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1 I

Grundlagen
Inhaltsverzeichnis

1 Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und


Modelle – 3
Hans-Ulrich Wittchen, Susanne Knappe und Jürgen Hoyer

2 Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen – 29


Susanne Knappe und Hans-Ulrich Wittchen

3 Epidemiologische Beiträge zur Klinischen Psychologie – 57


Katja Beesdo-Baum, Michael Höfler, Frank Jacobi
und Hans-Ulrich Wittchen

4 Lernpsychologische Grundlagen – 113


Mike Rinck und Eni S. Becker

5 Kognitiv-affektive Neurowissenschaft: Emotionale


Modulation des Erinnerns, Entscheidens und Handelns – 137
Thomas Goschke und Gesine Dreisbach

6 Differentiellpsychologische Perspektive in der Klinischen


Psychologie – 189
Tilman Hensch und Alexander Strobel

7 Biopsychologische Grundlagen – 213


Clemens Kirschbaum, Katharina Domschke
und Markus Heinrichs

8 Psychopharmakologische Grundlagen – 245


Thomas Köhler

9 Neuropsychologische Grundlagen – 283


Siegfried Gauggel
10 Verhaltensmedizinische Grundlagen – 317
Ulrike Ehlert

11 Entwicklungspsychologische Grundlagen – 331


Rolf Oerter, Mareike Altgassen und Matthias Kliegel

12 Die Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen – 353


Martin Holst, Timo Harfst und Holger Schulz
3 1

Was ist Klinische Psychologie?


Definitionen, Konzepte und
Modelle
Hans-Ulrich Wittchen, Susanne Knappe und Jürgen Hoyer

Inhaltsverzeichnis

1.1 Was ist Klinische Psychologie? – 4

1.2 Interdisziplinäre Grundorientierung – 6

1.3 Was sind psychische Störungen? – 7


1.3.1 Wie lassen sich psychische Störungen definieren? – 8
1.3.2 Problematik der Definition und Klassifikation – 9
1.3.3 Möglichkeiten der Klassifikation – 10
1.3.4 Bewertung der Klassifikationssysteme – 12

1.4 Modellperspektiven in der Klinischen Psychologie – 12


1.4.1 (Neuro-)biologische Perspektive – 15
1.4.2 Psychodynamische Perspektive – 19
1.4.3 Kognitiv-behaviorale Perspektive – 21
1.4.4 Integrative Ansätze – 23

1.5 Herausforderungen – 26

Literatur – 27

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020


J. Hoyer und S. Knappe (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1_1
4 H.-U. Wittchen et al.

1.1 Was ist Klinische Psychologie? 5 Prävention, Psychotherapie und Rehabilitation;


1 5 Epidemiologie, Gesundheitsversorgung und Evalu-
In der Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und ation.
Verhalten und von den mentalen Prozessen nimmt die
Klinische Psychologie als Anwendungsfach eine zen- Klinische Psychologie umfasst die Erforschung, Di-
trale Rolle ein. Vor dem Hintergrund vieler neuer wis- agnostik und Therapie der Gesamtheit psychischer
senschaftlicher Modelle, Paradigmen und Methoden Störungen bei Menschen aller Altersstufen. Aufbau-
hat die Klinische Psychologie in mehr als 100 Jahren end auf den wissenschaftlichen Grundlagen der Psy-
eine erhebliche Ausweitung und Differenzierung er- chologie mit ihren Teildisziplinen ist es ein Charak-
fahren. Mit der Weiterentwicklung von Methoden und teristikum der Klinischen Psychologie, dass sie enge
Verfahren zur Beobachtung und Beschreibung neuro- Beziehungen zu vielen anderen Wissenschaftsdiszipli-
wissenschaftlicher Korrelate von Verhalten im Allge- nen aufweist, insbesondere zur Psychiatrie, der Sozio-
meinen und psychischen Störungen im Speziellen wurde logie, den neurobiologischen Fächern (einschließlich
zudem in den letzten 15 Jahren eine enorme Wandlung der Gebiete Genetik und Psychopharmakologie), der
des Fachgebietes eingeleitet (Holmes et al. 2018). Neurologie und anderen medizinischen Fächern.
Die Ausweitung des Fachs Klinische Psychologie
betrifft grundlagen- und anwendungswissenschaftliche
Aspekte sowie die beruflichen Anwendungsfelder. Sie Auf Strotzka (1969) geht eine methodenübergreifende
schließt auch neue berufspolitische und -rechtliche Im- Definition der Psychotherapie zurück, die u. a. als Ba-
plikationen ein. So wurde z. B. im Jahre 2000 vor dem sis für das Forschungsgutachten gewählt wurde, wel-
Hintergrund der zentralen Rolle Klinischer Psycholo- ches 1991 für die Bundesregierung in der Vorbereitung
gen in der Entwicklung, Erforschung und Anwendung des Psychotherapeutengesetzes, ausgefertigt 1998, erstellt
von Psychotherapie in der Gesundheitsversorgung die wurde. Sie unterstreicht in großer Deutlichkeit, dass Psy-
Fachbezeichnung „Klinische Psychologie“ vielerorts chotherapie nicht mit Klinischer Psychologie gleichge-
um den Zusatz „… und Psychotherapie“ ergänzt. Dies setzt werden kann, sondern nur einen kleinen, wenn auch
soll nicht nur den gewachsenen Stellenwert dieser In- überaus bedeutsamen Teil des interventionsbezogenen
terventionsgruppe in der Klinischen Psychologie un- Aufgabenkatalogs der Klinischen Psychologie darstellt.
terstreichen, sondern hat zugleich programmatischen In ähnlicher Weise wird derzeit die Reform des Psycho-
Signalcharakter nach außen. Die erweiterte Fachbe- therapeutengesetzes, und damit verbunden auch der Aus-
nennung „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ bildung zukünftiger Psychologen und Psychotherapeu-
unterstreicht den wissenschaftstheoretischen und be- ten seit dem 01.09.2020, umfassend diskutiert. Führt die
rufspolitischen Anspruch, breite gesellschaftliche und Neugestaltung der Ausbildungscurricula dazu, dass In-
gesundheitspolitische Verantwortung für die Diagnos- halte der Klinischen Psychologie und Psychotherapie zu-
tik, Prävention, Therapie und Rehabilitation psychi- lasten der Grundlagen- und Methodenfächer der Psycho-
scher Störungen in der Bevölkerung zu übernehmen. logie ausgeweitet werden? Läuft gar die Klinische Psycho-
Dabei bleibt zu beachten, dass Psychotherapie lediglich logie – als Mutterdisziplin der Psychotherapie – Gefahr,
einen Teilbereich der Klinischen Psychologie umfasst, zu wenig in der Ausbildung für zukünftige Psychothera-
nämlich den, der sich auf der Grundlage der gesam- peuten Berücksichtigung zu finden? Oder ist die Einheit
ten wissenschaftlichen Psychologie mit der psychologi- des gesamten Faches Psychologie gefährdet? (7 Kap. 12).
schen Therapie von Menschen befasst, die unter defi-
nierten psychischen Störungen mit Krankheitswert lei- Definition
den. Psychotherapie, als ein Teilgebiet der Klinischen Psy-
Ein wichtiger differenzierter Definitionsversuch des chologie, lässt sich definieren als: „(…) ein bewusster
Fachs wurde von Baumann und Perrez (2005) vorge- und geplanter interaktionaler Prozess zur Beeinflus-
legt: sung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen,
die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient,
Definition Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbe-
Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der dürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln
Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch aver-
den psychischen Aspekten somatischer Störungen und bal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit
Krankheiten in der Forschung, der Diagnostik und gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisie-
Therapie beschäftigt. Dazu gehören u. a. die Themen rung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit)
5 Ätiologie und Bedingungsanalyse; mittels lehrbarer Techniken auf der Basiseiner The-
5 Klassifikation und Diagnostik; orie des normalen und pathologischen Verhaltens. In
der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung
notwendig“ (Strotzka 1969, S. 32).
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
5 1
Auf der Grundlage dieser Arbeitsdefinitionen sollen im Baumann und Perrez erstellte Matrix der Klinischen
Folgenden die strukturelle Gliederung sowie einige we- Psychologie an, bei der sich facettenartig die störungs-
sentliche Bestimmungsstücke des Fachs „Klinische Psy- übergreifenden Aspekte von störungsbezogenen Aspek-
chologie und Psychotherapie“ exemplarisch und über- ten trennen lassen (. Abb. 1.1).
blicksartig verdeutlicht werden. Die in . Abb. 1.1 dargestellte Matrix kann als ein
Zur übersichtlichen Charakterisierung des Spekt- umfassender Gliederungsvorschlag des Faches und
rums und Gegenstandskatalogs des Fachs „Klinische als hilfreiches – wenn auch nicht ganz vollständiges –
Psychologie und Psychotherapie“ bietet sich eine von Organisationsprinzip für das vorliegende Lehrbuch

. Abb. 1.1 Die Struktur der Klinischen Psychologie. (Nach Baumann und Perrez 2005, mit freundlicher Genehmigung vom Hogrefe Verlag)
6 H.-U. Wittchen et al.

betrachtet werden. Auf der Ebene der störungsbezo-


1 genen Aspekte werden in der Matrix – jeweils aus ei- 5 Arbeits- und Organisationspsychologie und Occu-
ner intra- und interpersonellen Perspektive – gestörte pational Health: Arbeitsprozesse und Aspekte der
Funktionen bzw. gestörte Funktionsmuster betrach- Arbeits- und Berufswelt (z. B. Führungsverhalten,
tet. „Gestörte Funktionen“ orientieren sich dabei weit- Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben)
gehend an psychischen Funktionen, wie sie auch in 5 Gesundheitspsychologie und Public Health: Pro-
der Allgemeinen Psychologie sowie der Biopsycholo- zesse der Gesunderhaltung und Förderung des
gie und Neuropsychologie, z. B. in Hinblick auf Pro- Wohlbefindens von Individuen und Gruppen bis
zesse wie Wahrnehmung, Lernen und Denken, defi- hin zur Gesamtbevölkerung (z. B. Reduktion ge-
niert sind. Bezüglich „gestörter Funktionsmuster“ und sundheitsgefährdender Verhaltensweisen wie Rau-
der „psychischen Störungen“ im engeren Sinne, bezieht chen, Übergewicht und Bewegungsmangel)
sich die Klinische Psychologie auf die etablierten dia- 5 Entwicklungspsychologie: Veränderungen mensch-
gnostischen Klassifikationssysteme psychischer Stö- lichen Erlebens und Verhaltens über die Lebens-
rungen. Diese Klassifikationssysteme teilt sie mit den spanne, einschließlich Entwicklungsbeeinträchti-
Nachbardisziplinen der Medizin, insbesondere der Psy- gungen und -störungen
chiatrie, sowie mit anderen Gesundheitsberufen. Die
im Kapitel V (F) der 10. Revision der Internationalen Mit medizinischen Fachdisziplinen
Klassifikation der Erkrankungen (International Classi- 5 Kinder- und Jugendpsychiatrie: Psychische Störun-
fication of Diseases; ICD-10; WHO 1992) codifizierten gen des Kindes- und Jugendalters
diagnostischen Konventionen sind trotz ihrer Schwä- 5 Erwachsenenpsychiatrie: Akutbehandlung und Re-
chen (7 Kap. 2) international für alle Gesundheitssys- zidivprophylaxe bei Patienten mit schweren psychi-
teme und -berufe verbindlich. In der Klinischen Psy- schen und psychiatrischen Erkrankungsbildern
chologie und Psychotherapie, wie auch in der Psych- 5 Neurologie: Rehabilitation ausgefallener Wahrneh-
iatrie als Nachbarwissenschaft beziehen wir uns aber mungsfunktionen und motorischer Funktionen,
darüber hinaus auf das Diagnostic and Statistical Ma- z. B. nach einem Schlaganfall
nual of Mental Disorders in seiner aktuell 5. Revision 5 Verhaltensmedizin: Zusammenhang zwischen psy-
(DSM-5; APA 2013; deutsche Übersetzung: APA 2015) chologischen und Verhaltensfaktoren mit körper-
als Standard in der Forschung und Lehre. Es ist mit der lichen Erkrankungen (z. B. Rauchen, Übergewicht
ICD-10, welche sich derzeit in Überarbeitung zur ICD- und Bewegungsmangel bei koronaren Herzerkran-
11 befindet, kompatibel, definiert aber spezifischer und kungen
ausführlicher das Regelsystem für die einzelnen Stö- 5 Orthopädie: Schmerztherapie bei chronischen Er-
rungskategorien und ist zudem auch für nichtmedizi- krankungen des muskuloskelettären Systems
nische Fächer zuverlässiger anwendbar. Aus diesem
Grund orientiert sich dieses Lehrbuch auch vorrangig
an der DSM-Nomenklatur und -Klassifikation. Jedem dieser Bereiche lässt sich eine Reihe von kli-
Das Spektrum klinisch-psychologischer Forschungs-, nisch-psychologischen störungsübergreifenden grund-
Interventions- und Einsatzbereiche ist sehr viel brei- lagen- und anwendungsbezogenen wissenschaftlichen
ter und geht über die in DSM-5 und ICD-10 bzw. ICD- Inhaltsbereichen zuordnen. Diese reichen von der Klä-
11 definierten psychischen Störungen weit hinaus. Zum rung der Grundbegriffe und diagnostischen Störungs-
Gegenstandsbereich des Faches gehören alle gestör- konzeptionen über wissenschaftliche Modelle und Pa-
ten Funktions-, Verhaltens-, und Entwicklungsmus- radigmen zur Erklärung der Entstehung und Aufrecht-
ter, die bei Menschen und Organisationssystemen auf- erhaltung von Störungen bis hin zu Grundlagen der
treten können. Hierzu gehört auch die Betrachtung von Intervention und Evaluation.
„gestörten Systemen“, wie sie z. B. in der Arbeit, in Fa-
milien oder (Arbeits-)Organisationen thematisiert wer-
den. Dabei ergeben sich also große Überlappungsberei- 1.2 Interdisziplinäre Grundorientierung
che mit anderen Teilbereichen der Psychologie und vie-
len medizinischen Fachdisziplinen: Ein Hauptcharakteristikum der Klinischen Psychologie
ist ihre interdisziplinäre Grundorientierung. Angesichts
der Breite des Gegenstandsbereichs und der Vielschich-
Beispiele für Überlappungsbereiche der Klinischen tigkeit des Faches Klinische Psychologie ist es nicht
Psychologie überraschend, dass enge Beziehungen zu verschiede-
Mit Teilbereichen der Psychologie nen anderen wissenschaftlichen Disziplinen bestehen.
5 Schulpsychologie: Schulische Probleme von Indivi- Diese interdisziplinäre Grundorientierung bedeutet all-
duen oder Gruppen (z. B. Gestaltung von Lernum- gemein, dass wir uns bei der wissenschaftlichen Un-
welten, Lernschwierigkeiten, Bullying, Mobbing) tersuchung klinisch-psychologischer Fragestellungen
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
7 1
. Tab. 1.1 Klinische Psychologie und Psychotherapie: Überschneidungs- und Nachbargebiete

