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Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus des

frühen indischen Mittelalters

Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen

1. Einleitung1

Yoga, mit seiner Vielzahl an geistigen und körperlichen Übungen (abhyāsa), die
Selbsterkenntnis und Erlösung zum Ziel haben, kann als die indische ἄσκησις
par excellence gelten. Im Yoga trainieren die indischen Asketen die Kontrolle
über den Körper durch Posituren (āsana) und Atemübungen ( prāṇāyāma) so-
wie über den Geist durch Meditation und Konzentration (dhyāna, samādhi).
Dabei geht es nicht darum, in einer bestimmten Situation körperlich oder geistig
eine außergewöhnliche Leistung zu erbringen (wie im Sport oder beim Militär),
sondern darum, den Körper und seine Begierden im Ganzen zu transzendieren,
oder – wie es in einem esoterischen tantrischen Kontext üblich ist – magische
Kräfte (siddhi) und einen unsterblichen, göttlichen Körper zu erlangen (divya-
deha).
Yoga und Asketismus sind seit dem Entstehen asketischer Reformbewegun-
gen im 5. vorchristlichen Jahrhundert vitale Bestandteile der indischen religiö-
sen Landschaft und sind in ihrer Entwicklung sowohl von Kontinuität als auch
von Transformation geprägt (siehe Abb. 1). Die Integration von yogischem und
asketischem Übungswissen in verschiedene indische Traditionen illustriert die
nach Robert Bellah gerade für Indien geltende Maxime „nothing is ever lost“.2
Diese Beobachtung muss auch im Zusammenhang mit der ausgeprägten indi-
schen Tendenz zu Inklusivismus (Paul Hacker) und dem für den Hinduismus
charakteristischen identifikatorischen Habitus (Axel Michaels) gesehen wer-
den.3 Hiermit sind eine besondere indische Denkweise und „typische kognitive
Muster der Hindu-Religionen“ gemeint, in denen fremde Denkelemente mit
den eigenen identifiziert und meistens hierarchisch untergeordnet werden.4 So
ist auch yogisch-asketisches Übungswissen von den meisten indischen Traditi-

1 Einen herzlichen Dank an Prof. Ute Hüsken, Oslo, für die sprachliche Überarbeitung
dieses Artikels. Dazu einen besonderen Dank an die Carlsberg Foundation für die finan-
zielle Unterstützung des Forschungsprojektes.
2 Bellah 2011, S. 489: „It has been a premise of this book that ,nothing is ever lost,‘ but
India exhibits that premise to a startling degree.“
3 Hacker 1983; Michaels 1998.
4 Michaels 1998, S. 397.
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Abb. 1: Indische Form der Askese (tapas), wie sie seit dem Entstehen asketischer Reform-
bewegungen im 5. Jahrhundert v. Chr. praktiziert wird (Foto: James Mallinson, dhūni-tap,
Haridwar, Indien, 2010)

onen übernommen und in ihren Denksystemen und Praxisformen integriert und


transformiert worden. Dies gilt auch für den Buddhismus und Jinismus sowie
in einigen Fällen für den indischen Sufismus.5 In einem religionswissenschaft-
lichen Sinne diente das yogische Übungswissen der Internalisierung der „me-
mory of the tradition“ (Gavin Flood).6 Wie dieses yogische Wissen inkludiert,
tradiert und transformiert wurde, soll Gegenstand dieses Artikels sein. Übung
und Ritual spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.7
Im folgenden Beitrag wird die Ausformung der Kuṇḍalinī-Kraft und des
Cakra-Systems in der esoterischen Anatomie als bemerkenswertes Beispiel
für Kontinuität und Transformation yogischen Übungswissens in der longue

5 Sanderson 2009; Hatley 2007.


6 Flood 2004.
7 Michaels 1998, S. 367; 2016, S. 3–4: „A Newar in Nepal, asked whether he is a Hindu
or Buddhist, could well answer: ,Yes!‘ This habitual identification of various forms of
belief fosters ritual behavior, because to perform a ritual means to enact the claim of
unchangeability, that is, the claim that the same is acted out again and again or that it is
mimetically repeated (although this is hardly true, as many studies on ritual dynamics
has shown). Rituals try to avoid change and decline, to the extent that they even deny
any alteration and difference. In Hinduism, it is often through rituals that such inclusi-
vism of ,other‘ beliefs is practiced and experienced“.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 195

durée untersucht. Dies soll zum Verständnis der inneren Dynamik indischer
Traditionen beitragen, da dieses Übungswissen ein zentrales Überlieferungsgut
ist, welches durch repetitive Praxis eingeübt wurde und nach wie vor einge-
übt wird. Insofern verbindet es die gegenwärtig Praktizierenden mit vorange-
gangenen und nachfolgenden Praktizierenden. Im frühen Netratantra (8. Jh.
n. Chr.) ist dieses Wissen noch arbiträr. Im Kubjikāmatatantra (11. Jh. n. Chr.)
wird es dann doktrinär und physiologisch fixiert, und in der späteren Haṭhayo-
gapradīpikā (15. Jh. n. Chr.) wird das Wissen demokratisiert. Das Textmateri-
al beinhaltet verschiedene Versionen der esoterischen Anatomie des indischen
Mittelalters, die von verschiedenen Traditionen übernommen wurden, wodurch
ein „Dialog“ zwischen diesen Traditionen entstand. Das Übungswissen wurde
in verschiedene Denksysteme und Praxisformen integriert, Traditionen fusio-
nierten und neue Traditionen entstanden. Nach der Haṭhayogapradīpikā wurde
dieses yogische Übungswissen vom Kuṇḍalinī- und Cakra-System – in Kom-
bination mit dem südindischen Göttinnenkult Śrīvidyā – pan-indisch. Anfang
des 20. Jahrhunderts wurde es dann erfolgreich in den Westen exportiert, vor
allem durch die einflussreichen Werke von John Woodroffe („Arthur Avalon“).8
Heute stellt klassischer Haṭhayoga in Kombination mit dem Kuṇḍalinī- und Ca-
kra-System eine religiöse Hauptexportware Indiens dar und ist ein internatio-
nales Milliardengeschäft geworden.

