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1. Einleitung1
Yoga, mit seiner Vielzahl an geistigen und körperlichen Übungen (abhyāsa), die
Selbsterkenntnis und Erlösung zum Ziel haben, kann als die indische ἄσκησις
par excellence gelten. Im Yoga trainieren die indischen Asketen die Kontrolle
über den Körper durch Posituren (āsana) und Atemübungen ( prāṇāyāma) so-
wie über den Geist durch Meditation und Konzentration (dhyāna, samādhi).
Dabei geht es nicht darum, in einer bestimmten Situation körperlich oder geistig
eine außergewöhnliche Leistung zu erbringen (wie im Sport oder beim Militär),
sondern darum, den Körper und seine Begierden im Ganzen zu transzendieren,
oder – wie es in einem esoterischen tantrischen Kontext üblich ist – magische
Kräfte (siddhi) und einen unsterblichen, göttlichen Körper zu erlangen (divya-
deha).
Yoga und Asketismus sind seit dem Entstehen asketischer Reformbewegun-
gen im 5. vorchristlichen Jahrhundert vitale Bestandteile der indischen religiö-
sen Landschaft und sind in ihrer Entwicklung sowohl von Kontinuität als auch
von Transformation geprägt (siehe Abb. 1). Die Integration von yogischem und
asketischem Übungswissen in verschiedene indische Traditionen illustriert die
nach Robert Bellah gerade für Indien geltende Maxime „nothing is ever lost“.2
Diese Beobachtung muss auch im Zusammenhang mit der ausgeprägten indi-
schen Tendenz zu Inklusivismus (Paul Hacker) und dem für den Hinduismus
charakteristischen identifikatorischen Habitus (Axel Michaels) gesehen wer-
den.3 Hiermit sind eine besondere indische Denkweise und „typische kognitive
Muster der Hindu-Religionen“ gemeint, in denen fremde Denkelemente mit
den eigenen identifiziert und meistens hierarchisch untergeordnet werden.4 So
ist auch yogisch-asketisches Übungswissen von den meisten indischen Traditi-
1 Einen herzlichen Dank an Prof. Ute Hüsken, Oslo, für die sprachliche Überarbeitung
dieses Artikels. Dazu einen besonderen Dank an die Carlsberg Foundation für die finan-
zielle Unterstützung des Forschungsprojektes.
2 Bellah 2011, S. 489: „It has been a premise of this book that ,nothing is ever lost,‘ but
India exhibits that premise to a startling degree.“
3 Hacker 1983; Michaels 1998.
4 Michaels 1998, S. 397.
194 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen
Abb. 1: Indische Form der Askese (tapas), wie sie seit dem Entstehen asketischer Reform-
bewegungen im 5. Jahrhundert v. Chr. praktiziert wird (Foto: James Mallinson, dhūni-tap,
Haridwar, Indien, 2010)
durée untersucht. Dies soll zum Verständnis der inneren Dynamik indischer
Traditionen beitragen, da dieses Übungswissen ein zentrales Überlieferungsgut
ist, welches durch repetitive Praxis eingeübt wurde und nach wie vor einge-
übt wird. Insofern verbindet es die gegenwärtig Praktizierenden mit vorange-
gangenen und nachfolgenden Praktizierenden. Im frühen Netratantra (8. Jh.
n. Chr.) ist dieses Wissen noch arbiträr. Im Kubjikāmatatantra (11. Jh. n. Chr.)
wird es dann doktrinär und physiologisch fixiert, und in der späteren Haṭhayo-
gapradīpikā (15. Jh. n. Chr.) wird das Wissen demokratisiert. Das Textmateri-
al beinhaltet verschiedene Versionen der esoterischen Anatomie des indischen
Mittelalters, die von verschiedenen Traditionen übernommen wurden, wodurch
ein „Dialog“ zwischen diesen Traditionen entstand. Das Übungswissen wurde
in verschiedene Denksysteme und Praxisformen integriert, Traditionen fusio-
nierten und neue Traditionen entstanden. Nach der Haṭhayogapradīpikā wurde
dieses yogische Übungswissen vom Kuṇḍalinī- und Cakra-System – in Kom-
bination mit dem südindischen Göttinnenkult Śrīvidyā – pan-indisch. Anfang
des 20. Jahrhunderts wurde es dann erfolgreich in den Westen exportiert, vor
allem durch die einflussreichen Werke von John Woodroffe („Arthur Avalon“).8
Heute stellt klassischer Haṭhayoga in Kombination mit dem Kuṇḍalinī- und Ca-
kra-System eine religiöse Hauptexportware Indiens dar und ist ein internatio-
nales Milliardengeschäft geworden.
