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Forum Psychoanal (2009) 25:311–321

DOI 10.1007/s00451-009-0023-y

Originalarbeit

Psychoanalyse und Psychotherapie, Bildung


und Erziehung

Jürgen Körner

Online publiziert: 4. November 2009


© Springer-Verlag 2009

Zusammenfassung Psychotherapie und Psychoanalyse bilden vor allem im deutschspra-


chigen Raum einen ähnlichen Gegensatz wie Erziehung und Bildung: Psychotherapie und
Erziehung wirken absichtsvoll und zielgerichtet auf einen Patienten oder Zögling ein,
während Psychoanalyse und Bildung das Ideal eines von äußeren Einflüssen weitgehend
freien Entwicklungsprozesses verfolgen. Der vorliegende Beitrag soll zeigen, dass diese
Gegensatzpaare künstlich in Extreme zerlegt worden sind. Beide sollen folgende Paradoxa
lösen: das pädagogische Paradoxon „Wie ist Freiheit möglich bei dem Zwange?“ und das
psychoanalytische Paradoxon „Wie ist Unabhängigkeit möglich bei dieser Abhängigkeit?“
Es könnte aber gelingen, den unfruchtbaren Gegensatz in beiden Fällen zu überwinden
und das jeweils gefürchtete Paradoxon in der Schwebe zu halten.

Psychoanalysis and psychotherapy, education and “Bildung”

Abstract Psychotherapy and psychoanalysis form a contrast – in particular in German-


speaking countries – comparable to that between education and “Bildung”: psychotherapy
and education intentionally and purposefully influence the patient or pupil whereas psy-
choanalysis and “Bildung” pursue the ideal of a development process which is to a great
extent free from outside influences. The present paper aims to show that these seemingly
contrasting pairs have been artificially differentiated into extremes. Both are supposed to
solve the following paradoxes: the educational paradox “How is freedom possible under
constraint?” and the psychoanalytical paradox “How is independence possible under
dependency?” It might, however, be possible to overcome the unfruitful contrast in both
cases and to keep the feared paradox in abeyance.

Prof. Dr. disc. pol. J. Körner ()


International Psychoanalytic University Berlin, Stromstr. 3, 10555 Berlin, Deutschland
E-Mail: juergen.Koerner@ipu-berlin.de

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Im Jahr 1967 wurde die Psychoanalytische Behandlung seelisch kranker Menschen in das
kassenärztliche Versorgungssystem übernommen. Die Psychotherapie-Richtlinie definierte
zwei „psychoanalytisch begründete Verfahren“, nämlich die „analytische Psychotherapie“
und die „tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie“ (TFP). Sie legte Indikationen,
methodische Varianten und zeitliche Begrenzungen fest. Die Analytiker jener Zeit reagier-
ten zwiespältig. Einerseits begrüßten sie die Einbindung in das kassenärztliche Versorgungs-
system mit den Vorteilen einer Gebührenordnung, einer sich abzeichnenden Monopolstel-
lung mit Ausschluss ausdrücklich nichtzugelassener psychotherapeutischer Verfahren und
der nahe liegenden Aussicht, dass auch breitere, materiell weniger gut gestellte Schichten
zukünftig von der Psychoanalyse profitieren könnten. Andererseits mussten sie unliebsame
Einschränkungen hinnehmen: das Antragsverfahren, die notwendige Indikationsstellung
und die Einschränkung des Spektrums behandelbarer seelischer Krankheiten. Zum Beispiel
wurden Beziehungsstörungen ausdrücklich ausgeschlossen, wenn sie nicht ursächlich mit
einer krankhaften Veränderung des seelischen oder körperlichen Zustandes eines Menschen
verknüpft waren. Das meiste Unbehagen aber bereitete wohl die Beschränkung der Behand-
lungsstunden auf 240, in Ausnahmefällen auch 300 Stunden bei analytischer Psychothera-
pie, auf 80, in Ausnahmefällen auf 100 Stunden im Fall einer TFP. Zu dieser Begrenzung
trat später auch eine Begrenzung der Stundenfrequenz hinzu, sodass heute eine vierstün-
dige analytische Behandlung nur für einen begrenzten Behandlungsabschnitt und nur unter
besonderen Voraussetzungen erlaubt ist.
Dass die Psychotherapie-Richtlinien die analytische Behandlung „analytische Psycho-
therapie“ und nicht „Psychoanalyse“ nannten, mag von einigen Analytikern schmerzlich
empfunden worden sein. Die Mehrheit aber begrüßte diesen Verzicht, weil so der Begriff
„Psychoanalyse“ frei blieb und gegen die „kassenfinanzierte“ analytische Psychotherapie
– und erst recht gegen die psychoanalytisch fundierte Psychotherapie – abgegrenzt wer-
den konnte. Der Begriff „Psychoanalyse“ wurde so zu einem Siegel für eine „strenge“,
„tendenzlose Psychoanalyse“ (Freud 1919, S. 192), frei von suggestiven, manipulativen
oder erzieherischen Einflüssen des Analytikers, der seine Deutungen auf das Unbewusste in
der Übertragungsbeziehung fokussiert und dem Analysanden die Freiheit lässt, in eigenem
Tempo seine Ziele auszuwählen und zu verfolgen. Analytische Psychotherapie hingegen
unterliegt dem „Anspruch auf Heilung“ (Schneider o. J.), das folgt schon aus der Einbin-
dung in das Gesundheitssystem und den dort herrschenden Kosten-Nutzen-Rechnungen.
Die Begrenzung der zeitlichen Dauer auf maximal 300 Stunden erzwinge, so die Befürch-
tung, Modifikationen der Behandlungstechnik, die der Idee einer „ziellosen“ Behandlung
(Dreyer 2006) zuwiderliefen. Das Erfordernis einer Zielstellung erzwingt eine analytische
Technik, die auf die Erreichung von angebbaren Zielen hin orientiert ist, auf diesem Wege
zum Beispiel tiefe Regressionen vermeiden müsse und dem Analysanden nicht mehr gestat-
ten könne, sich selbst frei von äußeren Zwängen zu erforschen.
Diese Unterschiede werden umso bedeutungsvoller, wenn es nicht nur um die Unter-
scheidung zwischen Psychoanalyse und analytischer Psychotherapie, sondern um die zwi-
schen Psychoanalyse und TFP geht. Denn diese schließt – je nach gewählter Variante – aus-
drücklich edukative und supportive Techniken ein, mit denen der Therapeut seinen Patienten
anregt und ihm hilft, Ziele zu verfolgen, die er nicht unbedingt selbst entwickelt hat.
Die Unterschiede zwischen Psychoanalyse und analytischer Psychotherapie und insbe-
sondere der TFP werden von den Analytikern sehr hoch gewichtet. Einige Autoren glauben,