2. Die tantrischen Traditionen


Die Forschung zu Yoga, Tantra und Asketismus des frühen indischen Mittelal-
ters ist der Bereich innerhalb des Studiums indischer Religionen, in dem sich
unser Wissen in den letzten drei Jahrzehnten am stärksten verändert hat.9 Hin-
tergrund dieses neuen Wissens über die tantrischen Traditionen ist ein verän-
derter Fokus der Indologie, insbesondere in Europa (z. B. Oxford, Rom, Paris,
Wien, Utrecht und Hamburg) und teilweise in Amerika (z. B. in Kalifornien).
Die Fortschritte beruhen hauptsächlich auf der Erschließung des enormen und
größtenteils unerforschten tantrischen Manuskriptmaterials in Pondicherry und

8 Taylor 2001; Hatley 2015, S. 5: „A particular Śrīvidyā text teaching this system has in-
fluenced the modern image of kuṇḍalinī above all others: the Ṣaṭcakranirūpaṇa (De-
scription of the Six Centres), chapter six of the Tattvacintāmaṇi of Pūrṇānanda (16th
century). This was first published in 1918 with a translation and extensive introduction
in The Serpent Power by ,Arthur Avalon‘ – pen name of the British Indian judge, Sir
John Woodroffe, and his Bengali collaborator, Atal Bihari Ghosh. Modern conceptions
of kuṇḍalinī, and indeed Hindu tantric yoga generally, owe an extraordinary debt to The
Serpent Power.“
9 Goodall / Isaacson 2011, S. 122 f. Für einen Überblick über die Tantra-Forschung in den
90er Jahren, siehe Padoux 1998. Für einen Überblick über die Forschung im vergange-
nen Jahrzehnt siehe Hatley 2010.
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in den National Archives von Kathmandu.10 Kritische Editionen und Überset-


zungen dieses esoterischen und schwer lesbaren Materials sind weiterhin ein
dringendes Desideratum.11 Das bisher neu erschlossene Material ermöglicht
jedoch schon jetzt einige generelle Aussagen.
Yoga und Asketismus erlangten vor allem für den hinduistischen Śivais-
mus und dessen Netzwerk von tantrischen Traditionen im indischen Mittelalter
zentrale Bedeutung.12 So gilt der Gott Śiva als der Prototyp eines Yogi und
Asketen. Wie Alexis Sanderson gezeigt hat, waren diese śivaitisch-tantrischen
Traditionen so verbreitet und prägend für das indische Mittelalter vom 5. bis
13. Jahrhundert n. Chr., dass man mit Recht von einem „Śaiva Age“ sprechen
kann.13 David Gordon White geht darüber hinaus davon aus, dass diese tan-
trischen Traditionen vom frühen indischen Mittelalter bis heute den indischen
Mainstream gebildet haben.14 Der Yoga des mittelalterlichen Śivaismus war
vor allem ein tantrischer und esoterischer Yoga, der heute unter dem Sammel-
begriff Haṭhayoga bekannt und verbreitet ist. Neuere Forschungen in den Göt-
tinnentraditionen des tantrischen Hinduismus (der sogenannte Śāktismus oder
kulamārga) legen darüber hinaus nahe, dass die Wurzeln vieler zentraler Ele-
mente des tantrischen Śivaismus im śāktistischen Milieu zu suchen sind, wo sie
einen selbstständigen Charakter besitzen.15 Dies gilt auch für den klassischen
Haṭhayoga, wie vor allem James Mallinson gezeigt hat.16 Insbesondere Visuali-
sierungen der esoterischen Anatomie (Kuṇḍalinī- und Cakra-System) sowie die
Meditation über den inneren Laut (laya- und nādayoga) entstammen mit großer
Wahrscheinlichkeit dem Śākta-Milieu. Man könnte hier von einer spezifischen
Śākta-Anthropologie sprechen.17 So entstand im Śāktismus des Śaiva-Zeitalters

