dieser für Per-
ziehen zu können. sonen mit fester Partnerschaft nicht zu finden
Aufgrund der konsistenten Befunde zu ei- (49% Männer in Männerträumen, 62% Männer
nigen Geschlechtsunterschieden stellt sich die in Frauenträumen). Dies lag schlicht daran, dass
Frage, wie diese Unterschiede im Trauminhalt häufig vom Partner/von der Partnerin geträumt
zu erklären sind. Legt man die Kontinuitätshy- wurde. Auch Lortie-Lussier et al. (1992) konnte
pothese, die besagt, dass sich das Wachleben im nachweisen, dass berufstätige Frauen ein »männ-
Traum widerspiegelt und für die viele empirische licheres« Traummuster aufweisen. Insgesamt wei-
Befunde vorliegen (Übersicht in Schredl 2003), sen diese Studien klar darauf hin, dass die Unter-
zugrunde, so lassen sich z. B. die Unterschiede schiede im Traum die Geschlechtsunterschiede
bezüglich der Sexualität im Traum oder der phy- im Wachzustand widerspiegeln; also im Einklang
sischen Aggression im Traum leicht erklären, da mit der Kontinuitätshypothese des Träumens
Metaanalysen entsprechende Unterschiede für stehen.
das Wachleben zeigen (Sexualität: Oliver u. Hyde
1993; physische Aggression: Eagly 1987). Die
höhere Empathie bei Frauen – operationalisiert
196 Kapitel 10 · Schlaf und Traum

Fazit
Frauen erinnern sich häufiger an Träume als aufgezeigt werden; so träumen Männer häu-
Männer. Ein Faktor, der damit zusammen- figer von physischer Aggression, Sexualität
hängt, ist das positivere Interesse an Träumen und Arbeit, während für Frauen häufiger von
bei Frauen. Allerdings ist bis heute unklar, ob Personen und Kleidung träumen. Diese Unter-
dieser Faktor kausal wirkt und wie es bei der schiede spiegeln Unterschiede im Wachleben
Sozialisation zu Geschlechtsunterschieden in der Geschlechter wider, so dass diese Befunde
der Traumerinnerungshäufigkeit kommt. Auch in Einklang mit der Kontinuitätshypothese des
im Trauminhalt konnten stabile Unterschiede Träumens stehen.

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11

Der »kleine« Unterschied beim Schmerz


Stefan Lautenbacher

11.1 Einführung – 200

11.2 Geschlechtsunterschiede – 201


11.2.1 Klinische Evidenz – 201
11.2.2 Experimentelle Evidenz – 202

11.3 Verantwortliche Mechanismen – 204


11.3.1 Neurobiologische Faktoren – 204
11.3.2 Psychosoziale Faktoren – 205

11.4 Klinische Implikationen – 206

Literatur – 207
200 Kapitel 11 · Der »kleine« Unterschied beim Schmerz

> »Der Mann kann sich nur als Held zeigen, indem er angreift, das heißt, indem
er Schmerzen zufügt. Die Frau dagegen zeigt ihr Heldentum, indem sie die
Schmerzen erträgt.« (Ernst Wilhelm Julius Bornemann)
»Frauen können mehr Schmerzen ertragen als Männer. Vor allem mehr fremde
Schmerzen.« (Sigmund Graff)
»Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« (Sprichwort)
»Jeder weiß schon Bescheid, also fehlt Information.« (Der Autor)

11.1 Einführung Es gibt daher wenig Zweifel, dass der »kleine


Unterschied« zwischen den Geschlechtern bei der
Jüngste Aktivitäten im Bereich der Grundlagen- Schmerzverarbeitung sehr bedeutsam sein kann.
und klinischen Forschung haben erneut bestätigt, Über die Mechanismen, die diesen Unterschieden
dass geschlechtsassoziierte Faktoren eine ganz zugrunde liegen, herrscht jedoch noch ziemli-
wichtige Rolle beim Schmerz spielen. In der epi- che Unklarheit ( Kap. 11.3.1 und 11.3.2). Einige
demiologischen Forschung konnte beispielsweise Autoren halten neurobiologische Größen wie
nachgewiesen werden, dass Frauen bei bestimm- Sexualhormone, Schmerzhemmmechanismen,
ten Schmerzsyndromen eindeutig in der Mehrzahl genetische Faktoren etc. für besonders relevant,
sind. Hierzu gehören beispielsweise die Migräne, andere favorisieren psychosoziale Faktoren wie
der temporomandibulare Schmerz, der Reizdarm Geschlechterrollen, Schmerzbewältigung (Co-
und die Fibromyalgie ( Kap. 11.2.1). Auch in La- ping) und motivational-emotionale Größen. In
borstudien haben sich zumindest für bestimmte diesem Kapitel sollen nun die Geschlechtsun-
Schmerzstimuli konsistente Geschlechtsunter- terschiede in der Schmerzverarbeitung genauer
schiede ergeben, wobei Frauen bei Berücksichti- beschrieben und das verfügbare Wissen über die
11 gung einer Vielzahl von Reaktionsmaßen schmerz- zugrunde liegenden Mechanismen übersichtsar-
sensibler erscheinen ( Kap. 11.2.2). tig dargestellt werden.

Beispiel

»Frau M. (45 Jahre, früher Verwaltungsfachkraft, jetzt ten gerecht zu werden. Ihre beiden Söhne im Alter
frühberentet) leidet seit 13 Jahren unter chronischen von 10 und 13 Jahren sehen das manchmal auch so
Schmerzen. Es begann mit Schmerzen in einer und erleben ihren Vater als das leuchtende Beispiel.
Schulter, bald kam die andere hinzu. Mittlerweile Frau M. fühlt sich daher immer wieder sehr allein und
leidet sie auch unter Schmerzen im Rücken, in den niedergeschlagen. Natürlich nimmt sie regelmäßig
Armen und Beinen. Manchmal kann Sie ohne Hilfe, Schmerzmittel ein, um einigermaßen über den Tag
nicht mehr das Haus verlassen. Sie hat bereits eine zu kommen, und hat deshalb schon chronische
Odyssee durch viele Arztpraxen hinter sich; dabei hat Magen-Darm-Probleme.«
sie ein Vielzahl von Diagnosen eingesammelt, aber So ähnlich und in Ichform geschrieben lesen sich
meist Ratlosigkeit bei der Behandlung erlebt. Das viele der Zuschriften in den Internetforen der Fibro-
Umfeld reagiert von »die soll sich nicht so anstellen« myalgie-Selbsthilfegesellschaften. Die Fibromyalgie
bis »es ist so traurig, dass ihr keiner helfen kann«. ist ein starker Muskel- und Sehnenschmerz, der
Frau M. kann sich nur mehr schlecht bewegen und weite Teile des Körpers befällt und mit einer erhöh-
hat daher deutlich an Gewicht zugenommen. Sie hat ten Druckschmerzhaftigkeit verbunden ist. Die
in letzter Zeit begonnen, den Schmerz als Teil ihres meisten Zuschriften kommen von Frauen. Das ist
Lebens zu akzeptieren, was ihr ein wenig geholfen kein Zufall, weil die Fibromyalgie mindesten viermal
hat. Ihr Mann kann nicht verstehen, dass das helfen häufiger bei Frauen als bei Männern vorkommt. Das
soll, und meint, sie müsste im Gegenteil mehr gegen Geschlecht scheint also hier ein kritischer Faktor zu
den Schmerz kämpfen, um ihren Verantwortlichkei- sein.
11.2 · Geschlechtsunterschiede
201 11
11.2 Geschlechtsunterschiede Alter ab. Wiederum ist die Prävalenz bei Frauen
über die gesamte Lebensspanne jedoch um 7–
11.2.1 Klinische Evidenz 10% höher. Speziell bei dem mit gastrointestina-
len Schmerzen verbundenen Reizdarm (»irritable
Wenn man Geschlechtsunterschiede in der Verar- bowel syndrome, IBS) findet sich ein Prävalenz-
beitung von Schmerzen zum Thema machen will, verhältnis von 2:1 zwischen Frauen und Männern
können wichtige Fragen durch die Epidemiologie (Mayer at al. 2004).
beantwortet werden. Gibt es Unterschiede in der Auch der Kopfschmerz ist eine weibliche Do-
Häufigkeit und Intensität klinischer Schmerzpro- mäne. Spannungskopfschmerzen sind ebenfalls bei
bleme? Zur sinnvollen Beantwortung dieser Fragen Frauen häufiger als bei Männer. Sie nehmen in
gilt es, zwischen verschiedenen Schmerzproblemen ihrer Prävalenz mit dem Alter ab und – zum klei-
zu unterscheiden und das Alter der Patienten zu nen Trost für das weibliche Geschlecht – tun dies
berücksichtigen. stärker bei Frauen. Migräne ist eine Erkrankung
Für akute und chronische Schulter- und Na- des mittleren Lebensalters mit den höchsten Prä-
ckenschmerzen beispielsweise gibt es Hinweise, valenzen zwischen 25 und 45 Jahren. Frauen sind
dass über eine breite Altersspanne 10% mehr wiederum deutlich häufiger betroffen als Män-
Frauen als Männer über Beschwerden klagen. Diese ner. Ähnliches gilt – sowohl was die Alters- als
Schmerzarten werden mit dem Alter häufiger; der auch was die Geschlechterverteilung anbelangt
Geschlechtsunterschied bleibt dabei weitgehend – für das temporomandibuläre Schmerzsyndrom
stabil (LeResche 2006). Anders ist dies bei dem (Schmerzen in den Kiefergelenken und in der Kau-
mit dem Alter dramatisch zunehmenden Gelenk- muskulatur) (LeResche 2000).
schmerzen. Hier ergeben sich die höheren Präva- Diese Aufzählung könnte man noch länger
lenzen für Frauen erst ab dem 45. Lebensjahr. fortsetzen. Dies sei mit dem Verweis auf ⊡ Tab. 11.1
Im Gegensatz zu den Schulter- und Nacken- getan, in der die Prävalenzverhältnisse von Frauen
schmerzen nehmen Abdominalschmerzen (Mens- und Männern für eine Reihe von Schmerzsyndro-
truationsbeschwerden nicht eingerechnet) mit dem men dargestellt sind. Der Trend ist fast immer ganz

⊡ Tab. 11.1. Verhältnis von Frauen zu Männern bei einer Reihe von Schmerzproblemen in der erwachsenen
Allgemeinbevölkerung. (Nach LeResche 2000)

Schmerzart Zahl der Studien Prävalenzverhältnis weiblich/männlich

Range Median

Kopfschmerz (allgemein) 15 1,1–3,1 1,3

Migräne 14 1,6–6,0 2,5

Temporomandibulärer Schmerz 10 1,2–2,6 1,5

Brennender Mundschmerz 2 1,3–2,5 1,9

Nackenschmerzen 5 1,0–3,3 1,4

Schulterschmerz 5 1,0–2,2 1,3

Rückenschmerz 4 0,9–1,3 1,2

Knieschmerzen 4 1,0–1,9 1,6

Abdominalschmerz 4 1,2–1,3 1,25

Fibromyalgie 4 2,0–6,8 4,3


202 Kapitel 11 · Der »kleine« Unterschied beim Schmerz

klar: Frauen berichten häufiger über Schmerzen als mierte weibliche Ratten nach Behandlung mit
Männer. Testosteron eine Abnahme nozizeptiver Reaktio-
Bislang war von Schmerzsyndromen die Rede. nen aufwiesen. Die Einflüsse der Sexualhormone
Auch bei Betrachtung von Schmerz als einzelnem können früh (noch prä- und neonatal) als orga-
Symptom findet sich ein ähnliches Bild. Schmerz- nisierende Effekte, die dann weitgehend stabil
bezogene Einzelsymptome sind in der Allge- bleiben, oder später beim adulten Tier als aktivie-
meinbevölkerung bei Frauen häufiger als bei Män- rende Effekte auftreten. Die einfache Gleichung,
nern. Zudem haben Frauen auch noch ein erhöhtes Östradiol und Progesteron wirken hyperalgetisch
Risiko, unter mehr als einem solcher Symptome und Testosteron hypoalgetisch, stimmt aber im
gleichzeitig zu leiden. Im jüngeren und mittleren Tiermodell schon nicht, weil die beschriebenen
Erwachsenenalter ist das Risiko hierfür bei Frauen Wirkungen nur bei bestimmten nozizeptiven
doppelt so groß als bei Männern; dieser Unter- Tests und animalen Schmerzmodellen auftreten
schied verliert sich erst im höheren Lebensalter (Aloisi et al. 2006; Craft et al. 2004).
(LeResche 2000, 2006). Effekte von Sexualhormonen können bei
Gibt es keine Schmerzprobleme, die bei Män- Menschen nicht so einfach experimentell unter-
nern häufiger sind als bei Frauen? Die hierfür sucht werden, da sich Hormongaben meist und
zu nennenden Beispiele wie Clusterkopfschmerz, die Ausschaltung der Gonaden ganz verbieten.
postherpetische Trigeminusneuralgie, bestimmte Die häufigste wissenschaftliche Herangehensweise
Neuropathien und Tumoren etc. sind eher die Aus- war daher bislang, Frauen über den menstruel-
nahme (Holdcroft u. Berkley 2005). len Zyklus hin zu untersuchen. Die mittlerweile
Die Epidemiologie weist Frauen bereits in der durchgeführten zahlreichen Studien zeigen mehr
Allgemeinbevölkerung als deutlich schmerzge- Widerspruch als Übereinstimmung an, was auch
plagter aus. Mehr Frauen suchen zudem wegen an den vielfältigen methodischen Unterschieden
Schmerzen Behandlung. In klinischen Populatio- (Stichprobe, Reaktionsparameter, Induktionsme-
11 nen sind die Geschlechtsunterschiede daher viel thode) gelegen haben mag (Rollman et al. 2000).
dramatischer als in der Allgemeinbevölkerung. Die Mehrzahl der Studien lässt aber glauben, dass
Frauen werden nicht nur häufiger zu Patienten, die Schmerzempfindlichkeit in den lutealen (15.
sondern erleben als Patienten auch meist inten- bis 24. Zyklustag) und prämenstruellen (ab dem
sivere und beeinträchtigendere Schmerzen. Ko- 25. Zyklustag) Phasen höher ist als in den mens-
morbide psychische Störungen (z. B. Depression, truellen (1. bis 4. Zyklustag) und follikulären (5.
Angst, Schlafstörungen) sind ebenfalls bei Frauen bis 14. Zyklus). Andere Studien zeigten hingegen
häufiger (Bingefors u. Isacson 2004). keine menstruellen Effekte oder gar Effekte mit
anderer Phasenlage an. Riley et al. (1999), die eine
Metaanalyse zu dieser Thematik durchgeführt hat-
11.2.2 Experimentelle Evidenz ten, schlossen daher auch, dass die verschiedenen
Phasen des menstruellen Zyklus unterschiedliche
Die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden Effekte auf die Schmerzsensibilität ausüben, dass
in der Nozizeption an Tieren hat erstaunlicher- diese Effekte jedoch im Allgemeinen nur mäßig
weise weder Tradition, da meist Tiere nur eines sind und die Unterschiede zwischen Frauen und
Geschlechts untersucht wurden, noch bislang kon- Männern bestenfalls teilweise erklären können.
sistente Ergebnisse produziert, weil sich die Un- Experimentelle Untersuchungen zu Ge-
terschiede schon in verschiedenen Stämmen einer schlechtsunterschieden, speziell mit Erhebungen
Spezies oft nicht replizieren ließen. von Schmerz- und Toleranzschwellen, sind mit-
Besser untersucht sind die Effekte von Se- tlerweile so häufig geworden, dass bereits mehrere
xualhormonen ( Kap. 1). Kastrierte männliche Übersichtsartikel und eine Metaanalyse publiziert
Ratten zeigten in bestimmten experimentellen wurden. Fillingim und Maixner (1995) berichte-
Settings eine Zunahme nozizeptiver Reaktionen ten über 34 Studien zur Thematik und fanden in
nach Gabe von Östradiol, während ovariekto- ungefähr zwei Dritteln positive Nachweise von
11.2 · Geschlechtsunterschiede
203 11

Geschlechtsunterschieden. Frauen erwiesen sich terschiede hin zu untersuchen. Vor allem die öso-
hierbei unabhängig vom Ort der Stimulation als phageale Schmerzsensibilität von Frauen erwies
schmerzempfindlicher im Vergleich mit Männern. sich hierbei als erhöht. In anderen Abschnitten
Bestimmte Stimulationsformen (z. B. Druck) pro- des Gastrointestinaltraktes waren Geschlechtsun-
duzierten konsistentere Geschlechtsunterschiede terschiede weniger ausgeprägt (Arendt-Nielsen et
als andere (z. B. Hitze). Riley et al. (1998) führ- al. 2004).
ten die bislang einzige Metaanalyse durch, wobei Rollman und Lautenbacher (2001) veranlass-
nur 22 Studien zum Zeitpunkt der Erhebung die ten die besonders ausgeprägten Geschlechtsun-
methodischen Kriterien erfüllten, die Riley et al. terschiede bei Verwendung von Druckreizen zu
für den Nachweis von Geschlechtsunterschieden einer Reihe von Hypothesen, die experimentelle
forderten. ⊡ Tab. 11.2 zeigt die wichtigsten Ergeb- und klinische Befunde gleichzeitig in Perspek-
nisse. Frauen wiesen fast durchgängig niedrigere tive bringen sollten. Die hohe Empfindlichkeit
Werte sowohl bei Messung der Schmerz- als auch für Druckreize charakterisiert auch eine Reihe
bei Messung der Toleranzschwelle für die meisten von Schmerzsyndromen, die vor allem durch
der verwendeten Schmerzreize auf. Die Unter- chronische Muskelschmerzen (musculoskeletal
schiede waren jedoch am deutlichsten bei Ver- pain) auffallen. Hierzu gehören die Fibromyal-
wendung von schmerzhaften Druckreizen gefolgt gie, das myofasziale und das temporomandibu-
von elektrischen Reizströmen und thermischen läre Schmerzsyndrom sowie der Spannungskopf-
Schmerzreizen. In jüngster Zeit haben es techni- schmerz. Alle diese Schmerzsyndrome sind über-
sche Weiterentwicklungen ermöglicht, auch die wiegend bei Frauen zu finden. Muskelschmerzen
viszerale Schmerzsensibilität auf Geschlechtsun- und erhöhte Druckschmerzhaftigkeit scheinen

⊡ Tab. 11.2. Effektgrößen für Geschlechtsunterschiede (Frauen < Männer) in Schmerz- und Toleranzschwellen sortiert
nach der physikalischen Methode zur experimentellen Schmerzinduktion (modifiziert nach Riley et al. 1998)

Schmerzmaß Zahl der Zahl der Versuchs- Mittelwert der Standardabweichung Effektgröße
Studien personen Effektgröße der Effektgröße korrigiert1

Schmerzschwelle

Druck 5 949 0,82 0,28 0,59

Thermische 8 502 0,41 0,47 0,46

Elektrische 3 130 0,61 0,24 0,59

Ischämische 1 67 0,18

Alle 16 1696 0,55 0,51

Toleranzschwelle

Druck 3 41.343 0,76 0,44 1,18

Thermische 1 37 0,09

Elektrische 5 223 0,63 0,29 0,64

Ischämische 1 67 0,16

Alle 10 41.670 0,57 1,17

1Gewichtet
mit dem Stichprobenumfang
204 Kapitel 11 · Der »kleine« Unterschied beim Schmerz

also eine Domäne der Frau zu sein. Interessanter- 11.3 Verantwortliche Mechanismen
weise werden bei der Stimulation mit Druckreizen
neben Hautnozizeptoren auch Nozizeptoren in Die den Geschlechtsunterschieden zugrunde lie-
muskulärem Gewebe aktiviert. Diese Deep-tissue- genden Mechanismen werden meist in neurobio-
Nozizeptoren scheinen wiederum stärker von den logische und psychosoziale unterteilt. Zu den ers-
absteigenden Bahnen des endogenen Schmerz- ten werden Sexualhormone, Opioidhemmmecha-
hemmsystems moduliert zu werden als nozizep- nismen, genetische Faktoren etc. gezählt, zu den
tive Afferenzen aus der Haut. Experimentelle und zweiten gehören Geschlechterrolle, Schmerzbewäl-
klinische Befunde könnten somit gleichermaßen tigung (Coping), motivational-emotionale Größen,
dadurch erklärbar sein, dass Frauen im Durch- etc. Im Folgenden soll ein Überblick über die meist
schnitt eine schlechtere endogene Schmerzhem- diskutierten Faktoren gegeben werden.
mung über das aus dem Mittelhirn absteigende
Bahnsystem haben.
Jüngste Befunde zur zeitlichen Summation 11.3.1 Neurobiologische Faktoren
von Schmerzwahrnehmungen unterstützen diese
Idee. Bei kurzfristig wiederholter Reizung (Inter- Geschlechtshormone
valle kleiner als fünf Sekunden) mit potenziell Es gibt verlässliche Hinweise, wenn auch noch
schmerzhaften Stimuli nimmt die Schmerzwahr- keine zwingenden Beweise, sowohl aus Tier- als
nehmung deutlich zu. Bei Frauen ist dieser Effekte auch aus Humanstudien, dass die gonadalen Ste-
klar stärker ausgeprägt (Fillingim et al. 1998; Sar- roide die Schmerzverarbeitung beeinflussen (Fil-
lani et al. 2004; Lautenbacher 2004). Diese Form lingim u. Ness 2000; Kuba u. Quinones-Jenab
der zentralen Sensitivierung wird ebenfalls durch 2005). Beispielsweise variiert die Schmerzsensi-
das absteigende endogene Schmerzsystem modu- bilität nicht hormonell verhütender Frauen sys-
liert und gilt als Risikofaktor bei der Schmerzchro- tematisch, wenn auch nicht stark mit dem mens-
11 nifizierung. truellen Zyklus. In einigen Studien wurde mit
Ein häufig gehörtes Argument ist, dass die un- Hilfe experimenteller Schmerzreize luteal (15. bis
terschiedliche Schmerzsensibilität bei Frauen und 24. Zyklustag) und prämenstruell (ab dem 25. Zy-
Männern Konsequenz einer auf den unterschied- klustag) die höchste Schmerzsensibilität festge-
lichen Geschlechterrollen basierenden Selbstprä- stellt ( Kap. 11.2.2). Das Gesamtbild ist aber noch
sentation, also eine späte Bearbeitung von bis da- äußerst heterogen und es scheint eine Vielzahl
hin geschlechtsneutralen Sinnesempfindungen sei. von moderierenden Faktoren zu geben (Sherman
Ohne den Einfluss von Geschlechterrollen negie- u. LeResche 2006).
ren zu wollen, gibt es aber klare Hinweise, dass Des Weiteren scheint die exogene Gabe von
die erwähnten Geschlechtsunterschiede schon früh Sexualhormonen das Risiko, klinische Schmerz-
in der sensorischen Verarbeitung noxischer Reize probleme zu entwickeln, zu beeinflussen. Beispiels-
auftreten (Mylius et al. 2005). weise konnte nachgewiesen werden, dass eine Sub-
Das zentralnervös nachweisbare stärkere Re- stitutionstherapie mit Östrogen die Schmerzstärke
agieren von Frauen auf noxische Reize gilt aber von Patienten mit orofazialem Schmerzsyndrom
nicht für alle anderen Reaktionssysteme. So sind erhöht (Wise et al. 2000). Fillingim und Edwards
beispielsweise nach Verabreichung von schmerz- (2001) maßen bei postmenopausalen Frauen, die
haften Reizen eine stärkere Ausschüttung von sich einer Substitutionstherapie unterzogen, zu-
Kortisol und eine deutlichere Erhöhung des Herz- dem stärkere Reaktionen auf experimentelle Reize
schlages und des Blutdruckes bei Männern be- als bei vergleichbaren Frauen ohne eine solche
schrieben worden (Zimmer et al. 2003; Tousig- Therapie und bei Männern. Eine italienische Ar-
nant-Laflamme et al. 2005). Vegetative und endo- beitsgruppe, die die Entwicklung von Transse-
krine Reaktionen auf schmerzhafte Reize können xuellen nach operativer Geschlechtsangleichung
somit andersgeartete Geschlechtsunterschiede und während nachfolgender Unterstützung dieses
aufweisen. Prozesses durch Agonisten und Antagonisten für
11.3 · Verantwortliche Mechanismen
205 11

das jeweils angestrebte Hormonprofil beobachte- Erste Versuche, das absteigende Schmerzhemm-
ten, fanden erste Hinweise dafür, dass eine Stär- system, das neben serotoninergen und noradrener-
kung der Testosteroneffekte zu einem Nachlassen gen Schnittstellen auch opioiderge Links aufweist,
von bestehenden Schmerzen führt, während die auf Geschlechtsunterschiede beim Menschen zu
Stärkung der Östrogeneffekte gerade gegenteilige untersuchen, haben stattgefunden. Das Hemmsys-
Wirkung mit Zunahme und Neuenstehung von tem wird dabei in der Regel durch Schmerzreize
Schmerzen hatte (Aloisi et al. in Druck). Auch in aktiviert. Die Befundlage ist bislang aber noch sehr
Tierversuchen konnten insbesondere die Sexual- uneinheitlich (Lautenbacher 2004).
hormone aus den Ovarien und speziell das Östro-
gen wiederholt mit einer erhöhten Sensibilität für
experimentelle Schmerzreize und einer Zunahme 11.3.2 Psychosoziale Faktoren
klinischer Schmerzen in Verbindung gebracht wer-
den, was sehr wahrscheinlich auf einer Wechsel- Motivational-emotionale und kognitive
wirkung mit dem endogenen Opioidsystem beruht Reaktionen
(Aloisi et al. 2006). Angst, Depression, schmerzbezogene Kognitionen
und Schmerzbewältigungsstrategien sind erwiese-
nermaßen wichtige Einflüsse auf die Schmerzver-
Endogene Opioidaktivität arbeitung und zugleich Kandidaten für die Verur-
Das bekannteste und am besten untersuchte endo- sachung von Geschlechtsunterschieden.
gene Schmerzhemmsystem ist das Opioidsystem. Depression und bestimmte Ängste sind prä-
Die Effekte vieler physikalischer und psycholo- valenter unter Frauen und häufig mit Schmerzbe-
gischer Therapiemaßnahmen fußen ebenso auf schwerden und anderen körperlichen Symptomen
diesem System wie natürlich die Wirkung von assoziiert ( Kap. 8 und 19). Auch in Experimen-
Opiatanalgetika. Es gibt klare Hinweise, wie eben ten konnte nachgewiesen werden, dass emotionale
ausgeführt, dass es Wechselwirkungen zwischen Belastungen wie die Auslösung schmerzbezogener
Geschlechtshormonen und dem endogenen Opi- Ängste mit einer stärkeren Schmerzreagibilität as-
oidsystem gibt, was vermuten lässt, dass das Opi- soziiert sind. Solche Einflüsse können aber bei
oidsystem zu Geschlechtsunterschieden beitragen Frauen und Männer unterschiedlich wirken, wie
könnte. So gibt es eindeutige tierexperimentelle Fillingim et al. (1996) nachweisen konnten. Sie
Hinweise, dass die Morphinanalgesie bei intakten zeigten, dass Effizienz- und Kontrollerwartungen
männlichen Tieren oder bei kastrierten männli- und die so modulierten Ängste experimentelle
chen Tieren nach Testosterongabe stärker ist als bei Schmerzreaktionen auf geschlechtsspezifische
weiblichen Tieren. Hingegen scheint die Gabe von Weise beeinflussen. Des Weiteren gibt es klare
Östradiol bei ovariektomierten weiblichen Tieren Hinweise aus klinischen Studien, dass Ängste das
zumindest die über μ-Opioidrezeptoren vermit- Schmerzerleben von Männern stärker beeinflus-
telte Analgesie abzuschwächen. Die κ-bindenden sen als das von Frauen, währenddessen bei Frauen
Opioide werden hingegen in ihrer Wirkung eher die Zusammenhänge zwischen dem klinischen
verstärkt (Craft et al. 2004). Schmerz einerseits und Depression sowie Frus-
Beim Menschen scheinen die Verhältnisse eher tration andererseits bedeutsamer sind (Myers et
umgekehrt. Frauen scheinen von Opiatanalgetika al. 2003).
eher mehr zu profitieren als Männer, wobei bislang Erwähnenswert zur Dokumentation von ge-
keine klare Differenzierung zwischen μ- und κ- schlechtsspezifischen Effekten von kognitiven
System gefunden wurde (Fillingim u. Gear 2004). Strategien zur Schmerzbewältigung sind bei-
Diese Widersprüche zwischen Human- und Ani- spielsweise Ergebnisse von Keogh und Kollegen
maldaten sowie zwischen den verschiedenen ein- (Keogh u. Herdenfeldt 2002; Keogh et al. 2000).
gesetzten Schmerzmodellen erlauben noch keine Sie beschäftigten sich mit den Auswirkungen der
abschließende Bewertung zu den Geschlechtsun- Aufmerksamkeitslenkung auf das Schmerzerle-
terschieden in der Opiatanalgesie. ben und konnten zeigen, dass günstige Strategien
206 Kapitel 11 · Der »kleine« Unterschied beim Schmerz

bei Männern beispielsweise in der Hinwendung wenn sie von der »weiblichen« Untersucherin
zum Schmerz und in der Konzentration auf sen- befragt wurden im Vergleich zum »männlichen«
sorische Aspekte bestehen, wovon Frauen kaum Untersucher. Frauen ließen sich auf diese Weise
profitieren. nicht von der Geschlechterrolle des Untersuchers
beeinflussen. In dieser Studie war die Präsentation
des Geschlechts jedoch stereotypisch überzeichnet;
Geschlechterrollen Untersuchungen, die den Versuchsleitern situati-
Es ist verführerisch anzunehmen, dass Geschlech- onsangemessenere Geschlechterrollen vorgaben,
terrollen das Schmerzerleben entscheidend mitbe- ließen im Gegensatz hierzu nur minimale Effekte
dingen. Genauer gesagt entspräche es den gängi- finden.
gen Rollenstereotypen, zu vermuten, dass es zur Geschlechtsspezifische Interaktionen mit Aus-
femininen Rolle gehört, Schmerzen bereitwillig wirkungen auf das Schmerzerleben könnten sich
zu berichten, während die maskuline Rolle zu natürlich auch zwischen den Partnern ergeben.
einer stoischen Einstellung und zur Tendenz, den Hier scheint sich als Trend über mehrere Studien
Schmerz zu verleugnen, verpflichtet. Instrumente, festhalten zu lassen, dass die auf Schmerzverhalten
die speziell die Messung der Geschlechterrolle kontingente Zuwendung des Partners und des-
in Bezug zum Schmerz versuchen, scheinen sich sen diesbezügliche Besorgtheit bei Männern das
in der Tat zur interindividuellen Varianzaufklä- Schmerzerleben und -verhalten verstärkt. Frauen
rung bei Frauen und Männern gut zu eignen. bleiben hingegen von den partnerschaftlichen
Mit dem Gender-role-expectation-of-pain-Frage- Reaktionen weitgehend unbeeindruckt, wenn sie
bogen konnten Myers et al. (2003) beispielsweise Schmerzen haben (Fillingim et al. 2003).
eine Reihe von experimentellen Schmerzmaßen
besser vorhersagen als mit dem biologischen Ge-
schlecht. Das Geschlechterrollen-Inventar konnte 11.4 Klinische Implikationen
11 die Geschlechtsunterschiede aber nicht vollständig
erklären. Es ist sicherlich zu früh, geschlechtsspezifische
Situationsunspezifische Rollenerwartungen eig- Formen der Schmerzbehandlung schon jetzt zu
nen sich zur Vorhersage von Geschlechtsunter- fordern. Hierfür ist das verfügbare Wissen noch
schieden in der Schmerzverarbeitung weniger und zu wenig belastbar. Trotzdem ist eine Optimie-
scheinen ihrerseits vom biologischen Geschlecht rung der Schmerzbehandlung in Zukunft nur bei
in ihrer Wirkung abzuhängen. Otto und Dougher Berücksichtigung des Faktors Geschlecht vorstell-
(1985) errechneten eine signifikante Korrelation bar. Hier sei nochmals an die Unterschiede in
zwischen den Maskulinität/Feminität-Werten ih- der Wirksamkeit von Opiatanalgetika erinnert
rer Versuchspersonen und deren Schmerzschwel- (Fillingim u. Gear 2004). Eine sehr interessante
len. Dieser Zusammenhang galt nur für Männern, Perspektive ergibt sich auch durch neuere Veröf-
nicht aber für Frauen. Den üblichen Geschlechts- fentlichungen, in denen die Effekte multimodaler
unterschied zwischen Männern und Frauen in den Programme zur Behandlung chronischer Schmer-
Schmerzschwellen konnte dieser Zusammenhang zen präsentiert werden. Zum einen scheinen die
wiederum nicht vollständig erklären. zeitliche Stabilität von Effekten geschlechtsspe-
Es gilt in diesem Zusammenhang nicht nur zifisch zu variieren (Keogh et al. 2005), zum
die Geschlechterrolle des Probanden/Patienten, anderen die Prädiktoren für eine erfolgreiche
sondern auch die des Untersuchers zu berücksich- Behandlung zwischen Frauen und Männern zu
tigen. In einer Studie von Levine und De Simone differieren (Edwards et al. 2003). So war Angst
(1991) waren die Untersucher aufgefordert, sich bei Männern ein positiver Prädiktor, bei Frauen
nach Geschlechterrollen stereotypisch zu kleiden hingegen ein negativer, was sicherlich die Berück-
und zu verhalten. In dieser Situation gaben die sichtigung dieser Emotion in einem Behandlungs-
männlichen Versuchspersonen signifikant niedri- programm wiederum zur Frage des Geschlechts
gere Schmerzbeurteilungen im Eiswassertest ab, machen sollte.
Literatur
207 11
Fazit
Frauen leiden häufiger und intensiver unter Es macht jedoch keinen Sinn, in diesem Zusam-
Schmerzen; zudem erweisen sie sich auch als menhang an konkurrierende Erklärungsansätze
schmerzempfindlicher. Diese Unterschiede sind zu denken. Es gilt vielmehr, die Interaktion
eindeutig vorhanden, aber nicht dramatisch. zwischen den verschiedenen Wirkungsmecha-
Das Gemeinsame zwischen den Geschlech- nismen zu untersuchen. Beispielsweise ist es
tern ist meist größer als das Trennende. Es besser, Geschlechtshormone und Geschlechter-
gibt mehrere Wirkungsmechanismen, die sich rollen nicht als sich ausschließende Konzepte
der psychosozialen und neurobiologischen anzusehen, sondern stattdessen ihre Interaktion
Beschreibungsebene zuordnen lassen, die die in der Verursachung von Geschlechtsunter-
beschriebenen Geschlechtsunterschiede in der schieden in der Schmerzverarbeitung zu unter-
Schmerzverarbeitung zum Teil erklären können. suchen.

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Pain 19:233–239
III

III Erkrankungen des ZNS

Kapitel 12 Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung


psychischer Störungen – 211
Wolfgang Ihle, Manfred Laucht, Martin H. Schmidt, Günter Esser

Kapitel 13 Ursachen der Geschlechtsunterschiede


in der Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitäts-Störung – 223
Kerstin Konrad, Thomas Günther

Kapitel 14 Sind nur Frauen essgestört? – 241


Reinhold G. Laessle

Kapitel 15 Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine


Erkrankung – 249
Norbert Sommer

Kapitel 16 Geschlechtsspezifische Faktoren bei


hirnschädigenden Ereignissen – 269
Helmut Vedder

Kapitel 17 Demenz bei Frauen und Männern:


das gleiche Problem? – 283
Miriam Kunz, Stefan Lautenbacher

Kapitel 18 Die Rolle von Geschlecht und Gehirn


bei Schizophrenie – 297
Heinz Häfner

Kapitel 19 Warum leiden mehr Frauen unter Depression? – 331


Christine Kühner
12

Geschlechtsunterschiede in der
Entwicklung psychischer Störungen
Wolfgang Ihle, Manfred Laucht, Martin H. Schmidt, Günter Esser

12.1 Einführung – 212

12.2 Die Mannheimer Längsschnittstudien – 213

12.3 Geschlechtsunterschiede in der Gesamtprävalenz und störungsspezifischen


Prävalenz psychischer Störungen – 213
12.3.1 Unterschiede im Säuglingsalter (Risikokinderstudie, 3 Monate) – 214
12.3.2 Unterschiede im Kleinkindalter (Risikokinderstudie, 2 Jahre) – 214
12.3.3 Unterschiede im Vorschulalter (Risikokinderstudie, 4;6 Jahre) – 215
12.3.4 Unterschiede im Grundschulalter (Kurpfalzerhebung und
Risikokinderstudie, 8 Jahre) – 215
12.3.5 Unterschiede in der Adoleszenz (Kurpfalzerhebung, 13 Jahre) – 216
12.3.6 Unterschiede am Ende des Jugendalters (Kurpfalzerhebung, 18 Jahre) – 216
12.3.7 Unterschiede im frühen Erwachsenenalter (Kurpfalzerhebung, 25 Jahre) – 216

12.4 Geschlechtsunterschiede in der Stabilität psychischer Auffälligkeiten – 217

12.5 Geschlechtsspezifische Wirkung von Risikofaktoren – 218

12.6 Altersübergreifende Darstellung – 218

Literatur – 221
212 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

12.1 Einführung nisse zu den geschlechtsspezifischen Prävalenzra-


ten der wichtigsten psychischen Störungen sind in
Geschlechtsunterschiede bezüglich verschiedener ⊡ Abb. 12.1 dargestellt.
Diagnosen psychischer Störungen des Erwach- 33,2% der Frauen und 21,7% der Männer wie-
senenalters sind seit langem bekannt und sind sen mindestens eine Störung im letzten Jahr auf
z. B. auch im DSM-IV dokumentiert (Hartung u. (Geschlechtsverhältnis Frauen : Männer = 1,5:1),
Widiger 1998). So gilt als unstrittig, dass Frauen wobei alle Störungsgruppen außer psychotischen
und auch bereits weibliche Jugendliche eine we- Störungen (keine Geschlechtsunterschiede) und
sentlich höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, an Störungen durch Substanzgebrauch (Geschlechts-
einer depressiven Störung, einer Angststörung, verhältnis Frauen : Männer = 1:4,3) bei Frauen
einer somatoformen Störung oder einer Essstö- mindestens doppelt so häufig wie bei Männern
rung zu erkranken (Attie u. Brooks-Gunn 1995; auftraten. Die Ergebnisse von Wittchen und Jacobi
Cicchetti u. Toth 1995; Ihle et al. 2000, Kessler et (2005) bestätigen damit die bisherigen Befunde des
al. 1994; Weissman et al. 1991). Dissoziale Persön- Erwachsenenalters (z. B. Kroenke u. Spitzer 1998)
lichkeitsstörungen stärkerer Ausprägung und auch in eindrucksvoller Form.
Störungen durch Substanzgebrauch sind dagegen Uneindeutiger und auch weniger gut unter-
vor allem bei Männern anzutreffen (Dishion et al. sucht sind hingegen Geschlechtsunterschiede psy-
1995; Ihle et al. 2000). chischer Störungen des Kindes- und Jugendalters
In einer aktuellen Übersichtsarbeit zur Prä- (Ihle u. Esser 2002). In der vorliegenden Arbeit wird
valenz psychischer Störungen in Europa stellen der Versuch unternommen, anhand von zwei eige-
Wittchen und Jacobi (2005) die Ergebnisse von nen Längschnittstudien, die die Entwicklung von
27 Studien in 16 verschiedenen europäischen Län- der Geburt bis zum Alter von 25 Jahren abdecken,
dern vor. In diesen Studien waren über 150.000 Geschlechtsunterschiede psychischer Störungen zu
Erwachsene (18–65 Jahre) einbezogen. Die Ergeb- dokumentieren, auf unterschiedliche Verläufe ein-

12
0,2 Frauen Männer
Essstörungen
0,5
2,6
Psychotische Störungen
2,5
5,6
Stör. Substanzgebrauch
1,3
6,1
Affektive Störungen
12,2
7,1
Somatoforme Störungen
15
7,8
Angststörungen
16,3

0 3 6 9 12 15 18
Prävalenzrate (%)

⊡ Abb. 12.1. Geschlechtsspezifische 12-Monats-Prävalenzraten psychischer Störungen im Erwachsenenalter. (Nach Wittchen u.


Jacobi 2005)
12.3 · Geschlechtsunterschiede in der Gesamtprävalenz
213 12

zugehen sowie die Frage der geschlechtsspezifisch des Geschlechts ausbalanciert waren. In der vorlie-
unterschiedlichen Bedeutung von Risikofaktoren genden Übersicht wurden die Ergebnisse der ers-
anzusprechen. In beiden Studien wurden psychi- ten vier (3 Monate, 2 Jahre, 4½ Jahre und 8 Jahre)
sche Störungen mit einer jeweils altersangepassten, Erhebungswellen einbezogen. In dieser Studie kam
aber insgesamt einheitlichen Methodik über den ebenfalls ein umfangreiches Instrumentarium (El-
gesamten Zeitraum erfasst. Die einbezogenen Stu- tern-Interview, Fragebogen- und Beobachtungs-
dien werden im Folgenden kurz vorgestellt. verfahren, EEG und Leistungstestbatterie, Mikro-
analyse der Eltern-Kind-Interaktion) zu jedem der
Messzeitpunkte zum Einsatz.
12.2 Die Mannheimer Längsschnittstudien Die Mannheimer Kurpfalzerhebung wird u. a.
in Blanz et al. (1991) und Esser et al. (1990, 2000),
Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse ent- die Mannheimer Risikokinderstudie in Laucht et
stammen den Mannheimer Längsschnittstudien, al. (1997, 2000a, b) ausführlich dargestellt.
die am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
durchgeführt wurden und werden. Dabei handelt
es sich um die bisher einzigen bundesdeutschen 12.3 Geschlechtsunterschiede
Studien, die die Entwicklung vom Kindes- bis zum in der Gesamtprävalenz und
Erwachsenenalter untersuchen konnten. störungsspezifischen Prävalenz
Die erste Studie (Mannheimer Kurpfalzerhe- psychischer Störungen
bung) ist epidemiologisch angelegt und beglei-
tete eine Ausgangsstichprobe von 399 achtjährigen In ⊡ Abb. 12.2 sind die Geschlechtsverhältnisse in
Mannheimer Kindern über vier Erhebungswellen Bezug auf die Gesamtprävalenz psychischer Stö-
bis zum Alter von 25 Jahren. Die Studie befasste rungen vom Säuglings- bis zum frühen Erwachse-
sich u. a. mit der Prävalenz und dem Verlauf psy- nenalter dargestellt.
chischer Störungen und umschriebener Entwick- Vom Kleinkindalter (2 Jahre) bis zur Frühado-
lungsstörungen. Hierbei kam zu jedem Messzeit- leszenz (13 Jahre) zeigten sich durchweg höhere
punkt (8, 13, 18 und 25 Jahre) ein umfangreiches Raten psychischer Störungen bei Jungen, wohin-
Instrumentarium (Eltern- und Probanden-Inter- gegen im Säuglingsalter und im späten Jugend-
view, Fragebogen und Beobachtungsverfahren, bei alter/frühen Erwachsenenalter keine Geschlechts-
den ersten beiden Wellen zusätzlich EEG, Neurolo- unterschiede in der Gesamtprävalenz festzustellen
gie und Leistungstestbatterie) zum Einsatz. sind. Diese Befunde stimmen mit den Ergebnissen
Die zweite Studie (Mannheimer Risikokinder- der Dunedin Study, der derzeit weltweit wichtigs-
studie) ist ebenfalls als prospektive Längsschnitts- ten Längsschnittstudie (u. a. Anderson et al. 1987;
studie angelegt. Die Studie begleitet eine systema- McGee et al. 1990; Feehan et al. 1994; Newman et
tisch ausgewählte Kohorte von Kindern in ihrer al. 1996) überein, die bis zum Alter von 11 Jah-
Entwicklung von der Geburt bis ins Jugendalter. ren höhere Raten bei Jungen finden (Geschlechts-
Die Ausgangsstichprobe umfasste 384 erstgeborene verhältnis 1,7:1), nicht jedoch im Alter von 15
Kinder. Als Risikofaktoren wurden organische Be- (Geschlechtsverhältnis 0,7:1), 18 (Geschlechtsver-
lastungen (prä- und perinatale Komplikationen) hältnis 0,8:1) und 21 Jahren (Geschlechtsverhältnis
und psychosoziale Belastungen (bei Geburt be- 0,9:1). Sowohl in der Dunedin Study als auch der
stehende ungünstige familiäre Lebensverhältnisse) Mannheimer Kurpfalzerhebung sind die für das
erfasst. Beide Risiken wurden in drei Ausprägungs- Erwachsenenalter ansonsten berichteten deutlich
stufen von keiner bis schwerer Belastung unterteilt erhöhten Raten für Frauen nicht bestätigt worden.
und in einem zweifaktoriellen (3×3) Versuchsplan Dies ist darauf zurückzuführen, dass in beiden
vollständig miteinander kombiniert. Bei der Zu- Studien mit dissozial-aggressiven Störungen und
ordnung der Kinder auf die resultierenden neun Persönlichkeitsstörungen Störungsgruppen be-
Zellen des Designs wurde so verfahren, dass alle rücksichtigt wurden, bei denen bei Männern er-
Gruppen annähernd gleich groß und hinsichtlich höhte Raten gefunden werden und die in anderen
214 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

2,5 Jungen (%)/Mädchen (%)


Psychische Störungen (Relatives Risiko)

2,2

1,6 1,7
1,5
1,4 1,2
1
0,9
0,8
0,5

0
3 Monate 2 Jahre 4 ½ Jahre 8 Jahre 13 Jahre 18 Jahre 25 Jahre

Alter

⊡ Abb. 12.2. Geschlechtsverhältnis in Bezug auf die Gesamtprävalenzraten psychischer Störungen vom Säuglings- bis zum
frühen Erwachsenenalter (Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudien)

epidemiologischen Studien des Erwachsenenalters phorisches Verhalten, Veränderungsangst, Kontak-


nicht erfasst werden. tangst, verminderte Belastbarkeit zeigte absolut
Im Folgenden gehen wir auf die Geschlechts- numerisch ebenfalls ein uneinheitliches Bild. Im
unterschiede der Gesamtprävalenz und der stö- Säuglingsalter weisen Jungen signifikant häufiger
12 rungsspezifischen Prävalenz (Diagnose- und Sym- Verdauungsstörungen (Dreimonatskoliken, 43%
ptomebene) vom Säuglings- bis zum frühen Er- versus 31%) auf. Auch hinsichtlich des motori-
wachsenenalter ein. schen und kognitiven Entwicklungsstandes fanden
sich keine signifikanten Unterschiede zwischen
Mädchen und Jungen.
12.3.1 Unterschiede im Säuglingsalter
(Risikokinderstudie, 3 Monate)
12.3.2 Unterschiede im Kleinkindalter
Im Bezug auf das Säuglingsalter sind Begriffe wie (Risikokinderstudie, 2 Jahre)
»Psychopathologie«, oder »psychische Störungen«
zu Recht in Frage gestellt worden. Der weitge- Die im Säuglingsalter (noch) nicht beobachtbaren
hend andere Charakter der Auffälligkeiten und Geschlechtsunterschiede zeigten sich in der erwar-
ihre niedrige Persistenz (Laucht et al. 1993) führten teten Richtung bereits nachdrücklich im Klein-
zur Favorisierung von Begriffen wie Regulations- kindalter. Jungen zeigten insgesamt häufiger psy-
probleme oder Temperamentsauffälligkeiten. Ein chische Auffälligkeiten (24% versus15%) und dies
Geschlechtsvergleich im Säuglingsalter hinsicht- insbesondere im Bereich hyperkinetischer Störun-
lich schwerwiegenderer Probleme der beschriebe- gen (10% versus 3%) und autistischen Verhaltens
nen Art zeigte keine signifikanten Unterschiede (5% versus 2%). Keine signifikanten Unterschiede
mit einer tendenziell höheren Auffälligkeitsrate bei ergaben sich im Bezug auf oppositionelles Verhal-
den Mädchen (17% versus 13%). Die Verteilung ten und Ängste. Auf Symptomebene zeigten die
der einzelnen Auffälligkeiten wie Fütterstörungen, Mädchen häufiger Bauchschmerzen (10% versus
Schlafstörungen, hypermotorisches Verhalten, dys- 2%), Nägelkauen (3% versus 0%) und Kontaktstö-
12.3 · Geschlechtsunterschiede in der Gesamtprävalenz
215 12

rungen (29% versus 19%). Die eher funktionellen Die kognitiven Leistungen der Mädchen waren
Bauchschmerzen der Mädchen im Kleinkindalter insgesamt signifikant besser. Obwohl die absoluten
sind nicht mit den häufigeren Dreimonatskoliken numerische Differenzen nur 5 IQ-Punkte betru-
der Jungen vergleichbar. Es liegt hier keine bemer- gen, zogen sich die Unterschiede durch faktisch
kenswerte Umkehr der Geschlechter vor. Jungen alle gemessenen Teilbereiche, waren also nicht wie
waren wie aufgrund der höheren Prävalenz hyper- im Alter von 2 Jahren auf die verbalen Leistungen
kinetischer Störungen zu erwarten, deutlich un- beschränkt. Auch bei der nonverbalen Intelligenz,
aufmerksamer (36% versus 16%), impulsiver (17% der Visuomotorik und tendenziell der Mengen-
versus 5%) und hyperaktiver (29% versus 15%). wahrnehmung (eine Vorstufe mathematischen
In 17 weiteren erfassten Einzelsymptomen waren Denkens) schnitten die Mädchen besser ab. Deutli-
keine signifikanten Geschlechtsunterschiede fest- che Vorteile der Mädchen zeigten sich auch in den
zustellen. sozialen Anpassungsleistungen (Funktionsniveau).
Während sich bezüglich des motorischen Ent- Mädchen hatten bessere Beziehungen zu Gleich-
wicklungsstandes keine Geschlechtsunterschiede altrigen, waren selbstständiger und betrieben an-
zeigten, hatten Mädchen einen deutlichen Vor- spruchsvollere Freizeitaktivitäten.
sprung in kognitiven Parametern. Dieser Vorsprung
war vor allem auf eine bessere Sprachentwicklung
zurückzuführen, während im nonverbalen Bereich 12.3.4 Unterschiede im Grundschul-
die Unterschiede nicht signifikant waren. alter (Kurpfalzerhebung und
Risikokinderstudie, 8 Jahre)

12.3.3 Unterschiede im Vorschulalter Die Raten psychischer Störungen waren in der


(Risikokinderstudie, 4;6 Jahre) Risikokinderstudie unter den Achtjährigen bei
Jungen (34%) erneut signifikant höher als bei
Die Gesamtrate der psychischen Auffälligkeiten Mädchen (24%). Bei insgesamt niedrigeren Raten
in diesem Alter spiegelte relativ genau die Ge- in der Repräsentativstichprobe (der Kurpfalzer-
schlechtsverhältnisse im Alter von 2 Jahren wi- hebung) fiel das Geschlechtsverhältnis noch deut-
der. 33% auffälligen Jungen standen 23% auffällige licher zu ungunsten der Jungen aus (22% versus
Mädchen gegenüber. Erneut zeigten sich signifi- 10%). Die Daten aus der Repräsentativstichprobe
kante Differenzen für die Diagnosen hyperkineti- bilden dabei die »wahren« Verhältnisse realisti-
sches Syndrom (14% versus 5%) und autistisches scher ab als die Ergebnisse aus der Risikokinder-
Verhalten (4% versus 1%), während sich bezüglich studie. Erneut sind die Diagnosen hyperkinetisches
oppositionellen Verhaltens (7% versus 9%) und Syndrom (Verhältnis männlich zu weiblich = 8:1)
emotionaler Störungen (7% versus 7%) ausgegli- und Störung des Sozialverhaltens (4:1) für den Ge-
chene Geschlechtsverhältnisse ergaben. schlechtsunterschied verantwortlich, während sich
Auf Symptomebene bestätigten sich die Ge- keine signifikanten Unterschiede im Bereich emo-
schlechtsdifferenzen für Bauchschmerzen (13% tionaler und anderer Störungen fanden. Auf Sym-
versus 4%) und Stereotypien (Nägelkauen, Dau- ptomebene zeigten sich höhere Raten der Jungen
menlutschen etc., 35% versus 24%) zu Lasten der für Aufmerksamkeitsstörungen (24% versus 10%),
Mädchen sowie für die Einzelsymptome des hy- Leistungs- (13% versus 7%) und Disziplinstörun-
perkinetischen Syndroms (Hyperaktivität, Auf- gen in der Schule (5% versus 1%), Wutanfälle (21%
merksamkeitsstörung, Impulsivität) zu Lasten der versus 4%), Zerstörung fremden Eigentums (5%
Jungen. Hinzu kamen signifikante Geschlechtsun- versus 0%) sowie Kontaktstörungen (20% versus
terschiede zu Lasten der Jungen bei destruktivem 8%), Stereotypien (11% versus 5%) und Enkopresis
und aggressivem Verhalten (12% versus 3%). In 20 (5% versus 0%).
weiteren erfassten Symptomen zeigten sich keine Mit der eindeutig höheren Psychopathologie
signifikanten Unterschiede zwischen Mädchen der Jungen korrespondiert ein Vorsprung der Mäd-
und Jungen. chen in den sozialen Anpassungsleistungen (Funk-
216 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

tionsniveau). Erneut hatten Mädchen bessere Be- wobei seltenere Störungen wie Anorexia ner-
ziehungen zu Gleichaltrigen, waren selbstständiger vosa oder Schizophrenie in einer Feldstichprobe
und betrieben anspruchsvollere Freizeitaktivitäten. nicht häufig genug auftreten, um signifikante Ge-
Dagegen zeigten sich in beiden Untersuchungen schlechtsunterschiede aufzeigen zu können. Auf
keinerlei Intelligenzunterschiede zwischen Mäd- Symptomebene zeigten Mädchen häufiger ausge-
chen und Jungen. Unterschiede ergaben sich im prägte Kopfschmerzen (11% versus 5%) mager-
Hinblick auf einzelne Teilleistungen und schulleis- süchtiges Verhalten (4% versus 0%) und depressive
tungsbezogene Fertigkeiten. So hatten die Mäd- Verstimmungen (28% versus 16%), Jungen zeig-
chen Vorteile im Rechtschreiben und Lesen, die ten häufiger Alkoholmissbrauch (14% versus 1%),
Jungen im Rechnen. Gebrauch illegaler Substanzen (13% versus 1%),
Aggressivität gegen andere mit Körperverletzung
(13% versus 1%) und Hyperaktivität (15% ver-
12.3.5 Unterschiede in der Adoleszenz sus 6%). Während sich bezüglich des Schulerfolgs
(Kurpfalzerhebung, 13 Jahre) keine signifikanten Differenzen ergaben, zeigten
Mädchen einen insgesamt höheren Reifeindex, der
Entgegen klinischen Erfahrungen hatten die Jun- sich jedoch allein auf den Bereich Partnerschaft
gen auch im Alter von 13 Jahren noch einen abso- (stabile Partnerbeziehung, Integration von Eros
lut numerischen Vorsprung (22% versus 13%) in und Sexus) zurückführen ließ.
der Gesamtrate der psychischen Störungen. Diese
Differenz verfehlte allerdings knapp das statisti-
sche Signifikanzniveau, lediglich in der Diagnose 12.3.7 Unterschiede im frühen
hyperkinetischer Störungen (5% versus 0%) erga- Erwachsenenalter
ben sich noch statistisch bedeutsame Unterschiede, (Kurpfalzerhebung, 25 Jahre)
die sich auch in höheren Symptomhäufigkeiten für
Ablenkbarkeit (26% versus 12%) und Hyperakti- Für die Gesamtrate psychischer Störungen ergab
vität (25% versus 7%) dokumentieren. Mädchen sich kein signifikanter Geschlechtsunterschied bei
12 zeigten häufiger Durchschlafstörungen (6% versus den jungen Erwachsenen (Männer 20%, Frauen
2%) und Enuresis (5% versus 1%). 17%). Die jungen Männer unserer Stichprobe zeig-
Obwohl sich die Geschlechtsunterschiede be- ten jedoch tendenziell schwerere Formen psychi-
züglich der allgemeinen Intelligenz und auch der scher Störungen mit dringender Behandlungsbe-
meisten spezifischen Teilleistungen im Grund- dürftigkeit und wiesen eine erhöhte Wahrschein-
schulalter weitgehend nivelliert hatten, traten ent- lichkeit für komorbide Störungen auf. Deutliche
sprechende Differenzen in der Adoleszenz wie- Geschlechtsunterschiede zeigten sich bei externali-
der zu Tage. Absolut numerisch waren die Unter- sierenden versus internalisierenden Störungen. Das
schiede zu Lasten der Jungen (4 IQ-Punkte) zwar Frauen-Männer-Verhältnis bei internalisierenden
nicht sehr groß, sie zogen sich jedoch konsistent Störungen beträgt 2,9:1, bei den externalisierenden
durch zahlreiche Einzeltests (z. B. Kreativität, kog- Störungen des frühen Erwachsenenalters hinge-
nitive Reflexivität, Visuomotorik). gen 1:4,7. Während die jungen Männer signifikant
häufiger Störungen durch Substanzgebrauch (6%
versus 0%) und Störungen des Sozialverhaltens
12.3.6 Unterschiede am Ende des (7% versus 2%) zeigten, dominierten die jungen
Jugendalters (Kurpfalzerhebung, Frauen im Bereich emotionaler Störungen (8%
18 Jahre) versus 1%), keine Unterschiede ergaben sich für
Persönlichkeitsstörungen. Auf der Symptomebene
Die Gesamtrate psychischer Störungen war am fand sich eine höhere Symptombelastung der jun-
Ende des Jugendalters ausgeglichen (Jungen: 15%, gen Frauen für Kopfschmerzen, Somatisierungs-
Mädchen: 17%), in keiner der erfassten Diagnose- symptome, Phobien, für die jungen Männer für
gruppen ergaben sich signifikante Unterschiede, Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperkinese, Alkohol
12.4 · Geschlechtsunterschiede in der Stabilität psychischer Auffälligkeiten
217 12

und Drogenmissbrauch sowie Aggressivität gegen Gesamt männlich weiblich


andere mit Körperverletzung. Bezüglich des Reife-
20 18,4
indexes konnten die Unterschiede zwischen Män-
18
ner und Frauen Ausgangs des Jugendalters exakt

Prävalenzraten in %
16 14,6
repliziert werden. 14
Diese Befunde stimmen mit einer Vielzahl an- 12
9,9
derer Studien überein, die höhere Raten von dis- 10
7,8
sozialen Störungen und Substanzmissbrauch bei 8 6,3
6 5,3
Männern, jedoch höhere Raten von Angststörun- 4,5 4,4
gen, depressiven Störungen und Somatisierungs- 4
2 0
störungen bei Frauen berichten (Hartung u. Widi-
0
ger 1998; Wittchen u. Perkonigg 1996). Das Wissen
passager chronisch persistent
über die Veränderung des Frauen-Männer-Ver- (1x) (2x) (mind. 3x)
hältnisses spezifischer psychischer Störungen im
Zeitverlauf ist bisher jedoch begrenzt und bedarf ⊡ Abb. 12.3. Verlaufstypen dissozial-aggressiver Störungen:
Geschlechtsspezifische Häufigkeiten. (Nach Ihle et al. 2005)
weiterer prospektiver Längsschnittstudien (Angold
u. Costello 1995).
Im Folgenden werden wir uns mit der Stabilität
psychischer Störungen sowie der geschlechtsspe- weiterhin psychisch auffällig, während dies für die
zifischen Wirkung von Risikofaktoren auseinan- entsprechenden Komplementärgruppen (emotio-
dersetzen. Da im vorliegenden Buch depressiven nal gestörte Jungen und dissoziale Mädchen) nur
Störungen ( Kap. 19) und hyperkinetischen Stö- für jeweils knapp 30% zutrifft. In ⊡ Abb. 12.3 sind
rungen ( Kap. 13) eigene Kapitel gewidmet sind, die unterschiedlichen Verlaufstypen aggressiv-dis-
werden wir uns im vorliegenden Beitrag auf Be- sozialer Störungen dargestellt.
funde zu den häufigsten psychischen Störungen Am häufigsten treten bei beiden Geschlech-
des Kindes- und Jugendalters (aggressiv-dissoziale tern passagere aggressiv-dissoziale Störungen auf.
Störungen und Angststörungen) beschränken. Diese nur zu einem Untersuchungszeitpunkt auf-
tretenden Störungen machen 60,1% (bei Männern
59,9%, bei Frauen 61,1%) der gesamten dissozial-
12.4 Geschlechtsunterschiede in der aggressiven Störungen aus. Zu mindestens zwei
Stabilität psychischer Auffälligkeiten Untersuchungszeitpunkten werden von 5,3% (%
(bei Männern 4,5%, bei Frauen 6,3%) der Gesamt-
Bezüglich der Stabilität der psychischen Auffäl- stichprobe die ICD-10-Kriterien dissozial-aggres-
ligkeiten (Vorliegen der Störung bei beiden Mess- siver Störungen erfüllt. Damit macht dieser chro-
zeitpunkten) waren entscheidende Geschlechtsun- nische Verlaufstyp 21,8% (bei Männern 14,6%, bei
terschiede lediglich im Jugendalter (zwischen 13 Frauen 38,9%) der gesamten dissozial-aggressiven
und 18 Jahren) festzustellen. Während bei Jun- Störungen aus. Persistente Störungen über mindes-
gen Disziplinschwierigkeiten in der Schule (76% tens 3 Untersuchungszeitpunkte treten nur beim
versus 0%), Alkoholmissbrauch (27% versus 8%) männlichen Geschlecht auf. Dieser ungünstigste
und Stehlen (28% versus 0%) eine höhere Persis- Verlaufstyp macht ingesamt 18,1% (bei Männern
tenz zeigten, waren bei Mädchen Kopfschmerzen sogar 25,3%) der gesamten dissozial-aggressiven
(73% versus 41%), Ängste (69% versus 29%) und Störungen aus. Auch in unserer Studie zeigte sich
depressive Verstimmungen (60% versus 34%) im demnach, dass die Entwicklungsprognose aggres-
Jugendalter stabiler. Dieser Befund reflektiert auch siv-dissozialer Störungen des Kindes- und Jugend-
die diagnosenspezifische Stabilität psychischer Stö- alters sehr ungünstig ist.
rungen in dieser Altersgruppe: jeweils 70% der Dieser Befund und der Geschlechtsunterschied
13-jährigen dissozialen Jungen und emotional in der Störungspersistenz (deutlich ungünstigerer
gestörten Mädchen sind im Alter von 18 Jahren Verlauf bei Jungen) stimmt mit den Ergebnissen
218 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

der wichtigsten amerikanischen Studien (Patterson, vier Lebensabschnitten in ihrer geschlechtsspezifi-


DeBaryshe u. Ramsey 1989; Loeber 1991) überein. schen Wirkung auf Angststörungen und Störungen
Persistente Störungen über mindestens drei Mess- des Sozialverhaltens bzw. Sucht des frühen Er-
zeitpunkte und damit mindestens 10 Jahre traten wachsenenalters (25 Jahre) betrachtet. Die Kinder
bei 4,4% unserer Gesamtstichprobe auf. Dieses bzw. Jugendlichen waren bei Eintritt der jeweiligen
Ergebnis bestätigt aktuelle Längsschnittstudien in Stressoren 0 bis 6, 6 bis 13, 13 bis 18, oder 18 bis
Kanada (Tremblay 2002), wonach 4% der Untersu- 25 Jahre alt. Zu den Stressoren zählten u. a. psy-
chungsteilnehmer von 3–15 Jahren ein stabil hohes chische oder schwere körperliche Erkrankungen
Aggressionsniveau zeigten. eines Elternteils, chronischer Streit zwischen den
Eltern, eine längere Trennung von einem Eltern-
teil, chronische Belastungen wie Arbeitslosigkeit
12.5 Geschlechtsspezifische Wirkung eines Elternteils oder beengte Wohnverhältnisse,
von Risikofaktoren Vernachlässigung des Kindes, Verlust wichtiger
Freunde oder anderer Bezugspersonen.
Für die Ursachen der Geschlechtsunterschiede im Wie ⊡ Abb. 12.4 und ⊡ Abb. 12.5 zeigen, er-
Erwachsenenalter existieren in der Literatur ver- klären bei jungen Männern für beide Diagnose-
schiedene psychosoziale, biologische und sozial- gruppen die Stressoren der frühen und mittleren
wissenschaftliche Erklärungsansätze (Kämmerer Kindheit vergleichsweise große Varianzanteile,
2001; Riecher-Rössler u. Bitzer 2004): während bei jungen Frauen Stressoren aus diesen
▬ Die psychosozialen Erklärungen berücksich- Lebensabschnitten relativ unbedeutend sind. Bei
tigen u. a. die geschlechtsspezifischen Wahr- Frauen sind eher Stressoren des Jugend- und frü-
nehmungs- und Verhaltensmuster. Das betrifft hen Erwachsenenalters geeignet, spätere Störungen
z. B. das erlernte Rollenverhalten oder das un- aufzuklären. Dies sind Befunde, für die Replikati-
terschiedliche Körperbewusstsein von Män- onen noch ausstehen, die aber möglicherweise in-
nern und Frauen. teressante Ansatzpunkte für geschlechtsspezifische
▬ Als biologische Erklärungsfaktoren werden Prävention psychischer Störungen bieten könnten.
12 u. a. die genetische Disposition sowie auch
physiologische und hormonelle Regulations-
mechanismen aufgeführt. 12.6 Altersübergreifende Darstellung
▬ Die sozialwissenschaftlichen Erklärungsan-
sätze berücksichtigen die spezifischen Lebens- Bei der störungsspezifischen Betrachtungsweise
bedingungen und Partizipationschancen von zeigen sich bei Jungen durchgehend höhere Raten
Frauen und Männern. Diese beziehen u. a. die von hyperkinetischen Störungen, dissozial-aggressi-
unterschiedlichen Erfahrungen in den Berei- ven Störungen, Störungen durch Substanzgebrauch
chen Schule, Ausbildung, Arbeitsmarkt und sowie monosymptomatischen Störungen wie Tics
Familie ebenso wie im Gesundheitswesen mit und Enkopresis, während Mädchen höhere Raten
ein. von Essstörungen und psychosomatischen Stö-
rungen aufweisen. Keine Geschlechtsunterschiede
Jungen gelten allgemein als vulnerabler, also anfäl- zeigen sich in der Häufigkeit psychotischer Stö-
liger gegen Stressfaktoren als Mädchen. Dieser Be- rungen. Ein differenziertes Bild zeigt sich für de-
fund lässt sich bereits aus den höheren Prävalenz- pressive Störungen und Angststörungen. Während
raten psychischer Störungen bei Jungen im Vor- depressive Störungen im späten Jugendalter und
schul- und Grundschulalter (bei gleicher Belastung frühen Erwachsenenalter doppelt so häufig beim
mit psychosozialen Stressoren beider Geschlechter) weiblichen Geschlecht vorkommen, treten diese im
ableiten. Aufschlussreicher sind daher Analysen, Schulalter häufiger bei Jungen auf. Dies erklärt sich
die die Wirkung von Stressoren unterschiedlicher vor allem durch eine Abnahme internalisierender
Lebensabschnitte auf beide Geschlechter thema- Störungen bei Jungen und einer gleichzeitigen Zu-
tisieren. Im Folgenden wurden die Stressoren aus nahme bei den Mädchen (Ihle et al. 2000).
12.6 · Altersübergreifende Darstellung
219 12

Männer: 25,9% erklärte Varianz Frauen: 15,6% erklärte Varianz

0-6 Jahre
15%
13-18 Jahre 18-25
27% Jahre
19%

0-6 Jahre 13-18 Jahre


23% 58%
6-13 Jahre
58%

0-6: Frühe Auffälligkeiten Kind 0-6: Frühe Auffälligkeiten Kind


6-8: Widrige fam. Bed. 8 J. 13-18: Individuumbez. Risiken 18 J.,
8-13: Widrige fam. Bed. 13 J. Risiken interpersonale
13-18: Individuumbez. Risiken 18 J., Beziehungen 18 J.
Risiken interpersonale 18-25: Lebensereignisse 18-25 J.
Beziehungen 18 J.