8 Taylor 2001; Hatley 2015, S. 5: „A particular Śrīvidyā text teaching this system has in-
fluenced the modern image of kuṇḍalinī above all others: the Ṣaṭcakranirūpaṇa (De-
scription of the Six Centres), chapter six of the Tattvacintāmaṇi of Pūrṇānanda (16th
century). This was first published in 1918 with a translation and extensive introduction
in The Serpent Power by ,Arthur Avalon‘ – pen name of the British Indian judge, Sir
John Woodroffe, and his Bengali collaborator, Atal Bihari Ghosh. Modern conceptions
of kuṇḍalinī, and indeed Hindu tantric yoga generally, owe an extraordinary debt to The
Serpent Power.“
9 Goodall / Isaacson 2011, S. 122 f. Für einen Überblick über die Tantra-Forschung in den
90er Jahren, siehe Padoux 1998. Für einen Überblick über die Forschung im vergange-
nen Jahrzehnt siehe Hatley 2010.
196 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen
17 Wernicke-Olesen 2015.
18 Mallinson 2015, S. 122–123.
19 Gavin Flood (2006, S. 179) verweist für den Gebrauch des Optativs hier auf den Pāṇini-
Kommentator Nageśabhaṭṭa: „There is a sequence of implication in the use of the opta-
tive. Namely, that the instigation is uttered by an authoritative person (āpta); that there
is nothing inhibiting the instigation; and that the ,instigatee‘ infers that the action he is
being asked to perform is something he desires and is achieveable.“
20 NT 7.1–2: „Now I will tell you about the excellent, supreme, subtle visualizing medita-
tion [sūkṣmadhyāna], which comprises the sequence of six cakras, the supporting vo-
wels, the three objects, and the five voids, the twelve knots, the three śaktis, the path
of the three abodes, and the three channels.“ Der in diesem Artikel angegebene engli-
sche Text des siebten Kapitels des Netratantra basiert auf einer Neuübersetzung, die
2015 / 16 von Gavin Flood, Bjarne Wernicke-Olesen, Silje Lyngar Einarsen und Gitte
Poulsen in Oxford erarbeitet wurde. Grundlage dieser Neuübersetzung ist Amṛteśatan-
tram (NAK MS 1-285, NGMPP Reel No. B 25 / 4. AD 1220). Vgl. zur Datierung San-
derson 2005, S. 242.
21 NT 7.3–5: „Having realized the body, O One with Beautiful Hips, as a body that follows
the path of ten channels and 35 million channels via the 72.000 channels and as a body
overrun by a host of channels riddled with diseases in the fire, the yogi then fills the
highest Self with the nectar of subtle meditation proclaimed as the highest. He becomes
a divine body (divyadeha) bereft of all disease.“ HP 4.71: „When the sound in the void
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durch welches ein menschlicher Körper mit Hilfe von yogischen Übungen in
einen göttlichen und unsterblichen Körper transformiert werden kann.22 Dieses
Übungswissen hat also eine theoretische und eine praktische Dimension. Die
praktische Dimension umfasst die yogischen Übungen, die durch einen persön-
lichen, initiatorischen und ritualisierten Wissenstransfer überliefert und gelernt
werden, d. h. sie werden vom Guru an den Schüler ( paramparā) weitergege-
ben. Die theoretische oder intellektuelle Dimension umfasst kosmologische,
theologische und anthropologische Aussagen und Auslegungen, die an einem
der Tradition übergeordneten religiösen imaginaire partizipieren.23 Auf der
Ebene des yogischen Individuums spielt dies zum Beispiel eine Rolle für die
Interpretation der yogischen Übungen und Techniken innerhalb des kosmo-an-
thropologischen Interpretationsrahmens der Tradition und des imaginaire. Wie
James Mallinson gezeigt hat, können alte yogische Techniken (wie khecarīmu-
drā, vajrolīmudrā und viparītakaraṇī ) so auf verschiedene und einander wider-
sprechende Weisen im selben Werk, der Haṭhayogapradīpikā, anthropologisch
interpretiert werden.24 Die yogischen Techniken partizipieren somit an zwei
verschiedenen Traditionen und imaginaires, die in der Haṭhayogapradīpikā
vereint werden. Diese Dynamik zwischen der Praxisdimension und der theo-
retischen Dimension soll hier betont werden. Einerseits wird oft angenommen,
dass die religiöse Praxis die Grundlage für die Internalisierung und Tradierung
von religiösen Narrativen und Vorstellungen bildet,25 andererseits wird dafür
argumentiert, dass religiöse Praxis unabhängig von den symbolischen Syste-
men und Bedeutungszuweisungen untersucht werden soll.26 Yogisches Übungs-
wissen scheint sich angesichts dessen gut zu eignen, das enge Verhältnis von
Wissen und Übung, Theorie und Praxis zu illustrieren.27
begins, the practitioner of Yoga will have a divine body (divyadeha), radiance, a divine
fragrance, freedom from disease, and a full heart“ (Akers 2002, S. 102).