Fachgebiet Erläuterung
Verhaltensmedizin Interdisziplinäres Forschungs- und Praxisfeld, das sich an einem umfassenden biopsychosozialen
Modell für Gesundheits- und Krankheitsprobleme orientiert; es integriert die Erkenntnisse der ver-
haltens- und biomedizinischen Wissenschaften zur Anwendung auf Gesundheits- und Krankheits-
probleme sowie Intervention und Rehabilitation
Gesundheitspsychologie Diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit Förderung und Erhaltung von Gesundheit, Ver-
hütung von Krankheiten, Bestimmung von Risikoverhaltensweisen sowie der Verbesserung des Sys-
tems gesundheitlicher Versorgung beschäftigt
Klinische Neuropsychologie Diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit den Auswirkungen von Erkrankungen und Ver-
letzungen des Gehirns auf das Erleben und Verhalten in Forschung und Praxis befasst; vor dem Hin-
tergrund der stärkeren neurowissenschaftlichen Orientierung der Psychologie finden sich aber auch
erhebliche Ausweitungen der Anwendungsfelder, die große Überlappung mit der Klinischen Psycho-
logie im engeren Sinne aufweisen
Psychopathologie Psychiatrische Lehre von der Beschreibung abnormen Erlebens, Befindens und Verhaltens im Zusam-
menhang mit psychischen Störungen
Biologische Psychiatrie Unter diesem Begriff werden sehr weitgehend alle Forschungsansätze zusammengefasst, die sich bio-
logischen bzw. neurobiologischen Methoden der Forschung, Diagnostik und Therapie psychischer
Störungen widmen
Psychopharmakologie Lehre von der Beeinflussung seelischer Vorgänge durch Psychopharmaka (auch Psychoneurophar-
makologie genannt)
Sozialpsychiatrie Lehrfach der Psychiatrie, in dem insbesondere epidemiologische und soziologische Aspekte psychi-
scher Krankheiten bearbeitet werden
Forensische Psychiatrie Teilgebiet und Lehrfach der Psychiatrie, das sich mit allen Rechtsfragen, die psychisch Kranke betref-
fen, beschäftigt
Psychoanalyse Teilgebiet der Psychotherapie, das sich auf psychoanalytische Konzepte bezieht, wie sie vor allem
von Sigmund Freud entwickelt wurden
Kinder- und Jugendpsychiatrie Teilgebiet der Psychiatrie, das sich mit der Erforschung und Behandlung seelischer Störungen vom
Säuglingsalter bis zur Adoleszenz beschäftigt
Psychosomatische Medizin Lehrfach der Medizin, in dem vor allem körperlich in Erscheinung tretende Krankheiten im Vorder-
grundstehen, die seelisch bedingt oder mitbedingt sind
Neurologie Teilgebiet und Lehrfach der Medizin; Lehre von den organischen Erkrankungen des zentralen, peri-
pheren und vegetativen Nervensystems

einer Vielzahl nützlicher Modelle, Paradigmen, Metho- Fächerbezeichnungen der Psychiatrie und Neurologie
den und Techniken anderer Fachdisziplinen bedienen, sowie vieler ihrer Teilgebiete (. Tab. 1.1).
die ein besseres und umfassenderes Verständnis gestör- Im Hinblick auf die Lehre und Ausbildung in Klini-
ter psychischer Funktionen und psychischer Störungs- scher Psychologie impliziert die interdisziplinäre Pers-
muster versprechen und letztlich zu einer verbesserten pektive die Notwendigkeit, dass Klinische Psychologen
Diagnostik und zu effizienteren Interventionsansätzen die Konzepte, Modelle und Erkenntnisse aller Nach-
führen könnten. Im Hinblick auf die Anwendung und bardisziplinen lernen und kennen müssen.
die Berufspraxis ist eine enge interdisziplinäre Zusam-
menarbeit auch die Grundlage für Spezialisierungen
der Arbeitsfelder und Tätigkeitsbereiche mit dem Ziel 1.3 Was sind psychische Störungen?
verfahrens- oder zielgruppenbezogener Optimierung.
Die interdisziplinäre Grundorientierung ist mit ei- Ein essenzielles Merkmal der Definition des Faches
ner terminologischen Vielfalt von Fach- und Gebiets- Klinische Psychologie und Psychotherapie ist das Kon-
bezeichnungen verknüpft, die vielfach keine eindeuti- strukt „psychische Störungen“. Psychische Störungen
gen Abgrenzungen mehr erlaubt. Innerhalb des psy- sind grundlagenwissenschaftlich nicht eindeutig defi-
chologischen Fächerkanons sind dies z. B. die Begriffe nierte, feststehende Entitäten und stellen letztlich nach
Verhaltensmedizin, Gesundheitspsychologie, Klinische dem aktuellen Stand der Forschung sowie für die Pra-
Neuropsychologie und Medizinische Psychologie. Fach- xis sinnvolle und nützliche Konstrukte dar, auf die sich
grenzen überschreitend trifft dies z. B. zu auf die vielen Forscher und Praktiker als bestmögliche Lösung für
8 H.-U. Wittchen et al.

eine begrenzte Zeit geeinigt haben. Das bedeutet auch, Die Forschung zeigt zumindest, dass psychische Stö-
1 dass sich die Definition psychischer Störungen oder rungen viel „Körperliches“ enthalten und körperliche
ganzer Teile eines Klassifikationssystems ändern kann, Störungen viel „Psychisches“. Dieses Problem ist gut
z. B. wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse verfüg- dokumentiert – eine angemessene Lösung dieses viel-
bar werden, die eine bessere Klassifikation und No- leicht nur terminologischen Problems ist noch nicht
menklatur ermöglichen. Ein bekanntes Beispiel für sol- gefunden.
che Änderungen ist die 1980 erfolgte Aufgabe der frü-
Fundiertes Wissen um die Erscheinungsformen psychi-
heren diagnostischen Bezeichnungen Angstneurose
scher Störungen, ihre Klassifikation und die damit ver-
zugunsten der zuverlässigeren und valideren Diagno-
bundenen diagnostischen Vorgehensweisen sind für na-
sen Panikstörung und generalisierte Angststörung.
hezu alle psychologischen Anwendungsfelder eine Con-
Entsprechende Revisionen erfolgen in etwa 10-jährigen
ditio sine qua non. Nicht nur im Kontext des engeren
Abständen. Die 5. Revision des DSM (DSM-5) erfolgte
Versorgungsbereichs psychischer Störungen, also in
2013; die 11. Revision der ICD (ICD-11) wurde im Mai
psychotherapeutischen Praxen, Ambulanzen oder psy-
2019 verabschiedet und soll zum 01.01.2022 in Kraft
chiatrischen Kliniken, sondern auch im Beratungssek-
treten.
tor, dem arbeits- und organisationspsychologischen,
dem schulpsychologischen und präventiven Arbeits-
> Wichtig
bereich wird von Psychologen zumindest das Erken-
Diagnosen psychischer Störungen sind als zeitlich be-
nen einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung
grenzte Konstrukte anzusehen, die auf dem jeweiligen
erwartet. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis,
Stand der wissenschaftlichen Forschung und Erkennt-
dass das Wissen um psychische Störungen nur von den-
nis in einem Konsensusverfahren von internationalen
jenigen Psychologen zu erwarten ist, die im klinischen
Experten für einen gewissen Zeitraum festgelegt wer-
Kontext tätig sind.
den. Wann immer neue Erkenntnisse nahelegen, ein-
zelne Störungen, Einteilungsgründe oder Strukturen
> Wichtig
zu ändern, wird eine neuerliche Revision vorgenom-
Auch im betrieblichen Sektor, in Beratungsstellen und
men.
im schulpsychologischen Bereich wird von Psycholo-
Unter psychischen Störungen subsumieren wir diag- gen allgemein erwartet, dass sie psychische Störun-
nostische Bezeichnungen, wie z. B. Schizophrenie und gen zumindest erkennen können. Dabei geht es nicht
Alkoholkonsumstörung, ebenso wie psychische Stö- zwangsläufig um die Fähigkeit, eine präzise Diagnose
rungsphänomene bei somatischen Erkrankungen, ver- mit Behandlungsimplikationen zu stellen, sondern
schiedenartige Verhaltensstörungen des Kindesalters darum, allgemein das Vorliegen psychischer Störun-
sowie Persönlichkeitsstörungen. Der seit 1980 über die gen zu erkennen, um die Betroffenen zu einer entspre-
DSM-Klassifikation eingeführte Begriff psychische Stö- chend differenzierteren klinisch-diagnostischen Ab-
rung ist dabei konzeptuell und inhaltlich wesentlich klärung zu motivieren und ggf. zuzuweisen.
weiter gefasst sowie berufspolitisch neutraler als die äl-
teren und daher nicht mehr aktuellen Bezeichnungen
psychiatrische Störung bzw. psychiatrische Erkrankung. 1.3.1 Wie lassen sich psychische Störungen
Dies drückt sich seither deutlich auch in der Nomen- definieren?
klatur der ICD aus, die im Kapitel V (F) der ICD-10
von „psychischen und Verhaltensstörungen“ spricht. Über ihre Lebensspanne hinweg unterscheiden sich alle
Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Konflikte und
> Wichtig Belastungen des Lebens zu bewältigen. Art und Schwie-
Ist die Differenzierung von psychischen und somati- rigkeit von Lebensproblemen sind nicht nur von Per-
schen Störungen ein reduktionistischer Anachronis- son zu Person verschieden, sondern ändern sich auch
mus aus der Zeit des Leib-Seele-Dualismus? Haben je nach ihrer Entwicklungsphase und ihren normativen
Neurowissenschaftler recht, die vertreten, dass nur Entwicklungsschritten. Menschen, die sich die wech-
Hirnprozesse „kausale“ Auswirkungen auf die Psy- selnden Anforderungen und Herausforderungen anpas-
che haben können, aber nicht umgekehrt (Churchland sen und den elementaren Funktionsaufgaben des All-
1986)? Oder bleibt es dabei: Gehirnprozesse haben ei- tagslebens gerecht werden, werden gewöhnlich als „psy-
nen kausalen Einfluss auf psychische Prozesse, aber chisch gesund“ angesehen. Wenn aber Verhaltens- und
die Psyche beeinflusst als eigenständige Entität auch psychische Probleme die Fähigkeiten eines Menschen
Vorgänge im Gehirn? (Popper und Eccles 1977). zu oft, zu lange und/oder zu massiv beeinträchtigen,
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
9 1
sodass es bei den alltäglichen Anforderungen zu Hause, und erleichterte Kommunikation, fraglos auch Nach-
in der Schule oder bei der Arbeit zu Schwierigkeiten teile (s. Beutler und Malik 2002, sowie 7 Kap. 2).
kommt, bzw. wenn psychische oder Verhaltensprobleme
die Person daran hindern, gesellschaftliche, normative
oder persönliche Ziele zu erreichen oder wenn sie dar- 1.3.2 Problematik der Definition und
unter „leiden“, sprechen wir bei Vorliegen bestimmter Klassifikation
Kriterien von sog. psychischen Störungen.
Die wohl weitgehendste und am ehesten konsensus- Die Grenzen zwischen „gestört und nicht gestört“ oder
fähige Definition für den Begriff der psychischen Stö- „krank und gesund“ werden zwar in Form von allge-
rung wurde im Zusammenhang mit dem US-amerika- meinen deskriptiven Aspekten (klinisch bedeutsam,
nischen DSM vorgelegt (modifiziert nach APA 1989, Leiden, Beeinträchtigung, Funktionsstörung) ange-
S. 944 sowie APA 2013, S. 26). sprochen, sind aber ungeachtet des kategorialen Cha-
rakters (liegt vor versus liegt nicht vor) in vielen Berei-
Definition chen fließend und nicht eindeutig definierbar. Der Be-
Psychische Störungen sind ein klinisch bedeutsames griff psychische Störung kann zudem durchaus auch
Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Mus- problematisch sein, da er u. a. sowohl eine alltags-
ter, das bei einer Person auftritt und das mit momen- sprachliche Bedeutung als auch eine fachlich definierte
tanem Leiden (z. B. einem schmerzhaften Symptom) Bedeutung haben kann. Hinzu tritt die Gefahr, dass
oder einer Beeinträchtigung (z. B. Einschränkungen in Diagnosen psychischer Störungen auch negative sozi-
einem oder in mehreren wichtigen sozialen oder Leis- ale Implikationen für den Betroffenen (Stigmata) ha-
tungsbereichen) oder mit einem stark erhöhten Ri- ben können, z. B. wenn die Diagnosevergabe mit poten-
siko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchti- ziell stigmatisierenden (z. B. Schizophrenie, Alkoholab-
gung oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu hängigkeit) oder anderen gesellschaftlichen Nachteilen
erleiden. Das Syndrom oder Muster darf nicht nur (z. B. Nichtaufnahme in eine private Krankenversiche-
eine verständliche und kulturell sanktionierte Reak- rung/Lebensversicherung) verbunden sein kann. Ver-
tion auf ein Ereignis sein, wie z. B. eine normale Trau- wirrend kann ferner sein, dass der diagnostische Be-
erreaktion bei Verlust eines geliebten Menschen. Un- griff psychische Störung auf der einen Seite in der tra-
abhängig vom ursprünglichen Auslöser muss bei der ditionellen Psychiatrie und Psychopathologie oft durch
betroffenen Person eine verhaltensmäßige, psychi- die älteren Begriffe psychische oder psychiatrische
sche, entwicklungsbezogene oder biologische Funk- Krankheit (7 Kap. 2) ersetzt wird bzw. auf der ande-
tionsstörung zu beobachten sein. Weder normabwei- ren Seite in der Psychologie auch manchmal deckungs-
chendes Verhalten (z. B. politischer, religiöser oder gleich mit dem Begriff abnormes Verhalten benutzt
sexueller Art) noch Konflikte des Einzelnen mit der wird (im Englischen ist der Begriff „abnormal psycho-
Gesellschaft sind psychische Störungen, solange die logy“ für die Klinische Psychologie weit verbreitet).
Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer Zweifellos haben alle diese Kritikpunkte, jeweils ab-
oben beschriebenen Funktionsstörung bei der betrof- hängig von der Perspektive bzw. des Anwendungsgebie-
fenen Person darstellt. tes oder der historischen Entwicklung, eine mehr oder
minder große Berechtigung. Allerdings ist zu konstatie-
ren, dass bislang kein Ansatz oder Modell vorliegt, das
An dieser Definition ist zu erkennen, dass das Kon- befriedigender das Wesen psychischer Störungen abbil-
strukt „psychische Störungen“ eine Vielzahl von In- det. Die jüngste Revision des DSM (DSM-5) hat sich
dikatoren, Prozessen und Interaktionen umfasst, die daher auch zum Ziel gesetzt, zusätzlich zum kategoria-
sich keineswegs nur auf psychische Prozesse im enge- len diagnostischen Ansatz dimensionale und störungs-
ren Sinne, sondern auf die Gesamtheit menschlichen übergreifende sowie entwicklungsbezogene Aspekte psy-
Verhaltens einschließlich des soziokulturellen Kontexts chischer Störungen stärker zu berücksichtigen (7 Gut
und der biologischen Betrachtungsebene beziehen. Fer- zu wissen). Die ursprüngliche Vision, eine basierend auf
ner wird deutlich, dass es sich um einen „deskriptiven“ aktuellen nosologischen Erkenntnissen gänzlich neue
Ansatz handelt, der weitgehend auf ursachenbezogene Metastruktur psychischer Störungen zu schaffen („car-
(ätiologische) Erklärungen als Klassifikationsgrund ver- ving nature at its joints“, Andrews et al. 2009; Regier
zichtet. Dieser beschreibende, aber wenig erklärende et al. 2009), war jedoch aufgrund der noch unzureichen-
Ansatz hat neben einigen Vorteilen, z. B. Zuverlässigkeit den und uneinheitlichen Befundlage nicht umsetzbar.
10 H.-U. Wittchen et al.