10 In Pondicherry wird die Bewahrung und Erforschung des tantrischen Manuskriptmate-


rials vom Institut Français de Pondicherry (IFP) und der École française d’Extreme-
Orient (EFEO) unternommen. Im Jahr 2005 wurde die Sammlung in das Programm
„Memory of the World Collection“ mit dem Titel „The Śaiva Manuscripts of Pondi-
cherry“ aufgenommen. Das große Manuskriptmaterial in Nepal in privaten Sammlun-
gen und den National Archives, Kathmandu (NAK) ist seit den 70er Jahren auf Mikro-
film aufgenommen, katalogisiert, digitalisiert und zugänglich gemacht worden durch
das Nepal-German Manuscript Preservation / Cataloguing Project (NGMP / CP).
11 André Padoux beschreibt die schwierige Lage der Tantra-Forschung (1998, S. 132):
„Tantric studies rest evidently mainly on texts, and Tantric literature is a very proble-
matic one: it is very vast, still largely unknown even to those who work on it, and its
limits are all the more difficult to discern since we do not know what is to be characte-
rised as ,Tantric‘.“
12 Sanderson 1988.
13 Sanderson 2009. Wir benutzen hier die Formulierung „indisches Mittelalter“ im kon-
ventionellen und neutralen Sinn für die Post-Gupta-Zivilisation bis zu den muslimi-
schen Invasionen von Kaschmir im 13. Jahrhundert.
14 White 2003.
15 Sanderson 2009 und 2014; Wernicke-Olesen 2015.
16 Mallinson 2015.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 197

das yogische Übungswissen, das später in dem Werk Haṭhayogapradīpikā (ca.


1450 n. Chr.) mit traditionellen yogischen Übungen (āsana, prāṇāyāma) und
Techniken (mudrā) kombiniert wurde und heute den locus classicus des Haṭha-
yoga darstellt. Nach dem Śaiva-Zeitalter wurde dieses Haṭhayoga-Übungswis-
sen „demokratisiert“ und pan-indisch, mit der Folge, dass Haṭhayoga nicht
mehr nur den Asketen und religiösen Virtuosen vorbehalten war, sondern auch
von Laien und „Haushaltern“ praktiziert wurde.18

3. Yogische theoria cum praxi


Die in diesem Artikel behandelten Texte – Netratantra (NT), Kubjikāmatatantra
(KMT) und Haṭha( yoga)pradīpikā (HP) – enthalten verwandte Formen esoteri-
scher Anatomie. Wie auch andere Texte des tantrischen Genres sind diese Texte
gleichzeitig Anleitungen für die rituelle, asketische und yogische Praxis. Die
bevorzugte Verbalform ist die der dritten Person im Optativ, welche angibt, wie
der Yogi sich verhalten soll, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.19 Im siebten
Kapitel des Netratantra wird der Yogi aufgefordert, Visualisierungstechniken
und Respirationstechniken auszuüben, die dort unter dem Begriff „subtile (Vi-
sualisierungs-)Meditation“ (sūkṣmadhyāna) zusammengefasst werden.20 Ziel
dieser Meditationsform ist, dass der Yogi sein volles und unbegrenztes Poten-
zial realisiert, indem er die göttliche und esoterische Natur seines Körpers er-
kennt (divyadeha).21 Mit anderen Worten geht es um ein esoterisches Wissen,

17 Wernicke-Olesen 2015.
18 Mallinson 2015, S. 122–123.
19 Gavin Flood (2006, S. 179) verweist für den Gebrauch des Optativs hier auf den Pāṇini-
Kommentator Nageśabhaṭṭa: „There is a sequence of implication in the use of the opta-
tive. Namely, that the instigation is uttered by an authoritative person (āpta); that there
is nothing inhibiting the instigation; and that the ,instigatee‘ infers that the action he is
being asked to perform is something he desires and is achieveable.“
20 NT 7.1–2: „Now I will tell you about the excellent, supreme, subtle visualizing medita-
tion [sūkṣmadhyāna], which comprises the sequence of six cakras, the supporting vo-
wels, the three objects, and the five voids, the twelve knots, the three śaktis, the path
of the three abodes, and the three channels.“ Der in diesem Artikel angegebene engli-
sche Text des siebten Kapitels des Netratantra basiert auf einer Neuübersetzung, die
2015 / 16 von Gavin Flood, Bjarne Wernicke-Olesen, Silje Lyngar Einarsen und Gitte
Poulsen in Oxford erarbeitet wurde. Grundlage dieser Neuübersetzung ist Amṛteśatan-
tram (NAK MS 1-285, NGMPP Reel No. B 25 / 4. AD 1220). Vgl. zur Datierung San-
derson 2005, S. 242.
21 NT 7.3–5: „Having realized the body, O One with Beautiful Hips, as a body that follows
the path of ten channels and 35 million channels via the 72.000 channels and as a body
overrun by a host of channels riddled with diseases in the fire, the yogi then fills the
highest Self with the nectar of subtle meditation proclaimed as the highest. He becomes
a divine body (divyadeha) bereft of all disease.“ HP 4.71: „When the sound in the void
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durch welches ein menschlicher Körper mit Hilfe von yogischen Übungen in
einen göttlichen und unsterblichen Körper transformiert werden kann.22 Dieses
Übungswissen hat also eine theoretische und eine praktische Dimension. Die
praktische Dimension umfasst die yogischen Übungen, die durch einen persön-
lichen, initiatorischen und ritualisierten Wissenstransfer überliefert und gelernt
werden, d. h. sie werden vom Guru an den Schüler ( paramparā) weitergege-
ben. Die theoretische oder intellektuelle Dimension umfasst kosmologische,
theologische und anthropologische Aussagen und Auslegungen, die an einem
der Tradition übergeordneten religiösen imaginaire partizipieren.23 Auf der
Ebene des yogischen Individuums spielt dies zum Beispiel eine Rolle für die
Interpretation der yogischen Übungen und Techniken innerhalb des kosmo-an-
thropologischen Interpretationsrahmens der Tradition und des imaginaire. Wie
James Mallinson gezeigt hat, können alte yogische Techniken (wie khecarīmu-
drā, vajrolīmudrā und viparītakaraṇī ) so auf verschiedene und einander wider-
sprechende Weisen im selben Werk, der Haṭhayogapradīpikā, anthropologisch
interpretiert werden.24 Die yogischen Techniken partizipieren somit an zwei
verschiedenen Traditionen und imaginaires, die in der Haṭhayogapradīpikā
vereint werden. Diese Dynamik zwischen der Praxisdimension und der theo-
retischen Dimension soll hier betont werden. Einerseits wird oft angenommen,
dass die religiöse Praxis die Grundlage für die Internalisierung und Tradierung
von religiösen Narrativen und Vorstellungen bildet,25 andererseits wird dafür
argumentiert, dass religiöse Praxis unabhängig von den symbolischen Syste-
men und Bedeutungszuweisungen untersucht werden soll.26 Yogisches Übungs-
wissen scheint sich angesichts dessen gut zu eignen, das enge Verhältnis von
Wissen und Übung, Theorie und Praxis zu illustrieren.27