22 Siehe auch Ondračka 2015, S. 219.
23 Hiermit ist „a shared ,imaginaire‘ of recognizable ideas, themes, sequences and tropes“
(Frazier 2011, S. 326) gemeint unter Verweis auf „non-empirical claims and beings“
(Flood 1999, S. 47, 51). Für eine umfassende Behandlung des imaginaire-Begriffs siehe
Wernicke-Olesen 2014, Kap. 6.
24 Mallinson 2015.
25 Smart 1996; Flood 2004 und 2006; Østergaard 2008.
26 Staal 1996; Boyer 1990; Humphrey / Laidlaw 1994.
27 Wie in der Haṭhayogapradīpikā formuliert wird: „The practitioner will succeed; the
nonpractitioner will not. Success in Yoga is not achieved by merely reading books.
Success is achieved neither by wearing the right clothes nor by talking about it. Practice
alone brings success“ (HP 1.65–66; Akers 2002, S. 32).
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 199
28 Der Text ist auch als Amṛteśatantra, Mṛtyujidamṛteśavidhāna oder Amṛtīśavidhāna be-
kannt.
29 Wernicke-Olesen 2015, S. 5; White 2003; Sanderson 2014, S. 57–73.
30 Sanderson 2004, S. 293; White 2012.
31 Flood 2006.
32 Beispielsweise werden Positionen im Körper (Nabel, Herz usw.) mit den kosmologi-
200 Bjarne Wernicke-Olesen und Silje Lyngar Einarsen
By distinguishing levels of being, the yogi should unite his self-perception with the root
base of those places. By applying the needle of sound, he should pierce those levels
through the application of the subtle yoga. Having pierced the sixteen centres and the
twelve knots, the one who has mounted the path of the central channel should penetrate
towards the highest state. The yogi, penetrating that, becomes equal to the all-pervading
Śiva and via that way he is filled completely by the undivided, agitated Śakti ridding
him of all diseases; there, having rested in the abode of rasa, the penetrated elementary
matter, obtained by meditation in the heart, he should – having obtained that experien-
ce – cause all that elixir to flow quickly from that place and leave it remaining every-
where. Ones own body, entirely filled with the supreme infinite nectar and, likewise,
with the joy of non-death and non-old age, by distinguishing the infinite channel by
the visualizing meditation, becomes completely filled with the subtle sound both inter-
nally and externally, O Beloved, due to the Yoga of subtle sound and the Conqueror of
Death-mantra. (NT 7.9–15)
schen Ebenen der fünf Götter Brahmā, Viṣṇu, Rudra, Īśvara und Sadāśiva (NT 1.23,
1.26) identifiziert. Die fünf Götter werden wiederum mit den fünf Lufträumen (vyo-
man) identifiziert (NT 1.27–28).