  Letzte Fassung vom 19.02.2009, gemeinsamer Bundesausschuss gemäß § 91 SGB V.


  Dietiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wurde ja maßgeblich von Heigl-Evers konzeptualisiert
(Heigl Evers u. Ott 1998).

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die therapeutische Haltung des Analytikers lasse sich so wenig mit der eines tiefenpsycholo-
gisch arbeitenden Psychotherapeuten vereinbaren, dass eine „Identitätsdiffusion“ (Schnei-
der a.a.O., vgl. auch Vogt 2002) zu befürchten sei. Das mag ein wesentlicher Grund dafür
sein, dass die psychoanalytischen Fachgesellschaften in Deutschland die Ausbildung zum
tiefenpsychologischen Psychotherapeuten als einen eigenständigen Studiengang an ihren
Instituten zunächst ablehnten, dann mehr oder weniger stillschweigend duldeten oder nur
in Form einer Integration in die analytische Ausbildung betrieben. Tiefenpsychologische
Psychotherapeuten werden zurzeit nicht als Mitglieder der analytischen Fachgesellschaften
aufgenommen, selbst dann nicht, wenn sie ausschließlich von Analytikern in einer separaten
Ausbildung an einem analytischen Institut ausgebildet wurden.
Gewiss gibt es zahlreiche Gründe, die Unterscheidung zwischen Psychoanalyse und Psy-
chotherapie (und erst recht TFP) zu betonen: fachliche, ausbildungsbezogene, die sich zum
Beispiel auf die nur geringe Selbsterfahrung der TFP-Kandidaten bezieht, und berufspoli-
tische, die befürchten, dass die kostengünstigere TFP aus rein ökonomischen Gründen Vor-
teile erringen könnte. Diese Gründe sollen hier nicht weiter zur Debatte stehen. Untersucht
werden soll vielmehr, inwieweit andere, sachfremde Gründe in der Auseinandersetzung um
die Unterschiede zwischen Psychoanalyse und Psychotherapie Einfluss genommen haben
und noch nehmen, wie zum Beispiel die idealistische Vorstellung von einem sich frei ent-
faltenden Subjekt, das in der psychoanalytischen Situation eine „tendenzlose“ Umgebung
vorfindet, die ihm erlaubt, sich selbst zu entwickeln und eigene Ziele zu verfolgen. Der-
artige Ideen wären dann automatisch mit Werturteilen verknüpft: Selbstverständlich wäre
die „reine“ Psychoanalyse dann die „echte“ oder „wahre“, eben das „Gold“ der analytischen
Arbeit (Freud 1919, S. 193), das von dem „Kupfer“ suggestiver Beeinflussung sorgfältig
geschieden werden muss.
Die Frage ist also, ob bei den unterschiedlichen Auffassungen über die Verschiedenheit
von Psychoanalyse und Psychotherapie nicht nur fachliche, berufspolitische und materielle
Gründe zum Tragen kommen, sondern auch solche, die in unterschiedlichen Auffassungen
über das menschliche Subjekt, seine Entwicklung und seine Veränderung ruhen. Um dieser
Frage nachzugehen, soll ein Vergleich zu einer sehr ähnlichen Kontroverse gewagt werden,
nämlich zu der Auseinandersetzung um den Unterschied zwischen Bildung und Erziehung.
Auch auf diesem Feld nämlich geht es seit Langem schon um die Frage, wie Menschen ihre
Individualität entwickeln, wie sie ihre Ziele bilden und wie sie die Hindernisse auf ihrem
Lebensweg bewältigen: Bildung als Selbstentwicklung, Selbstentfaltung und Erziehung als
zielgerichteter absichtsvoller Prozess der Einflussnahme mit pädagogischen Methoden.