Gut zu wissen
1 initiativen ihren Niederschlag im DSM-5. Zum einen
Was ist neu im DSM-5? wurden einzelnen Störungsbildern und -klassen di-
Wie auch seine Vorgängerversionen (DSM-IV und mensionale Instrumente hinzugefügt. Dies wird ins-
frühere) gilt das DSM-5 als Wegweiser für die ICD- besondere für die Angststörungen deutlich: Dort ist
11. Mit dem Ziel einer Verbesserung der klinischen mit Ausnahme des selektiven Mutismus für jedes Stö-
Nützlichkeit, Erhöhung der Reliabilität bzw. Validität rungsbild eine dimensionale Skala entwickelt und in
der diagnostischen Kategorien und vor allem der Inte- mehrere Sprachen übersetzt worden (7 https://www.
gration neuer Forschungsbefunde zur Symptomatolo- psychiatry.org/psychiatrists/practice/dsm/educatio-
gie, Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese psychi- nal-resources/assessment-measures, für deutschspra-
scher Störungen gab es gegenüber dem DSM-IV und chige Instrumente, s. auch: 7 https://www.hogrefe.de/
DSM-IV-TR eine Reihe bedeutsamer Änderungen. So downloads/dsm-5-online-material), die im Selbstbe-
wurde die multiaxiale Struktur aufgegeben. Stattdes- richt den Schweregrad über die Auftretenshäufigkeit
sen werden einzelne Störungen und Störungsklassen assoziierter klinischer Merkmale (z. B. Vermeidungs-
nun entlang einer an der Individualentwicklung und verhalten) erfasst.
phänomenologischen Ähnlichkeit der Störungen ori- Mehr als seine Vorgängerversionen versteht sich das
entierten Metastruktur angeordnet. So werden z. B. DSM-5 als „living document“, das fortwährend ak-
zuerst die Störungen der neuronalen und mentalen tualisiert werden kann (7 https://www.psychiatry.org/
Entwicklung („neurodevelopmental disorders“) an- psychiatrists/practice/dsm); derzeit befindet sich die
geführt, anschließend folgen Schizophreniespektrum- erste Textrevision des DSM-5 in Vorbereitung.
und andere psychotische Störungen sowie bipolare
und verwandte Störungen usw., zuletzt werden medi-
kamenteninduzierte Bewegungsstörungen und andere
unerwünschte Medikamentenwirkungen sowie andere 1.3.3 Möglichkeiten der Klassifikation
klinisch relevante Probleme beschrieben. Es wurden
neue Diagnosen in das Klassifikationssystem aufge- Vor dem Hintergrund des in der Psychologie seit vielen
nommen (z. B. leichte kognitive Störungen, Binge-Ea- Jahrzehnten etablierten multimodalen und multime-
ting-Störung, prämenstruelle dysphorische Störung, thodalen Ansatzes (Seidenstücker und Baumann 1978)
pathologisches Horten oder Glücksspielsucht), die zu- hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass psychische Stö-
vor nur als sog. Forschungsdiagnosen aufgeführt wa- rungen derzeit am besten mittels eines deskriptiven
ren. Insgesamt wurde jedoch die Diagnosenanzahl multiaxialen Ansatzes (7 Klinisch betrachtet) beschrie-
reduziert. Für die einzelnen Störungsklassen erga- ben werden können. Dabei werden nicht nur die Sym-
ben sich unterschiedliche, teils nur geringe Änderun- ptome einer Störung auf mehreren Ebenen charakteri-
gen (Teil III). Ein Vorschlag für eine alternative Taxo- siert (körperlich, kognitiv, affektiv, verhaltensbezogen,
nomie der Persönlichkeitsstörungen konnte sich nicht sozial), sondern darüber hinaus auch der körperliche
gänzlich durchsetzen, wird aber als alternativer Klas- Gesamtzustand, weitere psychologische, verhaltens-
sifikationsvorschlag im DSM-5 und neben der bishe- bezogene und soziale Merkmale der Person sowie ihr
rigen Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen an- globales Funktionsniveau berücksichtigt. Aber auch
geführt. Zusätzlich zum kategorialen diagnostischen dieser umfassendere multiaxiale Ansatz wird u. a. we-
Ansatz werden dimensionale und störungsübergrei- gen der Vernachlässigung funktionaler Aspekte sowie
fende Aspekte psychischer Störungen stärker als bis- der Zeitdynamik als unvollständig angesehen und kri-
her berücksichtigt. So fanden zwei starke Forschungs- tisiert.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
11 1

Klinisch betrachtet
Drei Fallbeispiele

1. Normale Krise oder Depression?


Gerold M. veränderte sich – scheinbar ohne Anlass – und bei kleineren Anlässen Wutanfälle zu bekommen. In
in den letzten Wochen. Als ein bislang eher ausge- der Grundschule wurde sie trotzig und aufsässig den Leh-
glichener und fröhlicher Mensch wurde er niederge- rern gegenüber. Sie war zuvor ein aktives und umgängli-
schlagen und verzweifelt. Der betriebspsychologi- ches Kind gewesen, aber jetzt begann sie, andere Kinder
sche Dienst wurde hinzugezogen, als Herr M. bei einem bei der geringsten Provokation zu schlagen. In der Folge
Seminar morgens offensichtlich alkoholisiert einen Vor- gingen diese ihr bald aus dem Weg. Als ihr Bruder 6 Mo-
trag hielt. Als Führungskraft eines größeren mittelstän- nate alt war, stieß sie ihn bei einem Wutanfall so grob um,
digen Unternehmens schien es Herrn M. sehr gut zu ge- dass er sich den Kopf an der Wand seines Bettchens an-
hen. Er war finanziell abgesichert und verfolgte ein brei- schlug. Er verletzte sich zwar nicht ernstlich, aber Patri-
tes Spektrum von Interessen, er war körperlich gesund zias Mutter verlor die Geduld und ohrfeigte ihre Tochter.
und hatte eine ihn liebende Familie. Kurz nach seinem Außer sich schrie Herr T. seine Frau an, weil sie Patrizia
50. Geburtstag verlor er allmählich das Interesse an sei- geschlagen hatte. In der folgenden Woche konsultierte sie
ner Arbeit, wollte nicht mehr mit Freunden oder der Fa- die Kinderärztin.
milie ausgehen und zog es vor, sich in sein Arbeitszimmer
3. Psychotisches Erleben oder nicht?
zurückzuziehen. Dort trank er – für ihn ungewöhnlich –
Während seines zweiten Studienjahres begann Tho-
nahezu täglich Alkohol und grübelte vor sich hin. Er war
mas G. Selbstgespräche zu führen. Seine Mitbewohner
ohne Appetit, schlief schlecht und hatte an nichts Vergnü-
in der Wohngemeinschaft beobachteten immer öfter, wie
gen, auch nicht am Zusammensein mit seiner Frau und
er mit sich selbst sprach. Im Gespräch mit seiner Freun-
den Kindern. Mehr und mehr beherrschte ihn das Ge-
din zeigte sich, dass er in Wirklichkeit mit Stimmen, die er
fühl, dass er die Kontrolle über die Dinge verloren habe
zu vernehmen glaubte, eine wechselseitige Unterhaltung
und dass kaum noch eine Chance bestehe, sein Leben je
führte. In den folgenden Monaten begann er sich zuneh-
wieder voll in den Griff zu bekommen. Herr M. merkte,
mend zu vernachlässigen – er hörte auf zu duschen und
dass sein Blick häufig zu den Jagdwaffen schweifte, die er
die Kleider zu wechseln. Er blieb zu Hause und besuchte
in dem Landhaus aufbewahrte. Er fragte sich, ob seine
keine Vorlesungen und Seminare mehr. Eines Nachts
Finanzen genügend geordnet seien, um seiner Familie den
wurde sein Zimmernachbar Georg H. durch den aufge-
Unterhalt zu sichern, falls er sterben würde.
brachten Herrn G. geweckt, der sich über ihn beugte und
2. Verhaltensprobleme in der Kindheit ihn wild beschimpfte. Georg H. gelang es, Herrn G. zu be-
Patrizia T. war 7 Jahre alt, als ihr Bruder zur Welt kam. ruhigen und ihn zu überreden, mit ihm zur Notaufnahme
Kurz nach seiner Geburt fing sie an, zu Hause regelmäßig des nahe gelegenen Krankenhauses zu fahren.

Definition menhang mit der Hauptbezugsgruppe, dem sozialen


Multiaxiale Klassifikationssysteme psychischer Stö- Umfeld, Beruf, Wohnung, Finanzen etc. zu berück-
rungen sind ein Versuch, den in der Psychologie eta- sichtigen (vgl. sog. Z-Diagnosen in der ICD-10 bzw.
blierten multimodal-multimethodalen Ansatz appro- DSM-5 Kapitel „andere klinisch relevante Probleme“
ximativ zu berücksichtigen, um der Komplexität von sowie das allgemeine Funktionsniveau (das mehr
Manifestations- und Betrachtungsebenen von gestör- oder weniger eingeschränkt bzw. durch Behinderun-
tem Verhalten besser gerecht zu werden. gen charakterisiert sein kann; (vgl. WHODAS-Skala,
Was heißt multiaxiale Betrachtung konkret? Hier- APA 2013) zu erfassen.
mit soll die Komplexität und das Gefüge psychischen Wenngleich im DSM-5 die Codierung auf bisher fünf
Leidens, assoziierter Beeinträchtigungen und der Le- Achsen aufgegeben wurde, bedienen sich andere (we-
bensumstände abgebildet werden. So kann ein Patient niger prominente) Klassifikationssysteme weiterhin ei-
mit einer Agoraphobie zusätzlich unter einer körperli- ner multiaxialen Struktur, z. B. die Operationalisierte
chen Erkrankungen leiden, unabhängig davon, ob die Psychodynamische Diagnostik (Arbeitskreis OPD
Krankheit im direkten Zusammenhang mit der Ago- 1996) oder das Multiaxiale Klassifikationsschema für
raphobie steht. Für die Einordnung und Beurteilung psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters
der Störung ist außerdem wichtig, Aspekte im Zusam- (MAS; Remschmidt et al. 2012; 7 Kap. 37).
12 H.-U. Wittchen et al.