begins, the practitioner of Yoga will have a divine body (divyadeha), radiance, a divine
fragrance, freedom from disease, and a full heart“ (Akers 2002, S. 102).
22 Siehe auch Ondračka 2015, S. 219.
23 Hiermit ist „a shared ,imaginaire‘ of recognizable ideas, themes, sequences and tropes“
(Frazier 2011, S. 326) gemeint unter Verweis auf „non-empirical claims and beings“
(Flood 1999, S. 47, 51). Für eine umfassende Behandlung des imaginaire-Begriffs siehe
Wernicke-Olesen 2014, Kap. 6.
24 Mallinson 2015.
25 Smart 1996; Flood 2004 und 2006; Østergaard 2008.
26 Staal 1996; Boyer 1990; Humphrey / Laidlaw 1994.
27 Wie in der Haṭhayogapradīpikā formuliert wird: „The practitioner will succeed; the
nonpractitioner will not. Success in Yoga is not achieved by merely reading books.
Success is achieved neither by wearing the right clothes nor by talking about it. Practice
alone brings success“ (HP 1.65–66; Akers 2002, S. 32).
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4. Yogisches Übungswissen im Netratantra,


Kubjikāmatatantra und in der Haṭhayogapradīpikā
Das frühe Netratantra („Tantra des Auges“) 28 steht zwischen den orthodoxen
vedisch-brahmanischen Śaiva-Traditionen und den späteren transgressiven Göt-
tinnen-orientierten Śākta-Traditionen (auch kulamārga oder kaula genannt).29
Der Text besteht aus 22 Kapiteln in der für das Tantra charakteristischen Dia-
logform, als Zwiegespräch zwischen dem Gott Śiva (Īśvara) und der Göttin
Devī (im Netratantra auch Śrī oder Amṛteśvarī genannt). Śiva wird in diesem
Text als „Besieger des Todes“ (Mṛtyujita oder Mṛtyunjit) bezeichnet und mit
dem kraftvollen Netramantra OṂ JUṂ SAḤ identifiziert. Das Netratantra ist
besonders für sein langes und detailliertes neunzehntes Kapitel über Dämo-
nologie bekannt und wird von Alexis Sanderson als ein kaschmirischer Text
aus dem Zeitraum von 700 bis 850 n. Chr. identifiziert.30 Meditation und Vi-
sualisierung sind von zentraler Bedeutung im Netratantra. Aus diesem Grund
und wegen seiner frühen Abfassungszeit ist das Werk von großem Interesse
für die Erforschung esoterischer Anatomie in der Frühzeit der tantrischen und
yogischen Traditionen. Es enthält drei Kapitel über esoterische Anatomie. Das
sechste Kapitel stellt grobe Visualisierungen (sthūladhyāna) dar, d. h. die Vi-
sualisierung und Verehrung ( pūjā) von verschiedenen Gottheiten zur Heilung
von Krankheiten. Kapitel 7 enthält eine Übersicht subtiler Visualisierungen
(sūkṣmadhyāna) des Körpers als axis mundi und ein soteriologisches Modell
des Körpers als Behälter des Unsterblichkeitselixiers (amṛta). Ferner werden
hier verschiedene kosmologische Strukturen mit dem Körper identifiziert, um
eine Vergöttlichung des Körpers zu bewirken.31 Das Kapitel 8 beschreibt die
höchsten Visualisierungen ( paradhyāna) als eine Reihe von yogischen Techni-
ken, die die Realisierung des Selbst als Gott (Śiva) zum Ziel haben.
In unserem Zusammenhang ist das siebte Kapitel von besonderem Inter-
esse, da es unter anderem bemerkenswerte Vorstufen zum Cakra-System, der
Kuṇḍalinī-Kraft und der śāktistischen Überströmung des Körpers mit Unsterb-
lichkeitselixier (amṛtaplavana) enthält. Wir finden in diesem Kapitel die An-
sätze eines esoterischen und yogischen Modells, in dem die vertikale Achse
des Körpers als kosmologische Achse verstanden wird und somit als ein sote-
riologischer Weg, um Göttlichkeit zu erreichen. Eine Reise durch den Körper
ist entsprechend eine Reise durch die verschiedenen kosmologischen Ebenen
und gleichzeitig eine Vergöttlichung des Körpers.32 Die zentrale Praxis ist eine