Bildung und Erziehung

Die Diskussion über den Unterschied von Bildung und Erziehung ist eine „typisch deut-
sche“ Debatte, und der Begriff der Bildung ist kaum in eine andere Sprache übersetzbar. Er
taucht im deutschen Idealismus erstmals auf, aber seine Wurzeln reichen bis in die Renais-
sance zurück.
Als Vorläufer erschien im 14. Jahrhundert das Wort „bildunge“ im Wortschatz deutscher
Mystiker als Symbol der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Naumann 2006, S. 24). Im
allgemeinen Sprachgebrauch aber tauchte der Bildungsbegriff erst Ende des 18. Jahrhun-
derts auf, damals erschien Bildung als Vervollkommnung des Menschen, der als kultiviertes
Individuum nicht mehr die Gottesebenbildlichkeit anstrebt, sondern sich selbst zum Gegen-
stand der Bildung macht. Das Ich wurde zum eigenen Werk des Subjektes: Ich bilde mich!

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Ziele der Bildung wurden also das sich selbst bestimmende Individuum und seine vollkom-
mene Persönlichkeit.
Als Meilenstein gilt die 1810 von Humboldt gegründete Universität im Geiste Fichtes,
Schleiermachers und Schellings. Diese erste moderne Bildungsanstalt zog gegenüber der
alten Universität des 17. und 18. Jahrhunderts zweierlei Grenzen: In Überwindung der mit-
telalterlichen Vorstellung von einer Universität, die vor allem das bestehende (theologische)
Wissen zu archivieren und zu bestätigen hatte, sollte die moderne Universität zur Refle-
xivität anregen; wissenschaftliche Erkenntnis sollte sich im Zweifel an der Wahrheit und
in der Begründungspflicht der Behauptungen erweisen. Deswegen wurde die Philosophie
zur Königsdisziplin und Grundlage für Juristen, Mediziner und natürlich auch Theologen.
Zweitens ermöglichten die modernen Bildungsziele jener Zeit – der Zweifel an der Wahr-
heit statt Affirmation des immer schon Verkündeten, die Begründungspflicht wissenschaft-
licher Behauptungen – zunächst einen gewaltigen Aufschwung der Wissenschaften im alten
Europa. Dies galt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Bis dahin umfasste der Bildungsbe-
griff in Anlehnung an Schillers ästhetische Erziehung nicht nur eine „Freiheit des Herzens,
des Wissens, der ästhetischen Empfindsamkeit“ (Naumann a.a.O., S. 23), sondern auch poli-
tisches Interesse und wirtschaftliche Tüchtigkeit – und ermöglichte und förderte den moder-
nen Kapitalismus. Aber diese Synthese zerfiel Anfang des 20. Jahrhunderts. Bildung wurde
wieder zur ästhetischen, musischen und künstlerischen – vielleicht auch historischen – Bil-
dung, aber sie trennte sich von Ökonomie und Technik. Der Anspruch der Ökonomie und
der Technik aber zielten und zielen bis heute nicht auf Bildung, sondern auf Erziehung.
Freilich war auch im deutschen Idealismus nicht daran zu denken, diesen Bildungsbe-
griff auf das gemeine Volk anzuwenden. Schon die Vorstellung von einem kontemplativen,
ästhetisch gebildeten Individuum setzt stillschweigend voraus, dass es Menschen geben
muss, die auch die Zeit und Muße haben, ein solches Bildungsniveau zu erreichen, wie
Ilien (2004) bemerkt. Trotzdem blieb der Bildungsbegriff erhalten, aber er behielt gerade
auch im Kontrast zu dem nun aufkommenden Begriff der Erziehung seine tendenziell eli-
täre Ausrichtung. Es entstand eine klar erkennbare Hierarchie: Bildung ist das Streben des
ästhetisch empfindsamen Individuums nach Vollkommenheit und freier Selbstbestimmung,
Erziehung ist der Versuch, anderen Menschen etwas „beizubringen“, vorgegebene Ziele mit
ausgesuchten Mitteln zu verfolgen.
Diese Hierarchie von Bildung und Erziehung wurde scheinbar durch Kants Schrift über
Pädagogik, die 1804 posthum erschien, philosophisch begründet. Kant unterschied zwischen
einzelnen pädagogischen Zielen: Disziplinierung oder „Zucht“, Kultivierung, Zivilisierung
und Moralisierung. Das höchste Ziel, die Moralisierung, wäre mit dem heutigen Begriff
der „Bildung“ gleichzusetzen. Folgenreich ist nun, dass die pädagogischen Methoden je
nach pädagogischem Ziel unterschiedlich sein müssen. Während das Ziel der „Zucht“ über
absichtsvolle Eingriffe in die noch verständnislose Persönlichkeit eines Kindes zu erreichen
wäre, ist das Erziehungsziel der „Moralisierung“, also Bildung, eigentlich nicht intentional
erreichbar. Denn das Individuum soll sich selbst moralisieren, der Pädagoge, zu Deutsch
„Knabenführer“, kann ihn dabei nur begleiten, kann ihm auch ein Gegenüber sein. Aber er
kann ihm seine Ziele nicht vorgeben.
Auch sprachlich wird der Gegensatz von Erziehung und Bildung sinnfällig. Das Verb
„erziehen“ ist transitiv, es fordert also ein Objekt, und man kann sich nicht gut selbst erzie-
hen. „Bilden“ hingegen ist intransitiv, man kann nicht jemanden bilden, und es ist reflexiv:
Ich bilde mich selbst.
Die Dichotomie von erziehen und sich bilden prägt die pädagogische Landschaft bis
heute. Wir erkennen sie im zweigliedrigen Schulsystem wieder, das – in älterer Diktion
– mit der „Volksschule“ beginnt, woran sich für begabte und geförderte Schüler die „höhere