1.3.4 Bewertung der Klassifikationssysteme


1 ten ein. Bei den RDoC handelt es sich also nicht um
Trotz vieler und zum Teil berechtigter Kritik an den eine Klassifikation nach Diagnosen, sondern um eine
derzeit international gebräuchlichen diagnostischen Heuristik zur Betrachtung neurobiologischer Systeme,
Klassifikationssystemen mit ihrer kategorialen Struktur die dann mit klinischen Phänomenen verlinkt werden.
bleibt zu konstatieren, dass das DSM-5 wie auch die Hintergrund dieser Initiative ist auch die Suche nach
ICD-10 (bzw. zukünftig die ICD-11) derzeit den „größ- einer Neuausrichtung psychiatrischer Forschung mit
ten gemeinsamen Nenner“ darstellen; deshalb sind die Ziel, die Klassifikation von psychischen Störungen
sie auch für alle Gesundheitssysteme und Einrichtun- zu überdenken und mittels beobachtbarer Verhaltens-
gen verbindlich. Befriedigendere „ursachenorientierte“ dimensionen (z. B. experimentalpsychologische Para-
oder entsprechende „interventionsorientierte“ Klassifi- digmen) sowie neurobiologischer Untersuchungen ei-
kationen psychischer Störungen sind derzeit wegen der nen Alternativvorschlag zu entwickeln. Dies schien
noch unzureichenden und bruchstückhaften Erkennt- aussichtsreich, da trotz mehr als drei Jahrzehnten in-
nislage über die Entstehungsbedingungen und den Ver- tensiver Forschungsanstrengungen im Modus der
lauf psychischer Störungen noch nicht möglich. Die DSM-Kategorien sich die Hoffnung auf biologische
Entwicklung derartiger Klassifikationssystematiken ist oder genetische Marker zur Bestimmung psychischer
eine vorrangige Forschungsaufgabe für das Fach Klini- Störungen nicht erfüllen ließ. Während also das rein
sche Psychologie und ihre Nachbargebiete wie die kog- symptombasierte DSM- und ICD-System agnostisch
nitiven Neurowissenschaften (7 Gut zu wissen). bezüglich der Pathogenese psychischer Erkrankungen
ist, hat die RDoC-Initiative das erklärte Ziel, biologi-
Gut zu wissen sches Wissen über Risikofaktoren und Ursachen psy-
chischer Störungen zu systematisieren.
Die Research Domain Criteria – RDoC: Ein alternati- Wenngleich die RDoC kein praktikables alternati-
ves Klassifikationssystem? ves Klassifikationssystem darstellen, so mag doch die
Die Research Domain Criteria, kurz RDoC, gehen Heuristik dazu dienen, neue, auf Krankheitsmecha-
auf eine Initiative am National Institute of Men- nismen basierende sowie individualisierte Therapie-
tal Health (Bethesda, USA) zurück und wurden kurz strategien zu entwickeln. Trotz einiger Kritikpunkte
vor der Veröffentlichung des DSM-5 und zunächst als ist sie der zurzeit am besten ausgearbeitete Rahmen
alternatives Diagnosemanual vorgeschlagen (Cuth- für eine multidisziplinäre Erforschung psychischer
bert 2015). Hierbei wird ein dimensionaler und di- Störungen (7 Abschn. 6.3.2, „7 Gut zu wissen: Von
agnoseunabhängiger sog. Mehrebenen-Ansatz ver- Endophänotypen zu RDoC“).
folgt, bei dem nicht psychische Störungen im engeren
Sinne charakterisiert werden, sondern fünf (mensch-
liche) Basisfunktionen (Domänen). Zu diesen Domä-
nen gehören Systeme mit negativer Valenz („nega- 1.4 Modellperspektiven in der Klinischen
tive valence systems“), Systeme mit positiver Valenz Psychologie
(„positive valence systems“), kognitive Systeme („co-
gnitive systems“), Systeme für soziale Prozesse („sys- Angesichts der Themenbreite der Klinischen Psycho-
tems for social processes“) sowie Aktivierungs- und logie und der Vielgestaltigkeit psychischer Störungen
regulatorische Systeme („arousal and regulatory sys- kann es eigentlich nicht überraschen, dass es keine all-
tems“), die sich jeweils in verschiedene Unterkonst- seits akzeptierte und umfassend gültige Gesamttheo-
rukte aufsplitten (z. B. akute Bedrohung, potenzielle rie psychischer Störungen gibt. Es liegt zwar eine kaum
Bedrohung, anhaltende Bedrohung, Verlust und frus- überschaubare Vielfalt an Theorien und Modellen so-
trierende Nichtbelohnung als negative Valenzsys- wie Befunden vor, ihr Geltungsbereich ist aber zumeist
teme). Diese Domänen bzw. Konstrukte werden je- auf Teilaspekte, ausgewählte Störungen oder besten-
weils anhand einer Reihe von Analyseeinheiten be- falls Störungsgruppen sowie Verfahren beschränkt.
trachtet, die von Genen, Molekülen und Zellen, über Als wissenschaftliches Fach mit einer zudem im Ver-
Hirnschaltkreise und Physiologie, bis hin zu Verhal- gleich zur Medizin und Psychiatrie jungen professionel-
ten und Selbstberichten reichen. Die sich daraus er- len Tradition in den Anwendungsfeldern ist die Klini-
gebende Matrix (. Abb. 1.2) stellt eine neue Syste- sche Psychologie deshalb in besonderem Ausmaß wis-
matik für die Erforschung menschlichen Verhaltens, senschaftlichen Theorien, Modellen, ihrer Prüfung,
einschließlich (aber nicht ausschließlich!) psychischer Weiterentwicklung und ihrer Umsetzung verpflichtet.
Störungen dar und bezieht explizit die stetig wachsen- Damit ist ein weiteres Schlüsselcharakteristikum der
den Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaf- Klinischen Psychologie angesprochen, ihre Forschungs-
orientierung.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
13 1

. Abb. 1.2 Die Matrix für die Research Domain Criteria (RDoC). (Aus Lilienfeld und Treadway 2016, S. 446, republished with permission
of Annual Reviews, © 2016; permission conveyed through Copyright Clearance Center, Inc.)

> Wichtig senschaftliche Zielsetzungen, die im Zusammenhang


Theorien und Modelle dienen dazu, Wissen und Er- mit störungsbezogenen Aspekten verfolgt werden:
klärungen über Phänomene zu ordnen, besser zu 1. Beschreibung des interessierenden Verhaltens: d. h.
strukturieren und zu organisieren. Sie sollen helfen, eine möglichst objektive, reliable und das gesamte
Geltungsbereiche und Grenzen von Erklärungsansät- Verhalten (kognitive, affektive, biologische, soziale
zen besser zu verstehen. Damit geben sie Anleitung Ebene) umfassende Beschreibung.
für weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen. 2. Erklärung: die Auffindung regelhafter Muster und
Prozesse und der mit ihnen verknüpften Faktoren,
Wissenschaftliche Theorien und Modelle können nicht
einschließlich der Faktorenkombinationen und -in-
vollständig, umfassend und endgültig sein, weil sie je-
teraktionen.
weils von einem bestimmten Erkenntnisstand abhängig
3. Vorhersage: Verstehen der Art und Weise, wie Ver-
sind und weil fast immer bestimmte Teilaspekte unge-
haltensereignisse zusammenhängen und über welche
klärt oder unbekannt sind. Aber selbst unvollständige
Mechanismen diese mit Prädiktoren verknüpft sind.
Theorien sind möglicherweise sehr nützlich, weil sie
4. Beeinflussung und Kontrolle: Ableitung von Inter-
neue Perspektiven eröffnen können.
ventionen, die Verhalten „kontrollieren“ bzw. verän-
Auf der Grundlage von verschiedenen Theorien
dern, z. B. Auftreten verhindern, wahrscheinlicher
und Modellen geht es in der Klinischen Psychologie
machen oder abschwächen.
ganz allgemein um fünf übergeordnete allgemeine wis-
14 H.-U. Wittchen et al.

5. Reduktion von Leiden, Behinderung und Verbesse-


1 rung der Lebensqualität: Reduktion von Störungs- Modellperspektiven in der Klinischen Psychologie
faktoren, um der Person eine selbstständige kogni-
tive, affektive, körperliche und soziale Weiterent- (Neuro-)biologische Perspektive
wicklung zu ermöglichen. Ursachen psychischer Störungen liegen in der Funkti-
onsweise der Gene, der Beschaffenheit und dem Stoff-
Im Hinblick auf diese Ziele lassen sich in der Klini- wechsel des Gehirns, des Nerven- und endokrinen
schen Psychologie und bei psychischen Störungen je Systems. Störungen werden durch strukturelle und
nach Auflösungsgrad mindestens drei sich zum Teil biochemische Prozesse erklärt. Varianten sind u. a.
überlappende und mehr oder minder befriedigende Per- das traditionelle medizinische Krankheitsmodell und
spektiven unterscheiden. Unter diesen Perspektiven das psychobiologische Modell. Methodische Aspekte
lässt sich jeweils eine Vielzahl wissenschaftlich begrün- beinhalten das Experiment, objektive psychophysiolo-
deter oder deduzierter Modelle subsumieren, die in der gische, neurochemische und labortechnische Marker.
Vergangenheit und Gegenwart unser Fach beeinflussen:
5 die (neuro-)biologische (neurowissenschaftliche) Psychodynamische Perspektive
Perspektive, Ursachen des Verhaltens und psychischer Störun-
5 die psychodynamische Perspektive und gen liegen in intrapsychischen, zumeist unbewussten,
5 die kognitiv-behaviorale Perspektive. Konflikten, Impulsen und Prozessen (Instinkte, biolo-
gische Triebe, Gedanken, Emotionen), die häufig auf
Als vierte Gruppe lassen sich die sog. integrativen Mo- frühkindliche Konflikte rückführbar sind. Die Vari-
delle anführen, die eine Synthese verschiedener Per- anten sind vielfältig (psychoanalytische Schulen). Me-
spektiven versuchen. Diese integrativen Modelle ha- thodische Zugänge umfassen das Gespräch und indi-
ben in der aktuellen Forschung die größte Bedeutung rekte subjektive Maße (Träume, Widerstände).
(7 Kap. 13).
In der traditionellen Lehrbuchliteratur werden noch Kognitiv-behaviorale Perspektive
häufig weitere Perspektiven (z. B. die humanistische, Psychische Störungen sind auf der Grundlage von
die evolutionäre oder die systemische Perspektive) un- Vulnerabilitäten und Stress entstehende fehlange-
terschieden. Da diese aber weitgehend in die oben ge- passte erlernte (z. B. operante, klassische Konditio-
nannten Hauptperspektiven oder die integrativen Mo- nierung, Modelllernen) Verhaltens- und Einstellungs-
delle überführbar sind bzw. ihr Erklärungswert nur in muster, einschließlich kognitiver Prozesse (Aufmerk-
Bezug auf Teilziele oder Teilaspekte gestörten Verhal- samkeit, Erinnern, Denkmuster, Attributionsmuster,
tens überzeugt, werden Aspekte dieser Perspektiven le- Problemlösen). Varianten sind die Verhaltenstherapie
diglich in den Einzelkapiteln angesprochen (s. Über- und die kognitive Therapie. Die Methoden umfassen
sicht). das Experiment, kontrollierte Studiendesigns, direkte
Im Folgenden werden die Hauptperspektiven kurz objektive (labortechnische) und indirekte Maße.
charakterisiert. Dabei sollen einige historische Anre-
gungen die Entwicklung und z. T. Überlappung der Integrative Perspektive
Konzepte verdeutlichen, um den früheren Stellenwert Psychische Störungen sind das Ergebnis von komple-
einzelner Ansätze, ihre Entwicklung und aktuelle Be- xen Vulnerabilitäts-Stress-Interaktionen, bei denen
deutung für die Klinische Psychologie nachzuvollzie- gleichermaßen biologische, kognitiv-affektive, sozi-
hen. Bei dieser Betrachtung ist zu erkennen, dass z. B. ale und umweltbezogene sowie Verhaltensaspekte in
die (neuro-)biologische und die kognitiv-behaviorale ihrer entwicklungs- und zeitbezogenen Dynamik in
Orientierung enge Querverbindungen untereinander Wechselwirkung stehen. Dabei wird auf alle verfügba-
aufweisen (7 Exkurs). Die historische Perspektive wird ren wissenschaftlichen Erkenntniskomponenten unter
zumeist auf die Neuzeit verkürzt und die Entwicklung Einschluss der vorgenannten Perspektiven zurückge-
in der Antike und im Mittelalter unberücksichtigt ge- griffen.
lassen (s. hierzu Lück und Miller 1999).
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
15 1
Exkurs

Modellperspektiven im Alltag: Wer hat Recht?

Gerd S., 46 Jahre, wurde auf Bemühen seiner Ehefrau in führte sie auf dysfunktionale Kognitionen im Rahmen ei-
einem mittelschweren depressiven Zustand in die Auf- nes seit vielen Jahren bestehenden geringen Selbstwertge-
nahme einer psychiatrischen Universitätsklinik gebracht: fühls zurück, welche sich seit dem 3 Monate zurückliegen-
Wegen akuter Suizidgefahr stimmte er einer stationären den Arbeitsplatzverlust drastisch verstärkt haben. Sie emp-
Aufnahme zu. In der 10-tägigen Diagnosephase wurde er fahl eine kognitive Verhaltenstherapie.
von drei Spezialisten gesehen:
Der Psychoanalytiker beschreibt das Störungsbild als
Der Stationspsychiater kam zu dem Ergebnis, dass es sich depressive Neurose, deren Ursache er im Zusammen-
um eine ausgeprägte Episode einer Major Depression hang mit einer frühkindlichen Trennungssituation der
handelt. Die Symptome führte er auf eine gestörte Ex- Eltern auf einen verdrängten Kindheitskonflikt (Aggres-
pression von 5-HTT-1a-Neurotransmittern in bestimmten sion gegen den die Familie verlassenden Vater) zurück-
Hirnregionen zurück und empfahl die Therapie mit sero- führt, der unbewusst durch Enttäuschungs- und Krän-
tonerg wirksamen Antidepressiva. kungserlebnisse am Arbeitsplatz aktualisiert wurde. Der
Psychoanalytiker empfiehlt eine psychoanalytische The-
Die hinzugezogene Klinische Psychologin und Psychothe- rapie, um zu versuchen, die frühere Verdrängung aufzu-
rapeutin stellte ebenfalls eine Major Depression fest. Diese heben.