⊡ Abb. 12.4. Chronologische Betrachtung der Bedeutung von Risikofaktoren des Kindes- und Jugendalters für Angststörungen
im frühen Erwachsenenalter (Ergebnisse hierarchischer multipler Regressionsanalysen)

Männer: 32,6% erklärte Varianz Frauen: 21,6% erklärte Varianz

18-25 Jahre
13%
0-6 Jahre
25%

13-18 Jahre
27% 13-18 Jahre
100%

6-13 Jahre
35%

⊡ Abb. 12.5. Chronologische Betrachtung der Bedeutung von Risikofaktoren des Kindes- und Jugendalters für dissozial-ag-
gressive Störungen und Störungen durch Substanzgebrauch im frühen Erwachsenenalter (Ergebnisse hierarchischer multipler
Regressionsanalysen)
220 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

Nicht ganz so eindeutig stellt sich die Befund- eindruckend stellt sich in unserer Studie die Ver-
lage für Angststörungen dar: Jedoch gibt es auch änderung des Geschlechtsverhältnisses internali-
hier einige Belege, dass die im frühen Erwach- sierender und externalisierender Störungen dar.
senenalter gefundenen 2- bis 3-fachen Raten bei In ⊡ Abb. 12.6 und 12.7 sind die geschlechtsspezi-
Frauen im Jugendalter noch nicht in dieser Form fischen kumulierten Inzidenzraten der häufigsten
auftreten bzw. im Schulalter mindestens ebenso Störungen vom Grundschul- bis zum frühen Er-
häufig bei Jungen auftreten (Ihle et al. 2000). Be- wachsenenalter (Kurpfalzerhebung) dargestellt.

Depression Angst Dissozial-aggressiv Substanzmissbrauch


35
Kumulierte Inzidenzraten in %

30

25

20

15

10

0
8 Jahre 13 Jahre 18 Jahre 25 Jahre
Altersgruppen

⊡ Abb. 12.6. Kumulierte Inzidenzraten der häufigsten psychischen Störungen vom Grundschul- bis zum frühen Erwachsnenalter
12 (Jungen/Männer). (Nach Ihle et al. 2006)

Depression Angst Dissozial-aggressiv Substanzmissbrauch


18
16
Kumulierte Inzidenzraten in %

14
12
10
8
6
4
2
0
8 Jahre 13 Jahre 18 Jahre 25 Jahre
Altersgruppen

⊡ Abb. 12.7. Kumulierte Inzidenzraten der häufigsten psychischen Störungen vom Grundschul- bis zum frühen Erwachsenen-
alter (Mädchen/Frauen). (Nach Ihle et al. 2006)
Literatur
221 12

Während in Übereinstimmung mit ande- Literatur


ren Studien (u. a. Angold u. Worthman 1993) im
Grundschulalter und im frühen Jugendalter ten- Anderson JC, Williams S, McGee R, Silva PA (1987) DSM-III
disorders in preadolescent children. Archives of General
denziell die Jungen unserer Stichprobe höhere Ra-
Psychiatry 44:69–76
ten internalisierender Störungen zeigten, kehrte Angold A, Costello EJ (1995) Developmental epidemiology.
sich das Verhältnis im späten Jugendalter um. Epidemiologic Reviews 17:74–82
Während Angststörungen im Grundschul- und Angold A, Worthman, CW (1993) Puberty onset of gender
frühen Jugendalter die zweithäufigste Störungs- differences in rates of depression: a developmental, epi-
gruppe bei den Jungen darstellt, und damit zu demiologic and neuroendocrine perspective. Journal of
Affective Disorders 29:145–158
den häufigsten psychischen Störungen des Kindes- Angst J, Dobler-Mikola A (1985) The Zurich Study – V. Anxiety
und Jugendalters gehört (Bernstein et al. 1996), and phobia in young adults. European Archives of Psychi-
treten diese im Übergang zum Erwachsenenalter atry and Neurological Sciences 234:408–418
bei jungen Männern kaum auf. Im frühen Erwach- Attie I, Brooks-Gunn J (1995) The development of eating regu-
senenalter ergaben sich schließlich erstmals signi- lation across the life span. In: Cicchetti D, Cohen DJ (eds)
Developmental psychopathology: Risk, disorder, and ad-
fikant höhere Raten internalisierender Störungen aption, vol. 2, pp 332–368. Wiley & Sons, New York
bei den Frauen. Dies drückt sich in höheren Raten Bernstein GA, Borchardt CM, Perwien AR (1996) Anxiety dis-
von Angststörungen, depressiven Störungen und orders in children and adolescents: A review of the past
psychosomatischen Störungen aus und bestätigt 10 years. Journal of the American Academy of Child and
Befunde von Angst u. Dobler-Mikola (1985), Fich- Adolescent Psychiatry 35:1110–1119
Blanz, B, Schmidt, MH, Esser, G (1991) Familial adversities and
ter (1990), Kessler et al. (1994), Robins u. Regier
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(1991) und Wittchen et al. (1992). and Psychiatry 32:939–950
Ebenso eindrücklich sind die zeitlichen Verän- Cicchetti D, Toth SL (1995) Developmental psychopathology
derungen bei den externalisierenden Störungen. and disorders of affect. In: Cicchetti D, Cohen DJ (eds),
Während im Grundschulalter Jungen signifikant Developmental psychopathology: Risk, disorder, and ad-
aption, vol. 2, pp 369–420. Wiley & Sons, New York
häufiger diese Störungen zeigten, ergaben sich im
Dishion TJ, French DC, Patterson GR (1995) The development
Jugendalter keine signifikanten Geschlechtsunter- and ecology of antisocial behavior. In: Cicchetti D, Cohen
schiede. Im Übergang vom Jugend- zum Erwach- DJ (eds) Developmental psychopathology: Risk, disorder,
senenalter kam es hingegen zu einem hochsig- and adaption, vol. 2, pp 421–471. Wiley & Sons, New York
nifikanten Geschlechtseffekt. Dieser Unterschied Esser G, Schmidt MH, Woerner W (1990) Epidemiology and
course of psychiatric disorders in school-age children
kommt vor allem durch die starke Zunahme von
– Results of a longitudinal study. Journal of Child Psycho-
Störungen durch Substanzgebrauch und auch dis- logy and Psychiatry 31:243–263
sozialen Störungen bei den jungen Männern und Esser G, Ihle W, Schmidt MH, Blanz B (2000) Der Verlauf psy-
die Abnahme von dissozialen Störungen bei den chischer Störungen vom Kindes- zum Erwachsenenalter.
jungen Frauen zustande. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie
29:276–283
Fazit Feehan M, McGee R, NadaRaja S, Williams SM (1994) DSM-III-R
Psychische Störungen des Kindes- und Jugend- disorders in New Zealand 18-year-olds. Australian and
New Zealand Journal of Psychiatry 28:87–99
alters sind in hohem Maße geschlechtsab-
Fichter MM (1990) Verlauf psychischer Erkrankungen in der
hängig. Vom Kleinkindalter bis zum Alter von
Bevölkerung. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
13 Jahren werden fast durchgehend höhere Hartung CM, Widiger TA (1998) Gender differences in the dia-
Gesamtprävalenzraten bei Jungen gefunden, gnosis of mental disorders: conclusions and controversies
wogegen im Zuge der Adoleszenz eine An- of the DSM-IV. Psychological Bulletin 123:260–278
gleichung der Raten erfolgt. Häufig, jedoch Ihle W, Esser G (2002) Epidemiologie psychischer Störungen
nicht durchgehend, werden ab dem späten im Kindes- und Jugendalter. Prävalenz, Verlauf, Komor-
bidität und Geschlechtsunterschiede. Psychologische
Jugendalter höhere Gesamtraten bei den Mäd-
Rundschau 53:159–169
chen gefunden. Dieser Geschlechtsunterschied Ihle W, Esser G, Schmidt MH (2005) Aggressiv-dissoziale Stö-
verschwindet, wenn auch dissozial-aggressive rungen und rechtsextreme Einstellungen: Prävalenz, Ge-
Störungen in die Analysen einbezogen werden. schlechtsunterschiede, Verlauf und Risikofaktoren. Ver-
haltenstherapie und Verhaltensmedizin 26:81–101
222 Kapitel 12 · Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung psychischer Störungen

Ihle W, Esser G, Schmidt MH, Blanz B (2000) Prävalenz, Komor- Robins LN, Regier DA (1991) Psychiatric disorders in Ame-
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13

Ursachen der Geschlechtsunterschiede


in der Prävalenz der Aufmerksamkeits-
defizit-/Hyperaktivitäts-Störung
Kerstin Konrad, Thomas Günther

13.1 Klassifikation – 224

13.2 Epidemiologie – 226

13.3 Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Symptomatik,


Komorbidität und assoziierten klinischen Korrelaten – 227
13.3.1 Symptomatik – 227
13.3.2 Komorbidität – 228
13.3.3 Neuropsychologie – 229
13.3.4 Neurophysiologische und Bildgebungsbefunde – 229

13.4 Der Einfluss biologischer Faktoren – 230


13.4.1 Genetische Faktoren – 230
13.4.2 Prä-, peri- und postnatale Risikofaktoren – 231
13.4.3 Geschlechtsabhängige Hirnentwicklung – 231
13.4.4 Hormonelle Faktoren – 232

13.5 Implikationen für die Diagnostik – 232

13.6 Implikationen für die Behandlung – 234

13.7 Schlussfolgerungen – 235

Literatur – 237
224 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

> Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist die häufigste psychi-


sche Störung des Kindes- und Jugendalters. Sie ist gekennzeichnet durch ein situa-
tionsübergreifendes Verhaltensmuster von motorischer Unruhe, Unaufmerksamkeit
und Impulsivität, das mit klinisch bedeutsamen Beeinträchtigungen im sozialen, schu-
lischen oder beruflichen Funktionsbereich verbunden ist. Jungen sind etwa drei- bis
neunmal so häufig betroffen wie Mädchen (APA 1994). Die Symptomatik manifestiert
sich früh (vor dem 7. Lebensjahr) und zeigt bei ca. 20% der Patienten eine Persistenz im
Erwachsenenalter (Biederman et al. 1996). Während die motorische Hyperaktivität im
Laufe der Entwicklung abnimmt, dominieren die Aufmerksamkeitsstörung und Impul-
sivität das Krankheitsbild im Erwachsenenalter.
ADHS hat weit reichende Konsequenzen für die Entwicklung des Patienten. So weisen
die betroffenen Kinder in erheblichem Maße schulische Schwierigkeiten und Probleme
mit Gleichaltrigen auf (Merrell u. Tymms 2001). Im Erwachsenenalter besteht zudem
ein hohes Risiko für soziale Isolation, schwere Verkehrsunfälle, dissoziale Entwicklun-
gen und Drogenmissbrauch (Weiss u. Hechtman 1993).

13.1 Klassifikation

Diagnostische Kriterien der c) Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn an-


Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- dere ihn/sie ansprechen.
Störung nach DSM-IV d) Führt häufig Anweisungen anderer nicht
Die Klassifikationssysteme psychischer Störun- vollständig durch und kann Schularbeiten,
13 gen (ICD-10 und DSM IV) definieren das Auf- andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeits-
merksamkeitsdefizit-Syndrom als eine Störung platz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund
mit Beginn im Kleinkindalter, der Kindheit und oppositionellem Verhaltens oder Verständi-
Adoleszenz. Nach DSM-IV müssen für eine gungsschwierigkeiten).
ADHS-Diagnose entweder A1 und/oder A2 so- e) Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und
wie B, C, D E zutreffen. Aktivitäten zu organisieren.
▬ A1 Unaufmerksamkeit: Sechs (oder mehr) f ) Vermeidet häufig, oder hat eine Abneigung
der folgenden Symptome von Unaufmerk- gegen oder beschäftigt sich häufig nur wi-
samkeit sind während der letzten sechs derwillig mit Aufgaben, die länger dauernde
Monate in einem mit dem Entwicklungsstand geistige Anstrengungen erfordern (wie Mit-
des Kindes nicht zu vereinbarenden und un- arbeit im Unterricht oder Hausaufgaben).
angemessenen Ausmaß vorhanden gewesen: g) Verliert häufig Gegenstände, die für Aufga-
a) Beachtet häufig Einzelheiten nicht ben oder Aktivitäten benötigt werden (z. B.
oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bü-
Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei cher oder Werkzeug).
anderen Tätigkeiten. h) Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ab-
b) Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit lenken.
die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder i) Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
beim Spielen aufrechtzuerhalten. ▼
13.1 · Klassifikation
225 13

▬ A2 Hyperaktivität und Impulsivität: Sechs einer anderen psychotischen Störung auf und
(oder mehr) der folgenden Symptome der können auch nicht durch eine andere psy-
Hyperaktivität und Impulsivität sind während chische Störung besser erklärt werden (z. B.
der letzten sechs Monate beständig in einem affektive Störung, Angststörung, dissoziative
mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).
zu vereinbarenden und unangemessenen Aus-
maß vorhanden gewesen:
– Hyperaktivität Subtypen:
a) Zappelt häufig mit Händen oder Füssen ▬ TYP 1: Wenn die Kriterien A1 und A2 wäh-
oder rutscht auf dem Stuhl herum. rend der letzten sechs Monate erfüllt waren:
b) Steht in der Klasse oder in Situationen, in DSM-IV 314.01 (ICD-10 F90.00) Aufmerksam-
denen Sitzen bleiben erwartet wird, häu- keitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Misch-
fig auf. typus
c) Läuft herum oder klettert exzessiv in Situ- ▬ TYP 2: Wenn Kriterium A1, nicht aber Krite-
ationen, in denen dies unpassend ist (bei rium A2 während der letzten sechs Monate
Jugendlichen oder Erwachsenen kann erfüllt war: DSM-IV 314.00 (ICD-10 F98.8) Auf-
dies auf ein subjektives Unruhegefühl be- merksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung,
schränkt bleiben). Vorwiegend unaufmerksamer Typus
d) Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spie- ▬ TYP 3: Wenn Kriterium A2, nicht aber Krite-
len oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig rium A1 während der letzten sechs Monate
zu beschäftigen. erfüllt war: DSM-IV 314.01 (ICD-10 F90.1)
e) Ist häufig »auf Achse« oder handelt oft- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö-
mals, als wäre er/sie »getrieben«. rung, Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver
f ) Redet häufig übermäßig viel. Typus
– Impulsivität
g) Platzt häufig mit Antworten heraus, bevor
die Frage zu Ende gestellt ist Forschungskriterien des ICD-10
h) Kann nur schwer warten, bis er/sie an der (nach Schlottke u. Lauth 1996)
Reihe ist ▬ G1: Unaufmerksamkeit. Mindestens sechs
i) Unterbricht und stört andere häufig Monate lang mindestens sechs der folgenden
(platzt z. B. in Gespräche oder Spiele an- Symptome von Unaufmerksamkeit in einem
derer hinein) mit dem Entwicklungsalter des Kindes nicht
▬ B: Einige Symptome der Hyperaktivität-Im- zu vereinbarenden und unangemessenen
pulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beein- Ausmaß (Auswahl an Indikatoren):
trächtigungen verursachen, treten bereits vor 1. Unaufmerksamkeit gegenüber Details
dem Alter von sieben Jahren auf. oder Sorgfaltsfehler.
▬ C: Beeinträchtigungen durch diese Symptome 2. Aufmerksamkeit kann bei Aufgaben oder
zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z. B. in bei Spielen häufig nicht aufrechterhalten
der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause). werden.
▬ D: Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch 3. Hören scheinbar nicht, was ihnen gesagt
bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, wird.
schulischen oder beruflichen Funktionsberei- 4. Können oft Erklärungen nicht folgen.
chen vorhanden sein. 5. Können häufig Aufgaben und Aktivitäten
▬ E: Die Symptome treten nicht ausschließlich nicht organisieren.
im Verlauf einer so genannten tiefgreifenden 6. Vermeiden ungeliebte Arbeiten.
Entwicklungsstörung, einer Schizophrenie oder ▼
226 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

7. Verlieren häufig Gegenstände. einbarenden und unangemessenen Ausmaß


8. Werden häufig von externen Reizen ab- (Auswahl an Indikatoren):
gelenkt. 15. Häufig mit der Antwort herausplatze.
9. Sind im Verlauf alltäglicher Verrichtungen 16. Nicht warten können, bis sie an der Reihe
oft vergesslich. sind.
▬ G2: Überaktivität. Mindestens sechs Mo- 17. Andere häufig unterbrechen und stören.
nate lang mindestens drei der folgenden 18. Reden häufig exzessiv.
Symptome von Überaktivität in einem mit ▬ G4: Beginn vor dem 7. Lebensjahr.
dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu ▬ G5: Symptomausprägung. Die Kriterien soll-
vereinbarenden und unangemessenen Aus- ten in mehr als einer Situation erfüllt sein (der
maß (Auswahl an Indikatoren): Nachweis situationsübergreifender Symp-
10. Herumfuchteln mit Händen und Füßen. tome erfordert normalerweise Informationen
11. Platz im Klassenraum verlassen. von verschiedenen Bezugspersonen und
12. In unpassenden Situationen herumlaufen Datenquellen, Eltern, Lehrern, Schule).
oder extensiv klettern. ▬ G6: Die Symptome in G1–G3 verursachen ein
13. beim Spielen unnötig laut sein. deutliches Leiden oder Beeinträchtigungen
14. Trotz sozialer Einflussnahme ein anhal- der sozialen, schulischen oder beruflichen
tendes Muster extensiver motorischer Funktionsfähigkeit.
Unruhe an den Tag legen. ▬ G7: Die Störung erfüllt nicht die Kriterien
▬ G3 Impulsivität. Mindestens sechs Monate für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung
lang mindestens eines der folgenden Sym- (F84), diejenigen für eine manische Störung
ptome von Impulsivität in einem mit dem (F30), eine depressive Störung (F32) oder eine
Entwicklungsstand des Kindes nicht zu ver- Angststörung (F41) sind nicht erfüllt.

Den diagnostischen Leitlinien nach DSM-IV (Dia- unter »andere nicht näher bezeichnete Verhaltens-
gnostic and Statistical Manual of the American Psy- und emotionale Störung mit Beginn in der Kind-
13 chiatric Association 1994) und ICD-10 (Dilling et al. heit und Jugend« (F 98.8) verschlüsselt werden,
1993) ist gemeinsam, dass sie einen frühen Beginn da nach Meinung der WHO es zum Zeitpunkt der
der Symptomatik (vor dem 7. Lebensjahr) anneh- Entwicklung des ICD-10 noch zu wenige empiri-
men, die Symptome mindestens sechs Monate lang sche Befunde gab, die eine »reine« Aufmerksam-
und in einem für den Entwicklungsstand untypi- keitsstörung als eigenständige Kategorie rechtferti-
schen Ausmaß bestehen müssen und in mindestens gen würden (ICD-10, Dilling et al. 1991).
zwei Lebensbereichen (z. B. zu Hause und in der
Schule) auftreten sowie zu deutlichen und klinisch
relevanten Beeinträchtigungen in verschiedenen Le- 13.2 Epidemiologie
bensbereichen führen (Döpfner u. Lehmkuhl 2000).
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Prävalenz. Etwa 5–10% aller Kinder (Faraone et al.
amerikanischen und europäischen Klassifikations- 2003) und 4% der Erwachsenen (Biederman 2005)
system ist allerdings, dass im ICD-10 zwar auch zeigen Symptome im Sinne eines ADHS. Allerdings
zwischen Unaufmerksamkeit- und Hyperaktivität schwanken die Prävalenzraten in Abhängigkeit
als zwei verschiedenen Verhaltensausprägungen von der Art der untersuchten Stichprobe (Inan-
unterschieden wird; anders als im DSM-IV müssen spruchnahme-Populationen, bevölkerungsbasierte
jedoch sowohl Merkmale der Aufmerksamkeitsstö- Studien), der verwendeten diagnostischen Verfah-
rung als auch Symptomkriterien der Hyperaktivität ren (klinische Diagnose, Fragebogen, strukturierte
und Impulsivität erfüllt sein. Der unaufmerksame Interviews), einer adäquaten Berücksichtigung
Subtyp nach DSM-IV kann im ICD-10 bislang nur der Auswirkung auf das psychosoziale Funktions-
13.3 · Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Symptomatik, Komorbidität
227 13

niveau und des zugrunde liegenden Klassifikati- Mädchen seltener erkannt, nicht diagnostiziert
onssystems. Legt man eine bevölkerungsbasierte und möglicherweise auch seltener behandelt wird.
Stichprobe zugrunde, die mittels strukturierter Mögliche Ursachen für dieses Phänomen sollen
oder semistrukturierter Interviews entsprechend in diesem Kapitel deshalb ausführlich behandelt
der DSM-IV-Kriterien untersucht wurde, so er- werden. Aber auch in nicht-klinischen Stichproben
gibt sich in der Altersgruppe von 4–17 Jahren eine ist das Vorkommen von ADHS bei Jungen und
Prävalenz von 2–7%, bei Anwendung der strenger Mädchen nicht gleich häufig. Mögliche biologische
gefassten Kriterien nach ICD-10 eine von 1–2% und psychosoziale Erklärungsmodelle für die Jun-
(Buitelaar 2002). Nach Erhebungen im Rahmen genlastigkeit des ADHS-Syndroms sollen ebenfalls
des Kinder- und Jugendsurveys des Robert Koch- im Folgenden vorgestellt werden.
Instituts, Berlin, wurde in Deutschland für Kinder
und Jugendliche bis zum 17. Lebensjahr eine mitt-
lere Prävalenzrate von 3,9% ermittelt (Huss 2004). 13.3 Geschlechtsspezifische Unter-
schiede bezüglich Symptomatik,
Geschlechterverhältnis. Jungen sind häufiger be- Komorbidität und assoziierten
troffen als Mädchen. Bereits in den ersten Beschrei- klinischen Korrelaten
bung dieses Verhaltenssyndroms durch George Still
(1902) wurde die ausgeprägte Knabenlastigkeit 13.3.1 Symptomatik
erwähnt. In epidemiologischen Studien, die im
wesentlichen auf Inanspruchnahmepopulationen Lange Zeit dominierte das hyperaktive Symptom-
basierten, variierten die Angaben zum Geschlech- bild in den diagnostischen Klassifikationssyste-
terverhältnis zwischen 3:1 und 10:1 (Gaub u. Carl- men. So wurden die Symptome »zappelt«, »rennt
son 1997). Allerdings lassen neuere Studien Zwei- oder klettert permanent« oder »kann nicht auf dem
fel daran aufkommen, dass die Prävalenzrate der Stuhl sitzen bleiben« als klassische Kernsymptome
ADHS-Störung bei Jungen tatsächlich derart höher angesehen. Das häufigere Vorkommen der ADHS
ist. Populationsbasierte Studien weisen auf eine beim männlichen Geschlecht wurde entsprechend
geringere Diskrepanz im Vorkommen der ADHS darauf zurückgeführt, dass bei Jungen allgemein
bei Jungen und Mädchen hin als dies in klinischen die Verteilungskurven für die motorische Aktivität
Studien der Fall ist. In einer Fragebogenstudie mit im Vergleich zu Mädchen nach rechts verschoben
mehr als 10.000 Probanden berichteten Cuffe et al. sind. Mädchen mit ADHS zeichnen sich durch
(2005) von einem Verhältnis von Jungen zu Mäd- einen niedrigeren Schweregrad der hyperaktiv-im-
chen von ca. 2:1. Dies bedeutet, dass in klinischen pulsiven Symptomatik aus. Dieser Bias ist mögli-
Stichproben die Anzahl der Jungen bis zu 5-mal cherweise aufgrund des hohen Stellenwertes der
höher ist als in nicht-klinischen Populationen. hyperaktiv-impulsiven Symptomatik im ICD-10
Bemühungen, separate Prävalenzdaten für im europäischen Klassifikationssystem noch gra-
ADHS bei Mädchen in einer nicht-klinischen vierender als im DSM-IV.
Stichprobe zu bestimmen, führten zu geschätz- Das häufigere Vorkommen von hyperaktiv-im-
ten Lebenszeitprävalenzraten von insgesamt 9,9%, pulsiven Symptomen bei Jungen ist auch assoziiert
wobei 4% die DSM-IV-Kriterien des unaufmerk- mit einer erhöhten Rate an expansiven Störungen,
samen Subtyps, 2,2% des hyperaktiv-impulsiven wie dem oppositionellen Trotzverhalten oder einer
Subtyps und 3,7% die des kombinierten Subtyps Störung des Sozialverhaltens ( Kap. 13.3.2). Hier-
der ADHS erfüllten (Hudziak et al. 1998). bei gilt es ferner zu berücksichtigen, dass expansive
Es stellt sich die Frage, warum soviel weniger Verhaltensweisen in der Schule auffälliger sind als
Mädchen mit ADHS in klinischen Stichproben unaufmerksames Verhalten. Kinder die unruhig,
vorhanden sind. Da in den nicht-klinischen Stich- oppositionell oder aggressiv sind und dazwischen
proben die Prävalenzraten zwischen Jungen und rufen, stören durch ihr Verhalten den Unterricht
Mädchen nicht so stark voneinander abweichen, deutlich mehr und fallen eher auf als Kinder die
deutet sich hier eine Gefahr an, dass ADHS bei »nur« unaufmerksam sind. Daher werden Jungen
228 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

mit einem ADHS vermutlich häufiger und früher auffallen, da sie weniger hyperaktive und impulsive
diagnostisch abgeklärt und auch häufiger behan- Verhaltensweisen zeigen. Wenn Mädchen hyper-
delt als Mädchen. aktiv und impulsiv sind, dann wird ihr Verhalten
Dieser Überweiser-Bias ist auch bei anderen als weniger problematisch eingeschätzt. Unaufmerk-
Störungsbildern, wie z. B. der Legasthenie, beschrie- samkeitssymptome werden insgesamt als weniger
ben. Auch hier gibt es große Prävalenzunterschiede störend angesehen. Gute Aufmerksamkeitsprozesse
zwischen klinischen und nicht-klinischen Stichpro- sind jedoch essenziell um schulisch, beruflich und
ben (Shaywitz et al. 1990). In einer Studie mit einer im sozialen Bereich erfolgreich zu sein (Derryberry
nicht-klinischen Stichprobe konnte gezeigt werden, u. Rothbart 1997; Kochanska et al. 1997) und Defi-
dass Legasthenie bei Mädchen und Jungen mit Un- zite in diesen Bereichen gefährden die soziale und
aufmerksamkeitssymptomen des ADHS assoziiert kognitive Entwicklung der Kinder und Jugendli-
ist (Willcutt et al. 2005). Jedoch gibt es bei Jungen chen. Dies führt dazu, dass die Behandlungsbe-
auch einen deutlichen Zusammenhang mit den hy- dürftigkeit bei Mädchen, die lediglich unaufmerk-
peraktiven und impulsiven Symptomen. Aufgrund sam sind, weniger expansive Probleme haben und
dessen wird auch hier durch einen Überweiser-Bias aufgrund dessen mit Eltern und Lehrern weniger
in den klinischen Stichproben eine höhere Diskre- Probleme haben, oft nicht erkannt wird (Carlson
panz zwischen der Auftretenshäufigkeit von Legas- et al. 1997; Biederman et al. 2002; Cuffe et al. 2005).
thenie bei Jungen und Mädchen erzeugt. Ob es auch einen Unterschied in der ADHS-
Dieser Überweiser-Bias beschränkt sich jedoch Symptomatik zwischen Jungen und Mädchen in kli-
nicht nur auf die Schule. ADHS-Symptome ru- nischen Inanspruchnahmepopulationen gibt, wird
fen auch bei Eltern negative Gefühle hervor, wie derzeit noch kontrovers diskutiert. In einer neueren
z. B. Traurigkeit, Scham, Wut, Resignation und das Studie kamen Biedermann und Kollegen (2005) zu
Gefühl von Inkompetenz. In einer Studie wur- dem Schluss, dass sich Jungen und Mädchen mit
den Mütter von Kindergartenkindern mit einem ADHS, die in klinischen Institutionen in den USA
hypothetischen Mädchen mit ADHS und einem behandelt werden, nicht hinsichtlich der Sympto-
hypothetischen Jungen mit ADHS konfrontiert matik, des Alters der Erstmanifestation der Sympto-
(Maniadaki et al. 2005). Mit Fragebögen wurde matik, den daraus resultierenden Einschränkungen
unter anderem untersucht, welche Emotionen das und der Dauer der Erkrankung unterscheiden. Der
13 Verhalten der Kinder hervorruft und wie gut die kombinierte Subtyp nach DSM-IV (Typ 1;  Über-
Mutter ihre Kompetenz einschätzt, die Situation zu sicht) käme in beiden Geschlechtsgruppen gleich
»meistern« und kontrollieren zu können. Bezüglich häufig vor und in den Bereichen Schule, psycho-
der emotionalen Reaktionen der Mütter konnte kein soziale Einschränkungen und familiäre Belastung
Unterschied zwischen Jungen und Mädchen festge- gäbe es ebenfalls keine Unterschiede. Auch gäbe es
stellt werden. Obwohl das Verhalten der Kinder keine Persönlichkeitsunterschiede (Cukrowicz et al.
identisch war, waren die Mütter bei den Mädchen 2006). Mädchen und Jungen mit ADHS seien gleich
stärker davon überzeugt, mit der Situation gut um- impulsiv und erbrächten vergleichbare schulische
gehen und sie kontrollieren zu können. Die Ursa- Leistungen (Gaub et al. 1997). Bereits Gaub und
che für hyperaktives Verhalten wurde bei Mädchen Carlson (1997) wiesen in ihrem Übersichtsarti-
eher im biologischen Bereich gesucht und Mädchen kel darauf hin, dass in klinischen Stichproben der
wurden eher nicht für die Verhaltensprobleme ver- Schweregrad der ADHS-Störung bei Mädchen und
antwortlich gemacht. Demnach reagieren Mütter Jungen vergleichbar ist.
auf ADHS-Mädchen anders als auf Jungen mit
ADHS. Dazu passen die Ergebnisse einer anderen
Studie, in der typische ADHS-Verhaltensweisen bei 13.3.2 Komorbidität
Mädchen als weniger problematisch eingeschätzt
werden als bei Jungen (Ohan u. Johnston 2005). ADHS geht häufig einher mit anderen Erkrankun-
Zusammenfassend kann also festgestellt wer- gen, wobei oppositionelles Trotzverhalten, Störung
den, dass Mädchen mit ADHS-Symptomen weniger des Sozialverhaltens, affektive Störungen, Angst-
13.3 · Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Symptomatik, Komorbidität
229 13

störungen und Teilleistungsstörungen die häufigs- Schweregrads der ADHS-Symptomatik kein Un-
ten sind (Biederman 2005). Je stärker die ADHS- terschied zwischen den Geschlechtern mehr festge-
Symptomatik und je mehr komorbide Störungen stellt werden (Rucklidge u. Tannock 2002).
vorliegen, desto stärker ist die Einschränkung der Ferner gibt es Hinweise aus klinischen Stich-
Lebensqualität (Klassen et al. 2004). proben, dass Mädchen mit ADHS im Vergleich zu
Wie oben bereits erwähnt, sprechen die meis- Jungen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung ei-
ten Studien dafür, dass Jungen mit ADHS häu- nes Substanzabusus haben (Biederman et al. 1999;
figer als Mädchen expansive Störungen haben Biederman et al. 2002; Quinn 2005).
(Carlson et al. 1997; Gaub et al. 1997; Abikoff et
al. 2002; Biederman et al. 2002; Quinn 2005; Seid-
man 2006). Jungen mit einem ADHS sind häufiger 13.3.3 Neuropsychologie
oppositionell und aggressiv, wohingegen Mädchen
mehr indirekt aggressiv agieren, z. B. durch sozial ADHS ist charakterisiert durch ein Defizit der exe-
manipulierendes oder ausgrenzendes Verhalten kutiven Funktionen, insbesondere im Bereich der
(Maniadaki et al. 2005), und verbal aggressiver Inhibition. Dies wurde in einer Vielzahl von Stu-
sind (Abikoff et al. 2002). dien mit unterschiedlichen Paradigmen, wie z. B.
Wenn Mädchen mit ADHS jedoch komorbide dem Go-No-Go-Test, dem Stroop-Test, der Stop-
expansive Störungen aufweisen, dann gibt es Hin- Signal-Aufgabe oder dem Flanker-Task (Übersicht
weise darauf, dass sie in der Schule und im Um- in Konrad u. Herpertz-Dahlmann 2004) gezeigt.
gang mit ihrer Familie sozial stärker eingeschränkt Die Mehrzahl der Studien hat dabei nicht expli-
sind als Jungen (Biederman et al. 1999; Carlson zit Geschlechterunterschiede kontrolliert. In zwei
et al. 1997). Dies kann damit erklärt werden, dass jüngeren Studien konnte jedoch gezeigt werden,
expansive Verhaltensweisen eher in Übereinstim- dass sich in neuropsychologischen Paradigmen
mung sind mit männlichen Rollenerwartungen, keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen
d. h. bei gleichem expansivem Verhalten ruft dies mit ADHS zeigten (Seidman 2006; Biederman et al.
bei einem Mädchen in der sozialen Umgebung ne- 2005). Auch Castellanos et al. (2000) berichteten
gativere Reaktionen hervor als bei einem Jungen. von vergleichbaren Defiziten in okulomotorischen
Bei den affektiven Störungen und den Angst- Inhibitionsaufgaben bei Mädchen mit ADHS wie
störungen deutet hingegen die Mehrzahl der Be- sie zuvor bei Jungen berichtet wurden.
funde darauf hin, dass das weiblichen Geschlecht Wenn in neuropsychologischen Untersuchun-
häufiger betroffen ist (Biederman 2005; Levy et gen Geschlechtsunterschiede zwischen Jungen und
al. 2005). Eine Lese- und Schreibschwäche als Mädchen mit ADHS festgestellt wurden, dann
Teilleistungsstörung kommt wiederum bei Jungen zeigten sich diese Unterschiede auch bei gesunden
mit ADHS häufiger vor (Seidman 2006). Kontrollprobanden (Yang et al. 2004).
Es gibt jedoch auch Befunde, dass es bezüglich
expansiver Störungen und komorbider Legasthenie
keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern 13.3.4 Neurophysiologische
gibt. Levy und Kollegen (2005) gehen davon aus, und Bildgebungsbefunde
dass die Komorbidität expansiver Störungen mit
dem Ausmaß der ADHS Symptome assoziiert ist Eine Vielzahl von Studien hat morphometrische
und nicht mit dem Geschlecht. Da Hyperaktivität Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen mit
und Impulsivität bei Jungen häufiger und ausge- ADHS untersucht, wobei sich die Befunde insge-
prägter sind, seien auch die expansiven Störungen samt als äußerst heterogen und wenig spezifisch
häufiger. Mädchen mit vergleichbarer Ausprägung darstellten (Übersicht bei Durston 2003). Zusam-
der Hyperaktivität und Impulsivität haben dem- menfassend sprechen die Befunde dafür, dass bei
nach auch vergleichbare Diagnosen im Bereich Kindern mit ADHS relativ globale kortikale und
der expansiven Störungen. Auch beim Lesen und subkortikale Volumenveränderungen vorzuliegen
Schreiben konnte unter Berücksichtigung des scheinen. Für Jungen mit ADHS fand die Mehr-
230 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

zahl der Studien morphometrische Abweichungen bolismus in frontostriatalen Arealen bei Mädchen
im Bereich des rechten präfrontalen Kortex, Cor- mit ADHS besonders ausgeprägt ist (z. B. Ernst et
pus callosum, Globus pallidus und in bestimmten al. 1997). Allerdings muss für all diese Befunde kri-
Kleinhirnarealen. Bei Mädchen mit ADHS liegen tisch festgestellt werden, dass die Generalisierbar-
weniger Untersuchungen vor, und diese sprechen keit aufgrund von kleinen Stichproben und zum
bislang primär für ein reduziertes Volumen des Teil schlecht kontrollierten Stratifikationsproble-
Nucleus caudatus und des Kleinhirnwurms (Cas- men nur sehr eingeschränkt ist und es dringend
tellanos et al. 2000). Signifikante geschlechtsspe- weiteren Replikationsstudien bedarf.
zifische Unterschiede in der Hirnanatomie von ⊡ Tab. 13.1 fasst noch einmal typische ADHS-
Jungen und Mädchen mit ADHS wurden bislang Charakteristika bei Jungen und Mädchen im Ver-
allerdings nicht gefunden. gleich zusammen.
Quantitative EEG-Studien und Studien mit
evozierten Potenzialen haben ebenfalls eine Reihe
von ADHS-spezifischen Abweichungen verdeut- 13.4 Der Einfluss biologischer Faktoren
licht. Dabei berichteten jüngere Studien von qua-
litativen Unterschieden in den EEG-Kohärenzen 13.4.1 Genetische Faktoren
bei Mädchen mit ADHS, die sich so nicht bei
ADHS-Jungen fanden (z. B. Barry et al. 2006). Formalgenetische Studien sprechen dafür, dass ca.
Auch einige ältere PET-Studien wiesen darauf hin, 80% des ADHS genetisch determiniert ist (Smidt
dass eine Reduktion des zerebralen Glukosemeta- et al. 2003), wobei mehrere Gene und Umweltfak-
toren bei der Entstehung der Störung vermutlich
zusammenwirken (multifaktorielle Vererbung). Die
⊡ Tab. 13.1. Typische ADHS-Charakteristika bei
Anzahl der beteiligten Gene ist unklar. Es ist nicht
Jungen und Mädchen im Vergleich. (Modifiziert nach
Staller et al. 2006) davon auszugehen, dass stets die gleiche Allelkombi-
nation zum Phänotyp führt, vielmehr ist genetische
Jungen versus Heterogenität wahrscheinlich. In Zwillingsstudien
Mädchen
wurde von einer 50- bis 80%-igen Konkordanz zwi-
Hyperaktiv-impulsive Symptome > schen eineigen Zwillingen und einer 33%-igen Kon-
13 Unaufmerksame Symptome < kordanz bei zweieiigen Zwillingen berichtet. Fami-
Schulleistungen (anhand objek- =
lienstudien weisen auf eine höhere Inzidenz für das
tiver Tests) Syndrom bei Verwandten ersten und zweiten Grades
von ADHS-Patienten hin. Das Geschlecht scheint
Schulleistungen (anhand Lehrer- >
einschätzungen) jedoch keinen Einfluss auf die familiäre Transmissi-
onsrate von ADHS oder komorbiden Erkrankungen
Defizit in sozialen Fähigkeiten =
zu haben. So sind beispielsweise die Korrelationen
Vermindertes Selbstwertgefühl = von zweieiigen Zwillingen unterschiedlichen Ge-
IQ-Defizite ?> schlechts ähnlich denen der gleichgeschlechtlichen;
Exekutive Funktionsdefizite ? zudem fallen sie unabhängig davon ähnlich aus, ob
der Indexpatient männlich oder weiblich ist (Good-
Komorbiditäten
man u. Stevenson 1989).
Externalisierende Störungen > Molekulargenetische Studien konnten eine
Internalisierende Störungen ?= Reihe von Kandidatengenen insbesondere im Be-
Substanzabusus < reich des dopaminergen Systems bestätigen (z. B.
DRD4; DRD5; DAT1, SNAP25 etc). Diese Poly-
< weniger Probleme bei Jungen
morphismen, die mit ADHS assoziiert sind, treten
> mehr Probleme bei Jungen
= keine geschlechtsspezifischen Unterschiede
unabhängig vom Geschlecht auf. Auch die vier un-
? keine Schlussfolgerungen aufgrund unzureichender Daten- abhängigen Genomscans ergaben keinen Hinweis
lage möglich auf starke Kopplungseffekte auf einer X-chromoso-
13.4 · Der Einfluss biologischer Faktoren
231 13

malen Region (Hebebrand et al. 2006). Dies spricht 13.4.3 Geschlechtsabhängige


gegen eine einfache genetische Erklärung für die Hirnentwicklung
Knabenlastigkeit des ADHS-Syndroms.
Ein interessanter Zusammenhang zwischen der
hohen Jungenlastigkeit und dem frühen Manifes-
13.4.2 Prä-, peri- und postnatale tationsalter der ADHS einerseits und dem typi-
Risikofaktoren schen geschlechtsspezifischen Muster der Hirnent-
wicklung wurde kürzlich aufgezeigt (Durston et al.
Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, 2001). So geht man heute davon aus, dass bis in die
ein erniedrigtes Geburtsgewicht, Infektionen und Adoleszenz hinein regionale Volumenveränderun-
Toxine (z. B. pränatale Alkohol-, Benzodiazepin- gen des Gehirns stattfinden, die sich hinsichtlich
oder Nikotinexposition), ZNS-Erkrankungen und des Gesamtvolumens des Gehirns in ihrer Summe
-verletzungen sowie ungünstige psychosoziale Be- gegenseitig aufheben (Giedd et al. 1997). Insge-
dingungen gelten als exogene Risikofaktoren (Tay- samt sind das männliche Gehirn und seine anato-
lor et al. 2004). Pränatale Alkohol- und Nikotin- mischen Strukturen im Vergleich zum weiblichen
exposition sind sogar bedeutsame eigenständige Gehirn durchschnittlich 10% größer (Reiss et al.
Risikofaktoren (Thapar et al. 2003). 1996; Giedd et al. 1997). Das Volumen der weißen
Eine Vielzahl älterer Untersuchungen hat darauf Substanz nimmt bis zum Jugendalter anteilsmäßig
hingewiesen, dass bei Jungen häufiger Geburtskom- zu (Reiss et al. 1996) und ist auf die fortschreitende
plikationen auftreten, sie häufiger an Infektions- Myelinisierung der Axone durch Oligodendrozyten
krankheiten leiden und sehr viel häufiger als Mäd- zurückzuführen (Yakovlev u. Lecours 1967). Die
chen von Entwicklungsverzögerungen betroffen graue Substanz unterliegt ebenfalls dynamischen
sind (Gualtieri u. Hicks 1985). Mädchen werden Veränderungen, die schon vor der Geburt beginnen
von Geburt an und in allen Entwicklungsphasen und bis zur Adoleszenz andauern (Jacobson 1991).
als reifer beschrieben als Jungen (Tanner 1978). Ihr Volumen nimmt bis zum Kindesalter zunächst
Verschiedene Erklärungsmodelle für diese selective zu, erreicht um das 12. Lebensjahr einen Höhe-
male affliction theory, wie z. B. die Attribution zum punkt und reduziert sich anschließend durch an-
Y-Chromoson und die Tatsache, dass Jungen über haltenden Zelltod von Neuronen und Gliazellen bis
4–5% weniger Chromsomenmaterial verfügen oder zum Erwachsenenalter (Giedd et al. 1997, 1999).
eine mütterliche Immunreaktivität auf den männli- Gleichzeitig reduziert sich das Volumen der
chen Fetus als Ursache, konnten empirisch nicht be- Basalganglien und des damit assoziierten frontalen
stätigt werden. Vorstellbar ist aber, dass die höhere Kortex, wobei insbesondere der Kopf des Nucleus
Rate an prä-, peri-, und postnatalen Belastungs- caudatus betroffen ist (Thompson et al. 2000).
faktoren bei Jungen zu minimalen Schädigungen Luna und Sweeney (2001) gehen davon aus, das
in den für hypoxische Effekte besonders sensiblen diese Veränderungen eine kritische Periode wäh-
Neuronen des Striatums führen, welche wiederum rend der Reifung frontostriataler Kreisläufe darstel-
ätiologisch mit ADHS assoziiert sein könnten. len. Der Nucleus caudatus ist im Gegensatz zu allen
Taylor und Ounsted (1972) haben vorgeschla- übrigen zentralnervösen Strukturen im weiblichen
gen, dass aufgrund der rascheren Reifungsprozesse Gehirn überdurchschnittlich größer als im männ-
bei Mädchen nur die extrem stark abweichenden lichen (Giedd et al. 1997). Die ersten Anzeichen
Mädchen in den pathologischen Bereich fallen, was eines ADHS sind meist bereits im Vorschulalter
in älteren Studien sich zunächst scheinbar bestätigt erkennbar und damit fällt der Hauptmanifestati-
fand. So wiesen Mädchen mit hyperkinetischem onszeitpunkt der ADHS-Symptomatik (und auch
Syndrom einen niedrigeren IQ, Sprachstörungen der Tic-Störungen) genau in dieses Zeitfenster der
und neurologische Auffälligkeiten auf, was für eine frühen Maturationsprozesse frontostriataler Struk-
minimale Hirnschädigung als Ursache sprach (Ja- turen. Beide Störungen zeichnen sich des Weiteren
mes u. Taylor 1990). Jedoch haben spätere Studien durch eine ausgeprägte Knabenlastigkeit aus, die
dies nicht bestätigen können. mit den offensichtlich vorhandenen geschlechts-
232 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

spezifischen Unterschieden während der Hirnrei- forschung einige Studien auf einen positiven Zu-
fung in den frontostriatalen Kreisläufen assoziiert sammenhang zwischen dem Grad der Aggressi-
sein könnte. Allerdings handelt es sich hierbei vität und dem Testosteronspiegel bei Kindern mit
lediglich um einen korrelativen Zusammenhang, disruptiven Störungen hingewiesen haben, ist dies
der der weiteren Überprüfung bedarf. für den Schweregrad der ADHS-Symptomatik so
nicht nachgewiesen worden (Scerbo u. Kolko 1994).
Auch fehlen Hinweise darauf, dass es unter Ein-
13.4.4 Hormonelle Faktoren nahme von Anabolika zu einer Exazerbation von
ADHS-Symptomen kommt, wie es z. B. bei Tic-
Sexualhormone haben vielfältige Einflüsse auf die Erkrankungen beschrieben ist (Leckman u. Scahill
Entwicklung der Hirnstruktur und Hirnfunktion. 1990). Dies könnte darauf hinweisen, dass frühe,
Dabei können grob frühe pränatale hormonelle organisierende hormonelle Einflüsse auf die Hirn-
Einflüsse und später in der Entwicklung während entwicklung entscheidender sein dürften als die erst
der Pubertät einsetzende Einflussfaktoren unter- in der Pubertät einsetzenden Einflussfaktoren.
schieden werden. Beispielsweise wird heute ange-
nommen, dass das Y-Chromosom der männlichen
Feten die Information zur Steuerung der Differen- 13.5 Implikationen für die Diagnostik
zierung der Keimdrüsenanlage kodiert. Am Ende
des 3. Monates synthetisieren die Leydig-Zellen ADHS-Symptome werden in der Regel mit Hilfe
der Hoden vorübergehend Testosteron im männ- von semistrukturierten Interviews, wie z. B. mit
lichen Fetus. Testosteron steuert nicht nur die Dif- dem K-SADS-PL (Delmo et al. 2001) oder dem K-
ferenzierung der äusseren Geschlechtsorgananlage, DIPS (Unnewehr et al. 1995) überprüft oder durch
sondern auch die Entwicklung z. B. hypothalami- Fragebögen (z. B. CBCL, Arbeitsgruppe Kinder-,
scher Strukturen, die später die Ausschüttung der Jugendlichen- und Familiendiagnostik 1998) bzw.
Sexualhormone regulieren. Nach der 12. Woche Verhaltensbögen (z. B. Conners Rating Scales; Hud-
wird die Testosteronsynthese eingestellt und erst in ziak et al. 2005) oder DISYPS (Döpfner et al. 2000)
der Pubertät wieder aufgenommen. verifiziert. Dabei werden sowohl die Eltern- als auch,
Testosteron scheint auch eine entscheidende wenn möglich, Lehrerbeurteilungen eingeholt.
13 modulierende Funktion auf das dopaminerge Neu- All diese diagnostischen Instrumente fragen
rotransmittersystem zu nehmen, das vermutlich sowohl den Symptomkomplex der Hyperaktivität/
maßgeblich an der ADHS-Ätiologie beteiligt ist. Impulsivität als auch Unaufmerksamkeitsymptome
So konnte in tierexperimentellen Studien gezeigt ab. Dennoch konnte vor kurzem nachgewiesen
werden, dass Testosteron die dopaminerge Aktivi- werden, dass objektive Daten der motorischen
tät und das Neuritenwachstum im mesolimbischen Aktivität besser in der Lage waren, die Lehrerein-
System beeinflusst sowie die Entwicklung dopami- schätzungen der Unaufmerksamkeitssymptomen
nerger Neurone im frontalen Kortex modulieren zu erklären als neuropsychologische Parameter aus
kann (Taylor 1998). In einer interessanten Studie Aufmerksamkeitsparadigmen (Konrad et al. 2005).
konnten King et al. (2000) ferner im hypertensiven Konkret bedeutet dies, dass ein Kind ohne Hy-
Rattenmodell (einen Tiermodell für ADHS) auf- peraktivität/Impulsivität in den Verhaltensbögen
zeigen, dass die frühe Exposition mit Androgenen und Interviews möglicherweise im Bereich Unauf-
(ähnlich wie bei männlichen Feten) bei gleichzeiti- merksamkeit als unauffällig eingestuft wird, ob-
ger genetischer Disposition für ADHS-Symptome wohl neuropsychologisch erhebliche Aufmerksam-
zu einer verstärkten Entwicklung von Verhaltens- keitsdefizite vorhanden sein können. Dies beinhal-
symptomen führen kann. tet dann die Gefahr, Mädchen mit vorherrschend
Bei Menschen fehlen allerdings weitestgehend unaufmerksamer Symptomatik zu übersehen.
Studien zum Einfluss hormoneller Faktoren auf Bezüglich der Aufmerksamkeitsprozesse sind
die Gehirnentwicklung und die Prädisposition die verwendeten Verfahren demnach nicht ausrei-
für ADHS: Während im Bereich der Aggressions- chend sensibel und valide, d. h. Unaufmerksamkeit
13.5 · Implikationen für die Diagnostik
233 13

ist viel schwieriger zu diagnostizieren als Hyper- äußert, sondern eher durch eine Art »Hypergesprä-
aktivität/Impulsivität. Um Aufmerksamkeitsdefizite chigkeit« oder »emotionale Hyperaktivität« (Quinn
festzustellen, könnten zusätzlich objektive Verfahren 2005). Auch Ohan und Johnston (2005) haben fest-
eingesetzt werden, die Aufmerksamkeitsprozesse gestellt, dass die angewendeten Kriterien des DSM-
gezielt untersuchen, z. B. mit der PC-gestützten IV vornehmlich als »typisch männlich« eingestuft
Testbatterie zur Aufmerksamkeitsüberprüfung werden können. Sie haben für ADHS, oppositionel-
(TAP) von Fimm u. Zimmermann (2001; s. auch les Trotzverhalten und Störung des Sozialverhaltens
Günther et al. 2005). Diese sind allerdings deutlich sensiblere »weibliche« Items entwickelt ( Übersicht
aufwändiger als die oben genannten Interview- und unten), die es besser ermöglichen sollen, mögliche
Fragebogenverfahren. Sie können jedoch dazu bei- Defizite in diesen Bereichen auch bei Mädchen zu
tragen, dass klinisch relevante Aufmerksamkeitsde- erkennen. Die »weiblichen Modifikationen« betref-
fizite auch bei Kindern ohne Hyperaktivität/Impul- fen insbesondere eine Anpassung der Kriterien für
sivität sicher erkannt und gezielt behandelt werden den Hyperaktivität/Impulsivität-Komplex ( Über-
können. Allerdings beinhalten sie auch die Gefahr, sichten DCM-IV und ICD-10). Daraus lässt sich die
fälschlicherweise eine Aufmerksamkeitsstörung Hypothese ableiten, dass bei einer Anpassung der
falsch-positiv zu diagnostizieren. Interviews und Fragebögen auch mehr Mädchen im
Eine andere Möglichkeit, mädchenspezifische Bereich der Hyperaktivität und Impulsivität auffällig
Besonderheiten im diagnostischen Prozess besser wären. Ob Mädchen unter Berücksichtigung ver-
zu berücksichtigen, liegt in der Anpassung der In- änderter diagnostischer Kriterien tatsächlich mehr
terviews und Fragebögen. So wird z. B. angenom- hyperaktiv-impulsive Symptome und expansive Stö-
men, dass sich hyperaktiv-impulsives Verhalten bei rungen aufweisen, bedarf jedoch der empirischen
Mädchen nicht so sehr in motorischer Überaktivität Überprüfung in weiteren Forschungsarbeiten.

Modifikation der diagnostischen Kriterien – Schreit oder weint um sich aus der Affäre
für weibliche Patienten für ADHS, opposi- zu ziehen.
tionelles Trotzverhalten und Störung des – Verbittert und nachtragend.
Sozialverhalten (Ohan et al. 2005) – Verweigert oder ignoriert Regeln und
▬ ADHS Anforderungen von Erwachsenen.
– Kichert und redet übermäßig viel. – Heimtückisch und hinterhältig wenn es
– Schreibt Mitteilungen oder Briefchen anstatt darum geht aus selbst verursachten Proble-
sich auf den Unterricht zu konzentrieren. men heraus zu kommen.
– Redet ohne nachzudenken. ▬ Störung des Sozialverhaltens
– Wechselt impulsiv oder ohne nachzudenken – Erpresst oder schikaniert andere gefühls-
Freunde. mäßig.
– Wechselt impulsiv die Themen in einer – Erzählt bewusst Lügen oder verrät Ge-
Unterhaltung. heimnisse um anderen zu Schaden oder
– Redet und flüstert im Unterricht anstatt in Verlegenheit zu bringen.
sich auf den Unterricht zu konzentrieren. – Ist Mitglied in einer Gruppe die grausam
– Malt und kritzelt während des Unterrichts. ist zu anderen.
– Vergesslich bei sozialen Aktivitäten (z. B. – Verlässt mit jemandem vom anderen Ge-
Vergessen von Verabredungen). schlecht die Schule während der Schulzeit
▬ Oppositionelles Trotzverhalten – Ist emotional grausam zu anderen
– Bei Verärgerung starrt sie trotzig, rollt mit (z. B. üble Nachrede).
den Augen oder schüttelt den Kopf. – Hat hinter dem Rücken anderer Gegen-
– Straft andere mit Verachtung, wenn sie wü- stände von nicht unerheblichem Wert ent-
tend ist. wendet.
234 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

13.6 Implikationen für die Behandlung In einer plazebokontrollierten Studie nahmen


gesunden Frauen eine Einzeldosis von 15 mg
Pharmakologische Behandlungsmaßnahmen. D-Amphetamin ein. Es konnte gezeigt werden,
Stimulanzien (z. B. Methylphenidat, MPH) stel- dass die Wirkung des D-Amphetamins bei gesun-
len die Behandlungsmethode der ersten Wahl bei den Frauen bei einem erhöhten Östrogen- und
Patienten mit ADHS dar. Als Medikament zweiter niedrigem Progesteronspiegel stärker ist (White
Wahl kann nach dem derzeitigen Kenntnisstand et al. 2002). Daraus kann man die Vermutung
Atomoxetin angesehen werden. Alle anderen Prä- ableiten, dass bei weiblichen Jugendlichen oder
parate sind Medikamente der dritten Wahl und Erwachsenen die Wirkung der Medikation durch
sollten nur angewandt werden, wenn die Medika- die hormonellen Schwankungen im Rahmen des
mente der ersten und zweiten Wahl nicht wirksam weiblichen Zyklus beeinflusst wird. Allerdings
sind oder ausgeprägte unerwünschte Wirkungen fehlen hier noch systematische Studien mit grö-
aufweisen. Zahlreiche Studien belegen die signifi- ßeren Stichproben, die dies genauer untersucht
kante Wirkung von Stimulanzien in der Therapie haben.
der Kernsymptome der ADHS. Die weitaus meis-
ten Studien liegen für Methylphenidat vor, doch Psychologische Behandlungsmaßnahmen. Ne-
gibt es auch hinreichend Belege für die signifi- ben den pharmakologischen Behandlungsoptio-
kante Wirkung von Amphetaminen und Pemo- nen haben sich psychoedukative und verhaltens-
lin und neuerdings Atomoxetin bei Kindern mit therapeutische Maßnahmen, insbesondere ein El-
ADHS (Gerlach 2004). terntraining sowie eine verhaltenstherapeutische
Prinzipiell gibt es keine Hinweise auf ge- Intervention im Kindergarten bzw. in der Schule
schlechtsabhängige Unterschiede bezüglich der als effektiv erwiesen. Geschlechtsunterschiede
Wirksamkeit der verschiedenen Präparate zur Be- hinsichtlich der nicht-pharmakologischen Be-
handlung von ADHS. So scheinen kurzwirksame handlungsoptionen des ADHS könnten hier, ins-
Stimulanzien (z. B. Methylphenidat, D-Ampheta- besondere aufgrund der unterschiedlichen Ko-
min), Retardpräparate (z. B. Methylphenidat-HCI) morbiditätsraten, besonderes relevant sein. Dies
und andere Medikamente (z. B. Atomoxetin) bei sei anhand der Ergebnisse der sog. MTA-Studie
Mädchen nicht anders zu wirken als bei Jungen erläutert ( MTA-Studie).
13 (Sharp et al. 1999; Stevens et al. 2005; Staller u. Ferner ist eine geschlechtsabhängige Differen-
Faraone 2006). Auch die Dosis der Medikation zierung der Therapieziele denkbar. Schaut man
scheint bei Jungen und Mädchen nicht unter- sich beispielsweise in Follow-up-Studien klinischer
schiedlich zu sein. Die absolute Dosis von Stimu- Stichproben die Prognosen von Jugendlichen mit
lanzien wird mit dem Alter höher, wohingegen einem ADHS an (Consensus Statement 2002), so
jüngere Kinder höhere gewichtsbezogene Dosen gibt es Risikofaktoren die bei Mädchen und Jungen
(d. h. in mg pro kg Körpergewicht) erhalten. Das unterschiedlich zu gewichten sind. So ist z. B. das
Geschlecht hat jedoch keinen Einfluss auf die Do- Risiko in der Frühadoleszenz Mutter bzw. Vater
sierung (Lipkin et al. 2005). zu werden, bei ADHS insgesamt bei beiden Ge-
Die Untersuchungen basieren jedoch fast aus- schlechtern gleichermaßen erhöht, allerdings sind
schließlich auf Daten von Kindern mit ADHS die sozialen Folgen für die Mädchen häufig weitaus
unter 12 Jahren (Seidman 2006), es gibt wenige schwerwiegender. Auch die möglicherweise mäd-
Studien im Bereich der Adoleszenz oder des Er- chenspezifisch erhöhte Rate zur Entwicklung eines
wachsenenalters. In der Pubertät verändert sich Substanzabusus sollte bei psychosozialen Interven-
insbesondere bei den Mädchen der Hormonhaus- tionen Berücksichtigung finden, d. h. dass z. B. im
halt und es liegen erste Studien aus einer Ar- Rahmen von Verhaltens- oder familientherapeu-
beitsgruppe vor, die vermuten lassen, dass junge tischen Interventionen andere Behandlungsziele
Frauen in Abhängigkeit von ihrem Zyklus anders verfolgt werden müssen.
auf Stimulanzien (D-Amphetamin) regieren (Ju-
stice u. de Wit 1999; Justice u. de Wit 2000a,b).
13.7 · Schlussfolgerungen
235 13

MTA-Studie

Im Rahmen der Mutimodal Treatment Study effektivsten heraus, allerdings variierten die Ef-
of Children with ADHD (MTA) wurde die Wirk- fekte für die Kombinationsbehandlung und die
samkeit verschiedener Behandlungsformen des alleinige Verhaltenstherapie in Abhängigkeit von
ADHS bei 579 Kinder im Alter von 7–10 Jahren den komorbiden Störungen. So zeigte sich eine
in sechs Zentren der USA überprüft. Die erste Überlegenheit der Kombinationsbehandlung
Gruppe erhielt eine individuell angepasste MPH- von medikamentöser und Verhaltenstherapie
Behandlung, die zweite Gruppe eine intensive nur für die Gruppe der Patienten, die neben der
Verhaltenstherapie mit Behandlungskompo- ADHS auch noch eine Störung des Sozialverhal-
nenten für die Schule, die Eltern und das Kind. tens aufwiesen (Jensen u. Abikoff 2000). Außer-
In der dritten Gruppe wurde eine kombinierte dem erwies sich die alleinige Verhaltenstherapie
Behandlung aus medikamentöser und Verhal- als besonders effektiv bei Kindern mit einer ko-
tenstherapie durchgeführt; eine vierte Gruppe morbiden Angststörung. Dies spricht dafür, dass
wurde einer Standardtherapie zugeordnet bei Mädchen mit komorbiden Ängsten mögli-
(medikamentöse Behandlung durch Hausärzte cherweise verhaltenstherapeutische Interventio-
ohne genaue Dosisanpassung). Insgesamt stellte nen stärker als Behandlungsmethode mit oberer
sich die reine Stimulanzienbehandlung als am Priorität berücksichtigt werden sollten.

13.7 Schlussfolgerungen terrepräsentiert sind und das Jungen zu Mädchen


Verhältnis bis zu 10:1 liegt.
Ziel dieses Kapitels war es, Ursachen für Präva- Der Überweiser-Bias könnte einerseits mit einer
lenzunterschiede zwischen Jungen und Mädchen Unterrepräsentation von Mädchen aber auch mögli-
mit einem ADHS zu erläutern. Die wichtigsten cherweise mit einer Überrepräsentation von Jungen
Befunde sollen in einem einfachen Model noch assoziiert sein. Dies ist empirisch nicht eindeutig
einmal zusammengefasst werden (⊡ Abb. 13.1). geklärt. Aktuelle Studien zeigten, das bei adäquater
Jungen mit einem ADHS sind eher hyper- Berücksichtigung des Kriteriums, dass ADHS mit
aktiv und impulsiv, wohingegen Mädchen eher Beeinträchtigungen (impairment) in der Entwick-
unaufmerksam sind. Bei Mädchen geht das ADHS lung verbunden sein muss, die ADHS-Erkrankung
zudem häufiger mit einer affektiven Erkrankung insgesamt nicht überdiagnostiziert wird und die
oder einer Angststörung einher. Bei Jungen treten Prävalenzraten in den letzten Jahren auch relativ
dahingegen eher expansive Störungen wie oppo- konstant geblieben sind. Allerdings wird gerade die
sitionelles Verhalten oder eine Störung des So- durch die Symptomatik bedingte Beeinträchtigung
zialverhaltens als komorbide Erkrankung auf. Es in der Entwicklung in der klinischen Praxis häu-
ist davon auszugehen, dass der Symptomkomplex fig nicht ausreichend berücksichtigt. Auch konnte
des ADHS und der komorbiden Erkrankungen gezeigt werden, dass trotz der Zunahme der Ver-
einander beeinflussen oder sogar verstärken. Hy- schreibung von Stimulanzien in den letzten 10 Jah-
peraktiv-impulsives Verhalten in Kombination mit ren immer noch die Verschreibungsrate deutlich
expansiven Störungen ist auffälliger und führt eher unter der Prävalenzrate liegt, dass aber zum Teil die
dazu, dass der/die Betroffene früher klinisch vor- falschen Kinder diagnostiziert und behandelt wur-
stellig wird, und eine Diagnostik oder Behandlung den (Huss 2004). Möglicherweise fallen hier insbe-
durchgeführt wird. Dieser Überweiserbias wird sondere Jungen mit expansiven Verhaltensweisen
zudem noch von geschlechtsspezifischen Rollen- in die Gruppe der falsch-positiv diagnostizierten
erwartungen moduliert, d. h. identisches Störver- Kinder und Jugendlichen.
halten wird bei Jungen als schwerwiegender einge- Die Prävalenzunterschiede – insbesondere in
schätzt als bei Mädchen. Insgesamt führt dies dazu, den klinischen Stichproben – machen deutlich,
dass Mädchen in klinischen Gruppen deutlich un- dass bei vielen Mädchen ein ADHS nicht erkannt
236 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

wird und sie daher auch nicht behandelt werden. werden Jungen eher einer Behandlung zugeführt,
Dies liegt insbesondere daran, dass Aufmerksam- selbst wenn sie die Kriterien für ADHS nicht
keitsstörungen schwieriger zu verifizieren und erfüllen. Im Bereich der nicht-medikamentösen
weniger klinisch auffällig sind als eine motorische Therapie, könnten aufgrund unterschiedlicher
Unruhe. Sind die Mädchen jedoch einmal diag- Komorbiditätsmuster und Prognosen hinsicht-
nostiziert, dann gibt es keine Unterschiede in der lich des längerfristigen Verlaufs bei Jungen und
medikamentösen Behandlung, weder im Bereich Mädchen mit ADHS geschlechtsspezifische In-
der Effektivität noch im Bereich der Medikamen- dikationen und Anpassung der Behandlungsziele
tenwahl oder deren Dosierung. Möglicherweise sinnvoll sein.