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Schule“ anschließen kann. Das Erziehen und das (Sich-)Bilden folgen in dieser Vorstellung
immer zeitlich nacheinander: Erst muss erzogen werden, dann kann der Zögling die Chance
ergreifen, sich zu bilden.
Man kann die Konzepte von der „Zucht“ (heute sprechen wir von Erziehung) und Bil-
dung auch daraufhin untersuchen, wie sie das Kernproblem jeder Pädagogik zu lösen ver-
suchen: Wie kann es gelingen, durch gezielten, vielleicht gar erzwungenen Einfluss die
freie Selbstentwicklung, die Unabhängigkeit, die Mündigkeit eines Zöglings zu ermögli-
chen? Ilien (a.a.O.) ist der Auffassung, dass die diametrale Gegenüberstellung von Erzie-
hung (in Anlehnung an die „Zucht“ bei Kant) und Bildung einen problematischen Versuch
darstellt, das pädagogische Paradoxon „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“
(Kant 1803/1983, S. 711) zu zerschlagen: Erziehung als Zucht dient gar nicht dem Ziel,
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu erreichen, Bildung hingegen ist dem absichtsvol-
len pädagogischen Einfluss weitgehend entzogen. Hier ist der Pädagoge ein Begleiter, der
dem Zögling die Selbstentwicklung wohlwollend ermöglicht.
Die Dichotomisierung von Erziehung und Bildung kann das oben erwähnte pädagogische
Paradoxon nicht lösen. Sinnvoller könnte es sein, Erziehung in Bildung als zwei methodi-
sche Varianten pädagogischer Prozesse aufzufassen, die sich graduell darin unterscheiden,
wie die pädagogische Beziehung jeweils gestaltet wird. Bevor dieser Idee nachgegangen
werden kann, soll noch einmal das gegensätzliche Begriffspaar „Psychoanalyse und Psy-
chotherapie“ untersucht werden.

Psychoanalyse und (tiefenpsychologisch fundierte) Psychotherapie

In den Vorstellungen TFP und Psychoanalyse lassen sich ähnliche hierarchische und dicho-
tomische Unterscheidungen finden wie in denen über Erziehung und Bildung. Die Patienten
der TFP sind zwar nicht jünger als die der Psychoanalyse, aber ihre Störung liegt zeitlich
weiter zurück; es sind „frühe Störungen“, die in den ersten Lebensjahren einsetzten und
zu strukturellen Defiziten (Fürstenau 1977) führten. Diese Defizite äußern sich in groben
Abwehrmechanismen (Streeck-Fischer 2006), das heißt, sie neigen dazu, ihre psychischen
Belastungen oder inneren Konflikte mit unreifen Abwehrformen zu bewältigen, welche ihre
Realitätswahrnehmung stark beeinträchtigen wie im Falle der Spaltung oder Verleugnung
und dadurch den Therapeuten sehr belasten. Ihre „Ich-strukturellen Defizite“ begrenzen
ihre kognitiven Kompetenzen, zum Beispiel die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und
„theory of mind“ sie sind weniger reflexiv und neigen dazu, andere Menschen für selbst-
regulative Zwecke zu verwenden (Streeck 2007).
Deswegen werden an den tiefenpsychologisch arbeitenden Psychotherapeuten beson-
dere Anforderungen gestellt: Er muss die heftigen und wenig kontrollierten Affekte dieser
Patienten ertragen können und hinnehmen, dass sie ihn auf eine oft rücksichtslose Weise
verwenden, zuweilen auch heftig agieren. Belastend ist die therapeutische Arbeit mit „Früh-
gestörten“ vor allem deswegen, weil sie nur wenig fähig sind, über sich selbst und über
andere Menschen nachzudenken und deswegen glauben, die soziale Welt sei so, wie sie sie

  Vielleicht
handelt es sich ja um einen Zufall, aber die jüngeren Bestrebungen einer Hochschulreform im
Anschluss an die Bologna-Erklärung ähneln in ihrer Zweigliedrigkeit von „Bachelor“- und „Master“-Stu-
diengängen jener Hierarchisierung von Erziehung und Bildung: Im Bachelor-Studiengang soll berufsbezo-
gen ausgebildet werden, aber der Master-Studiengang widmet sich der Entfaltung des wissenschaftlichen
Nachwuchses.
  Ilien formuliert es so: „Pädagogik ist Fremdförderung zur Selbstwerdung“ (a.a.O., S. 9).