28 Der Text ist auch als Amṛteśatantra, Mṛtyujidamṛteśavidhāna oder Amṛtīśavidhāna be-
kannt.
29 Wernicke-Olesen 2015, S. 5; White 2003; Sanderson 2014, S. 57–73.
30 Sanderson 2004, S. 293; White 2012.
31 Flood 2006.
32 Beispielsweise werden Positionen im Körper (Nabel, Herz usw.) mit den kosmologi-
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Visualisierung dieser vertikalen Achse, eingeteilt in eine Reihe von Zentren


(cakra) und Knoten (granthi), die von einer Kraft (śakti, kuṇḍalā) penetriert
werden müssen, um das höchste der Zentren im Kopf zu erreichen. Die Kraft
wird als Vibration (spanda) und „Lautnadel“ (nādasūci) verstanden.33 Wenn
diese das letzte Cakra durchdrungen hat, wird eine Überströmung des Körpers
mit Unsterblichkeitselixier (amṛta) ausgelöst.34 Der Yogi wird unsterblich, er
hat den Tod und die Zeit überlistet und ist gottgleich geworden:35

By distinguishing levels of being, the yogi should unite his self-perception with the root
base of those places. By applying the needle of sound, he should pierce those levels
through the application of the subtle yoga. Having pierced the sixteen centres and the
twelve knots, the one who has mounted the path of the central channel should penetrate
towards the highest state. The yogi, penetrating that, becomes equal to the all-pervading
Śiva and via that way he is filled completely by the undivided, agitated Śakti ridding
him of all diseases; there, having rested in the abode of rasa, the penetrated elementary
matter, obtained by meditation in the heart, he should – having obtained that experien-
ce – cause all that elixir to flow quickly from that place and leave it remaining every-
where. Ones own body, entirely filled with the supreme infinite nectar and, likewise,
with the joy of non-death and non-old age, by distinguishing the infinite channel by
the visualizing meditation, becomes completely filled with the subtle sound both inter-
nally and externally, O Beloved, due to the Yoga of subtle sound and the Conqueror of
Death-mantra. (NT 7.9–15)

Spätere Yogatraditionen, wie wir sie im Zusammenhang mit transgressiven


Śākta-Traditionen (kulamārga) finden, beschreiben dann diesen Prozess als die
Penetration der sechs Cakras durch die Göttin Kuṇḍalinī. Besonders wichtig
ist die Tradition der „buckeligen“ Göttin Kubjikā, die auch mit der Kuṇḍalinī-
Kraft identifiziert wird.36 Ihre Blütezeit hatte diese Tradition im Nepal des 10.
bis 16. Jahrhunderts,37 und sie ist, wie von Mark Dyczkowski bemerkt, noch
heute in begrenztem Umfang im Kathmandutal lebendig.38 Der Grundtext dieser
Tradition, das Kubjikāmatatantra, entstammt der westlichen Überlieferungs-
linie ( paścimāmnaya) des kulamārga im 11. Jahrhundert.39 Wie das Netratan-
tra enthält es verschiedene Versionen und Visualisierungen des Cakra-Systems,
wie zum Beispiel das von Dorothy Heilijgers-Seelen beschriebene Fünf-Cakra-

schen Ebenen der fünf Götter Brahmā, Viṣṇu, Rudra, Īśvara und Sadāśiva (NT 1.23,
1.26) identifiziert. Die fünf Götter werden wiederum mit den fünf Lufträumen (vyo-
man) identifiziert (NT 1.27–28).
33 NT 7.9.
34 NT 7.13–14.
35 NT 7.51, 7.52 (kālasya vañcanaṃ).
36 Dyczkowski 1988, S. 88-90.
37 Schoterman 1982, S. 6.
38 Dyczkowski 2001.
39 Goudriaan / Schoterman 1988, S. 6, 14.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 201

System.40 Dazu finden wir aber im elften Kapitel des Kubjikāmatatantra den
Ursprung des klassischen und meistverbreiteten Sechs-Cakra-Systems (ṣaṭca-
kra) des Haṭhayoga (siehe Abb. 2). Hier werden die sechs Cakras explizit phy-
siologisch fixiert:

Nachdem dies festgestellt worden ist; höre nun von der südlichen Einheit, bestehend
aus sechs, die von dem maṇipūra des Gottes erhellt wurden: So ist die südliche Einheit
von sechs beginnend mit ājñā aus dem Erschaffenen entstanden. Durch die Kette von
Sukzession und durch den Weg der Erschaffung ist sie überliefert worden. Śiva und
Śakti sind sowohl das Erschaffene wie das Nicht-Erschaffene. Die Einheit von sechs
padas, die mit Vernichtung in Verbindung stehen, ist die südliche Einheit. Sie endet mit
Śakti, d. h. kula. Der Anus wird ādhāra [1] genannt, während svādhisthāna [2] sich in
den Genitalien befindet. Maṇipūra [3] befindet sich im Nabel, anāhata [4] im Herzen,
viśuddhi [5] im Hals und ājña [6] zwischen den Augen. (KMT 11.32–37) 41