Biologische Faktoren
– Steroide
– Prä-, peri-, postnatale Risikofaktoren
– Geschlechtsabhängige Hirnreifungsprozesse

Symptomkomplex
Symptomkomplex ADHS ADHS: Komorbiditäten:
Komorbiditäten
f ::Unaufmerksam
Unaufmerksam f ::Affektive-
Affektive-und
und Angststörungen
Angststörungen
m
 ::Hyperaktiv/Impulsiv
Hyperaktiv/Impulsiv m
 ::Expansive
ExpansiveDefizite
Störungen

Überweiserbias
– Hyperaktiv/impulsive & expansive Symptome sind auffälliger
13 – Geschlechtsspezifische Rollenerwartungen

Prävalenzunterschiede ADHS
zwischen Jungen und Mädchen

Diagnostik
– DSM-IV-Items orientieren sich an typischem Symptombild von Jungen
– Keine Objektivierung von Unaufmerksamkeitssymptomen

Implikationen für die Behandlung


– Medikamentös: f = m
– Nicht-medikamentös: f = m

⊡ Abb. 13.1. Zusammenfassung der Faktoren, die geschlechtsabhängige Prävalenzunterschiede der ADHS, beeinflussen
Literatur
237 13

Fazit
Die ADHS war bis in die 90er-Jahre eine fast für die zugrunde liegende Pathologie sicher
reine »Jungenkrankheit«. Aber auch heute sind erkannt werden
die Diagnosekriterien noch eher jungentypisch. Auch wenn das Verhältnis in nicht-klinischen
Dies bedeutet, dass diagnostische Verfahren Stichproben deutlich geringer ist als in klinischen
angepasst werden müssten, um auch Mädchen Populationen, sind auch hier deutliche Prävalenz-
mit einem ADHS sicher und rechtzeitig zu unterschiede zwischen Jungen und Mädchen
erkennen. Zwei mögliche Schritte in diese Rich- festzustellen. Dies lässt sich möglicherweise
tung wären: auf biologische Faktoren, insbesondere auf ge-
▬ Neuropsychologische Untersuchungen zur schlechtsabhängige Unterschiede in prä-, peri-
Validierung der Aufmerksamkeitsstörung und postnatalen Risikofaktoren und unterschied-
▬ Anpassung der Diagnosekriterien, so dass liche Hinreifungsprozesse, die zum Teil durch
auch mädchentypische Verhaltensweisen Sexualhormone moduliert werden, zurückführen.

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238 Kapitel 13 · Ursachen der Geschlechtsunterschiede

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14

Sind nur Frauen essgestört?


Reinhold G. Laessle

14.1 Charakteristika klinischer Essstörungen – 242


14.1.1 Anorexia nervosa und Bulimia nervosa – 242
14.1.2 Binge-eating-Störung (BED) – 242

14.2 Thesen zur Geschlechtsspezifität von Essstörungen – 243


14.2.1 Die Häufigkeit für klinische Essstörungen ist bei Frauen höher als bei Männern – 243
14.2.2 Frauen unterliegen einem höheren Schlankheitsdruck als Männer – 243
14.2.3 Frauen benutzen zur Gewichtsabnahme häufiger gesundheitsschädliche essensbezogene
Praktiken als Männer – 244
14.2.4 Emotionsbezogenes Essverhalten ist bei Frauen häufiger als bei Männern – 245
14.2.5 Weibliche Geschlechtshormone machen Frauen besonders anfällig für Störungen bei der
Nahrungsaufnahme – 245

Literatur – 246
242 Kapitel 14 · Sind nur Frauen essgestört?

> »Eine Frau kann niemals schön genug und dünn genug sein.« (Lady Windsor,
Witwe König Edward VIII. von England)
Das Thema ist ein Dauerbrenner in Frauenzeitschriften und Wochenmagazinen,
vor allem im Frühjahr. Fast ausschließlich für Frauen werden Diäten und andere
Methoden propagiert, die ein schnelles und unproblematisches Erreichen der
Idealfigur versprechen. Für Männer spielen diese Themen offenbar nur eine
untergeordnete Rolle. Auch die Auftretenshäufigkeit klinisch bedeutsamer Ess-
störungen wie der Magersucht oder der Bulimie scheint bei Frauen erheblich
höher zu sein als bei Männern. Für Frauen gibt es möglicherweise viel mehr Ver-
bindungen zwischen Alltagsproblemen und dem Essverhalten als für Männer,
insbesondere dann, wenn Gefühle betroffen sind.
Sind deshalb nur Frauen vulnerabel für Störungen des Essverhaltens? In diesem
Kapitel wird versucht, nach einer Beschreibung der wichtigsten klinischen Ess-
störungen der Frage aufgrund der wissenschaftlichen Literatur nachzugehen.

14.1 Charakteristika klinischer ben. Essattacken treten meist im Geheimen auf. Um


Essstörungen einer Gewichtszunahme vorzubeugen, werden un-
mittelbar nach einer Essattacke gegenregulierende
14.1.1 Anorexia nervosa und Bulimia Maßnahmen wie beispielsweise Erbrechen, Miss-
nervosa brauch von Laxanzien, Diuretika oder Appetitzügler
eingesetzt (purging behaviour). Zwischen den Essat-
Anorexia nervosa, auch bekannt als Pubertäts- tacken kann bei den Patientinnen ein ausgeprägtes,
magersucht, wird charakterisiert durch das an- restriktives Diätverhalten beobachtet werden.
haltende Streben nach Gewichtsverlust durch ab- Bei der verzehrten Nahrung handelt es sich
sichtlich herbeigeführtes Abnehmen. Dieses wird vorwiegend um sehr fetthaltige (hochkalorische),
von anorektischen Patientinnen durch strikte Re- leicht essbare Nahrung, die einen relativ geringen
duktion der Kalorienaufnahme, exzessive körper- Proteinanteil hat und keiner aufwendigen Zube-
14 liche Aktivität sowie in einigen Fällen auch durch reitung bedarf.
Erbrechen oder den Missbrauch von Abführmit-
teln (Laxanzien) oder Entwässerungstabletten
(Diuretika) erreicht. Das äußerlich auffallendste 14.1.2 Binge-eating-Störung (BED)
Merkmal ist der gravierende Gewichtsverlust, der
häufig 50% des Ausgangsgewichtes überschreitet Obwohl Stunkard bereits 1955 binge eating als ein
und bis zur lebensbedrohlichen Unterernährung hervorstechendes Essverhaltensmuster bei überge-
gehen kann. wichtigen Patienten beschrieb, ist dieses Phänomen
Dem Wortsinn nach bedeutet Bulimia »Och- erst in den letzten Jahren systematisch untersucht
senhunger« (von griechisch limos = Hunger; bous worden. Die Charakteristika der Binge-eating-Stö-
= Stier, Ochse) und nimmt somit Bezug auf das rung nach den Forschungskriterien des DSM-IV
Hauptmerkmal der Störung, das wiederholte Auf- sind in der Übersicht zusammengefasst.
treten von Essattacken (binge eating). Diese sind Das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zur
gekennzeichnet durch das rasche und hastige Her- Bulimia nervosa ist das Fehlen kurzfristiger kom-
unterschlingen größerer Nahrungsmengen, das mit pensatorischer Verhaltensweisen nach dem Auftre-
der subjektiven Wahrnehmung einhergeht, die Kon- ten des Essanfalls, so dass die meisten Betroffenen
trolle über das eigene Essverhalten verloren zu ha- als übergewichtig eingestuft werden müssen.
14.2 · Thesen zur Geschlechtsspezifität von Essstörungen
243 14

Charakteristika der Binge-eating-Störung – (3) essen großer Nahrungsmengen,


nach DSM-IV wenn man sich körperlich nicht hungrig
▬ A. Wiederholte Episoden von »Fressanfällen«. fühlt,
Eine Episode von »Fressanfällen« ist durch die – (4) allein essen aus Verlegenheit über
beiden folgenden Kriterien charakterisiert: die Menge, die man isst,
– (1) Essen einer Nahrungsmenge in einem – (5) Ekelgefühle gegenüber sich selbst,
abgrenzbaren Zeitraum (z. B. in einem Deprimiertheit oder große Schuldge-
zweistündigen Zeitraum), die definitiv grö- fühle nach dem übermäßigen Essen
ßer ist als die meisten Menschen in einem ▬ C. Es besteht deutliches Leiden wegen der
ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Um- »Fressanfälle«.
ständen essen würden. ▬ D. Die »Fressanfälle« treten im Durch-
– (2) Ein Gefühl des Kontrollverlustes über schnitt an mindestens 2 Tagen in der Wo-
das Essen während der Episode (z. B. ein che für 6 Monate auf.
Gefühl, dass man mit dem Essen nicht auf- ▬ E. Die »Fressanfälle« gehen nicht mit dem
hören kann bzw. nicht kontrollieren kann, regelmäßigen Einsatz von unangemesse-
was und wieviel man isst). nen kompensatorischen Verhaltensweisen
▬ B. Die Episoden von »Fressanfällen« treten einher (z. B. »Purging-Verhalten«, fasten
gemeinsam mit mindestens drei der folgen- oder exzessive körperliche Betätigung)
den Symptome auf: und sie treten nicht ausschließlich im Ver-
– (1) wesentlich schneller essen als normal, lauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia
– (2) essen bis zu einem unangenehmen Völ- nervosa auf.
legefühl,

14.2 Thesen zur Geschlechtsspezifität Für die Prävalenz der Binge-eating-Störung


von Essstörungen in der Allgemeinbevölkerung liegen bislang keine
methodisch sorgfältigen epidemiologischen Stu-
Anhand von fünf Thesen soll die Geschlechts- dien vor. Untersucht wurden klinische Stichproben
spezifität gestörten Essverhaltens im Hinblick auf von Personen, die an Programmen zur Gewichts-
empirische Belege untersucht werden. reduktion teilnehmen. Die Häufigkeit für das Vor-
liegen einer Binge-eating-Störung beträgt hier bis
zu 29%. 60% solcher Fälle sind Frauen, 40% sind
14.2.1 Die Häufigkeit für klinische Männer (Spitzer et al. 1993).
Essstörungen ist bei Frauen
höher als bei Männern
14.2.2 Frauen unterliegen einem höheren
Legt man die Diagnosekriterien des DSM-III zu- Schlankheitsdruck als Männer
grunde und benutzt klinische Interviews zur Diag-
nosesicherung, betragen die Prävalenzraten in der Dies soll in drei Bereichen aufgezeigt werden:
Allgemeinbevölkerung für die Anorexia nervosa
je nach Studie zwischen 0,2 und 0,8%. Für die Buli- Fotomodelle. Die in der Werbung auftretenden
mia nervosa berichten Fairburn und Beglin (1990) weiblichen Fotomodelle sind erheblich schlanker
eine Prävalenzrate von 1,9%. Von den jeweils be- als ihre männlichen Kollegen. Fotomodelle oder
troffenen Personen sind bei der Anorexia nervosa Schönheitsköniginnen, die für viele Frauen den
95% der Fälle Frauen, bei der Bulimia nervosa 80% Vergleichstandard schlechthin darstellen, sind deut-
der Fälle. lich schlanker als der Durchschnitt. Dies legt eine
244 Kapitel 14 · Sind nur Frauen essgestört?

Untersuchung von Garner et al. (1980) nahe, die die sind und eine gute Figur haben. Frauen, die bis
Körperformen und den Gewichtsstatus von Teil- in Führungspositionen aufgestiegen sind, zeich-
nehmerinnen von Schönheitswettbewerben analy- nen sich nicht nur durch fachliche Kompetenz
siert haben. Das Körpergewicht der Modelle betrug aus, sondern häufig auch durch gutes Aussehen in
nur 82% des Gewichts der amerikanischen Durch- Gestalt einer schlanken Figur. Empirische Unter-
schnittsfrau. Die Körperformen waren charakteri- suchungen zeigen, dass übergewichtige Frauen bei
siert durch schmale Hüften und kleine Brüste. Bewerbungsgesprächen eher abgelehnt werden als
Die in der Werbung für Männermode darge- normalgewichtige oder schlanke Bewerberinnen.
stellten Fotomodelle sind dagegen in der Regel (Roe u. Eickwort 1976; Puhl u. Brownell 2001).
zwar schlank, jedoch in Gewicht und Figur weit Der Weg in eine Chefetage ist für viele Frauen
mehr dem Durchschnitt angenähert als dies bei deshalb mit Diäten gepflastert. Empirisch belegt
Frauen der Fall ist. ist, dass Frauen, die in hohem Ausmaß gezügeltes
Essverhalten praktizieren, ein höheres Bildungsni-
Attraktivität und Selbstwertgefühl. Attraktivität veau und bessere berufliche Positionen aufweisen
und Selbstwertgefühl von Frauen erheblich stärker als spontane Esser (Dewberry u. Ussher 1994). Als
von Figur und Gewicht bestimmt als bei Männern, Paradebeispiel für diese Argumentation kann die
bei denen es diesbezüglich mehr auf Geld, Intel- amerikanische Außenministerin Condolezza Rice
ligenz und Macht ankommt. Frauen werden vor angeführt werden, die nicht nur fast schon ano-
allem aufgrund äußerlich sichtbarer Merkmale als rektisch anmutet, sondern ihre täglichen Maßnah-
attraktiv und begehrenswert beurteilt. Ein positives men zur Gewichtskontrolle in einer Talkshow auch
Selbstwertgefühl hängt deshalb in hohem Ausmaß noch öffentlich präsentierte.
von einer schlanken Figur und einem möglichst Um als Mann Karriere machen zu können, ist
niedrigen Körpergewicht ab. Für viele Frauen ge- eine gute Figur keine notwendige Bedingung. Fach-
hören der Gang auf die Waage und der kritische liche und intellektuelle Kompetenz, sowie soziale
Blick in den Spiegel zu den wichtigsten Selbstprü- Fertigkeiten sind ausschlaggebend für den beruf-
fungen, denen sie sich täglich unterziehen und ihre lichen Aufstieg. Häufig scheint Übergewicht den
Befindlichkeit weitgehend vom Ergebnis abhängig erfolgreichen Topmanager sogar auszuzeichnen.
machen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass
diese Zusammenhänge bereits bei jungen Mädchen
beobachtet werden können. 14.2.3 Frauen benutzen zur Gewichts-
Wichstrom (1995) untersuchte eine repräsen- abnahme häufiger gesundheits-
14 tative Stichprobe von 11.315 Jugendlichen in Nor- schädliche essensbezogene
wegen und fand signifikante geschlechtsspezifische Praktiken als Männer
Assoziationen zwischen Selbstwertgefühl und der
Wahrnehmung von Figur und Gewicht. Ein nied- Um Gewicht zu reduzieren, eignen sich neben
rigeres Selbstwertgefühl in Abhängigkeit vom Kör- Diät und körperlicher Aktivität kurzfristig auch
pergewicht nur bei Mädchen stellten auch Hill und andere Maßnahmen, die jedoch langfristig ne-
Pallin (1998) fest. gative Auswirkungen auf die Gesundheit haben
Bei der Beurteilung von Männern spielen kör- können. Solche gesundheitsschädlichen Maßnah-
perbetonende Merkmale zwar auch eine Rolle, sind men, wie z. B. der Missbrauch von Diuretika, La-
jedoch weit weniger bedeutsam für Selbstwertge- xanzien, Appetitzüglern oder das Erbrechen nach
fühl und Anziehungskraft. Männer werden als at- einer Mahlzeit werden von vielen Patientinnen mit
traktiv eingeschätzt, wenn sie reich und intelligent einer klinischen Essstörung regelmäßig durchge-
sind und darüber hinaus noch über Macht und führt. Empirische Studien belegen, dass gesund-
Einfluss verfügen. heitsschädliche Praktiken zur Gewichtsreduktion
auch bei Frauen ohne die Diagnose einer klini-
Karrierechance. Frauen machen beruflich eher schen Essstörung sehr viel häufiger vorkommen
Karriere, wenn sie äußerlich attraktiv, d. schlank als bei Männern.
14.2 · Thesen zur Geschlechtsspezifität von Essstörungen
245 14

Angstgefühle, depressive Stimmung oder Frus-


⊡ Tab. 14.1. Prozentualer Anteil von Personen, die inner-
halb des letzten Jahres mindestens einmal wöchentlich
tration angegeben (Marcus et al. 1985; Loro u.
die aufgeführten Maßnahmen zur Gewichtsreduktion Orleans 1981).
verwendet haben. Alle Unterschiede sind bei sehr hoher Laborstudien mit experimenteller Emotions-
Effektstärke signifikant induktion bestätigten die korrelativen Ergebnisse
(Robinson et al. 1980; Pine 1985). Die Geschlechts-
Prozentanteil (Frauen versus Männer)
unterschiede im emotionsbedingten Essverhalten
Diuretika 3,4 versus 1,2 traten vor allem dann besonders deutlich auf, wenn
Laxanzien 6,9 versus 1,2 Süßspeisen (z. B. Schokolade oder Eiscreme) als
Nahrungsmittel zur Affektregulation angeboten
Appetitzügler 6,0 versus 2,5
wurden (Ganley 1989).
Erbrechen 1,3 versus 0,9

14.2.5 Weibliche Geschlechtshormone


machen Frauen besonders
Westenhöfer (1992) untersuchte eine reprä- anfällig für Störungen bei der
sentative Bevölkerungsstichprobe von 884 Män- Nahrungsaufnahme
nern und 954 Frauen. Verglichen wurde, wie viele
Frauen und wie viele Männer Maßnahmen zur Es ist lange bekannt, dass weibliche gonadale Ste-
Gewichtsreduktion praktiziert haben (⊡ Tab. 14.1) roidhormone sowohl die Nahrungsaufnahme als
(jeweils Frauen versus Männer) auch den Energiestoffwechsel beeinflussen (Wade
Ergebnisse an 943 Männern und Frauen aus u. Schneider 1992). Veränderungen des Energie-
dem angloamerikanischen Raum bestätigen die aus stoffwechsels (z. B. erniedrigter Ruheumsatz) kön-
Deutschland stammenden Daten (Neumark-Sztai- nen zu unerwünschter Gewichtszunahme führen,
ner et al. 1999). wenn nicht gegensteuernde Maßnahmen bei der
Nahrungsaufnahme ergriffen werden.
Zwei neuere tierexperimentelle Arbeiten lie-
14.2.4 Emotionsbezogenes fern empirische Belege für den Zusammenhang
Essverhalten ist bei Frauen zwischen Östradiol und Metabolismus. Ferrer-
häufiger als bei Männern Lorente et al. (2005) konnten bei Ratten durch
Östradiolgabe eine signifikante Absenkung des
Nahrungsaufnahme kann als Mittel zur Emo- Kalorienverbrauchs auslösen. Benutzt man die Ak-
tionsregulation eingesetzt werden. Insbesondere kumulation von Fettgewebe als Indikator für die
negative Emotionen können durch Essverhalten Erniedrigung des Energieverbrauchs, so konnten
vermindert werden. Die Neigung, Stress durch Toth et al. (2001) zeigen, dass bei Ratten ein signi-
Essen zu bewältigen, wird in der Kindheit erlernt fikanter Zusammenhang zwischen Östradiol und
und kann mit Übergewicht in Zusammenhang Fettgewebe besteht.
stehen (Kaplan u. Kaplan 1957; Bruch 1973). Bei Auch Humanstudien sprechen für unsere
Männern und Frauen empirisch untersucht wur- These. Nagata et al (2005) untersuchten 324 post-
den negative Emotionen wie Angst, Ärger, dep- menopausale Frauen und fanden eine signifikante
ressive Stimmung oder Langeweile. In naturalisti- positive Korrelation zwischen Östradiolspiegeln
schen Studien von Leon und Chamberlain (1973), und der Fettaufnahme. Östradiol hängt nicht nur
Buchanan (1973) und Hoiberg et al. (1980) zeig- mit Aspekten der Nahrungsaufnahme, sondern
ten sich signifikante Zusammenhänge zwischen auch direkt mit klinisch relevanten Essstörungs-
negativen Emotionen und Essverhalten, die bei symptomen zusammen. Dafür sprechen die Daten
Frauen signifikant stärker ausgeprägt waren als von Klump et al. (2005) die in zwei unabhängigen
bei Männern. Das Binge-eating-Syndrom wird Stichproben von jeweils 24 bzw. 25 Frauen signi-
fast ausschließlich von Frauen als Reaktion auf fikante positive Korrelationen zwischen Östradiol
246 Kapitel 14 · Sind nur Frauen essgestört?

in der Follikelphase und Fragebogenskalen zur Er- Literatur


fassung anorektischer und bulimisches Symptome
fanden. Bruch H (1973) Obesity, anorexia nervosa, and the person
within. Basic Books, New York
Der Effekt des Östradiols wird vermutlich
Buchanan JR (1973) Five year psychoanalytic study of obesity.
vermittelt durch die Interaktion des Steroidhor- Am J Psychoanal 33:30–41
mons mit Peptiden, die direkten Einfluss auf die Dewberry C, Ussher JM (1994) Restraint and perception of
Steuerung der Nahrungsaufnahme haben. Sti- body weight among British adults. J Soc Psychol 134:609–
mulierende Effekte auf das Essverhalten haben 619
Edman JL, Yates A, Aruguete MS, DeBord KA (2005) Negative
Galanin ( GAL) und Neuropeptid Y (NPY). Die
emotion and disorderes eating among obese college
zentrale Aktivität beider Peptide ist in hohem students. Eat Behav 6:308–317
Ausmaß von der Östradiolsekretion abhängig. Fairburn CG, Beglin SJ (1990) The assessment of eating dis-
Dies ist tierexperimentell belegt durch Leibowitz orders: Interview or self-report questionnaire? Int J Eat
Disord 16:363–370
et al. (1998) , die Östradiolkonzentrationen im
Ferrer-lorente R, Garcia-Pelaez B, Gomez-Olles S, Fernandez-
Serum, Neuropeptid Y. und Galanin in verschie- Lopez JA, Remesar X, Alemany M (2005) Effects of oral
denen Hirnregionen und die Nahrungsaufnahme esterone on rat balance. Steroids 70:667–672
sowie die Nahrungspräferenz während des Zyklus Ganley RM (1989) Emotion and eating in obesity: a review of
bei weiblichen Ratten gemessen haben. Hohe Ös- the literature. Int J Eat Disord 8:343–361
Garner DM, Garfinkel PE, Schwartz DE, Thompson M (1980)
tradiolkonzentrationen vor der Ovulation waren
Cultural expectations of thinness in women. Psychol Re-
verbunden mit hoher Peptidaktivität für Galanin ports 47:483–491
und Neuropeptid Y, die wiederum zu erhöhter Hill AJ, Pallin V (1998) Dietary awareness and low self-worth:
Nahrungsaufnahme und einer Präferenz für fett- related issues in 8-year-old girls. Int J Eat Disord 24:405–
reiche Nahrung führte. 413
Hoiberg A, Berard SP, Watten RH (1980) Correlates of obesity. J
Auf Frauen übertragen hieße dies, dass durch Clin Psychol 36:983–991
die Hormonausschüttung während des weiblichen Kaplan HI, Kaplan W (1957) The psychosomatic concept of
Zyklus kurzfristig ein Essverhalten gefördert wird, obesity. J Nerv Ment Dis 125:181–201
das langfristig zu Übergewicht führen würde, wenn Klump LK, Gobrogge KL, Perkins PS, Thorne D, Sisk CL, Breed-
love SM (2005) Preliminary evidence that gonadal hor-
nicht Maßnahmen zur Gewichtskontrolle ergrif-
mones organize and activate disordered eating. Psychol
fen werden. Diese Maßnahmen (z. B. gezügeltes Med 36:539–546
Essverhalten, Erbrechen, exzessives körperliches Leibowitz SF, Akabayashi A, Alexander JT, Wang J (1998) Gona-
Training) können dann den Weg in eine klinische dal steroids and hypothalamic galanin and neuropetitide
Essstörung bahnen. Y: Role in eating behaviour and body weight control in
14 Für Männer gelten diese Zusammenhänge
female rats. Endocrinology 139:1771–1780
Leon GR, Chamberlain K (1973) Emotional arousal, eating
nicht, da die in höheren Konzentrationen als bei patterns and body image as differential factors associated
Frauen vorhandene Androgene (z. B. Testosteron) with varying success in maintaining a weight loss. J Con-
keine derartigen Wirkungen auf das Essverhalten sult Clin Psychol. 40:474–480
aufweisen. Loro AD Jr, Orleans CS (1981) Binge eating in obesity: prelimi-
nary findings and guidelines for behavioural analysis and
treatment. Addict. Behav 6:155–166
Fazit Marcus MD, Wing RR, Lamparski DM (1985) Binge eating and
Für alle fünf Thesen finden sich stichhaltige dietary restraint in obese patients. Addict Behav 10:163–
empirische Belege zur Erklärung von Ge- 168
Nagata C, Nagao Y, Shibuya C, Kashiki Y, Shimizu H (2005) Fat
schlechtsunterschieden im Hinblick auf ge- intake is associated with serum estrogen and androgen
störtes Essverhalten. Männer könnten jedoch concentrations in postmenstrual Japanese women. J Nutr
in Zukunft anfälliger für solche Störungen 135:2862–2865
werden, da der Schlankheitsdruck auf Männer Neumark-Sztainer D, Sherwood NE, French SA, Jeffery RW
(1999) Weight control behaviour among adult men and
wächst und vor allem emotionsinduzierte
women: cause for concern? Obes Res 7:179–188
Störungen des Essverhaltens zunehmend auch Pine CJ (1985) Anxiety and eating behaviour in obese and
Männer betreffen können (Edman et al. 2005). nonobese American Indians and white Americans. J Pers
Soc Psychol 49:774–780
Literatur
247 14
Puhl R, Brownell KD (2001) Bias, discrimination and obesity.
Obes Res 9:788–805
Robinson RG, Folstein MF, Simonson M, McHugh PR (1980) Dif-
ferential antianxiety response to caloric intake between
normal and obese subjects. Psychosom Med 42:415–427
Roe DA, Eickwort KR (1976) Relationship between obesity and
associated health factors with unemployment among low
income women. J Am Med Womens Assoc 31:193–204
Spitzer, RL, Devlin M, Walsh BT, Hasin D, Wing R, Marcus M,
Stunkard AJ, Wadden T, Yanovski S, Agras WS, Mitchell J,
Nonas C (1993) Binge eating disorder: Its further valida-
tion in a multisided study. Int J Eat Disord 13:137–153
Toth MJ, Poehlman ET, Matthews DE, Tchernof A, MacCoss MJ
(2000) Effects of estradiol and progersterone on body
composition, protein synthesis, and lipoprotein lipase in
rats. Am J Physiol Endocrinol Metab 280:496–501
Wade GN, Schneider JG (1992) Metabolic fuels and repro-
duction in female mammals. Neurosci Biobehav Rev
16:235–272
Westenhöfer J (1992) Gezügeltes Essen und Störbarkeit des
Eßverhaltens. Hogrefe, Göttingen
Wichstrom L (1995) Social, psychological and physical correla-
tes of eating problems. A study of the general adolescent
population in Norway. Psychol Med 25:567–579
15

Multiple Sklerose – eine neuro-


immunendokrine Erkrankung
Norbert Sommer

15.1 Einführung – 250

15.2 Verlauf – 250

15.3 Symptomatik – 251

15.4 Diagnostik – 253

15.5 Prognose – 253

15.6 Therapie – 254

15.7 Pathogenese – 255


15.7.1 Genetik – 255
15.7.2 Umweltfaktoren – 256
15.7.3 Immunologie und histopathologische Heterogenität – 257
15.7.4 Entzündung im Zentralnervensystem – nur Zerstörung oder auch Protektion? – 258
15.7.5 Stress und Glukokortikoidstoffwechsel – 259

15.8 Geschlechtsspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose – 260


15.8.1 Schwangerschaft und Multiple Sklerose – 262
15.8.2 Therapeutische Ansätze – 263
15.8.3 Geschlechtsspezifische Symptome und deren Therapie – 264
15.8.4 Weitere geschlechtsspezifische Aspekte – 264

Literatur – 266
250 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

> »Wir dürfen jedenfalls die praktische Folgerung daraus ziehen, dass wir uns
da für berechtigt halten, die Schwangerschaft zu vermeiden, wo eine multiple
Sklerose schon vorliegt. ... Ist das Leiden während einer Gravidität entstanden,
oder hat es sich während einer solchen verschlimmert, so wird man die Mög-
lichkeit eines artifiziellen Aborts bzw. die Sterilisation denken müssen.«
(R. Beck 1913)
»Die Beobachtung, daß etwa bei 20% unserer Patientinnen die ersten Zeichen
ihrer Multiplen Sklerose sich während oder nach ihrer Schwangerschaft entwi-
ckelt hatten, entspricht den in der Literatur niedergelegten Zahlen.«
(K. Kulig 1956)
»Insgesamt jedoch – so haben Untersuchungen gezeigt – haben Schwanger-
schaften und Entbindungen keinen ungünstigen Einfluss auf den Gesamtver-
lauf der MS. Nach neuesten Studien soll eine Schwangerschaft nach Ausbruch
der MS den Verlauf sogar günstig beeinflussen.«
(U. Schäfer u. S. Poser 2002)

15.1 Einführung 15.2 Verlauf

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische, Der Erkrankungsverlauf kann schubförmig oder
entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des chronisch-progredient, also mit schleichender
Zentralnervensystems (ZNS), betrifft also Gehirn neurologischer Verschlechterung einhergehen.
und Rückenmark, wobei heute eine autoimmune Ein Erkrankungsschub ist eine neurologische
Ätiologie allgemein angenommen wird. Sie ist die Symptomatik, die über Tage bis wenige Wochen
häufigste Entmarkungserkrankung des ZNS in zunimmt und sich dann wiederum über einige
Nordeuropa und Nordamerika (Prävalenz 1:1000) Wochen langsam zurückbildet. Die formale Defi-
und die häufigste chronisch-neurologische Erkran- nition des Schubes beinhaltet, dass die Symptome
kung, die bei jungen Erwachsenen zu bleibender mindestens 24 Stunden anhalten, mit einem Zei-
Behinderung führt. tintervall von mindestens 30 Tagen zum Beginn
15 Geschlechtsspezifische Elemente lassen sich bei vorausgegangener Schübe auftreten und nicht
der MS auf mehreren Ebenen nachweisen. Die Er- durch Änderungen der Körpertemperatur (sog.
krankung ist bei Frauen etwa doppelt so häufig als Uhthoff-Phänomen) oder im Rahmen von Infek-
bei Männern, wie dies für viele Autoimmunerkran- tionen erklärbar sind.
kungen typisch ist, ohne dass eine genaue Ursache Bei den meisten Patienten (etwa 80%) beginnt
dafür bekannt wäre. Außerdem wird der Verlauf die Erkrankung schubförmig, wobei sich anfangs
einer MS durch eine Schwangerschaft beeinflusst, die neurologischen Ausfälle oft vollständig zurück-
was einen hormonellen Einfluss sehr wahrschein- bilden. Im weiteren Verlauf sind die Remissionen
lich macht. Schließlich haben bestimmte Krank- häufig inkomplett. Der schubförmige Verlauf kann
heitssymptome und -folgen bei Frauen und Män- in eine chronisch-progrediente, also schleichende
nern unterschiedliche Auswirkungen, was zu Un- Verschlechterung übergehen (sekundär-progre-
terschieden in Wahrnehmung, Diagnosestellung dient). Bei den restlichen Patienten verläuft die
und Lösungsansätzen führt. Diese geschlechtsspe- Erkrankung von Beginn an progredient (primär-
zifischen Aspekte werden hier im Kontext einer progredient). Eine Einteilung der verschiedenen
allgemeinen Übersicht über die MS dargestellt. Verlaufsformen zeigt ⊡ Abb. 15.1.
15.3 · Symptomatik
251 15

A B

RR-MS

C D

Behinderung
SP-MS

E F

PP-MS

Zeit

⊡ Abb. 15.1. Verlaufstypen der Multiplen Sklerose. Bei etwa steht von Anfang an eine schleichende Verschlechterung,
80% der Patienten beginnt die Erkrankung schubförmig (RR- also eine primär-progrediente MS (PP-MS) (E), bei der stabile
MS, relapsierend-remittierende MS) mit kompletten (A) oder Phasen und zeitweise leichte Verbesserungen (F) durchaus
inkompletten (B) Remissionen. In etwa 50% der Fälle ist der vorkommen können. Kommt es in seltenen Fällen bei einer
schubförmige Verlauf nach 10 Jahren in einen sekundär- PP-MS im späteren Verlauf erst zu einzelnen Schüben spricht
progredienten (SP-MS) Verlauf ohne (C) oder mit weiteren man von einer relapsierend-progredienten MS (hier nicht
Schübe (D) übergegangen. Bei etwa 15% der Patienten be- dargestellt)

15.3 Symptomatik Neben diesen, meist fokal gut lokalisierbaren Sym-


ptomen, kann es bei einer MS auch zu weniger spe-
Die Symptomatik der MS ist äußerst vielfältig, zifischen zerebralen Symptomen wie Depression,
da praktisch jede Region des ZNS vom Krank- Abgeschlagenheit (sog. Fatigue) und kognitiven
heitsprozess betroffen sein kann. Besonders häufig Störungen kommen (⊡ Tab. 15.2).
sind Sehstörungen (z. B. bei einer isolierten Seh-
nerventzündung), Sensibilitätsstörungen, Paresen Depression. Eine Depression tritt bei MS-Patien-
(Lähmungen), Koordinationsstörungen (z.B. bei ten dreimal häufiger als in der Allgemeinbevölke-
Beteiligung des Kleinhirns), Blasen- und Sexual- rung auf. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa
funktionsstörungen (v. a. bei Rückenmarksbetei- 50% der MS-Patienten (Siegert u. Abernethy 2005;
ligung). Häufige und typische Symptome sind in Haupts 2005). Auch wenn die Ursache der Depres-
⊡ Tab. 15.1 zusammengefasst (Poser et al. 1979). sion bei MS-Kranken multifaktoriell ist, gibt es
252 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

⊡ Tab. 15.1. Häufige und typische (dabei nicht notwendigerweise häufige) Symptome der Multiplen Sklerose

Symptom Als Erstmanifestation Im Verlauf

Störungen der Sehkraft und der Augenbewegungen 100% 49%

Lähmungen 43% 88%

Gefühlsstörungen 41% 87%

Störungen der Bewegungskoordination 23% 82%

Störungen der Blasen- und Mastdarmfunktion 10% 63%

⊡ Tab. 15.2. Weitere typische Manifestationen der Multiplen Sklerose im Vergleich zur übrigen Bevölkerung

Symptom Bei MS-Patienten im Erkrankungsverlauf In der übrigen Bevölkerung

Trigeminusneuralgie 1–2% 0,01–0,02%

Epilepsie 3–5% 0,7%

Fatigue 75–90% 3–30%

Depression 40–60% 10–20%

doch Hinweise, dass der Erkrankungsprozess im bei 75–90% der MS-Patienten auf, ist für 50–60%
Gehirn eine wichtige Rolle spielt und die Depres- das schlimmste Symptom der MS und wahrschein-
sion nicht einfach als adäquate Reaktion auf die lich das Symptom, das am häufigsten zur vorzeiti-
körperliche Erkrankung zu erklären ist (»Wenn ich gen Berentung führt. Die Patienten berichten, dass
MS hätte, wäre ich auch niedergeschlagen.«). So sie das Gefühl haben, »tonnenschwere Sandsäcke
sind Depressionen bei MS-Patienten häufiger als an Armen und Beinen zu tragen«, oder dass sie
bei Patienten mit anderen schweren neurologischen auch nach einer Ruhepause »genauso müde wie
Erkrankungen, z. B. Rückenmarkserkrankungen zuvor« sind. Wie bei der Depression, ist auch die
oder Motoneuronerkrankungen. MS-Patienten mit Ätiologie der Fatigue bei der MS nicht im Detail
vorwiegender Gehirnbeteiligung scheinen häufiger bekannt. Ein Zusammenhang mit Änderungen der
15 depressiv zu sein als solche mit überwiegend spina- Kortex-Erregbarkeit, Nachweis einer Hirnatrophie
ler Symptomatik. Neuere Ergebnisse weisen darauf oder mit erhöhten Tumornekrosefaktor-α-Werten
hin, dass Patienten mit vorwiegend kortikalen Lä- wurden berichtet (Flachenecker et al. 2004). Es
sionen besonders gefährdet sind, eine Depression besteht keine Assoziation der Fatigue-Symptoma-
zu erleiden (Zarei 2006). Eine erhöhte Suizidrate tik mit Alter, Geschlecht, Dauer der Erkrankung
wurde ebenfalls für MS-Patienten berichtet, wobei oder der Lokalisation von zerebralen Läsionen und
vor allem Männer unter 30 Jahren gefährdet waren lediglich eine schwache Assoziation mit dem Auf-
( Kap. 19). Das Suizidrisiko war innerhalb der ers- treten einer Depression, dem Ausmaß der neurolo-
ten fünf Jahre nach Diagnosestellung am größten, gischen Ausfälle oder dem MS-Verlaufstyp.
korrelierte also nicht mit dem Ausmaß der körper-
lichen Behinderung (Stenager et al. 1992). Kognitive Störungen. Kognitive Störungen, in der
Regel als allgemeine Verlangsamung der Informa-
Fatigue. Von einer Depression abzugrenzen ist die tionsverarbeitung, treten bei der MS nicht selten
sog. Fatigue-Symptomatik. Diese abnorme Ermüd- auf (65%), sind aber in der Regel nicht schwer
barkeit bei leichten körperlichen Belastungen tritt ausgeprägt. Nur wenige MS-Patienten erleiden eine
15.5 · Prognose
253 15

ausgeprägte Demenz. Bei kognitiven Störungen, facht wurden (sog. McDonald-Kriterien, nach dem
wie auch bei Aspekten der Krankheitsverarbeitung britischen MS-Forscher und Leiter der Arbeits-
scheinen Geschlechtsunterschiede zu bestehen, die gruppe von 2001). Diese Kriterien nehmen we-
weiter unten im Kapitel ausgeführt sind. sentliche Punkte älterer Diagnoseklassifikationen
auf, ergänzen diese aber durch Zuhilfenahme der
heute weithin verfügbaren Kernspintomographie.
15.4 Diagnostik Konkret besagen die McDonald-Kriterien, dass mit
Hilfe genau definierter kernspintomographischer
Die Diagnose der Multiplen Sklerose ist zunächst Befunde (Anzahl, Lokalisation, Art und zeitliches
klinisch und stützt sich auf den Nachweis von zeit- Auftreten der Läsionen) eine zeitliche und räum-
lich und räumlich disseminierten ZNS-Läsionen. liche Dissemination von Läsionen und damit eine
Beispielsweise könnte ein typischer Patient eine MS bereits früh (Minimum 30 Tage) nach einem
Sehnerventzündung erleiden und dann nach Mo- ersten klinischen Schub festgestellt werden kann.
naten bis Jahren einen zweiten Schub mit Schwä- Eine solch frühe Diagnosestellung wäre noch vor
che und Sensibilitätsstörungen der Beine aufwei- 15–20 Jahren für die meisten Neurologen überflüs-
sen. In diesem Fall wären die Diagnosekriterien sig oder sogar verpönt gewesen (»der Patient wird
der zeitlichen und räumlichen Dissemination im beunruhigt, ohne dass ich etwas für ihn tun kann«).
Sinne einer MS bereits ohne weitere apparative Zu- Heute wird in Anbetracht der ständig steigenden
satzuntersuchung erfüllt (vorausgesetzt relevante Zahl an Therapiemöglichkeiten (s. unten) eine
Differenzialdiagnosen würden ausgeschlossen). frühzeitige Diagnosestellung und gegebenenfalls
ein früher Therapiebeginn als Standard betrachtet.

Diagnostik der Multiplen Sklerose


▬ Kernspintomographie: Nachweis dissemi- 15.5 Prognose
nierter Läsionen in Gehirn und Rückenmark
▬ Liquoruntersuchung: Nachweis von Entzün- Ein wesentliches Charakteristikum der MS ist die
dungsparametern, insbesondere sog. oligo- große Variabilität der Symptome und des Verlau-
klonaler Banden fes. Dies führt zu der, oft als bedrohlich empfunde-
▬ Neurophysiologische Untersuchungen, vor nen, fehlenden Vorhersagbarkeit der Erkrankung.
allem evozierte Potenziale mit Nachweis Daten aus Zeiten vor Einführung der Immunthe-
einer Leitungsverzögerung zentraler Ner- rapien zeigen, dass ein MS-Patient im Prinzip keine
venbahnen wesentlich reduzierte Lebenserwartung hat, aber
nach etwa 15 Jahren mit einer dauerhaften Beein-
trächtigung seiner Gehfähigkeit rechnen muss. Al-
Die in der Übersicht aufgeführten Untersuchungen lerdings ist die Streubreite sehr groß und gute und
bringen mit hoher Sensitivität (MRT und Liquor schlechte Ausnahmen sind nicht selten. Ein Teil der
jeweils >90%) MS-typische Befunde zutage, die MS-Patienten (weniger als 5%) erleiden einen sehr
allerdings nicht an sich spezifisch für eine MS sind. schweren Verlauf und versterben innerhalb weniger
So können bei verschiedenen infektiösen, entzünd- Jahre an Komplikationen der neurologischen Behin-
lichen, vaskulären oder tumorösen Erkrankungen derung. Andererseits existiert ein signifikanter An-
zumindest gelegentlich ähnliche klinische, MRT- teil von Patienten (15–20%) mit gutartigem Verlauf,
oder Liquorbefunde nachgewiesen werden. In die über mehrere Jahrzehnte keine nennenswerte
Einzelfällen können dann invasivere diagnostische Beeinträchtigung ihrer neurologischen Funktionen
Maßnahmen, bis hin zur Hirngewebsbiopsie, not- und ihrer Berufstätigkeit hinnehmen müssen.
wendig sein.
Von Bedeutung für die praktische klinische Prognoseparameter. Gute Prognoseparameter
Tätigkeit ist, dass 2001 neue Diagnosekriterien er- existieren nicht. Patienten mit rein sensiblen Sym-
arbeitet wurden, die 2005 aktualisiert und verein- ptomen oder Sehstörungen haben eher eine bes-
254 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

sere Prognose im Vergleich zu Patienten mit mul- Glatirameracetat zur Reduktion der Schubrate
tifokaler Erstmanifestation, Kleinhirnsymptomen, und Mitoxantron zur Stabilisierung einer raschen
oder motorischen Ausfällen. Für eine längerfristig Progredienz erfolgreich eingesetzt. Für sehr aktive
eher gute Prognose spricht auch ein großer zeit- MS-Fälle wurde im Jahr 2006 das hochwirksame
licher Abstand zwischen den ersten Schüben, ein Natalizumab zugelassen, dessen Handhabung
gutartiger Verlauf innerhalb der ersten 5 Jahre und aber zur Vermeidung schwerer Nebenwirkungen
eine geringe Läsionslast in der MRT. Die neuen MS-Zentren vorbehalten ist. Es sei betont, dass
Therapien werden zweifelsohne eine grundsätz- sich eine sehr große Zahl neuer Immuntherapien
liche Verbesserung der Prognose und damit eine bereits in der klinischen Prüfung befindet und es
Änderung der öffentlichen Wahrnehmung dieser zu erwarten ist, dass ständig neue Therapien auf
Erkrankung bringen. den Markt kommen werden. ⊡ Tab. 15.3 zeigt die
in Deutschland zugelassenen Langzeitimmunthe-
rapien für die Multiple Sklerose.
15.6 Therapie Neben den Langzeitimmuntherapien, die ver-
suchen, den zugrunde liegenden Krankheitspro-
Regelmäßig überarbeitete Grundsätze der MS-The- zess einzudämmen, stehen eine Reihe anderer The-
rapie sind über die Leitseiten der Deutschen Ge- rapien in bestimmten Krankheitssituationen zur
sellschaft für Neurologie (www.dgn.org) und der Verfügung. Akute Krankheitsschübe werden mit
Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (www. hochdosierten Kortikosteroidinfusionen behan-
dmsg.de) frei zugänglich. Die Therapiemöglich- delt, um eine schnellere und komplettere Rück-
keiten haben sich in den letzten 15 Jahren deutlich bildung zu erreichen. Bei schweren Schüben steht
verbessert, was insbesondere auf die Einführung zusätzlich die Plasmapherese zur Verfügung. Dies
von nachgewiesenermaßen wirksamen Langzei- ist ein Verfahren, bei dem Blutplasma des Patienten
timmuntherapien zurückzuführen ist. Als Thera- abgefiltert und durch eiweiß- und elektrolythaltige
pien der ersten Wahl werden Interferon-β und Lösungen ersetzt wird.

⊡ Tab. 15.3. Immuntherapien der Multiplen Sklerose (Stand Ende 2006)

Präparat Zulassung Anwendung Indikationen

Interferon-β1b 1995 Subkutane Injektion jeden zweiten Tag Schubförmige MS


(Betaferon)
Sekundär-progrediente MS
Erstes demyelinisierendes
15 Ereignis verdächtnig auf MS

Interferon-β1a 1997 Intramuskuläre Injektion wöchentlich Schubförmige MS


(Avonex)
Sekundär-progrediente MS
Erstes demyelinisierendes
Ereignis verdächtig auf MS

Interferon-β1a (Rebif ) 1998 Subkutane Injektion dreimal pro Woche Schubförmige MS

Azathioprin (Imurek) 2000 Täglich oral Schubförmige MS

Glatirameracetat 2001 Tägliche subkutane Injektion Schubförmige MS


(Copaxone)

Mitoxantron (Ralenova) 2003 Intravenöse Infusionen im Abstand von Aktive sekundär-progrediente


3 Monaten MS

Natalizumab (Tysabri) 2006 Intravenöse Infusionen im Abstand von Hochaktive schubförmige MS


4 Wochen
15.7 · Pathogenese
255 15

Daneben besteht die Langzeitbetreuung die- ▬ Ansprechen auf immunmodulatorische Thera-


ser chronisch Kranken in einer adäquaten sym- pien
ptomatischen Therapie. Diese besteht aus Phy- ▬ Ähnlichkeit zum Tiermodell der MS, der sog.
siotherapie, Ergotherapie und medikamentöse experimentell autoimmunen Enzephalomyeli-
Therapien zur Besserung von Spastik, Schmer- tis (EAE)
zen, Blasenstörungen, Sexualfunktionsstörungen,
Koordinationsstörungen, Fatigue, Depression und
kognitiven Störungen. Rehabilitationsmaßnah- 15.7.1 Genetik
men sind außerdem, in Abhängigkeit vom Er-
krankungsstadium, prinzipiell sehr hilfreich, um Erbliche Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei
eine langfristige physische und psychische Stabili- der Entstehung der MS. Die Tatsache, dass die MS
sierung der Patienten zu unterstützen. Im Rahmen familiär gehäuft auftreten kann, ist seit Ende des
des großen finanziellen Drucks auf allen Ebenen 19. Jahrhundert bekannt (Sommer et al. 1996). Die
des Gesundheitssystems ist es sehr zu begrüßen, MS ist ein gutes Beispiel für die Untersuchung von
dass auch diese nicht ursächlich, sondern rein komplexen Erbgängen (Beginn und klinischer Ver-
symptomorientierten Therapieansätze in kontrol- lauf sehr variabel, unterschiedliche Penetranz). Dies
lierten klinischen Studien untersucht werden, um führte zu einer Reihe von beispielhaften Untersu-
die Wirksamkeit dieser zum Teil kostenintensiven chungen einschließlich Zwillingsuntersuchungen,
Maßnahmen wissenschaftlich eindeutig zu bele- Untersuchungen an leiblichen und adoptierten An-
gen oder verwerfen zu können. Als Beispiel sei gehörigen, Versuche mit molekularen und immu-
angeführt, dass Behandlungsmethoden der Physi- nologischen Methoden, Suszeptibilitätsgene (»Kan-
otherapie und Rehabilitation, die bisher in der Re- didatengene«) zu definieren und schließlich großen
gel aufgrund persönlicher Erfahrungen angewandt »Genom-Screens«. ⊡ Tab. 15.4 zeigt die Konkor-
wurden, inzwischen in kontrollierten Studien eine danzrate (d. h. die Übereinstimmung des Merkmals
deutlich besseres wissenschaftliches Fundament MS) für unterschiedliche Verwandtschaftsgrade.
haben als noch vor wenigen Jahren (Liu et al. 2003,
Craig et al. 2003). Carter-Effekt. Männer vererben die MS doppelt so
häufig an ihre Kinder wie Frauen. Dieser Befund
wurde kürzlich an über 200 Familien mit mehreren
15.7 Pathogenese MS-Betroffenen reproduziert. Dieser sog Carter-
Effekt (nach dem Englischen Genetiker Cedric O.
In den letzten Jahren, insbesondere seit Anfang der Carter, 1917–1984), der typischerweise bei poly-
1990er-Jahre ist eine enorme Fülle an pathogeneti- genen Erbgängen auftritt, wird damit erklärt, dass
schen Daten zur Multiplen Sklerose zusammenge- das weniger betroffene Geschlecht eine schwerere
tragen worden. Dennoch sind letztlich Ursache und genetische Belastung tragen muss (»Männer sind
genauer Entstehungsmechanismen nicht bekannt. resistenter gegen MS«), damit die Erkrankung
Im Prinzip ist heute unbestritten, dass die MS eine überhaupt zum Ausbruch kommt. Dadurch wer-
▬ entzündliche und degenerative (wahrscheinlich den die Nachkommen stärker genetisch belastet
Autoimmun-) Erkrankung ist, bei der (Kantarci et al. 2006).
▬ Umgebungsfaktoren bei der Manifestation eine
wichtige Rolle spielen und Kandidatengene. Die Gene, die die Suszeptibilität
▬ eine eindeutige genetische Komponente vor- für die MS modulieren, sind kaum bekannt. Selbst
liegt. große Genom-Screens, bei denen das gesamte Ge-
nom an großen, gut definierten Populationen mit
Hauptargumente für die Autoimmunhypothese Sonden nach Kandidaten-Loci abgesucht wurde,
sind: verliefen im Prinzip enttäuschend. Der einzige Ge-
▬ Entzündlich-demyelinisierende und degenera- nort, von dem unzweifelhaft eine Rolle in der
tive histopathologische Veränderungen Manifestation der MS nachgewiesen wurde, ist der
256 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

⊡ Tab. 15.4. Konkordanzrate für Multiple Sklerose

Genetische Übereinstimmung Konkordanzrate für MS

Zwillingsstudien

Eineiige (monozygote) Zwillinge 100% 21–31%

Zweieiige (dizygote) Zwillinge 50% 3–5%

Familienuntersuchungen

Verwandte 1. Grades (Eltern, Geschwister, 50% 3–5%


Kinder)

Verwandte 2. Grades (Geschwister der 25% 2%


Eltern, Großeltern)

Verwandte 3. Grades (Vettern, Cousinen) 12,5% 1–2%

Untersuchungen mit adoptierten Angehörigen

Biologische Verwandte 1. Grades 50% 5%

Adoptierte Kinder oder Geschwister Keine 0,1%*

*Häufigkeit somit wie in der Allgemeinbevölkerung

HLA (human leukocyte antigen)-Lokus. Dieser 15.7.2 Umweltfaktoren


enthält Gene des Haupthistokompatibilitätskomp-
lex (MHC, major histocompatibility antigen), auch Umweltfaktoren spielen ebenfalls eine wichtige
Transplantationsantigene genannt. Die resultieren- Rolle in der Manifestation der MS. Auch hier ist
den Proteine sind in der Zellmembran aller Kör- es allerdings nicht gelungen, einen oder mehrere
perzellen verankert und spielen eine Schlüsselrolle Umweltfaktoren mit entscheidender Rolle zu iden-
bei der immunologischen Erkennung von kör- tifizieren. Die Prävalenz der MS ist in Nordeuropa,
pereigenen und körperfremden Strukturen (Selbst Nordamerika und Südaustralien am höchsten. Al-
oder Nicht-Selbst) und somit auch bei Transplan- lein dieses Verteilungsmuster ist prinzipiell sowohl
tationen. Für viele Autoimmunerkrankungen wur- durch Umwelteinflüsse (ähnliches Klima, ähnliche
den Assoziationen mit bestimmten HLA-Typen Infektionen) als auch durch genetische Vorausset-
15 nachgewiesen. In der nordeuropäischen und nor- zungen (Abstammung von nordeuropäischen Aus-
damerikanischen Bevölkerung ist die MS vor al- wanderern) erklärbar.
lem mit HLA-DR1501 assoziiert. Dieser Befund
ist robust, allerdings quantitativ vergleichsweise Migration. Als Hinweise für die Rolle von Um-
gering. So tragen etwa 30% aller Nordeuropäer weltfaktoren werden vor allem »MS-Epidemien«
HLA-DR1501, unter den MS-Patienten ist dieser und Migrationsstudien angeführt. In der Mitte
Anteil 60%, also um Faktor 2 erhöht. des 20. Jahrhundert erregte ein scheinbar epide-
Zusammengefasst spielen wahrscheinlich eine misches Auftreten der MS auf nordeuropäischen
große Anzahl (möglicherweise 20–30) von Genen Inseln, z. B. den Färöern, Aufsehen und wurde in
eine Rolle, die die Wahrscheinlichkeit, an einer MS Zusammenhang mit einer unbekannten Infektion
zu erkranken, nach oben oder nach unten regulie- nach Stationierung britischer Truppen gebracht.
ren. Offensichtlich ist das Gewicht eines einzelnen Ein Beispiel für eine Migrationsstudie ist die Un-
Gens dabei gering und in unterschiedlichen Po- tersuchung der MS-Häufigkeit bei westindischen
pulationen verschieden ausgeprägt, was die Suche Einwanderern nach England in den 1950er-Jah-
schwierig macht. ren. Während die Einwanderungsgeneration selbst
15.7 · Pathogenese
257 15

noch einen gewissen »protektiven« Effekt ihres EBV-Proteine in Serum und Liquor höher als bei
Herkunftslandes aufwies, ist die Inzidenz in der Kontrollen (Cepok et al. 2005).
ersten, bereits in England geborenen Generation
gleich der allgemeinen englischen Bevölkerung
(Elian et al. 1990). 15.7.3 Immunologie und histo-
pathologische Heterogenität
Virale und bakterielle Faktoren. In den vergange-
nen Jahrzehnten wurden wiederholt bestimmte Vi- Eine große Anzahl von immunologischen Unter-
ren und Bakterien als Ursache (!) oder als Auslöser suchungen bei der MS und insbesondere auch an
der MS beschuldigt, ohne dass für eine dieser Hy- ihrem Tiermodell der experimentellen autoimmu-
pothesen bisher auch nur annähernd ausreichende nen Enzephalomyelitis (EAE), hat eine Fülle von
Evidenz vorgelegt werden konnte. Als mögliche Er- wertvollen Einzeldaten erbracht, die allerdings noch
reger wurden u. a. diskutiert: Epstein-Barr-Virus, nicht nahtlos in ein homogenes pathogenetisches
Herpes-simplex-1-Virus, humanes Herpes-Virus 6, Konzept passen. Bei der Schädigung des ZNS-Ge-
Zytomegalie-Virus, Corona-Virus, Parainfluenza- webes spielen neben CD4-positiven T-Helferzellen
Virus und Chlamydien. Ein prinzipielles Konzept eine Reihe anderer Komponenten des Immunsys-
in der Entstehung von Autoimmunerkrankungen tems eine Rolle, wie z. B. CD8+-T-Zellen, Autoanti-
ist hierbei das sog. molekulare Mimikry. Bei einer körper, Komplementfaktoren und Bestandteile des
Infektion kommt es zu Abwehrreaktionen des Im- unspezifischen Immunsystems. Allerdings scheint
munsystems. Falls eine zufällige Ähnlichkeit von die Aktivierung von autoreaktiven CD4-positiven-
Eiweißstrukturen des Erregers und körpereigenen T-Helferzellen und ihre Differenzierung in einen
Molekülen besteht, kann es zu einer immunolo- sog. Th1-Phänotyp (definiert durch die Produktion
gischen Kreuzreaktion und in deren Folge, wenn von Th1-Zytokinen, v. a. Interferon-γ) und einen
Kontrollmechanismen versagen, zu einer Autoim- Th2-Phänotyp einer der entscheidenden Schritte bei
munerkrankung kommen. der Entstehung des Autoimmunprozesses zu sein.
Epidemiologisch klar nachgewiesen ist inzwi- Die Unterscheidung von CD4-positiven T-Hel-
schen ein statistischer Zusammenhang zwischen ferzellen in Th1- und Th2-Zellen ist eine relativ
MS-Schüben und vorausgehenden unspezifischen neue funktionelle Unterscheidung aufgrund von
Atemwegsinfektionen (Marrie et al. 2000). Fra- Zytokinmustern (Mosmann u. Coffman 1989).
gestellungen zu Infektion und MS fokussieren Th1-Zellen produzieren die Zytokine Interferon-γ,
sich zurzeit vor allem auf das Epstein-Barr-Virus. das Makrophagen aktiviert, und Interleukin (IL)-2,
Dieses Doppelstrang DNA-Virus aus der Gruppe das eine T-Zellproliferation induziert. Th1-Zellen
der Herpes-Viren führt meist zu einer asympto- und ihre Zytokine induzieren also vornehmlich
matischen Infektion, gelegentlich zur infektiösen eine zellvermittelte Immunantwort. Th2-Zellen
Mononukleose (Pfeiffer-Drüsenfieber) und selten produzieren vor allem IL-4 und IL-5, was vor al-
zu bösartigen Tumoren (v. a. B-Zell-Lymphomen). lem die Bildung von Antikörpern fördert. Diese
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die EBV-An- Th1- versus Th2-Differenzierung beinhaltet ein
tikörpertiter im Serum von MS-Patienten höher positives Feedback-System: Th1-Zellen und -Zy-
als bei Kontrollpersonen sind. Praktisch alle MS- tokine beeinflussen eine Immunantwort in Rich-
Patienten sind seropositiv, während 5–10% der tung Th1 und hemmen eine Th2-Differenzierung.
allgemeinen Bevölkerung seronegativ sind. Kinder, Umgekehrt kann eine Th2-Antwort sich selbst
bei denen bereits eine MS diagnostiziert wurde, amplifizieren und eine Th1-Antwort hemmen
haben im Vergleich mit Kontrollpersonen eine (⊡ Abb. 15.3;  Kap. 15.3 und 15.3.2).
deutlich höhere Immunreaktivität gegen EBV, aber
nicht gegen andere verbreitete Viren. MS-Patien- Zielantigene. Eines der Hauptprobleme bei im-
ten haben häufiger als Kontrollen eine infektiöse munologischen Untersuchungen zur MS ist, dass
Mononukleose in der Vorgeschichte und bei MS- ein eindeutiges Zielantigen im ZNS bisher nicht
Patienten waren Immunreaktionen gegen einzelne definiert werden konnte. Bisher untersucht wurden
258 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

vor allem die beiden quantitativ wichtigsten Pro- Die ersten beiden Typen, bei denen die entzündli-
teine, das basische Myelinprotein (MBP) und das che Komponente im Vordergrund steht, sind deut-
Proteolipidprotein (PLP), die zusammen 80% des lich häufiger, als die Typen 3 und 4, bei denen die
Myelinproteins ausmachen, aber auch seltene ZNS- degenerative Komponente dominiert. Die Daten-
Proteine wie Myelin-Oligodendrozyten-Glykopro- lage, insbesondere im Hinblick auf eine Korrelation
tein (MOG), 2’-3’-zyklische Nukleotid 3’-Phospho- zum klinischen Verlauf ist aufgrund der niedrigen
diesterase (CNPase) und noch einige andere. Stark Biopsie- und Sektionsfrequenz hier noch nicht
vereinfacht kann man zusammenfassen, dass im endgültig. Ein Hauptaugenmerk wird derzeit auf
Prinzip T-Zellreaktionen gegen diese Autoantigene die Korrelation zwischen histopathologischen und
bei MS-Patienten und bei Gesunden ohne wesent- kernspintomographischen Befunden gelegt, ohne
liche Unterschiede nachzuweisen sind. Die immu- dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt klinisch-prak-
nologische Spezifität der oligoklonalen Banden im tisch verwertbare Ergebnisse vorzuweisen sind.
Liquor, das klinische Hauptindiz für die ablaufende
Immunreaktion, ist ebenfalls nicht eindeutig.
15.7.4 Entzündung im Zentralnerven-
Histopathologische Klassifikation. Ein wesent- system – nur Zerstörung oder
licher Befund der letzten Jahre ist, dass MS-Läsio- auch Protektion?
nen histopathologisch in verschiedene Muster un-
terteilt werden können. Hierbei scheint bei einem Die MS ist eine chronisch-entzündliche Erkran-
individuellen Patienten (in allen Läsionen) ein kung des ZNS, bei der es durch die Entzündungsre-
bestimmtes Muster vorzuherrschen. Nach Brück, aktion zur Demyelinisierung und somit zum Funk-
Lassmann und Lucchinetti (Übersicht bei Brück u. tionsverlust kommt. Bereits früh im Verlauf ist
Stadelmann 2005) können vier histopathologische aber auch eine degenerative Komponente in Form
Typen unterschieden werden ( Übersicht). eines massiven axonalen Verlusts in frischen ZNS-
Läsionen nachweisbar (Lassmann 2003).
Seit einiger Zeit gibt es auch Hinweise, dass
Histopathologische Typen der autoimmune T-Zellen in verletzte ZNS-Areale ein-
MS-Läsionen wandern können und eine Art Schadensbegren-
▬ Typ 1: Die Läsion wird dominiert von zung vermitteln können (Moalem et al. 1999).
T-Zellen und Makrophagen. Es kommt zu Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass hu-
einer Demyelinisierung, allerdings mit nur mane T- und B-Zellen und Makrophagen in der
geringem Oligodendrozytenverlust. Lage sind, den brain-derived neurotrophic fac-
▬ Typ 2: Neben T-Zellen und Makrophagen tor (BDNF) zu produzieren. BDNF gehört neben
15 sind auch Antikörper und Komplement in nerve growth factor (NGF), Neurotrophin 3 (NT3)
den Läsionen nachweisbar. Es kommt zur und Neurotrophin 4/5 (NT4/5) zu den klassischen
Zerstörung von reifen Oligodendrozyten Neurotrophinen. Diese kleinen endogenen Prote-
mit nachfolgender Remyelinisierung. ine haben antiapoptotische Effekte, die bei der Ent-
▬ Typ 3: Es kommt zur Demyelinisierung wicklung des Nervensystems eine entscheidende
zusammen mit einer Oligodendrozyten- Rolle spielen (Kerschensteiner et al. 2003).
dystrophie. Möglicherweise spielen Mecha- Andererseits konnte durch eine Gabe von exo-
nismen, die nicht immunologisch bedingt genem NGF die Entzündungsreaktion und die kli-
sind hierbei eine Rolle. nischen Symptome im Tiermodell der EAE abge-
▬ Typ 4: Es kommt zu einem primären Oli- schwächt werden (Arredondo et al. 2001). Zusam-
godendrozytentod mit sekundärer Ent- mengefasst ergeben sich also erste Hinweise, dass die
markung. Dieses Muster ist bisher nur Interaktion zwischen Immun- und Nervensystem
bei einigen wenigen Patienten mit primär- nicht nur einseitig aus Schutz und konsekutiv Zer-
progressiver MS gefunden worden. störung des Nervensystems durch Bestandteile des
Immunsystems besteht. Vielmehr sind die Wechsel-
15.7 · Pathogenese
259 15

wirkungen komplexer und das Immunsystem kann (Mohr et al. 2004, ⊡ Abb. 15.2). In der Tat besteht
neurotrophe/protektive Eigenschaften wahrnehmen, eine konsistenter Zusammenhang zwischen Stress-
während das Nervensystem seinerseits immunmo- situationen und nachfolgenden MS-Schüben etwa
dulatorisch/suppressiv tätig werden kann. in der Größenordnung von Faktor 2. Dieser Effekt
ist in 13 der 14 ausgewählten Arbeiten in vergleich-
barem Ausmaß nachweisbar. Einzig eine Studie aus
15.7.5 Stress und Glukokortikoid- Israel kommt zu einem gegenteiligen Effekt. Im Ge-
stoffwechsel gensatz zur Untersuchung von Alltagsstress in den
anderen Studien untersucht diese Studie den Effekt
Stress wird landläufig für viele Krankheiten als einer traumatischen lang andauernden (>1 Monat)
Teilursache verantwortlich gemacht. Harte wis- lebensbedrohlichen Erfahrung, nämlich die Zeit
senschaftliche Befunde für eine solche Annahme, des Raketenangriffs auf Tel Aviv im Golfkrieg von
selbst für den scheinbar offensichtlichen Zusam- 1991. Hierbei wird das Schubrisiko etwa um den
menhang zwischen Stress und Herzerkrankungen, Faktor 2 erniedrigt (Nisipeanu et al. 1993). Dieses
sind aber noch relativ spärlich. Bemerkenswerter- Ergebnis zeigt, dass Art und Ausmaß des Stresses
weise haben sich in den letzten Jahren auch bei einen Einfluss auf dessen biologischen Effekt hat.
einer so heterogenen und variabel verlaufenden Passend dazu zeigen tierexperimentelle Untersu-
Erkrankung wie der MS interessante Befunde hin- chungen, dass bei der EAE Stress unter bestimmten
sichtlich Stress und endokrinen Veränderungen Bedingungen zu einer Stimulation von Kortikoste-
ergeben, die hier kurz ausgeführt werden. roiden und zur Schubreduktion führen kann, wäh-
Eine aktuelle Metaanalyse fasst zahlreiche, im rend in anderen Experimenten »milder« Stress eher
Laufe der letzten Jahre erschienene, wenn auch zu einer Aktivierung der Erkrankung beiträgt.
sehr unterschiedlich konzipierte Studien zu Rolle Eine neue über zwei Jahre durchgeführte große
von Stress als Auslöser von MS-Schüben zusammen prospektive Studie mit 101 MS-Patienten bestätigt,

d (95% CI)
15
Warren 1982 0.53 (0.25 to 0.81)
Franklin 198816 0.57 (0.02 to 1.12)
Grant 198917 1.09 (0.64 to 1.54)
Warren 199118 0.34 (0.05 to 0.63)
19
Gaiatto 1992 0.83 (0.19 to 1.47)
Nisipeanu 199320 -1.03 (-1.77 to -0.20)
Stip 1994 21 0.70 (0.20 to 1.20)
22
Morrison 1994 0.79 (-0.30 to 1.88)
Gasperini 1995 23 0.42 (0.13 to 0.71)
Sibley 1997 24 0.34 (0.04 to 0.64)
Palumbo 1998 25 0.36 (-0.06 to 0.78)
Mohr 200026 0.28 (-0.41 to 0.97)
Ackerman 200327 1.00 (0.43 to 1.57)
Buljevac 200328 0.35 (-0.12 to 0.82)