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sehen und empfinden. Deswegen lassen sie zum Beispiel die Frage nicht zu, ob denn ihr
Therapeut wirklich so ein schlechter Mensch ist, wie sie ihn wahrnehmen, und ob ihre Wut
die einzig mögliche Reaktion auf sein vermeintliches Fehlverhalten wäre.
Die Störungen dieser Patienten sind sehr früh – und häufig von traumatischen Erfah-
rungen – verursacht worden, und sie äußern sich in Defiziten, die an frühe Stadien der
Kindheitsentwicklung erinnern. Mit ihren „primitiven“ Abwehrformen, ihren mangelhaft
ausgebildeten kognitiven Funktionen scheinen sie in ihrer psychischen Entwicklung „ste-
cken geblieben“ zu sein. Ein Patient zum Beispiel, der daran festhält, dass seine Gedanken
die Wirklichkeit eins zu eins abbilden, verharrt offenbar im „Äquivalenzmodus“ (Fonagy
et al. 2002), und ein weiterer, dem es nicht gelingt, sich in die Motive eines anderen hinein-
zuversetzen, hat die Fähigkeit zur Theory of mind nicht ausreichend entwickelt; vielleicht
verblieb er sogar auf der Stufe der „primären Intersubjektivität“ (Trevarthen 2001).
Gewiss trifft die Redeweise vom „Steckenbleiben“ im Prozess psychischer Entwicklung
so nicht zu, denn der Patient des tiefenpsychologischen Psychotherapeuten tritt ja nicht als
das Kind von damals auf, sondern als der Jugendliche oder Erwachsene, der es verstanden
hat, trotz seiner Defizite sein Leben mehr oder weniger gut zu meistern. Zweifellos gelingt
es zahlreichen Menschen mit strukturellen Störungen auch, im beruflichen und sogar im pri-
vaten Leben erfolgreich zu sein – dann werden sie wohl kaum einen Psychotherapeuten auf-
suchen. Wenn sie aber unter ihren Störungen leiden, dann wird erkennbar, wie die Konflikt-
lösungen, die sie in ihrem Leben gefunden haben, doch von ihren Defiziten geprägt sind.
Weil diese Patienten mit „Defiziterkrankungen“ (Ermann 2007) in ihren Ich-Funktio-
nen so unentwickelt scheinen, zielt die TFP auf die Unterstützung und Nachentwicklung
mangelhaft ausgebildeter Kompetenzen. Der Therapeut macht den Patienten auf seine Fehl-
wahrnehmungen aufmerksam und unterstützt seine Realitätskontrolle. Wie ein „Hilfs-Ich“
verdeutlicht er dem Patienten, wie sein Verhalten auf andere Menschen wirkt, und er regt
ihn an, eigene Handlungsalternativen zu entwickeln und ihre jeweiligen Folgen abzuschät-
zen. Diese supportive und edukative Haltung ist typisch für TFP-Verfahren.
Psychoanalytische Arbeit im Standardverfahren hingegen setzt Patienten voraus, deren
Fähigkeit zur Reflexion weniger durch Defizite, sondern eher durch innere Konflikte beein-
trächtigt ist. Sie sind in der Lage, ihre Auffassungen über sich und die therapeutische Bezie-
hung in ihrem Entwurfscharakter zu erkennen. Darin liegt eine wesentliche Voraussetzung
für die Fähigkeit, sich unbewussten Motiven zuzuwenden und über sie nachzudenken. Ins-
besondere die Arbeit „in“ der Übertragung (Körner 1989) ist nur dann möglich, wenn der
Patient dafür gewonnen werden kann, in einer „exzentrischen“ Position über die gemein-
sam gestaltete therapeutische Beziehung nachzudenken und neue Beziehungsentwürfe zu
wagen. Widerstände erschweren diese Arbeit immer aufs Neue, und rasche Erfolge sind
selten. Wenn es darum geht, zentrale, unbewusst wirksame „working models“ (Bowlby)
über menschliche Beziehungen zu korrigieren, braucht man Geduld, denn derartige Über-
zeugungen sind nichtsprachlich im prozeduralen Gedächtnis gespeichert, sie lassen sich
sprachlich nicht erreichen und ändern. Wenn also ein Patient seit jeher der Überzeugung
folgt, dass er sich einem anderen Menschen nicht öffnen darf, weil er jederzeit mit ver-
letzenden Angriffen rechnen muss, so wird er sich nicht durch Worte allein ermutigen las-
sen, dieses Arbeitsmodell, das sich so lange bewährt zu haben scheint (Körner u. Wysotzki
2006) zu korrigieren. Auch bewusst inszenierte Rollenspiele, mit denen ein wohlmeinender
Therapeut gespielt-freundlich seinen Patienten vom „Irrtum“ seiner Beziehungsfantasie zu

  Annelise Heigl-Evers berichtete von einem Patienten, der seiner Freundin einen wütenden Brief geschrie-
ben hatte und diesen in der Therapiestunde vorlas. Sie sagte ihm: „An Stelle Ihrer Freundin wäre ich jetzt aber
beleidigt.“ Der Patient war sehr überrascht: Er habe doch nur die Wahrheit geschrieben.