33 NT 7.9.
34 NT 7.13–14.
35 NT 7.51, 7.52 (kālasya vañcanaṃ).
36 Dyczkowski 1988, S. 88-90.
37 Schoterman 1982, S. 6.
38 Dyczkowski 2001.
39 Goudriaan / Schoterman 1988, S. 6, 14.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 201
System.40 Dazu finden wir aber im elften Kapitel des Kubjikāmatatantra den
Ursprung des klassischen und meistverbreiteten Sechs-Cakra-Systems (ṣaṭca-
kra) des Haṭhayoga (siehe Abb. 2). Hier werden die sechs Cakras explizit phy-
siologisch fixiert:
Nachdem dies festgestellt worden ist; höre nun von der südlichen Einheit, bestehend
aus sechs, die von dem maṇipūra des Gottes erhellt wurden: So ist die südliche Einheit
von sechs beginnend mit ājñā aus dem Erschaffenen entstanden. Durch die Kette von
Sukzession und durch den Weg der Erschaffung ist sie überliefert worden. Śiva und
Śakti sind sowohl das Erschaffene wie das Nicht-Erschaffene. Die Einheit von sechs
padas, die mit Vernichtung in Verbindung stehen, ist die südliche Einheit. Sie endet mit
Śakti, d. h. kula. Der Anus wird ādhāra [1] genannt, während svādhisthāna [2] sich in
den Genitalien befindet. Maṇipūra [3] befindet sich im Nabel, anāhata [4] im Herzen,
viśuddhi [5] im Hals und ājña [6] zwischen den Augen. (KMT 11.32–37) 41
In den folgenden zwei Kapiteln des Kubjikāmatatantra werden diese sechs Zent-
ren ausführlich beschrieben und weiter kosmologisch und physiologisch fixiert.
Das Resultat ist ein prototypisches yogisches Modell für esoterische Anatomie
und eine standardisierte Terminologie (ādhāra, svādhisthāna, maṇipūra usw.),
die von den meisten nachfolgenden Yogatraditionen übernommen wird. Wie
James Mallinson zeigt, wird diese Traditionsströmung des kulamārga durch die
Nāth-Yogis später im 15. Jahrhundert einen entscheidenden Einfluss auf das
Werk Haṭhayogapradīpikā ausüben, d. h. auf den locus classicus des Haṭhayo-
ga.42 Als erstes Beispiel darf der Anfang des dritten Kapitels der Haṭhayoga-
pradīpikā erwähnt werden, wo alle yogischen Techniken (mudrā) im Lichte des
Kuṇḍalinī-Systems des kulamārga oder paścimāmnaya neu, d. h. im Sinne einer
Śākta-Anthropologie interpretiert werden,
As the Lord of Serpents supports the earth with its mountains and forests, so Kun-
dalini supports all Yoga practices. All lotuses (cakras) and knots ( granthis) are split
open when the sleeping Kundalini is awakened by the grace of a guru. […] Therefore
practice mudras energetically to awaken the goddess (kuṇḍalinī ) sleeping outside the
door to Brahman (ādhāra / mūlādhāracakra). (HP 3.1–2 und 5) 43
Dieses Werk aus dem 15. Jahrhundert n. Chr. wurde das einflussreichste und au-
toritative Werk des klassischen Haṭhayoga.44 Es basiert auf ungefähr zwanzig
verschiedenen yogischen Texten und einer Vielfalt von yogischen Praxisformen,
40 Heilijgers-Seelen 1994.
41 Die Übersetzung ist inspiriert von Dorte Effersøes dänischer Neuübersetzung (Effersøe
2015), die 2014 in Zusammenarbeit mit Alexis Sanderson in Oxford entstanden ist.