Mean effect size 0.55

2.0 1.5 1.0 0.5 0 -0.5 -1.0 -1.5 -2.0 ⊡ Abb. 15.2. Effekt von Stress auf die
Stress erhöht Stress senkt Schubrate der Multiplen Sklerose. (Aus
das Schubrisiko das Schubrisiko Mohr et al. 2004)
260 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

dass akute Stressereignisse, nicht aber chronische Autoimmunerkrankungen der Fall ist. Der Grund
Probleme, einen Schub provozierten, und dass sich für die Geschlechtspräferenz bei Autoimmuner-
dies besonders bei Männern und Patienten mit krankungen ist nicht bekannt, nicht zuletzt, da
niedrigem Behinderungsgrad auswirkt. Die Au- dieses Phänomen noch kaum Gegenstand der
toren sehen sich bezüglich einer bidirektionalen Grundlagenforschung ist. Autoimmunerkrankun-
Stresskrankheitshypothese als Circulus vitiosus gen sind häufig und betreffen mindestens 3% der
bestätigt: Stress löst Schübe aus, Schübe wiederum Bevölkerung der westlichen Industriestaaten. Prä-
führen zu Stress (Brown et al. 2006). valenz und Inzidenz einiger Autoimmunerkran-
Endokrine Untersuchungen zu biologischen kungen und deren Geschlechterverteilung sind in
Stressparametern zeigen, dass bei MS-Patienten, ⊡ Tab. 15.5 dargestellt. Die meisten Autoimmuner-
eine Veränderung des Steroidstoffwechsels gefun- krankungen treten bei Frauen im Alter zwischen
den wird, wie dies für Patienten mit Depression seit dem 20. und 40. Lebensjahr auf, was einen hor-
langem bekannt ist (Heuser et al. 1994). So fanden monellen Einfluss bei der Entstehung nahe legt.
Grasser et al. (1996) bei 10 von 19 MS-Patienten Passend dazu ist bei MS und auch Myasthenia
eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen- gravis die Geschlechterverteilung altersabhängig.
Nebennieren-Achse. Mittels des kombinierten Vor dem 40. Lebensjahr sind beide Erkrankungen
Dexamethason-Suppression/Corticotropin-relea- bei Frauen häufiger, bei späterem Erkrankungsbe-
sing-hormone-Stimulationstest (Dex-CRH-Test) ginn sind beide Geschlechter jeweils gleich häufig
zeigten die Autoren, dass die gefundenen Störun- betroffen. Einige Befunde passen allerdings nicht
gen heterogen waren. So fand sich bei sechs Pa- in dieses einheitliche Bild. So gibt es Erkrankungen
tienten eine überschießende Kortisolantwort, bei mit bisher unerklärter männlicher Dominanz, z. B.
vier Patienten dagegen überhaupt keine Stimu- die Bechterew-Erkrankung und die Gruppe der
lierbarkeit. Dieser Befund war unabhängig von chronisch inflammatorisch demyelinisierenden
vorausgehenden Steroid- oder Immuntherapien Polyneuropathien (CIDP). Außerdem sind MS und
und vom psychopathologischen Befund und wird einige andere untersuchte Autoimmunerkrankun-
als Störung auf der Glukokortikoidrezeptor-Ebene gen (z. B. Thyreoiditis) bereits im Kindesalter bei
interpretiert. Darauf aufbauend fanden Schumann Mädchen häufiger als bei Jungen.
et al. (2002), dass die Kortisolantwort im Dex/ Geschlechtsspezifische Unterschiede des Im-
CRH-Test bei 53 MS-Patienten negativ mit der An- munsystems wurden wiederholt postuliert, sind
zahl an kontrastmittelaufnehmenden (also frischen aber erst vor kurzem ins Blickfeld molekularer im-
aktiven) Läsionen im Kernspintomogramm, korre- munologischer Untersuchungen gerückt. Die allge-
lierte. Dies könnte bedeuten, dass dieser endokrine meine Feststellung, dass Frauen ein »stärkeres Im-
Regulationsmechanismus eine wichtige Rolle bei munsystem« als Männer haben, wird als Erklärung
15 der Kontrolle und Begrenzung der immunologi- genutzt, um das häufigere Auftreten von Autoim-
schen Aktivität im ZNS spielt. munerkrankungen, aber auch beispielsweise die
Zusammenfassend könnte Stressbegrenzung, höhere Lebenserwartung zu erklären (McCarthy
sei es mittels verbesserter psychologischer Krank- 2000). Stark vereinfacht dargestellt wurde postu-
heitsverarbeitung (Coping) oder mit Hilfe biolo- liert, dass Frauen eher eine Th1-Immunantwort mit
gisch-pharmakologischer Ansätze, ein wichtiger Produktion von proinflammatorischen Zytokinen
Aspekt für zukünftige Therapiestrategien sein. generieren, während die Immunantwort bei Män-
nern etwas mehr in Richtung einer Th2-Antwort
verschoben ist, was sich in stärkerer Produktion
15.8 Geschlechtsspezifische Aspekte antiinflammatorischer Zytokine und Stimulation
der Multiplen Sklerose der Antikörperproduktion ausdrückt (⊡ Abb. 15.3).
Während einer Schwangerschaft ist es notwendig,
Die MS ist keine ausgesprochene Frauenerkran- dass der Fötus, der immunologisch gewissermaßen
kung. Frauen sind jedoch häufiger betroffen als ein Transplantat (mit der Hälfte der genetischen
Männer, wie dies auch bei den meisten anderen Materials vom Vater, also »halbfremd«) darstellt,
15.8 · Geschlechtsspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose
261 15

⊡ Tab. 15.5. Prävalenz, Inzidenz und Geschlechtsverteilung einiger ausgewählter Autoimmunerkrankungen


(Näherungswerte nach verschiedenen Quellen)

Prävalenz Frauen : Inzidenz (pro Frauen :


(pro 100.000) Männer 100.000 pro Jahr) Männer

Alle Autoimmunerkrankungen 3000 4:1 80

Neurologische Autoimmunerkrankungen

Multiple Sklerose 100 2:1 2–7


– Erkrankungsbeginn <40 Jahren – 3:1
– Erkrankungsbeginn >40 Jahren – 1:1

Myasthenia gravis 10 2:1


– Erkrankungsbeginn <40 Jahren – 4 – 3:1
– Erkrankungsbeginn >40 Jahren – 5–20 – 1:1

Chronisch inflammatorisch demyelinisierende ? 10 1:4


Polyneuropathie (CIDP) und ihre Unterformen

Andere Autoimmunerkrankungen

Rheumatoide Arthritis 500 6:1

Systemischer Lupus erythematodes 50 7:1 3–5 5:1

Morbus Bechterew 100 1:4 1,5 1:4

Th1-Antwort Th2-Antwort
Interferon-g Interleukin-4
Interleukin-2 Interleukin-5
Tumor-Nekrose-Faktor-a Interleukin-10
Tumor-Nekrose-Faktor-b Interleukin-13

Weibliches Immunsystem Männliches Immunsystem


Th2 Th1
Th1 Th2
S chw
anger
schaf
t
Th1
Th2

Immunantwort bei Multipler Sklerose


k tion*
Th2 bredu
Th1 S chu

⊡ Abb. 15.3. Geschlechts- und schwangerschaftstypische Immunantworten


262 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

nicht abgestoßen wird. Hierfür wird das mütter- erreichte im dritten Trimenon 0,2 (hochgerechnet
liche Immunsystem in Richtung einer Th2-Im- pro Jahr) im Mittel. In den drei Monaten nach
munantwort moduliert (Raghupathy 1997). Dies Ende der Schwangerschaft kam es zu einem vorü-
ermöglicht eine erfolgreiche Schwangerschaft und bergehenden Anstieg der Schubhäufigkeit auf 1,2
stabilisiert parallel dazu eine vorliegende Multiple mit anschließendem Abfall auf die Frequenz vor
Sklerose, die klassischerweise als Th1-Erkrankung der Schwangerschaft (⊡ Abb. 15.4). Patientinnen,
gesehen wird (s. oben) und durch einen Th2-Shift die stillten, hatten im Jahr nach der Entbindung
abschwächt werden kann. eine leichte, aber statistisch signifikante Reduktion
So plausibel und schlüssig diese Erklärungen ihrer Schubrate. Die Schubrate im Gesamtverlauf
klingen mögen, sollen sie nicht darüber hinweg der 33-monatigen Beobachtungszeit war durch die
täuschen, dass erst ein Teil davon durch konkrete Schwangerschaft nicht verändert und ebenso fand
molekulare Daten nachgewiesen ist und ein sub- sich kein Einfluss der Schwangerschaft auf die
stantieller Anteil dieser Befunde in tierexperimen- insgesamt langsam fortschreitende Behinderung.
tellen Modellen erhoben wurde. Ähnliche Ergebnisse wurden im Prinzip in allen
neueren gut durchgeführten Studien gefunden,
wobei ein Einfluss des Stillens in den meisten Stu-
15.8.1 Schwangerschaft und Multiple dien nicht nachweisbar ist.
Sklerose Eine schwedische Studie mit 153 Frauen zeigt
darüber hinaus, dass bei Frauen, die geboren ha-
Noch mindestens bis in die 1950er-Jahre hinein ben, ein niedrigeres MS-Erkrankungsrisiko besteht
wurde eine Multiple Sklerose als Kontraindika- und dass im Falle des Auftretens einer MS, diese
tion für eine Schwangerschaft angesehen (s. oben). nach einer durchgemachten Schwangerschaft ein
Heute ist es allgemein verbreiteter und gut fundier- geringeres Progressionsrisiko hat als bei Nulliparae
ter Kenntnisstand, dass Schwangerschaften kei- (Runmaker et al. 1995).
nen ungünstigen Einfluss auf den Gesamtverlauf Untersuchungen zu immunologischen Ver-
der Multiplen Sklerose haben. Diese auffallende änderungen bei Schwangerschaften, mit oder
Kehrtwende der Auffassungen ist nicht leicht zu ohne MS, sind bisher leider spärlich. Gesunde
erklären. Vermutlich hat das Auftreten von MS- Frauen zeigen in einer Schwangerschaft einen
Schüben nach Ende der (früher ohnehin häufige- Anstieg der Blutleukozyten, insbesondere der Po-
ren) Schwangerschaften dazu geführt, dass dieser pulation der T-Zellen, ohne dass sich wesentliche
Zusammenhang stärker wahrgenommen wurde, Unterschiede bei einzelnen Subpopulationen im
als das Ausbleiben von Schüben während einer Vergleich zu nicht schwangeren Kontrollpersonen
Schwangerschaft. nachweisen lassen. Bei MS-Patientinnen wurden
15 Letztlich hat sich erst mit der Durchführung in einer Studie eine Reduktion der CD8-positi-
konkreter klinischer Studien die heute etablierte ven Lymphozyten und des CD4/CD8-Verhältnis-
Auffassung durchgesetzt. Heute ist klar, dass das ses gefunden, ohne dass ein Zusammenhang mit
Schubrisiko im Laufe einer Schwangerschaft ab- der klinischen Krankheitsaktivität vorlag (Birk et
nimmt und in den ersten drei Monaten postpartal al. 1990). Ob andere Schwangerschaftsproteine
vorübergehend zunimmt. Der Langzeitverlauf einer (z. B. α-Fetoprotein) einen relevanten immunolo-
Multiplen Sklerose wird durch eine Schwanger- gischen Einfluss haben, ist bisher ebenfalls noch
schaft jedoch nicht beeinflusst. kaum untersucht.
In einer der größten Studien wurden in 12 eu- Zusammengefasst ist der messbare Einfluss
ropäischen Ländern die Schubhäufigkeiten bei 254 einer Schwangerschaft auf die MS wissenschaft-
Frauen mit MS vor, während und nach insgesamt lich gut etabliert, und es wird MS-Patientinnen
269 Schwangerschaften verglichen (Confavreux heute nicht mehr von einer geplanten Schwanger-
et al. 1998). Die durchschnittliche Schubrate im schaft abgeraten. Auf welchen immunologischen
Jahr vor der Schwangerschaft war 0,7, fiel wäh- Veränderungen dies beruht, ist kaum untersucht,
rend der Schwangerschaft kontinuierlich ab und könnte aber von großer Bedeutung sein, da die
15.8 · Geschlechtsspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose
263 15

Entbindung
1,6

1,4
Schübe pro Frau pro Jahr

1,2

1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

0,0
1 2 3 4 1 2 3 1 2 3 4
Trimester vor Trimester während Trimester nach
der Schwangerschaft der Schwangerschaft der Schwangerschaft

⊡ Abb. 15.4. Effekt einer Schwangerschaft auf die Schubrate. (Aus Confavreux et al. 1998)

geschilderte Schubreduktion in einer Schwanger- In einer Therapiestudie an 10 Patientinnen mit


schaft ein größerer »therapeutischer Effekt« ist, MS (sechs mit schubförmigem, vier mit sekundär-
als der der meisten heute verfügbaren Immun- progredientem Verlauf) wurde das Schwanger-
therapien! schaftsöstrogen Östriol in einer Dosis von 8 mg/
Tag oral über einen Zeitraum von sechs Mona-
ten verabreicht. Unter dieser Therapie wurden
15.8.2 Therapeutische Ansätze Serumöstriolspiegel erreicht, wie sie im sechs-
ten Schwangerschaftsmonat auftreten. Es kam zu
Therapeutische Versuche mit Östrogenen wur- einer Reduktion der zellulären Immunantwort
den zunächst im Tiermodell durchgeführt. Die (nachgewiesen mittels Hauttestung und Interfe-
Gabe von Östriol oder Östradiol reduzieren die ron-γ Produktion in der Zellkultur) und zu einer
Erkrankungsschwere einer EAE und sind begleitet Reduktion der kernspintomographisch messbaren
von einer sog. Immundeviation, also einem Shift Krankheitsaktivität. Eine Änderung der Schubrate
von einer Th1- zu einer Th2-Antwort. Die in die- wurde nicht gefunden, was bei Phase-I/II-Studien
sen Modellen verwendeten Dosierungen sind aber dieser Größe praktisch kaum möglich ist (Sicotte
nicht auf die klinische Situation beim Menschen et al. 2002).
übertragbar. Niedrigere Dosierungen im Tiermo- Weitere klinische Studien mit diesem Ansatz
dell hatten einen deutlich geringeren Effekt. sind sicherlich gerechtfertigt. Es darf aber nicht
Die Frage, ob hormonellen Kontrazeptiva das darüber hinweg gesehen werden, dass eine Lang-
Risiko, an einer MS zu erkranken, beeinflussen, zeitanwendung von Östrogenen erhebliche Ne-
wurde wiederholt diskutiert. Aus methodischen benwirkungen haben kann. Neben einem erhöh-
Gründen (große heterogene Populationen und ten Thromboserisiko wird auch die Entstehung
Kontrollgruppen) kamen aber nur wenig verwert- hormonabhängiger Tumoren begünstigt. Durch
bare Daten zustande. Diese weisen nicht auf eine Kombination der Östrogene mit Gestagenen sinkt
Änderung des MS-Risikos hin. zwar das Risiko eines Gebärmutterschleimhaut
264 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

(Endometrium)-Karzinoms, demgegenüber steigt berichtet. Frauen beklagen dabei am häufigsten


das Brustkrebsrisiko in Abhängigkeit von der Ein- Störungen der Orgasmusfähigkeit (37%), vermin-
nahmedauer. derte vaginale Lubrikation (36%) und verminderte
Libido (31%). Bei Männern kommt es am häufigs-
ten zu erektiler Dysfunktion (63%), Störungen der
15.8.3 Geschlechtsspezifische Symptome Ejakulation (50%) und verminderter Libido (40%)
und deren Therapie (Zorzon et al. 2001). Im Verlauf der Erkrankung
scheint die Zunahme von Sexualfunktionsstörun-
Trotz der eindeutigen Geschlechtspräferenz sind gen überproportional zuzunehmen
viele Themen, die Frauen betreffen, ungenügend Die überwiegende Anzahl von Untersuchun-
untersucht. Hierzu gehören die Sicherheit der Im- gen zur Therapie von Sexualfunktionsstörungen
muntherapien während Schwangerschaft und Still- befasst sich mit Erektionsstörungen bei Männern.
zeit, der Einfluss von Menstruationszyklus und Grundsätzlich umfasst die Behandlung von Se-
Kontrazeption auf die Erkrankung und die The- xualfunktionsstörungen bei Menschen mit MS
rapie geschlechtsspezifischer Symptome wie Bla- psychotherapeutische Verfahren, medikamentöse
sen- und Sexualfunktionsstörungen, auf die hier und (für Männer mit Erektionsstörungen) auch
eingegangen wird. nicht-medikamentöse und invasive Therapien (Va-
kuumpumpen, Schwellkörperautoinjektion). Die
Blasenfunktionsstörungen. Blasenfunktionsstö- medikamentösen Therapieverfahren sind seit der
rungen sind selten eine Erstmanifestation einer Einführung des Phosphodiesterase-5-Hemmer Sil-
MS (<3%), treten aber bei den meisten Patienten denafil (Viagra) revolutioniert worden. Auch bei
(60–90%, je nach Quelle) im Krankheitsverlauf MS-Patienten wurde ein deutlicher Effekt auf die
auf und haben einen deutlich negativen Einfluss erektile Dysfunktion nachgewiesen. Während 24%
auf die Lebensqualität. Das Vorhandensein von eine Verbesserung mit Placebo berichteten, war
Blasenfunktionsstörungen korreliert mit spinalen dies bei 90% der Patienten mit Sildenafil der Fall.
Erkrankungsherden deutlich besser als mit zere- Spezifische Therapien für weibliche Sexual-
bralen Herden, dem Ausmaß der Behinderung oder funktionsstörungen sind bisher nicht verfügbar.
der Krankheitsdauer. In Einzelfällen können Kom- Immerhin wurde eine Studie zu Sildenafil bei
plikationen durch Infektionen sogar lebensbedroh- Frauen mit MS publiziert und zeigte eine leichte
lich sein. Die Manifestation der Blasenfunktions- Verbesserung der Lubrikation, ohne dass andere
störungen ist komplex. Anfangs dominiert meist Parameter wie Orgasmusfähigkeit beeinflusst wor-
eine Dranginkontinenz, später besteht häufiger den wären (DasGupta 2004). Daten zur Psychothe-
Harnverhalt oder Inkontinenz. Trotz zahlreicher rapie bei MS-Patienten mit Sexualfunktionsstörun-
15 Studien und vielfältigen praktischen Empfehlun- gen sind ebenfalls rar. Eine Pilotstudie untersuchte
gen (Trinkmenge, Beckenbodentraining, Biofeed- neun MS-Betroffene und ihre Partner und fand,
back, Medikamente, Katheterisierung) existieren dass zwölf psychologische Beratungssitzungen
kaum geschlechtsspezifische Untersuchungen. Die über drei Monate zu einer signifikanten Verbesse-
Kapitel über Blasenstörungen in Textbüchern, Mo- rung der Störungen und der Paarkommunikation
nographien und Übersichtsartikeln zur MS sind führte (Foley et al. 2001).
fast durchgehend »neutral« gehalten und enthalten
kaum diagnostisch oder therapeutisch geschlechts-
spezifische Aussagen. 15.8.4 Weitere geschlechtsspezifische
Aspekte
Sexualfunktionsstörungen. Sexualfunktionsstö-
rungen sind ähnlich häufig wie Blasenstörungen Kognitive Störungen. Kognitive Störungen kön-
und es besteht eine hohe Korrelation zwischen bei- nen zu jedem Zeitpunkt des Erkrankungsverlaufes
den. Bei Männern werden Sexualfunktionsstörun- der MS auftreten. Sie sind selten schwer, allerdings
gen häufiger (etwa 75%) als bei Frauen (etwa 50%) sind leichte kognitive Störungen, speziell Gedächt-
15.8 · Geschlechtsspezifische Aspekte der Multiplen Sklerose
265 15

nisstörungen – eher Störungen von Sprache und höchsten sind (Stenager et al. 1992). In diesem
Aufmerksamkeit – bei MS-Patienten auch im frü- Zusammenhang ist auch die Beobachtung von
hen Verlauf der Erkrankung wiederholt berichtet Bedeutung, dass MS-betroffene Männer deutlich
worden. Überaschenderweise scheinen kognitive mehr von einer Ehe oder Partnerschaft profitierten
Einschränkungen bei Männern häufiger als bei als Frauen. Auch wenn in dieser Studie (Harrison
Frauen zu sein (Beatty et al. 2002). Von 503 Patien- et al. 2004) kein Zusammenhang zwischen Akzep-
ten in verschiedenen Krankheitsstadien einer italie- tanz der Erkrankung und Grad der Behinderung
nischen Untersuchung, die mit einer neuropsycho- bestand, waren bei Männern sowohl ein geistiger
logischen Testbatterie untersucht wurden, zeigten als auch ein körperlicher Gewinn aus einer Part-
56% kognitive Einschränkungen unterschiedlichen nerschaft nachzuweisen. MS-betroffene Frauen
Ausmaßes. Von den 183 Männern hatten 53% profitierten nicht von einer Partnerschaft, statt-
leichte, 9% schwere kognitive Einschränkungen. dessen entwickelte sich eine zunehmende Krank-
Bei den 320 Frauen hatten 45% leichte, 8% schwere heitsakzeptanz im Laufe der Zeit unabhängig von
Einschränkungen. Bemerkenswert war darüber hi- Familienstand oder Partnerschaft.
naus, dass bei Männern die neuropsychologischen
Defekte mit der Erkrankungsdauer, -schwere, nied- Fehldiagnosen. Ein weiterer bemerkenswerter
rigem Ausbildungsniveau und dem APOE-e4-Allel Geschlechtsunterschied liegt schließlich noch bei
– einem Risikofaktor für Alzheimer-Erkrankung der Diagnosestellung. Die MS mit ihren vielfäl-
– korrelierten. Bei Frauen korrelierten die kogniti- tigen Manifestationsmöglichkeiten wurde bis in
ven Einschränkungen mit keiner der untersuchten die 1990er-Jahre hinein im Durchschnitt erst fünf
Variablen (Savettieri et al. 2004). Jahre nach Beginn der ersten Symptome diag-
nostiziert. Eine Untersuchung aus Israel (Levin et
Coping. Krankheitsverarbeitung ist ein aktuel- al. 2003) beschäftigt sich mit der Häufigkeit und
les, intensiv diskutiertes Problem bei chronischen Art von Fehldiagnosen bei 50 Patienten, bei denen
Krankheiten im Allgemeinen. Die Akzeptanz ei- schließlich eine MS vorlag. Die Rate an anfäng-
ner chronischen Krankheit ist mit einer besseren lichen Fehldiagnosen lag bei den 33 Frauen mit
medizinischen Prognose und mit einer höheren 64% deutlich höher als bei den 17 Männern (47%).
Lebensqualität vergesellschaftet. Bei der MS erhöht Während die Fehldiagnosen bei den männlichen
eine angemessene Krankheitsverarbeitung und Patienten meist orthopädische Erkrankungen oder
-akzeptanz die Kooperation (Compliance) in der Infektionen waren, wurden bei den Patientinnen
Anwendung der modernen aufwändigen (meist oft psychiatrische Probleme (u. a. Angststörung,
parenteralen) Immuntherapien, die früh im Krank- Somatisierung oder Konversion) oder medizinisch
heitsverlauf wirksam sind, auch wenn die Betroffe- nicht erklärbare Störungen diagnostiziert.
nen dann noch kaum subjektive Einschränkungen Dieses Phänomen erinnert stark an das 1991
durch die MS haben. erstmals beschriebene Yentl-Syndrom bei der ko-
Suizide können Ausdruck einer MS-bedingten ronaren Herzerkrankung. Frauen mit Herzinfarkt
Depression (s. oben), aber auch eines Coping-Pro- warten selbst länger zu, ihre Beschwerden werden
blems sein. Suizide sind bei der MS häufiger als ärztlicherseits oft als »atypisch« interpretiert und
in der übrigen Bevölkerung. Eine Untersuchung sie werden später therapiert. Auch wenn die MS,
an über 5000 MS-Patienten des dänischen MS- im Gegensatz zur »Männer- und Managerkrank-
Registers zeigt, dass 1,4% der Männer und 0,7% heit« Herzinfarkt, eher eine Frauenkrankheit ist,
der Frauen Suizid begehen. Die höchste Suizidrate finden sich zwischen beiden bemerkenswerte Par-
findet sich bei Männern mit Symptombeginn vor allelen. Der Terminus Yentl-Syndrom (Healy 1991)
dem 30. Lebensjahr und innerhalb der ersten fünf beruht auf einer Kurzgeschichte Isaac Singers und
Erkrankungsjahre, also in einer Zeit, in der die einem Film mit Barbra Streisand, in dem die junge
körperliche Behinderung durch die Erkrankung osteuropäische Jüdin Yentl sich nicht mit ihrer
in der Regel gering, aber die emotionale Belastung Frauenrolle abfinden will, aber erst als Mann ver-
und die Auswirkungen auf die Lebensplanung am kleidet auf eine Religionsschule gelassen wird.
266 Kapitel 15 · Multiple Sklerose – eine neuroimmunendokrine Erkrankung

Fazit
Die Multiple Sklerose ist eine chronische, ent- Fall ist. Hormonelle Einflüsse sind daher wie-
zündlich-demyelinisierende Erkrankung des derholt postuliert worden, aber auf molekularer
Zentralnervensystems und die häufigste chro- Ebene noch kaum konkret nachweisbar. Ein-
nisch-neurologische Erkrankung, die bei jungen drücklich ist der Einfluss der Schwangerschaft
Erwachsenen zu bleibender Behinderung führt. auf die MS. In einer Schwangerschaft ist das
Sowohl Erkrankungsmanifestation als auch -ver- Risiko für MS-Schübe deutlich reduziert; im letz-
lauf sind äußerst variabel, was die Einschätzung ten Drittel einer Schwangerschaft ist das Risiko
der Langzeitprognose im Einzelfall schwierig sogar so gering, dass es die Effizienz der meisten
macht. Allerdings werden neue und laufend heute verfügbaren immunmodulatorischen The-
zunehmende Therapiemöglichkeiten ohne rapie übertrifft. Eine gute (und zumindest durch
Zweifel das Bild der Erkrankung grundsätzlich Tiermodelle gestützte) Hypothese ist, dass es in
verändern und ihre Prognose verbessern. In der der Schwangerschaft zu einer sog. Immundevi-
Pathogenese der MS spielen sowohl genetische ation, also einer Umstellung von einer Th1- zu
Faktoren als auch Umwelteinflüsse eine Rolle. einer Th2-Antwort, kommt, was sich günstig
Ein wesentlicher neuer Befund ist, dass MS-Läsi- auf den Erkrankungsverlauf auswirkt. Ansätze,
onen histopathologisch in vier Muster unterteilt die mit Hilfe von Hormonen die Erkrankung
werden können. Bei zwei dieser Muster steht der abschwächen sollen, stecken allerdings erst
entzündliche Prozess im Vordergrund, bei zwei in den Anfängen. Neben diesen molekularen
weiteren Typen die degenerative Komponente. Aspekten spielen aber auch eine Reihe allge-
Es ist zu hoffen, dass eine Korrelation zwischen meiner klinische Beobachtungen eine Rolle in
histopathologischen und kernspintomographi- der geschlechtsspezifischen Betreuung von MS-
schen bzw. klinischen Befunden zu individuelle- Patienten. So werden Sexualfunktionsstörungen
ren Therapien führt. bei Frauen deutlich weniger beachtet bzw. be-
Geschlechtsspezifische Elemente betreffen zahl- richtet als bei Männern, wohingegen kognitive
reiche Aspekte der Multiplen Sklerose. Frauen Einschränkungen und auch Suizide aufgrund
sind häufiger betroffen, wie dies bei vielen (aber einer MS-bedingten Depression bei Männern
keinesfalls allen) Autoimmunerkrankungen der häufiger sind.

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16

Geschlechtsspezifische Faktoren
bei hirnschädigenden Ereignissen
Helmut Vedder

16.1 Hormonelle Wirkungsmechanismen im ZNS – 270


16.1.1 Zur physiologischen und pathophysiologischen Bedeutung von Hormonen – 270
16.1.2 Pleiotrope Wirkungsmechanismen von Östrogenhormonen im ZNS – 271

16.2 Östrogenhormone und Krankheitsprozesse – 272


16.2.1 Östrogene bei der Schizophrenie – 272
16.2.2 Östrogene beim Schlaganfall – 274
16.2.3 Östrogene und andere Hormone bei der Alzheimer-Erkrankung – 275
16.2.4 Östrogene und andere neurologische Erkrankungen – 275

16.3 Neuroprotektive Wirkungen von Östrogenen – 276


16.3.1 Der Einfluss einer Östrogenersatztherapie auf hirnschädigende Ereignisse – 276
16.3.2 Neuroprotektion durch Östrogene in Tiermodellen mit fokaler und globaler
Hirnischämie – 277

16.4 Ausblick – 278

Literatur – 280
270 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

> Der Göttinger Physiologe Arnold Adolph Berthold (1803–1861) führte 1849 ein
Experiment durch, das die Endokrinologie mitbegründete: Er kastrierte einige
Hähne und replantierte die kastrierten Hoden in die Bauchhöhle der kastrierten
Tiere oder in die Bauchhöhle von weiblichen Tieren. In den Tieren, die durch das
Hodengewebe mit männlichen Hormonen versorgt wurden, kam es zur Aus-
differenzierung der entsprechenden Morphologie und Verhaltensweisen der
Hähne. Dieses Experiment macht deutlich, dass eine Vielzahl geschlechtsspezi-
fischer Eigenschaften – wenn nicht sogar das Vollbild der Geschlechtsdifferen-
zierung – durch die Einwirkung von Hormonen oder hormonproduzierenden
Organen determiniert wird. Dies spiegelt sich auch in den Wirkungen auf Ge-
sundheits- und Krankheitsprozesse wider und bestimmt so auch die Gewebs-
reaktionen bei Schädigungsprozessen im ZNS. In der Vergangenheit wurden
im Hinblick auf neuroprotektive Wirkungen insbesondere die Wirkungen von
Östrogenen genauer untersucht.

16.1 Hormonelle Wirkungsmechanismen Gesundheits- und Krankheitsfall verbunden sind.


im ZNS Trotz der detaillierten präklinischen Erkenntnisse
über Hormone und ihre Wirkungsmechanismen
16.1.1 Zur physiologischen und ist es bisher nur in einigen Ansätzen gelungen, ein-
pathophysiologischen Bedeutung zelne Wirkungswege auch mit spezifischen Verläu-
von Hormonen fen zu verknüpfen und hier entsprechende Daten
abzuleiten. Dies liegt sowohl an der Komplexität
Geschlechtsspezifische Einflussfaktoren auf die der Wirkungen von Hormonen mit direkten und
Hirnentwicklung und Hirnfunktionen wurden in indirekten zellulären und geweblichen Effekten als
einer Reihe von Studien untersucht. Entsprechend auch an der Komplexität der Regulationsvorgänge
einem Großteil der Erkenntnisse bilden Hormone im Organismus, durch welche entsprechende Ef-
und die durch diese Hormone ausgeübten Wirkun- fekte auch im zeitlichen Verlauf wie z. B. in der
gen hier wesentliche Einflussfaktoren. Daher lag es präpubertären Periode oder im postmenopausalen
nahe, den entsprechenden Einfluss von Hormonen Zeitfenster unterschiedlich vermittelt werden. Hier
oder Hormonentzug auch in pathophysiologischen treffen Hormone auch auf der Gewebeseite auf zum
16 Modellen in präklinischen Ansätzen weiter zu un- Teil völlig unterschiedliche Voraussetzungen. Bei-
tersuchen. Im humanen Bereich war es dagegen spielhaft gilt dies für die differenzierte Ausprägung
möglich, z. B. die Auswirkungen einer Hormoner- von unterschiedlichen Hormonrezeptoren: Hier
satztherapie bei postmenopausalen Frauen auf ver- können nicht nur für das gleiche Hormon in ver-
schiedenste Parameter einschließlich der Inzidenz schiedenen Zellen und Geweben unterschiedliche
von kardiovaskulären Ereignissen und auch Hirn- Rezeptorausstattungen nachgewiesen werden, son-
infarkten weiter aufzuklären. Die diesbezügliche dern diese variieren während der unterschiedlichen
Diskussion im Hinblick auf benefizielle Effekte von zellulären und metabolischen Aktivitätszustände
Hormonen und speziellerweise von Östrogenen ist und in den jeweiligen Zellen und Geweben.
derzeit noch nicht abgeschlossen. Dies ist insbesondere bei pathologischen Pro-
Nach wie vor gibt es auch wenig Einigkeit dar- zessen wie z. B. degenerativen Erkrankungen des
über, welche spezifischen der pleiotropen Effekte ZNS oder bei akuten hirnschädigenden Ereignis-
der Hormone mit einem positiveren Verlauf im sen wie Durchblutungsstörungen z. B. bei ischä-
16.1 · Hormonelle Wirkungsmechanismen im ZNS
271 16

mischen oder hämorrhagischen Hirninfarkten Gedächtnisprozessen und damit auch dem Morbus
von großer Bedeutung. Die komplexen Einwir- Alzheimer gebracht werden (Luine 1985).
kungen geschlechtsspezifischer Faktoren wie z. B. Da es sich beim endokrinen Wirkungsprinzip
von Hormonen treffen hier nicht nur aufgrund um einen sehr früh in der Entwicklung entstan-
des Entwicklungsstadiums des Organismus auf ei- denen Mechanismus handelt, der die Vermittlung
nen spezifischen Zell- und Gewebezustand, son- von Fernwirkungen im gesamten Körper auf der
dern darüber hinaus auf eine pathophysiologisch Basis sekretierter Moleküle, der Hormone, um-
zeitlich differenziert ablaufende Schädigung, die fasst, konnten in den Lebewesen in der weiteren
durch prozesshaft ablaufende lokale und zeitliche Phylogenese eine Vielzahl von Effektormechanis-
Bedingungen charakterisiert ist. Gerade in diesem men entstehen, die das Prinzip weiter bis auf die
heterogenen Wirkungs- und Beziehungsgeflecht zelluläre Ebene hinab verfeinerten:
erscheint es sinnvoll, Substanzen und Einflussfak- Zum einen üben Hormone wie Östrogene di-
toren spezifisch im jeweiligen zeitlichen Zusam- rekte Wirkungen auf andere Moleküle aus. Dazu
menhang in Bezug auf die zu untersuchenden Wir- zählen u. a. die antioxidativen Wirkungen von Ös-
kungseffekte und Effektorparameter zu definieren. trogenen und auch anderen Hormonen (Übersicht
bei Behl et al.1999, 2000; Teepker et al. 2003; Ved-
der et al. 2000). Derartige Prozesse basieren auf
16.1.2 Pleiotrope Wirkungsmechanismen direkten Interaktionen zwischen Östrogenen und
von Östrogenhormonen im ZNS anderen Molekülen, sog. Redoxprozessen. Andere
direkte Wirkungen in Form von Molekülinterak-
Die differenzierenden und differenzierten Effekte tionen können zu karzinogenen Effekten führen
von Geschlechtshormonen auf das Hirngewebe im (Zhu et al. 1993; Liehr et al. 1997; Zhu 2003; Brand-
Verlauf der pränatalen und neonatalen Entwicklung low u. Sepkovic 2004) oder in Wechselwirkungen
sowie darüber hinaus wurden z. B. von Fitch et al. mit antioxidativen Substanzen wie Glutathion ein-
(1998) beschrieben. Neben Wirkungen, die über die münden (Gridley et al. 1998; Schmidt et al. 2002).
klassischen intrazellulären Östrogenrezeptoren, den Derartige Redoxinteraktionen mit Molekülen, die
Östrogenrezeptor-α und den Östrogenrezeptor-β auf dem Austausch von Elektronen aufgrund der
vermittelt werden, konnten weitere und oftmals di- molekularen Affinitätsunterschiede beruhen, wur-
rekte Effekte auf Synaptogenese, exzitatorisch wir- den damit spezifisch für Östrogene beschrieben,
kende N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren (NMDA- spielen jedoch vermutlich auch bei anderen Ge-
Rezeptoren) und eine Reihe anderer Wirkungen schlechtshormonen wie Gestagenen und Testoste-
einschließlich direkter Membranwirkungen und ron eine direkte oder indirekte Rolle.
Wirkungen auf andere Neurotransmitter beschrie- Weiterhin werden unterschiedlichste Hormon-
ben werden (McEwen et al. 1999). So beeinflussen wirkungen durch Hormonmetaboliten vermittelt.
Östrogene auch die serotonergen, cholinergen und Bei Östrogenen sind es hier z. B. die 2- oder 4-
dopaminergen Systeme des Gehirns (O’Keane et al. Hydroxyöstrogene, die differenziell ausgeprägte
1991, 1992; Wieck et al. 1989). chemische Eigenschaften im Vergleich zu den Aus-
Oft werden derartige Effekte auch durch in- gangsmolekülen aufweisen, wie z. B. eine erhöhte
direkte Mechanismen vermittelt. So wird z. B. die antioxidative Wirkung (Teepker et al. 2003).
Wachstumshormonsekretion während des Mens- Derartige direkte, sog. nongenomische Wirkun-
truationszyklus auch durch Östrogene in ausge- gen können den klassischen genomischen Effekten
prägtem Maße beeinflusst, was zusätzlich wie- der Hormone, die in der Genregulation, d. h. einer
derum auch die Aktivität anderer Neurotransmit- direkten Beeinflussung der zellulären Genaktivität
tersysteme des Gehirns verändert (Wieck et al. und der Proteinsynthese bestehen, gegenüberge-
1989). Insbesondere bestehen enge Beziehungen stellt werden. Entsprechende genomische Effekte
zwischen Östrogenen und dem cholinergen Sys- wurden für alle Steroidhormone beschrieben und
tem, dessen Defektzustände wiederum in Zusam- basieren auf dem Prinzip einer direkten Interaktion
menhang mit physiologischen und pathologischen des Hormons mit intrazellulären Rezeptoren, die
272 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

weitere zelluläre Wirkungen auslösen. Der sog. Hor- Spezifisch werden in diesem Bereich weiter-
monrezeptorkomplex beeinflusst dann die Tran- hin sog. »neurotrope«, »neuroprotektive« und auch
skriptionsaktivität an bestimmen Genorten, den »psychotrope oder psychoprotektive« Wirkungen
»steroidresponsiven Elementen« (SRE). Da diese beschrieben: Dabei bezeichnen neurotrope Wir-
Steuerungsvorgänge über eine Vielzahl von Hor- kungen Effekte auf das Teilungsverhalten von Ner-
monen und Hormonmetaboliten sowie eine Viel- venzellen und deren Differenzierungseigenschaften.
zahl von Rezeptoren auch wechselseitig beeinflusst Neuroprotektive Wirkungen beschreiben direkte
werden und zum Teil gleichzeitig oder zell- oder »Schutzwirkungen« von Hormonen auf Nerven-
gewebespezifisch auf eine Vielzahl von Körperzellen zellen und -gewebe unter schädigenden Einflüssen.
und Gewerben einwirken, ist es vorstellbar, dass hier Psychotrope oder psychoprotektive Effekte wer-
eine im Einzelnen unübersichtliche Vielfalt von Pro- den mit oftmals positiven modulierenden Wirkun-
zessen bereits durch die Einwirkung eines Hormons gen auf Gefühl und Verhalten, z. B. über Effekte auf
auf eine Zelle initiiert wird (z. B. Behl u. Holsboer das serotonerge oder das dopaminerge Neurotrans-
1999; Bora et al. 2005; Ikeda u. Inou 2004; Manthey mittersystem, in Verbindung gebracht.
u. Behl 2006). Diese Auslösung von komplexen Vor- Auf der Basis der vorliegenden Daten ist es un-
gängen bereits durch die Einwirkung lediglich ei- mittelbar sinnvoll, geschlechtsspezifische Prozesse
nes Hormons macht die Geschlechtsdifferenzierung und damit auch die Geschlechtsspezifität von Schä-
und die komplexen damit verbundenen Vorgänge digungsprozessen wie vaskulären Prozessen oder
zumindest vom Prinzip her erklär- und verstehbar. neurodegenerativen und neurotoxischen Prozessen
Viele dieser Prozesse regeln sich selber (Autore- mit Hormoneinwirkungen in Verbindung zu brin-
gulation), so dass es zu zyklisierenden oder homö- gen. Exemplarisch sollen hier in der Folge einige
ostatischen Regelkreisen kommt. Beispiele für zykli- hirnschädigende oder das Gehirn funktionell be-
sierende Regelkreise sind der weibliche Zyklus und einträchtigende Ursachen und deren geschlechts-
die damit verbundenen zyklisch wiederkehrenden spezifische Ausprägung beschrieben werden.
Veränderungen, Beispiele für homöostatische Pro-
zesse sind Vorgänge und stoffliche und biologische
Gegebenheiten, die sich im Laufe der weiblichen 16.2 Östrogenhormone und
und männlichen Entwicklung einstellen oder Pro- Krankheitsprozesse
zesse, die z. B. Geburt und Schwangerschaft deter-
minieren. Oft kommt es auch zu Wechselwirkungen 16.2.1 Östrogene bei der Schizophrenie
zwischen homöostatischen und zyklisierenden Pro-
zessen, die sich dann gegenseitig zum Teil in Form Das Auftreten der Schizophrenie zeigt geschlechts-
von labilen Gleichgewichten beeinflussen. spezifische Häufigkeiten. So kommt es im Un-
Nachdem ursprünglich bevorzugt geschlechts- terschied zum Verlauf bei Männern beim weibli-
differenzierende Wirkungen von Östrogenen wäh- chen Geschlecht zu zwei Häufigkeitsgipfeln mit
16 rend der Entwicklung und entsprechende struk- vorausgehender verminderter Inzidenz und einem
turelle und funktionelle Effekte, die ebenfalls mit- nachfolgenden erhöhten Auftreten der Erkran-
telbar zur Geschlechtsdifferenzierung beitragen, kung mit dem Eintreten der postpubertären Phase
untersucht wurden, gibt es mittlerweile eine Viel- und der postmenopausalen Zeitperiode (Häfner
zahl von Daten, die klar belegen, dass Östrogene et al. 1993; Häfner 2003;  Kap. 18). Daraus wurde
auch während des weiteren Lebenslaufes der Orga- eine Schutzwirkung der Östrogene oder spezifisch
nismen kontinuierlich entscheidende Einflüsse auf weiblicher Einflussfaktoren abgeleitet.
eine Vielzahl von Geweben des Körpers ausüben. Da sich auch psychopathologisch, d. h. im Hin-
Dies betrifft auch das Gehirn. Hier beeinflussen blick auf die Ausprägung der Schizophrenie-ty-
Östrogene Differenzierung und Funktionen ein- pischen Denk- und Verhaltensstörungen, zeitlich
zelner Neuronengruppen (McEwen 1999) – so- spezifische Beziehungen zum weiblichen Zyklus
gar differenziert im Verlauf des weiblichen Zyklus herstellen lassen (Häfner 2003; Seeman 1997) sowie
(Maguire et al. 2005; Dazzi et al. 2006). weitere Befunde bestehen, die auf einen engeren
16.2 · Östrogenhormone und Krankheitsprozesse
273 16

Zusammenhang zwischen Hormonen, der schizo- zophrenie bleibt kritisch anzumerken, dass bei ei-
phrenen Symptomatik an sich und dem zeitlichen ner Vielzahl von Untersuchungen zu den Auswir-
Auftreten der schizophrenen Symptomatik deuten, kungen einer Hormonersatztherapie (»hormone
erscheint hier ein Zusammenhang zwischen den relacement therapy«, HRT), oft weder pharmako-
beiden Parametern – d. h. der Psychopathologie logisch einheitliche Östrogene noch eine Monothe-
und hormonellen Veränderungen – zumindest rapie mit Östrogenen zur Anwendung kam. Auch
möglich, wenn nicht sogar sehr wahrscheinlich. spezifische Wirkungsarten und -eigenschaften der
Da die Schizophrenie aufgrund jüngster Er- verwendeten Substanzen wurden in diesen Studien
kenntnisse mit chronischen hirnpathologischen in der Regel nicht berücksichtigt oder flossen nicht
Veränderungen und insbesondere auch mit Verän- einmal in die Diskussion ein. Dies gilt z. B. für
derungen des Stoffwechsels freier Radikale in Ver- die vorliegenden antioxidativen Eigenschaften der
bindung gebracht wird (Doo et al. 1997), eröffnen einzelnen Östrogene oder Hormongemische und
sich auch in diesem Zusammenhang Hinweise auf für die spezifischen Redoxkapazitäten der verwen-
weitere pathophysiologische Zusammenhänge: Ös- deten Substanzen. Weitere Implikationen ergeben
trogene zeigen sowohl direkte antioxidative und die sich hier insbesondere in Bezug auf das scheinbar
Lipidperoxidation hemmende Wirkungen (Behl et vermehrte Auftreten von Tumorerkrankungen in
al. 1995, 1997; Vedder et al. 1999; Simpkins et al. den untersuchten Gruppen. Gerade im Hinblick auf
2005), interagieren mit dem an antioxidativen Pro- Östrogene wurden aus bestimmten präklinischen
zessen beteiligten Glutathion (Gridley et al. 1998; Studienansätzen auch tumorpromovierende Eigen-
Schmidt et al. 2002) und induzieren darüber hinaus schaften abgeleitet (Brandlow u. Sepkovic 2004;
weitere antioxidative Systeme im ZNS (Schmidt et Seeger et al. 2006), die spezifisch durch einzelne
al. 2005). Im weiteren interagieren Östrogene mit Moleküle oder ihre Redoxzustände vermittelt wer-
dem in die Pathophysiologie der Schizophrenie in- den können. Die verhältnismäßig geringen Zahlen
volvierten wichtigen Neurotransmitter Dopamin, des Anstiegs entsprechender Tumorerkrankungen,
dessen Biosynthese auch mit Redoxprozessen in die mittlerweile durch neuere Daten darüber hin-
der Zelle gekoppelt ist (Dazzi et al. 2006). aus teilweise in Frage gestellt wurden (Dietel et al.
Da freie Radikale auch wesentlich in andere 2005), machen deutlich, dass hier in Einzelfällen
Hirnfunktionsstörungen sowohl chronischer Art – unter Umständen bei vorliegender spezifischer
wie z. B. dem Morbus Alzheimer (Behl et al. 1997, Voraussetzung wie einer Prädisposition zum Tu-
1998) als auch in die Pathophysiologie akuter Schä- morleiden – auch pathologische Wirkungen von
digungen wie den Schlaganfall (Moro et al. 2005) Östrogenen zum Tragen kommen können.
involviert sind, haben derartige Befunde auch Im- Ähnliches gilt für die Wirkungen von Östro-
plikationen für eine Reihe weiterer Erkrankungen, genen auf das dopaminerge und serotonerge Neu-
die mit Störungen des Metabolismus sog. freier rotransmittersystem und seine Funktionen und
Radikale verbunden sind. Dies gilt letztlich für eine Funktionsstörungen, die oft mit den sog. psycho-
Vielzahl neurologisch-psychiatrischer Erkrankun- tropen Wirkungen der Hormone in Verbindung
gen, bei denen neurotoxische oder neurodegene- gebracht werden. Auch in diesem Bereich wäre es
rative Vorgänge eine Rolle spielen oder die in Stö- sinnvoll, einzelnen hormonellen Substanzen spe-
rungen des antioxidativen Stoffwechsels und eine zifische Wirkungen zuzuordnen und in klinischen
gesteigerte Oxidation der im ZNS vorhandenen Studien zu überprüfen, ob derartige präklinische
Membranfette einmünden. Derartige prooxidative Befunde durch die Ergebnisse der Studien reflek-
Vorgänge und die durch diese verursachten Schä- tiert werden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf
digungen bilden oftmals kritische Endpunkte von die oftmals gestellte Behandlungsindikation für
pathologischen Prozessen, die meist bereits eine Östrogene oder eine Hormonersatztherapie, die
erhebliche Zellschädigung und damit verbundene zu einer Verbesserung entsprechender psychischer
Gewebezerstörung anzeigen. Defizite beitragen soll. Einzelne Daten deuten in
Im Hinblick auf die Ergebnisse humaner Stu- der Tat darauf hin, dass Östrogengaben auch die
dien zu den Wirkungen von Östrogenen bei Schi- kognitiven Funktionen im Störungsfall verbessern
274 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

können (Bieber und Cohen, 2001). Allerdings Risikofaktoren. Die Risikofaktoren für den Schlag-
ist derzeit unklar, auf welchem detaillierten Wir- anfall sind bei Männern und Frauen ähnlich: Blut-
kungsmechanismus die Effekte beruhen oder bei hochdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen,
welchem Erkrankungszustand hier welche Art von Herzrhythmusstörungen, Herzerkrankung, vorhe-
Östrogenen wirksam und einsetzbar ist. rige Durchblutungsstörungen des Gehirns, Rau-
chen und Alkohol, erhöhtes Körpergewicht und
verminderte körperliche Aktivität.
16.2.2 Östrogene beim Schlaganfall Aufgrund der vorgeschilderten epidemiologi-
schen Besonderheiten, aber auch aufgrund einer
Geschlechtsspezifische Krankheits- Geschlechtsspezifität kommt es bei Frauen zu ei-
bedingungen und Verlaufsunterschiede ner erhöhten Schlaganfallhäufigkeit bei Vorliegen
Inzidenz. Grundsätzlich nimmt die Schlaganfall- dieser Risikofaktoren. Dies betrifft nicht nur die
häufigkeit mit dem Alter zu. Dies bedeutet, dass Todesfallrate, sondern auch das Ausmaß und die
der Schlaganfall im wesentlichen Patienten im hö- Häufigkeit körperlicher Einschränkungen. Als mög-
heren Lebensalter betrifft. Da die Lebenserwar- licher Faktor wurde erwogen, dass z. B. die Blutöst-
tung beim weiblichen Geschlecht zum Teil 10 Jahre rogenkonzentration, die postmenopausal erheblich
oder mehr gegenüber Männern erhöht ist, ist der fällt, mit dieser erhöhten Anfälligkeit verbunden
Schlaganfall beim weiblichen Geschlecht nominell ist. Daher wurden verschiedene Studien initiiert,
von größerer Bedeutung. Dies betrifft zum einen die die Auswirkungen einer Hormonersatztherapie
die Inzidenz, d. h. das Auftreten des Schlaganfalls, auf die Schlaganfallhäufigkeit und den Verlauf nach
der bei Frauen im höheren Lebensalter und damit Schlaganfall untersuchten. Im weiteren wurden in
ganz allgemein bei Frauen erhöht ist, andererseits diese Studien auch Risikofaktoren miteinbezogen,
auch die Todesfallrate nach Schlaganfall, die bei die für einen Schlaganfall determinieren könnten.
Frauen ungefähr doppelt so hoch ist wie bei Män- Auf diese Untersuchungen soll daher in der
nern (Czlonkovska u. Kobajashi 2003). Dies hängt Folge näher eingegangen werden.
vermutlich ebenfalls mit dem höheren Lebensal- Andere Ergebnisse, z. B. der American Heart
ter und dem daraus resultierenden veränderten Association (AHA 2002) zeigen, dass in Amerika,
körperlichen Grundzustand sowie der erhöhten wo 40.000 Frauen pro Jahr einen Schlaganfall erlei-
Gesamtinzidenz zusammen. den, bei Frauen eine erhöhte Inzidenz im Vergleich

Framingham-Studie

Eine der größten und immer noch laufenden geschlechtsspezifische Unterschiede in den
Studien zur Frage des Geschlechts und der me- Gruppen im Alter zwischen 45 und 54 Jahren
16 nopausalen Veränderungen sowie Störungen am deutlichsten ausgeprägt waren, sich aber in
des ZNS bei Frauen ist die Framingham-Studie der nächsten 10-Jahres-Gruppe (55–64 Jahre)
(http://www.nhlbi-nih.gov/about/framingham/ deutlich annäherten (Wolf 1990), war von
index.html). Diese Studie wurde 1946 initiiert erheblicher Bedeutung für einen möglichen
und hat zum Ziel, kardiovaskuläre Erkrankun- Zusammenhang mit hormonellen Verände-
gen einschließlich des Schlaganfalls hinsichtlich rungen. Ähnliche Effekte wurden auch durch
ihres Auftretens und der damit verbundenen andere Untersuchungen beschrieben (Stokes et
Faktoren zu untersuchen. Ergebnisse aus dieser al. 1987; Paganini-Hill 2001). Interessanterweise
Studie haben deutlich gemacht, dass Schlag- ist die Schlaganfallhäufigkeit grundsätzlich bei
anfälle bei Frauen später und mit teilweise Männern höher als bei Frauen (Stegmayr et al.
geringerer Frequenz als bei Männern auftraten 1997) und nimmt mit dem Alter bei beiden Ge-
(Murabito 1995). Gerade das Ergebnis, dass schlechtern zu (Prencipe et al. 1997).
16.2 · Östrogenhormone und Krankheitsprozesse
275 16

zu Männern besteht. Dies wurde von den Unter- Untergang insbesondere cholinerger Neurone, die
suchern mit der höheren Lebenserwartung der mit der Bildung von senilen Plaques und neurofib-
Frauen in Verbindung gebracht. Diese Ergebnisse rillären Faserbündeln verknüpft ist. Funktionell ist
werden auch durch weitere Daten gestützt, die Nervenwachstumsfaktor ein wesentlicher trophi-
zeigten, dass insbesondere bei Frauen, die älter als scher Faktor für diese cholinergen Neurone; dieser
85 Jahre waren, eine höhere Schlaganfallhäufigkeit wiederum wird auch von Östrogenen beeinflusst
auftritt (Barker u. Mullooly 1997). Diese Befunde (Gibbs 1994). Apolipoprotein E4 spielt für die Pro-
blieben jedoch nicht unwidersprochen (Giroud et zessierung des β-Amyloidproteins eine wesentliche
al. 1991). Damit wird deutlich, dass die Untersu- Rolle, was im Hinblick auf genetische Faktoren
chungssituation und das Lebensalter sowie andere von Bedeutung ist. Mit den direkten Wirkungen
Einflüsse einschließlich hormoneller Gegebenhei- von Östrogenen auf die prooxidativen Effekte von
ten die Schlaganfallinzidenz beeinflussen und hier β-Amyloidprotein (Behl et al. 1997) und die Ef-
je nach Untersuchungssituation zu unterschiedli- fekte auf eine vermehrte metabolische Synthese der
chen Studienergebnissen führen. löslichen Form des Amyloidpräkursormoleküls ge-
Ähnliches gilt auch für Folgeerkrankungen wie genüber der unlöslichen Form, dessen vermehrte
die Depression (Kotila et al. 1998) sowie wei- Bildung zum Morbus Alzheimer beiträgt (Xu et
tere funktionelle Einschränkungen, die nach dem al. 1998; Jaffe et al. 1994), wurden Wirkungen von
Schlaganfallereignis auftraten (z. B. Leibson et Östrogenen beschrieben, die eine Rolle bei dieser
al. 1998; Holroyd-Leduc et al. 2000; Di Carlo et Erkrankung spielen. Im Weiteren scheinen indi-
al. 2003). Derartige Befunde würden die Hypo- rekte benefizielle Effekte durch Interaktionen mit
these eines breiteren Schutzes durch Östrogene Apolipoprotein E4 (APOE4) vermittelt zu werden.
unterstützen. Weiterhin würden sie mit der An- So konnte gezeigt werden, dass eine Östrogener-
nahme übereinstimmen, dass der Östrogenschutz satztherapie die kognitiven Defizite insbesondere
bei Frauen in der Postmenopause und im Alter bei älteren Frauen, die APOE4 negativ sind, we-
weitgehend wegfällt, während bei Männern über sentlich verbessert (Yaffe et al. 2000).
die Umwandlung von Testosteron in Östrogene Zusätzlich werden Effekte von Östrogenen auf
auch im Alter eine gewisse – wenn auch vermin- Nervenwachstumsfaktor (NGF) beschrieben, der
derte – Synthese von Östrogenen erfolgt und hier spezifisch das Wachstum cholinerger Neurone im
mit einem entsprechenden Schutz verbunden ist. Sinne eines neurotrophen Faktors fördert (Gibbs
Ähnliche Annahmen würden auch durch Morta- 1994; Granholm et al. 2002). Diese Daten korrelieren
litätsdaten gestützt, die darauf hindeuten, dass vor zum Teil auch mit klinischen Daten in Alzheimer-
allem ältere Frauen eine erhöhte und geschlechts- Patienten, die eine entsprechende Verbesserung der
spezifische Inzidenz für Todesfälle nach einer Hir- kognitiv-mnestischen Parameter unter einer Östro-
nischämie zeigen (AHA 2002; Ayala et al. 2002). gentherapie nachweisen konnten (Fillit et al. 1986;
Diese Daten zeigten auch eine erhöhte prozentuale Doraismay et al. 1997;  Kap. 17). Aktuelle Ergeb-
Todesfallhäufigkeit für Frauen im höheren Lebens- nisse weisen darauf hin, dass zusätzlich vaskuläre
alter auf (AHA 2002: 38,6% schlaganfallbedingete Ereignisse bei der Alzheimer-Erkrankung eine Rolle
Todesfälle bei Männern und 61,4% bei Frauen). spielen könnten. Auch für derartige Prozesse konnte
gezeigt werden, dass Östrogene hier spezifische Ef-
fekte ausüben können (Rodin u. Thomas 2001).
16.2.3 Östrogene und andere Hormone
bei der Alzheimer-Erkrankung
16.2.4 Östrogene und andere
Die Alzheimer-Erkrankung tritt im höheren Le- neurologische Erkrankungen
bensalter mit zunehmender Inzidenz auf und ist
funktionell durch eine Einschränkung der Ge- Migräne
dächtnisleistungen und der kognitiven Leistungen Migräne ist eine sehr häufige Erkrankung, die
charakterisiert. Morphologisch kommt es zu einem auch eine Alters- und Geschlechtsabhängigkeit
276 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

zeigt. Sie tritt 2- bis 3-mal häufiger bei Frauen Traumatische Hirnverletzungen
als bei Männern auf. Im weiteren ist Migräne oft Nach traumatischen Hirnverletzungen (Neuro-
mit psychiatrischen Erkrankungen, Epilepsie und trauma) wurde für Frauen ein besserer Verlauf im
auch dem Schlaganfall insbesondere in Frauen Vergleich zu Männern beschrieben. Dies könnte
unterhalb des 45. Lebensjahrs vergesellschaftet. mit direkten antioxidativen Wirkungen der Östro-
Dies macht deutlich, dass hier den verschiede- gene sowie entsprechenden Wirkungen von Pro-
nen Krankheitsarten ähnliche Ursachen zugrunde gesteron verbunden sein (Roof u. Hall 2000; Baire
liegen könnten. Gemeinsame Mechanismen, die et. al. 2004).
in diesem Zusammenhang diskutiert werden Insbesondere für die Lipidperoxidation, einen
könnten, sind Elektrolytveränderungen infolge Endpunkt einer großen Zahl von Hirnschädigun-
von Hormonen, eine vermehrte Erregbarkeit des gen, konnten geschlechtsspezifische Effekte gezeigt
Gehirns sowie veränderte Transmittersysteme werden (Bayir et al. 2004; Grosswasser et al. 1998).
wie z. B. des exzitatorischen Systems (NMDA, Hier wurde deutlich, dass bei Frauen lediglich die
N-Methyl-D-Aspartat, NMDA) oder des GABA Hälfte lipid-prooxidativer Prozesse nachweisbar
(Gamma-Aminobuttersäure)-ergen Systems. Da- war, wie sie bei Männern gefunden werden konnte
bei konnte u. a. gezeigt werden, dass Östrogene (75,4 gegenüber 154,8). Dies korreliert sehr gut
mit dem exzitatorischen NMDA-System interagie- mit tierexperimentellen (Roof u. Hall 1993, 2000)
ren (El-Bakri et al. 2004) und so die Erregbarkeit und präklinischen Daten, die einen entsprechen-
der Nervenzellen modulieren. Progesteron, ein den antioxidativen Effekt von Östrogenen auch
weiteres Hormon, und seine Derivate sowie die im menschlichen Hirngewebe nachweisen konnten
sogenannten Neurosteroide modulieren dagegen (Vedder et al. 1999).
inhibitorische GABA-erge Wirkungen (Wetzel et
al. 1999).
16.3 Neuroprotektive Wirkungen
von Östrogenen
Morbus Parkinson
Auch im Hinblick auf die Parkinson-Erkrankung 16.3.1 Der Einfluss einer Östrogen-
ist ein Zusammenhang mit den Wirkungen von ersatztherapie auf
Östrogenen wahrscheinlich. Dieser konnte u. a. hirnschädigende Ereignisse
für die klinische Symptomatik hergestellt wer-
den (Shulman 2002; Cyr et al. 2002) und be- Herz-und-Östrogen/Progesteron-Ersatzthera-
ruht zumindest teilweise wahrscheinlich auf einer pie-Studie (HERS). Die HERS (Heart and Estro-
direkten Interaktion mit dem Dopaminsystem. gen-Progestin Replacement Study) untersuchte als
Weiterhin sind freie Radikale in die Pathophysio- erste randomisierte Studie die Wirkungen einer
logie des Morbus Parkinson involviert. Es ist hin- kombinierten Östrogenersatztherapie (Östrogen
16 reichend bekannt, dass Östrogene ebenfalls mit und Medroxyprogesteroneazetat) auf koronare
freien Radikalen in der Zelle und auch in dopami- und zentrale beeinträchtigende Ereignisse. Hier
nergen Neuronen interagieren können. Des Wei- ergab sich keine Erniedrigung des Risikos für ent-
teren konnte molekulargenetisch gezeigt werden, sprechende Ereignisse wie z. B. den Schlaganfall
dass Gene, die in die Entstehung der familiären oder transitorisch-ischämische Attacken (TIA),
Formen des Morbus Parkinson involviert sind, jedoch eine dreifach erhöhte Häufigkeit venöser
auch durch Östrogene beeinflusst werden kön- Thromboembolien (Hulley et al. 1998). Interes-
nen. Dies gilt z. B. für den Ubiquitin-mediierten santerweise zeigte sich hier, dass die hormonsub-
Stoffwechselweg der Proteindegradation (Ikeda stituierten Patientinnen ein initial erhöhtes Risiko
u. Inohue 2004), wenn auch bisher nicht für das kardiovaskulärer Ereignisse aufwiesen, das jedoch
α-Synucelin. Insbesondere letzteres ist auch in die in späteren Jahren im Vergleich zur Gesamtgruppe
Alzheimer-Erkrankung involviert (Trujanovski et abnahm. Diese Befunde könnten in dem Sinne
al. 2002). interpretiert werden, dass das System unter be-
16.3 · Neuroprotektive Wirkungen von Östrogenen
277 16

stimmten Umständen mit einer erhöhten initialen Damit ergibt sich zusammenfassend trotz der vie-
Häufigkeit thromboembolischer Komplikationen len Einzelfallbeobachtungen aus dem klinischen
reagiert, sich dann jedoch unter chronischer Gabe Bereich auf der Basis der derzeit vorliegenden
– unter Umständen auch nur während eines ge- Studien keine klare oder gar eindeutige Daten-
wissen Zeitraumes – stabilisiert und hier einen lage im Hinblick auf neuroprotektive Effekte ei-
gewissen Schutz bietet. Allerdings konnten derar- ner Hormonersatztherapie mit Östrogenen oder
tige Befunde in der zugehörigen Follow-up-Studie einer Kombinationsbehandlung mit Östrogen und
nach sechs und acht Jahren nicht mehr bestätigt Progesteron auf Schlaganfallereignisse oder das
werden (Grady et al. 2002), so dass insgesamt für Auftreten transitorisch-ischämischer Attacken bei
eine Kombinationstherapie von Östrogenen und älteren Frauen. Andererseits machen die vorliegen-
Progesteron keine klaren protektiven Effekte nach- den Studien deutlich, dass eine Reihe von moderie-
gewiesen werden konnten. renden Einflussparametern wie z. B. Effekte nach
einer akuten Gabe oder Effekte unter prolongierter
Women’s Estrogen for Stroke Trial (WEST). In ei- Gabe einschließlich der noch vorliegenden Restak-
ner weiteren Studie, die die Zusammenhänge zwi- tivität von Östrogenen hier durchaus eine Rolle
schen Östrogengabe und Schlaganfall untersuchte spielen könnten.
(Women’s Estrogen for Stroke Trial; Viscoli et al.
2001) wurden vorwiegend ältere Frauen einge-
schlossen, die bereits eine kardiovaskuläre Erkran- 16.3.2 Neuroprotektion durch Östrogene
kung aufwiesen (TIA oder Schlaganfall 90 Tage vor in Tiermodellen mit fokaler
Studieneinschluss). Hier ergab sich eine Erhöhung und globaler Hirnischämie
der Todesfälle nach Schlaganfällen unter der al-
leinigen Therapie mit Östradiol. In dieser Studie Aus einer Reihe von klinischen Beobachtungen
wurde 17-β-Östradiol verwendet; es konnten somit wird deutlich, dass Frauen im mittleren Lebensalter
keine Befunde erhoben werden, die die Annahme einen besseren Verlauf und eine geringere Inzidenz
einer entsprechenden protektiven Wirkung der von Hirnschädigungen aufweisen, wenn sie unter
Substanz im Hinblick auf Schlaganfälle oder an- entsprechenden Bedingungen mit Männern ver-
dere ischämische Ereignisse unterstützten . glichen werden. Ähnliches gilt auch für Tiere wie
z. B. Nager und insbesondere weibliche Tiere. Dies
Women’s Health Initiative (WHI). Auch in der führte zu entsprechenden experimentellen Ansät-
WHI-Studie (http://www.nhlbi.gov/whi/) beinhal- zen, um die zugrunde liegenden Faktoren weiter
teten zwei Behandlungsarme eine Hormonersatz- zu charakterisieren. So konnte z. B. nachgewiesen
therapie; zum einen erhielten Frauen mit einer werden, dass in weiblichen Nagern spontane vas-
vorherigen Hysterektomie randomisiert Plazebo kulär bedingte Schlaganfallereignisse mit Todes-
oder Östrogene, zum anderen wurde eine Gruppe folge mit geringerer Häufigkeit als in männlichen
Frauen mit einem intakten Uterus mit einem Pla- Tieren auftraten. Eine Ovarektomie führte zu einer
zebo oder einer Östrogen-Progesteron-Kombi- erhöhten Häufigkeit, die durch eine nachfolgende
nation behandelt. Letztere Therapie wurde 2005 Östrogensubstitution wieder vermindert werden
abgebrochen, da unter der kombinierten Östrogen- konnte. Dies ergibt sich aus den Arbeiten von Mc-
und Progesterontherapie eine erhöhte Häufigkeit Cullough u. Hurn (2003), wird jedoch auch durch
von Tumorerkrankungen der weiblichen Brust und andere Daten belegt (Yamori et al. 1976; Alkayed
eine erhöhte Schlaganfallinzidenz gefunden wur- et al. 1998).
den (Rossouw et al. 2002). Die weiteren »Outcome- Entsprechende weiterführende Untersuchun-
Parameter« ergaben ebenfalls keine eindeutigen gen beinhalteten sowohl eine totale dauerhafte Un-
positiven Befunde, sondern zeigten zusammen- terbindung der Blutzufuhr durch Verschluss der
genommen ebenfalls eher negative Effekte, z. B. mittleren Zerebralarterie (Arteria cerebri media
im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisse oder beim Menschen) oder durch einen zeitlich be-
pulmonale Embolien. grenzten, sog. transienten Verschluss, um hier auch
278 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