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überzeugen sucht, werden wirkungslos bleiben – wenn sie nicht gar einen gegenteiligen
Effekt hervorbringen.
Diese psychoanalytische Arbeit ist insofern „tendenzlos“, als sie keine konkreten Ziele
verfolgt (Dreyer a.a.O). Sie bewegt sich in einem Rahmen, der nur durch wenige Parameter
eingeschränkt wird: die Stundenfrequenz, das Liegen auf der Couch und die Verpflichtung,
nicht zu handeln, sondern nur zu sprechen. Die Abstinenzregel, die dem Analytiker vor-
schreibt, den Analysanden nicht für sich zu verwenden – auch nicht dazu, mit ihm thera-
peutische Ziele zu erreichen – öffnet dem Patienten einen Raum, sich zu orientieren und
eigene Ziele zu entwickeln. Das mag ihm für lange Zeit beschwerlich erscheinen, weil er es
wahrscheinlich gewohnt war, den anderen auch zur Bewältigung eigener innerer Konflikte
zu verwenden, und er wird versuchen, den Analytiker in die eigene Abwehr einzubeziehen.
Die Aufgabe des Analytikers ist es, diese unbewusst-absichtsvolle Verwendung, also die
Übertragung, bewusst zu machen, aber es dem Patienten zu überlassen, wie er sich weiter-
entwickeln will.

Psychoanalyse verhält sich zu Psychotherapie wie Bildung zu Erziehung?

Die psychoanalytische Situation mit ihrer „Ziellosigkeit“, ihrem offenen Ausgang und dem
abstinenten Analytiker ähnelt der Vorstellung von einer Bildungssituation, die dem „Zög-
ling“ einräumt, sich selbst seine Ziele zu setzen und sich frei von äußeren Zielen zu entwi-
ckeln. Tiefenpsychologische Psychotherapie hingegen scheint eher einem Erziehungspro-
zess ähnlich zu sein. Beide setzen an frühen Defiziten an, in beiden lassen sich definierbare
Ziele erkennen, und Psychotherapeut und Erzieher ähneln sich darin, dass sie supportiv und
edukativ vorgehen. Eine weitere Parallele scheint darin zu liegen, dass Psychotherapie und
Erziehung auch zeitlich einer Psychoanalyse bzw. einer Bildung vorangehen sollten: Bil-
dung wird erst dann möglich, wenn die Erziehung ausreichende Grundlagen gelegt hat, und
eine Psychoanalyse kann nicht gewagt werden, wenn der Patient noch von Ich-strukturellen
Störungen beeinträchtigt ist, die er in seiner Kindheit erlitt und die er mithilfe einer Psy-
chotherapie nachträglich überwinden könnte. Und ebenso, wie sich ein Bildungsprozess
anschließen kann, nachdem ein Zögling mit gutem Erfolg erzogen wurde, kann auch eine
Psychoanalyse folgen, wenn ein Patient in psychotherapeutischer Behandlung diejenigen
Ich-Funktionen entwickelt hat, die ihm eine Analyse mit offenem Ausgang und einer Aus-
einandersetzung mit dem eigenen Unbewussten ermöglicht.
Nun zeigte die oben ausgeführte Kritik an der Dichotomisierung von Erziehung und
Bildung, dass deren Gegensätzlichkeit das pädagogische Paradoxon „Woher die Freiheit
bei dem Zwange?“ (Schluß 2006) nicht löst, sondern gleichsam zerschlägt, indem es den
spannungsreichen Gegensatz zur einen oder zur anderen Seite hin halbiert: Im Falle der
Erziehung sollen die Ziele der Selbstbestimmung und Mündigkeit gar nicht erst erreicht
werden, sodass der pädagogische Zwang das Geschehen gänzlich bestimmen kann. Und
im Falle der Bildung scheint der Erzieher fast gänzlich zurückzutreten und den Zögling auf
dem Wege seiner Selbstentfaltung lediglich zu begleiten.
Könnte es nicht sein, dass die von Psychoanalytikern so weit gespreizte Dichotomie von
Psychotherapie und Psychoanalyse ähnlich künstlich ist wie die von Erziehung und Bil-
dung? Dass die Gegenüberstellung von reinem „Gold“ der Analyse gegenüber dem „Kup-
fer“ der (suggestiven) Psychotherapie auf analoge Weise ein Paradoxon wie jenes vom Typ
„Freiheit bei dem Zwange“ durch Halbierung „lösen“ will?

  Hierzu passt Freuds Idee von der Psychoanalyse als einer Nacherziehung (1915, S. 365).