42 Mallinson 2015, S. 122–124.
43 Akers 2002, S. 52–53.
44 Bouy 1994, S. 85; Mallinson 2011.
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Abb. 2: Yogisches Übungswissen in der Form esoterischer Anatomie (Foto: Bjarne Werni-
cke-Olesen, Kuṇḍalinī-Cakra-System, nepalesisches Manuskript, 1811)
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 203
The semen does not flow (even if embraced by a passionate woman) if the cavity above
the soft palate is sealed with the Khecari. […] The knower of Yoga should preserve his
semen and thereby conquer death. Emission of semen is death; preservation of semen
is life. (HP 3.42 und 88) 47
In der anderen Textstelle wird eine Überströmung des Körpers mit Unsterblich-
keitselixir (amṛtaplavana) bewirkt:
The breath, staying in the left and right nadis (iḍā, pingalā), goes into the middle (su-
ṣumnā). The Khecarimudra lives in that place, without a doubt. […] Drench the body
with nectar (amṛta) from the head to the soles of the feet. One will definitely get a great
body, and great strength and heroism. (HP 4.43 und 53) 48
Wie kann nun das Verhältnis von yogischem Wissen und Übung gefasst wer-
den? Das yogische Übungswissen wird als Teil einer Tradition praktiziert und
im Verhältnis zu Erinnerungen an frühere Ausübungen beurteilt. In diesem Sin-
ne kann das Übungswissen als traditionsgebundene Erinnerung (memory of the
tradition) verstanden werden. Basierend auf den Überlegungen des Soziologen
Hervieu-Léger in Religion as a Chain of Memory 50 beschreibt Gavin Flood
Tradition als kollektive Erinnerungen, die über Generationen weitergeführt
werden.51 Nach seinem Traditionsverständnis, das so auch mit Maurice Halb-
wachs’, Jan Assmanns und Paul Connertons Auffassungen von kollektiven Er-
innerungen verwandt ist,52 ist eine Tradition allerdings nicht „passively recei-
ved“, sondern „actively reconstructed in a shared imagination and reconstituted
in the present as memory“.53 Für yogische und asketische Traditionen betont
Gavin Flood die subjektive Dimension. Diese hat als Voraussetzung die einzel-
nen Individuen, die traditionsgebundene Erinnerung internalisieren, indem sie
text- und traditionsspezifisches Wissen in und auf dem Körper durch die yogi-
sche Praxis kodifizieren.54 Wie ist jedoch das Verhältnis zwischen subjektivem
Wissen und traditionsgebundener Erinnerung zu verstehen? Unsere Texte (Ne-
tratantra, Kubjikāmatatantra und Haṭhayogapradīpikā) geben eine Antwort:
Der Yogi soll durch Übung seine eigene Natur als Teil eines religiös definierten
Kosmos erkennen. So partizipiert er an einem kosmologischen Wissen, das von
der ursprünglichen Gottheit durch einen personalen Wissenstransfer überliefert
worden ist, und zwar durch die Lehrer-Schüler-Abfolge ( paramparā). Dieses
Wissen wird durch wiederholte yogische Übungen internalisiert und auf dem
yogischen Körper kodifiziert. So entsteht eine Vergöttlichung des Körpers.
Dies geschieht, wenn die kosmologischen Ebenen hierarchisch mit Teilen des
yogischen Körpers identifiziert werden und durch eine Reihe von kosmischen
Homologien und Korrespondenzen eine esoterische Anatomie entsteht – ein
tantrischer Körper.55 Doch werden tatsächlich diese religiösen Vorstellungen
und textlichen Modelle von Individuen durch religiöse Praxis internalisiert?
Ethnographische Studien religiöser Praxis haben oft das Gegenteil gezeigt und
es gibt wenige empirische Belege für ein solches subjektives und internali-
siertes Übungswissen. Wie Pascal Boyer hervorgehoben hat, besteht oft eine
Dissonanz zwischen dem Wissen, das den Praktizierenden in ihrem soziokul-
turellen Kontext vermittelt wird, und dem Wissen, welches Forscher bei den
Praktizierenden voraussetzen. Ein solches Wissen wäre zum Beispiel die detail-
lierte Kenntnis bestimmter religiöser Weltbilder, narratives Wissen, theologi-
sches Wissen, ätiologisches Wissen usw.56 Diese Dissonanz hat auch Frits Staal
zu seinem aufsehenerregenden Schluss gebracht, dass Rituale „rules without
meaning“ seien.57 In dieser Perspektive repräsentieren und kommunizieren Ri-
tuale abgesehen von prozeduralem Wissen kein religiöses Übungswissen.
Als eine Alternative zu linguistischen und strukturalistischen Zugängen zu
Kulturformationen hat der Körper in den letzten vierzig Jahren zunehmend an
Bedeutung gewonnen.58 Die Theorien des embodiment drehen sich insbeson-
dere um das Verhältnis zwischen körperlichen Erfahrungen, Erinnerungen und
59 Csordas 1994; Hüsken 2009; Connerton 2011; Koch / Fuchs / Summa 2012. Siehe auch
Mauss 1934 und Merleau-Ponty 1945.
60 Sax / Polit 2012, S. 240.
61 Sax / Polit 2012, S. 233–244. Siehe dazu Fuchs 2012, S. 19–21.
62 Wernicke-Olesen 2014, S. 85–89.
63 Collins 1998, S. 73.
Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus 207
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