Reperfusionsanteile mit zu simulieren. Bei all die- werden konnten. Es wird aus diesen Ansätzen aber
sen Untersuchungen, die zusammengefasst z. B. bei auch deutlich, dass die spezifische Definition von
McCullough u. Hurn (2003) dargestellt sind, ergab den experimentellen Bedingungen, unter denen
sich, dass eine Ausschaltung der östrogenvermittel- die Substanzen gegeben werden, die chemische
ten Wirkungsstrecken durch Ovarektomie, Rezep- Definition der Hormone, sowie die Definition der
torantagonisten oder die Verwendung von älteren Zeitintervalle, in denen diese verabreicht werden,
Tieren (reproduktive Seneszenz) dazu führte, dass von entscheidender Bedeutung sind. Erst eine rigo-
entsprechende Ausfälle in vermehrter Häufigkeit rose Definition dieser Bedingungen im humanen
auftraten (Alkayed et al. 1998; Sawada et al. 2000; System – die jedoch aus praktikablen Erwägungen
Alkayed et al. 2000). Die chronische oder akute sehr schwierig sein wird – könnte hier zu klareren
Östrogengabe dagegen führte zu ausgeprägten Ver- experimentellen Verhältnissen und entsprechen-
besserungen gegenüber dem östrogendefizienten den aussagekräftigeren Daten führen. Insbeson-
Status unter nahezu allen Bedingungen (Übersicht dere bleibt zu bemerken, dass Östrogene derzeit
bei McCullough u. Hurn 2003). Dabei konnte ge- nicht in der Akutbehandlung des Schlaganfalls ein-
zeigt werden, dass insbesondere 17-β-Östradiol, gesetzt werden, sondern lediglich die Auswirkung
das physiologische Östrogen, hier entsprechende einer chronischen Gabe von Östrogenen wie z. B.
protektive Effekte zeigte. Kaum untersucht wurden einer Hormonersatztherapie auf die entsprechen-
unter diesen Bedingungen kombinierte Hormon- den Schlaganfallparameter und die funktionellen
präparate, z. B. Östrogene und Progesterone, wie Ergebnisse unter diesen Bedingungen beschrie-
sie oft bei der Hormonersatztherapie zur Anwen- ben werden. Daher wird es notwendig sein, sich
dung kommen. in Zukunft weiter von beiden Seiten – d. h. der
In weiteren Studien konnte auch für männ- klinischen und der präklinischen Ebene – an die
liche Tiere gezeigt werden, dass hier eine Östro- optimalen Bedingungen einer Östrogengabe he-
gensubstitution entsprechende positive Wirkungen ranzuarbeiten, um benefizielle Effekte zu klären
zeigt. Dabei ergab sich, dass die physiologischen und diese für die Therapie verfügbar zu machen.
Bedingungen, d. h. die Bedingungen, unter denen
Östrogene im Organismus vorhanden sind, bei
weiblichen Tieren nicht mehr durch zusätzliche 16.4 Ausblick
Östrogengabe verstärkt werden konnten, während
bei männlichen Tieren nach Östrogensubstitution Die vorhandenen Daten machen deutlich, dass es
ein zusätzlicher Effekt nachweisbar war. Im wei- markante Geschlechtsunterschiede in Bezug auf
teren konnten spezifische Bedingungen analysiert hirnschädigende Ereignisse gibt. Eine Vielzahl von
werden, die deutlich machen, dass unterschied- Daten sprechen dafür, dass die Ausprägung und
lichste Mechanismen wie vaskuläre Effekte, gliale der Verlauf von hirnschädigenden Ereignissen
Effekte, d. h. Wirkungen auf die Gliazellen des beim weiblichen Geschlecht milder verlaufen und
16 ZNS, und Effekte auf den Intermediärstoffwechsel im Hinblick auf die Prognose als besser zu beurtei-
im Hinblick auf die Schädigungsereignisse und len sind als beim männlichen Geschlecht. Auch ist
die Wirksamkeit von Östradiol unter diesen defi- die Inzidenz pathologischer Ereignisse ganz allge-
nierten Ischämiebedingungen von Bedeutung sind. mein bei Frauen und unter Östrogensubstitution
Auch konnten einzelne morphologische Eigenar- zumindest im Tierexperiment beim weiblichen
ten der Effekte herausgearbeitet werden, so z. B. ein Geschlecht geringer ausgeprägt.
erhöhter nekrotischer Zelltod unter Östrogengabe Dies ändert sich jedoch, wenn es zu einer Ver-
in der hippokampalen CA1-Region (Harukuni et minderung der zirkulierenden Östrogene kommt,
al. 2001). wie es in der Menopause der Fall ist. Dann kommt
Damit wird deutlich, dass bei den Wirkungen es bei Frauen zu einer erhöhten Inzidenz und
von Östrogenen unter Ischämiebedingungen ent- schwereren Krankheitsverläufen. Entsprechende
sprechende neuroprotektive Effekte tier- und zel- Effekte sind bei Männern schwerer nachweisbar.
lexperimentell nahezu ausnahmslos nachgewiesen Dies ist experimentell darin begründet, dass die
16.4 · Ausblick
279 16

Östrogenspiegel zwar in der Andropause abfallen, NMDA-System und das GABA-erge System dar-
jedoch immer noch ausreichend Östrogene aus stellen. All diese Prozesse sind unter Gesundheits-
den verbliebenen Androgenen produziert werden. zuständen beeinflussbar und werden durch homö-
Allerdings kommt es zu funktionellen Einschrän- ostatische und zyklische Prozesse moduliert. Bei
kungen beim männlichen Geschlecht, falls Testo- Erkrankungen oder im präklinischen Vorstadium
steron nicht mehr – z. B. durch ein verminderte wirken derartige Prozesse in einer hierarchischen
oder fehlende Tätigkeit des Enzyms Aromatase Weise kompensatorisch. Diese betrifft zunächst
– zu Östrogenen umgewandelt wird (Balthazart et rein funktionelle Aspekte und mündet später in
al. 2004; Bimonte-Nelson et al. 2003). strukturelle Veränderungen, wie sie durch eine
Aus der Gruppe der Geschlechtshormone wir- vermehrte Produktion von unlöslichem β-Amy-
ken insbesondere Östrogene im Krankheitsfall loid, vermehrte prooxidative Prozesse und eine
über eine Vielzahl von Mechanismen zytoprotektiv: vermehrte Lipidperoxidation mit dem damit ver-
Dieses gilt für die Beeinflussung von Stoffwechsel- bundenen zeitlich später auftretenden Zellunter-
wegen, die Interaktion mit Wachstumsfaktoren gang wiedergespiegelt werden.
und metabolischen intrazellulären Vorgängen, die Zur pharmakologischen Dissektion dieser
Interaktion mit Transmittersystemen sowie die ge- Pathomechanismen und Wirkungsbedingungen
nerellen Effekte auf den Zellstoffwechsel durch müssen Substanzen entwickelt werden, die mit den
genomische und direkte membranäre Mechanis- einzelnen Teilprozessen spezifisch interagieren und
men. Auch direkte antioxidative Wirkungen ent- unter Umständen in den entsprechenden zeitlichen
weder im Zellstoffwechsel, beim Stoffwechsel von Fenstern zur positiven Beeinflussung der patholo-
Neurotransmittern wie dem Dopamin oder direkt gischen Vorgänge appliziert werden können. Wei-
im Hirngewebe in Zusammenhang mit der Beein- terhin wird es notwendig sein, präklinische und
flussung der Lipidperoxidation sind hier von Be- molekulare Erkenntnisse zur Theoriebildung und
deutung. Im Hinblick auf Progesteron spielen u. a. zum detaillierten experimentellen Studiendesign
antiexzitatorische Mechanismen eine Rolle, wie sie heranzuziehen, um diese dann an soweit wie mög-
direkt durch dieses Hormon und seine Metaboliten lich definierten hochkomplexeren biologischen
ausgeübt werden. Systemen einschließlich des Menschen weiter he-
Aufgabe der Zukunft wird es sein, pathophysio- rauszuarbeiten. Erst derartige Ansätze werden es
logische Hauptstoffwechselwege herauszuarbeiten, ermöglichen, die äußert komplexen Wirkungen
deren Beteiligung auch in klinischen Krankheits- von Hormonen und insbesondere Östrogenen auf
modellen und Studien entsprechend berücksichtigt den verschiedensten Ebenen weiter aufzuklären.
werden kann. Gleichzeitig wird zwischen den eher
physiologischen Verhältnissen zugeordneten Wir- Fazit
kungsbedingungen der Hormone oder den eher Hormone üben vielfältige Wirkungen auf den
pathophysiologischen Verhältnissen zugeordneten Organismus aus. Sie sind nicht nur entschei-
Bedingungen, d. h. den hormonelle Effekten un- dend in physiologische Vorgänge involviert,
ter Krankheits- oder Gesundheitsbedingungen, zu sondern beeinflussen auch pathophysiologi-
unterscheiden sein (z. B. Liehr 1984; Dykens et sche Prozesse und Krankheiten auf den ver-
al. 2005; Jefcoate et al. 2000). Bedeutsame Modu- schiedenen Ebenen von der Zelle bis hin zu ko-
lationsfelder für definierte Substanzen, Hormone ordinierenden und übergreifenden Wirkungen
und Hormonderivate könnten hier z. B. die Be- auf den Gesamtorganismus.
einflussung der neurozellulären Erregbarkeit, die Insbesondere für die Gruppe der Östrogene
Wechselwirkungen mit pro- und antioxidativen wurden dabei benefizielle Wirkungen bei den
Prozessen einschließlich der Lipidperoxidation, unterschiedlichsten Krankheiten beschrieben,
Effekte auf zelluläre Intermediärprozesse wie den und zwar sowohl auf die zelluläre Ebene in
Kalziumstoffwechsel sowie Effekte auf Transmit- Form von sog. zyto- oder neuroprotektiven
tersysteme wie das cholinerge System, das sero- ▼
tonerge und das dopaminerge System sowie das
280 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

Behl C, Holsboer F (1999) The female sex hormone oestrogen


Effekten als auch mit sog. psychoprotektiven as a neuroprotectant. Trends Pharmacol Sci 20:441–444
Auswirkungen auf die Verhaltensebene. Die (review)
Behl C, Manthey D (2000) Neuroprotective activities of estro-
zugrunde liegenden Effektormechanismen sind
gen: an update. J Neurocytol 29:351–358. (review)
dabei in ihrer Gesamtheit derzeit noch weitge- Behl C, Widmann M, Trapp T, Holsboer F (1995) 17-beta estra-
hend unklar, obwohl eine Vielzahl von präklini- diol protects neurons from oxidative stress-induced cell
schen Ansätzen auch verschiedene, in diesem death in vitro. Biochem Biophys Res Commun 216:473–
Zusammenhang relevante Stoffwechselwege 482
Behl C, Skutella T, Lezoualch F, Post A, Widmann M, Newton
detaillierter beschreiben konnten.
CJ, Holsboer F (1997) Neuroprotection against oxidative
Dabei wurden unter anderem Zusammenhänge stress by estrogens: structure-activity relationship. Mol
zwischen metabolischen Effekten und vaskulä- Pharmacol 51:535–541
ren ZNS-Erkrankungen – wie z. B. der zerebralen Bieber EJ, Cohen DP (2001) Estrogens and hormone replace-
Ischämie und der zerebralen Blutung –, der ment therapy: is there a role in the preservation of cogni-
tive function? Int J Fertil Womens Med 46:206–209
Schizophrenie, dem Morbus Parkinson und an-
Bimonte-Nelson Ham Singleton RS, Nelson ME, Eckman CB,
deren Bewegungsstörungen sowie der Migräne Barber J, Scott TY, Granholm AC (2003) Testosterone, but
und neurotraumatologischen Schädigungen not nonaromatizable dihydrotestosterone, improves wor-
beschrieben. king memory and alters nerve growth factor levels in
Zukünftig wird es notwendig sein, anhand der aged male rats. Exp Neurol 181:301–312
Bora SH, Liu Z, Kecojevic A, Merchenthaler I, Koliatsos VE
vorliegenden Daten Parameter zu definieren,
(2005) Direct, complex effects of estrogens on basal fore-
die die Untersuchung der spezifischen Auswir- brain cholinergic neurons. Exp Neurol 194:506–522
kungen von einzelnen Hormonen auf relevante Brandlow HL, Sepkovic DW (2004) Steroids as procarcinogenic
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282 Kapitel 16 · Geschlechtsspezifische Faktoren bei hirnschädigenden Ereignissen

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17

Demenz bei Frauen und Männern:


das gleiche Problem?
Miriam Kunz, Stefan Lautenbacher

17.1 Einführung – 284

17.2 Geschlechtsunterschiede in der Alzheimer-Demenz – 284


17.2.1 Prävalenz – 285
17.2.2 Inzidenz – 285
17.2.3 Kognitive Leistungseinbußen – 286
17.2.4 Psychopathologische Auffälligkeiten – 287

17.3 Zugrunde liegende Mechanismen der Geschlechtsunterschiede – 288


17.3.1 Endokrinologische Ursachen – 288
17.3.2 Genetische Ursachen – 290

17.4 Geschlechtsunterschiede in anderen Demenzformen – 291

Literatur – 292
284 Kapitel 17 · Demenz bei Frauen und Männern: das gleiche Problem?

> »Sehen wir uns genötigt, das Weib für schwachsinnig im Vergleiche mit dem
Manne zu erklären, so ist damit doch nichts zum Nachtheile des Weibes ge-
sagt.«
(aus P. J. Möbius 1903, S. 30 »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes«)

17.1 Einführung santerweise liegt der Frauenanteil in deutschen


Alten- und Pflegeheimen zumeist um die 70%
Die erhebliche Steigerung der individuellen Le- und steigt mit zunehmender Hochaltrigkeit auf
benserwartung im 20. Jahrhundert hat den Be- 80–90% an. Folglich scheint man in deutschen
völkerungsaufbau in den Industrienationen nach- Alten- und Pflegeheimen in überwiegender Mehr-
haltig verändert, so dass ältere Menschen einen zahl demenzkranke Frauen anzutreffen. Was sind
immer größer werdenden Teil der Bevölkerung die Ursachen hierfür? Ist die Demenz vorwiegend
ausmachen. Eine der Folgen hiervon ist auch ein eine altersassoziierte Frauenkrankheit? Gibt es tat-
Anstieg altersassoziierter Erkrankungen in unserer sächlich Hinweise darauf, die die Hypothese eines
Gesellschaft. Eine der wohl wichtigsten Gruppen »physiologischen Schwachsinns des Weibes« (siehe
der altersassoziierten Erkrankungen sind die De- Zitat von Möbius im Trailer) bestätigen?
menzerkrankungen. Bei gesunden Personen kann die Hypothese
Die möglichen Ursachen einer Demenz sind von Möbius sicher widerlegt werden. So zeigt sich
vielfältig und umfassen neurodegenerative und bei Untersuchung der kognitiven Leistungen jün-
vaskuläre Prozesse, ernährungsbedingte Mangel- gerer Personen (erfasst u. a. durch Schulleistungen
erscheinungen sowie internistische Erkrankungen. und den Hochschulleistungen) ganz im Gegenteil,
Gebräuchlich ist jedoch die grobe Unterteilung der dass die weiblichen Schüler und Studenten in ihren
Demenz in primär degenerative und vaskuläre De- kognitiven Leistungen zumeist den männlichen
menzformen (Diehl 2003). Während der neuronale Schülern und Studenten überlegen sind (Diperte u.
Zelluntergang bei den primär degenerativen Er- Buchmann 2006; Halpern 1997;  Kap. 6). Darüber,
krankungen wesentlich durch intra- und extrazel- ob das weibliche Gehirn im Alter nun häufiger als
luläre Proteinablagerungen verursacht wird, so sind das männliche von einem kognitiven Abbau als
Erkrankungen der Hirngefäße an der Entstehung Folge einer demenziellen Erkrankung betroffen ist,
der vaskulären Demenz beteiligt. Gemeinsam ist soll das vorliegende Kapitel Auskunft geben.
allen Demenzformen, dass es sich immer um eine Es liegt mittlerweile eine Vielzahl von Stu-
sekundäre Verschlechterung kognitiver Leistungen dien vor, die sich mit Geschlechtsunterschieden in
handelt, die zumeist progredient verläuft. Hier- der Demenz, vor allem bei Alzheimer-Erkrankun-
bei treten typischerweise Leistungseinbußen im gen, beschäftigen. Die Forschungsbefunde zu Ge-
Bereich des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, schlechtsunterschieden in der Alzheimer-Demenz
17 der Sprache, der Orientierung und der exekutiven umfassen ein weites Spektrum und erstrecken sich
Funktionen auf. Folge dieser Leistungseinbußen sowohl auf Studien zur Epidemiologie, Neuropsy-
sind Beeinträchtigungen der Alltagskompetenz, chologie, Psychopathologie, Endokrinologie und
die im Verlauf der Erkrankung zunehmend einem Genetik.
Autonomieverlust und damit zu Abhängigkeit von
Betreuung und Pflege führen.
So wundert es nicht, dass in deutschen Al- 17.2 Geschlechtsunterschiede
ten- und Pflegeheimen durchschnittlich 60–70% in der Alzheimer-Demenz
der Plätze von Personen in Anspruch genommen
werden, die an einer mittelschweren bis schweren Epidemiologie. Die Alzheimer-Demenz (AD) ist
Demenz leiden (Schäufele et al. 2002). Interes- nach epidemiologischen und klinischen Untersu-
17.2 · Geschlechtsunterschiede in der Alzheimer-Demenz
285 17

chungen die häufigste Demenzform, mit einem sind recht homogen und weisen auf signifikant hö-
Anteil von rund zwei Dritteln an allen Demen- here Prävalenzzahlen für Frauen hin (Bachman et al.
zerkrankungen, was einer Krankenzahl von etwa 1992; Barker et al. 2002; Corso et al. 1992; Folstein
650.000 in Deutschland entspricht (Bickel 2000). et al. 1991; Graves et al. 1996; Kiyohara et al. 1994;
Lopez et al. 1995; Manubens et al. 1995; Ravaglia et
Pathogenese. Neuropathologisch liegen der Alz- al. 2002; Tognoni et al. 2005; Woo et al. 1998). Auch
heimer-Demenz charakteristische neurodegenera- nach statistischer Kontrolle des Alters war die Häu-
tive Veränderungen zugrunde, nämlich die extra- figkeit der Alzheimer-Demenz bei den Frauen im
zellulären Ablagerungen von β-Amyloid und an- Vergleich zu den Männern signifikant erhöht.
deren Eiweißen (Plaques) und die intrazellulären Der Nachteil dieser Prävalenzangaben ist
Umwandlungen zytoskelettaler Elemente (Neuro- jedoch, dass die Möglichkeit besteht, dass Ge-
fibrillenbündel). Die Plaques entstehen nach feh- schlechtsunterschiede in der Prävalenz der Alzhei-
lerhafter Spaltung des Amyloid-Precurser-Protein mer-Demenz lediglich auf Unterschieden in der
(APP) und sind ohne spezifische Lokalisation im Überlebensdauer nach Diagnosestellung beruhen.
Kortex und im Kleinhirn verstreut (Cummings et So gibt es Hinweise darauf, dass die Überlebens-
al. 1998). Bei den neurofibrillären Bündeln handelt dauer nach Diagnosestellung einer Alzheimer-
es sich um »flammenförmige« Strukturen abnor- Demenz bei Frauen signifikant länger ist als bei
mer Faserbildung, die zumeist innerhalb neurona- Männern (Buchanan et al. 2004; Claus et al. 1999;
ler Zellkörper lokalisiert sind. Die neurofibrillären Gambassi et al. 1999; Lapane et al. 2001). Um
Bündel bestehen zum größten Teil aus hyperphos- Geschlechtsunterschiede im Alzheimer-Risiko un-
phoryliertem Tau-Protein (Iqbal et al. 2005). abhängig vom Einfluss der Überlebensdauer nach
Manifestation der Erkrankung erfassen zu können,
Symptomatik. Im Verlauf der Alzheimer-Erkran- sind Studien zur Inzidenzrate der Alzheimer-De-
kung kommt es zu einem Abbau der kognitiven menz besser geeignet.
Funktionen, insbesondere der Gedächtnisleistun-
gen, der sprachlichen, exekutiven Funktionen und
der Aufmerksamkeitsleistungen. Aber auch psy- 17.2.2 Inzidenz2
chopathologische Veränderungen, wie Depressio-
nen, Agitiertheit, Aggressivität und Halluzinatio- Im Gegensatz zu den Befunden aus Prävalenz-
nen, treten bei Alzheimer-Patienten auf. studien fallen die Ergebnisse aus Studien zu Ge-
schlechtsunterschieden in der Inzidenzrate der
Die Literatur zu Geschlechtsunterschieden in der Alzheimer-Demenz sehr heterogen aus. Während
Alzheimer-Demenz ist sehr umfänglich und so- einige Autoren von einer deutlich erhöhten Inzi-
wohl in epidemiologischen als auch in ätiopa- denzrate bei Frauen berichteten (Bebert et al. 1995;
thogenetischen Untersuchungen ließen sich Ge- Brayne et al. 1995; Edland et al. 2002; Fratiglioni et
schlechtsunterschiede nachweisen. al. 1997; Yoshitake et al. 1995), fanden sich in ande-

17.2.1 Prävalenz1
1 Angaben zur Prävalenz geben Auskunft über die Anzahl
der Erkrankten in einer bestimmten Population. Es wird un-
Es liegt eine Vielzahl von Studien vor, die die Prä- terschieden zwischen Punktprävalenz (Anzahl der Erkrank-
valenzrate der Alzheimer-Demenz von Frauen und ten zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt) und der Perio-
Männern untersucht haben. Allein in Europa wur- denprävalenz (Anzahl der Erkrankten in einem definierten
den seit den 1990er-Jahren etwa 14 Prävalenzstu- Zeitraum (z. B. innerhalb eines Jahres = Jahresprävalenz;
oder über das ganze Leben hinweg = Lebenszeitprävalenz).
dien durchgeführt, in denen geschlechtsspezifische
Die berichteten Daten beziehen sich alle auf Angaben zu
Prävalenzangaben zu finden sind (siehe Übersichts- Punktprävalenzen.
arbeit von Berr et al. 2005). Die Datenlage zu Ge- 2 Angaben zur Inzidenz geben Auskunft über die Rate der
schlechtsunterschieden in der Alzheimer-Prävalenz Neuerkrankungen innerhalb eines definierten Zeitraums
286 Kapitel 17 · Demenz bei Frauen und Männern: das gleiche Problem?

ren Studien keine Hinweise auf Genusunterschiede 17.2.3 Kognitive Leistungseinbußen


in der Inzidenzrate der Alzheimer-Demenz (Bach-
man et al. 1993; Hebert et al. 2001; Paykel et al. Vergleicht man die kognitiven Leistungseinbußen
1994). Als Gründe für diese kontroverse Befund- von weiblichen und männlichen Alzheimer-Pa-
lage werden zumeist zu kleine und nicht-repräsen- tienten miteinander, ohne zwischen den unter-
tativem Stichprobengrößen angeführt. Aber auch schiedlichen kognitiven Funktionsbereichen zu
Unterschiede in den jeweils untersuchten Altersbe- differenzieren, lassen sich zumeist keine signifi-
reichen bzw. eine oftmals zu starke Limitierung der kanten Geschlechtsunterschiede erkennen. So un-
untersuchten Altersbereiche könnten zu den hete- terschied sich der kognitive Abbau in der Vielzahl
rogenen Befunden beigetragen haben. In einigen von Studien, in denen nur ein Gesamt-Score als
neueren Studien wurde nun versucht, möglichst Indikator für das kognitive Leistungsniveau erfasst
große Stichproben mit einem möglichst breiten wurde, nicht signifikant zwischen den Geschlech-
Altersspanne zu untersuchen, um dadurch ein re- tern (Chui et al. 1994; Mortimer et al. 1992; O’Hara
präsentativeres wie auch differenzierteres Bild über et al. 2002; Stern et al. 1994a b). Bei gesonderter
Geschlechtsunterschiede in der Inzidenzrate der Betrachtung einzelner kognitiver Funktionsberei-
Alzheimer-Demenz geben zu können. Als eine der che hingegen scheinen durchaus Geschlechtsunter-
bedeutsamsten Studien ist hier sicherlich die EU- schiede bei den Alzheimer-Patienten zu bestehen
RODEM-Studie (European Studies of Dementia) und wiederum scheinen die Frauen stärker betrof-
zu nennen (Andersen et al. 1999). fen zu sein.

EURODEM-Studie

In die Studie flossen die Daten von 12.914 2826) wurde in einem Zeitraum von 10 Jahren
Teilnehmern über 65 Jahre (Frauen = 7361, insgesamt dreimal untersucht. Auch hier erga-
Männer = 5553) ein (Altersspanne 65 bis über ben sich signifikante Geschlechtsunterschiede
90 Jahren). Alle Teilnehmer waren zu Beginn der in der Inzidenzrate der Alzheimer-Demenz erst
Studie kognitiv unbeeinträchtigt. Der kognitive ab hohem Lebensalter (ca. 90. Lebensjahr).
Status der Personen wurde über einen Zeit- Die Ursachen dafür, dass sich die Inzidenzrate
raum von etwa drei Jahren erfasst. In diesem zwischen den Geschlechtern erst ab hohem
Zeitraum erkrankten 528 Teilnehmer an einer Lebensalter unterscheidet, sind bislang leider
Alzheimer-Demenz. Die Ergebnisse dieser Stu- noch unklar (Ruitenberg et al. 2001).
die weisen darauf hin, dass Geschlechtsunter-
schiede in der Inzidenzrate der Alzheimer-De-
0 ,2 5
Fra u e n
menz erst ab höherem Alter ins Gewicht fallen.
M änner
Cumulatives Risiko

So war die Inzidenzrate der Alzheimer-Demenz 0 ,2 0


bis etwa zum 80. Lebensjahr zwischen den Ge-
0 ,1 5
17 schlechtern gleich, und erst ab dem 85. Lebens-
0 ,1 0
jahr zeigte sich die Inzidenzrate bei den Frauen
signifikant erhöht. Das heißt, dass das Risiko 0 ,0 5
an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken für
Frauen über 85 Jahren deutlich größer ist als für 0 ,0 0
65 75 85 95
Männer der gleichen Altersklasse (⊡ Abb. 17.1). A lte r in J a h re n
Dieser Befund wurde in einer neueren Studie
⊡ Abb. 17.1. Geschlechtsspezifische Angabe zum Risiko
aus den Niederlanden bestätigt (Ruitenberg et einer 65-jährigen Person, bis zum 95. Lebensjahr an einer
al. 2001). Der kognitive Status von 7046 Teilneh- Alzheimer-Demenz zu erkranken. (Nach Andersen et al.
mern über 55 Jahren (Frauen = 4220, Männer = 1999)
17.2 · Geschlechtsunterschiede in der Alzheimer-Demenz
287 17

Sprachleistungen. Insbesondere der Abbau sprach-

Abbau der kognitiven Leistungsniveaus


0,5 männliche Alzheimer-Patienten
licher Fertigkeiten im Rahmen der Alzheimer-De- weibliche Alzheimer-Patienten
menz verläuft bei Frauen und Männern vermutlich 0,0
unterschiedlich. Die Befunde aus Querschnitts- und -0,5
Längsschnittsuntersuchungen weisen darauf hin,

(z-Werte)
-1,0
dass die Leistungseinbußen im sprachlichen Bereich
-1,5
bei weiblichen Alzheimer-Patienten deutlich stärker
-2,0
ausfallen. So konnte nachgewiesen werden, dass die
Wortfindung (Buckwalter et al. 1996; McPherson et -2,5
al. 1999), die Sprachproduktion (McPherson et al. -3,0 0 1 2 3
1999) und das Sprachverständnis (Ripich et al. 1995) Ausm aß der neurop athologischen
bei weiblichen im Vergleich zu männlichen Alz- Veränderungen (Plaques und Neurofibrillen)
heimer-Patienten signifikant stärker beeinträchtigt
⊡ Abb. 17.2. Geschlechtsspezifische Angabe zum Verhältnis
sind und zudem der Abbau dieser Fertigkeiten bei von neuropathologischen Veränderungen (Post-mortem-Un-
den weiblichen Patienten schneller voranschreitet. tersuchung des Gehirns) und kognitiven Leistungseinbußen
Diese Ergebnisse blieben auch bestehen, nachdem der Alzheimer-Patienten. (Nach Barnes et al. 2005)
das Alter und der Schweregrad der Demenz in den
Analysen berücksichtigt wurden. Allerdings schei-
nen die sprachlichen Fertigkeiten nicht unabhängig heimer-Patienten. Dieser Befund einer stärkeren
von anderen kognitiven Fertigkeiten zu sein. So Beeinträchtigung der sprachlichen Fertigkeiten bei
berichteten Bayles et al. (1999), dass sich die sprach- weiblichen Alzheimer-Patienten ist sehr erstaun-
lichen Leistungen zwischen den Geschlechtern nicht lich, weil Frauen (ohne kognitive Beeinträchtigung)
mehr signifikant voneinander unterschieden, als die den Männern gerade in sprachlichen Fertigkeiten
Orientierungsleistungen (Fähigkeit zur zeitlichen (wie der Wortgenerierung, der Sprachproduktion)
und örtlichen Orientierung) als Kovariate in den überlegen sind (Weiss et al. 2005).
Analysen miteinbezogen wurden. Eine neue, sehr interessante Studie untersuchte
den Einfluss des Geschlechts auf den Zusammen-
Orientierungsleistungen. Bezüglich der Orientie- hang zwischen neuropathologischen Veränderun-
rungsleistungen gibt es interessanterweise ebenfalls gen (Post-mortem-Untersuchung des Gehirns) und
Hinweise auf signifikante Geschlechtsunterschiede kognitiven Leistungseinbußen der Alzheimer-Pati-
bei Alzheimer-Patienten. So berichten Buckwalter enten (Gesamt-Score als Indikator für das kognitive
et al. (1993) in einer Studie von signifikant schlech- Leistungsniveau; Barnes et al. 2005). Hier zeigten
teren Leistungen der weiblichen Alzheimer-Patien- Frauen bei vergleichbaren neuropathologischen
ten in der Orientierungsleistung sowie im Bereich Veränderungen deutlich stärkere kognitive Leis-
des Kurzzeitgedächtnisses. Allerdings ließen sich tungseinbußen im Vergleich zu männlichen Alzhei-
diese Ergebnisse in zwei neueren Studien derselben mer-Patienten (⊡ Abb. 17.2). Die Autoren kommen
Arbeitsgruppe nicht replizieren (Buckwalter et al. aufgrund dieser Befunde zu dem Schluss, dass bei
1996; Henderson u. Buckwalter 1994). Alzheimer-typischen neuropathologischen Verän-
Folglich weist die Mehrzahl der Befunde darauf derungen die Wahrscheinlichkeit einer klinischen
hin, dass der kognitive Abbau bei weiblichen und Manifestation von kognitiven Einbußen bei Frauen
männlichen Alzheimer-Patienten im Allgemeinen deutlich größer ist.
ähnlich zu verlaufen scheint; nur bezüglich be-
grenzter Teilgebiete ließen sich Geschlechtsunter-
schiede beobachten. Streng genommen zeigen sich 17.2.4 Psychopathologische
konstante Geschlechtsunterschiede allein in den Auffälligkeiten
sprachlichen Fertigkeiten (Wortfindung, Sprach-
produktion, Sprachverständnis) mit einer stärkeren Nicht nur bezüglich der kognitiven Leistungseinbu-
Beeinträchtigung dieser bei den weiblichen Alz- ßen ließen sich bei den Alzheimer-Patienten signi-
288 Kapitel 17 · Demenz bei Frauen und Männern: das gleiche Problem?

fikante Geschlechtsunterschiede nachweisen, son- men könnten den Genusunterschieden zugrunde


dern weibliche und männliche Alzheimer-Patienten liegen? Bei der Beantwortung dieser Frage werden
scheinen sich auch in den psychopathologischen in der Literatur insbesondere endokrinologische
Auffälligkeiten voneinander zu unterscheiden. und genetische Ursachen diskutiert.
So weist die Befundlage darauf hin, dass an Alz-
heimer erkrankte Frauen im Vergleich zu Männern
stärkere Rückzugstendenzen zeigen und oftmals 17.3.1 Endokrinologische Ursachen
versuchen, Sozialkontakte jeglicher Art zu meiden
(Ott et al. 2000). Des Weiteren treten affektive Seit längerer Zeit wird erörtert, ob die Sexualhor-
Auffälligkeiten gehäufter bei weiblichen Alzhei- mone eine Rolle bei den Geschlechtsunterschie-
mer-Patienten auf, so sind diese emotional labiler, den in der Alzheimer-Prävalenz spielen. Hierbei
zeigen häufiger unangemessenes Lachen oder Wei- scheinen vor allem die Östrogene von besonderer
nen und auch Depressionen treten bei ihnen zahl- Bedeutung zu sein. Erste Hinweise darauf liefer-
reicher als bei männlichen Alzheimer-Patienten ten Befunde aus quasiexperimentellen Studien.
auf (Cohen et al. 1993). Weibliche Alzheimer-Pati- So konnte gezeigt werden, dass das Risiko für
enten zeigen zudem eine stärkere Tendenz, Vorräte die Alzheimer-Demenz bei Frauen, die nach der
zu horten und Hilfsangebote zurückzuweisen (Ott Menopause Östrogene substituiert hatten, deutlich
et al. 1996). Psychotische Symptome wie Wahn und geringer war als bei Frauen, die keine Östrogene
optische Halluzinationen scheinen bei weiblichen eingenommen hatten (Henderson et al. 1994; Pa-
Patienten in einem früheren Krankheitsstadium als ganini-Hill u. Henderson 1996). Aufgrund metho-
bei männlichen Patienten aufzutreten (Cohen et al. dologischer Probleme (bei den Studien handelte es
1993; Jost u. Grossberg 1996). sich um nicht-randomisierte und nicht-plazebo-
Aggressive Verhaltensweisen hingegen – so- kontrollierte Studien) ist jedoch fraglich, inwieweit
wohl auf verbaler wie auch auf physischer Ebene die Ergebnisse dieser Studien wirklich aussagekräf-
– lassen sich weitaus häufiger bei männlichen als tig sind. Dessen ungeachtet waren diese ersten qua-
bei weiblichen Alzheimer-Patienten beobachten siexperimentellen Studien dennoch von enormer
(Eustace et al. 2001; Ott et al. 1996 und 2000). Bedeutung, da die aussichtsreichen Befunde eines
Auch Symptome wie exzessives Essen, exzessives möglicherweise protektiven Östrogeneffekts auf
Schlafen und Apathie treten bei männlichen Alz- die Alzheimer-Demenz der Anstoß einer Vielzahl
heimer-Patienten gehäufter auf (Ott et al. 1996). weiterer Studien waren. So liegen mittlerweile zahl-
Diese Geschlechtsunterschiede in den psycho- reiche quasiexperimentelle wie auch experimen-
pathologischen Auffälligkeiten spiegeln sich auch telle Studien vor, die den Zusammenhang zwischen
in der medikamentösen Therapie wider. So berich- Östrogensubstitution und dem Alzheimer-Risiko
ten Ott et al. (2000), dass männliche Alzheimer-Pa- untersuchten (s. unten, Quasiexperimentelle und
tienten im Vergleich zu weiblichen Patienten weit- experimentelle Humanstudien) Auch zur neuro-
aus häufiger sedierende Medikamente verschrieben protektiven Wirkung der Östrogene wurden zahl-
bekommen. Weibliche Alzheimer-Patienten hinge- reiche tierexperimentellen Studien in den letzten
17 gen erhalten deutlich häufiger Antidepressiva. Jahren durchgeführt (s. nachfolgenden Abschnitt).

17.3 Zugrunde liegende Mechanismen Tierexperimentelle Studien zur neuro-


der Geschlechtsunterschiede protektiven Wirkung von Östrogenen
Eine Vielzahl von Befunden aus tierexperimentellen
Was sind nun die Gründe dafür, dass das Alzhei- In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen weist darauf
mer-Risiko bei Frauen ab einem Alter von 85 Jah- hin, dass Östrogene (hierzu zählen Östradiol, Ös-
ren erhöht ist, bzw. dafür, dass sich das klinische Er- tron und Östriol) neuroprotektiv wirken (Übersicht
scheinungsbild der Alzheimer-Demenz bei Frauen bei Behl u. Manthey 2000; Sohrabji 2005;  Kap. 16).
und Männern unterscheidet? Welche Mechanis- Dabei tragen Östrogene auf vielfältige Weise zur
17.3 · Zugrunde liegende Mechanismen der Geschlechtsunterschiede
289 17

Struktur, zum Erhalt und zur Funktion von Ner- konnte, ist die Befundlage aus humanexperimen-
venzellen bei (Behl 2001). So konnte nachgewiesen tellen Studien weitaus heterogener und bedauerli-
werden, dass Östrogene das Nervenwachstum und cherweise weniger vielversprechend.
die Bildung von Synapsen über eine Beeinflussung Angeregt durch die aussichtsreichen Befunde
des Nerve Growth Factors (NGF) und des Brain von Henderson et al. (1994) (eines protektiven
Derived Nerve Growth Factors (BDNGF) fördern Effekts durch Östrogensubstitution) wurde in den
(Granholm 2000). Des Weiteren wirken Östrogene darauf folgenden Jahren eine Vielzahl ähnlicher
auch als neuroprotektive Antioxidantien. Das heißt, quasiexperimenteller Studien durchgeführt. In
Östrogene fangen freie Radikale ab und verhin- Übereinstimmung mit Henderson et al. (1994) wies
dern dadurch deren oxidierenden (zerstörerischen) auch die Mehrzahl dieser Beobachtungsstudien
Einfluss auf die Nervenzellen (Verminderung des darauf hin, dass der Prozentsatz an Alzheimer-
oxidativen Stresses) (Behl 2001). Eine Schlüsselrolle Patienten bei den Frauen mit Östrogensubstitution
in der Alzheimer-Pathologie spielt die neuropatho- geringer war als bei Frauen ohne Östrogensubsti-
logische Spaltung von APP (Amyloid-Precursor- tution (Baldereschi et al. 1998; Doraiswamy et al.
Protein) in β-Amyloid, das sich zu neuritischen 1997; Tang et al. 1996). Auch für die kognitiven
Plaques zusammenlagert. Es gibt Hinweise darauf, Leistungen zeigte sich ein positiver Östrogeneffekt,
dass Östrogene die nicht-pathologische Spaltung so waren die kognitiven Leistungen der Alzheimer-
von APP in Fragmente fördert, die weniger wahr- Patienten mit Östrogensubstitution deutlich besser
scheinlich als β-Amyloid aggregieren (Inestrosa et als die Leistungen der Patientinnen ohne Östro-
al. 1998). Darüber hinaus beeinflussen Östrogene gensubstitution (Asthana et al. 2001; Doraiswamy
mehrere Neurotransmittersysteme, wie z. B. das et al. 1997; Henderson 1996 und 1997; Schneider
cholinerge System. So konnte gezeigt werden, dass et al. 1997). Hier zeigten sich vor allem die sprach-
Östrogene die Azetylcholinsynthese stimulieren lichen Fertigkeiten unter Östrogensubstitution we-
(Birge u. Mortel 1997). Auch die regionale zerebrale niger beeinträchtigt.
Durchblutung scheint durch Östrogene verbessert Der Nachteil dieser quasiexperimentellen Stu-
(Wang et al. 2000) und die zerebrale Glukoseutilisa- die liegt jedoch in den methodischen Mängeln, die
tion erhöht zu werden (Schonknecht et al. 2003). die Interpretation der Befunde erschweren. Eines
der Hauptprobleme besteht z. B. darin, dass nicht
ausgeschlossen werden kann, dass sich die Frauen
Neuroprotektive Wirkung von Östrogenen mit und ohne Östrogensubstitution schon im Vo-
im ZNS raus in relevanten Bereichen voneinander unter-
▬ Stimulieren Nervenwachstum. schieden. So ist es möglich, dass die Frauen, die
▬ Schützen vor oxidativen Nervenschädi- sich einer Östrogenersatzbehandlung unterzogen,
gungen. einer höheren sozialen Schicht entstammten, oder
▬ Reduzieren die pathologische Spaltung ein höheres Bildungsniveau hatten (ein höheres
von APP in β-Amyloid. Bildungsniveau ist ein protektiver Faktor für die
▬ Verbessern Azetylcholinsynthese. Entwicklung einer Alzheimer-Demenz; Wilson et
▬ Fördern die Glukoseverwertung. al. 2004). Zur Reduktion dieser methodologischen
▬ Erhöhen den zerebralen Blutfluss. Mängel sind randomisierte, plazebokontrollierte
Studien notwendig, um den Einfluss einer Östro-
gensubstitution auf die Entwicklung einer Alzhei-
mer-Demenz valider erfassen zu können.
Quasiexperimentelle und experimentelle Die größte und wohl wichtigste randomisierte
Humanstudien zum Einfluss einer Östro- und plazebokontrollierte Studie der letzten Jahre
gensubstitution auf das Demenzrisiko zum Einfluss einer Östrogensubstitution auf das
Im Gegensatz zu den tierexperimentellen Studien, Demenzrisiko ist die Women’s Health Initiative
in denen eine neuroprotektive Wirkung von Öst- Memory Study (WHIMS; Shumaker et al. 2003,
rogenen auf vielfältige Weise nachgewiesen werden 2004).
290 Kapitel 17 · Demenz bei Frauen und Männern: das gleiche Problem?

Women’s Health Initiative Memory Study

Die Studie schloss 4532 postmenopausale Frauen signifikant steiler als in der Plazebogruppe. Auf-
über 65 Jahre ein, bei denen zu Beginn der Studie grund dieser alarmierenden Ergebnisse wurde die
noch keine Demenzerkrankung nachweisbar war. WHIMS-Studie schließlich abgebrochen (Shumaker
Die Frauen wurden randomisiert der Verumgruppe et al. 2003, 2004). Viele Autoren kommen aufgrund
(Östrogen mit Progestin; N=2229) und der ge- dieser und ähnlicher Befunde (Almeida et al. 2006)
matchten Plazebogruppe (N=2303) zugewiesen. zu dem Schluss, dass eine Östrogensubstitution
Die kognitiven Leistungen der Probanden wurden keinen nennenswerten neuroprotektiven Einfluss
über 4½ Jahren hinweg in regelmäßigen Abstän- hat und aufgrund des womöglich sogar erhöhten
den (ca. ein Jahr) durch unterschiedliche kognitive Demenzrisikos von einer Östrogenersatztherapie
Leistungstests untersucht. Innerhalb dieses Zeit- bei Frauen abzuraten sei (Almeida et al. 2006;
raumes erkrankten 61 Frauen an einer Demenz Almeida u. Flicker 2005; Hogervorst et al. 2003;
(zumeist an einer Alzheimer-Demenz). Erschrecken- Pinkerton u. Henderson 2005; Rapp et al. 2003). Zu
derweise kamen 66% dieser Frauen aus der Östro- einem ähnlichen Ergebnis kommen auch die Auto-
gengruppe (N=40). Das erhöhte Demenzrisiko in ren einer Cochrane-Metaanalyse zum Einfluss von
der Östrogengruppe zeichnete sich bereits im zwei- Östrogenen auf die kognitive Leistungsfähigkeit
ten Studienjahr ab und war in allen Altersgruppen von weiblichen Alzheimer-Patienten (Hogervorst
gleich. Nicht nur das Demenzrisiko an sich, sondern et al. 2002). So fanden sich in der Metaanalyse kei-
auch der Abbau kognitiver Leistungen im Allge- nerlei Hinweise darauf, dass der Abbau kognitiver
meinen (gemessen mit Hilfe des Mini-Mental State Leistungen der Alzheimer-Patienten unter Östro-
Examination, MMSE) verlief in der Östrogengruppe gentherapie langsamer verlief.

Sind diese Befunde nun ein Beleg dafür, dass eine bei Frauen direkt nach der Menopause untersuchen
Östrogensubstitution nach der Menopause keiner- sollen. Solche Studien müssten aber durch regel-
lei Effekte auf das Alzheimerrisiko hat? mäßige Kontrollen begleitet werden, um mögliche
Drei neuere Arbeiten sprechen sich gegen diese Nebenwirkungen des Östrogens (siehe WHIMS-
Schlussfolgerung aus (Harman et al. 2005; Hender- Studie) frühzeitig zu erkennen.
son 2004, 2006). Insbesondere die Ergebnisse der Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die
WHIMS Studie werden von den Autoren dieser drei Befunde aus tierexperimentellen Studien auf deut-
neueren Arbeiten kritisch hinterfragt. Die Hauptkri- liche neuroprotektive Effekte von Östrogenen hin-
tik der Autoren liegt darin, dass nur Frauen ab dem weisen. In humanexperimentellen Studien hingegen
65. Lebensjahr in diese Studie miteingeschlossen ließen sich keine eindeutigen Hinweise darauf fin-
wurden. Dadurch erhielten die Teilnehmerinnen den, dass eine Östrogensubstitution nach der Meno-
erst Jahre nach der Menopause (also nach einem pause das Alzheimer-Risiko bei Frauen vermindert.
jahrelang deutlich reduziertem Östrogenspiegel)3 Als mögliche Ursache dieser diskrepanten Befunde
17 einen plötzlichen Hormonschub. Dies könnte nach führen einige Autoren Mängel in den humanex-
Meinung der Autoren (Harman et al. 2005; Hender- perimentellen Studien an. So seien die Studienteil-
son 2004, 2006) die Wirksamkeit der Östrogensub- nehmer zu Beginn der Östrogensubstitution bereits
stitution beeinträchtigt haben. Die Autoren fordern viel zu alt gewesen, was den protektiven Effekt einer
deshalb Studien, die den Einfluss einer Östrogener- Östrogensubstitution beeinträchtigt habe.
satztherapie auf das Risiko einer Alzheimer-Demenz

17.3.2 Genetische Ursachen


3 Mit dem Beginn der Menopause (dieser liegt im Durchschnitt
bei 51 Jahren (Santoro 2005)) sinkt der Östrogenspiegel bei Auch bezüglich der genetischen Risikofaktoren für
den Frauen stark ab (Freedman 2002; Miller et al. 2005). die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz scheinen
17.4 · Geschlechtsunterschiede in anderen Demenzformen
291 17

Geschlechtsunterschiede zu bestehen. Insbesondere substitution auf das Alzheimerrisiko sollte deshalb


das Vorhandensein des Gens für die Produktion des das Vorhandensein von ApoEε4 als wichtige Mo-
Plasmaproteins Apolipoprotein (kodiert auf Chro- deratorvariable berücksichtigt werden.
mosom 19) scheint für die Geschlechter eine unter-
schiedliche Rolle zu spielen (Gatz et al. 2003). Die-
ses ApoE-Gen kommt in drei häufigen Varianten 17.4 Geschlechtsunterschiede
vor (diese bezeichnet man als Allele ε2, ε3 und ε4), in anderen Demenzformen
von denen jeder Mensch wegen seiner doppelten
genetischen Ausstattung eine zufällige Kombination Über Geschlechtsunterschiede bei anderen De-
zweier dieser Unterformen trägt. Menschen, die ei- menzformen ist im Gegensatz zu Alzheimer-De-
nen oder auch zwei Sätze des Allels ε4 (ApoEε4) menz nur sehr wenig bekannt. Allein zu der vasku-
tragen, scheinen nun ein erhöhtes Risiko zu haben, lären Demenz (der zweithäufigsten Demenzform)
später in ihrem Leben eine Alzheimer-Demenz zu und der fronto-temporalen Demenz liegen einige
entwickeln (Prävalenzrate von ApoEε4: 0,10–0,18). Angaben zu Geschlechtsunterschieden vor.
Das Apolipoprotein ist ein Plasmaprotein, das eine So gibt es Hinweise darauf, dass mehr Männer als
besondere Rolle als Trägermolekül von Lipiden und Frauen von einer vaskulären Demenz betroffen sind
Cholesterin spielt. Es scheint sowohl an der Plaque- (höhere Prävalenzraten für Männer in der Mehr-
bildung als auch an Neurofibrillenbildung beteiligt zahl der Studien) (Bowirrat et al. 2002; Meyer et al.
zu sein. Der genaue Wirkmechanismus ist jedoch 2000). Die Angaben zu Geschlechtsunterschieden in
noch weitestgehend unklar (Strittmatter 2000). der Inzidenzrate der vaskulären Demenz sind hin-
Es konnte in unterschiedlichen Studien gezeigt gegen weitaus heterogener. So finden sich in einigen
werden, dass das Vorhandensein des Allels ApoEε4 Studien höhere Inzidenzraten bei Männern (Hagnell
vor allem bei Frauen ein prädisponierender geneti- et al. 1983 und 1992; DiCarlo et al. 2002; Ruitenberg
scher Faktor für die Entwicklung einer Alzheimer- et al. 2001), in anderen hingegen ließen sich keine
Demenz zu sein scheint, wohingegen bei Männern Geschlechtsunterschiede nachweisen (Andersen et
der Zusammenhang zwischen ApoEε4 und der al. 1999; Copeland et al. 1999; Fitzpatrick et al.
Alzheimer-Demenz deutlich schwächer ausfällt 2004; Sachdev et al. 2006). Vaskuläre Demenzen
(Bretsky et al. 1999; Farlow 1997; Farrer et al. 1997; sind Folge von zerebrovaskulären Erkrankungen,
Green et al. 2002). Wie ist dies zu erklären? Es gibt wie z. B. von Schlaganfällen. Deshalb soll an dieser
erste Hinweise darauf, dass die ApoEε4-Genex- Stelle  Kap. 16 verwiesen werden.
pression erheblich durch die »weiblichen« Sexual- Zu Geschlechtsunterschieden in der fronto-
hormone (Östrogene) moduliert wird. So konnten temporalen Demenz (dritthäufigste Demenzur-
Lambert et al. (2004) zeigen, dass Östrogene (bzw. sache) liegen kaum Befunde vor. Es gibt erste Hin-
Östrogen-Rezeptor-Komplexe) in den Zellkern weise darauf, dass die Prävalenzrate bei Männern
wandern und dort als Transkriptionsfaktor im Pro- im Vergleich zu Frauen erhöht sein könnte (Ratna-
motorgenabschnitt die Genexpression von ApoEε4 valli et al. 2002). Des Weiteren berichten Diehl und
modulieren. Es wird vermutet, dass diese Interak- Kurz (2002) interessanterweise von Geschlechtsun-
tion zwischen Östrogenen und ApoE möglicher- terschieden hinsichtlich der psychopathologischen
weise der Grund dafür ist, dass das Vorhandensein Auffälligkeiten von Patienten mit frontotemporaler
des Allels ApoEε4 vorrangig bei Frauen ein Alzhei- Demenz. Ähnlich wie bei der Alzheimer-Demenz
mer-Risiko darstellt (Lambert et al. 2004). Diese zeigten die männlichen Demenzpatienten mehr
Interaktion könnte des Weiteren auch ein Grund aggressives und sozial unangemessenes Verhalten
dafür sein, dass die Ergebnisse der WHIMS-Studie im Vergleich zu den weiblichen Patienten. Die
zum Einfluss einer Östrogensubstitution auf das Gründe hierfür sind noch unbekannt.
Alzheimer-Risiko negativ ausfielen. Womöglich ist Weitere Forschung ist hier unbedingt notwen-
der neuroprotektive Effekt einer Östrogensubstitu- dig, um auch bei anderen Formen der Demenz
tion primär bei Frauen ohne ApoEε4 zu finden. In ein differenzierteres Bild über Geschlechtsunter-
zukünftigen Studien zum Einfluss einer Östrogen- schiede zu erhalten.
292 Kapitel 17 · Demenz bei Frauen und Männern: das gleiche Problem?

Fazit
Die große Mehrzahl der Demenzpatienten sind als bei männlichen Alzheimer-Patienten beein-
Frauen. Gründe hierfür sind zum einen die län- trächtigt. Insgesamt scheint zu gelten, dass bei
gere Lebenserwartung von Frauen, zu anderen gleichen hirnpathologischen Veränderungen die
aber auch Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Wahrscheinlichkeit von kognitiven Leistungsein-
des Erkrankungsrisikos. bußen bei Frauen größer ist. Die Ursachen der
Die meisten Befunde zu Geschlechtsunter- Genusunterschiede bei Alzheimer-Patienten sind
schieden in der Demenz liegen bislang für die noch weitestgehend unklar. Es scheinen aber
Alzheimer-Demenz vor. Hier zeigte sich, dass insbesondere die Östrogene bzw. das Absinken
ab dem 85. Lebensjahr das Risiko an einer Alz- des Östrogenspiegels nach der Menopause eine
heimer-Demenz zu erkranken für Frauen im Rolle zu spielen. Inwieweit eine Östrogensubsti-
Vergleich zu Männern deutlich größer ist. Dar- tution bei Frauen das Risiko für eine Erkrankung
über hinaus sind die verbalen Fähigkeiten bei vermindern kann, muss durch weitere Studien
weiblichen Alzheimer-Patienten deutlich stärker geklärt werden.

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18

Die Rolle von Geschlecht und Gehirn


bei Schizophrenie
Heinz Häfner

18.1 Geschlechtsunterschiede im Morbiditätsrisiko – 298

18.2 Geschlechtsunterschiede im Ersterkrankungsalter – 299

18.3 Geschlechtsunterschiede in der Altersverteilung des Krankheitsausbruchs – 300

18.4 Geschlechtsunterschiede in der prämorbiden sozialen und beruflichen


Anpassung – 302

18.5 Geschlechtsunterschiede in der normalen Entwicklung und in


nichtpsychotischen Störungsrisiken – 303

18.6 Geschlechtsunterschiede bei den Präkursoren – 304

18.7 Geschlechtsunterschiede bei Diagnosen, Subtypen und Symptomen – 305

18.8 Geschlechtsunterschiede bei sekundären Verhaltensmustern im Verlauf


der Schizophrenie – 307

18.9 Erklärung von Geschlechtsunterschieden durch die Östrogenwirkung – 310


18.9.1 Protektive Wirkung von Östrogen – 310
18.9.2 Biochemische und genomische Mechanismen der Östrogenwirkung im Gehirn – 311
18.9.3 Hypoöstrogenismus und Schizophrenie – 312
18.9.4 Adjuvante Östrogenbehandlung der Schizophrenie – 313
18.9.5 Psychoserisiko in der Schwangerschaft und Postpartumpsychosen – 313
18.9.6 Gleichgewicht zwischen Psychosedisposition und Schutzwirkung von Östrogen – 315
18.9.7 Kann der Östrogeneffekt den günstigeren sozialen Verlauf der Schizophrenie
bei Frauen erklären? – 315

18.10 Geschlechtsunterschiede im Langzeitverlauf – 318

18.11 Neuroleptikabehandlung – 320


18.11.1 Geschlechtsunterschiede – 320
18.11.2 Östrogen und extrapyramidale Nebenwirkungen in der Neuroleptikabehandlung – 321

18.12 Geschlechtsunterschiede in der Hirnentwicklung und in


strukturellen Hirnabnormitäten – 321

18.13 Geschlechtsunterschiede bei schizophrenen Erkrankungen des höheren und


hohen Lebensalters – 323

18.14 Geschlechtsunterschiede der Symptomatik über das gesamte Altersspektrum


erster Episoden – 323

Literatur – 324
298 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

> Mit einfachen statistischen Methoden der Krankenzählung hat Emil Kraepelin
(1909–1915) bereits beobachtet, dass Frauen mit Dementia praecox im Mittel
mehrere Jahre später zur Erstaufnahme kommen als Männer mit der gleichen
Diagnose. Obwohl diesem früh entdeckten Geschlechtsunterschied in der kli-
nischen Praxis lange Zeit keine besondere Aufmerksamkeit zugewandt worden
war, konnten Angermeyer u. Kühn (1988) in ihrem Review bereits mehr als
50 Studien erfassen, die unabhängig von ihrer Zielsetzung Kraepelins Ergeb-
nisse repliziert und ein höheres Erstaufnahmealter, teilweise auch ein höheres
Ersterkrankungsalter, für Schizophrenie bei Frauen im Vergleich zu Männern ge-
funden haben. Die Geschlechtsunterschiede schizophren Erkrankter beschrän-
ken sich jedoch nicht auf das Ersterkrankungsalter. Wir werden systematisch die
wesentlichen Krankheitsdomänen und geschlechtsrelevanten Einflussfaktoren
unter dem Gesichtspunkt untersuchen, ob sie Unterschiede zwischen Männern
und Frauen aufweisen.
Bei allen krankheitsbezogenen Unterschieden ist zu bedenken, dass auch das
Verhalten und Erleben gesunder Männer und Frauen Unterschiede aufweist, die
teilweise altersabhängig sind. Auch die »normalen« Geschlechtsunterschiede
sind mit solchen der Hirnentwicklung und Hirnfunktionen assoziiert. Aus diesen
Gründen müssen, soweit wie möglich, diese Geschlechtsunterschiede und ihre
Alterstrends berücksichtigt werden, wenn Aussagen über krankheitsassoziierte
Unterschiede zwischen Männern und Frauen gemacht werden sollen. Die Er-
gebnisse auf der epidemiologischen, klinischen und biologischen Ebene sind
schließlich auf Hinweise und Ergebnisse zu prüfen, die zur Erklärung der gefun-
den Geschlechtsunterschiede beitragen.

18.1 Geschlechtsunterschiede onen, die einen mehr oder weniger großen Teil der
im Morbiditätsrisiko Späterkrankungen ausschließen, haben einen we-
sentlichen Einfluss auf das Geschlechterverhältnis
Die Diagnose einer Psychose oder einer Schizo- des Morbiditätsrisikos (linke Spalte in ⊡ Tab. 18.1).
phrenie hat dann Einfluss auf die Geschlechtsver- Eine nicht verzerrte Analyse des Lebenszeit-
teilung des Krankheitsrisikos, wenn sie Kriterien risikos von Männern und Frauen für Schizophre-
enthält, die ungleich über die beiden Geschlechter nie steht aus dem gleichen Grund vor erheblichen
verteilt sind. Studien auf der Grundlage der Feigh- praktischen Schwierigkeiten. Studien mit diesem
ner-Kriterien (Feighner et al. 1972) wie Alter bis Ziel müssen unter Anwendung geschlechtsneutra-
zu 40 Jahren oder DSM-III-Diagnosen (APA 1980) ler diagnostischer Kriterien ohne Alterslimit eine
mit der Altersspezifikation »bis zu 45 Jahren« füh- hinreichend große Zahl aller so definierten Fälle aus
ren konsistent zu einem höheren Lebenszeitrisiko einer entsprechend großen Bevölkerung erfassen.
18 für Männer als Frauen. ⊡ Tab. 18.1 illustriert den Diese schwer zu realisierenden Voraussetzungen be-
Einfluss, den diagnostische Definitionen mit un- schränkt in hohem Maße die Zahl der Studien, die
terschiedlichen Altersgrenzen auf die Inzidenzra- valide Beiträge zu dieser Frage leisten können.
ten für Schizophrenie von Männern und Frauen Die meisten Studien, die diesen Voraussetzun-
haben. Der wichtigste Grund ist die ungleiche gen hinreichend gerecht wurden, haben gezeigt,
Verteilung des Krankheitsausbruchs über den ge- dass das Erkrankungsrisiko für Schizophrenie, über
samten Altersrange, was wir noch demonstrieren den gesamten Altersrange betrachtet, annähernd
werden. Altersbegrenzungen in Diagnosendefiniti- das gleiche für Männer und Frauen ist (Seeman
18.2 · Geschlechtsunterschiede im Ersterkrankungsalter
299 18

⊡ Tab. 18.1. Geschlechterverhältnis der Schizophrenieinzidenz auf der Grundlage verschiedener diagnostischer
Kriterien für Schizophrenie. (Nach Castle 2000)

Inzidenzrate (100.000/Jahr)

Diagnostische Kriterien Frauen Männer Verhältnis Frauen : Männer

ICD-9 (Schizophrenie und schizophrenieähnliche Erkrankungen) (WHO 1978)

Gesamter Altersrange 17,6 19,2 0,92:11

Onset <45 Jahre 17,8 25,2 0,71:1

Onset >45 Jahre 17,1 10,4 1,64:1

DSM-III

Onset <45 Jahre 6,3 13,9 0,45:1

Feighner-Kriterien

Onset <40 Jahre 6,0 14,8 0,41:1

1 Wird der gesamte Altersrange (bis 85 und älter) berücksichtigt, ist das kumulative Lebenszeitrisiko der Frauen wegen der höhe-
ren Erkrankungsraten an Spätschizophrenien höher als jenes der Männer (Helgason u. Magnusson 1989; Jablensky 2003)

1982; Helgason u. Magnusson 1989; Hambrecht et 18.2 Geschlechtsunterschiede


al. 1992; Castle et al. 1993; Häfner u. an der Heiden im Ersterkrankungsalter
1997; Castle 2000; Goldstein u. Lewine 2000; Mol-
din 2000; Jablensky 2003), was in der ersten Zeile Unterschiede im Erstaufnahmealter, wie sie Krae-
von ⊡ Tab. 18.1 sichtbar ist. pelin (1909–1915) berichtet und von Angermeyer
Dennoch ist nicht zu übersehen, dass eine u. Kühn (1988) referiert worden waren, können
große Zahl von früheren, hauptsächlich klinischen durch eine unterschiedliche Latenzzeit zwischen
Studien ein höheres Morbiditätsrisiko für Männer Krankheitsausbruch und Krankenhausaufnahme
im Vergleich zu Frauen berichtet haben (Übersicht beeinflusst und damit auch von Geschlechtsun-
bei Lewine 1988; Häfner u. an der Heiden 1997). terschieden im Hilfesuchverhalten und in den
Die meisten dieser Studien wurden in den USA Entscheidungsprozessen zur Erstaufnahme mitbe-
publiziert. Die Gründe dafür sind gründet sein. Die Kernfrage nach den Geschlechts-
▬ die bereits erwähnte Begrenzung der Dia- unterschieden im Ersterkrankungsalter, die alleine
gnosendefinition auf jüngere Altersgruppen für die Frage des Einflusses von Geschlechtsfakto-
(45 Jahre in DSM-III), ren auf die Krankheit von Relevanz ist, steht vor
▬ die damit zusammenhängende Tendenz auch erheblichen Erfassungsschwierigkeiten. Das Errei-
in revidierten diagnostischen Kriterien (DSM- chen gültiger Ergebnisse setzt, wie bereits erwähnt,
IIIR: APA 1987 und DSM–IV: APA 1994), bei eine präzise, von Geschlechtsfaktoren unabhängige
älteren Menschen die Diagnose Schizophrenie Diagnose und eine präzise Definition und Erfas-
zu vermeiden und stattdessen eine »late para- sung des Erkrankungsbeginns voraus. Außerdem
phrenia«, Altersparanoia oder eine paranoide muss eine hinreichend große epidemiologische
Störung zu diagnostizieren, Stichprobe untersucht werden, die einen breiten,
▬ das Überwiegen meist junger schwarzer Män- für die Herkunftspopulation repräsentativen Al-
ner bei den Erstaufnahmen in öffentliche psy- tersrange umfasst. Bisher hat nur eine kleine Zahl
chiatrische Krankenhäuser der USA in Stu- von Studien diese Voraussetzungen erfüllt. Ver-
dien, die sich auf Krankenhauspopulationen gleiche des Erstaufnahmealters zwischen Männern
gründeten. und Frauen, die an repräsentativen Stichproben
300 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

schizophren Erkrankter aller Altersstufen durchge- ▬ den Beginn der präpsychotischen Prodromal-
führt wurden, beispielsweise von Castle et al. (1998) phase mit dem Erstauftreten von Symptomen
am Camberwell-Fallregister oder von Häfner et al. und abnormem Verhalten,
(1989; Löffler et al. 1994) am nationalen dänischen ▬ mit dem Auftreten des ersten psychotischen
Fallregister – sie ergaben Altersunterschiede von Symptoms den Beginn der Psychose.
mehreren Jahren zwischen Männern und Frauen
–, können aus den oben angeführten Gründen Zur Validierung der Daten wurden mit einer ande-
zunächst nur Hinweise auf den Geschlechtsunter- ren Form desselben Instruments jeweils ein naher
schied im Erkrankungsbeginn geben. Angehöriger interviewt und vorhandene Doku-
Die WHO-10-Länderstudie (Determinants of mente (Aufzeichnungen von Hausärzten etc.) ver-
Outcome of Severe Mental Disorders; Jablensky wertet. Das mittlere Ersterkrankungsalter zeigte
et al. 1992) hatte den Versuch unternommen, einen signifikanten Geschlechtsunterschied von
durch frühe Fallerfassung mit Unterstützung von 3–4 Jahren (⊡ Abb. 18.1; Häfner et al. 1995). Dieser
Vorfelddiensten, etwa eingeborene Heiler, schi- signifikante Unterschied blieb über alle Meilen-
zophren Erkrankte nahe am Krankheitsausbruch steine des frühen Krankheitsverlaufs, vom Erkran-
zu erfassen. Die Auswertung der gepoolten Daten kungsbeginn über das erste negative, das erste
ergab ein signifikant höheres Ersterkrankungsalter positive Symptom bis zum Höhepunkt (Maximum
für Frauen als Männer mit einem Mittelwert von der Symptome) der ersten Episode, bestehen (Häf-
3,4 Jahren (Hambrecht et al. 1994). Die Variation ner et al. 1995).
des Unterschieds zwischen den Zentren war al-
lerdings erheblich: 0,3–5,1 Jahre, wobei die am
stärksten nach unten abweichenden Ergebnisse in 18.3 Geschlechtsunterschiede
deutlich selektierten Stichproben erzielt worden in der Altersverteilung des
waren. Krankheitsausbruchs
In unserer Erstaufnahmestudie am dänischen
Fallregister konnte die Konfundierung des Ge- Um der Frage nachzugehen, ob der Altersunter-
schlechtsunterschieds im Ersterkrankungsalter schied beim Erkrankungsbeginn über den gesam-
durch soziale Faktoren weitgehend ausgeschlos- ten Altersrange gleich verteilt ist, verglichen die
sen werden (Häfner et al. 1989). Die bisher sorg- Autoren die Onsets für Männer und Frauen in
fältigste Untersuchung von Geschlechtsunter- jeweils 5-Jahres-Altersgruppen über die Alters-
schieden im Ersterkrankungsalter und anderer spanne von 12–59 Jahren (Häfner et al. 1999b).
Geschlechtsunterschiede in der Schizophrenie Das Ergebnis lässt erkennen, dass bei beiden Ge-
wurde in der ABC (Age-Beginning-Course)-Schi- schlechtern Erkrankungen an einer schizophrenen
zophreniestudie mit einer bevölkerungsbezoge- Psychose vor dem 15. Lebensjahr extrem selten
nen Stichprobe erster Krankheitsepisoden von sind (⊡ Abb. 18.2). Von da an steigt beim männli-
Schizophrenie und Schizophreniespektrumstö- chen Geschlecht die Erkrankungshäufigkeit steil
rungen (N=232) aus einer Bevölkerung von etwa an und erreicht ihr Maximum in der Altersgruppe
1,5 Millionen im Ersterkrankungsalter zwischen 15–25 Jahren, um danach wieder monoton abzu-
12 und 59 Jahren durchgeführt (Häfner et al. sinken. Bei Frauen steigt die Ersterkrankungsrate
1993a, 1995). Zur präzisen Erfassung des Krank- mit dem Alter etwas langsamer an und erreicht
18 heitsausbruchs entwickelten die Autoren auf der einen flacheren Gipfel im Alter zwischen 15 und 30
Grundlage bewährter internationaler Instrumente Jahren. Der größte Altersunterschied in der Erster-
das Interview für die retrospektive Erfassung des krankungshäufigkeit bildet sich nicht im jüngeren,
Beginns von Schizophrenie (IRAOS – Interview sondern im mittleren bis höheren Lebensalter. Auf-
for the Retrospective Assessment of the Onset fallend ist dabei, dass Frauen vom Eintrittsalter in
and Course of Schizophrenia –; Häfner et al. 1990, die Menopause an, der Altersgruppe 45–50, einen
1999a, 2003). Sie definierten den Erkrankungsbe- zweiten, kleineren Gipfel von Ersterkrankungen
ginn auf zwei Ebenen: mit signifikantem Unterschied gegenüber der Er-
18.3 · Geschlechtsunterschiede in der Altersverteilung des Krankheitsausbruchs
301 18

erstes positives Symptom

erstes negatives erste Episode


Erstes
(Maximum positiver Symptome)
Anzeichen Symptom
Erstaufnahme
20 25 30 35 Alter in Jahren

Männer 22.5 24.1 26.7 27.8 28.2


(N= 108)

Gesamt 24.0 25.5 29.0 30.1 30.3


(N= 232)

25.4 26.7 30.9 32.1 32.2


Frauen
(N= 124) * * * ** **
20 25 30 35 Alter in Jahren

* p = 0.05 prodromal präpsycho-


Mittelwert: 5 Jahre tisch
** p = 0.01 Mittelwert: 1,3 J.
Median: 2,33 Jahre Median: 0,8 J.