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Worin läge dann dieses psychoanalytische Paradoxon? Es zeigt sich bei genauerer
Betrachtung der zentralen „technischen“ Begriffe, zum Beispiel denen der Abstinenz (Kör-
ner u. Rosin 1985) und der freien Assoziation (Hölzer 2000; Raguse 1992). Diese Regeln
sprechen utopische Erwartungen an den Analytiker und seinen Patienten aus, denn nie-
mand kann wirklich „frei“ assoziieren (Körner 1993), und die Abstinenzregel ist nicht nur
in ihrer radikalen Definition des „Ohne-Wunsch-Sein“ (Bion), sondern auch in der weniger
anspruchsvollen Variante als „den Patienten nicht zur Befriedigung eigener Bedürfnisse
verwenden“ nicht erfüllbar. Der Sinn dieser utopischen Forderungen liegt vermutlich darin,
dass sie Ziele angeben, die zwar nicht erreicht werden können, aber dass es sich doch lohnt,
sie zu verfolgen, denn auf dem Wege zu ihnen hin tun sich unvermeidlich Hindernisse auf,
die für die analytische Arbeit genutzt werden können. Immer, wenn also der Fluss der Asso-
ziationen des Patienten ins Stocken gerät, nehmen wir an, dass ihn – vielleicht unbewusste
– Übertragungsfantasien irritierten, und immer, wenn der Analytiker spürt, dass er seine
abstinente Haltung verlässt, kann er sich fragen, in welcher Weise er mit seinem Analysan-
den beschäftigt ist.
Analytiker und Patient versuchen also, einer paradoxen Aufforderung zu folgen: Strebe
Ziele (Abstinenz, freie Assoziation) an, die nicht erreichbar sind! Aber im Hintergrund die-
ser Regeln steht offenbar die Idee, Analysand und Analytiker könnten sich lösen von der
Gebundenheit in der analytischen Beziehung, sodass der eine vor sich hin assoziieren und
der andere sich abstinent und gleichschwebend aufmerksam halten würde.
Vielleicht könnte dies das analytische Paradoxon sein: Der Analysand soll sich erfor-
schen und seinen eigenen Weg suchen, dabei ist die Anwesenheit des Analytikers sehr
wichtig. Aber er soll zugleich frei werden von den inneren und äußeren Abhängigkeiten,
die sich in der analytischen Beziehung als Übertragung regelmäßig manifestieren. Ana-
log zum pädagogischen Paradoxon („Woher die Freiheit bei dem Zwange?“) könnte man
das psychoanalytische Paradoxon nennen: „Woher die Unabhängigkeit in einer abhängigen
Beziehung?“
Möglicherweise haben die Analytiker versucht, dieses analytische Paradoxon dadurch zu
zerschlagen, dass sie die analytische Methode in zwei dichotomische Varianten zerlegten,
nämlich in das Gold der tendenzlosen, ziellosen Analyse einerseits und das Kupfer der sug-
gestiven, edukativen analytischen Psychotherapie andererseits. Dann wäre die Gegenüber-
stellung von Psychoanalyse und Psychotherapie ähnlich unfruchtbar wie die von Bildung
und Erziehung.

Gegensätze überwinden

Wie schon angedeutet, lässt sich der dichotomische Gegensatz von Bildung und Erziehung,
der sich auf Kants Schrift „Über Pädagogik“ von 1803 beruft, überwinden. Schon zu Kants
Zeiten schrieb Johann Gottfried Herder in einer Weise über Pädagogik, die den Gegensatz
von (früher) Erziehung und (späterer, höherer) Bildung überwinden könnte: Für Herder
beginnt die Bildung des Menschen nicht erst nach der Erziehung, also nach der „Zucht“
oder „Disziplinierung“ und „Kultivierung“ bei Kant, sondern schon mit der Geburt, also
lange auch vor der Entwicklung der Sprache. Kant hat man lange so verstanden, dass die
Stufen der kindlichen Entwicklung von der Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung hin

  Ähnlich die Forderung nach „gleichschwebender Aufmerksamkeit“.


 Auf dieser Annahme beruhte ja das Assoziationsexperiment von C.G. Jung, die „Asso-Reihe“.
  Diese Hinweise verdanke ich Albert Ilien.