In den folgenden zwei Kapiteln des Kubjikāmatatantra werden diese sechs Zent-
ren ausführlich beschrieben und weiter kosmologisch und physiologisch fixiert.
Das Resultat ist ein prototypisches yogisches Modell für esoterische Anatomie
und eine standardisierte Terminologie (ādhāra, svādhisthāna, maṇipūra usw.),
die von den meisten nachfolgenden Yogatraditionen übernommen wird. Wie
James Mallinson zeigt, wird diese Traditionsströmung des kulamārga durch die
Nāth-Yogis später im 15. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss auf das
Werk Haṭhayogapradīpikā ausüben, d. h. auf den locus classicus des Haṭhayo-
ga.42 Als erstes Beispiel darf der Anfang des dritten Kapitels der Haṭhayoga-
pradīpikā erwähnt werden, wo alle yogischen Techniken (mudrā) im Lichte des
Kuṇḍalinī-Systems des kulamārga oder paścimāmnaya neu, d. h. im Sinne einer
Śākta-Anthropologie interpretiert werden,

As the Lord of Serpents supports the earth with its mountains and forests, so Kun-
dalini supports all Yoga practices. All lotuses (cakras) and knots ( granthis) are split
open when the sleeping Kundalini is awakened by the grace of a guru. […] Therefore
practice mudras energetically to awaken the goddess (kuṇḍalinī ) sleeping outside the
door to Brahman (ādhāra / mūlādhāracakra). (HP 3.1–2 und 5) 43

Dieses Werk aus dem 15. Jahrhundert n. Chr. wurde das einflussreichste und au-
toritative Werk des klassischen Haṭhayoga.44 Es basiert auf ungefähr zwanzig
verschiedenen yogischen Texten und einer Vielfalt von yogischen Praxisformen,

40 Heilijgers-Seelen 1994.
41 Die Übersetzung ist inspiriert von Dorte Effersøes dänischer Neuübersetzung (Effersøe
2015), die 2014 in Zusammenarbeit mit Alexis Sanderson in Oxford entstanden ist.
42 Mallinson 2015, S. 122–124.
43 Akers 2002, S. 52–53.
44 Bouy 1994, S. 85; Mallinson 2011.
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Abb. 2: Yogisches Übungswissen in der Form esoterischer Anatomie (Foto: Bjarne Werni-
cke-Olesen, Kuṇḍalinī-Cakra-System, nepalesisches Manuskript, 1811)
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 203

die in vier Kapiteln zusammengefasst sind: Körperstellungen (āsana), Atem-


übungen ( prāṇāyāma), yogische Techniken (mudrā) und Meditation (samādhi).
In der Haṭhayogapradīpikā sind alle yogischen Praxisformen als Haṭhayoga zu
verstehen und haben alle Rājayoga zum Ziel, d. h. das höchste Bewusstsein (sa-
mādhi). Es zeigt sich, dass eine ursprüngliche oder frühe Binduyoga-Anthropo-
logie, die auf das Zurückhalten des Samens (bindhudhāraṇa) ausgerichtet war,
von einer mit dem Kuṇḍalinī-System verknüpften Śākta-Anthropologie ersetzt
wird, die auf die Überströmung des Körpers mit Unsterblichkeitselixier (amṛta-
plavana) ausgerichtet ist.45 So wird zum Beispiel die yogische Technik khecarī-
mudrā in der Haṭhayogapradīpikā zweimal und auf einander widersprechende
Weise dargestellt.46 Diese mudrā ist eine Zungentechnik, bei der die Zunge
verlängert und in den Gaumen gesteckt wird. Damit wird der Hohlraum ver-
schlossen und der Samen im Kopf erhalten (bindhudhāraṇa):

The semen does not flow (even if embraced by a passionate woman) if the cavity above
the soft palate is sealed with the Khecari. […] The knower of Yoga should preserve his
semen and thereby conquer death. Emission of semen is death; preservation of semen
is life. (HP 3.42 und 88) 47

In der anderen Textstelle wird eine Überströmung des Körpers mit Unsterblich-
keitselixir (amṛtaplavana) bewirkt:

The breath, staying in the left and right nadis (iḍā, pingalā), goes into the middle (su-
ṣumnā). The Khecarimudra lives in that place, without a doubt. […] Drench the body
with nectar (amṛta) from the head to the soles of the feet. One will definitely get a great
body, and great strength and heroism. (HP 4.43 und 53) 48

Diese yogischen Techniken partizipieren somit an zwei verschiedenen Traditio-


nen und Vorstellungswelten, die in der Haṭhayogapradīpikā zusammenfließen.
Genauer gesagt kann mit Mallinson im indischen Mittelalter zwischen bindu-
dhāraṇa-orientierten, Haṭhayoga praktizierenden Muni-Yogis und amṛtaplava-
na-orientierten, Kuṇḍalinīyoga praktizierenden Siddha-Yogis unterschieden
werden.49 Letztere sind die Nāth-Yogis mit Śākta-Hintergrund, die in der ein-
flussreichen Haṭhayogapradīpikā die Haṭhayoga-Techniken im Lichte von
Kuṇḍalinī- und Cakra-System uminterpretiert haben. Heute noch wird in vielen
Werken der Sekundärliteratur die Erfindung von Haṭhayoga dem Nāth-Guru
Gorakhnath (11. Jh. n. Chr.) zugeschrieben.