⊡ Abb. 18.1. Altersmittelwerte für fünf Definitionen von Krankheitsausbruch bis Erstaufnahme wegen Schizophrenie – ABC-
Erstepisodenstichprobe mit weiter Definition (N=232). (aus Häfner 1996)

% Neuerkrankungen pro Altersgruppe

30 Männer n= 117
Frauen n= 131

20

10 *

0
12-14 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59

*p<.05 Altersgruppe

⊡ Abb. 18.2. Geschlechtsspezifische Verteilung des Krankheitsausbruchs (erstes Zeichen) über den Lebenszyklus – ABC-Schizo-
phreniestudie. (aus Häfner et al. 1993b)
302 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

krankungshäufigkeit in der gleichen Altersgruppe fig mit geistiger Klarheit ohne mentale Desorgani-
bei Männern aufweisen. Dieses epidemiologische sation einher und führen in der Regel auch nicht
Verteilungsmuster des Ersterkrankungsalters bei mehr zum sozialen Abstieg. Im Vordergrund der
den Geschlechtern gab den Autoren einen Hin- Späterkrankungen steht die Positivsymptomatik
weis auf eine mögliche kausale Erklärung des Ge- mit dem Leitsymptom paranoider Wahn. Auch
schlechtsunterschieds. bei restriktiver Diagnose nach DSM-IIIR erreichen
Ähnliche Verteilungsmuster über den gesam- die Inzidenzraten in der Altersgruppe über 60
ten Altersrange unter Einschluss des höheren und in geeigneten epidemiologischen Studien Größen-
hohen Lebensalters zeigten die bereits zitierte Ana- ordnungen, die nicht erheblich unter den Inzi-
lysen der Erstaufnahmedaten aus dem dänischen denzraten der Altersperiode vor 60 liegen (Castle
Fallregister (Häfner et al. 1989) und die Fallre- et al. 1993; van Os et al. 1995). Werden jedoch
gisterstudie von Castle et al. (1998). Im höheren die Wahnerkrankungen des Alters, die lange Zeit
und hohen Lebensalter sind Ersterkrankungen als Altersparanoia und dergleichen diagnostiziert
an Schizophrenie und anderen nahen Psychosen worden waren, auch dem Schizophreniespektrum
bei Frauen wesentlich häufiger als bei Männern. zugeordnet, was korrekt wäre, dann steigen die
Das Geschlechterverhältnis der alterskorrigierten Inzidenzraten der Spätschizophrenien noch ein-
Inzidenzraten jenseits des 60. Lebensjahrs variiert mal deutlich an. Der erhebliche Häufigkeitsunter-
zwischen 1 (Männer) und 2 (Frauen) und 1 und 4 schied der Späterkrankungen zwischen Männern
(Castle et al. 1993; van Os et al. 1995; Howard et al. und Frauen findet sich sowohl für die restriktive
1993; Jeste et al. 1988). Symptomatik und Verlauf Diagnose (DSM-IIIR) als für die weite Diagnose
der Krankheit sind in dieser Altersphase auch bei »Schizophreniespektrumstörungen«.
früher Erkrankten mit langer Krankheitsdauer bei Ob dieser signifikante Häufigkeitsunterschied
Frauen im Mittel schwerer als bei Männern (Ret- schizophrener Erkrankungen im hohen Lebens-
terstol u. Opjordsmoen 1994; Häfner et al. 2001), alter der gleichen kausalen Erklärung zugänglich
während Früherkrankungen hinsichtlich Sympto- ist, die für die Altersverteilung von Onset im
matik und mittelfristigen Verlaufs bei Männern Altersrange unter 60 geltend gemacht wird, ist
konsistent schwerer sind als bei Frauen (Häfner et fraglich.
al. 1999b).
Die Häufung schizophrener Erkrankungen bei
Frauen des mittleren und höheren Lebensalters 18.4 Geschlechtsunterschiede
wird bei der Berechnung des Morbiditätsrisikos in der prämorbiden sozialen
auf Lebenszeit in der Regel nicht berücksichtigt. und beruflichen Anpassung
Der Grund ist, dass die traditionelle, von Kraepe-
lin eingeführte Konzeption der Schizophrenie von Retrospektive Studien von Patientenpopulationen
einer Krankheit der Adoleszenz und des jüngeren zeigen übereinstimmend eine größere Häufigkeit
Erwachsenenalters ausgeht, was ursprünglich auch von prämorbiden Defiziten in kognitiven, sozialen
in der bereits erwähnten Altersbegrenzung der und beruflichen Leistungen bei Männern als bei
Diagnose Schizophrenie in DSM-III und in den Frauen auch im Erwachsenenalter (McGlashan u.
Feighner-Kriterien Niederschlag gefunden hatte. Bardenstein 1990; Mueser et al. 1990a; Moldin
Ein zweiter Grund liegt in der diagnostischen 2000). Auch die israelische Rekrutenstudie (Weiser
18 Unsicherheit hinsichtlich der Zuordnung von et al. 2000), die zum Zeitpunkt der Musterung bei
Wahnerkrankungen des höheren Lebensalters zur beiden Geschlechtern einen Set kognitiver, sozialer
Diagnose Schizophrenie. Im Gegensatz zu den im und pathologischer Daten erhob, fand bei den
jüngeren Alter ausbrechenden Schizophrenien, die 4–10 Jahre später schizophren Erkrankten gleich-
häufig mit mentaler Desorganisation, erheblichen artige Geschlechtsunterschiede.
affektiven Symptomen und kognitiver Beeinträch- In diesem Zusammenhang ist allerdings die
tigung verbunden sind, gehen die Wahnerkran- Frage aufzuwerfen, in welchem Ausmaß die Un-
kungen des höheren und hohen Lebensalters häu- tersuchung prämorbider Veränderungen in den
18.5 · Geschlechtsunterschiede in der normalen Entwicklung
303 18

letzten Jahren vor Ausbruch der Krankheit bereits Frauen unterschiedliche Wege ein. Männer weisen
zu einem Teil die Prodromalsymptomatik der in eine größere Häufigkeit von Hyperaktivität, Auf-
Entwicklung begriffenen Schizophrenie erfasst hat. merksamkeitsstörungen, dissozialem und aggres-
Nachdem Männer im Mittel mehrere Jahre früher sivem Verhalten und antisozialer Persönlichkeit
erkranken als Frauen und das Musterungsalter in auf, während Frauen eine größere Häufigkeit von
den Maximalbereich des Risikoalters fällt, ist da- Angststörungen und affektiven Erkrankungen ent-
mit zu rechnen, dass bei den schizophren erkran- wickeln.
kenden Männern mehr Prodromalphasen erfasst Rosenfield (2000) unterscheidet zwischen ex-
werden als bei den später erkrankenden Frauen. ternalisierenden Störungen, einschließlich an-
Für einen exakten Geschlechtsvergleich des prä- tisozialem Verhalten und Substanzmissbrauch,
morbiden Leistungsniveaus ist deshalb die präzise die häufiger bei Männern anzutreffen sind, und
Erfassung von Krankheitsausbruch notwendig, internalisierenden Störungen, die Angst und
sofern die Definition von prämorbid nicht auf Depression umfassen und häufiger bei Frauen
den Lebensabschnitt vor Eintritt des Risikoalters sind. Der Einfluss von kulturellen Faktoren und
beschränkt wird. die Bedeutung des unmittelbaren Lebensumfelds,
beispielsweise die unterschiedliche örtliche Ver-
fügbarkeit von Alkohol und/oder psychoaktiven,
18.5 Geschlechtsunterschiede insbesondere illegalen, Substanzen mit Abhän-
in der normalen Entwicklung gigkeitspotenzial, müssen hier unberücksichtigt
und in nichtpsychotischen bleiben.
Störungsrisiken Die internalisierenden und externalisierenden
Störungen gehen nach Rosenfields Ansicht auf
Die Frage nach der Bedeutung von Geschlechtsun- die Kindheit oder die frühe Adoleszenz zurück:
terschieden für Symptomatik und Verlauf der Schi- »Unterschiede in der Sozialisierung von Männern
zophrenie führt zum Versuch der Berücksichtigung und Frauen und unterschiedliche genetische und
»normaler« Unterschiede im Erleben und Verhal- hormonelle Dispositionen spielen vermutlich eine
ten zwischen Jungen und Mädchen, Männern und zentrale Rolle bei der Entstehung dieser Störun-
Frauen. Es steht nämlich außer Zweifel, dass in die gen,« so dass sie sehr wahrscheinlich nicht mit
Geschlechtsunterschiede, die in der Krankheit be- dem Krankheitsprozess der Schizophrenie zusam-
obachtet werden, auch die normalen Unterschiede menhängen. Auch im Krankheitsverhalten wei-
zwischen den Geschlechtern mit eingehen. Auch sen Frauen im Erwachsenenalter Defizite in der
wenn die Trennung zwischen diesen normalen und aktiven Bewältigung von Belastungen und mehr
den krankheitsassoziierten Unterschieden im Erle- gelernte Hilflosigkeit im Vergleich zu Männern
ben, Verhalten und in der Symptomatik schwierig auf (Pearlin et al. 1981), andererseits aber eine grö-
ist, der Versuch ihrer Berücksichtigung ist bei der ßere Bereitschaft zur Reduzierung ihrer Erwartun-
Bewertung der krankheitsbedingten Geschlechts- gen bei chronischen Krankheiten (Weber 1996).
differenzen nicht zu umgehen. Diese Unterschiede in alters- und geschlechtsspe-
Die normale Entwicklung des Verhaltens in der zifischen Verhaltenstrends müssen beim Vergleich
frühen Kindheit unterscheidet sich nur sehr wenig von Symptomatik, Verhalten und Lebensqualität in
zwischen den Geschlechtern (Richman et al. 1982; der Schizophrenie berücksichtigt werden.
Earls 1987;  Kap. 12). Erst im späteren Kindesalter Die Pubertät nimmt eine bedeutende Position
zeigen Jungen mehr expansives Verhalten und eine in der Entwicklung des Geschlechtsunterschieds
geringfügig größere Häufigkeit von Aufmerksam- im normalen Verhalten und in der psychiatrischen
keitsdefiziten als Mädchen. Mädchen dagegen sind Morbidität zwischen Männern und Frauen ein.
ängstlicher und zeigen häufiger Angststörungen Einen entscheidenden Einfluss auf das Manifes-
(Anderson et al. 1987; Campball 1990; Cohen et tationsrisiko der Psychose scheinen die starken
al. 1993). Von der Pubertät an schlagen die psy- hormonellen und Verhaltensänderungen, die mit
chischen Gesundheitsrisiken bei Männern und der Pubertät angestoßen werden, jedoch nicht zu
304 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

haben, obgleich die Hypothese, Schizophrenie gehe Schizophrenie und leichte Mängel in der Sprach-
auf eine Hirnentwicklungsstörung zurück, eine fähigkeit und teilweise auch bei Schulleistungen.
solche Vermutung nahe legt. In Verbindung mit In einer der beiden britischen Geburtskohorten-
der Annahme einer dadurch begrenzten Bewälti- studien konnte demonstriert werden, dass sich die
gungskapazität der Risikopersonen wird mit dem genannten Anomalien bei Mädchen einige Jahre
Eintritt ins Erwachsenenalter eine die Krankheit später manifestieren als bei Knaben (Crow et al.
auslösende Überforderung dieser Verarbeitungs- 1995). Die Abweichungen von der Norm liegen im
kapazität angenommen (Nuechterlein et al. 1994; Vergleich mit später nicht schizophren erkranken-
Murray u. Fearon 1999; McGlashan u. Hoffman den Kontrollen in der Regel innerhalb der Größen-
2000; Bebbington u. Kuipers 2003). ordnung einer Standardabweichung.
Die später zu diskutierende Hypothese einer Diese Anomalien sind besonders ausgeprägt
protektiven Wirkung von Östrogen für das Er- bei Kindern schizophrener Mütter, wie die Hoch-
krankungsrisiko an Schizophrenie veranlasste Co- risikostudien übereinstimmend erkennen lassen
hen et al. (1999) die Hypothese zu prüfen, dass ein (Erlenmeyer-Kimling et al. 1993; Cannon et al.
früherer Eintritt in die Pubertät bei Frauen mit 1993; Cannon u. Mednick 1993; Parnas et al. 1993).
einem späteren Ausbruch der Psychose korreliert. Hier ist die Tendenz zu erkennen, dass Jungen im
Die zitierte Studie bestätigte diesen Zusammen- Schulalter höhere Werte kognitiver Beeinträchti-
hang und führte den Effekt auf den früheren An- gung aufweisen als Mädchen (Erlenmeyer-Kimling
stieg der Östrogensekretion und der damit vermu- et al. 1984; Castle 2000). Walker et al. (1995) ana-
teten höheren Schutzwirkung zurück. Es ist jedoch lysierten in der Kindheit aufgenommene Videoauf-
bisher nicht gelungen, diesen Zusammenhang zu zeichnungen von im Erwachsenenalter für Schizo-
replizieren (Ruiz et al. 2000; Hochman u. Lewine phrenie diskordanten Geschwistern. Sie konnten
2004), was im Hinblick auf die epidemiologischen ebenfalls zeigen, dass die später an Schizophrenie
Daten zum Geschlechtsunterschied im Erster- Erkrankenden milde neuromotorische und Verhal-
krankungsalter bei früh ausbrechenden Schizo- tensanomalien in der Kindheit aufwiesen. Verhal-
phrenien nicht verwundert. Die Geschlechtsun- tensanomalien manifestierten sich in dieser Studie
terschiede im Ersterkrankungsalter sind in der ebenfalls etwas später bei Mädchen als bei Jungen,
Jugend und in der Adoleszenz gering. Sie steigen, aber ähnlich wie in den Verhaltensmustern norma-
wie ⊡ Abb. 18.2 zeigte, erst im mittleren Alter auf ler Kinder zeigten Jungen primär einen Trend zum
erhebliche Werte an. externalisierenden Verhalten (z. B. Hyperaktivität,
körperliche und verbale Aggressivität, mangelnde
Verhaltenskontrolle, während Mädchen bevorzugt
18.6 Geschlechtsunterschiede ein internalisierendes Verhalten (z. B. Introvertiert-
bei den Präkursoren heit,. Schüchternheit, depressive Verstimmung, so-
ziale Ängste) zeigten.
Die großen Bevölkerungsgeburtskohortenstudien Die Folgerung, die aus diesen weitgehend über-
in England (Done et al. 1994a,b; Crow et al. 1995; einstimmenden Ergebnissen zu Präkursoren der
Jones et al. 1995), Nordfinnland (Isohanni et al. Krankheit in Kindheit und Jugend zu ziehen ist,
1998) und Neuseeland (Cannon et al. 2001) ha- lautet, dass dem Ausbruch der Schizophrenie of-
ben weitgehend übereinstimmend demonstriert, fenbar von früher Kindheit an leichte, dem jeweili-
18 dass dem Ausbruch einer Schizophrenie im Er- gen Entwicklungsstadium entsprechende Anoma-
wachsenenalter leichte Entwicklungsverzögerun- lien auf neuromotorischer, emotionaler, kognitiver
gen oder -anomalien vorausgehen. Sie scheinen und Verhaltensebene vorausgehen. Sie sind wahr-
bereits in der frühen Kindheit in Gestalt leichter scheinlich mit leichten Entwicklungsstörungen des
neuromotorischer Entwicklungsdefizite jedoch Gehirns assoziiert, ein wesentlicher Risikofaktor
weitgehend in gleicher Häufigkeit bei Jungen und für das Auftreten von Schizophrenie im Erwach-
Mädchen aufzutreten. Vom Schulalter an zeigen senenalter. Sie dienen als einer der Gründe für die
sich leichte Verhaltensanomalien als Vorläufer der heuristische Erklärung der Krankheit als ein auf
18.7 · Geschlechtsunterschiede bei Diagnosen, Subtypen und Symptomen
305 18

Hirnentwicklungsstörungen zurückgehendes Lei- fikanten Geschlechtsunterschiede in der Sympto-


den (Weinberger 1995; Murray u. Lewis 1987). matik der ersten schizophrenen Psychose (Fennig
Geschlechtsunterschiede zwischen diesen leich- et al. 1995; Kendler u. Walsh 1995; Moldin 2000).
ten Entwicklungsanomalien finden sich offensicht- Die Inkonsistenz der Ergebnisse hat wahrschein-
lich nach ihrer Art und in denselben Alterspe- lich mit Unzulänglichkeiten der Studiendesigns zu
rioden, in denen ähnliche Unterschiede in der tun, beispielsweise mit nicht-repräsentativen und
normalen Entwicklung der Geschlechter registriert kleinen Samples, Unterschieden im Behandlungs-
werden. Das bedeutet, dass die angesprochenen status, vor allem aber mit der Vernachlässigung des
Geschlechtsunterschiede dieser Vorläufer der Schi- Krankheitsstadiums und des Alters der Probanden
zophrenie wahrscheinlich überwiegend nicht durch beim Geschlechtsvergleich.
die Krankheit, sondern durch den Einfluss der nor- Um der Klärung dieser Frage näher zu kom-
malen geschlechtsspezifischen Entwicklungsunter- men, verglichen wir in einem bevölkerungsbe-
schiede bewirkt werden. Ob auch das etwas verspä- zogenen Sample erster schizophrener Episoden
tete Auftreten einiger Verhaltensanomalien bei den (N=232) im Alter von 12–59 Jahren verschiedene
später an Schizophrenie erkrankenden Mädchen Diagnosen, Subtypen, Symptomcluster und Sym-
auf Unterschiede in der normalen Entwicklung ptome zwischen Männern und Frauen in verschie-
der Geschlechter oder auf Vorläufer der späteren denen Krankheitsstadien:
Manifestation der Krankheit zurückzuführen ist, ▬ querschnittlich bei Erstaufnahme (= in der ers-
lässt sich derzeit noch nicht mit Verlässlichkeit ten psychotischen Episode),
beurteilen. Eine Erklärung durch die schützende ▬ kumulativ über den frühen Krankheitsverlauf
Wirkung früher Östrogensekretion, die von der vom Krankheitsausbruch bis zur Erstaufnahme
Verzögerung des Ausbruchs der Krankheit bei frü- und
herer Menstruation (Cohen et al. 1999) nahe gelegt ▬ querschnittlich beim Krankheitsausbruch.
wird, lässt sich derzeit nicht unterstützen, weil die-
ses Studienergebnis bisher nicht repliziert werden Vergleiche in späteren Verlaufsstadien haben wir
konnte (s. oben). in sechs Querschnitten über fünf Jahre ab Erst-
aufnahme, aber wegen des vermuteten zeit- und
geschlechtsabhängigen Einflusses von Umweltfak-
18.7 Geschlechtsunterschiede toren auf die Symptomatik nicht in dieser diffe-
bei Diagnosen, Subtypen renzierten Form bis auf die Ebene einzelner Symp-
und Symptomen tome vorgenommen ( Kap. 18.8). Beim Einfluss
des Alters auf die Symptomatik beschränken wir
In der Literatur zu Geschlechtsunterschieden in uns auf den später darzustellenden Vergleich der
der Schizophrenie wird überwiegend, nicht konsis- ersten Episoden von Früh- und Späterkrankun-
tent, eine größere Häufigkeit positiver und affekti- gen.
ver Symptome sowie ein akuter Beginn bei Frauen Die Verlaufsperioden der Krankheit, die dem
und eine größere Häufigkeit von negativen Symp- Geschlechtsvergleich zugrunde liegen, sind
tomen sowie ein schleichender Beginn bei Män- ▬ die präpsychotische Prodromalphase vom ers-
nern berichtet (Castle et al. 1993; Jablensky 2003; ten Krankheitszeichen bis zum Auftreten des
Helmchen et al. 2000). Während mehrere Studien ersten psychotischen Symptoms mit einer mitt-
über eine größere Häufigkeit negativer Symptome, leren Dauer von 4,8 Jahren und
z. B. affektive Verflachung, Antriebsmangel und ▬ das psychotische Frühstadium vom Auftreten
sozialer Rückzug, bei Männern berichten, haben des ersten psychotischen Symptoms bis zum
einige Studien auch größere Häufigkeiten von Hal- Höhepunkt der ersten Episode (definiert durch
luzinationen und Wahnsymptomen im Vergleich das erste Maximum psychotischer Symptome)
zu Frauen gefunden (Goldstein u. Link 1988; Bar- mit einer mittleren Dauer von 1,1 Jahren bzw.
denstein u. McGlashan 1990; Lewis 1992). Eine bis zur Erstaufnahme mit einer mittleren Dauer
beträchtliche Zahl von Studien fand keine signi- von 1,3 Jahren (Häfner et al. 1995).
306 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

⊡ Tab. 18.2. Vergleich von klinischen und operationalen Diagnosen, CATEGO-Subklassen, -Scores und Definitionsindex
bei Erstaufnahme (= in der ersten psychotischen Episode) zwischen Männern und Frauen – ABC-Erstepisodenstichprobe
(N=232, = 84% von 276 Erstaufnahmen) (aus Häfner 2003).

Diagnose (%)1 Frauen (N=124) Männer (N=108) P

Schizophrenie mit weiter Definition (ICD-9: 100% 100%


295, 297, 298.3, 298.4)

Schizophrenie ICD 295 87,1% 88,0% n.s.

Operationalisierte Diagnosen

CATEGO ICD 295 79,0% 73,1% n.s.

CATEGO-Klasse S+ 73,4% 67,6% n.s.

CATEGO – affektive Psychose 13,7% 13,0 n.s.


2
Scores (Mittelwerte)

PSE: Definitionsindex 7,47 7,49 n.s

CATEGO: Gesamtscore 40,67 41,44 n.s

CATEGO-Subscores

DAH (Wahn, Halluzinationen 10,83 10,01 n.s

BSO (Verhalten, Sprache) 8,04 7,85 n.s

SNR (spezifisches neurotisches Syndrom) 7,11 7,68 n.s

NSN (nichtspezifisches neurotisches Syndrom) 14,69 15,91 n.s

1chi2-Tests; 2t-Tests; n.s. nicht signifikant

Wie ⊡ Tab. 18.2 zeigt, fanden sich signifikante Ge- methodische Mängel denn wirkliche Geschlechts-
schlechtsunterschiede in keiner der geprüften kli- unterschiede widerspiegeln. Die Interaktion von
nischen oder operationalisierten Diagnosen, Scores Symptomausprägung und Geschlecht mit dem
oder Syndromen in der psychotischen Episode (Häf- Alter, die eine erhebliche Fehlerquelle bei verglei-
ner et al. 1995). Auch die 10 häufigsten Initialsymp- chenden Studien darstellt, wurde in der Mehrzahl
tome der Schizophrenie zeigten keine signifikanten berichteter Analysen nicht berücksichtigt.
Geschlechtsunterschiede mit Ausnahme eines Sym- Die Mehrzahl vergleichender neuropsycholo-
ptoms, Sorgen, das signifikant häufiger bei Frauen gischer Studien weisen ebenfalls deutliche metho-
war (Häfner et al. 1995). Dieses Symptom ist jedoch dische Mängel auf und sind in ihren Ergebnissen
nach den Ergebnissen epidemiologischer Bevölke- nicht konsistent (Goldstein u. Lewine 2000; Fitz-
rungsstudien (Choquet u. Ledoux 1994; Döpfner gerald u. Seeman 2000). Goldberg et al. (1995) un-
et al. 1997) eher spezifisch für normales weibliches tersuchten in einer sorgfältig geplanten Studie vier
Verhalten als für die Erkrankung (Häfner 1995). unabhängige Kohorten an Schizophrenie erkrank-
18 Dieses eindeutige Ergebnis kommt wahrschein- ter Männer und Frauen mit einem umfangrei-
lich durch das homogene Krankheitsstadium (Pro- chen Testarsenal. Sie fanden keine nennenswerten
dromalstadium, erste psychotische Episode), die Geschlechtsunterschiede in den neuropsychologi-
Repräsentativität der Stichprobe und den weiten schen Testergebnissen. Die größten Geschlechts-
Altersrange von 12–59 Jahren zustande. Es unter- unterschiede hinsichtlich der Ergebnisse finden
stützt die Annahme, dass die nicht eindeutig gesi- sich auch hier vorwiegend bei Studien an klei-
cherten, aber vielfach gefundenen Geschlechtsun- nen, nichtrepräsentativen Samples. Der Stand der
terschiede der Symptomatik in der Literatur eher Forschung erlaubt jedenfalls noch keine verlässli-
18.8 · Geschlechtsunterschiede bei sekundären Verhaltensmustern
307 18

⊡ Tab. 18.3. Art des Krankheitsbeginns und erster Symptome in der Schizophrenie – ABC-Erstepisodenstichprobe
(N=232) (nach Häfner et al. 1995).

Art des Krankheitsbeginns1 Gesamt (N=232) Männer (N=108) Frauen (N=124)

Akut (<1 Monat) 18% 19% 17%

Subakut (> 1 Monat <1 Jahr) 15% 11% 18%

Schleichend oder chronisch (>1 Jahr) 68% 70% 65%

Art erster Symptome1

Negative oder nichtspezifische 73% 70% 76%

Positive 7% 7% 6%

Beide Kategorien 20% 22% 19%

1
Bei keiner der Variablen außer »Sorgen« bestand ein signifikanter Geschlechtsunterschied

chen Aussagen über Geschlechtsunterschiede der Dies deutet darauf hin, dass diese krankheitsnahen
neuropsychologischen Befunde bei Schizophrenie. Charakteristika der Schizophrenie – Symptome,
Es liegt aber nahe zu vermuten, dass auch diese psychopathologische Subtypen, Arten des Krank-
Domäne der Krankheitsmerkmale bei Einschluss heitsbeginns, Prodromalstadium und der frühe Ab-
des gesamten Risikoalters keine wesentlichen Ge- schnitt des psychotischen Stadiums – keine größe-
schlechtsunterschiede aufweist. ren Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Der Vergleich empirischer Subtypen mittels aufweisen, wenn sie sorgfältig auf der Grundlage
sechs clusteranalytisch gefundener Symptommus- von Mittelwerten über den gesamten Altersrange
ter, die wir von der psychotischen Frühphase (vom verglichen werden (Häfner et al. 1995). Jablensky
ersten psychotischen Symptom bis zur Erstauf- (1995) fasste bei kritischer Analyse der Literatur die
nahme mit einer mittleren Dauer von 1,3 Jah- berichteten Ergebnisse zu Geschlechtsunterschieden
ren) gewonnen haben, wovon zwei die positive in der Symptomexpression folgendermaßen zusam-
und Desorganisationssymptomatik, zwei weitere men: »Es gibt keine eindeutigen Belege für kon-
die negative und affektive Symptomatik abbilde- sistente Geschlechtsunterschiede im Symptomprofil
ten, zeigten keine signifikanten Geschlechtsunter- der Schizophrenie, insbesondere was die Häufig-
schiede (Löffler u. Häfner 1999). keit von positiven und negativen Symptomen anbe-
Zur Prüfung der klinischen Hypothese, dass ein langt.« Dem ist zuzustimmen.
schleichender Beginn, ein langer präpsychotischer
Krankheitsverlauf und ein hebephrener Subtyp häu-
figer bei Männern sind, während ein akuter Krank- 18.8 Geschlechtsunterschiede bei
heitsbeginn mit überwiegend positiven Symptomen sekundären Verhaltensmustern
häufiger bei Frauen ist, definierten wir drei klinische im Verlauf der Schizophrenie
Subtypen von Krankheitsbeginn (akut: ≤4 Wochen
vom Auftreten des ersten Krankheitszeichens bis Eindeutige Geschlechtsunterschiede finden sich je-
Erstaufnahme, subakut: ≤1 Jahr, schleichend: >1 doch in sekundären Merkmalen oder Komplika-
Jahr) und drei Kategorien von Symptomen (posi- tionen der Krankheit, nämlich bei Alkohol- und
tiv, negativ und unspezifisch) (⊡ Tab. 18.3). Keiner Substanzmissbrauch, bei aggressivem und krimi-
der Subtypen und keine der Symptomkategorien nellem Verhalten, insbesondere bei gewalttätigen
zeigten beim Vergleich von Mittelwerten des ge- Delikten (s unten). All diese Charakteristika finden
nannten Altersspektrums der Ersterkrankungen sig- sich signifikant häufiger bei schizophren erkrankten
nifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Männern im Vergleich zu Frauen. Das Risiko kon-
308 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

zentriert sich auf die Altersperiode von der Adoles- Das Ergebnis bestätigt noch einmal das Fehlen
zenz bis zum jungen und mittleren Erwachsenenal- substanzieller Unterschiede in der schizophrenen
ter. Dieselben Risiken finden sich, im Wesentlichen Symptomatik, und zwar sowohl auf der Ebene
konzentriert auf dieselbe Altersperiode, bei Män- der positiven als auch der negativen Symptomatik
nern in der Allgemeinbevölkerung signifikant häu- (⊡ Tab. 18.4; Häfner et al. 1999b). Die wenigen Un-
figer als bei Frauen (Choquet u. Ledoux 1994; Döpf- terschiede, die nach Kontrolle für Mehrfachtestung
ner et al. 1997; Jenkins et al. 1997; Kandel 2000), was bei Männern signifikant häufiger waren, konzent-
die Annahme nahe legt, dass wir es hier wiederum rieren sich auf acht sozial adverse Verhaltensitems:
nicht mit im engeren Sinne krankheitsassoziierten, Selbstvernachlässigung, mangelndes Interesse an
sondern mit normalen Verhaltensunterschieden der einem Arbeitsplatz, soziale Unaufmerksamkeit,
Geschlechter zu tun haben. mangelnde Freizeitaktivität, Kommunikationsde-
Wir haben, um diesen Geschlechtsunterschie- fizite, soziale Behinderung (Gesamteinschätzung),
den im Sozialverhalten im Detail nachzugehen und Interesselosigkeit und mangelnde Körperpflege.
Geschlechtsunterschiede im Krankheitsverhalten Analoge Unterschiede in Verhaltensmerkmalen
erfassen zu können, alle Items, die wir zum Zeit- finden sich auch im Vergleich von kumulativen
punkt der ersten psychotischen Episode an unse- Werten des Frühverlaufs, nämlich beim bereits
rem Erstepisodensample (N=232) erhoben hatten erwähnten Alkohol- und Substanzmissbrauch. Das
zwischen den Geschlechtern verglichen. Es handelt sind Charakteristika, die sich ebenfalls als sozial
sich um insgesamt 303 Items aus: adverses Verhalten klassifizieren lassen. Das ein-
▬ PSE (Present State Examination; Wing et al. zige Item, das bei Frauen in der ersten psychoti-
1974) zur Erfassung der Symptome schen Episode signifikant häufiger zu beobachten
▬ PIRS (Psychological Impairments Rating Sche- war, ist Überanpassung/Konformität und damit
dule; Biehl et al. 1989) zur Erfassung der funk- ein sozial positives Verhaltensitem. Wiederum ist
tionellen Beeinträchtigung zu vermerken, dass dieser Unterschied, der hier
▬ SANS (Scale for the Asseessment of Negative für den gesamten Altersrange geprüft ist, maximal
Symptoms; Andreasen 1983 zur Erfassung der in der Periode zwischen Adoleszenz und mittle-
Negativsymptomatik rem Erwachsenenalter zu beobachten ist und im
▬ IRAOS (Interview for the Retrospective As- höheren Lebensalter verschwindet (Häfner et al.
sessment of the Onset and Course of Schizo- 1999b).
phrenia; Häfner et al. 1999a) zur Erfassung von Das sozial positive Verhalten der Frauen ver-
Prodromi und Frühverlauf weist tendenziell auf eine bessere Compliance und

⊡ Tab. 18.4. Verhaltensmerkmale mit signifikanten Geschlechtsunterschieden (aus insgesamt 303 PSE-, PIRS-, SANS-,
DAS- und IRAOS-Items)1 – ABC-Erstepisodenstichprobe (N=232) (aus Häfner 1998).

Häufiger bei Frauen Häufiger bei Männern

Kumulativ bis zur Unruhe Substanzmissbrauch


Erstaufnahme Alkoholmissbrauch

18 Querschnittlich bei Überanpassung/Konformität Selbstvernachlässigung


Erstaufnahme Mangelndes Interesse an einer Arbeit
Soziale Unaufmerksamkeit
Verminderte Freizeitaktivität
Kommunikationsdefizite
Soziale Behinderung (Gesamteinschätzung)
Interessenlosigkeit
Mangelnde Hygiene

1
Für Alpha-Korrektur validiert mit »Split-half«-Verfahren
18.8 · Geschlechtsunterschiede bei sekundären Verhaltensmustern
309 18

ein generell günstigeres Krankheitsverhalten in verhalten denn um den Ausdruck der Krankheit
der Schizophrenie, während das sozial negative Schizophrenie handelt.
Krankheits- und Bewältigungsverhalten der Män- Um die angesprochenen Folgen dieses unter-
ner ungünstige Folgen für die soziale Integration schiedlichen Krankheitsverhaltens von Männern
schizophren Erkrankter damit auch für den sozia- und Frauen vor allem in der sozialen Domäne
len Verlauf der Krankheit haben könnte. zu demonstrieren, haben wir den Verlauf der
Wirft man wiederum die Frage auf, ob diese acht sozial adversen Verhaltensitems bei beiden
Geschlechtsunterschiede im Sozialverhalten auf Geschlechtern über fünf Jahre ab Erstaufnahme
die Krankheit oder auf normale Eigenschaften in fünf Querschnitten untersucht (Häfner et al.
der Geschlechter zurückzuführen sind, dann ist 1998a). ⊡ Abb. 18.3 macht deutlich, dass der in
zu berücksichtigen, dass Bevölkerungsstudien der Mehrzahl der Studien demonstrierte ungüns-
zum Thema konsistent eine größere Häufigkeit tigere soziale Verlauf der Schizophrenie bei Män-
nicht nur von Gewaltkriminalität, Alkohol- und nern im Vergleich zu Frauen weitgehend durch
Substanzmissbrauch, sondern auch von durchaus die großen Unterschiede im Krankheitsverhalten
vergleichbaren sozialen Verhaltensauffälligkeiten, der Geschlechter erklärt werden kann. Wenn man
aggressivem Verhalten und antisozialer Persönlich- dazu den symptombezogenen Verlauf (CATEGO-
keit bei Männern in der Adoleszenz und im jungen Gesamtscore) über die gleiche Periode wiederum
Erwachsenenalter im Vergleich zu Frauen zeigen über fünf Querschnitte analysiert (⊡ Abb. 18.3b),
(Choquet u. Ledoux 1994; Döpfner et al. 1997; dann zeigt sich wie im Frühverlauf und in der ers-
Jenkins et al. 1997; Kandel 2000). Diese Befunde ten psychotischen Episode kein Unterschied zwi-
legen den Schluss nahe, dass es sich auch hier um schen den Geschlechtern (Häfner 1998 ). Dasselbe
ein geschlechts- und altersspezifisches Krankheits- Bild ergibt sich auch für CATEGO-Teilscores.

Mittlerer Score
a 4 MANOVA:
3.5 Geschlecht: p=0.005
Zeit p=0.026
Männer Geschlecht x Zeit: p=0.335
3

2.5
Frauen
2

1.5

1
Erstaufnahme ½ 1 2 3 5 Jahre

b n.s.
40
n.s.: nicht signifikant
30

20 Männer
n.s. n.s. n.s. n.s.
n.s.
10
Frauen
0
Erstaufnahme ½ 1 2 3 5 Jahre

⊡ Abb. 18.3a,b. Sozial adverses Verhalten und schizophrene heitsepisoden von Schizophrenie und schizophrenieähnlichen
Gesamtsymptomatik über fünf Jahre nach Erstaufnahme Störungen (N=115). a Sozial adverses Verhalten (Mittelwert).
(sechs Querschnitte) – ABC-Verlaufsstichprobe erster Krank- b CATEGO-Gesamtscore
310 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

18.9 Erklärung von Geschlechts- Eine endgültige Antwort auf die Frage, ob
unterschieden durch die das mittlere Ersterkrankungsalter unter Berück-
Östrogenwirkung sichtigung des gesamten Altersspektrums in
allen Ländern und Kulturen für Frauen meh-
18.9.1 Protektive Wirkung von Östrogen rere Jahre höher ist als für Männer, konnte noch
nicht gegeben werden. Alle methodisch sorgfäl-
Die Annahme, dass der Geschlechtsunterschied im tig durchgeführten Untersuchungen an hinrei-
Ersterkrankungsalter durch eine Schutzwirkung chend großen repräsentativen Samples haben
des Geschlechtshormons Östrogen verursacht jedoch einen Unterschied von mehreren Jahren
wird, ist von Mendelson et al. (1977), Seeman gefunden. Faraone et al. (1994) wandten eine
(1981), Loranger (1984), Häfner (1987), Lewine nonparametrische Methode zur Bereinigung der
(1988) und Seeman (1996) aufgestellt worden. Ei- Abweichung der Altersverteilung der hinsichtlich
nige Studien konnten jedoch keinen Geschlechts- ihres Ersterkrankungsalters untersuchten Männer
unterschied im Ersterkrankungsalter finden: Zwei und Frauen von der normalen Altersverteilung
Inanspruchnahmestudien in Indien (Murthy et al. der Geschlechter an. Die nicht korrigierten Daten
1988; Gangadhar et al. 2002) und eine japanische wiesen einen Altersunterschied von vier Jahren
Studie (Shimizu et al. 1998) fanden, dass das Erst- im mittleren Ersterkrankungsalter auf. Nach der
aufnahmealter für Schizophrenie nicht niedriger, Korrektur zeigte die Verteilung des Ersterkran-
sondern teilweise geringfügig höher für Männer kungsalters eine leichte Verschiebung zu älteren
als Frauen ist. Eine in Kroatien durchgeführte Altersgruppen hin, aber das höhere Ersterkran-
Fallregisterstudie (Folnegovic u. Folnegovic-Smalc kungsalter von Frauen im Vergleich zu Männern
1994) fand keinen signifikanten Unterschied im blieb signifikant. Vorerst wird man davon aus-
Ersterkrankungsalter in einer großen Stichprobe gehen können, dass der Geschlechtsunterschied
von 679 Patienten. Bei der Interpretation dieser im Ersterkrankungsalter wahrscheinlich ein vali-
Ergebnisse muss in Betracht gezogen werden, dass der und vermutlich auch ein kulturunabhängiger
die Inanspruchnahme von psychiatrischen Diens- Befund ist.
ten in den ersten drei zitierten Studien vermutlich Dieser Geschlechtsunterschied schrumpft oder
nicht in allen Alters- und Geschlechtsgruppen verschwindet nur dann, wenn nur Fälle mit einer
nahe bei 100% liegt. Insbesondere in Indien un- familiären Belastung durch schizophrene Erkran-
terliegt das Hilfesuchverhalten bei psychischen kungen in der ersten Generation verglichen wer-
Erkrankungen alters- und geschlechtsabhängigen den (DeLisi et al. 1994; Kendler u. Walsh 1995;
kulturellen und familiären Selektionsfaktoren, so Albus u. Maier 1995; Könnecke et al. 2000). Darauf
dass eine Verzerrung der Alters- und Geschlechts- ist noch zurückzukommen ( Kap. 18.9.6).
zusammensetzung der Inanspruchnahmepopula- Die Erklärung des späteren Ersterkrankungs-
tionen nicht ausgeschlossen werden kann. alters der Frauen mit dem Vorhandensein von Ös-
Bei der kroatischen Studie ist zu berücksich- trogen im weiblichen Organismus lag nahe, nach-
tigen, dass die Emigration vorwiegend junger dem DiPaolo u. Falardieu (1985), Fields u. Gordon
Männer, von der das Untersuchungsgebiet be- (1982) und Hruska (1986) frühzeitig gezeigt hatten,
troffen wurde, die Alters- und Geschlechtszu- dass im Tierversuch kurzfristige Östrogengaben zu
sammensetzung der Risikopopulation beeinflusst einer dosisabhängigen Modulation des dopamin-
18 haben könnten (Folnegovic u. Folnegovic-Smalc ergen Systems führten. Eine kontrollierte tierexpe-
1994). Eine kanadische Studie von 113 Patienten rimentelle Studie (Häfner et al. 1991; Gattaz et al.
(Addington et al. 1996), die ebenfalls keine Ge- 1992) prüfte die Effekte einer vierwöchigen Gabe
schlechtsdifferenz im Ersterkrankungsalter fand, von 17-β-E2 auf Apomorphin-induziertes dopami-
hatte wahrscheinlich durch den Ausschluss äl- nerges Verhalten
terer Altersgruppen mit Überrepräsentation von ▬ bei neugeborenen Ratten,
Frauen die Erfassung des Geschlechtsunterschieds ▬ bei erwachsenen, ovarektomierten Ratten und
im Ersterkrankungsalter großenteils verfehlt. ▬ bei scheinovariektomierten Kontrolltieren.
18.9 · Erklärung von Geschlechtsunterschieden durch die Östrogenwirkung
311 18

Das Ergebnis zeigte eine signifikante Minderung des Anwendung von Östrogen vor einer 15-stündigen
Apomorphin-stimulierten dopaminergen Verhal- Hypoxie führte zu einer signifikanten Verminde-
tens im Vergleich zu den beiden Kontrollengruppen rung von neuronalem Zelltod. Interessanterweise
(die eine ovariektomiert, die andere scheinoperiert, war die Vulnerabilität für Hypoxie und die direkte
beide plazebobehandelt). In Post-mortem-Analy- protektive Wirkung von Östrogen ausgeprägter in
sen konnten die Autoren zeigen, dass Östrogen die männlichen als in weiblichen Neuronen.
D2-Rezeptorsensitivität reduziert. Neuroprotektive Interventionen sind im Tierex-
periment auch bei hypoxischer/ischämischer oder
traumatischer Hirnschädigung durchgeführt wor-
18.9.2 Biochemische und genomische den, in einigen Fällen mit positiven Ergebnissen.
Mechanismen der Östrogenwirkung Es fehlte jedoch bisher an gesicherten klinischen
im Gehirn Belegen für vergleichbare neuroprotektive Thera-
pieeffekte beim Menschen (DeKeyser et al. 1999).
Seit der Entdeckung der Schutzwirkung von Östro- Das bedeutet, dass Östrogen breite neurotro-
gen auf das Psychoserisiko hat die neurobiologische phische und neuromodulatorische Effekte besitzt,
Forschung vermehrte Anstrengungen unternom- die offenbar das Risiko der Manifestation einer
men, um die Rolle von Östrogen bei Hirnent- Psychose reduzieren kann. In wiefern dies be-
wicklung und Hirnfunktionen aufzuklären. Östro- reits durch einen organisatorischen Effekt auf die
genrezeptoren gehören zur Familie der nukleären Hirnentwicklung erfolgt, lässt sich mangels be-
Steroidrezeptoren (Evans 1988; Vedder u. Behl stätigender Daten bisher nur vermuten. Die bio-
2005). Östrogen reguliert die Aktivität einzelner auf chemischen und genomischen Effekte bieten sich
Hormone reagierender Gene und setzt in der Zelle jedoch zur Erklärung, weshalb von der Pubertät
komplexe metabolische Prozesse durch Induktion an die schizophrene Psychose bei Frauen nicht
von Genexpressionsmustern in Gang. Die gegen- nur später zum Ausbruch kommt, sondern an-
wärtig bekannten Östrogenrezeptoren, ERα und fangs auch milder verläuft, während vom Zeit-
ERβ, werden mehr oder weniger reichlich im Hip- punkt des Klimakteriums an mit dem Absinken
pokampus (Shughrue et al. 1997) und in den Trans- der Östrogenproduktion die bis dahin unterdrück-
mittersystemen des Vorderhirns – Serotonin, Dopa- ten Erkrankungen noch verspätet zum Ausbruch
min und Norepinephrin exprimiert – (McEwen u. kommen. Im Gegensatz dazu ist die Schizophrenie
Alves 1999). Die ERα- und ERβ-induzierte Genex- bei Männern, die offenbar über keinen analogen
pression ist an der neuroprotektiven Wirkung von Schutzmechanismus verfügen, bereits im frühen
Östrogen beteiligt. Die Gene für das neuroprotek- Lebensalter vergleichsweise schwerer und erwar-
tiv wirksame Neurotrophin BDNF (brain-derived tungsgemäß auch häufiger. Erst nach dem Meno-
neurotrophic factor; Singh et al. 1995; Sohrabji et pausealter kehrt sich das Verhältnis um. Es kommt
al. 1995;  Kap. 16) werden von Östrogen regu- zu dem erwähnten zweiten Gipfel von Krankheits-
liert (Vedder u. Behl 2005), und die Transkription ausbrüchen bei Frauen und ab Zeitpunkt des Rück-
des bcl-2-Gens, das bei apoptotischem Zelltod eine gangs der Östrogensekretion von der Menopause
wichtige Rolle spielt, wird von Östrogen durch ein an zu vergleichsweise schwererer Symptomatik
cAMP-Reaktionselement in der promotorischen und ungünstigerem Verlauf im Vergleich zu Män-
Region beeinflusst (Dong et al. 1999). nern (Retterstol u. Opjordsmoen 1994; Häfner et
Neurotrophe Effekte sind an Zellen in vitro al. 1998b,c).
durch das Wachstum von Axonen und Dendriten In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen,
und durch die Bildung von Synapsen mit einer er- dass die Geschlechtsunterschiede im neuralen Ge-
höhten Anzahl neuronaler Verbindungen demons- webe und an Neuronen und Zellmembranen nicht
triert worden (Behl 2002). ausschließlich auf die Wirkung der Gonadenfunk-
Heyer et al. (2005) untersuchten auch die grund- tion zurückgehen. Neuere Studien haben gezeigt,
legende neuroprotektive Wirkung von 17-β-Östra- dass die Geschlechtschromosomen auch einen di-
diol an primären Neuronen des Hippokampus. Die rekten Effekt auf die Differenzierung von Zellen
312 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

im Zentralnervensystem haben, so dass die Ge- In frühen klinischen Studien wurde ohne bewei-
schlechtsunterschiede insoweit nicht ausschließlich sende empirische Daten ein prämorbider Hypo-
auf die organisatorischen Effekte der Gonadenhor- östrogenismus als ätiologischer Risikofaktor für
mone in der Entwicklung des ZNS zurückgehen Schizophrenie vermutet (Kraepelin 1909; Kretsch-
(Dewing et al. 2006;  Kap. 4). Andererseits tragen mer 1921; Bleuler 1943; Riecher-Rössler 2005).
diese Differenzierungsprozesse im Zusammen- Inzwischen liegen mehrere indirekte Prüfungen
hang mit der im Laufe des Entwicklungsprozesses der Hypothese vor. Bergemann et al. (2005) fanden
hinzutretenden Sekretion der Gonadenhormone an 75 schizophren erkrankten Frauen im Präme-
vermutlich nicht nur zu den beschriebenen »nor- nopausenalter mit aktiven menstruellen Zyklen bei
malen« Geschlechtsunterschieden im Erleben und einer mittlerer Krankheitsdauer von 7,5 Jahren im
Verhalten und zu Unterschieden im Ersterkran- Vergleich mit Normwerten einen eindeutigen Hy-
kungsalter und Symptomatik der Schizophrenie, poöstrogenismus. Das ist noch kein Beweis, son-
sondern auch zu Geschlechtsunterschieden im dern allenfalls ein Hinweis auf die Hypothese. Die
Erkrankungsrisiko von ADHS (Biederman et al. Frauen waren überdies mit verschiedenen Neuro-
2002; Gerhson 2002;  Kap. 13), Gilles-de-la-Tou- leptika behandelt worden und wiesen großenteils
rette-Syndrom (Freeman et al. 2000) und anderen erhöhte Prolaktinwerte auf. Die Autoren bedachten
mit dem Risikofaktor »Hirnentwicklungsstörung« nicht, dass die mit konventionellen Neuroleptika
assoziierten Störungsmustern bei. behandelten Patientinnen einen erhöhten Hypoös-
Ein Hinweis, dass die aus Tierexperimenten trogenismus entwickelt haben könnten. Wegen der
gewonnenen Erklärungshypothesen zur aktuellen Ubiquität der Defizite nahmen sie jedoch an, dass
Östrogenwirkung auch auf die menschliche Schi- schizophren erkrankte Frauen vor dem Prämeno-
zophrenie anwendbar sind, ist an der Tatsache zu pausenalter meist an Geschlechtshormondysregu-
sehen, dass Frauen mit Schizophrenie mit einem lation mit Hypoöstrogenismus leiden. Eine größere
normalen menstruellen Zyklus prämenstruell zu Zahl von Studien (Hoff et al. 2001; Zhang-Wong u.
einer Exazerbation der Symptomatik neigen (Hal- Seeman 2002; Choi et al. 2001; Huber et al. 2001;
lonquist et al. 1993; Althaus et al. 2000; Choi et al. Canuso et al. 2002; Übersicht bei Riecher-Röss-
2001; Hoff et al. 2001). In einer klinischen Ver- ler 2005) untersuchte Erstepisodensamples von
gleichsstudie fanden Riecher-Rössler et al. (1994a,b) Schizophrenie und fand auch in diesem frühen
an 32 an Schizophrenie erkrankten Frauen und Krankheitsstadium niedrigere Östrogenspiegel als
29 depressiv erkrankten Frauen – beide Gruppen bei gesunden Kontrollen.
mit normalen menstruellen Zyklen – signifikante Die eingangs angesprochene Hypothese, ein
Korrelationen zwischen steigendem Östrogenplas- prämorbides Defizit an Östrogensekretion biete
maspiegel und Symptommaßen für Schizophrenie, keinen ausreichenden Schutz gegen dopaminerge
aber keine solche Korrelation mit Symptommaßen Überfunktion oder Dysbalance und erhöhe so das
für Depression (vgl. Hallonquist et al. 1993; Dalton Schizophrenierisiko, kann so noch nicht als bestä-
1959; Endo et al. 1978). tigt gelten. Ein empirischer Nachweis ist jedoch
aufwendig. Er wäre mit einer prospektiven kon-
trollierten Kohortenstudie mit einer hinreichenden
18.9.3 Hypoöstrogenismus und Zahl von Hochrisikopersonen möglich. Die Kau-
Schizophrenie salbeziehung könnte auch in Gegenrichtung beste-
18 hen, nämlich dass stabile prämorbide Verhaltens-
Der Zusammenhang von niedrigem Östrogen- muster oder eine über mehrere Jahre ablaufende
plasmaspiegel und vermehrter Symptomatik und Prodromalphase zu erniedrigten Östrogenwerten
die Hypothese, höhere Östrogenplasmaspiegel bö- geführt haben. Das erklärt allerdings das spätere
ten einen relativen Schutz gegen den Ausbruch Erkrankungsalter der Frauen genauso wenig wie
der Schizophrenie, erweckten die alte Hypothese den vermuteten prämorbiden Hypoöstrogenismus.
wieder, der Hypoöstrogenismus sei ein substan- In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass
zieller Risikofaktor für schizophrene Psychosen. Defizite in Kommunikabilität und Sozialverhalten
18.9 · Erklärung von Geschlechtsunterschieden durch die Östrogenwirkung
313 18

häufig bereits in Kindheit und Jugend und im in- binierten Östrogen-Progesteron-Kontrazeptivs zur
tersexuellen und Partnersuchverhalten in der Ado- Besserung psychotischer Symptomen führt.
leszenz der später an Schizophrenie Erkrankenden Obwohl mehrere Forschergruppen in offenen
zu beobachten sind (Malmberg et al. 1998; Jones Studien an Frauen mit akuter Psychose erfolgreich
et al. 1998; Jones 1999; Davidson et al. 1999). Die mit adjuvanter Östrogentherapie behandelten, kam
physiologische Interaktion zwischen aktivem Sexu- eine vor kurzem erschienene Cochrane-Metaana-
alverhalten und Gonadenhormonsekretion wirkt lyse (Chua et al. 2005) zu dem Schluss, dass eine
in beide Richtungen. Es ist schwer, im Nachhin- Östrogenbehandlung mit oder ohne Progesteron
ein zwischen einem Hypoöstrogenismus als Folge bei psychotisch erkrankten Frauen keine überzeu-
von asexuellem Verhalten und einem Hypoöstro- genden Vorteile gegenüber einer Plazebobehand-
genismus als Ursache einer schwachen Libido zu lung bietet. Der wesentliche Grund ist, dass es
unterscheiden. Beide können mit einem erhöhten noch an Therapievergleichsstudien mit Zufallszu-
Schizophrenierisiko verbunden sein. Dennoch weisung für eine Metaanalyse mangelt.
kann die Annahme von Hypoöstrogenismus als Häfner et al. (2006) haben kürzlich darauf hin-
Risikofaktor für die weibliche Schizophrenie, auch gewiesen, dass Östrogen die einzige bisher be-
wenn sie mit dem höheren Erkrankungsalter der kannte Substanz und der einzige einfach anwend-
Frauen bei weitgehend geschlechtsgleichen Krank- bare biologische Faktor ist, der mit hinreichender
heitsformen nicht leicht vereinbar ist, noch nicht Wahrscheinlichkeit das Risiko des Ausbruchs einer
als wertlos abgelegt werden, solange sie noch nicht Schizophrenie aufschieben und die Symptomatik
verlässlich widerlegt ist. reduzieren kann. Östrogen wäre damit eine aus-
sichtsreiche Basis für Versuche zur Prävention der
Psychose. Der Grund, weshalb dieses präventive
18.9.4 Adjuvante Östrogenbehandlung Potenzial noch nicht zur Anwendung kam, liegt
der Schizophrenie in klinischen Bedenken wegen erhöhter Risiken
für Brustkrebs, Herzerkrankungen und throm-
Die neuroleptikaähnliche Wirkung von Östrogen boembolischer Komplikationen bei langfristiger
gab frühzeitig den Anlass, eine schizophrene Psy- Östrogenbehandlung (Women’s-Health-Initiative-
chose mit dem Gonadenhormon Östrogen zu be- Studie: Grimes u. Lobo 2002; Kuller 2003; Million-
handeln. Die theoretische Bedeutung liegt in der Women-Studie: Beral 2003). Ein weiteres Problem
Tatsache, dass zuverlässige Belege für kausale Ef- im Zusammenhang mit langfristiger Östrogenbe-
fekte in Interventionsstudien gewonnen werden. handlung stellen die unerwünschten hormonellen
Kulkarni et al. (1999, 2002) prüften die Östrogen- Nebenwirkungen vor allem bei Männern dar. Des-
hypothese an Frauen in der schizophrenen Episode halb verbindet sich gegenwärtig einige Hoffnung
mit adjuvanter Östrogenmedikation bei traditio- mit der Entwicklung von Östrogenpräparaten, die
neller Neuroleptikatherapie. Die Autoren führten sich auf Neuronen und das zentrale Transmitter-
eine systematische Therapievergleichsstudie mit system auswirken, aber keine Wirkung auf das
zwei unterschiedlichen Östradioldosen als adju- Brust- oder das Gebärmuttergewebe haben (se-
vante Behandlung zusätzlich zur Standardtherapie lective estrogen receptor modulators, SERM). Die
mit Haloperidol durch. Sie stellten eine rasche, si- Entwicklung von geeigneten SERM-Molekülen zur
gnifikante dosisabhängige Besserung der gesamten Vorbeugung schizophrener Erkrankungen steht je-
Symptomatik fest. In zwei Pilotstudien – die eine doch noch in den Anfängen.
durchgeführt an schizophren erkrankten Männern
– fanden Kulkarni et al. (1999, 2002) auch, dass eine
adjuvante Östradiolbehandlung der reinen Antipsy- 18.9.5 Psychoserisiko in der Schwanger-
chotikagabe von der zweiten Woche an überlegen schaft und Postpartumpsychosen
war. Die längerfristige Wirksamkeit ist noch un-
geklärt. Felthous et al. (1980) haben berichtet, dass Die Sekretion und der Blutspiegel von Gona-
auch die zusätzliche orale Einnahme eines kom- denhormonen, insbesondere von Östrogen, va-
314 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

riieren nicht nur mit dem menstruellen Zyklus, Studien durchgeführt worden, meist an kleinen
sondern auch mit Schwangerschaft und Geburt. Stichproben. In einer solchen offenen, aber syste-
Diese Zu- und Abnahmen der Östrogenkonzen- matisch kontrollierten Studie behandelten Kumar
tration im Plasma könnten auch Einfluss auf das et al. (2003) 29 Frauen, die an einer bipolaren oder
Schizophrenierisiko und das Symptomausmaß einer schizoaffektiven Störung erkrankt waren, mit
haben. Postpartumpsychosen sind vergleichs- 200, 400 oder 800 mcg Östradiol transdermal über
weise häufig. Sie sind hauptsächlich durch af- 12 Tage nach der Geburt und mit reduzierten Do-
fektive und durch diagnostisch nicht eindeutig sen an weiteren 12 Tagen. Die Rückfallrate ging
klassifizierbare Syndrome charakterisiert. Kendell entgegen der Erwartung nicht zurück. Davies et al.
et al. (1987) fanden sowohl eine geringere Psy- (1995) konnten ebenfalls keine protektive Wirkung
chosehäufigkeit während der Schwangerschaft, einer vor der Geburt verabreichten adjuvanten Ös-
wenn die Östrogenplasmaspiegel hoch waren, als trogentherapie nachweisen.
auch eine beträchtliche Zunahme an Postpartu- Gregorie et al. (1996) führten einen Dop-
merkrankungen. Seeman (1997) verglich psycho- pelblindversuch mit Zufallszuweisung durch,
tische Symptome bei Frauen, die schon vorher an während dessen 63 Frauen monatlich mit Östra-
Schizophrenie erkrankt waren, vor und während diolhautpflastern (200 mg/Tag) behandelt wurden,
einer Schwangerschaft und nach Niederkunft. Sie während die Kontrollen Plazebopflaster bekamen.
stellte eine Zunahme von Symptomen in Phasen Die meisten dieser Frauen litten jedoch an Post-
niedriger Östrogenkonzentration, häufige Remis- partumdepression. 26 depressive Patientinnen
sionen während der Schwangerschaft, wenn die erhielten zusätzlich Antidepressiva. Nach einem
Östrogenspiegel hoch waren, und das Wieder- Monat zeigte die östrogenbehandelte Gruppe eine
aufflackern von Symptomen nach der Geburt, signifikante Besserung im Vergleich zu der Pla-
wenn die Östrogenkonzentrationen wieder fielen. zebogruppe. Die Inkonsistenz dieser Ergebnisse
Auch Chang u. Renshaw (1986) haben niedrigere vor allem gegenüber der Studie von Kumar et al.
Rückfallraten schizophren erkranktrer Frauern (2003), ist schwer erklärbar. Vermutlich spielt die
während der Schwangerschaft bei erhöhten Ös- vorwiegend depressive Symptomatik eine Rolle.
trogenplasmawerten und erhöhte Rückfallraten Analoge Studien an den seltenen Wochenbettpsy-
nach der Geburt berichtet. Schwere Erkrankungs- chosen mit eindeutig schizophrenen Symptomen
formen an Schizophrenie werden von Geburt und mit adjuvanter Östrogenbehandlung sind bisher
Wochenbett offenbar nicht stark beeinflusst, wie nicht veröffentlicht worden.
Davies et al. (1995) herausgefunden haben. Eine Abgesehen von der Tatsache, dass bei psychi-
familiäre Belastung mit bipolarer Erkrankung schen Störungen, die unmittelbar nach der Entbin-
scheint dagegen ein wichtiger genetischer Risiko- dung auftreten, depressive Syndrome und affektive
faktor für Postpartumpsychosen zu sein (Jones u. Psychosen weitaus überwiegen, ist es nicht einfach,
Craddock 2002). zu gesicherten Daten zu gelangen, die einen Zu-
Während in der Schwangerschaft der Hormon- sammenhang zwischen einer erniedrigten Östgro-
status relativ stabil bleibt, unterliegt er nach Geburt genplasmakonzentration in der Postpartumphase
beträchtlichen Schwankungen. Aus diesem Grunde und dem Psychose- oder Schizophrenierisiko be-
sind zuverlässige Messungen des Hormonspiegels legen lassen. Der Zusammenhang zwischen Symp-
erst einige Wochen nach der Niederkunft mög- tomexazerbation oder -besserung bei vorbestehen-
18 lich, wenn die Werte sich wieder stabilisiert haben den chronischen oder rezidivierenden Psychosen
(Gregoire 2005; Harris et al. 1989; Nott et al. 1976; – ausgenommen besonders schwere Fälle – ist bei
Davies et al. 1995). zunehmender oder abnehmender Östrogenplas-
Im Hinblick auf diese Ergebnisse war es von In- makonzentration während der Schwangerschaft
teresse zu versuchen, das hohe Rückfallrisiko von und nach der Geburt besser belegt (Seeman 1997).
Postpartumpsychosen nach der nächsten Schwan- Erfolge von Interventionsversuchen mit Östrogen
gerschaft durch eine präventive Östrogenbehand- in diesem Zusammenhang können derzeit nicht als
lung zu vermindern. Dazu sind mehrere offene gesichert gelten.
18.9 · Erklärung von Geschlechtsunterschieden durch die Östrogenwirkung
315 18
18.9.6 Gleichgewicht zwischen zwischen familiär belasteten und nicht belasteten
Psychosedisposition und Fällen zeigten (⊡ Abb. 18.4).
Schutzwirkung von Östrogen Diese Ergebnisse stützen die Hypothese von Al-
bus u. Maier (1995), wonach der verzögernde oder
DeLisi et al. (1994), Kendler u. Walsh (1995), Albus protektive Effekt von Östrogen auf den Ausbruch
u. Maier (1995) und Könnecke et al. (2000) haben der Psychose umso schwächer ausfällt, je stärker
signifikant geringere Geschlechtsunterschiede im die genetische Disposition ist. Wir prüften, ob auch
Ersterkrankungsalter bei schizophren Erkrankten andere für Schizophrenie ätiologisch relevante Ri-
mit familiärer Belastung für Schizophrenie berich- sikofaktoren wie Schwangerschafts- und Geburts-
tet. In der Studie von Albus u. Maier (1995) ver- komplikationen die Schutzwirkung von Östrogen
schwand der signifikante Geschlechtsunterschied zu schwächen vermögen. Tatsächlich zeigten diese
im Ersterkrankungsalter bei schizophren erkrank- Faktoren Effekte, die in die gleiche Richtung gin-
ten Geschwistern eines schizophren Erkrankten. gen – Minderung des Ersterkrankungsalters bei
Die familiär nicht belasteten Kontrollen wiesen ei- Frauen –, aber geringer ausfielen als bei familiärer
nen höheren Geschlechtsunterschied von 5,7 Jah- Belastung. Östrogen scheint also in der Lage zu
ren im Vergleich zum Mittelwert auf. In unserer sein, den Ausbruch der Schizophrenie umso mehr
Replikationsstudie (Könnecke et al. 2000) fiel der hinauszuschieben, je schwächer die individuelle
Geschlechtsunterschied im Alter beim Ausbruch Vulnerabilität oder Krankheitsdisposition ist.
der Psychose für familiär belastete Patienten (min-
destens ein Verwandter ersten Grades mit Schizo-
phrenie) von 4,2 Jahren in der Gesamtstichprobe 18.9.7 Kann der Östrogeneffekt
auf 1,6 Jahre und somit ebenfalls unter die Si- den günstigeren sozialen
gnifikanzgrenze. Das Erkrankungsalter in dieser Verlauf der Schizophrenie
Gruppe war nun bei Frauen geringfügig niedriger bei Frauen erklären?
als bei Männern. In sporadischen Fällen (keine
psychisch erkrankte Verwandten) betrug der Ge- Wie schon erwähnt, zeigt die Mehrzahl einschlä-
schlechtsunterschied dagegen hochsignifikante giger Studien prämenopausal einen sozial güns-
4,9 Jahre. In Übereinstimmung mit der Östrogen- tigeren Verlauf der Schizophrenie bei Frauen im
hypothese ging die Veränderung des Geschlechts- Vergleich zu Männern, während der symptom-
unterschieds im Ersterkrankungsalter zwischen bezogene Verlauf, über den gleichen Altersrange
familiär belasteten und nicht belasteten Fällen zu verglichen, keine signifikanten Unterschiede auf-
Lasten der Frauen, während Männer keine sig- weist. Der Versuch, die Faktoren zu isolieren, die
nifikanten Unterschiede im Ersterkrankungsalter für diesen Geschlechtsunterschied des Krankheits-

Östrogenschutzwirkung
34
**
32 stärkere genetische *
Familiär belastet
Krankheitsdisposition 31,9 N=26 ( 7 Männer ⊡ Abb. 18.4. Die Interaktion (bio-
30
19 Frauen) logische Balance) zwischen Stärke
28 der Krankheitsdisposition (Indika-
28,6 Nicht belastet tor: familiäre Belastung) und an-
26 27 27 N=125 (60 Männer tagonistischer Östrogenwirkung:
65 Frauen)
24 Alter beim ersten psychotischen
* p<0.05 Symptom für Männer und Frauen
22 ** p<0.01 mit/ohne familiäre Belastung
mit Schizophrenie – ABC-Erste-
20
pisodenstichprobe (N=232). (Aus
Männer Frauen
Könnecke et al. 2000)
316 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

verlaufs von Bedeutung sind, führt zur Feststel- Wir analysierten die Vorhersagekraft der beiden
lung, dass der mehrjährige Altersunterschied bei genannten, zwischen den Geschlechtern unter-
Krankheitsausbruch vor allem im Hauptrisikoalter schiedlichen sozialen Prädiktoren, nämlich die
zwischen Adoleszenz und jungem Erwachsenen- Nichterfüllung von einer oder mehrerer der sechs
alter mit einem deutlichen Unterschied des sozi- sozialen Rollen zum Zeitpunkt des Ausbruchs der
alen Entwicklungsstands zwischen Männern und Psychose und das Krankheitsverhalten, operatio-
Frauen assoziiert ist. Vergleicht man zum Zeit- nalisiert mit der Anzahl der sozial adversen Items
punkt des Krankheitsausbruchs schizophren er- bei Erstaufnahme. Außerdem haben wir die be-
krankende Männer und Frauen hinsichtlich sechs kannten Prognosefaktoren des sozialen Verlaufs,
wesentlicher sozialer Rollen, die zum Erreichen nämlich das Ausmaß der Symptomatik, gemessen
des grundlegenden sozialen Status des Erwach- mit PSE bei Erstaufnahme, die Art des Krankheits-
senenalters in unserer Kultur erfüllt sein müs- beginns (akut, subakut, chronisch), das Alter beim
sen, dann stehen die Männer (⊡ Tab. 18.5 zeigt) Ausbruch des ersten psychotischen Symptoms und
in wichtigen sozialen Rollen, maximal bei Ehe das Geschlecht als Prädiktoren berücksichtigt. Mit
und stabiler Partnerschaft, gegenüber den Frauen schrittweiser logistischer Regression testeten wir
deutlich zurück (Häfner et al. 1998c). Die signifi- die Vorhersage von finanzieller Unabhängigkeit
kante Wirkung des sozial negativen Krankheits- fünf Jahre nach Erstaufnahme durch die genannten
verhaltens der Männer auf den 5-Jahres-Verlauf Prädiktoren (Häfner 2000b, 2003). Wie ⊡ Abb. 18.5
war in Abb. 18.3a dargestellt. Es gilt deshalb, bei auf der rechten Seite zeigt, erreichten die traditi-
der Prüfung der Prädiktoren des sozialen Verlaufs onellen Krankheitsvariablen, Symptomatik, Alter
zu berücksichtigen, dass sich der unterschiedliche bei und Art des Krankheitsausbruchs und das Ge-
soziale Entwicklungsstand der Geschlechter bei schlecht, in diesem Modell keine signifikante prä-
Krankheitsausbruch wegen einer möglichen Be- diktive Bedeutung. Die einzigen Prädiktoren, die
einträchtigung des Aufstiegs durch die Krankheit finanzielle Unabhängigkeit nach fünf Jahren signi-
und der soziale Nachteil der Männer wegen des fikant vorhersagten, waren die Anzahl nicht erfüll-
sozial adversen Krankheitsverhaltens im weiteren ter sozialer Rollen bei Krankheitsausbruch und mit
sozialen Verlauf stabilisieren könnte. einem leicht niedrigerem relativem Risiko (odds
Um diese Fragen beantworten zu können, er- ratio) das sozial adverse Krankheitsverhalten.
fassten wir den sozialen Ausgang nach fünf Jah- Diese beiden sozialen Prädiktoren werden je-
ren, operationalisiert mit dem Anteil der Patien- doch von Alter und Geschlecht mit determiniert.
ten, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Sie sind wahrscheinlich Mediatorvariablen, die den

⊡ Tab. 18.5. Die Erfüllung sozialer Rollen bei Männern und Frauen beim Auftreten des ersten Zeichens der Krankheit
– ABC-Erstepisodenstichprobe (nach Häfner 1996).