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zur Moralisierung zeitlich nacheinander durchschritten werden müssen. Mit Herder aber
sind Bildungsprozesse schon wirksam gewesen, wenn zur Disziplin erzogen werden soll.
Herder, der u. a. von Rousseau und dessen Erziehungsroman Emile oder über die Erzie-
hung von 1762 beeinflusst war, beschrieb den Bildungsprozess vor allem als Beziehungs-
geschehen zwischen Eltern und Kind. Liebende Eltern vermitteln schon dem Säugling, dass
er „zur Gesellschaft gebohren“ ist (Herder 1791/1985, S. 126). Dabei ist es besonders die
wechselseitige Einfühlung, welche die Brücken in der Beziehung zwischen Eltern und Kind
von Anfang an schlägt. Einfühlung wiederum gründet im Selbstgefühl des kultivierten,
humanen Menschen, denn „im Grad der Tiefe unseres Selbstgefühls liegt auch der Grad des
Mitgefühls mit andern: denn nur uns selbst können wir in andre gleichsam hinein fühlen“
(Herder 1778, S. 49).
Diese Vorstellung von einer einfühlsamen, die Bildung fördernden Beziehung überträgt
er auch auf professionelle pädagogische Beziehungen: Der Lehrer10 soll nicht nur Wissens-
vermittler sein, sondern auch eine „Grazie“ ausstrahlen, die den Schüler ermutigt, die in
ihm bereitliegenden Fähigkeiten zur Entfaltung menschlicher Humanität zu nutzen. Viel-
leicht liegt in dieser Beziehungsidee ein Lösungsversuch des pädagogischen Paradoxons
(„Freiheit bei dem Zwange“). Um es in moderner Wissenschaftssprache auszudrücken:
Dass es die Beziehungskompetenz des Pädagogen ist, die dem die Bindung suchenden Kind
ermöglicht, von Anfang an sowohl die Aufgabe einer Erziehung als auch die einer Bildung
zu bewältigen. So dass, vom Pädagogen aus betrachtet, eine ermutigende Beziehung also
sowohl Erziehungs- als auch Bildungsprozesse ermöglicht.

Zurück zur Psychoanalyse

Die dichotomische Aufteilung in (analytische) Psychotherapie und Psychoanalyse sollte


das analytische Paradox („Woher die Unabhängigkeit in einer abhängigen Beziehung?“)
dadurch „lösen“, dass das therapeutische Feld halbiert wird: „Strukturell“ oder „früh
gestörte“ Patienten brauchen einen supportiven Psychotherapeuten, der seinen Einfluss
nutzt, um bestimmte Ziele, wie Reflexivität, sekundäre Subjektivität, Theory of mind zu
erreichen. Das ist das Kupfer der Suggestion; die Regeln der freien Assoziation und der
Abstinenz treten hierbei in den Hintergrund. Analytische Patienten hingegen scheinen dem
Ideal einer „reinen, tendenzlosen“ Analyse nahe kommen zu können. Hier kann der Analy-
tiker die Idee verfolgen, wirklich ganz „ohne Wunsch“ zu sein, und der Analysand soll ver-
suchen, seinen eigenen Assoziationen zu folgen, ohne auf die Anwesenheit des Analytikers
Rücksicht zu nehmen.
Nun wirkt diese Gegenüberstellung von dem Kupfer der Suggestion in der analytischen
Psychotherapie und dem Gold der Psychoanalyse allzu polarisiert. Denn selbstverständlich
spricht der Analysand niemals nur „vor sich hin“, als träte er damit aus der Beziehung zum
Analytiker, und dieser ist niemals ganz abstinent, sondern er steht selbst immer im Ein-
fluss seiner Beziehung zum Analysanden. Ebenso selbstverständlich arbeitet der analytische
Psychotherapeut zwar supportiv und auf Ziele hin, aber er muss seinem Patienten doch die
Freiheit lassen, seine eigenen Wege zu suchen.
Möglicherweise ist also die dichotomische Unterscheidung von Psychoanalyse und ana-
lytischer Psychotherapie dadurch so krass ausgefallen, dass die Analytiker das Paradoxon

10 Herder war selbst von 1765 bis 1769 Lehrer an der Domschule in Riga. Seine Schüler schwärmten von
seiner humanen Ausstrahlung. Später (1787) verfasste er ein Buchstaben- und Lesebuch für den Elementar-
unterricht und gründete 1788 ein Lehrerseminar.

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320 J. Körner

„wie in Abhängigkeit unabhängig werden“ dadurch zerschlugen, dass sie zwei fiktive Pole
definierten: Auf dem Pol der „reinen, tendenzlosen“ Analyse streben sie das Ideal eines
Bildungsprozesses an, in dem sich der Analysand ganz frei entfaltet, und auf dem Pol der
Psychotherapie verfolgen sie die Idee eines Erziehungsprozesses, der dem Patienten außen
gesetzte Ziele – wie bestimmte kognitive Kompetenzen – vorgibt. Aber ebenso wie die
Dichotomie von Bildung und Erziehung einen künstlich aufgeworfenen Gegensatz dar-
stellt, erscheint auch der Gegensatz von Psychoanalyse und Psychotherapie überbrückbar:
Es ginge nur darum, das analytische Paradoxon „wie in Abhängigkeit unabhängig werden“
nicht zu zerschlagen, sondern in der Schwebe zu halten.

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13
Psychoanalyse und Psychotherapie, Bildung und Erziehung 321

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Jürgen Körner, Prof. Dr. disc. pol., Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker (DPG/IPV) Präsident der Inter-
national Psychoanalytic University Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Methode und Theorie der Psychoanalyse,
Psychoanalytische Pädagogik, jugendliche Delinquenz, Mensch-Tier-Beziehung. 1985 gründete er zusam-
men mit Michael Ermann und Sven O. Hoffmann diese Zeitschrift. (Siehe auch zuletzt Heft 4, 2006.)

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