1.4.1 (Neuro-)biologische Perspektive zur Konzeption einer Neuropsychotherapie (Grawe


2004) geführt.
Diese Perspektive geht davon aus, dass psychische Stö- Mit einer Vielzahl teilweise neuer Methoden geneti-
rungen die direkten oder indirekten Folgen von Störun- scher, neurophysiologischer, neuropharmakologischer,
gen oder Erkrankungen des Gehirns sind. Die Grun- neuroendokrinologischer und neuroanatomischer Art
dannahme ist: Alle psychischen Funktionen und das wurden dabei vielfältige psychologische und psychopa-
Verhalten sind direkt abhängig von der Funktion und thologische Korrelate struktureller und funktioneller
der anatomischen Beschaffenheit von Gehirnzellen, Störungen des Gehirns nachgewiesen. Damit hat der
-strukturen und dem Nervensystem. heutige neurobiologische Ansatz zu einem wesentlich
Der Begriff neurobiologisch ist dabei weit gefasst fundierteren Wissen nicht nur über die Entwicklung
und schließt u. a. biochemische, anatomische, neuroen- psychischer Störungen geführt, sondern auch neue Zu-
dokrine, physiologische und genetische (Gen- und Pro- gänge sowie ein besseres Verständnis psychologischer
teom-)Ansätze ein. Diese methoden- und theorienrei- Funktionen und Prozesse ermöglicht. Auf diese Impli-
che Perspektive wird oft – in wenig adäquater Weise kationen wird u. a. in der Diskussion integrativer An-
– verknüpft mit dem sog. medizinischen Krankheitsmo- sätze sowie in 7 Kap. 5 und 7 eingegangen.
dell (früher auch organmedizinische Theorie) und ent- Kritisiert wird an der neurobiologischen Perspek-
wickelte sich vor allem unter dem Einfluss der bis heute tive aus psychologischer Sicht vielfach der einseitige
andauernden Fortschritte in der Physiologie, Neurobio- Anspruch, psychische Phänomene, Verhalten und psy-
logie, Anatomie sowie der bildgebenden Verfahren. Un- chopathologische Symptome allein durch „kausal“ wir-
ter dem derzeit häufig zitierten Slogan „psychische Stö- kende neurobiologische Auffälligkeiten erklären zu
rungen sind Hirnerkrankungen“ geht dieses Paradigma wollen. Zudem wird eingewandt, dass diese Perspektive
davon aus, dass die Ursachen psychischer Störungen in Wechselwirkungen, z. B. zwischen kognitiven, affekti-
spezifizierbaren Defekten und Fehlfunktionen des Ge- ven, verhaltensbezogenen und psychobiologischen Pro-
hirns und des Nervensystems liegen. Daraus wird ge- zessen, nur unzureichend beachtet.
folgert, dass eine erfolgreiche „kausale“ Therapie (oder
gar Heilung) daran gebunden ist, dass wir über eine ge-
» Es wäre ein wissenschaftlich nicht zu rechtfertigendes
Missverständnis, wenn behauptet würde, die sub-
sicherte Kenntnis der Funktionsweise des Gehirns und
stantielle Erklärungsebene für psychische Phänomene
der die Störung bzw. Krankheit verursachenden Fakto-
liege allein auf neurophysiologischer Ebene, und
ren verfügen.
psychologische Theorien seien bestenfalls Hilfskon-
Die Attraktivität der neurobiologischen Perspektive
struktionen. Eine solche Auffassung verkennt die
hat sich in den letzten zwei Dekaden angesichts neuer
Tatsache, dass das gesamte Gefüge der Wissenschaften
Entwicklungen in der neurobiologischen Forschung und
auf der Anerkennung jeweils eigenständiger Analy-
aufgrund einer verstärkten interdisziplinären („Neuros-
seebenen beruht. Auch die Psychologie ist eine solche
cience“-)Ausrichtung erheblich ausgeweitet, und sogar
16 H.-U. Wittchen et al.

eigenständige Analyseebene. Wie es nicht sinnvoll wäre cher Würde behandeln sollte. Zeitgleich ergaben sich im
1 zu sagen, biologische Theorien seien nur Hilfskon- Rahmen der aufklärerischen Bewegung vielerorts vor
struktionen bis man auf der Ebene der Quantentheorie dem Hintergrund der empirischen Medizin erste An-
die „eigentlichen“ Erklärungen gefunden habe, so wenig sätze für eine rationale „Behandlung“ psychischer Er-
sinnvoll ist es auch, genuin psychologische Fragen auf krankungen. Thomas Sydenham (1624–1689) war in
neurowissenschaftliche reduzieren zu wollen. … Psycho- diesem Zusammenhang ein besonders einflussreicher
logie und Hirnforschung beziehen sich auf ganz unter- Befürworter eines empirischen Ansatzes der Klassifika-
schiedliche Analyseebenen; sie können daher nicht in tion und Diagnose in der Medizin, auf den sich auch
Konkurrenz zueinander stehen. Vielmehr kann ihr spätere Ansätze einer Klassifikation und Diagnostik
Verhältnis – dort wo sich Berührungspunkte bieten – nur psychischer Störungen beziehen.
das einer Kooperation sein (Fiedler et al. 2005, S. 59). Mit der Formulierung „Geisteskrankheiten sind
Gehirnkrankheiten“ im Jahre 1845 propagierte Wil-
z Historischer Hintergrund helm Griesinger (1817–1868; Exkurs) in seinem be-
Bis ins Mittelalter waren dämonologische Ansätze des rühmten Lehrbuch „Die Pathologie und Therapie der
Irreseins weit verbreitet. Die „Verwahrung“ von Geis- psychischen Krankheiten“ (Griesinger 1845) erstmals
teskranken war zumeist Angelegenheit der Klöster und die damals neue Einstellung, dass „Geisteskrankheiten
Kirchen oder gar Gefängnisse, von Therapie und Hei- den körperlichen Krankheiten gleichzustellen seien und
lung war noch keine Rede. Im 18. Jahrhundert entwi- durch Erkenntnisse der hirnanatomischen und phy-
ckelten sich vielerorts sog. „rationale“ Ansätze, die in siologischen Forschung zu überwinden seien“. Dieses
Verbindung mit ersten „humanitären“ Betreuungsan- Lehrbuch war bis in das frühe 20. Jahrhundert in vie-
sätzen einen Durchbruch in der Betreuung von psy- len Ländern und für viele Wissenschaftler, wie z. B. Sig-
chisch Kranken bedeuten. Die Befreiung der Kranken mund Freud, das Standardwerk. In der Tradition einer
von ihren Fesseln im Kerker war eine große humanitäre somatogenen Sichtweise, die bereits von Hippokrates
Reform, für die sich z. B. Philippe Pinel (1745–1826) vertreten worden war, forderte Griesinger, dass mit je-
in der Zeit der französischen Revolution einsetzte. In der Diagnose einer psychischen Störung auch eine phy-
Übereinstimmung mit dem Gleichheitsgebot der neuen siologische Ursache spezifiziert werden müsse. Häufig
französischen Republik war er der Ansicht, dass seine übersehen wird dabei, dass er sich explizit auch um eine
geisteskranken Patienten im Grunde ganz normale Integration psychologischer Aspekte bemühte; so ent-
Leute seien, denen man mit Mitleid und Verständ- warf er z. B. eine Psychologie des Ichs und eine Kon-
nis begegnen und die man als Menschen mit persönli- zeption der unbewussten pathogenen Faktoren.

Exkurs

Das traditionelle medizinische Krankheitsmodell

Gemäß dem traditionellen medizinischen Krankheits- 5 Dieser Defekt (und nicht unbedingt die Ursache) ist
modell sind psychische Störungen „Geisteskrankheiten“ ausnahmslos körperlicher Art.
oder „Erkrankungen des Gehirns“ (Charney et al. 1999).
Krankheit ist ein theoretisches Konstrukt und ein prakti- Das traditionelle Krankheitsmodell (. Abb. 1.3) er-
sches Denkmodell. Die wesentlichen Korrolarien lauten: scheint durchaus praktikabel und wird als handlungslei-
5 Beschwerden, Abweichungen körperlicher und see- tendes Modell daher auch reduktionistisch (aus der Dia-
lischer Funktionen und Verhaltensauffälligkeiten gnose ergibt sich die Therapie) nicht nur in der medizini-
(= das Kranksein) sind auf eine primäre Störung ei- schen Versorgung, sondern auch im Zusammenhang mit
nes spezifizierbaren Defekts oder einer Störung einer psychologischen Interventionen angewendet. Unter der
Funktion zurückzuführen (die möglicherweise noch Annahme, dass Depressionen auf Störungen des Seroto-
nicht entdeckt/bekannt ist). ninhaushalts rückführbar sind, ist vom Einsatz serotonerg
5 Dieser Defekt ist in der Person gelegen und bildet die wirksamer Substanzen eine Symptombesserung und Hei-
eigentliche Krankheit. lung zu erwarten. Ebenso könnte ein Psychologe bei Vor-
5 Der Defekt ist zurückzuführen auf eine eindeutige liegen ausgeprägter depressionstypischer dysfunktionaler
Ursache (kausal) bzw. auf ein immer wiederkehrendes Kognitionen mittels der kognitiven Therapie eine Besse-
Muster von Ursachen. rung erwarten.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
17 1

. Abb. 1.3 Das traditionelle medizinische Modell. a Seine Anwendung auf psychische Störungen: ein Beispiel. b Seine „naive“ Anwendung
in psychologischen Störungsmodellen: ein alternatives Beispiel

Exkurs

Die progressive Paralyse als Modell

Die Geschlechtskrankheit Syphilis mit ihren psychischen weisen. 1897 impfte Richard von Kraft-Ebing Paralysepa-
Folgen war seit vielen Jahrhunderten bekannt. Seit 1798 tienten Eiter aus syphilitischen Wunden ein. Die Kranken
wusste man, dass es bei vielen Geisteskrankheiten zu ei- entwickelten keine Syphilis, waren also bereits früher in-
nem Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte kam. fiziert worden. 1905 wurde schließlich auch der die Sy-
So wurden bei vielen Kranken u. a. Größenwahn und ein philis verursachende Mikroorganismus von Fritz Schau-
progredienter Verlauf festgestellt, für die keine Besserung dinn entdeckt. Damit war erstmals ein Kausalzusammen-
mehr möglich war. 1825 wurde dieser Symptomkomplex hang zwischen Infektion, Zerstörung bestimmter Bereiche
unter dem Namen progressive Paralyse als Krankheit be- des Gehirns und einer psychischen Störung nachgewie-
nannt. Man stellte zwar früh fest, dass diese Paralysepa- sen worden und es konnten wirksame medikamentöse Be-
tienten früher eine Syphilis hatten, aber es dauerte viele handlungsstrategien abgeleitet werden. Dieser Modellfall,
Jahre, bis Louis Pasteur eine „Keimtheorie“ der Krank- der sich mit dem medizinischen Krankheitsmodell deckt,
heiten aufstellte, die es möglich machte, den Zusammen- bleibt bis heute der Idealfall vieler Suchstrategien im bio-
hang zwischen Syphilis und progressiver Paralyse nachzu- medizinischen Bereich.
18 H.-U. Wittchen et al.

Exkurs
1
Wilhelm Griesinger

Wilhelm Griesinger (. Abb. 1.4), der von 1860–1864 in dafür einsetzte, nicht nur psychisch Kranke aus dem
Zürich Professor für Innere Medizin und Direktor der Schattendasein von Wohltätigkeit und Ausgrenzung he-
medizinischen Klinik mit angeschlossener Irrenabteilung rauszuführen, sondern auch, indem er den Verzicht auf
war, hatte darüber hinaus entscheidenden Einfluss auf die Zwangsmaßnahmen propagierte. Nach seiner Berufung
bauliche und organisationstechnische Ausgestaltung der an die Charité in Berlin (1864) veröffentlichte er als erster
stationären Versorgung und Therapie. Die bekannte „Ir- einen durchaus noch modernen sozialpsychiatrischen An-
ren-Heilanstalt Burghölzli“ am Rande von Zürich wurde satz. So empfahl er in Ergänzung zu den derzeit grund-
zusammen mit Heinrich Hoffmann nach seinen Kon- sätzlich üblichen wohnortfernen „Heilanstalten“ schon
zepten 1865–1870 erbaut und war bis ins späte 20. Jahr- damals die Einrichtung kleinerer, zentral in der Stadt ge-
hundert ein Modell für die Einrichtung vieler Kliniken legener Einrichtungen für Kurzzeitpatienten und „Pflege-
für psychische Störungen. Dies umso mehr, als er sich familien“ für die Unterbringung von Rekonvaleszenten.

Neben Griesinger gilt Emil Kraepelin (1856–1926; drome im Idealfall auch immer auf eine physiologische
Exkurs) als Begründer der modernen Psychiatrie und Dysfunktion des Körpers zurückführen könne. Jede
Vater der noch heute durchaus aktuellen psychopatho- psychische Krankheit hat nach Kraepelin (1883) defi-
logischen Klassifikation. In seinem Lehrbuch (1883) nierte Unterschiede zu anderen psychischen Krankhei-
konzipierte er als erster ein Klassifikationssystem, das ten. Diese Unterschiedlichkeit äußere sich nicht nur in
den Grundlagen eines medizinischen Krankheitsmo- ihren Symptomen und Syndromen, sondern auch in ih-
dells psychischer Störungen den Weg bahnte. Kraepelin rer spezifischen Genese, ihrem Verlauf und in ihrer Pro-
beobachtete, dass Geisteskrankheiten regelhaft mit be- gnose. Darüber hinaus stand Kraepelin in engem Aus-
stimmten Gruppen von Symptomen, für die er den Be- tausch mit Wilhelm Wundt und seiner durch ihn be-
griff Syndrom einführte, verbunden sind. Diese Regel- gründeten experimentalpsychologischen Orientierung.
haftigkeit in den Syndromen ließ ihn auf eine zugrunde Auf dieser Basis entwickelte Kraepelin auch die Tradi-
liegende physische Ursache schließen, so wie man me- tion der experimentellen Psychopathologie als Grund-
dizinische Krankheiten und ihre Symptome und Syn- lage einer wissenschaftlich begründeten Psychiatrie.