Soziale Rolle Männer (N=108, p Frauen (N=108, Gesamt (N=232,


ME1=22,5) ME=25,4) ME=24,0)

Schulbildung 70% n.s 69% 70%


18 Berufsausbildung 41% n.s. 38% 39%

Berufstätigkeit 37% 2 52% 45%

Eigenes Einkommen 44% n.s. 55% 50%

Eigene Wohnung 39% 2 54% 47%

Ehe, stabile Partnerschaft 28% 3 52% 41%

1
ME: mittleres Ersterrankungsalter in Jahren; 2p≤0,05; 3≤0,01; n.s.= nicht signiifkant
18.9 · Erklärung von Geschlechtsunterschieden durch die Östrogenwirkung
317 18

Einfluss der Primärvariablen, Geschlecht und Al- höheren Ersterkrankungsalter der Frauen ein pro-
ter, auf den sozialen Ausgang vermitteln. Deshalb tektiver Effekt von Östrogen zu vermuten ist, kann
prüften wir mit einem pfadanalytischen Modell davon ausgegangen werden, dass sich die protek-
den Einfluss von Geschlecht und Alter beim ersten tive Wirkung des Östrogens, und zwar zusammen
psychotischen Symptom auf die beiden genannten mit dem sozial positiveren Krankheitsverhalten,
Mediatorvariablen. Die Ergebnisse sind eindeutig indirekt auch auf den günstigeren sozialen Ver-
(⊡ Abb. 18.5). Männliches Geschlecht zeigt signi- lauf der Schizophrenie bei Frauen auswirkt. Dies
fikante mittlere bis hohe Partialkorrelationskoef- bedeutet, dass der Geschlechtsunterschied im so-
fizienten direkt mit der Mediatorvariablen »sozial zialen Verlauf der Schizophrenie nicht aus der
adverses Krankheitsverhalten« und, indirekt durch Krankheit selbst resultiert, sondern das Ergebnis
das Ersterkrankungsalter vermittelt, mit der An- der protektiven Wirkung des Östrogens bei Frauen
zahl nicht erfüllter sozialer Rollen beim Ausbruch und einer geschlechtsspezifischen, altersgebunde-
der Psychose. Analoge, der Erwartung entspre- nen Verhaltensdisposition bei Männern ist.
chende Effekte zeigt das weibliche Geschlecht. Diese Aussage hat aber nur für den präme-
Dieses Ergebnis spiegelt eindeutig einen in- nopausalen Verlauf der Krankheit Gültigkeit. Im
direkten Effekt von Geschlecht und Ersterkran- postmenopausalen Alter sind, wie schon angespro-
kungsalter auf den unterschiedlichen sozialen chen, Symptomatik und Verlauf der Schizophrenie
Verlauf der Schizophrenie bei Männern und bei Frauen wegen des Fortfalls der Schutzwirkung
Frauen, vermittelt durch die sozialen Folgen des von Östrogen und der Minderung des sozial ne-
Geschlechtsunterschieds im Ersterkrankungsalter gativen Krankheitsverhaltens der Männer deutlich
und das Krankheitsverhalten, wider. Da hinter dem ungünstiger als jene bei Männern.

Prodromal- 1. Psychot.
1. Zeichen Erstaufnahme 5 Jahre nach Erstaufnahme
phase Symptom

Anzahl nicht erfüllter Anzahl nicht erfüllter


Finanzielle
sozialer Rollen sozialer Rollen
Unabhängigkeit
beim 1. Zeichen bei Krankheitsbeginn 0.76 *
.682 ***

-.642 **

Alter beim
1. Zeichen 0.40 *

Sozial adverses Logistische Regression


Krankheits- - Relatives Risiko -
.224 **
-.321 ** verhalten

Geschlecht Pfadanalyse
- standardisierte Beta-Koeffizienten -

⊡ Abb. 18.5. Modell zur Vorhersage des sozialen Verlaufs der Verlaufsstichprobe (N=115) erster Krankheitsepisoden (aus
Schizophrenie fünf Jahre nach Erstaufnahme: Analyse der Häfner 2000b)
direkten und der vermittelnden kausalen Faktoren – ABC-
318 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

18.10 Geschlechtsunterschiede den zeigte bei der Symptomatik mit PSE-CA-


im Langzeitverlauf TEGO-Gesamtscores und -Teilscores ein ähnlich
hohes Maß an Stabilität (an der Heiden et al. 1995)
Es gibt nur wenige methodisch zuverlässige Lang- wie die Studie von Harrison et al. (1996). Frauen
zeitverlaufsstsudien zur Schizophrenie, die mit zeigten signifikant niedrigere Symptommaße nur
repräsentativen Erstepisodensamples über eine in den ersten zwei Jahren nach der Erstaufnahme.
Periode von 10 Jahren oder länger durchgeführt 2–15,5 Jahre nach Erstaufnahme wiesen Män-
wurden. Drei dieser Studien (an der Heiden et al. ner und Frauen fast gleiche Symptommaße auf
1995, 1996; Opjordsmoen 1991; Goldstein 1988) (⊡ Abb. 18.6).
zeigten – allerdings ohne Berücksichtigung des Al- In den letzten neun Monaten vor dem 15,5-
ters der Kranken -, dass im Frühverlauf der Schi- Jahres-Follow-up ließen die Anteile günstiger
zophrenie beobachtete Geschlechtsunterschiede (keine Symptome oder Behinderung vorhanden)
über lange Follow-up-Perioden schwächer werden mit 60% und ungünstiger (mindestens ein posi-
oder verschwinden. Harrison et al. (1996) berich- tives oder negatives Kernsymptom oder Behinde-
teten an einem kleinen Erstaufnahmesample, dass rung) Verläufe mit 40% keinen Geschlechtsunter-
der Gechlechtseffekt über 13 Jahre bestehen blieb, schied mehr erkennen. Zwei Drittel der symptom-
wenn soziodemographische Variablen bei Erst- freien Frauen und ein Zehntel der symptomfreien
aufnahme und Art des Frühverlaufs kontrolliert Männer nahmen jedoch weiterhin Neuroleptika
wurden. ein. Man kann davon ausgehen, dass auch dieser
Die Mannheimer Erstaufnahmestudie an 70 Geschlechtsunterschied auf das geschlechtsspe-
an Schizophrenie erkrankten Patienten, die an zifische Krankheitsverhalten zurückzuführen ist,
10 Querschnitten über 15,5 Jahre untersucht wur- d. h. auf das generell kooperativere Verhalten und

PSE-Gesamtscore
35

Männer
30
Frauen
25

20
***
15 * *

10

5
18
0
Erst- 0;6 1 1;6 2 3 5 14 14;9 15;6
aufnahme Jahre

⊡ Abb. 18.6. Verlauf der Symptomatik (PSE-Gesamtscore) Verlauf bei Frauen gleicht sich nach zwei Jahren jenem der
über 15,5 Jahre nach Erstaufnahme (10 Querschnitte) für Männer an (aus Häfner 2000a, auf der Grundlage von Daten
Männer und Frauen (Mannheimer Erstaufnahmekohorte der aus an der Heiden et al. 1996)
WHO-Disability-Studie; N=70); der signifikant günstigere
18.11 · Neuroleptikabehandlung
319 18

die bessere Compliance von Frauen im Vergleich weiblichen in ehelicher Gemeinschaft und 28%
zu Männern. Eine alternative Erklärung, die wir der Männer, aber nur 5% der Frauen in einem be-
nicht falsifizieren können, lautet, dass schizo- treuten Apartment oder Heim. Naturgemäß hatten
phren erkrankte Männer, denen es vergleichs- auch mehr als zweimal so viele Frauen wie Männer
weise gut geht, zur Erhaltung ihres Zustands we- Kinder. Ein interessantes Ergebnis war, dass kein
niger auf neuroleptische Medikation angewiesen Geschlechtsunterschied im Beschäftigungsstatus
sind als Frauen. Da die Gruppe mit vorhandenen zu beobachten war, was mit den wenig unter-
Symptomen keine signifikanten Geschlechtsun- schiedlichen Behinderungsmaßen von Männern
terschiede in der Einnahme von Neuroleptika und Frauen im Langzeitverlauf gut übereinstimmt
aufwies, ist diese alternative Erklärung nicht sehr (⊡ Tab. 18.6).
wahrscheinlich. Die Tatsache, dass Frauen nach Ausbruch der
Der Geschlechtsunterschied in sozialer Behin- Krankheit mit ihrem Leben besser zurecht kom-
derung, der beim 5-Jahres-Follow-up noch zu beo- men als Männer, hat wahrscheinlich mit dem hö-
bachten war, verschwand bei späteren Querschnit- heren sozialen Entwicklungsstand der Frauen bei
ten, wahrscheinlich aufgrund des altersabhängigen Krankheitsausbruch und mit ihrem weniger sozial
Rückgangs des sozial negativen Verhaltens der adversen Verhalten im Verlauf der Krankheit zu
Männer. tun. Ein großer Anteil der schizophren erkrankten
Trotz des ähnlichen Ausgangs in Hinblick auf Frauen, die vor dem Krankheitsausbruch oder
die Maße von Symptomatik (PSE-CATEGO) und im Laufe der 15-jährigen Beobachtungsperiode
sozialer Beeinträchtigung (WHO-DAS, Psychia- geheiratet hatten, war jedoch – meist krankheits-
tric Disability Assessment Schedule; WHO 1988; bedingt – wieder geschieden worden. Einige von
Jung et al. 1989) nach 15,5 Jahren in der Studie ihnen hatten erneut geheiratet. Wahrscheinlich
von an der Heiden et al. (1996; Häfner 2003) haben auch die traditionellen Rollen und Erwar-
waren zwischen Männern und Frauen erhebli- tungen der Geschlechter beim Partnersuchverhal-
che Unterschiede im objektiven sozialen Status zu ten schizophren erkrankter Frauen das Finden
registrieren. 71% der Männer und lediglich 23% eines neuen Partners und die Gründung einer
der Frauen hatten nie geheiratet. Folglich lebten Partnerschaft nach einer gescheiterten Partner-
nur 28% der männlichen Patienten, aber 53% der schaft zusätzlich erleichtert.

⊡ Tab. 18.6. Vergleich der Lebenssituation schizophren erkrankter Männer und Frauen 15,5 Jahre nach Erstaufnahme
(Mannheimer Kohorte der WHO-Disability-Studie, N=70 bei Einschluss in die Studie). (Aus Häfner 2003, auf der Grund-
lage von Daten aus an der Heiden et al. 1996)

Frauen (N=22) Männer (N=34) p

Altersmittelwert1 44 Jahre 41Jahre n.s.

Symptome oder Behinderung vorhanden 59% 62% n.s.

Nie verheiratet 23% 71% 2

Verheiratet 42% 19% t

Lebt mit (Ehe-)partner/in1 53% 28% 3

Lebt im Heim 5% 28% t

Hat eigene Kinder 45% 26% 3

Reguläres Beschäftigungsverhältnis 26% 31% n.s.

1
n=51 wegen fehlender Daten; p≤0,1; 2p≤0,01; 3p≤0,05; n.s.= nicht signifikant
320 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

18.11 Neuroleptikabehandlung mehr oder weniger stabil über Zeit blieben. Wäh-
rend und nach der Menopause nahmen die erfor-
18.11.1 Geschlechtsunterschiede derlichen Dosen jedoch, anders als aufgrund der
Östrogenhypothese und der epidemiologischen
Eine ganze Reihe von Studien hat Geschlechts- Daten (schwerere Erkrankungen als bei jungen
unterschiede in der Wirkung von Neuroleptika Frauen) zu erwarten war, leicht ab. Dasselbe traf
bei Männern und Frauen untersucht (Übersicht auch auf die Männer derselben Altersgruppen
bei Seeman 2004). Methodologisch zuverlässige, zu. Salokangas konnte die postmenopausale Zu-
geblindete Studien mit Zufallszuweisung von hin- nahme der erforderlichen Neuroleptikadosis, die
reichend großen Stichproben fehlen jedoch. Die von Seeman berichtet worden war, nicht bestä-
häufig vertretene Annahme lautet, dass aufgrund tigen.
der neuroleptikaähnlichen Wirkung von Östro- Wahrscheinlich liegt der Grund dieser kontro-
gen schizophren erkrankte Frauen günstiger auf versen Ergebnisse in den großen Schwierigkeiten,
eine Neuroleptikabehandlung reagieren als Män- die agonistischen Effekte einer leicht unterschied-
ner oder dass sie kleinerer Dosen bedürfen. Die lichen antipsychotischen Medikation und einer
frühe Studie von Seeman (1983), in der die Dosis leicht milderen Symptomatik durch natürliche
pro Kilogramm Körpergewicht kontrolliert wurde, Östrogensekretion bei schizophren Erkrankten
zeigte, dass bei prämenopausalen Frauen eine Be- Frauen zuverlässig zu erfassen. Einmal schafft
handlung mit Neuroleptika der ersten Generation der exakte Vergleich der Symptommaße zwischen
schneller und besser zur Remission führte als bei Frauen und Männern in klinischen Studien erheb-
Männern. Seitdem hat die Autorin mehrere Beo- liche Probleme. Eine der Voraussetzungen sind
bachtungen publiziert, die das ursprüngliche Er- präzise Vergleiche in denselben Altersgruppen.
gebnis bestätigen und erweitern (Seeman 1989; Ein weiterer Faktor, der den Vergleich erschwert,
Dickson 2000). Aber nicht alle Befunde konnten besteht in den Unterschieden von Selbstbeur-
repliziert werden. teilung und der klinischen Beurteilung der not-
Auf der einen Seite zeigten Gattaz et al. (1994), wendigen Dosis einer Neuroleptikabehandlung.
dass perimenstruelle Frauen in der Niedrigöst- Die dahinter stehenden subjektiven Therapiebe-
rogenphase des menstruellen Zyklus niedrigerer dürfnisse sind vermutlich zwischen Frauen und
Dosen und kürzerer Behandlungsperioden bis Männern nicht identisch und kleine Unterschiede
zur Remission bedürfen als Patientinnen in einer objektiver Wirksamkeit sind schwer, präzise zu
Hochöstrogenphase des Zyklus. In einer offenen erfassen. Geschlechtsunterschiede in der Phar-
Studie konnten Lindamer et al. (2001) demonst- makodynamik und die Notwendigkeit, Körperge-
rieren, dass bei Frauen, die mit einer adjuvanten wicht und Hormonstatus in hinreichend kurzen
Hormonersatztherapie behandelt wurden, niedri- Abständen präzise zu erfassen, machen die Unter-
gere Neuroleptikadosen notwendig waren. Auch in suchung auch nicht einfacher. Diese Komplexität
dieser Studie wurden Unterschiede im Körperge- des erforderlichen Designs ist wahrscheinlich der
wicht berücksichtigt. Grund, weshalb es bisher keine Studien gibt, die
Mehrere Autoren haben jedoch berichtet, dass alle methodischen Voraussetzungen hinreichend
unter natürlichen Bedingungen schizophren er- berücksichtigen. Was die atypischen Neuroleptika
krankte Frauen häufig mit höheren Neuroleptika- angeht, die durch eine größere Zahl von Rezepto-
18 dosen als Männer behandelt wurden, vermutlich raffinitäten und eine schwächere Herunterregulie-
weil bei Frauen positive Symptome häufiger re- rung der D2-Rezeptoren charakterisiert sind, so
gistriert werden als bei jungen Männern. Im Ge- ist das gegenwärtige Wissen über mögliche ago-
gensatz zu all diesen Befunden fanden Salokan- nistische Östrogeneffekte noch gering. Aufgrund
gas (1995) in einer Beobachtungsstudie über drei der Trends, die einige Ergebnisse andeuten, sollte
Jahre an 1097 ambulant behandelten Patienten bei der Therapieplanung das Geschlecht und das
mit Schizophrenie, dass die täglichen Neurolep- Alter der Patienten sorgfältig in Betracht gezogen
tikadosen bei Frauen im Alter von 20–59 Jahren werden (Seeman 2004).
18.12 · Geschlechtsunterschiede in der Hirnentwicklung
321 18
18.11.2 Östrogen und extrapyramidale Transmission und führt zu einer kompensato-
Nebenwirkungen in der Neuro- rischen Zunahme der Dichte von Dopaminbin-
leptikabehandlung dungsstellen. Insbesondere die Bindungsstellen im
Striatum nehmen mit steigendem Östrogenspiegel
Studien über Geschlechtsunterschiede im Auftre- zu.
ten von extrapyramidalen Nebenwirkungen (ex- Der noch unbewiesene günstige Effekt von
trapyramidal side-effects, EPS) im Zusammenhang Östrogen auf das EPS- und TD-Risiko neurolep-
mit der Behandlung durch Neuroleptika der ersten tischer Therapie verliert an Bedeutung, wenn die
Generation lieferten ebenfalls inkonsistente Er- typischen Neuroleptika mit ihrem erhöhten Risiko
gebnisse. Labelle et al. (2001) untersuchten 292 für EPS und TD mehr und mehr durch atypische
erwachsene Patienten, die eine Schizophreniedia- Neuroleptika ersetzt werden. Diese Substanzen,
gnose nach DSM-IIIR erhalten hatten (206 Män- z. B. Clozapin, besitzen eine niedrigere Affinität zu
ner, 98 Frauen). Die Patienten wurden täglich über D2-Rezeptoren und sind mit geringeren EPS und
acht Wochen mit 1–6 mg Risperidon behandelt. hormonellen Nebenwirkungen, z. B. Prolaktinzu-
Hinsichtlich EPS (Parkinsonismus, Dystonie und nahme, die zur unerwünschten Milchsekretion
Dyskinesie) wurde zwischen den Geschlechtern führt, verbunden (Rosenheck et al. 1997).
kein Unterschied gefunden.
Dagegen berichteten Leung u. Chue (2000) in
einem Review über klinische Studien, die bei schi- 18.12 Geschlechtsunterschiede in
zophren erkrankten Frauen trotz einer leicht hö- der Hirnentwicklung und in
heren Neuroleptikadosis (mg/kg Körpergewicht) strukturellen Hirnabnormitäten
weniger EPS und tardive Dyskinesien (TD) fanden.
Andere Autoren (z. B. Halliday et al. 2002) berich- Die Hirnentwicklung läuft bei männlichem und
teten über vermehrte Akathisie bei Frauen bei Be- weiblichem Geschlecht unterschiedlich ab und
handlung mit Neuroleptika der ersten Generation führt zum strukturellen Dimorphismus. Beim
mit der Vermutung eines additiven Effektes von weiblichen Geschlecht reift das Gehirn schnel-
Östrogen. Thompson et al. (2000) berichteten, dass ler als beim männlichen. Das weibliche Gehirn
EPS bei neuroleptikabehandelten Patienten, die scheint dadurch in der Entwicklungszeit weni-
höhere Östrogenplasmaspiegel aufwiesen, geringer ger vulnerabel für Schädigungen zu sein als das
waren. Gegenwärtig kann nur festgestellt werden, männliche. Östrogen (Seeman u. Lang 1990; Häf-
dass Östrogen möglicherweise einen gewissen pro- ner et al. 1991) könnte durch seine neurotrophe
tektiven Effekt gegen EPS und TD besitzt, doch Wirkung auf Genexpression, Neuronenwachstum
die nur begrenzt konsistenten Ergebnisse und der und -differenzierung zum Schutz gegen Schädi-
Mangel an exakter Prüfung bei Berücksichtigung gung beitragen. Dadurch könnte es für den Un-
aller relevanten Faktoren erlauben es noch nicht, terschied zwischen Männern und Frauen im Mor-
diesen Effekt als gesichert anzusehen (Ellingrod et biditätsrisiko für Erkrankungen, die auf Hirnent-
al. 2000; Liao et al. 2001). wicklungsstörungen zurückgehen, verantwortlich
Der funktionelle Widerspruch zwischen einer sein (Crick u. Zahn-Waxler 2003; De Bellis et al.
vermuteten Abnahme der von antidopaminergen 2001). Das könnte beispielsweise für das Gilles-
Effekten der Neuroleptika erzeugten EPS und TD de-la-Tourette-Syndrom, für Hyperaktivität-Auf-
mittels der neuroleptikaähnlichen dopaminanta- merksamkeitsstörungen und für schwere Grade
gonistischen Wirkung von Östrogen wird von Van von Schreib- und Leseschwäche zutreffen. Bei
Hartesveld u. Joyce (1986) durch differentielle Ös- Schizophrenie beschränkt sich jedoch der krank-
trogeneffekte in den mesolimbischen und den me- heitsassoziierte Geschlechtsunterschied auf das
sostriatalen Leitungsbahnen erklärt. Morissette u. Ersterkrankungsalter und so auf eine Verzögerung
DiPaolo (1993) vermuten, dass Östrogen eine zu des Krankheitsausbruchs
Dopamin gegensätzliche Wirkung hat. Nach ihren Castle u. Murray (1991) nahmen an, dass Ge-
Ergebnissen reduziert Östrogen die dopaminerge schlechtsunterschiede im Ersterkrankungsalter auf
322 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

das häufigere Vorkommen von prä- und perina- der Schizophrenie eine geringere Rolle zu spielen
talen Komplikationen und damit auf häufigere (Goldberg et al. 1995).
Hirnentwicklungsstörungen beim männlichen Der Geschlechtsunterschied in der norma-
Geschlecht zurückgehen könnten. Castle (2000) len Hirnmorphologie zeigt bei Frauen ein größe-
erklärt außerdem das Überwiegen von Frauen res Ausmaß bihemisphärischer Lokalisation von
bei Schizophrenien und Wahnerkrankungen des Funktionen und eine stärker ausgeprägte Late-
höheren Lebensalters mit unterschiedlichen Alte- ralisation bei Männern. Crow (1997) hat auf der
rungsprozessen des weiblichen und des männli- Grundlage dieser Geschlechtsunterschiede in der
chen Gehirns. Seiner Ansicht nach setzt der Verlust Lateralisation eine spekulative Theorie formuliert:
an Dopaminrezeptoren bei Frauen zwar früher ein, Mit der verzögerten Hirnreifung und der Zunahme
führt aber im späten Alter zu einem Überschuss im der Hirngröße entwickelte sich beim Homo sapi-
Vergleich mit Männern. Dieser differentielle Pro- ens die Fähigkeit für intensive Kommunikation
zess des Verlusts an Dopaminrezeptoren könnte und sprachliche Interaktion. Crow (1997) versteht
nach Meinung von Castle auch für eine bisher Schizophrenie als das Resultat eines Mangels an
nicht gesicherte größere Häufigkeit von TD bei zerebraler Lateralisation und der mit Lateralisation
älteren Frauen nach einer längerfristigen Neuro- verbundenen Entwicklung der Sprachfähigkeit in
leptikabehandlung verantwortlich sein. diesem Stadium der Evolution. »Schizophrenie ist
Auch die Unterscheidung von zwei Typen der der Preis, den der Mensch für die Sprachfähig-
Schizophrenie mit unterschiedlichem Ersterkran- keit zahlt. Geschlechtsunterschiede im Grad der
kungsalter wird mit alternativen Ursachen erklärt: Hemisphärendifferenzierung könnten für den Ge-
▬ Typ 1 – vorwiegend genetisch übertragen – soll schlechtsunterschied im Ersterkrankungsalter ver-
hauptsächlich bei Frauen vorkommen und antwortlich sein.« Aber diese in die Evolution des
mehr psychotische Symptome und günstige Homo sapiens projizierte Hypothese ist schwer zu
Verläufe zeigen. validieren.
▬ Typ 2 – das Kraepelinsche Defizitsyndrom, Eine Reihe neuroanatomischer und mit bildge-
durch Hirnentwicklungsstörungen charakteri- benden Verfahren, insbesondere mit struktureller
siert – soll mit negativen Symptomen und un- Magnetresonanztomographie, durchgeführter
günstigen Verläufen verbunden sein und haupt- Studien haben gezeigt, dass morphologische Ab-
sächlich bei Männern auftreten (Crow 1980). normitäten in der ersten Krankheitsepisode häu-
figer bei schizophren erkrankten Männern sind
Aber diese Hypothese, die als Erklärungshypothese als bei Frauen (Andreasen et al. 1990; Bogerts et
eine Zeit lang favorisiert wurde, konnte in an- al. 1990; Castle u. Murray 1991; Lewine u. Seeman
spruchsvollen Studien nicht gestützt werden (Ge- 1995; Goldstein 1996). Aber es gibt auch mehrere
ddes u. Lawrie 1995; Jones et al. 1998; Könnecke Studien, die keine über den normalen Geschlech-
et al. 2000). Insoweit liegen auf der Ebene der terdimorphismus hinausgehenden strukturellen
Hirnentwicklung nur interessante, aber unbestä- Unterschiede im Gehirn schizophren Erkrankter
tigte Theorien zur Erklärung der Geschlechtsun- gefunden haben (Flaum et al. 1995). Mehrere struk-
terschiede bei Schizophrenie vor. turelle MRT-Studien fanden, dass vergrößerte Sei-
Castle (2000) betonte in Übereinstimmung mit tenventrikel (Andreasen et al. 1990) und kleinere
unseren Ausführungen ( Kap. 18.5), dass das Ver- Hippokampusformationen (Bogerts et al. 1990) bei
18 ständnis der Geschlechtsunterschiede bei der Schi- schizophren erkrankten Männern häufiger als bei
zophrenie die Berücksichtigung biologischer, psy- Frauen sind. Crow et al. (1989) fanden in einer
chologischer und sozialer Geschlechtsunterschiede Post-morten-Studie ein vergrößertes Planum tem-
in der normalen Entwicklung voraussetzt. Die glo- porale bei männlichen, aber nicht bei weiblichen
balen Unterschiede in der kognitiven Leistung ei- Patienten mit Schizophrenie. Andererseits haben
nes reifen männlichen und eines reifen weiblichen einige Studien Ventrikelerweiterung bei Frauen,
Gehirns, die von mehreren Autoren angesprochen aber nicht bei Männern gefunden (Nasrallah et al.
werden, sind bescheiden und scheinen auch in 1990; Gur et al. 1991).
18.14 · Geschlechtsunterschiede der Symptomatik über das gesamte Altersspektrum
323 18

Obwohl in jüngster Zeit Erstepisodenstudien Beeinträchtigung, Sinnesdefekte, in erster Linie


mit Kontrolle konfundierender Faktoren wie IQ, Hörverlust, erlebte Einsamkeit und paranoide Per-
Ethnizität und soziale Klasse durchgeführt worden sönlichkeit (Jablensky 2003). Das bedeutet, dass
sind, ist es noch zu früh für eine definitive Beurtei- das schizophrene Syndrom im Alter durch andere
lung von Geschlechtsunterschieden in den struk- neurobiologische Dysfunktionen als in der Jugend
turellen Hirnanomalien bei der Schizophrenie. ausgelöst wird.
Die Gründe für diese Inkonsistenz sind vielfach Bisher sind die Zusammenhänge zwischen
diskutiert worden. Sie haben wahrscheinlich vor- diesen Faktoren und dem Erkrankungsrisiko an
wiegend mit den methodischen Schwierigkeiten schizophrenen Syndromen im höheren und hohen
dieser Studien (Goldstein 1993, 1995a, b; Lauriello Lebensalter noch unzureichend aufgeklärt wor-
et al. 1997; Goldstein u. Lewine 2000) und mit den den. Es liegt nahe, eine unterschiedliche Verteilung
kleinen, meist nichtrepräsentativen Stichproben dieser Risikofaktoren und eine durch normale Ge-
(Moldin 2000) zu tun. Vergleichende Analysen auf schlechtsunterschiede im Alter verursachte unter-
der Grundlage funktionell bildgebender Verfah- schiedliche Vulnerabilität oder Resilienz gegenüber
ren und neurophysiologischer Parameter haben diesen Faktoren als Beitrag zu den signifikant hö-
ebenfalls noch keine endgültigen Antworten auf heren Morbiditätsraten der Frauen im Vergleich zu
die Frage der Geschlechtsunterschiede bei Schizo- den Männern zu vermuten. Mehr aber lässt sich
phrenie erbracht. darüber noch nicht aussagen.

18.13 Geschlechtsunterschiede bei 18.14 Geschlechtsunterschiede der


schizophrenen Erkrankungen des Symptomatik über das gesamte
höheren und hohen Lebensalters Altersspektrum erster Episoden

Die erheblich höheren Inzidenzraten für Schizo- Das Lebensalter hat jedoch auch einen von Ge-
phreniespektrumstörungen bei Frauen im Ver- schlecht relativ unabhängigen selektiven Einfluss
gleich zu Männern nach dem Menopausenalter, auf Kernsymptome der Schizophrenie, dessen Aus-
insbesondere im hohen Lebensalter (>60 Jahre) maß lange Zeit den Glauben nährte, es handle sich
und ihre schwerere Symptomatik sind wahrschein- nicht um dieselbe Krankheit. Ein Vergleich der
lich nicht allein durch Östrogendefizite zu erklä- Symptomatik in 5-Jahres-Altersgruppen über den
ren. Die Suche nach möglichen Erklärungsbeiträ- gesamten Altersrange von 15 bis über 75 Jahre in ei-
gen hat zu berücksichtigen, dass die Risikofaktoren nem Sample von 1109 konsekutiven Erstaufnahmen
von Früh- und Spätschizophrenien unterschied- mit Schizophreniespektrumsstörungen (Häfner et
lich sind. Risikofaktoren für früh ausbrechende al. 1998b) zeigte eine signifikant lineare Zunahme
Schizophrenien sind in erster Linie die familiäre der Häufigkeit von paranoidem und systematisier-
Belastung mit Schizophrenie durch Angehörige tem Wahn von Werten um 30% in der Jugend und
ersten Grades und die Beeinträchtigung der Hirn- Adoleszenz auf Werte um 60% bei Schizophrenen
entwicklung in Schwangerschaft, unter der Geburt im hohen Lebenshalter und eine gegengerichtete
oder in der frühen Kindheit, hauptsächlich durch Abnahme von Symptomen mentaler Desorganisa-
Ereignisse, die das in Entwicklung begriffene Ge- tion mit hohen Werten bei Früherkrankungen zu
hirn schädigen (Cannon et al. 2002) und durch Werten nahe Null bei Spätschizophrenien. Dieser
Virusenzephalitiden und bakterielle Meningoen- signifikant lineare Alterstrend findet sich mit ge-
zephalitiden in den ersten Lebensjahren (Gattaz ringen Unterschieden bei beiden Geschlechtern.
et al. 2002; Rantakallio et al. 1997). Bei Spätschi- Die Autoren führen ihn auf Entwicklungsprozesse
zophrenien spielt die genetische Belastung und von Gehirn und Persönlichkeit zurück, die mit
spielen Schwangerschafts- und Geburtskomplika- Abnahme der psychischen Vulnerabilität im frühen
tionen keine wesentliche Rolle mehr (Könnecke Alter und Zunahme von Resilienz und rational-
et al. 2000). An ihre Stelle treten leichte kognitive protektiver Abwehr im höheren Alter einhergehen.
324 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

Fazit
Frauen erkranken im Vergleich zu Männern im Ersterkrankungsalter deutlich an. Dies geht auf
Mittel einige Jahre später an Schizophrenie. Von eine biologische Balance zwischen der Stärke der
der Menopause an tritt bei Frauen ein zweiter Krankheitsdisposition und der Schutzwirkung
Erkrankungsgipfel auf. Danach bleibt ihre Er- von Östrogen zurück. Die neurobiologischen
krankungshäufigkeit bis ins hohe Lebensalter Grundlagen sind in einer biochemischen (u. a.
signifikant höher als bei Männern. Abgesehen Sensitivitätsminderung der D2-Rezeptoren) und
vom Einfluss des Lebensalters zeigt das Kern- genomischen Wirkung, vielleicht auch in neuro-
syndrom der Schizophrenie keine wesentlichen protektiven Effekten von Östrogen zu suchen.
Geschlechtsunterschiede in der Prodromalphase, Eine adjuvante Östrogentherapie psychotischer
der ersten Episode und im Langzeitverlauf. Die Episoden scheint bei gleichzeitiger neurolepti-
erheblichen Geschlechtsunterschiede im sozia- scher Basisbehandlung dosisabhängig zu einer
len Verlauf gehen auf die günstigeren sozialen rascheren Verminderung der Symptomatik zu
Ausgangsbedingungen der Frauen bei späterem führen. Die Primärfaktoren, etwa Ausmaß und
Krankheitsausbruch und auf das sozial negatives Altersveränderung der Östrogensekretion, natür-
Krankheitsverhalten der Männer zurück. Vor dem liche Geschlechtsunterschiede im Verhalten und
Menopausenalter weisen Frauen eine mildere das Ersterkrankungsalter, werden im sozialen Ver-
Symptomatik und einen günstigeren Verlauf, lauf teilweise über vermittelnde Faktoren, etwa
nach dem Menopausenalter eine schwerere Sym- den kognitiven und sozialen Entwicklungsstand
ptomatik und einen ungünstigeren Verlauf als bei Krankheitsausbruch und das soziale Verhal-
Männer auf. Bei Männern treten die schwersten ten, wirksam.
Krankheitsformen im jungen Lebensalter auf. Östrogen ist die einzige bisher bekannte, prä-
Die Verminderung der Sekretion des Schutz- ventiv wirksame Substanz, die einen Aufschub
faktors Östrogen erhöht die Vulnerabilität und des Erkrankungsrisikos und eine Milderung der
führt zu einem Anstieg von Ersterkrankungen Symptomatik der Schizophrenie erhoffen lässt.
und zu etwas schwereren Formen bei jüngeren Die Entwicklung wirksamer Substanzen ohne
Frauen. In familiären Fällen sinkt, in sporadischen ernstere Nebenwirkungen und Folgerisiken steht
Fällen steigt der Geschlechtsunterschied im jedoch hier noch in ihren Anfängen.

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330 Kapitel 18 · Die Rolle von Geschlecht und Gehirn bei Schizophrenie

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19

Warum leiden mehr Frauen


unter Depression?
Christine Kühner

19.1 Evidenz – 332

19.2 Erklärungshypothesen – 335


19.2.1 Artefakte – 335
19.2.2 Genetische Faktoren – 335
19.2.3 Hormonelle Faktoren – 337
19.2.4 Primäre Angststörungen – 341
19.2.5 Persönlichkeitsfaktoren – 341
19.2.6 Psychosoziale Stressoren – 342
19.2.7 Körperliche und sexuelle Gewalt – 344

Literatur – 346
332 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

> Epidemiologische Studien zeigen, dass psychische Störungen bei Männern und
Frauen insgesamt ähnlich häufig anzutreffen sind (Ernst 2001). Dagegen finden
sich deutliche Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit spezieller psychischer
Störungen. Frauen leiden häufiger an affektiven – hier speziell depressiven –
Störungen, Angststörungen, Essstörungen und somatoformen Störungen, wäh-
rend Männer häufiger die Kriterien für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit,
antisoziale Persönlichkeitsstörung und Störungen der Impulskontrolle erfüllen.
Bipolare Störungen und nichtaffektive psychotische Störungen kommen dage-
gen mit insgesamt niedrigerer Prävalenz bei Männern und Frauen etwa gleich
häufig vor (Kessler et al. 2005; Wittchen u. Jacobi 2005).
Mit am besten dokumentiert sind die höheren Erkrankungsraten von Frauen bei
den depressiven Störungen. Das vorliegende Kapitel zeigt Evidenzen aus aktu-
ellen Studien dazu auf und diskutiert die wichtigsten Erklärungshypothesen für
den Geschlechtsunterschied in der Häufigkeit dieser Störungen.

19.1 Evidenz Depressionsrisiko von Frauen über verschiedene


soziokulturelle Settings hinweg identifizierbar ist.
Unter die unipolaren depressiven Störungen, die
durch ausschließlich depressive, nicht aber mani- Altersbezogene Geschlechtsunterschiede. Die
sche oder hypomanische Phasen gekennzeichnet Depressionsraten von Jungen und Mädchen driften
sind, sind nach ICD-10 und DSM-IV singuläre erst in der Pubertät auseinander, in der Vorpubertät
und rezidivierende typische bzw. majore depressive sind Jungen mindestens so häufig wie Mädchen be-
Episoden und die dysthyme Störung subsumiert. troffen (Essau u. Petermann 1995). In der mittleren
Bereits ältere Arbeiten zeigten für diese Störungs- Pubertät steigen die Raten insgesamt an, jedoch mit
bilder einen klaren Trend zu höheren Erkran- einem deutlicheren Anstieg bei den Mädchen, und
kungsraten bei Frauen (Übersicht bei Nolen-Hoek- im Alter von 18 Jahren ist das typische Geschlech-
sema 1990). Während der letzten Jahre lieferte eine terverhältnis von ca. 2:1 bereits erreicht (Lewinsohn
Reihe methodisch anspruchsvoller Studien hierzu et al. 1993; Hankin et al. 1998; Oldehinkel et al.
neue Evidenzen. Eine Übersicht über die wichtigs- 1999; ⊡ Tab. 19.1). Unklar ist, ob sich die Depressi-
ten Arbeiten gibt ⊡ Tab. 19.1 onsraten im höheren Alter wieder annähern, es gibt
Wie daraus hervorgeht, variieren die absoluten sowohl Belege für (z. B. Gutierrez-Lobos et al. 2002;
Prävalenzraten zwischen den Studien beträchtlich. Bebbington et al. 2003) als auch gegen diese An-
Dies ist zum Teil auf unterschiedliche Erhebungs- nahme (Mirowsky 1996; Prince et al. 1999; Angst et
methodik und divergierende Diagnosesysteme al. 2002a, Cairney u. Wade 2002).
zurückführbar, zum Teil spiegeln sich hier auch
tatsächliche Unterschiede zwischen den untersuch- Zunahme von Depressionen in jüngeren Ge-
ten Ländern bzw. Zentren wieder. Im Vergleich zu burtskohorten. Aus früheren Studien kristalli-
19 den Männern weisen Frauen durchgängig höhere sierte sich bereits ein Trend zur Zunahme depressi-
Erkrankungsraten auf (Geschlechterverhältnis ver Störungen in jüngeren Geburtskohorten heraus
1,3:1 bis 4,1:1, ungewichtete mittlere Ratio 2,0, (Fombonne 1998), der durch jüngere Arbeiten Be-
⊡ Tab. 19.1). Insbesondere die beiden weltweiten stätigung findet (z. B. Kessler et al. 1994; 2003; 2005;
Multicenterstudien (Weissman et al. 1996; Maier Sandanger et al. 1999; Murphy et al. 2000). Indirekte
et al. 1999) machen deutlich, dass das erhöhte Evidenz hierfür zeigt sich auch anhand der neueren
19.1 · Evidenz
333 19

⊡ Tab. 19.1. Aktuelle Befunde zur Prävalenz depressiver Störungen bei Frauen und Männern

Studie/Autoren Land Alter n (ca.) Diagnosekriterien Männer Frauen Geschlechts-


(Jahre) (%) (%) verhältnis
Erwachsene
NCS USA 15–54 8000 DSM-III-R
Kessler et al. 19941 MDD 12,7 21,3 1,7
Dysthymie 4,8 8,0 1,7
Weissman et al. 19961 Weltweit 18+ 38.000 DSM-III-R k.A. k.A. 2.12
MDD
NEMESIS Nieder- 18–64 7000 DSM-III-R MDD 10,9 20,1 1,8
Bijl et al. 19981 lande Dysthymie 3,8 8,9 2,3
WHO-PPGHC Weltweit 18–65 25.900 ICD-10
Maier et al. 19991 DE 13,8 26,1 1,9
Murphy et al. 20001 Kanada 18+ 1400 DSM-III-R
MDD 4,4 11,5 2,6
BGS 98/99 Deutsch- 18–65 4200 DSM-IV
Wittchen et al. 20001 land Depressive Störungen3 11,9 24,5 2,1
ODIN Europa 18–64 8700 ICD-10
Ayuso-Mateo et al. DE 5,2 7,9 1,5
20011,4 Dysthymie 0,8 1,0 1,3
Depression 2000 Deutsch- 15+ 20.400 ICD-10
Jacobi et al. 20024,5 land DE 8,7 13,0 1,5
DEPRES Europa 16+ 78.000 DSM-IV
Angst et al. 2002a6 MDD 7,6 14,9 2,0
ESEMeD Europa 18+ 21.400 DSM-IV
Alonso et al. 20041 Affektive Störungen 9,5 18,2 1,9
NCS-R USA 18+ 9100 DSM-IV
Kessler et al. 20031 MDD k.A. k.A. 1,7
ENCP Task Force Europa 18–65 150.000 DSM-IV
Wittchen u. Jacobi 20056 MDD 5,5 11,2 2,0
Jugendliche
OADP USA 15–19 1700 DSM-III-R
Lewinsohn et al. 19931 MDD 15,2 31,6 2,1
Dysthymie 1,7 4,1 2,4
NCS USA 15–24 1700 DSM-III-R
Kessler u. Walters 19981 MDD 10,5 20,6 2,0
DMHDS Australien 18 1000 DSM-III-R
Hankin et al. 19981 MDD 14,1 27,5 2,0
EDSP Deutsch- 14–17 1300 DSM-IV
Oldehinkel et al. 19991 land MDD 5,4 8,0 1,5
Dysthymie 1,1 2,3 2,1
Olsson u. v. Knorring Schweden 16–17 2300 DSM-III-R
19991 MDD 2,8 11,5 4,1

1Lebenszeitprävalenz
Bundesgesundheitssurvey 1998/99; WHO PPGHC World Health
2Ungewichteter Median über 10 Studien Organization Study of Psychological Problems in General Health
3einschl. depressive Episoden, Dysthymie und bipolare Störun-
Care; ODIN Outcomes of Depression International Network;
gen DEPRES Depression Research in European Society; ENCP Euro-
4Punktprävalenz (≤4 Wochen)
pean College of Neuropsychopharmacology; OADP Oregon Ado-
5Fragebogendiagnose (ICD-10-Kriterien)
lescent Depression Project; NCS National Comorbidity Survey;
612-Monats-Prävalenz
DMHDS = Dunedin Multidisciplinary Health and Development
NCS (-R) National Comorbidity Survey (Replication); NEMESIS Study; EDSP Early Developmental Stages of Psychopathology
Netherlands Mental Health Survey and Incidence Study; BGS Study; MDD Major Depression; DE depressive Episode
334 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

Studien an Jugendlichen (⊡ Tab. 19.1), wonach bis Depressionen. Bei den bipolaren Störungen – auch
zum jungen Erwachsenenalter bereits 3–15% der bei breiter Definition – findet er sich nicht, hier
Jungen und 11–32% der Mädchen mindestens eine differieren allerdings Verlauf und symptomatische
depressive Episode durchlaufen hatten. Während Ausgestaltung (Kühner 2003). Bei den unipolaren
es als unwahrscheinlich betrachtet wird, dass diese Depressionen ist der gender gap bei der saiso-
Zunahme auf genetische Ursachen zurückführbar nal abhängigen Depression besonders ausgeprägt
ist, werden als Bedingungsfaktoren mangelnde el- (Winkler et al. 2002), dasselbe gilt für die atypische
terliche Fürsorge und fehlende Bindungen sowie Depression (z. B. Angst et al. 2002b, Matza et al.
Leistungsanforderungen diskutiert (z. B. Fombonne 2003; Marcus et al. 2005).
1998), es fehlen jedoch systematische Untersuchun- Während depressive Kernsymptome wie
gen, die diesen Trend empirisch erklären könnten. Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Anhedonie
Offen ist auch, ob sich parallel zu dieser Zunahme von Frauen und Männern etwa gleich häufig ge-
die Depressionsraten von Männern und Frauen nannt werden, klagen Frauen häufiger als Männer
annähern. Einzelne Studien identifizierten einen über körperliche Depressionssymptome wie En-
Anstieg der Raten bei den Männern und eine Stag- ergieverlust, Müdigkeit, Schlaf- und Appetitstö-
nation bei den Frauen, andere dagegen nicht (z. B. rungen und über Verlangsamung (Kessler et al.
Wauterickx u. Bracke 2005; Übersicht bei Kühner 1994; Maier et al. 1999; Silverstein 2002; Szadoczy
2003). Auch die in ⊡ Tab. 19.1 aufgelisteten aktu- et al. 2002; Marcus et al. 2005).
ellen Studien an Jugendlichen sprechen gegen eine Bei depressiven Frauen sind auch sog. aty-
solche parallele Annäherung in jüngeren Geburts- pische Symptome wie Gewichtszunahme, Appe-
kohorten. Darüber hinaus ermittelten Kessler et al. titsteigerung und vermehrter Schlaf häufiger, und
(1994) anhand des großen NCS-Datensatzes zwar manche Autoren gehen davon aus, dass der Ge-
einen ca. 5-fachen Anstieg der Depressionsraten schlechtsunterschied in der Depressionsprävalenz
in der jüngsten gegenüber der ältesten Geburtsko- weitgehend auf die höhere Prävalenz atypischer
horte, jedoch keine Abnahme des prävalenzbezoge- Depressionen bei Frauen zurückführbar ist (Angst
nen Geschlechterungleichgewichts in aufeinander et al. 2002b). Darüber hinaus nennen depressive
folgenden Geburtsjahrgängen. Frauen häufiger als depressive Männer auch eine
ängstliche Symptomatik mit Nervosität, Panik und
Inzidenzraten und Krankheitsverlauf. Longitu- Herzklopfen (Angst et al. 2002a; Szadoczy et al.
dinalstudien, die eine prospektive Abschätzung 2002) sowie körperliche Beschwerden und Schmer-
von Inzidenzraten depressiver Störungen in einem zen (Silverstein 2002; Lewinsohn et al. 2003).
bestimmten Zeitfenster erlauben, finden durch-
gängig höhere Neuerkrankungsraten bei Mädchen Symptomschwere. Verschiedene Arbeiten zeigen,
und Frauen. Die entsprechenden Inzidenzratenver- dass der gender gap in den Prävalenzraten mit
hältnisse liegen bei der 12–20-Monats-Inzidenz für einer Zunahme der Zahl an Symptomen größer
Major Depression zwischen 1,6 und 3,4 (Lewinsohn wird und Frauen insgesamt mehr Symptome be-
et al. 1993; Eaton et al. 1997; Oldehinkel et al. 1999; richten als Männer (z. B. Maier et al. 1999; Angst
Bijl et al. 2002). Weniger konsistente Belege finden et al. 2002a). Dagegen war in einer europaweiten
sich für einen ungünstigeren Krankheitsverlauf Bevölkerungsstudie von Angst et al. (2002a) das
bei Frauen. Während verschiedene Bevölkerungs- Geschlechterverhältnis bei der unterschwelligen
und Patientenstudien hier keine Geschlechtsunter- Depression nahezu ausgeglichen.
schiede identifizierten, findet eine Mehrzahl auch
19 höhere Rückfall- oder Chronifizierungsraten bei Komorbidität. Frauen weisen insgesamt höhere
Frauen (Übersicht bei Kühner 2003). Komorbiditätsraten psychischer Störungen auf
als Männer (Bijl et al. 1998; Kessler et al. 2005).
Diagnostische Subgruppen und Art der Sym- Auch in der Häufigkeit spezifischer komorbider
ptome. Der Geschlechtsunterschied in den Er- Störungen unterscheiden sich die Geschlechter: bei
krankungsraten ist beschränkt auf die unipolaren Frauen überwiegen Angststörungen, bei Männern
19.2 · Erklärungshypothesen
335 19

Alkohol- und Drogenmissbrauch oder -abhängig- gängigen Diagnosesystemen wie DSM-IV oder
keit (de Graaf et al. 2002). Auch entwickeln Männer ICD-10, wonach hier »weibliche« Symptome über-
eine Depression häufiger im Gefolge der Substan- repräsentiert sind, während das depressive Erle-
zerkrankung, während Frauen häufiger sekundäre ben von Männern möglicherweise nicht adäquat
Substanzerkrankungen bei primärer depressiver erfasst wird. So führte Rutz (2001) den Begriff
Störung entwickeln (Kessler et al. 1996; de Graaf et der »männlichen« Depression ein, der anstatt der
al. 2002; Dixit u. Crum 2000). depressiven Leitsymptome Niedergeschlagenheit
und Anhedonie durch höhere Reizbarkeit, geringe
Im Folgenden werden aktuelle Erklärungshypothe- Stresstoleranz und antisoziale Züge gekennzeich-
sen zur Klärung des Geschlechtsunterschieds in der net ist. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass viele
Häufigkeit unipolarer Depressionen überblicksartig der Studien, die Evidenzen für höhere Depressi-
diskutiert. Diese konzentrieren sich neben Artefakt- onsraten bei Frauen lieferten, in den 80er-Jahren
hypothesen auf genetische, hormonelle, persönlich- unter Anwendung von DSM-III-Kriterien durch-
keitsbedingte und psychosoziale Risikofaktoren. geführt wurden, in denen Irritabilität als depres-
sives Leitsymptom enthalten war. Auch zeigen kli-
nische und populationsbasierte Studien entgegen
19.2 Erklärungshypothesen der Annahme keine höheren Reizbarkeitswerte
bei Männern (z. B. Lewinsohn et al. 2003; Perlis
19.2.1 Artefakte et al. 2005).
Die hier angesprochene Diskussion berührt je-
Der Vergleich von Daten aus reinen Bevölkerungs- doch auch die Frage der grundsätzlichen Validität
studien und Studien im primären Versorgungs- der derzeitigen Klassifikationen, die sich haupt-
bereich (Weissman et al. 1996; Gater et al. 1998; sächlich auf die Beschreibung psychopathologi-
Maier et al. 1999) zeigt, dass die Größenordnung, scher Symptome konzentrieren. So sind z. B. be-
in der die Depressionsraten von Frauen die der stimmte neurobiologische Krankheitskorrelate, wie
Männer übersteigen, in beiden Erhebungssettings der Mangel an serotonerger Transmission, auch
ähnlich ist. Dies spricht gegen eine inanspruch- bei vielen anderen psychischen Störungen relevant
nahmebedingte Verzerrung der Prävalenzschät- (z. B. Schizophrenie, Angststörungen, Essstörun-
zungen. Auch die ärztlichen Erkennungsraten von gen, Borderline-Störung, antisozialer Persönlich-
Depressionen waren nach den Ergebnissen der keitsstörung und Störungen der Impulskontrolle),
multizentrischen WHO-Allgemeinarztstudie für die sich in anderen psychopathologischen Sympto-
Männer und Frauen ähnlich (Gater et al. 1998). men äußern und zum Teil durch höhere Prävalenz-
Neue Untersuchungen (Kühner 1999; Kendler et raten bei Männern charakterisiert sind.
al. 2001a; Klose u. Jacobi 2004) widersprechen Insgesamt kann festgestellt werden, dass mög-
auch der Recall-Artefakthypothese, die eine bes- liche Artefakte zwar berücksichtigt werden sollten,
sere Erinnerungsbereitschaft für negative affektive ihr Erklärungspotenzial jedoch als zu klein be-
Zustände bei Frauen als eigentliche Ursache für de- trachtet wird, um relevante Anteile am Überwie-
ren höhere Depressionsraten postuliert. Gegen die gen der Depressionsraten bei Frauen zu erklären.
Hypothese, dass Frauen eher bereit sind, depres- Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hierbei
sive Symptome zuzugeben, sprechen Beobachtun- um ein reales Phänomen handelt.
gen aus den epidemiologischen Studien, wonach
Frauen nicht wesentlich häufiger als Männer sog.
stigmatisierende Kernsymptome wie Traurigkeit 19.2.2 Genetische Faktoren
oder Anhedonie schildern, sondern eher ausge-
prägte Symptome im Bereich körperlich-vegetati- Genetisches Risiko
ver Beschwerden (Übersicht bei Kessler 2003). Eine Beteiligung genetischer Faktoren bei der Äti-
Eine weitere Artefakthypothese kritisiert einen opathogenese depressiver Störungen ist anhand
kriteriumsbezogenen Geschlechterbias in den von Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien
336 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

inzwischen gut belegt. Die Konkordanzraten mo- ist. Das Serotonintransportergen (5-HTT-Gen,
nozygoter gegenüber dizygoten Zwillingen wird lokalisiert auf Chromosom 17) enthält die Erb-
auf 44% gegenüber 20% geschätzt (McGuffin et al. information für ein Protein, das den Serotonin-
2003). Eine Metaanalyse von Sullivan et al. (2000) transport im Gehirn steuert. Serotonin steuert
an mehr als 20.000 Zwillingspaaren aus klinischen als Neurotransmitter beim Menschen u. a. Affekt,
und nichtklinischen Stichproben schätzt die He- Schlafrhythmus, Sexualität und Körpertempera-
ritabilität unipolarer Depressionen auf ca. 35%, tur; depressive Zustände sind häufig durch einen
dies zeigt, dass neben der genetischen Disposition Serotoninmangel gekennzeichnet. Für die Trans-
soziale und Umweltfaktoren eine bedeutsame Rolle kriptionskontrollregion der Sequenz, die 5-HTT
spielen. Angenommen wird eine multifaktorielle kodiert, wurde ein Polymorphismus mit einem
Genese mit mehreren beteiligten Genen, deren langen und einem kurzen Allel identifiziert, wobei
pathologische Varianten das Erkrankungsrisiko er- das kurze Allel eine reduzierte 5-HTT-Funktion
höhen, ohne jedoch im Einzelnen notwendige oder aufweist.
hinreichende Voraussetzung für das Auftreten der Erstmalig fanden Caspi et al. (2003), dass Per-
Erkrankung zu sein. Die systematische Identifika- sonen mit der langen Variante des 5-HTT-Gens
tion und Lokalisierung spezieller Dispositionsgene relativ resistent gegen Stress sind, während Perso-
stehen jedoch noch am Anfang. Ein Problem hier- nen mit kurzem Allel (s/s-Genotyp) auf belastende
für liegt in der vermuteten ätiologischen Hetero- Lebensereignisse besonders vulnerabel reagieren.
genität der Erkrankung selbst, da die potenzielle Entsprechende Befunde zur Gen-Umwelt-Interak-
Zahl beteiligter Gene gegenüber eher homogenen tion des 5-HTT-Gens mit psychischen Stressoren
Erkrankungen erhöht ist, zum anderen erschwe- berichteten in der Folge u. a. Eley et al. (2004),
ren wahrscheinliche Gen-Umwelt-Interaktionen Kaufman et al. (2004), Fox et al. (2005), Grabe et
(s. unten) die Identifikation entsprechender Kan- al. (2005), Kendler et al. (2005) und Wilhelm et al.
didatengene (Maier 2004). (2006). Zwei weitere Arbeiten konnten diesen Zu-
Nach der Metaanalyse von Sullivan et al. (2000) sammenhang allerdings nicht bestätigen (Gillespie
haben Männer und Frauen ein vergleichbares ge- et al. 2005; Surtees et al. 2006).
netisches Risiko, an einer depressiven Störung zu Inwieweit geschlechtsspezifische Gen-Umwelt-
erkranken. Neuere Analysen der Arbeitsgruppe Interaktionen als mögliche Ursachen der höheren
um Kendler (Kendler et al. 2001b, 2006) weisen Depressionsraten bei Frauen gelten können, lässt
dagegen auf einen stärkeren genetischen Einfluss sich anhand dieser ersten Arbeiten noch nicht
für Frauen hin, insbesondere bei breiter Diagno- schlüssig beantworten. Sollte dies der Fall sein, so
sendefinition (Frauen 40–42%, Männer 29–31%). müsste der Zusammenhang zwischen 5-HTT-Po-
Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass ein Teil der lymorphismus und Stress für beide Geschlechter
genetischen Risikofaktoren für Frauen und Männer unterschiedlich eng ausfallen. Tatsächlich berich-
unterschiedliche Auswirkungen haben bzw. nur für ten Eley et al. (2004) für Adoleszente und Grabe et
ein Geschlecht von Bedeutung sind (Sullivan et al. al. (2005) für Erwachsene über deutlichere 5-HTT-
2000; Abkevich et al. 2003; Fullerton et al. 2003; Stress-Interaktionen bei Mädchen und Frauen. Al-
Holmans et al. 2004; Nash et al. 2004; Kendler et lerdings fehlt in diesen Studien die Betrachtung
al. 2006). möglicher differenzieller – und damit nicht glei-
chermaßen erfasster – psychosozialer Risikoprofile
für Männer und Frauen, auch lagen in beiden Stu-
Gen-Umwelt-Interaktionen dien kleinere männliche Stichprobengrößen vor,
19 Bei der Frage des Zusammenhangs zwischen die die statistische Power zur Identifizierung sol-
molekularen Funktionen von Genen, Verhalten cher Effekte herabsetzen. Andere Studien berich-
und psychosozialen Faktoren weist eine Mehr- ten über einen fehlenden Einfluss des Geschlechts
zahl jüngerer Studien darauf hin, dass die Anfäl- auf die Enge der beobachteten Gen-Umwelt-In-
ligkeit für Depressionen möglicherweise durch teraktion (Caspi et al. 2003; Kendler et al. 2005;
bestimmte Gen-Umwelt-Interaktionen erklärbar Wilhelm et al. 2006).
19.2 · Erklärungshypothesen
337 19
19.2.3 Hormonelle Faktoren ver Erkrankungen in den postulierten vulnerablen
Phasen (Menarche, prämenstruelle, postnatale und
Biologische Erklärungsversuche befassen sich (peri-)menopausale Phase) anzeigen und zudem
hauptsächlich mit der Rolle weiblicher Sexual- quantitativ messbare Beziehungen zwischen Hor-
hormone, insbesondere des Östrogens und des monlevels und Depressivität identifizierbar sind.
Progesterons für die höheren Depressionsraten Welche Evidenzen finden sich hierzu?
bei Frauen. Östrogenrezeptoren sind im Kortex
und in limbischen Strukturen weit verbreitet. In Pubertät. Wie bereits erwähnt, entwickeln sich
Tiermodellen wurde aufgezeigt, dass Östrogen die in der Pubertätsphase die Depressionsraten von
Synthese, den Metabolismus und die Ausschüt- Mädchen und Jungen tatsächlich dramatisch aus-
tung von Neurotransmittern moduliert, die wie- einander. Ergebnisse zum direkten Einfluss von
derum Kognition und Affekte beeinflussen, wie Geschlechtshormonen auf das Auseinanderdriften
Serotonin, Dopamin und Norepinephrin (Amin der Depressionsraten in der Pubertät sind derzeit
et al. 2005). Östrogen ist auch an der Steuerung jedoch noch uneinheitlich. Im Vergleich zum chro-
neuroendokrinologischer Systeme beteiligt, wie nologischen Alter ist der pubertäre Reifungsgrad
dem der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse ein besserer Prädiktor adoleszenter Depression bei
(HHNA), die bei depressiven Erkrankungen eben- Mädchen (Patton et al. 1996). Angold et al. (1999)
falls dysreguliert ist. fanden eine direkte Beziehung zwischen dem An-
Angenommen wird zum einen, dass ein Un- stieg der Geschlechtshormone und negativem Af-
gleichgewicht, ein rapider Abfall oder sonstige Ver- fekt bei Mädchen, während andere Studien hierzu
änderungen im Östrogen- und Progesteronspiegel überwiegend negative Befunde lieferten (Übersicht
Frauen einem erhöhten Risiko für Depressionen bei Hankin u. Abramson 2001). Der Pubertätssta-
aussetzen. Besonders vulnerable Phasen sind dem- tus von Jungen und Mädchen ist allerdings nicht als
nach Menarche, prämenstruelle Phase, Postpar- isolierte biologische Größe zu betrachten, da kom-
tumphase sowie (Peri-)Menopause (Übersicht bei plexe Interaktionen mit sozialen und kulturellen
Amin et al. 2005). Zum anderen wird angenommen, Einflussgrößen zu berücksichtigen sind (Übersicht
dass eine Funktion des Östrogens darin besteht, bei Kühner 2001). So ist z. B. der Zusammenhang
die Wirkung von Stresshormonen (Glukokortiko- zwischen Eintritt der Menarche und Depressivität
iden) abzumildern, und ein zyklisch oder sonstig bei Mädchen in verschiedenen ethnischen Settings
bedingter Östrogenmangel Frauen stressanfälliger ganz unterschiedlich (Hayward et al. 1999; Wich-
und damit ebenfalls depressionsvulnerabler macht strom 1999), ebenso der Zusammenhang zwischen
(Young u. Altemus 2004). Eine dritte Argumen- besonders frühem oder spätem Einsetzen der Men-
tation betont die Rolle des Sexualhormons Oxy- arche und Depressivität von Mädchen in verschie-
tozins als biologisches Substrat interpersoneller denen Kulturen (Wichstrom 1999).
Bedürfnisse von Frauen und der daraus resultie- Schließlich ist das Auseinanderdifferenzieren
renden Vulnerabilität bei Frustration dieser Be- von Geschlechtsrollen in der Adoleszenz, als »gen-
dürfnisse (Cyranowski et al. 2000; Goldberg 2006). der intensification« (Wichstrom 1999) bezeichnet,
Die Ausschüttung von Oxytozin scheint wiederum für Mädchen mit mehr Stress verbunden als für
über Östrogen verstärkt zu werden, wie zumindest Jungen, was sich u. a. in größerer Unzufriedenheit
im Tiermodell nachgewiesen wurde (McCarthy et mit dem eigenen Körperbild und stressvollen in-
al. 1996; Übersicht bei. Taylor et al. 2000). terpersonellen Lebensereignissen und Belastungen
ausdrückt. Beide Phänomene sind bei Mädchen
enger mit Depressivität assoziiert als bei Jungen
Hormonelle Umstellungsphasen (Übersicht bei Crick u. Zahn-Waxler 2003). Ver-
Direkte Einflüsse hormoneller Faktoren auf die schiedene Entwicklungsmodelle berücksichtigen
höheren Depressionsraten von Frauen im Ver- entsprechend – wenn auch mit unterschiedlicher
gleich zu Männern setzen zunächst voraus, dass Gewichtung – biologische, psychologische und psy-
die epidemiologischen Daten Häufungen depressi- chosoziale Risikofaktoren der Adoleszenz, um den
338 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