45 Mallinson 2015, S. 117–118.


46 HP 3.31–53 im Gegensatz zu HP 4.43–55.
47 Akers 2002, S. 61, 73.
48 Akers 2002, S. 95, 97.
49 Mallinson 2015, S. 119–122.
204 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen

5. Traditions- und körpergebundene Erinnerung

Wie kann nun das Verhältnis von yogischem Wissen und Übung gefasst wer-
den? Das yogische Übungswissen wird als Teil einer Tradition praktiziert und
im Verhältnis zu Erinnerungen an frühere Ausübungen beurteilt. In diesem Sin-
ne kann das Übungswissen als traditionsgebundene Erinnerung (memory of the
tradition) verstanden werden. Basierend auf den Überlegungen des Soziologen
Hervieu-Léger in Religion as a Chain of Memory 50 beschreibt Gavin Flood
Tradition als kollektive Erinnerungen, die über Generationen weitergeführt
werden.51 Nach seinem Traditionsverständnis, das so auch mit Maurice Halb-
wachs’, Jan Assmanns und Paul Connertons Auffassungen von kollektiven Er-
innerungen verwandt ist,52 ist eine Tradition allerdings nicht „passively recei-
ved“, sondern „actively reconstructed in a shared imagination and reconstituted
in the present as memory“.53 Für yogische und asketische Traditionen betont
Gavin Flood die subjektive Dimension. Diese hat als Voraussetzung die einzel-
nen Individuen, die traditionsgebundene Erinnerung internalisieren, indem sie
text- und traditionsspezifisches Wissen in und auf dem Körper durch die yogi-
sche Praxis kodifizieren.54 Wie ist jedoch das Verhältnis zwischen subjektivem
Wissen und traditionsgebundener Erinnerung zu verstehen? Unsere Texte (Ne-
tratantra, Kubjikāmatatantra und Haṭhayogapradīpikā) geben eine Antwort:
Der Yogi soll durch Übung seine eigene Natur als Teil eines religiös definierten
Kosmos erkennen. So partizipiert er an einem kosmologischen Wissen, das von
der ursprünglichen Gottheit durch einen personalen Wissenstransfer überliefert
worden ist, und zwar durch die Lehrer-Schüler-Abfolge ( paramparā). Dieses
Wissen wird durch wiederholte yogische Übungen internalisiert und auf dem
yogischen Körper kodifiziert. So entsteht eine Vergöttlichung des Körpers.
Dies geschieht, wenn die kosmologischen Ebenen hierarchisch mit Teilen des
yogischen Körpers identifiziert werden und durch eine Reihe von kosmischen
Homologien und Korrespondenzen eine esoterische Anatomie entsteht – ein
tantrischer Körper.55 Doch werden tatsächlich diese religiösen Vorstellungen
und textlichen Modelle von Individuen durch religiöse Praxis internalisiert?
Ethnographische Studien religiöser Praxis haben oft das Gegenteil gezeigt und
es gibt wenige empirische Belege für ein solches subjektives und internali-
siertes Übungswissen. Wie Pascal Boyer hervorgehoben hat, besteht oft eine
Dissonanz zwischen dem Wissen, das den Praktizierenden in ihrem soziokul-
turellen Kontext vermittelt wird, und dem Wissen, welches Forscher bei den

50 Hervieu-Léger 2000 [1993].


51 Flood 2004.
52 Vgl. Halbwachs 1935 [1925]; Assmann 1997; Connerton 1989.
53 Flood 2004, S. 8.
54 Flood 2004.
55 Flood 2004, S. 11, und 2006.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 205

Abb. 3: Yogischer Kopfstand (viparītakaraṇī ) als körpergebundene Erinnerung (Foto: James


Mallinson, Rām Dās Yogirāj, Citrakoot, 1995)

Praktizierenden voraussetzen. Ein solches Wissen wäre zum Beispiel die detail-
lierte Kenntnis bestimmter religiöser Weltbilder, narratives Wissen, theologi-
sches Wissen, ätiologisches Wissen usw.56 Diese Dissonanz hat auch Frits Staal
zu seinem aufsehenerregenden Schluss gebracht, dass Rituale „rules without
meaning“ seien.57 In dieser Perspektive repräsentieren und kommunizieren Ri-
tuale abgesehen von prozeduralem Wissen kein religiöses Übungswissen.
Als eine Alternative zu linguistischen und strukturalistischen Zugängen zu
Kulturformationen hat der Körper in den letzten vierzig Jahren zunehmend an
Bedeutung gewonnen.58 Die Theorien des embodiment drehen sich insbeson-
dere um das Verhältnis zwischen körperlichen Erfahrungen, Erinnerungen und