Exkurs

Emil Kraepelin

Emil Kraepelin (. Abb. 1.5) gilt als „Vater der expe- terien ihrer Diagnose ableiten konnte. Das Kraepelin’sche
rimentellen Psychopathologie und der ersten Klassi- Klassifikationsschema ist bis heute eine der wesentlichen
fikation“. Er unterschied zwei Hauptgruppen schwe- Grundlagen der gebräuchlichen diagnostischen kategoria-
rer psychischer Krankheiten: die Dementia praecox – len Klassifikationssysteme in der Psychiatrie und der psy-
eine Bezeichnung, für die später der Begriff Schizophrenie chischen Störungen insgesamt. Kraepelin und seine Mit-
eingeführt wurde – und die manisch-depressive Psychose. arbeiter haben außerdem in ihrem Münchener Labor um
Er postulierte als Ursache ein klinisches Ungleichgewicht die Jahrhundertwende wesentliche experimentalpsycholo-
im Falle der Schizophrenie und eine Stoffwechselstörung gische Traditionen in der Psychopathologie begründet, so
als Ursache der manisch-depressiven Psychose. Obwohl es u. a. im Zusammenhang mit einer Klassifikation der Asso-
damals weder labortechnische Verfahren zur Prüfung die- ziationen und Gesetzmäßigkeiten bei verschiedenen Geis-
ser Hypothesen und zudem noch keine entsprechend spe- teskrankheiten sowie unter Fieber, Alkoholeinfluss und
zifischen Behandlungsmethoden gab, bestand der Wert des Ermüdung. Diese Tradition wurde später von vielen ande-
Kraepelin’schen Modells darin, dass man zumindest den ren aufgegriffen und experimentell fortgesetzt, so z. B. von
Verlauf der Krankheit vorhersagen sowie eindeutige Kri- Max Wertheimer, C.G. Jung und Eugen Bleuler.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
19 1

. Abb. 1.4 Wilhelm Griesinger (1817–1868). (© Psychiatrische . Abb. 1.5 Emil Kraepelin (1856–1926). (Foto: UAL_FS_N00155,
Universitätsklinik Zürich, mit freundlicher Genehmigung der Universitätsarchiv Leipzig, Universität Leipzig)
Universität Zürich)

auf ungelöste, verdrängte frühkindliche Konflikte, die


durch spätere auslösende Situationen aktiviert wer-
1.4.2 Psychodynamische Perspektive den können. Neurotische Symptome werden als miss-
lungene Verarbeitungsversuche oder Ersatz für derar-
Nach dem traditionellen psychodynamischen Modell tige verdrängte Konflikte oder als Ersatzbefriedigung
sind die Ursachen psychischer Störungen primär in- für darauf zurückgehende Impulse gesehen. Eine wei-
trapsychischer und nicht biologischer Natur. Die hoch tere zentrale Modellannahme betrifft sog. Abwehrme-
komplexen und in weiten Bereichen empirisch nicht be- chanismen, die der Neutralisierung teilweise unbewuss-
legten psychoanalytischen Theorien gehen dabei da- ter Tendenzen dienen.
von aus, dass die meisten psychischen Störungen ledig-
lich Erweiterungen eigentlich normaler, d. h. von allen z Historischer Hintergrund
Menschen erfahrbarer Prozesse darstellen. Es wird da- In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten
von ausgegangen, dass entscheidende Determinanten Emotion, Motivation, Gedanken und innere Kon-
menschlichen Verhaltens unbewusst sind. Kern des psy- flikte des Menschen sowohl hinsichtlich der norma-
chodynamischen Paradigmas ist die These, dass psy- len als auch der pathologischen Ausprägung mehr Auf-
chische Krankheiten aus Problemen des Unbewussten merksamkeit. Dieses neu erwachte Interesse stand
entstehen. Freud selbst hat die Entdeckung des Unbe- möglicherweise einerseits damit in Verbindung, dass
wussten als dritte große Revolution nach der koperni- die neuen Theorien zwar viele neue Erkenntnisse
kanischen und der darwinistischen Wende bezeichnet über das Nervensystem erbrachten, aber keine Ant-
(vgl. Schüßler 2002). wort auf Strukturabnormitäten im Sinne von physio-
So genannte – von Psychosen abgegrenzte ‒ Neu- logischen Dysfunktionen gaben. Zudem wurde deut-
rosen, die ursprünglich im Vordergrund dieser Per- lich, dass es neben der Dementia praecox und dem
spektive standen, lassen sich danach zurückführen manisch-depressiven Kranksein eine Fülle weiterer
20 H.-U. Wittchen et al.

„nervöser Erkrankungen“ gab, bei denen offensicht-


1 lich, wie wir heute sagen würden, dysfunktionale Ge-
danken eine entscheidende Rolle spielten. Die Vernach-
lässigung dieser Phänomene durch Philosophen und
Wissenschaftler hat viele Kliniker und Forschergrup-
pen motiviert, sog. intrapsychischen Konflikten als Ur-
sache verschiedener psychischer Störungen eine grö-
ßere Rolle zuzuweisen. Die sog. psychogenetischen Auf-
fassungen und Modelle machten für Geisteskrankheiten
Funktionsstörungen psychischer Natur verantwortlich.
Der Wiener Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815)
ging z. B. davon aus, dass hysterische Störungen durch
eine bestimmte Verteilung eines universellen magneti-
schen Fluidums verursacht würden und mittels Hyp-
nose heilbar seien. Mit dieser Perspektive werden auch
Jean-Martin Charcot (1825–1893), Pierre Janet (1859–
1947) sowie der Wiener Arzt Josef Breuer (1842–1925)
verbunden.
Vor diesem Hintergrund entwickelte Sigmund Freud
(1856–1939) sein bis heute einflussreiches und durch
mehrere weitere Perspektiven (Jung, Adler, Sullivan)
vielfach modifiziertes psychoanalytisches Modell der
menschlichen Entwicklung, der Persönlichkeit und be-
stimmter psychischer Störungen (Neurosen). Dieses ist
heute auch als das psychodynamische bzw. das tiefen-
psychologische Modell bekannt (Exkurs). Der Begriff
Psychoanalyse bezeichnet einerseits eine Theorie zur
Erklärung psychologischer und psychopathologischer
Phänomene, andererseits ein psychotherapeutisches Be-
. Abb. 1.6 Sigmund Freud (1856–1939). (© Writer Pictures Ltd/
Interfoto)
handlungsverfahren.

Exkurs

Freuds Theorien des Unbewussten

Am Beginn der psychodynamischen Theorie des Unbe- den Trieben und der äußeren Wirklichkeit. Das Es ent-
wussten standen zwei, allerdings widersprüchliche, the- hält demnach den Gesamtbereich der Triebe und wird
oretische Vorschläge von Freud (vgl. Schüßler 2002). als Quelle der seelischen Energie konzipiert. Die Ope-
Im sog. topografischen Modell (Freud 1915) wird zwi- rationen des Es sind unbewusst und werden gemäß dem
schen dem Unbewussten, Vorbewussten und Bewuss- Primärprozess und dem Lustprinzip ausgeführt. Auch
ten als Regionen des „psychischen Apparates“ unter- Ich und Über-Ich enthalten jedoch unbewusste Anteile.
schieden. Das Unbewusste ist durch nonverbales, „pri- Die für psychopathologische Symptome ausschlagge-
märprozesshaftes“ Denken gekennzeichnet und arbeitet benden Konflikte entstehen durch Widersprüche zwi-
nach dem Lustprinzip. Das Vorbewusste und das Be- schen Ich, Es und Über-Ich sowie den Anforderungen
wusste folgen hingegen dem „Sekundärprozess“ (also der äußeren Realität.
z. B. den Regeln der Vernunft). In der Strukturtheo-
rie schlägt Freud (1923) eine neue Einteilung des seeli- Beide Modelle erscheinen jedoch inkompatibel: Während
schen Apparates vor, nämlich diejenige in Über-Ich, Ich im topografischen Modell der Primärprozess als grundle-
und Es als Bereiche, die weniger (wie im topografischen gende Arbeitsweise des Unbewussten beschrieben wird, ist
Modell) durch ihre spezifischen seelischen Qualitäten das Unbewusste im Strukturmodell durch die psychische
gekennzeichnet sind, sondern durch ihre Beziehung zu Abwehr bestimmt und beinhaltet verdrängte Inhalte.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
21 1
Moderne psychoanalytische Theorien wie die Ob-
jektbeziehungstheorie und die interpersonelle Kon-
flikttheorie versuchen, diese Widersprüche zu überwin-
den und die Theorie des Unbewussten weiterzuentwi-
ckeln. Ihnen ist nach wie vor die Grundannahme der
psychodynamischen Perspektive gemeinsam, dass un-
bewusste Phantasien und unbewusste mentale Reprä-
sentanzen des Selbst in Beziehung zu Objekten eine
zentrale Rolle in der Determination menschlichen Ver-
haltens spielen. Die Psychoanalyse hat also nicht nur
historisch beeindruckende Konzepte für das Verständ-
nis und die psychotherapeutische Behandlung von Pa-
tienten und Patientinnen hervorgebracht. In den letz-
ten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen,
die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für
den therapeutischen Alltag fruchtbar machen (Rudolf . Abb. 1.7 Wilhelm Wundt (1832–1920, 3. v. r.) in seinem
psychologischen Labor in Leipzig zusammen mit Assistenten. (Foto:
2014; 7 Kap. 15).
UAL_FS_N 06176–2, Universitätsarchiv Leipzig, Fechnerakte,
Universität Leipzig)

Beispiele für Modifikationen der psychodyna-


mischen Perspektive die sorgfältige Introspektion. Über die Introspektion
sollten die Erfahrungen der Probanden in den Expe-
Individualpsychologie nach A. Adler rimenten identifiziert und die Struktur des „Bewusst-
Betont neben der Bedeutung angeborener „Organ- seins“ herausgearbeitet werden.
minderwertigkeit“ (z. B. Missbildungen) die Bedeu- Die Grenzen dieses introspektiven Ansatzes bei der
tung aus pathogenen frühkindlichen Erziehungsein- befriedigenden Aufklärung dieser Fragen führten um
flüssen resultierender Frustrationen und Minderwer- die Jahrhundertwende zu einer verstärkten Hinwen-
tigkeitsgefühle. dung zum Behaviorismus. Dabei rückte – ausgehend
Analytische Psychologie nach C.G. Jung von tierexperimentellen Verfahren – in der behaviora-
Erweitert den Begriff der Libido im Sinne einer all- len Sichtweise die Untersuchung des beobachtbaren
gemeinen Energiequelle des Psychischen. Ferner wird Verhaltens mit objektiveren Methoden in den Vorder-
das persönliche Unbewusste um ein kollektives Unbe- grund. Dabei sollte herausgefunden werden, welche
wusstes ergänzt, welches allen Menschen von Beginn Reize bzw. Stimuli (S) welche unmittelbar beobachtba-
der Menschheitsgeschichte gemein ist (Archetypen). ren Reaktionen (R) hervorrufen. Mittels objektiverer
S-R-Informationen und dadurch gewonnener Erkennt-
nisse über Lernprozesse wurden eine zuverlässigere
Vorhersage von menschlichem Verhalten wie auch eine
1.4.3 Kognitiv-behaviorale Perspektive systematische Beeinflussung angestrebt. Vor diesem his-
torischen Hintergrund entwickelten sich zunächst die
Diese Perspektive ist gebunden an die Entwicklung der behavioralen Komponenten in Form der lerntheoreti-
Psychologie als wissenschaftliches Fach und als genuin schen Modelle. Diese bilden nicht nur eine wesentliche
psychologische Perspektive zu betrachten. Sie wird üb- Grundlage der folgenden kognitiven und kognitiv-be-
licherweise in anderen Lehrbüchern getrennt für die havioralen Perspektiven, sondern stellen auch die Ge-
zeitlich frühere „behaviorale“ und die spätere „kogni- burtsstunde der Verhaltenstherapie dar. Auf der Grund-
tive“ Komponente dargestellt, eine Differenzierung, die lage des klassischen Konditionierens (Iwan Petrowitsch
wir vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftli- Pawlow, 1849–1936), Edward Thorndikes (1874–1949)
chen Forschung nicht aufrechterhalten wollen. Überlegungen zum instrumentellen Lernen, Frederik
Skinners (1904–1990) Prinzipien des operanten Kondi-
z Historischer Hintergrund tionierens sowie Albert Banduras Untersuchungen zum
Vor dem Hintergrund des Strukturalismus des frühen Modelllernen konnte sich in den 50er Jahren des ver-
20. Jahrhunderts, der zum Ziel hatte, das Funktionie- gangenen Jahrhunderts die Verhaltenstherapie als ein-
ren und die Struktur des menschlichen Geistes zu un- flussreichste psychotherapeutische Behandlungsform
tersuchen, begründete Wilhelm Wundt (1832–1920; neben den psychoanalytischen Verfahren etablieren.
. Abb. 1.7) im Jahre 1879 ein erstes psychologisches Zugleich ging mit dieser Entwicklung auch vielerorts
Laboratorium. Im Vordergrund seiner experimentellen die Gründung klinisch-psychologischer Beratungsstel-
zumeist psychophysischen Methoden stand zunächst len, Kliniken und Institute einher.
22 H.-U. Wittchen et al.