stärkeren Anstieg der Depressionsraten von Mäd- entwickeln postpartale Depressionen, wenn auch
chen in dieser Übergangsphase zu erklären (Über- mit niedrigerer Prävalenz (ca. 4–5%, Ballard et
sicht bei Crick u. Zahn-Waxler 2003). Empirische al. 1994). Zwei große Metaanalysen (Beck 2001;
Überprüfungen solcher Modelle unter Einschluss O’Hara u. Swain 1996) identifizierten als beste
hormoneller Faktoren stehen jedoch noch aus. Prädiktoren mütterlicher PPD übereinstimmend
Merkmale wie Depression in der Anamnese und
Prämenstruelles dysphorisches Syndrom. Zur während der Schwangerschaft, fehlende Unterstüt-
Häufigkeit des prämenstruellen dysphorischen zung durch den Partner und das soziale Netzwerk
Syndroms (PMDS) werden in retrospektiven Be- sowie stressvolle Lebensereignisse, während bis-
fragungen häufig deutliche Überschätzungen ange- lang keine Evidenzen für direkte Zusammenhänge
geben. Eine methodisch gut kontrollierte prospek- mit hormonellen Faktoren vorliegen.
tive Studie an mehreren tausend Frauen fand eine Studien aus verschiedenen nichtwestlichen
zyklusabhängige Vulnerabilität für ausgeprägte Ländern (Türkei, China, Indien) zeigen zusätz-
affektive Symptome mit einer Prävalenz von ca. lich zu den bekannten Risikofaktoren einen klaren
1% (Ramcharan et al. 1992). Andere Autoren be- Effekt des weiblichen Geschlechts des Neugebore-
richten von einer mittleren Prävalenz von etwa 5% nen auf die Entwicklung mütterlicher postnataler
(Landen u. Eriksson 2003). Es wird angenommen, Depression auf (Goldbort 2006). Interkulturelle
dass bei der PMDS eine erhöhte Sensibilität für Beobachtungen weisen weiterhin darauf hin, dass
Veränderungen der Östrogen- und Progesteron- in Kulturen mit niedriger PPD-Prävalenz entbin-
konzentrationen wirksam ist, die sich negativ auf dende Mütter besonders ausgeprägte soziale Unter-
den Serotoninstoffwechsel auswirkt. Allerdings ist stützung erfahren (Miller 2002). Umgekehrt liegen
die empirische Befundlage zum Zusammenhang die Raten in Ländern, in denen Frauen wenig Kon-
zwischen Serotonin und Östrogenkonzentrationen trolle über ihre reproduktive Gesundheit haben,
über den Menstruationszyklus hinweg derzeit völ- überproportional hoch (23–35%; Patel et al. 2002).
lig inkonsistent, wahrscheinlich mitbedingt durch Diese Befunde sind mit einfachen hormonellen
die beschränkten Möglichkeiten der reliablen Er- Modellen schlecht vereinbar. Sie unterstreichen
fassung der zentralnervösen Serotoninfunktion zum einen die Bedeutung psychosozialer Faktoren
(Amin et al. 2005). bei der PPD, zum anderen legen sie nahe, dass
Von verschiedenen Autoren wird inzwischen bei der weitaus überwiegenden Zahl betroffener
empfohlen, das PMDS nicht als Variante depres- Frauen eine allgemeine Vulnerabilität gegenüber
siver Störungen, sondern als eigenständige diag- Depression vorliegt, die nicht auf die postpartale
nostische Kategorie zu betrachten, da sich sowohl Phase beschränkt ist. Allerdings mag hier ätiolo-
die Leitsymptome (Reizbarkeit und Affektlabilität), gische Heterogenität eine Rolle spielen: Bloch et
die Phasendauer als auch die Wirklatenz der an- al. (2000) fanden bei einer Subgruppe von Frauen
tidepressiven Medikation (SSRI) von denen der mit ursprünglich postpartalem Depressionsbeginn
Depressionen deutlich unterscheiden (Landen u. eine ausgeprägte Sensitivität gegenüber hormonel-
Eriksson 2003). len Schwankungen, wie sie nach der Entbindung
vorliegen. Einschränkend sei jedoch erwähnt, dass
Postpartumphase. Die Postpartumdepression es sich hierbei um eine Studie mit kleiner Fallzahl
(PPD) trifft nach einer Metaanalyse von O’Hara u. handelt, die bis dato häufig zitiert, empirisch je-
Swain (1996) ca. 13% aller entbindenden Frauen. doch noch nicht repliziert wurde.
Diese Rate ist, entgegen der landläufigen Meinung,
19 gegenüber den Depressionsraten nichtgebärender (Peri-)Menopause. Für die Übergangsphase in die
Frauen vergleichbarer Altersgruppen nicht we- Menopause zeigten ältere Längsschnittstudien an
sentlich erhöht (Brockington 2004). Dies spricht der Bevölkerung keinen disproportionalen Anstieg
– auf die Allgemeinbevölkerung bezogen – gegen der Neuerkrankungsraten bei Frauen, jedoch ein
eine substanzielle Bedeutung hormoneller Fakto- etwas erhöhtes Rückfallrisiko für Frauen mit frühe-
ren auf die Entwicklung der PPD. Auch Männer ren Episoden (Harlow et al. 2003). Zwei neuere Ar-
19.2 · Erklärungshypothesen
339 19

beiten fanden dagegen eine signifikante Zunahme In neuerer Zeit wird die Hypothese diskutiert,
depressiver Symptome bzw. depressiver Episoden dass Frauen aufgrund einer stärkeren Dysregu-
in der Perimenopause bei nicht vorbelasteten lation der HHNA einem erhöhten Depressions-
Frauen (Cohen et al. 2006; Freeman et al. 2006). risiko ausgesetzt sind. Neben der höheren Inzi-
Unklar ist bislang, inwieweit der hormonelle Status denz früherer Traumata bei Frauen wird hier eine
einen direkten Einfluss auf die Entwicklung dep- modulierende Funktion von Sexualhormonen auf
ressiver Symptome ausüben bzw. indirekte Effekte die stressbezogene HHNA-Antwort vermutet (z. B.
über vasomotorische Symptome oder kritische Le- Weiss et al. 1999; Young u. Altemus 2004).
bensereignisse in dieser Phase den Zusammenhang Eine Mehrzahl von Studien aus der experimen-
modulieren. Longitudinalstudien zeigen, dass die tellen Tierforschung zeigt, dass weibliche Ratten
wichtigsten Prädiktoren depressiver Episoden in eine größere HHNA-Antwort auf Stress zeigen als
der Perimenopause frühere depressive Episoden männliche (Young u. Altemus 2004). Auch weisen
und aktuelle psychosoziale Belastungsfaktoren dar- östrogenbehandelte weibliche Ratten eine höhere
stellen (Alder 2001). Weitere Erklärungsvarianz endokrine Stressreaktion und verzögerte Erho-
liefert die Schwere und Dauer der vasomotorischen lung auf als nicht behandelte (Burgess u. Handa
Symptome (Avis et al. 2003). Auch die Befundlage 1992; Viau u. Meaney 1991). Niedrige Dosen von
zur Effektivität der Östrogenersatztherapie auf die Östradiol üben dagegen hemmende Effekte auf
depressive Symptomatik menopausaler Frauen ist die HHNA-Aktivität aus (Young et al. 2001). Ent-
inkonsistent (Amin et al. 2005), sie ist derzeit am sprechende Befunde aus dem Humanbereich sind
ehesten über die direkte Wirkung auf vasomotori- eher widersprüchlich. Eine Zusammenfassung ein-
sche Symptome und darüber vermittelte indirekte schlägiger Studien durch Kudielka u. Kirschbaum
Wirkung auf die psychische Symptomatik erklär- (2005) legt nahe, dass entweder keine Geschlechts-
bar (Avis et al. 2003). unterschiede in der Kortisolantwort auf psychische
Stressoren zu erwarten sind, oder aber Männer im
Vergleich zu Frauen eine höhere Stressresponse
Geschlechtsunterschiede in der zeigen. Zyklusabhängige Geschlechtsunterschiede
neuroendokrinen Stressantwort finden sich dahingehend, dass Frauen in der Lute-
Stressbezogene Modelle der Depression betonen alphase, d. h. bei geringer Östrogenproduktion, auf
die Rolle der endokrinen Aktivität der HHNA für psychischen Stress eine ähnliche Kortisolausschüt-
die dynamische Anpassung des Organismus an all- tung zeigen, dagegen in der Follikelphase, d. h.
tägliche und majore Stressoren. Stresshormone wie bei hoher Östrogenkonzentration, eine niedrigere
Kortisol und Adrenalin sind wichtige Mediatoren als Männer, ebenso wie Frauen, die Kontrazeptiva
der Allostase in Reaktion auf Umweltstimulation. einnehmen (Kirschbaum et al. 1999). Während
Bei exzessiver oder anhaltend chronischer Über- eine Zuführung von Östrogen bei gesunden Män-
lastung resultieren kumulative Veränderungen des nern die Stress-Response erhöht (Kirschbaum et al.
endokrinen Anpassungssystems, gekennzeichnet 1996), hat z. B. die Östrogenbehandlung postme-
durch chronische Dysregulationen der HHNA, die nopausaler Frauen keinen Einfluss auf die Stress-
wiederum die Entstehung körperlicher und psychi- Response (Kudielka et al. 1999). Young und Alte-
scher Erkrankungen begünstigt. mus (2004) schließen daraus, dass die Wirkung des
Mehrheitlich weisen neuroendokrinologische Östrogens im Hinblick auf die endokrine Stressre-
Befunde bei Depressiven auf eine Überaktivität des aktion bei Männern und Frauen unterschiedlich
HHNA-Systems hin, die sich unter anderem durch ist oder die Zugabe von Östrogen bei Männern die
Hyperkortisolismus bzw. der Störung der Sekreti- angenommene sedierende Wirkung des Testoste-
onsrhythmik des Kortisols äußert (z. B. Raison u. rons auf die Stressreaktion abschwächt.
Miller 2003). Jedoch werden auch pathologische Die Intensität der Kortisolreaktion ist altersab-
Abweichungen in Richtung Unteraktivierung be- hängig. Für höhere Altersgruppen werden sowohl
obachtet, wie sie z. B. für die atypische Depression für Männer als auch für Frauen ausgeprägtere Re-
kennzeichnend sind (Stetler u. Miller 2005). aktionen berichtet, nach einer Metaanalyse von
340 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

Otte et al. (2005) ist dieser Alterseffekt bei Frauen finden sich in gesunden Stichproben auch in der
jedoch deutlicher. Er wird mit der nachlassenden endokrinen Stressantwort, z. B. bei experimenteller
Produktion von Östrogen und Testosteron in Zu- Provokation. Demnach scheinen Frauen größere
sammenhang gebracht (Kudielka u. Kirschbaum Kortisolreaktionen auf interpersonelle Stressoren,
2005; Otte et al. 2005). Unklar bleibt allerdings, ob wie soziale Zurückweisung, zu zeigen (Kiecolt-Gla-
eher ältere Männer oder ältere Frauen absolut hö- ser u. Newton 2001; Stroud et al. 2002), während
here Kortisolwerte aufweisen (Kudielka et al. 2004; Männer auf eine insgesamt breitere Palette von
Goldman et al. 2004). Stressoren stärker reagieren, wie z. B. auf öffentli-
Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich ches Reden und mentale Aufgaben (Kiecolt-Glaser
wird, besteht ein Widerspruch zu der eingangs u. Newton 2001). Diese Befunde weisen darauf
aufgeworfenen These höherer Depressionsraten hin, dass die »Geschlechtsrelevanz« eines Stres-
von Frauen durch eine stärkere Dysregulation der sors geeignet ist, die endokrine Stress-Antwort zu
HHNA darin, dass zum einen die Kortisolwerte in modulieren. Die Untersuchung von Assoziatio-
höherem Alter anzusteigen scheinen, die Depressi- nen geschlechtsrollenrelevanter Stressoren mit der
onsraten, wie aus Bevölkerungsstudien bekannt, in HHNA-Aktivität bietet interessante Perspektiven,
diesen Altersgruppen dagegen eher sinken. Post- in der Depressionsforschung hat dieser Aspekt bis
menopausale Frauen weisen entsprechend eher jetzt jedoch keine Beachtung gefunden.
niedrigere Depressionsraten auf als prämenopau-
sale Frauen (s. Trailer).
Bezogen auf klinische Populationen finden sich Der mögliche Einfluss des Oxytozins
nur wenige Arbeiten, die Geschlechtsunterschiede Cyranowski et al. (2000) entwickelten ein Interak-
in der endokrinen Stressreaktion untersuchten. tionsmodell von biologischen und psychosozialen
Während Peeters et al. (2003) bei depressiven Faktoren, um die während der Pubertät beginnen-
Frauen höhere Kortisolantworten auf negative All- den Geschlechtsunterschiede in den Depressions-
tagsereignisse fanden als bei männlichen Patienten, raten zu erklären. In der Pubertät beginnt unter
berichten Young et al. (2004) über vergleichbare Re- dem Einfluss von Östrogen und Progesteron die
aktionen von depressiven Männern und Frauen auf verstärkte Produktion des hypothalamen Peptids
den Trierer Stresstest, ebenso wie Rubin et al. (2006) Oxytozin. Bei Säugetieren steuert Oxytozin u. a.
in einer Studie mit pharmakologischer Stimulie- selektive Paarbindung und stimuliert mütterliches
rung der Stressachse. Bos et al. (2005) fanden bei Bindungsverhalten. In Übertragung auf das Hu-
depressiven Männern höhere basale Kortisolwerte manmodell wird postuliert, dass die interperso-
als bei depressiven Frauen. Darüber hinaus hatten nellen Bedürfnisse von Frauen mit dem Wunsch
depressive Frauen mit rekurrenter Depression hö- nach Beziehungsnähe und Intimität auf Oxytozin-
here Kortisolwerte als Frauen mit einer einzelnen gesteuerte Mechanismen zurückführbar sind, die
Episode, während ein solcher Interaktionseffekt bei durch soziale Reaktionen verstärkt werden. Die
Männern nicht identifizierbar war. biologische Bereitschaft von Frauen zur Affiliation
Insgesamt ist nach derzeitigem Wissensstand stellt nach Cyranowski et al. (2000) aus phyloge-
eine kausale Verbindung zwischen Geschlechtshor- netischer Sicht einen zunächst adaptiven Prozess
monen, Dysregulation der HHNA und den höhe- dar. Treten jedoch stressvolle Lebensereignisse auf
ren Depressionsraten von Frauen nicht zuverlässig - insbesondere im Bereich zwischenmenschlicher
etabliert. Zusätzlich scheint es so, dass Frauen nicht Beziehungen – so macht die hieraus resultierende
generell stressvulnerabler sind als Männer, sondern Frustration interpersoneller Bedürfnisse Mädchen
19 sich die Geschlechter eher in Bezug auf spezifische und Frauen besonders depressionsanfällig. Als
Stressorenbereiche unterscheiden, die mit der un- komplizierende Risikofaktoren werden unsichere
terschiedlichen Geschlechtsrolle von Frauen und elterliche Bindungen, ein ängstlich-gehemmtes
Männern verknüpft sind (z. B. Kendler et al. 2001c, Temperament und geringe instrumentelle Coping-
 Kap. 19.2.6). Geschlechtsspezifische Reaktionen Fähigkeiten betrachtet (z. B. die Tendenz zur passi-
in Abhängigkeit von der Qualität des Stressors ven Rumination,  Kap. 19.2.5).
19.2 · Erklärungshypothesen
341 19

Bis heute existieren allerdings keine Untersu- jüngeren Erwachsenenalter, zum anderen ist die-
chungen aus der Humanforschung, die den pos- ses Merkmal querschnittlich stark konfundiert mit
tulierten Zusammenhang zwischen Oxytozin und aktueller Depressivität. Dagegen identifizierte die
deren Einfluss auf die Entwicklung depressiver Stö- Metaanalyse von Feingold (1994) höhere Ängst-
rungen bei Frauen auf eine empirische Grundlage lichkeitswerte bei Mädchen bereits vor Eintritt der
stellen, sodass dieses Modell derzeit noch als rein Pubertät, also vor dem Auseinanderdriften der
spekulativ zu betrachten ist. Depressionsraten von Jungen und Mädchen.
Relativ konsistent finden sich Geschlechtsun-
terschiede in Traits, die auf eine stärkere interper-
19.2.4 Primäre Angststörungen sonelle Orientierung von Frauen hinweisen (Fein-
gold 1994; Costa et al. 2001). Solche Merkmale
Nach den Ergebnissen größerer epidemiologischer sind zunächst nicht depressiogen per se, sie mögen
Studien erhöht die Diagnose einer primären Angst- jedoch die Vulnerabilität von Mädchen und Frauen
störung das Risiko für die Entwicklung nachfol- gegenüber interpersonellem Stress erhöhen (Cyra-
gender depressiver Störungen (Breslau et al. 1995; nowski et al. 2000). Das Konzept der »unmitigated
Maier et al. 1999; Parker u. Hadzdi-Pavlovic 2001; communion« von Helgeson (1994) beinhaltet die
Goodwin, 2002). Während dieser Zusammenhang exzessive Sorge um zwischenmenschliche Bezie-
für Frauen und Männer gleichermaßen gültig ist hungen, die Stützung des Selbstkonzepts auf an-
(Breslau et al. 1995; Maier et al. 1999) – einzelne dere und die Vernachlässigung eigener gegenüber
Studien fanden sogar einen Trend für ein höheres den Bedürfnissen anderer Menschen. Diese Ex-
Risiko bei Männern (Szadoczky et al. 2002; Good- tremvariante interpersonaler Orientierung soll bei
win 2002) – sind Frauen von primären Angststö- Männern und Frauen gleichermaßen mit erhöhter
rungen wesentlich häufiger betroffen (Breslau et al. Depressivität einhergehen, bei Frauen und ado-
1995; Maier et al. 1999; Parker u. Hadzdi-Pavlovic leszenten Mädchen jedoch häufiger vorkommen,
2001; Szadoczky et al. 2002; Goodwin 2002). während bei Männern eine extrem selbstbezogene
Schätzungen ergaben, dass das Vorhandensein Orientierung (»unmitigated agency«) häufiger
primärer Angststörungen ca. 50% der Assoziation sei. Beide Persönlichkeitsvarianten gehen nach
zwischen Geschlecht und Depressionsprävalenz er- Helgeson (1994) mit unterschiedlichen interperso-
klärt, wobei die statistische Kontrolle von komor- nellen Problemen einher. Zu diesen konzeptuell in-
bidem Substanzmissbrauch diesen Zusammenhang teressanten Überlegungen besteht allerdings noch
nicht substantiell reduziert (Breslau et al. 1995). weiterführender theoretischer und empirischer
Klärungsbedarf.
Eine der aktuell prominentesten kognitiven The-
19.2.5 Persönlichkeitsfaktoren orien zu Geschlechtsunterschieden bei Depressi-
onen (Response-styles-Theorie; Nolen-Hoeksema
Für den Bereich persönlichkeitsbezogener Vul- 1991, 2004) befasst sich mit der Rolle von emoti-
nerabilitätsfaktoren weisen Metaanalysen auf ein onsfokussierendem symptombezogenem Grübeln
niedrigeres Selbstwertgefühl und eine geringere (Rumination), das eine Exazerbation depressiver
Assertivität von Mädchen und Frauen hin (Fein- bzw. dysphorischer Verstimmungszustände zur
gold 1994; Kling et al. 1999). Diese Geschlechtsef- Folge haben und bei Mädchen und Frauen aus-
fekte sind betragsmäßig eher schwach ausgeprägt geprägter sein soll. Dagegen soll kognitive und
und finden sich am ehesten in der späten Adoles- verhaltensmäßige Ablenkung (Distraktion) depres-
zenz und bei jungen Erwachsenen, somit ist un- sionsreduzierend wirken und bei Männern stärker
klar, inwieweit sie bereits Konsequenzen erhöhter ausgeprägt sein. Rumination und Distraktion wer-
Depressivität bei Mädchen und Frauen darstellen. den hier als bewusst eingesetzte zielvolle Coping-
Auch für das Merkmal Neurotizismus (Costa et al. Strategien im Umgang mit depressiven Verstim-
2001) gilt diese Einschränkung: Zum einen finden mungen betrachtet. Neuere Arbeiten zur externen
sich die deutlichsten Geschlechtsunterschiede im Validität dieser Theorie finden Belege für die pos-
342 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

tulierten Effekte ruminativen Copings und assozi- ren Ursachen angemessenes geschlechtstypisches
ierte Geschlechtsunterschiede in der Bevölkerung Verhalten darstellt. Für entsprechende Sozialisa-
(Nolen-Hoeksema et al. 1999; Nolen-Hoeksema tionspraktiken finden sich zahlreiche Beispiele in
2000) sowie erste Hinweise für einen negativen der Literatur (Zahn-Waxler 2000). So diskutieren
Effekt symptombezogener Rumination auf den Eltern emotionsbezogene Gesprächsinhalte aus-
Verlauf klinisch depressiver Episoden (Kühner u. führlicher mit Mädchen als mit Jungen, insbe-
Weber 1999; Schmaling et al. 2002). Geschlechts- sondere auch solche, die mit Traurigkeit assoziiert
unterschiede in der Ruminationstendenz wurden sind (Fivush et al. 2000; Garside u. Klimes 2002),
bereits in der frühen Adoleszenz, d. h. vor dem und Mädchen scheinen negative Ereignisse de-
Auseinanderdriften der Depressionsraten, identi- taillierter zu enkodieren als Jungen (Übersicht bei
fiziert (Broderick 1998; Ziegert u. Kistner 2002). Hankin u. Abramson 2001). Solche geschlechtsspe-
Rumination scheint bei Mädchen auch eine inter- zifische Lernerfahrungen beeinflussen Inhalte und
personelle Funktion zu haben. Rose (2002) fand, Komplexität des emotionsbezogenen autobiogra-
dass gemeinsames Ruminieren (co-ruminating) phischen Gedächtnisses, welches damit zumindest
von Mädchen deren interpersonelle Beziehungen partiell ein sozial konstruiertes Phänomen darstellt
bestärkte, dies jedoch mit höheren Ausprägungen (Davis 1999).
von Internalisierungsproblemen einherging.
Das Ruminationskonzept wird auch im neu-
ropsychologischen Kontext untersucht. So zeigen 19.2.6 Psychosoziale Stressoren
depressive Patienten im fMRI eine erhöhte Akti-
vierung der Amygdala auf negative verbale Stimuli, Psychosoziale Faktoren bilden den Hintergrund
die mit selbstberichteter Rumination korreliert für Stressoren und chronische Belastungen, denen
(Siegle et al. 2002). Heller (1993) verweist darauf, Frauen in besonderer Weise ausgesetzt sind, und
dass verbale Strategien wie Rumination posteriore die nachweislich das Depressionsrisiko erhöhen.
linkshemisphärische Hirnregionen aktivieren und Im makrosozialen Bereich sind z. B. Faktoren wie
damit geeignet sind, die depressionstypische Links- niedriges Ausbildungsniveau, geringer sozialer Sta-
Rechts-Diskrepanz aufrecht zu erhalten oder zu tus, Armut, ökonomisches Ungleichgewicht und
verstärken. Dagegen aktivieren distraktive Verhal- geringe Macht und Handlungskontrolle zu berück-
tensweisen – wie körperliche Aktivität – anteri- sichtigen. Solche strukturellen Benachteiligungen
ore linkshemisphärische Regionen, die nach dem haben negative Auswirkungen auf die psychische
Modell von Davidson (2002) mit positivem Affekt Gesundheit von Männern und Frauen (Belle u.
assoziiert sind. Es könnte damit spekuliert werden, Doucet 2003), Frauen sind gegenüber Männern in
dass geschlechtsakzentuierte Coping-Strategien as- den meisten Kulturkreisen bezüglich dieser Fakto-
soziierte neuronale Mechanismen aktivieren, die ren jedoch mehr oder weniger deutlich benachtei-
dann wiederum mit einer Veränderung entspre- ligt. So sind allein erziehende Frauen, die in Armut
chender Stimmungskomponenten einhergehen. leben, einem besonders hohen Depressionsrisiko
Zu solchen Überlegungen fehlen derzeit jedoch ausgesetzt (Brown u. Moran 1997; Coiro 2001).
systematische Untersuchungen; in den Neurowis- Die Zusammenhänge zwischen sozialer Be-
senschaften mangelt es insgesamt an Studien, die nachteiligung und psychischer Gesundheit sind
den Geschlechteraspekt bei affektiven Störungen komplex. Neben finanziellen Aspekten sind z. B.
adäquat berücksichtigen. geringes Autonomieerleben, fehlende Kontrolle
Die Response-styles-Theorie erklärt die Ge- über Entscheidungsprozesse, die erhöhte Wahr-
19 schlechtsunterschiede im symptombezogenen scheinlichkeit für unkontrollierbare Lebensereig-
Coping durch Unterschiede in der Geschlechts- nisse, wie körperliche und sexuelle Gewalt oder
rollensozialisation: Jungen werden für aktives, unvorhergesehene Trennungen (Bassuk et al. 1998;
stimmungskontrollierendes Verhalten verstärkt, Brown u. Moran 1997), zu berücksichtigen. Darü-
während Mädchen und Frauen lernen, dass die ber hinaus ist soziale Benachteiligung häufig mit
Beschäftigung mit negativen Gefühlen und de- chronischen Belastungen wie unzureichende oder
19.2 · Erklärungshypothesen
343 19

unsichere Wohnverhältnisse, alleinige Verantwor- 1999; Gutierrez-Lobos et al. 2000). Die Mehrzahl
tung für Kinder, chronische Partnerkonflikte und vorliegender Studien bestätigt, dass Berufstätig-
unsicherer oder gefährlicher Arbeitsplatz assoziiert keit bei Frauen im Sinne eines Stresspuffers Be-
(Belle u. Doucet 2003). Dabei wird das soziale lastungen in anderen, z. B. familiären Rollenbe-
Unterstützungsnetwerk, das in der Regel Stresspuf- reichen abzumildern vermag. Dies jedoch nur bis
fer und Schutzfaktor gegen Depression darstellt, zu einem gewissen Grad: multiple Rollenüberlas-
häufig zu einer weiteren Quelle von Stress und Be- tungen gehen einher mit reduziertem psychischen
lastung, da die Netzwerkmitglieder ähnlich proble- Wohlbefinden und erhöhen das Depressionsrisiko
matischen Bedingungen ausgesetzt sind. Oft wird von Frauen (Übersicht bei Kühner 2001). Empiri-
der Partner nicht als unterstützend erlebt, chroni- sche Belege hierzu finden sich bezüglich der Asym-
sche Partnerkonflikte und Trennungen sind an der metrie familiärer Rollen in Familien mit kleinen
Tagesordnung (Belle u. Doucet 2003). Gleichzeitig Kindern (Haw 1995) oder zur Pflege kranker oder
ist jedoch die Abhängigkeit vom sozialen Netzwerk alter Angehöriger, welche in den weitaus meisten
bei sozial benachteiligten Frauen größer als bei Fällen Aufgabe von Frauen ist (Yee u. Schulz 2000;
Frauen in ökonomisch stabileren Verhältnissen. Pinquart u. Sorensen 2006).
Entsprechend fanden Riley u. Eckenrode (1986), Das unterschiedliche Ausmaß an Rollenbelas-
dass die Reziprozität von Unterstützungsanforde- tungen vermag einen Teil des höheren Depressi-
rungen im sozialen Netzwerk insbesondere bei onsrisikos von Frauen erklären. Im Rahmen einer
sozial benachteiligten, nichtberufstätigen Frauen größeren Gemeindestudie berechneten Nolen-
das Depressionsrisiko erhöhte. Hoeksema et al. (1999) einen partnerschaftlichen
Auch das soziale Ungleichgewicht innerhalb Ungleichheitsindex im Hinblick auf solche Rollen-
einer Gesellschaft beeinflusst die körperliche und belastungen. Die Autoren fanden, dass dieser Index
psychische Gesundheit der Mitglieder (Kahn et al. die Zunahme depressiver Symptomatik über die
2000). Kawachi et al. (1999) zeigten, dass Statusun- Zeit vorhersagte und einen substanziellen Anteil
terschiede zwischen Männern und Frauen, berech- des Geschlechtsunterschieds in den Depressionsra-
net anhand eines kombinierten Index aus politi- ten erklärte. Ähnlich ermittelten Maier et al. (1999)
scher Beteiligung, ökonomischer Unabhängigkeit, anhand der Daten der WHO-Allgemeinarztstudie,
Berufstätigkeit und Verdienst, mit Mortalitäts- und dass ca. 50% der geschlechtsbezogenen Divergenz-
Morbiditätsraten von Männern und Frauen und raten depressiver Störungen durch soziale Rolle-
mit der Häufigkeit schwerer ehelicher Gewalt ge- nungleichheit erklärbar waren.
gen Frauen assoziiert war. Ähnlich berichten Chen Neue Untersuchungen aus der Life-event-For-
et al. (2005), dass Frauen in US-Bundesstaaten mit schung bestätigen frühere Befunde (Cost-of-ca-
geringem ökonomischen Autonomie-Index und ring-Theorie; Kessler u. Mc Leod 1984), wonach
geringerer Entscheidungsmöglichkeit bezüglich Männer und Frauen dasselbe Risiko haben, auf be-
der eigenen Reproduktivität die höchsten Depres- lastende Lebensereignisse mit Depressionen zu rea-
sionswerte aufwiesen. gieren, Frauen jedoch mehr Ereignissen ausgesetzt
In traditionellen Partnerschaften weisen Be- sind, die ihr soziales Umfeld betreffen, und solchen
funde epidemiologischer Studien darauf hin, dass Netzwerkereignissen gegenüber auch vulnerabler
für Männer Verheiratetsein protektiver gegen De- sind (Kendler et al. 2001b). Auch in der Adoleszenz
pression ist als für Frauen (z. B. Gutierrez-Lobos erleben Mädchen mehr interpersonellen Stress und
et al. 2000; Übersicht bei Bebbington 1999), wo- reagieren darauf eher mit Depressivität als Jungen
bei der Zusammenhang zwischen Zivilstand und (Shih et al. 2006; Übersicht bei Hankin u. Abram-
Depressionsrisiko interkulturell variabel ist. Bei son 2001). Maciejewski et al. (2001) fanden auch,
Frauen scheinen dagegen eher qualitative Aspekte dass Frauen auf weiter entfernte interpersonelle
der Partnerschaft mit Depressivität assoziiert zu Verluste und Krisen sensibler reagierten als Män-
sein (Weissman 1987). Berufstätigkeit ist sowohl ner. In dieser Studie war die Geschlechterdifferenz
für Männer als auch für Frauen mit einem nied- im stressbezogenen Depressionsrisiko wesentlich
rigeren Depressionsrisiko assoziiert (Bebbington niedriger bei Personen, die bereits frühere de-
344 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

pressive Episoden erlebt hatten. Dies legt nahe, 37% bei Jungen. Beide Untersuchungen fanden ein
dass der Zusammenhang zwischen psychosozialen ca. zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für Mädchen
Risikofaktoren und Depressionsentwicklung mit gegenüber Jungen, CSA-Opfer zu werden. CSA
zunehmender Krankheitsdauer kleiner wird und in der Kindheit ist mit unterschiedlichen psychi-
damit möglicherweise auch geschlechtsrollenbezo- schen Störungen im Erwachsenenalter assoziiert,
gene Unterschiede in Reaktion auf psychosoziale wobei der Zusammenhang mit Depression, Suizi-
Stressoren undeutlicher werden. dalität und posttraumatischer Belastungsstörung
Nazroo et al. (1997) fanden schließlich, dass am engsten ist (Dallam et al. 2001; Paolucci et
normative Geschlechtsrollenerwartungen den Zu- al. 2001). Nach Putnam (2003) ist die Lebens-
sammenhang zwischen stressvollen Lebensereig- zeitprävalenz depressiver Störungen bei sexuell
nissen und Depression deutlich modulierten. In missbrauchten gegenüber nicht missbrauchten
dieser Studie zeigten nur Paare mit traditioneller Frauen um den Faktor 3 bis 5 erhöht; die statisti-
Rollenverteilung eine geschlechtsspezifische De- sche Kontrolle dieses Risikofaktors reduzierte den
pressionsvulnerabilität auf kritische familiäre Er- Geschlechtsunterschied in den Depressionsraten
eignisse. Bei Paaren ohne klare Rollentrennung in einen nichtsignifikanten Bereich (Whiffen u.
hatten Männer und Frauen dieselbe Wahrschein- Clark 1997).
lichkeit, auf solche Stressereignisse eine klinische Neben retrospektiven Befragungen an klini-
Depression zu entwickeln. schen Stichproben finden sich zunehmend Evi-
denzen aus prospektiv angelegten Gemeindestu-
dien für einen Zusammenhang zwischen CSA und
19.2.7 Körperliche und sexuelle Gewalt adulter Depression (Fergusson et al. 2002; Levitan
et al. 2003; Matza et al. 2003). Hier werden über-
Spezielle traumatische Stressoren stellen schließ- proportional hohe Assoziationen mit atypischer
lich körperliche, psychische und sexuelle Gewalt Depression berichtet, die, ähnlich wie die post-
dar (Golding 1999; Campbell 2002), die mit der traumatische Belastungsstörung, häufiger mit einer
Entwicklung einer Vielzahl psychischer Störun- chronischen Unterregulierung der HHNA-Achse
gen einhergehen. Gewalt in der Partnerschaft wird einhergeht (z. B.Levitan et al. 2003; Matza et al.
von Männern und Frauen praktiziert, Frauen sind 2003; Heim et al. 2004; Meinlschmidt u. Heim
jedoch wesentlich häufiger Opfer. So sind nach 2005). Der Zusammenhang zwischen Missbrauch
Zahlen des BMFSJ (2004) ca. 13% der Frauen in und späterer Depression ist nach den Ergebnis-
Partnerschaft aktueller häuslicher Gewalt ausge- sen neuerer Studien additiv zum Einfluss sonstiger
setzt. Als Folgen häuslicher Gewalt sind neben familiärer Risikofaktoren (z. B. Hill et al. 2001).
psychischen und körperlichen Verletzungen auch Identifizierte neurophysiologische Konsequenzen
längerfristige pathologische Veränderungen der von CSA schließen unter anderem Auswirkungen
endokrinen HHNA zu berücksichtigen (Griffin et auf die Stressvulnerabilität der HHNA und das Im-
al. 2005). munsystem ein (Heim et al. 2004; Putnam 2003).
Untersuchungen zur Häufigkeit von sexuellem Neuroanatomisch findet sich bei Erwachsenen
Missbrauch in der Kindheit (childhood sexual mit CSA u. a. ein reduziertes Hippokampusvolu-
abuse, CSA) berichten über unterschiedliche Prä- men, ähnlich der Beobachtung bei schwerer De-
valenzraten, u. a. in Abhängigkeit von der Art der pression (z. B. Duman u. Monteggia 2006), sowie
Befragung. Nach retrospektiven Bevölkerungsbe- ein vermindertes Volumen des Corpus callosum,
fragungen aus internationalen Studien berichten das mit dem Auftreten dissoziativer und post-
19 ca. 7–36% der Frauen und 3–29% der Männer, traumatischer Belastungssymptome assoziiert ist.
dass mindestens einmal in ihrem Leben inten- Daneben sind psychologische Langzeitfolgen des
dierter oder vollzogener Missbrauch stattgefunden häufig chronisch verlaufenden Traumas im Sinne
hat (Putnam 2003). Eine konservative Schätzung erlernter Hilflosigkeit und ungünstiger kognitiver
(Cutler u. Nolen-Hoeksema 1991) berechnete eine Attribuierungsprozesse zu berücksichtigen (Weiss
Missbrauchsinzidenz von 7–19% bei Mädchen und et al. 1999).
19.2 · Erklärungshypothesen
345 19

Der Zusammenhang zwischen Missbrauch u. Arend 1998) und aufgrund ihrer Problematik
und späterer Depression ist enger bei Frauen als häufiger in Gefängnisse oder in Suchtkliniken an-
bei Männern. Weiss et al. (1999) führen dies auf zutreffen sind als in psychiatrischen Kliniken (Put-
die höhere endokrine Stressreaktivität von Frauen man 2003). Darüber hinaus müssten nachweisliche
aufgrund des Einflusses weiblicher Geschlechts- Einflussfaktoren wie Schwere und Dauer des Miss-
hormone zurück. Andere Studien zeigen jedoch, brauchs und die Beziehung des Täters zum Opfers
dass betroffene Jungen häufiger als Mädchen Sub- kontrolliert werden, um eine bessere Klärung für
stanzabhängigkeit und externale Störungen in Re- die Geschlechtsunterschiede in Reaktion auf sexu-
aktion auf das Trauma entwickeln (z. B. Garnefski ellen Missbrauch zu erzielen (Dallam et al. 2001).

Fazit
Neuere epidemiologische Studien bestätigen zum Einfluss von Geschlechtshormonen auf die
in beeindruckender Weise die höheren Erkran- höheren Depressionsraten von Frauen über die
kungsraten depressiver Störungen bei Frauen. Beeinflussung der endokrinen Stressachse sind
Dieser Geschlechtsunterschied erweist sich als derzeit ebenfalls noch widersprüchlich.
robust über unterschiedliche Beobachtungsset- Der Einfluss psychosozialer Faktoren lässt sich
tings hinweg (Bevölkerungs- und Behandlungs- daran erkennen, dass das Geschlechterverhält-
stichproben, kulturelle Kontexte). nis in den Depressionsraten in Abhängigkeit
Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Ar- entsprechender Merkmale (z. B. Familienstand,
tefakte wie unterschiedliches Inanspruchnahme- Berufstätigkeit) variiert. Spezifische Benachteili-
verhalten kein substanzielles Erklärungspotenzial gungen und psychosoziale Belastungen erhöhen
liefern. Bezüglich der genetischen Belastung ist für beide Geschlechter das Depressionsrisiko,
die Befundlage nicht eindeutig, ebenso wenig Frauen sind solchen Faktoren jedoch häufiger
wie die zur Frage potenziell unterschiedlich ausgesetzt. Hierzu zählen Armut, Fehlen von
relevanter Gen-Umwelt-Interaktion für Männer Macht, Status und Anerkennung, potenzielle
und Frauen. Genetische Einflüsse für Frauen Rollenüberlastung und sexueller Missbrauch.
und Männer überlappen sich nur teilweise. Un- Geschlechtsrollenaspekte äußern sich auch in
tersuchungen zu Depressionen in hormonellen intrapsychischen Faktoren, wie interpersonale
Umstellungsphasen (z. B. postpartal, perimeno- Orientierung, dispositionale Empathie, erhöhte
pausal) weisen vor allem auf Risikofaktoren wie Ängstlichkeit, verminderte Selbstsicherheit und
frühere Krankheitsepisoden und aktuelle psycho- ruminatives Grübeln, wie auch in einer erhöhten
soziale Stressfaktoren hin, während direkte Zu- Verletzbarkeit gegenüber interpersonellen und
sammenhänge mit endokrinen Variablen bislang Netzwerkstressoren. Geschlechtsrollenaspekte
nicht überzeugend dokumentiert sind. Hier mag scheinen weiterhin die endokrine Stressantwort
jedoch auch eine Rolle spielen, dass die metho- von Männern und Frauen zu modulieren, und
dische Basis zum reliablen Monitoring solcher es kann vermutet werden, dass diese sich auch
Parameter derzeit noch nicht den notwendigen auf der Ebene neurophysiologischer Aktivität
Voraussetzungen entspricht. Für die Übergangs- abbilden lassen. Schließlich beeinflussen ge-
phase der Pubertät wären Effekte hormoneller schlechtsspezifische Sozialisationsprozesse
Faktoren am plausibelsten im Rahmen eines das Erlernen und die Ausrichtung emotionaler
interaktiven Modells zu überprüfen, das das Zu- Reaktionen im Hinblick auf den Umgang mit ne-
sammenspiel mit wahrnehmbaren körperlichen gativen Stimmungen und Stressoren und tragen
Veränderungen, geschlechtsspezifischen intra- somit zur Erklärung der unterschiedlichen Risi-
psychischen Verarbeitungsmustern und sozialen ken für die Entwicklung von Internalisierungs-
Reaktionen beim Auseinanderdifferenzieren und Externalisierungsstörungen von Frauen und
von Geschlechtsrollen berücksichtigt. Befunde Männern bei.
346 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

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350 Kapitel 19 · Warum leiden mehr Frauen unter Depression?

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Stichwortverzeichnis
352 Stichwortverzeichnis

Androstenon 164, 166 Berufswahl 121


Symbole Angst 144–154, 202, 205, 217, Binge-eating-Störung (BED) 242
245, 303 Bipolare Störungen 332, 334
17-β-Östradiol 278, 311 Ängstlichkeit 341 Blasenfunktionsstörungen 264
5-Alpha-Dihydroxytestosteron Angststörung 144, 212, 218, 220, Blut-Hirn-Schranke 94
(DHT) 70 221, 228, 229, 334, 235, 341 brain-derived neurotrophic factor
β-Amyloid 285, 289 generalisierte 144 (BDNF) 35
β-Amyloidprotein 275 Angstträume 194 Bulbus olfactorius 168
Anlage-Diskussion 119 Bulimia nervosa 242
Anorexia nervosa 216, 242
Anosmie 166, 167
A Anpassung
prämorbide soziale und
C
Abdominalschmerzen 201 berufliche 302
ADHS 227–237 Anteriorer zingulärer Kortex (ACC) Carter-Effekt 255
Adrenalin 339 147, 152, 153 Cholinerges System 271
Affektive Störungen 228, 229 Antiandrogenbehandlung 137 Chromosomale Anomalien 135
Aggression 79, 192, 195 Antioxidative Wirkungen 271, 276 Chromosomen 4
Aggressiv-dissoziale Störungen Antisoziales Verhalten 79, 303 Compliance 308, 319
217 ApoE-Gen 291 Coping 265
Aggressives Verhalten 215, 288, Apolipoprotein E4 275 Corpus callosum 68, 230
307 Appetitzügler 244 Isthmus 92
Aggressivität 216 AR-Gen 70 Splenium 42
Agoraphobie 144 Arbeitsgedächtnis 111
Aktivierende Effekte 26 Ärger 146, 150, 151, 154, 245
Aktivierende Hormoneffekte 130 Artefakthypothese 335
Alkoholabhängigkeit 335 Attraktivität 244
D
Alkoholmissbrauch 216, 217, Atypische Depression 334, 339
307, 335 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperakti- D2-Rezeptorsensitivität 311
Alter 165 vitäts-Störung (ADHS) 224–226 DAX1-Gen 70
Altersparanoia 302 Aufmerksamkeitsdefizite 233 Defeminisierung 46
Altersverteilung 300 Aufmerksamkeitsstörungen 215 Degenerative Erkrankungen 270
Alzheimer-Demenz 284–291 Autismus 78 Deltaaktivität 179
Alzheimer-Erkrankung 275 Autismus-Spektrum-Störungen 78 Demenz 253, 284, 285
Amenorrhö 7 Autistisches Verhalten 214, 215 Dendrit 43
Amygdala 57, 68, 146–156 Autoimmunerkrankung 250, 260 Depressionen 67, 145, 202, 205,
mediale 58 Autosomale Gene 23, 71 212, 216–218, 220, 221, 251,
Amyloid-Precursor-Protein 289 Azoospermien-Faktor 135 252, 275, 288, 303, 337, 338,
Androgene 5, 10, 169 342, 343
Androgeninsensitivität-Syndrom atypische 334, 339
115, 131 saisonal abhängige 334
Androgenisierung 25
B unipolare 334
Androgenitales Syndrom 131 Depressive Episoden 339
CAH-Kinder 116 Bauchschmerzen 214, 215 Depressive Kernsymptome 334
Congenital andrenal hyper- Bed Nucleus der Stria terminalis Depressive Stimmung 245
plasia, CAH 116 58, 91,132 Depressive Störungen 332, 335,
Androgenrezeptor 8, 9, 70, 135 Belastungsstörung 341
Androstenol 167 posttraumatische 144 Diät 244
Stichwortverzeichnis
353 A–H

Dimorphismus EURODEM-Studie 286 H-Y Antigen 134


struktureller 321 Evolution 64 Gedächtnis 153, 155, 165, 284, 285
Diskrimination 164 Evoziertes Potenzial (EP) 99 emotionales 148
Disposition Expansive Störungen 227, 233, Gehirnanatomie 68
genetische 315 235 Gehirnentwicklung 67
Dissozial-aggressive Störungen Externalisierende Störungen 216, Gehirngröße 88
218, 220, 221 220, 221, 303 Gender 4
Dissoziale Persönlichkeitsstörung Extrapyramidale Nebenwirkungen Gendosis 73, 75
212 321 Gene 64, 67
Dissoziale Störungen 221 auf dem X-Chromosom 72,
Disziplinschwierigkeiten 217 73, 76
Diuretika 244 auf dem Y-Chromosom 71
Dopamin 36, 273, 311
F autosomale 23, 71
Dopaminerges Neurotransmitter- Generalisierte Angststörung 144
system 230, 232, 310 Fähigkeiten Genetische Disposition 315
Dopaminrezeptoren 322 räumliche 65 Genetische Faktoren 335
Dorsolateraler Präfrontalkortex soziale und empathische 65 Genetische Unterschiede 169
(DLPFC) 147, 152, 153, 154 verbale 65 Genexpression 21, 67
Drogenabhängigkeit 335 Fatigue-Symptomatik 252 Genomische Effekte 271
Drogenmissbrauch 335 Fehldiagnosen 265 Genomische Prozesse 8
Druck 203 Feinmotorik Geruch 162
Druckreiz 203 Finger-tapping-Aufgabe 113 Geruchsschwellen 163
Durchschlafstörungen 216 Grooved-pegboard-Test 112 Geruchswahrnehmung 162
Dyskinesien Purdue-pegboard-Test 112 Gesamtprävalenz psychischer
tardive 321 Zielgerichtetes Werfen 113 Störungen 213
Dysthyme Störungen 145, 332 Feminisierung 46 Gesangsystem 31
Fibromyalgie 12, 201 Geschlechterrollen 118, 206, 342,
Fingerlängenverhältnis 344
(2D:4D-Verhältnis) 133 Geschlechterverhältnis 227
E Fragile-X-Syndrom 73 Geschlechtschromosomen 64, 69
Freie Radikale 273, 276 Geschlechtsdysphorie 126
Ekel 144, 145, 148, 150, 152 Freude 146, 150, 151, 154 Geschlechtsidentität
Elektroenzephalogramm (EEG) Frontostriatale Areale 230, 231 Geschlechtsidentitätsstörung
99 Frontotemporale Demenz 291 (GIS) 126
Emotionales Gedächtnis 148 FSH 185 Geschlechtsstereotypen
Emotionale Mimik 147, 150, 155 funktionelle Magnetresonanzto- Stereotypenaktivierung 120
Emotionserkennung 147 mographie (fMRT) 147–154 stereotype threat 118
Emotionsregulation 245 Fusiformer Gyrus 152 Geschlechtsumwandlung 126
Entmarkungserkrankung 250 Glia 44
Entwicklungsverzögerungen Globus pallidus 230
231, 304 Gyrus fusiformis 154, 156
Erbrechen 244
G
Erektile Dysfunktion 264
Erinnerung an emotionale Reize Galanin 246
152 Geburt 314
H
Ersterkrankungsalter 299, 300 Geburtenreihenfolge
Essstörung 212, 218, 242 Geschlechterverhältnis der Halluzinationen 288, 305
Essverhalten 242, 245 Geschwister 134 Händigkeit 92
354 Stichwortverzeichnis

Häusliche Gewalt 344 Hyperkinetische Störungen Knabenlastigkeit 227


Hebephrener Subtyp 307 214–218 Kognitive Leistungseinbußen
Hedonische Valenz 164 Hyperkortisolismus 339 286, 287
Hemisphärenasymmetrie 115 Hypersomnie 183 Kognitive Störungen 252, 264,
Heritabilität 66, 336 Hypogonadismus 6 265
Heterosexuell 93 Hypogonadotroper Hypo- Kognitive Unterschiede 170
Hippokampus 43, 57, 147, 153, gonadismus 116, 136 Kommissur 92
311, 322 Hypoöstrogenismus 312 Komplikationen der Schizophrenie
CA1 58 Hypophyse 29 307
Hirnentwicklung 231 Hypothalamus 26, 44, 68 Kontaktstörungen 214
Hirnentwicklungsstörungen 322 mediobasaler 55 Kontinuitätshypothese 195
Hirninfarkte 271 Nucleus ventromedialis 56 Kopfschmerzen 201, 216, 217
Höheres Lebensalter 302, 323 Hypothalamus-Hypophyse- Körpergeruch 164, 167
Homosexualität Gonaden-Achse 6, 7 Kortex 68
s. auch Sexuelle Orientierung Hypothalamus-Hypophysen- Kortikosteroide 259
126 Nebennierenrinden-Achse 7, Kortisol 260, 339, 340
Homosexuell 93 11, 260, 337, 339 Krankheitsverhalten 309, 316,
Hormone 24 317
Androgene 26, 95 Krankheitsverlauf 334
Anti-Müllersches Hormon (AMH)
25
I
Aromatase 32
DHT 45 Identifikation 164
L
follikelstimulierendes Hormon Immunsystem 23, 260
(FSH) 98 Impulsivität 225, 226 Labyrinthlernen 110
LH 42 Inhibition 229 Langzeitverlauf 318, 319
LHRH 44 Insomnie 180 Lateralisation 97, 154, 322
Östradiol s. Östradiol Insula 147, 148, 150, 151, 152, Lateralisierte Verarbeitung 146
Östrogene s. Östrogen 153, 154 Laxanzien 244
Progesteron s. Progesteron Intelligenz 90 Lebensalter, hohes 302, 323
Steroide 56 nonverbale 215 Legasthenie 228, 229
Testosteron s. Testosteron verbalen 215 Lese- und Schreibschwäche 229
Vasopressin 27 Interferon-γ 13 LH 185
Hormonelle Kontrazeptiva 263 Internalisierende Störungen 216, Limbisches System 94
Hormonersatztherapie 270, 273, 218, 220, 221, 303 Linkshändigkeit 92
274, 277 Interpersoneller Stress 343 Long Term Potentiation (LTP) 43
Catechol-O-Methyltransferase Interpersonelle Orientierung 341 Lordose 45
135 Inzidenz 285 Reflex 25
Gegengeschlechtliche Hormon- IQ-Test 90 Luteinisierendes Hormons (LH)
behandlung 136 131
Langzeitbehandlung 136
Hormonmetabolite 271
Hormonrezeptorkomplex 272
K
Hyperaktiv-impulsives Verhalten
M
235 Kallmann-Syndrom 169
Hyperaktiv-impulsive Sympto- Kardiovaskuläre Erkrankung 277 Magnetresonanztomographie
matik 227, 233 Karrierechance 244 322
Hyperaktivität 225 Klinefelter-Syndrom 116 Majore depressive Episoden 332
Stichwortverzeichnis
355 H–P

Mannheimer Kurpfalzerhebung Olfaktorische Fähigkeiten 162,


213 N 165, 168, 169, 171
Mannheimer Längsschnittstudien Olfaktorische Sensibilität 163
213 Nackenschmerzen 201 Opiatanalgesie 205
Mannheimer Risikokinderstudie Nägelkauen 214 Opioide 205
213 Narkolepsie 183 Oppositionelles Verhalten 228,
Männlich-spezifische Region (MSR) Nasale Luftwege 168 235
69 Nasenhöhle 168 Orbitofrontaler Kortex (OFC) 146,
Maskulinisierung 46 Nebenwirkungen 147, 152
Massa intermedia 68 extrapyramidale 321 Organisierende Effekte 9, 26
Mathematische Fähigkeiten Negative Symptomatik 305, 308 Organisierende Hormoneffekte
Geometrie 114 Neokortex 68, 88 130
Numerische Kalkulation 114 Nervus Vagus 94 Orientierungsleistungen 287
Statistik 114 Neurofibrillen 287 Ortsgedächtnis von Objekten
Wahrscheinlichkeitsrechnung Neurofibrillenbündel 285 Object-location memory-Test
114 Neurogenese 55 109
Medialer präoptischer Nukleus Neuroimaging 144–157 Orientierung und Landmarken
(MPNc) 132 Neuroleptikabehandlung 319, 109
Mediales präoptisches Areal 21 320 Östradiol 5, 6, 7, 14, 26, 71, 117,
präoptische Areal des Neuron 44 185, 202, 245, 246, 263, 277, 288
Hypothalamus 22 Neuropeptid Y 246 Östriol 263
Medikation Neuroprotektive Wirkung 278, Östrogen 5, 10, 25, 169, 204,
neuroleptische 319 289, 311 263, 270–278, 288, 289, 304,
Melatonin 176, 177, 186 Neuropsychologie 306 310–321, 337–340
Menarche 337 Neurotransmitter positiver Feedback-Effekt 131
Menopause 7, 136, 186, 300, Adrenalin 94 Östrogenbehandlung 137, 313,
311, 320, 338 Dopamin 48 339
Menstruationszyklus 6, 10, 117, GABA 49 Östrogenersatztherapie 275, 276,
136, 166, 169, 170, 185, 202, Glutamat 49 314, 339
204, 264, 271, 312, 320 Noradrenalin 48, 94 Östrogenrezeptoren 8, 9, 271,
Östrus 43 Serotonin 48 311, 337
Mentale Rotation 90 Nicht-genomische Wirkungen ER-alpha 130
Charakteristika der Aufgabe 8, 271 ER-beta 130
108 Nichtraucher 171 Östrogenrezeptor-α 130, 271
Mentaler Rotationstest 108 Nonverbale Intelligenz 215 Östrogenrezeptor-β 130, 271
Zeitzwang 108 Norepinephrin 311 Östrogensubstitution 277, 278,
Methylphenidat 234 Nucleus arcuatus 46 289
Migräne 275 Nucleus interstitialis des Ovarektomie (Ovariektomie) 9,
Migrationsinhibitionsfaktor 13 anterioren Hypothalamus 277, 278
Mimik 96 Oxytozin 337, 340
emotionale 147, 150, 155
Monatszyklus 6
Morbiditätsrisiko 298, 299, 302
Morbus Parkinson 35, 276
O P
Mortalität 178
MTA-Studie 234, 235 Olfaktorisches Epithel 168 Panikstörung 144
Müllerscher Gang 24 Olfaktorisches System 169 Parasomnien 184
Multiple Sklerose (MS) 250–265 Olfaktorische Agnosie 165 Parkinson-Erkrankung 276
356 Stichwortverzeichnis

Perimenopause 339 Schlafstörungen 180, 202


Peripheres Nervensystem 94 Q Schlafstruktur 179
Pheromon 93, 168 Schlaganfall 274, 277, 278
Physisches Erscheinungsbild Quantitative Trait Loci (QTL) 76, Schlankheitsdruck 243, 246
attraktives Äußeres 129 78 Schmerz 11, 22, 200, 206
Planum temporale 90, 322 Schmerzbewältigung 205
Plaques 285, 287 Schmerzen 202
Polymorphe Mutationen 135 Schulterschmerzen 201
Positive Symptomatik 307,
R Schwangerschaft 6, 169, 185,
308 260, 262, 313, 314
Positronenemissionstomo- Raucher 171 Schwangerschafts- und Geburts-
graphie (PET) 147, 150, 151, Räumliche Kognition 97 komplikationen 231
152, 154, 230 Räumliche Visualisierung Seitenventrikel 322
Postmenopausale Frauen 6 Hidden Figures 107 Selbstwertgefühl 244
Postmenopause 275 Paper-folding-Test 107 selective male affliction theory
Postpartumdepression 338 Räumliche Wahrnehmung 231
Postpartumpsychosen 314 Einparken 120 Serotonin 311
Posttraumatische Belastungs- Rod-and-frame-Test 107 Serotoninmangel 336
störung 144 Wasserlevel-Test 107 Serotonintransportergen 336
Präfrontaler Kortex 94, 146, 230 Redoxprozesse 271 Sexualdimorphismen 115
Prämenstruelles dysphorisches Regulationsprobleme 214 Sexualfunktionsstörungen 264
Syndrom 338 Reizdarm 201 Sexualhormon
Prämorbiden soziale und beruf- REM-Schlaf 179 Aktivierende Effekte 115
liche Anpassung 302 Restless-leg-Syndrom (RLS) 181 Geschlechtshormonelle
Pränatal 90 Retardierung Anomalien 117
Präoptisches Areal 44 geistige 72 Hormonschwankungen bei
Präoptische Region 91 Rett-Syndrom 79 Männern 118
Prävalenz 285 Rollen Organisierende Effekte 115
Prävalenzraten 227 soziale 316 Sexualität 192, 195
Prävention 313 Rollenüberlastungen 343 Sexually dimorphic nucleus des
Progesteron 28, 45, 97, 185, Rückenmark 91 POA (SDN-POA) 95
276–278, 337, 338, 340 Rückzugstendenzen 288 Sexueller Missbrauch 344
Progesteronrezeptoren 132 Rumination 341, 342 Sexuelle Orientierung (s. auch
Prostaglandin 48 Homosexualität) 132
PGE2 47 Sexuell dimorpher Nukleus 132
Psychoedukation 234 im präoptischen Areal 43
Psychopathologie 273
S Sildenafil (Viagra) 264
Psychoserisiko 311 skewed inactivation 76
Psychosomatische Störungen Saisonal abhängigen Depression Somatoforme Störung 212
218, 221 334 Soziale Rollen 316
Psychosoziale Belastungsfaktoren Schizophrenie 165, 167, 272, 273, Sozialverhalten 309
339 298–324 Spielpräferenzen 127
Psychosoziale Faktoren 338 Schlaf 176 Spinaler Nukleus des Bulbocaver-
Psychosoziale Stressoren 218, Schlafapnoe-Syndrom (OSAS) nosus (SNB) 26
342 181 Spine 43
Pubertät 303, 337 Schlafdauer 178 Sprachentwicklung 215
Putamen 153 Schlafeffizienz 178 Sprachleistungen 287
Pyramidalneuronen 43 Schlafstadien 179 SRY-Gen 64, 69, 70, 72, 130
Stichwortverzeichnis
357 P–W

Stereotypien 215 Unaufmerksamkeitssymptome


Steroidresponsive Elemente 272 T 228
Stillen 262 Unipolare Depressionen 334
Störungen 216 Tagesschläfrigkeit 183
affektive 228, 229 Tardive Dyskinesien 321
aggressiv-dissoziale 217 Tau-Protein 285
bipolare 334 Teilleistungsstörungen 229
V
depressive 212, 332, 335, 341 Temperament
der Ejakulation 264 Affektregulation 130 Vaginale Lubrikation 264
der Orgasmusfähigkeit 264 Ängstlichkeit 129 Vaskuläre Demenz 291
des Sozialverhaltens 215, 216, Eltern-Kind-Beziehung 130 Verarbeitung
218, 228, 235 Temperamentsauffälligkeiten lateralisierte 146
dissozial-aggressive 218, 221 214 Verbales Gedächtnis 110, 111
durch Substanzgebrauch 212, Temperaturrhythmus 176 Verbale Fähigkeiten
216, 218, 220, 221 Temporomandibuläres Schmerz- Wortflüssigkeit 110
dysthyme 332 syndrom 201 Verbale Intelligenz 215
expansive 227, 233, 235 Testbatterie zur Aufmerksamkeits- Verbale Kognition 97
externalisierende 216, 220, überprüfung 233 Verbale Kreativität 110
221, 303 Testosteron 5, 6, 7, 14, 22, 70, 71, Verdauungsstörungen 214
hyperkinetische 214–218 79, 117, 128, 202, 205, 232, 340 Verhalten
internalisierende 216, 218, 220, Tiefschlaf 179 aggressives 215, 291, 307
221, 303 Tierphobien 144 antisoziales 79, 303
kognitive 252, 264, 265 Transkranielle Magnetstimulation autistisches 214, 215
psychosomatische 218, 221 99 hyperaktiv-impulsives 235
somatoforme 212 Transsexualität 118, 126 oppositionelles 235
Stress 11, 57, 245, 259, 260, 336, Trauer 148, 150 Verhaltensanomalien 304
340, 343 Traum 190 Verhaltenstherapie 234
Stresshormone 57 Traumatische Hirnverletzungen Verminderte Libido 264
Stressoren 276 Visuell-räumliche Aufgaben 132
psychosoziale 218 Traumemotionen 193 Vomeronasalorgan 93, 168
Struktureller Dimorphismus 321 Traumerinnerung 190, 191, 192 Vorderhirn 57
Substantia nigra 35 Trauminhalt 192 Vorstellungen von Gerüchen
Substanz Traurigkeit 146, 148, 150, 151, 170
graue 68 154 Verbale Fähigkeiten 132
weiße 68 Trotzverhalten
Substanzabusus 229 oppositionelles 228
Substanzmissbrauch 303, 307, 341 Turner-Syndrom 78, 116
Subtyp
W
hebephrener 307
Suizid 265 Wachstumshormon 271
Sulcus centralis 91
U Wahn 288
Symptome Wahnsymptome 305
negative 305, 308 Überaktivität 226 Wahrnehmungsgeschwindigkeit
positive 307, 308 Überlebensdauer 285 Zahlen-Symbol-Test 112
Synapsen 95 Überweiser-Bias 228 Wechsler IQ-Test 90
Synaptogenese 55 Umwelt 67 Wirkung
System Umwelt-Diskussion 119 neuroprotektive 311
dopaminerges 310 Unaufmerksamkeit 224, 225 Wolffscher Gang 24
358 Stichwortverzeichnis

X
X-Chromosom
Rot-Grün-Blindheit 23
XmO 37
XO 27
XpO 37
XXY 30
X-chromosomale Gene 73, 76
X-Gene 23
X-Inaktivierung 73, 74, 75, 76

Y
Y-Chromosom 23
Sry 28
XY’ 36
Y-chromosomale Gene 71

Z
Zebrafink 31
Zeitliche Summation 204
Zentrale Sensitivierung 204
Zerebellum 43, 89
Zerebrale Asymmetrien 88
Zirkadianer Schlaf-Wach-Rhythmus
176
Zwillingspaare 76, 78
Zwillingsstudien 76
Zwischenhirn 57
Zyklus
menstrueller s. Menstruations-
zyklus
Zytokine 13

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