56 Boyer 1990, S. 7–8.


57 Staal 1996.
58 Sax / Polit 2012, S. 228–229.
206 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen

kultureller Identität.59 In dieser Perspektive kann das yogische Übungswissen


als traditionsgebundene Erinnerung nicht nur als strukturiertes, deklaratives
Wissen verstanden werden, sondern auch als eine körpergebundene Erinnerung,
eine embodied memory. Diese körpergebundene Erinnerung entsteht durch die
Interaktion des Individuums mit sozialen, kulturellen und räumlichen Umge-
bungen im Laufe des Lebens. Der Yogi internalisiert sozusagen körperlich die
traditionsgebundene Erinnerung, indem er sich vor den Füßen des Gurus ver-
beugt, indem er auf dem Leichenverbrennungsplatz sitzend meditiert (sādha-
na), indem er einen yogischen Kopfstand ausführt (viparītakaraṇī, siehe Abb.
3) oder eine yogische Technik wie khecarīmudrā praktiziert. Wie William Sax
und Karin Polit argumentieren, ist eine solche körperliche Sinngebung nicht
mit Theorien adäquat zu beschreiben, die nur sprachliche Strukturen hervorhe-
ben.60 Damit ist nicht gesagt, das keine Bedeutungszuweisungen stattfinden. Es
ist sehr wohl möglich, dass ein praktizierender Yogi Gott als vibrierenden Laut
(spanda) an einer Stelle des Körpers zu spüren fähig ist – d. h. eine Erfahrung
macht, die traditions- und textspezifisch ist –, ohne dass der Yogi dazu in der
Lage wäre, diese Erfahrung im Sinne der zugrunde liegenden Texte zu erklären.
Der Forscher würde erwarten, dass der tantrische Yogi seine Praxis mit einer
zusammenhängenden kosmo-anthropogonischen Theorie von der sukzessiven
Lautmanifestation des Kosmos zu erklären fähig sein sollte. Ein Yogi wäre glei-
cherweise dazu im Stande, durch die khecarīmudrā-Praxis seinen Samen zu
erhalten (bindudhāraṇa) oder darin zu „baden“ (amṛtaplavana) – und dies zu
spüren –, ohne diese Erfahrung entsprechend der textlichen Beschreibungen
erklären oder einordnen zu können. Kulturelles Wissen – und damit Übungs-
wissen – kann aber aus körperlichen Erfahrungen bestehen, die nicht artikuliert
werden und sprachlich nicht zu erfassen sind. Diese körperlichen Erfahrungen
sind trotzdem eng mit textspezifischen Narrativen und Vorstellungen verbun-
den, die das (yogische) Individuum mit der Tradition verbindet.61 Das yogische
Übungswissen partizipiert somit an einem übergeordneten imaginaire. Wie
Bjarne Wernicke-Olesen hervorgehoben hat, sollte dieses imaginaire jedoch
nicht mit einzelnen Fällen von Praxis- und Bedeutungsvariationen verwechselt
werden, die in einem soziokulturellen Kontext empirisch beobachtbar sind.62 In
Abgrenzung dazu ist das imaginaire als ein dynamisches kulturelles Reservoir
zu verstehen, als ein mentales Universum (Steven Collins), dass in und von den
traditionstragenden Texten hervorgebracht worden ist.63 Es verfügt auch in der
longue durée über ausreichende Kohäsion und Stabilität, so dass es als distink-

59 Csordas 1994; Hüsken 2009; Connerton 2011; Koch / Fuchs / Summa 2012. Siehe auch
Mauss 1934 und Merleau-Ponty 1945.
60 Sax / Polit 2012, S. 240.
61 Sax / Polit 2012, S. 233–244. Siehe dazu Fuchs 2012, S. 19–21.
62 Wernicke-Olesen 2014, S. 85–89.
63 Collins 1998, S. 73.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 207

tives mentales Universum beschrieben und vom soziokulturellen Leben abs-


trahiert werden kann. Es handelt sich jedoch dabei um eine idealtypische Kon-
struktion eines mentalen Universums der Tradition (oder eher eines Netzwerks
von yogischen Traditionen). Diese Konstruktion beruht auf dem zugänglichen
prototypischen Textmaterial und betont die Verschiedenheit dieses imaginaire
von der soziokulturellen Realität.64 Ferner umfasst das imaginaire (im Gegen-
satz zu einem Weltbild) auch die Praxisdimension, wie sie im prototypischen
Textmaterial dargestellt wird. Es enthält sowohl Modelle für als auch von der
Praxis der Tradition. Ein text- und traditionsspezifischer Habitus partizipiert
somit auch an einem übergeordneten imaginaire und kann durch das Studi-
um von prototypischen Texten erforscht werden, während Ritualdynamik und
Bedeutungsvariation durch Feldforschung (hinsichtlich Text und Performanz)
untersucht werden können. Ritualhandbücher (einschließlich Tantras) als Aus-
druck von einem imaginaire erklären, wie Übungen praktiziert werden sollten
(meist in der dritten Person Optativ), während Feldforschung die Dynamik und
Variation zeigt, d. h. wie das imaginaire in der Praxis reaktualisiert und wei-
tervermittelt wird. Das yogische Übungswissen ist damit nicht nur ein dekla-
ratives oder prozedurales Wissen, sondern eine körpergebundene Erinnerung
(embodied memory), die an einem übergeordneten imaginaire partizipiert und
so das yogische Individuum erfolgreich mit der Tradition verbindet, indem tex-
tuelles Wissen durch Übung reaktualisiert wird. Zweck dieses Übungswissens
ist Selbsttransformation, Unsterblichkeit, magische Kräfte und letztendlich das
Erreichen von Göttlichkeit und Erlösung. David Gordon White beschreibt den
Weg des tantrischen Yogi wohl zu Recht als die vielleicht komplizierteste Sote-
riologie, die die Religionsgeschichte aufzuweisen hat.65

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64 Collins 1998, S. 571.


65 Vorlesung in Aarhus (21. März 2002) mit dem Titel: „Where Is the Hindu Mainstream?
An Alternative to the Bhakti Paradigm“.
208 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen

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