Verhaltenstherapie bezeichnete ursprünglich die scher Interventionen voll befriedigen kann. Deshalb
1 Anwendung aller modernen Lerntheorien auf die Be- wurden von Beginn an verschiedene Erweiterungen des
handlung abweichenden Verhaltens. Psychische Stö- Ansatzes vorgenommen. Beispiele hierfür sind die Bei-
rungen wurden als Ergebnis fehlgelaufener Konditio- träge von Hans-Jürgen Eysenck (1916‒1997) sowie Jo-
nierungsprozesse angesehen. Sie werden nach diesem hannes C. Brengelmann (1920‒1999) zur Bedeutung
Ansatz – wie jedes andere Verhalten auch – durch Ler- von Persönlichkeit, biologischen und genetischen Fak-
nen und Verstärkung erworben und sind ebenso wie- toren. Einflussreich und bis heute aktuell sind in die-
der ver- oder umlernbar. Wesentliches Element der be- sem Zusammenhang der konzeptuellen Erweiterun-
havioralen Perspektive ist neben dem komplexen Me- gen besonders die Arbeiten zum „Drei-Ebenen-Ansatz“
thoden- und Handlungsinventar, das sich aus den drei von Peter Lang (1993; . Abb. 1.8).
Lerntypen ergibt, z. B. die Methode der funktionalen Dieser psychophysiologische Ansatz betrachtet psy-
Bedingungsanalyse (z. B. im Sinne der Verhaltensglei- chologische Reaktionen und Störungen als drei asso-
chung nach Kanfer und Saslow 1969; 7 Gut zu wis- ziierte, aber unterschiedliche Reaktionssysteme oder
sen). Verhaltenstherapie stellt nach heutigem Verständ- „Ebenen“, die zwar untereinander verbunden sind,
nis eine psychotherapeutische Grundorientierung dar, aber nicht immer zur gleichen Zeit, in gleicher Weise
die störungsspezifische und -unspezifische Therapie- oder in der gleichen Richtung. Der sich daraus erge-
verfahren umfasst und aufgrund von möglichst hinrei- benden Desynchronosie der Reaktionssysteme der bio-
chend überprüftem Störungswissen und psychologi- logischen, kognitiv-affektiven und verhaltensbezoge-
schen Änderungswissen eine systematische Besserung nen Ebene wird ein wichtiger Informationsgehalt zuge-
von Verhaltensproblemen anstrebt (7 Kap. 14). schrieben, der nicht nur grundlagenbezogene, sondern
auch therapeutische Implikationen besitzt. Diese Dif-
Gut zu wissen ferenzierung hat die Entwicklung einflussreicher psy-
chophysiologischer Störungsmodelle bei Angststörun-
Verhaltensgleichung nach Kanfer und Saslow (1969): gen befruchtet sowie die Akzeptanz kognitiver Variab-
Das SORKC-Modell len und Ansätze in der Verhaltenstherapie erhöht.
Ziel der Verhaltensanalyse ist es, möglichst vollstän- Der kognitive-behaviorale Ansatz geht über die Be-
dig die funktionalen Beziehungen von situativen Rei- schreibung und Erklärung von Verhalten im objektiven
zen (S) jeglicher objektivierbarer Art und einem Ziel- Kontext von Reizen, Verstärkern und beobachtbarem
verhalten, der Reaktion (R), an einem konkreten und (offenen) Verhalten hinaus. Psychische Störungen wer-
spezifisch beschreibbaren Beobachtungssegment he- den in der kognitiven Perspektive als das Ergebnis einer
rauszuarbeiten. Der Schwerpunkt des behavioralen fehlerhaften Wahrnehmung der Situationswirklichkeit,
Ansatzes betont dabei die Bedeutung des beobacht- fehlerhafter Schlussfolgerungen oder inadäquater Pro-
baren Verhaltens. Dabei ist die Organismusvariable blemlösungen konzeptualisiert. Der Ansatz greift dabei
(O) eine entscheidende vermittelnde Größe, unter der auf das Erkenntnis- und Methodeninventar der gesam-
körperliche, wie auch kognitive und affektive Fakto- ten Psychologie zurück und schließt alle Prozesse des
ren und Prozesse Berücksichtigung finden. Unter dem Wahrnehmens, Begreifens, Urteilens und Schlussfol-
Verstärkungsplan (K) werden alle die Reaktion beein- gerns einschließlich der Handlungskontrolle ein.
flussenden Konsequenzen der Reaktion berücksich-
tigt, und zwar im Hinblick darauf, welche Konsequen-
zen die Auftrittswahrscheinlichkeit von R erhöhen
und senken, sowie einschließlich ihres Kontingenzver-
hältnisses (Verstärkerpläne).
Dieses Vorgehen ist durch verschiedene Ergänzun-
gen bis hin zu einer „Problem- und Plananalyse“
(7 Kap. 16 und 7 Kap. 21; Schulte 1974; Grawe und
Caspar 1984; Caspar 2018) schrittweise erweitert wor-
den. Dabei finden externe und interne Reize, Einstel-
lungen und Pläne, sowie affektive und soziale Modali-
täten stärkere Berücksichtigung.

Schon früh in der Entwicklung der Verhaltenstherapie


wurde deutlich, dass das behaviorale Modell allein we-
der theoretisch noch praktisch bei der Erklärung psy-
chischer Störungen sowie der Ableitung und Erklärung . Abb. 1.8 Drei-Ebenen-Modell nach Lang am Beispiel der Angst.
der Wirkweise entsprechender verhaltenstherapeuti- (Aus Wittchen 2003, © IAP Verlagsgesellschaft)
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
23 1
Nach dem kognitiven Modellansatz sind neben dem
„objektiven“ Kontext von Reizen, Verstärkern und of- samkeits-, Gedächtnis- und Verständnisverzerrun-
fenem Verhalten die Selbstwahrnehmung der Person gen zugrunde liegende Repräsentation des Wis-
und die Wahrnehmung ihrer Beziehungen und ihrer sens
Umwelt ebenso von Bedeutung. Unter den vielen mög- 5 Anwendung derartiger Erkenntnisse auf psycho-
lichen kognitiven Faktoren, die das Verhalten einer Per- pathologische Prozesse; in diesem Zusammenhang
son leiten und fehlleiten können, sind z. B. die wahrge- ist vor allem auf die sog. „kognitive Therapie“
nommene Kontrolle über Verstärker, die Überzeugun- nach A. T. Beck (1967; Beck und Freeman 1990;
gen einer Person, kritische Situationen bewältigen zu . Abb. 1.9) hinzuweisen, die großen Einfluss auf
können, und ihre Interpretation der Ereignisse, z. B. die spätere Ableitung komplexerer kognitiv-behavi-
hinsichtlich situativer und persönlicher Einflussfakto- oraler Verfahren hatte
ren, einige wichtige Beispiele. Im Hinblick auf die psy- 5 Grundlage für die experimentelle Untersuchung
chischen Störungen geht der kognitive Ansatz davon psycho- und neurobiologischer Prozesse
aus, dass diese das Resultat einer fehlerhaften Wahr-
nehmung von objektiven Situationswirklichkeiten und/
oder fehlerhafter Schlussfolgerungen oder Problemlö-
sungen sind (dysfunktionale Kognitionen). 1.4.4 Integrative Ansätze
Auf dieser zunehmend breiteren wissenschaftlichen
Grundlage öffnete sich seit den 70er Jahren die anfangs Seit den 70er Jahren konvergiert die Entwicklung na-
eher behavioristisch orientierte Verhaltenstherapie zu- hezu aller oben diskutierter Paradigmen mehr oder
nehmend stärker kognitiven Prozessen und Modellen. minder explizit auf einen interaktionalen oder auch
Damit wurde über eine kognitiv-behaviorale Orientie- biopsychosozialen Ansatz hin, der unter verschiedenen
rung zugleich auch der Grundstein für eine breite In- Modellbezeichnungen mit ähnlicher Konnotation ver-
tegration der Erkenntnisse der gesamten empirischen breitet ist: z. B. Diathese-Stress-Modell oder Vulnerabi-
Psychologie in die Klinische Psychologie und die Ver- litäts-Stress-Modell. Dieser Ansatz erklärt das mensch-
haltenstherapie im Besonderen gelegt (7 Kap. 4 und 5). liche Verhalten und das Auftreten von psychischen Stö-
Die aktuell gebräuchliche Definition der Verhaltensthe- rungen als Interaktion biologischer, psychologischer
rapie beschreibt diese deshalb nicht mehr „schulenspe- und sozialer Faktoren unter Berücksichtigung von ent-
zifisch“, sondern als genuin psychologisches Behand- wicklungsbezogen Aspekten, wie z. B. entwicklungs-
lungsverfahren der wissenschaftlichen Psychologie (vgl. psychologischer und -biologischer Art.
Margraf 2018; 7 Kap. 14). Derartige integrative Modelle mit der Betonung in-
teraktionaler Prozesse finden sich in der Psycholo-
gie bereits seit vielen Jahrzehnten, u. a. im Konstrukt
Wesentliche Erkenntnisbeiträge des kognitiv- „Coping“ (Lazarus 1966, zusammenfassend Perrez
behavioralen Ansatzes und Reicherts 1992) oder der „erlernten Hilflosigkeit“
5 Beschreibung der Rolle von internalen Prozessen (Seligman 1975), der Psychophysiologie (Birbaumer
wie etwa internaler Verstärker bei der Handlungs- und Schmidt 1985) oder der Entwicklungspsychologie
regulation, z. B. im Zusammenhang mit der späte- (Werner 1948), um nur einige Beispiele zu nennen.
ren Ableitung der Theorie der „Selbstwirksamkeit“
(„self-efficacy“; Bandura 1986)
5 Beschreibung von gestörten Prozessen der Infor-
mationsverarbeitung (Aufmerksamkeit und Ge-
dächtnis) bei psychischen Störungen und ihrer
Rolle z. B. für die Aufrechterhaltung depressiver
und Angststörungen (Mineka et al. 1998; Becker
und Rinck 2000)
5 Beschreibung der Bedeutung von Attributionen
und des Attributionsstils bei der Entwicklung und
Ausgestaltung psychischer Störungen, z. B. im Zu-
sammenhang mit depressiven Kognitionen und
Störungen in verschiedenen Ausformulierungen
des „Modells der erlernten Hilflosigkeit“ (Abram-
son et al. 1978; Henkel et al. 2002)
5 Beschreibung der Bedeutung von „kognitiven
Schemata“ (Neisser 1982) als eine den Aufmerk- . Abb. 1.9 Die kognitive Trias nach Timothy Aaron Beck. (Foto: ©
photos.com)
24 H.-U. Wittchen et al.

In den Neurowissenschaften war eine gleicherma- Ein Beispiel für derartige interaktionale integra-
1 ßen empirisch bzw. experimentell gestützte Entwick- tive Makromodelle und ihre Komponenten im Zusam-
lung erst später zu beobachten. Gebunden an die zu- menhang mit psychischen Störungen gibt . Abb. 1.10.
nehmend differenziertere Entschlüsselung der funktio- Dabei wird die Mikroebene, also z. B. die Dynamik
nalen Bedeutung des Transmitterstoffwechsels seit den spezifischer neurobiologischer und psychologischer
1980er Jahren, die Erkenntnisse zur enormen Plastizität Prozesse, nicht ausdifferenziert. Übergeordnete Mo-
des Gehirns, die Entwicklung der modernen bildgeben- dellstrukturmerkmale sind einerseits die Differenzie-
den Verfahren und die genetische Forschung mit ihren rung von Vulnerabilitäten von triggernden Auslösern
Gen × Umwelt-Modellen und epigenetischen Mecha- (Stress bzw. Exposition), moderierenden Faktoren so-
nismen wird nunmehr auch in diesem Bereich die syste- wie Konsequenzen, die sich aus der Störung erge-
matische Ableitung zunehmend komplexerer und spezi- ben. Andererseits werden diese Faktoren in Hinblick
fischerer Wechselwirkungsmodelle möglich (Andreasen auf eine stadienspezifische Zuordnung der Einflüsse
2002). Wie sehr diese nahezu explosionsartige Entwick- im Zeitverlauf berücksichtigt. Diese betreffen im Falle
lung der Erkenntnisse aber in den letzten drei Dekaden psychischer Störungen klinisch bedeutsame Stadien der
nicht nur unser Wissen über psychische Störungen er- Entstehung und Aufrechterhaltung. Charakteristische
weitert hat, sondern auch die Psychologie als Ganzes psychologische Komponenten derartiger psychologi-
verändert hat, zeigt sich wohl am deutlichsten an den scher Vulnerabilitäts-Stress-Interaktionsmodelle sind
neuen interdisziplinären Fächern der „cognitive neu- z. B. die Konstrukte, Dispositionen, Stressereignisse,
roscience“ bzw. der „cognitive-affective neuroscience“ Resilienz und Coping (7 Gut zu wissen).
(7 Kap. 5; LeDoux 2001, 2015; Panksepp 1998), die für
die Klinische Psychologie wie für die Psychologie ins- Gut zu wissen
gesamt von zentraler Bedeutung geworden sind (Grawe
2004). Zentrale Komponenten von Vulnerabilitäts-Stress-
Im Zusammenhang mit psychischen Störungen Modellen
kann die relative Bedeutung und Rolle jedes einzelnen
dieser Faktoren, Prozesse und Perspektiven in der Aus- Vulnerabilität
lösung oder Aufrechterhaltung bestimmter Problem- Vulnerabilität bedeutet Anfälligkeit und kennzeich-
konstellationen unterschiedlich sowie kontextabhängig net damit eine Disposition. Vulnerabilität bezieht sich
und auch z. B. entwicklungs- und stadienspezifisch ver- also darauf, wie wir auf der psychologischen, biologi-
schieden relevant sein. Manche Faktoren entfalten ihre schen und sozialen Ebene bei entsprechenden Anfor-
kritische Bedeutung nur oder vor allem in bestimmten derungssituationen reagieren. Vulnerabilität an sich
frühen Lebensphasen, während sie im späteren Verlauf führt nicht zur Störung; hinzutreten muss eine dazu
sogar protektiv, z. B. im Sinne einer Erhöhung der Re- „passende“ Auslösersituation oder Konstellation,
silienz, wirken können. So wird z. B. für den Beginn der die zusammen mit der Vulnerabilität in Wechselwir-
Schizophrenie eine besonders ausgeprägte und mögli- kung eine pathogene Dynamik entfaltet. Vulnerabili-
cherweise diagnostisch spezifische Bedeutung geneti- tät kann einerseits genetisch beeinflusst und bestimmt
scher Vulnerabilitätsfaktoren angenommen. Zugleich sein, andererseits können Vulnerabilitäten auch erwor-
wird jedoch nicht postuliert, dass diese genetischen ben oder gelernt werden. Zumeist kommt es zu einer
Faktoren allein das Auftreten und den Verlauf determi- Mischung dieser beiden Pfade. Zum Beispiel wird ein
nieren oder gar dass psychologische und soziale Fakto- Kind mit einer Mutter, die unter Angst- und depres-
ren keine Bedeutung haben. Vielmehr sind die vermute- siven Störungen leidet, mit höherer Wahrscheinlich-
ten genetischen Faktoren lediglich Indikatoren für eine keit ätiologisch relevante Persönlichkeits- und Ver-
erhöhte Anfälligkeit (= Vulnerabilität oder Diathese), haltenseigenschaften zeigen, wie z. B. eine ausgepräg-
die nur beim Eintreten entsprechender weiterer Fakto- tere Tendenz, in unvertrauten Situationen mit Angst
ren (Stress, Lebensereignisse) sowie weiterer moderie- oder Rückzug zu reagieren. Auch kann die Reaktion
render Einflüsse zum Störungsausbruch führen. Dar- auf unerwartete und belastende Ereignisse häufiger
über hinaus wirken dann weitere Einflussfaktoren bei fehlangepasst sein als bei Personen ohne diese famili-
der Ausgestaltung und dem Verlauf des Störungsbildes äre Vulnerabilität.
zusammen und formen damit die akuten und länger- Diese Merkmale gehen mit einem erhöhten Risiko für
fristigen Konsequenzen. das erstmalige Auftreten einer psychischen Störung
Charakteristisch für integrative Modelle ist also, einher, ohne dass im Einzelfall bislang gesichert zu
dass alle Perspektiven eine wichtige Rolle in der Aus- beurteilen ist, ob die Anfälligkeit auf der genetischen
formung, beim Verlauf und beim Ausgang von psychi- Ähnlichkeit mit der Mutter oder auf sozialem Ler-
schen Störungen spielen können. Zudem nimmt das nen (am Modell der Mutter) beruht: Die Determinan-
Modell an, dass die relative Bedeutung eines jeden die- ten der Vulnerabilität können also sowohl biologischer
ser Faktoren über die Lebensspanne variiert.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
25 1

