Eine Schildkröte bat einen Adler, ihr Unterricht im Fliegen zu geben. Der Adler suchte es ihr auszureden, aber je mehr er sich bemühte, ihr das Törichte ihres Wunsches klarzumachen, desto mehr beharrte sie darauf. Ihrer dringenden Bitten müde, nahm der Adler sie endlich in die Luft und ließ sie ungefähr turmhoch herabstürzen; zerschmettert lag sie auf der Erde und musste so ihre Torheit büßen. Trachte nicht nach Dingen, die die Natur dir versagt hat; was die Natur versagt, kann niemand geben.
La Fontaine: Der Wolf und das Lamm
Der Starke hat immer recht. Das werden wir sogleich sehen. Ein Lamm löschte seinen Durst in einem klaren Bache. Dabei wurde es von einem hungrigen Wolf überrascht. »Wie kannst du es wagen«, rief er wütend, »mir meinen Trank zu trüben? Für diese Frechheit musst du bestraft werden!« »Ach, mein Herr«, antwortete das Lamm, »seien Sie bitte nicht böse. Ich trinke ja zwanzig Schritte unterhalb von Ihnen. Daher kann ich Ihnen das Wasser gar nicht trüben.« »Du tust es aber doch!« sagte der grausame Wolf. »Und außerdem weiß ich, dass du im vergangenen Jahre schlecht von mir geredet hast.« »Wie soll ich das wohl getan haben«, erwiderte das Lamm, »ich war da ja noch gar nicht geboren.« »Wenn du es nicht tatest, dann tat es dein Bruder!« »Ich habe aber keinen Bruder.« »Dann war es eben irgendein anderer aus deiner Familie. Ihr habt es überhaupt immer auf mich abgesehen, ihr, eure Hirten und eure Hunde. Dafür muss ich mich rächen.« Mit diesen Worten packte der Wolf das Lamm, schleppte es in den Wald und fraß es einfach auf.
Lessing: Der Rabe und der Fuchs
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbarn hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!" "Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. "Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?" Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. "Ich muss", dachte er, "den Fuchs aus diesem Irrtum nicht bringen." - Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl: Das Gift fing an zu wirken, und er verreckte. Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler! Gellert: Der Tod der Fliege und der Mücke Der Tod der Fliege heißt mich dichten; Der Tod der Mücke heischt mein Lied. Und kläglich will ich dir berichten, Wie jene starb, und die verschied.
Sie setzte sich, die junge Fliege,
Voll Mut auf einen Becher Wein; Entschloss sich, tat drei gute Züge, Und sank vor Lust ins Glas hinein.
Die Mücke sah die Freundin liegen.
„Dies Grabmal“, sprach sie, „will ich scheun“, Am Lichte will ich mich vergnügen, Und nicht an einem Becher Wein.
Allein verblendet von dem Scheine,
Ging sie der Lust so eifrig nach; Verbrannte sich die kleinen Beine, Und starb nach einem kurzen Ach.
Ihr, die ihr euren Trieb zu nähren,
In dem Vergnügen selbst verdarbt! Ruht wohl, und lasst' zu euren Ehren Mich sagen, dass ihr menschlich starbt
Fabeln und Parabeln: 60 Fantastische Geschichten: Der Glücks- und Unglücksbaum, Edelmann und Nußkern, Des Teufels Jahrmarktstand, Fuchs und Rabe, Der Lügenbach, Löwe und Maus, Satyr und Wandrer, Wolf und Lamm…
Fabeln & Parabeln: 60 Fantastische Geschichten in einem Band: Der Glücks- und Unglücksbaum, Edelmann und Nußkern, Des Teufels Jahrmarktstand, Fuchs und Rabe