. Abb. 1.10 Vulnerabilitäts-Stress-Modell psychischer Störungen

Art sein, z. B. in Form von genetischen Belastungsdis- Lebensereignissen“ als zeitlich genau bestimmbare
positionen. Vulnerabilität kann sich aber auch auf der Vorkommnisse bis hin zu diffuseren Belastungsbedin-
sozialen Ebene beschreiben lassen, z. B. wenn die so- gungen, die sich zeitlich über Wochen oder Monate
zialen Lebens- und Entwicklungsbedingungen einer hin erstrecken, von subjektiven Belastungswahrneh-
Person nachteilig sind. Zugleich können die Vulnera- mungen bis hin zu subjektiv nicht wahrgenommenen,
bilitätsfaktoren additiv oder multiplikativ zusammen- aber über Stresshormone nachweisbaren Belastungs-
spielen. konstellationen. Die Bedeutung bestimmter Stresser-
Mit dem Vulnerabilitätskonzept beschreiben wir also eignisse oder das Ausmaß von Stressbelastungen und
auf jeder Manifestationsebene – der biologischen, ihre Auswirkungen sind von vielen Faktoren und Pro-
psychologischen und sozialen – individuelle angebo- zessen abhängig: den Vulnerabilitäten, dem neurobio-
rene und/oder erlernte Anfälligkeiten, die beim Ein- logischen und psychologischen Entwicklungsstadium,
treten von bestimmten Ereignissen zu einer erhöhten der Koaggregation mit anderen Lebensereignissen im
Verletzlichkeit der Person führen und damit zum Aus- Ereignisstrom sowie den Copingressourcen und der
bruch einer Störung beitragen können. Resilienz einer Person.

Stress bzw. Exposition Resilienz


Der inflationär gebrauchte, vielschichtige Begriff Im Umgang mit herausfordernden Belastungssituati-
Stress beschreibt im Zusammenhang mit Vulnerabili- onen lassen sich Risiko- und protektive Faktoren un-
täts-Stress-Modellen alle Anforderungssituationen ei- terscheiden. Risikofaktoren sind Faktoren, die die
ner Person auf der biologischen, sozialen und psycho- Wahrscheinlichkeit eines negativen Outcomes erhö-
logischen Ebene, bei der die Person (oder ein Organis- hen, während protektive Faktoren vor dem Eintre-
mus) eine Anpassungsreaktion zeigen muss, um z. B. ten eines negativen Outcomes schützen (vgl. Risiko-
die Herausforderung von traumatischen Ereignissen, und Schutzfaktoren in der Epidemiologie psychi-
aber auch Alltagssituationen zu bewältigen. Im Vul- scher Störungen, 7 Kap. 3). Während Risikofaktoren
nerabilitäts-Stress-Modell lassen sich „Stressfaktoren“ eher in Verbindung mit der Entwicklung von Vulne-
auf unterschiedlichste Art und Weise operationalisie- rabilität und ihrer Bedeutung in der Störungsaus-
ren. Die Möglichkeiten reichen von sog. „kritischen lösung gesehen werden, werden protektive Faktoren
26 H.-U. Wittchen et al.

übergeordneten Zusammenhänge sind für einzelne psy-


1 oftmals im Zusammenhang mit dem Begriff der Re- chische Störungen oder Gruppen von Störungen hin-
silienz diskutiert. Als Resilienz wird die Fähigkeit ei- reichend spezifiziert und wissenschaftlich abgesichert.
ner Person bezeichnet, auch in Gegenwart von extre- Nichtsdestotrotz besitzen sie einen erheblichen Wert
men Belastungsfaktoren und ungünstigen Lebensein- in Bezug auf die weiterführende Grundlagen- und An-
flüssen adaptiv und proaktiv zu handeln. Das heißt, wendungsforschung. Darüber hinaus sind sie auch heu-
resiliente Menschen können auch bei negativen Le- ristisch hilfreich für die therapeutische Praxis im Zu-
bensereignissen in Gegenwart von Risikofaktoren sammenhang mit der Diagnostik und der Steuerung
und bei hoher Vulnerabilität oft eine erfolgreiche An- des Einsatzes von Interventionen.
passung an veränderte Bedingungen erreichen. Bei-
spiele für protektive Faktoren, die resilienzsteigernd > Wichtig
wirken können, sind eine vertrauensvolle Beziehung Keine der bislang vorliegenden Theorien ist statisch,
(„social support“), z. B. im familiären Kontext, eine endgültig oder allgemeingültig. Der Wert einiger The-
gute Einbettung im Kreis der Gleichaltrigen, ein brei- orien besteht darin, dass sie aktuell zur Erklärung be-
tes Spektrum von Fähigkeiten und Fertigkeiten sozi- stimmter psychischer Prozesse und Verhaltensweisen
aler und leistungsbezogener Art und gute soziale und wertvolle Erkenntnisfortschritte erlauben. Der Wert
sozioökonomische Rahmenbedingungen. Resilienz anderer Theorien liegt z. B. eher darin, dass sie in der
kann als das Ergebnis einer günstigen Entwicklung historischen Entwicklung eine zentrale Rolle gespielt
trotz ungünstiger Entwicklungsbedingungen verstan- haben.
den werden, aber auch als dynamischer Prozess selbst,
der im Wechselspiel zwischen Person und den Anfor-
derungen der Umwelt erfolgt und je nach Lebensbe-
reich und Entwicklungsphase variieren kann. 1.5 Herausforderungen

Coping Die Klinische Psychologie und Psychotherapie verfügt


Coping oder Handlungskompetenz beschreibt das zwar zwischenzeitlich über ein breites Arsenal an Theo-
Ausmaß, in dem Personen mit Schwierigkeiten und rien, Methoden und anwendungsorientierten Interven-
stressreichen Lebensereignissen umgehen und sie be- tionen für nahezu alle Formen klinisch und nicht kli-
wältigen können. Als Bewältigungskompetenzen („co- nisch relevanter psychischer und Verhaltensstörungen.
ping skills“) werden Fähigkeiten bezeichnet, die der Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Person ermöglichen, zumeist über verschiedene Situ- gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisbasis über psy-
ationsklassen hinweg, flexibel und effizient zu reagie- chische Störungen insgesamt noch außerordentlich
ren. Aber auch Copingstrategien sind in der Regel ab- schmal ist. Bis heute haben wir für keine einzige psy-
hängig von der Situation sowie den spezifischen Vul- chische Störung hinreichend gesicherte ätiologische
nerabilitäten und Fertigkeiten, die die Person in eine und pathogenetische Modelle, die es erlauben, alle rele-
konkrete Bewältigungssituation hineinbringt. Ein ef- vanten Befunde widerspruchsfrei einzuordnen und ent-
fektives Repertoire an Coping Skills ist nach vie- sprechende wissenschaftlich begründete Interventionen
len Untersuchungen hoch korreliert mit einem hohen abzuleiten. Selbst relativ einfach erscheinende Fragen
Ausmaß an Selbstkontrolle und Selbsteffizienz. nach den wichtigsten Risikofaktoren und Vulnerabili-
täten können zumeist nicht mit hinreichender Präzision
beantwortet werden.
Mit derartigen interaktionalen Diathese-Stress-Model- Die Suche nach adäquateren Modellen und die bes-
len ist nicht nur eine breitere und widerspruchsfreiere sere Aufklärung von spezifischen Schlüsselprozessen
Integration aller neuen Erkenntnisbeiträge zum Ver- für die Entstehung und den Verlauf gestörter Funkti-
ständnis psychischer Störungen möglich. Die integrati- onen und gestörter Funktionsmuster im Sinne psychi-
ven Modelle werden auch der Grundforderung der Kli- scher Störungen ist und bleibt damit eine Schlüssel-
nischen Psychologie nach einem umfassenden multimo- aufgabe der Klinischen Psychologie. Die wissenschaft-
dalen und multimethodalen interdisziplinären Ansatz lichen Erkenntnisdefizite sind in allen Bereichen – den
gerechter. Zugleich erlauben sie die bessere Integration Grundlagen und der Anwendung – markant und unter-
von Anlage-Umwelt-Interaktionen und vermittelnden streichen, dass eine kontinuierliche und systematische
Konstrukten und Prozessen, wie z. B. die Integration interdisziplinäre Forschungsorientierung eine Grund-
von Entwicklungsaspekten, Zeiteffekten und dispositi- forderung des Fachs Klinische Psychologie ist. Diese
onellen Konstrukten. Situation ist kein Spezifikum der Klinischen Psycholo-
Allerdings sind derartige Modelle noch weit von ei- gie, sondern gilt gleichermaßen für alle Fächer, die sich
ner umfassenden wissenschaftlichen Begründung ent- mit psychischen Störungen und klinischen Fragestel-
fernt. Weder die entscheidenden Subprozesse noch die lungen befassen.
Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle
27 1
Für die Klinische Psychologie haben also bis heute American Psychiatric Association (APA). (1989). Diagnostic and Sta-
alle diskutierten Perspektiven einen mehr oder minder tistical Manual of Mental Disorders (3rd ed. rev.) (DSM-III-R).
Washington, DC: American Psychiatric Association. [Dt.: Witt-
großen Wert im Hinblick auf das Verständnis und die chen, H.-U., Saß, H., Zaudig, M., Koehler, K. (1989). Diagnos-
Erklärung, z. B. hinsichtlich der Frage, warum psychi- tisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-
sche Störungen auftreten, aber auch in Hinblick auf die III-R. Deutsche Bearbeitung und Einführung. Weinheim. Wein-
Wirkmechanismen effektiver Interventionen. heim: Beltz.
Wie sehr sich zwischenzeitlich diese Perspektiven American Psychiatric Association (APA). (2013). Diagnostic and Sta-
tistical Manual of Mental Disorders, fifth edition (DSM-5). Ar-
miteinander verschränken und wie sehr insbesondere lington: American Psychiatric Association.
die Grenzen zwischen Psychologie und Neurowissen- American Psychiatric Association (APA). (2015). Diagnostisches und
schaften fließend geworden sind, hat der 2005 verstor- Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5 (deutsche
bene Psychotherapieforscher Klaus Grawe in seinem Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Witt-
Buch „Neuropsychotherapie“ auf faszinierende Weise chen, mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gae-
bel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael
ausgearbeitet. Mit Hinblick auf die Psychotherapie re- Zaudig). Göttingen: Hogrefe.
sümiert er: Andreasen, N. (2002). Brave new brain. Geist, Gehirn, Genom. Berlin:
Springer.
» Wenn man sich einmal an den Gedanken gewöhnt hat,
Andrews, G., Goldberg, D. P., Krueger, R. F., Carpenter, W. T., Hy-
dass man als Psychotherapeut das Gehirn verändert, man, S. E., Sachdev, P., & Pine, D. S. (2009). Exploring the feasi-
wenn man wirksam therapiert, ist es nicht mehr weit bility of a meta-structure for DSM-V and ICD-11: Could it im-
zu der Frage, ob man das Gehirn noch wirksamer prove utility and validity? Psychological Medicine, 39(12), 1993–
verändern könnte, wenn man psychologische Verfahren 2000.
Arbeitskreis, O. P. D. (Hrsg.). (1996). Operationalisierte Psychodyna-
mit neurowissenschaftlichen kombinierte. … Ich
mische Diagnostik. Grundlagen und Manual. Bern: Huber.
sehe aber auch eine Gefahr, nämlich die, dass sich die Bandura, A. (1986). Social foundation of thought and action: A social-
Aufmerksamkeit solcher Neuropsychotherapeuten cognitive theory. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
dann ganz auf den problematischen Teil des Gehirns Baumann, U., & Perrez, M. (Hrsg.). (2005). Lehrbuch Klinische Psy-
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3. Warum wird die Verhaltenstherapie als „genuin
ber.
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schn. 1.4.3 mental illness. New York: Oxford University Press.
4. Was sind die wesentlichen Bausteine des „Vulnera- Churchland, P. S. (1986). Neurophilosophy. London: MIT Press.
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https://www.springer.com/978-3-662-61813-4

Klinische Psychologie & Psychotherapie


(Eds.) J. Hoyer; S. Knappe
3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2020, XXIX,
1360 S. 364 Abb., 318 Abb. in Farbe. Mit
Online-Extras.
ISBN: 978-3-662-61813-4

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