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Jahrbuch
für Soziologie-
geschichte 2020
Jahrbuch für Soziologiegeschichte 2020
Carsten Klingemann ·
Peter-Ulrich Merz-Benz
(Hrsg.)
Jahrbuch für
Soziologiegeschichte
2020
Hrsg.
Carsten Klingemann Peter-Ulrich Merz-Benz
Bad Essen, Deutschland CH-Brugg AG, Schweiz
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien
Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
Peter-Ulrich Merz-Benz
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird –
vom „Gesellschaftsganzen“ zur „gesellschaftlichen Totalität“
und zur „öffentlichen Meinung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Peter-Ulrich Merz-Benz
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“ als schöpferischer Akt.
Ein Blick auf die Kultursoziologie Alfred Webers und weiter
auf die aktuelle Theoriediskussion in der Soziologie . . . . . . . . . . . . 23
Peter Gostmann
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft
und das Problem der edlen Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Dirk Tänzler
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre.
Der Totalitätsbegriff als Mittel der Kritik
und die soziologische Kritik des Totalitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . 71
V
VI Inhalt
Carsten Klingemann
Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz, das Gesellschaftsganze
mit dem Instrument der Demoskopie zu erfassen –
unter besonderer Berücksichtigung ihrer Kooperation
mit Gerhard Schmidtchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Peter-Ulrich Merz-Benz
Einleitung: Rechtstheorie und Rechtssoziologie –
die Bestimmung des Rechts in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 105
Fritz Sander
Zum Problem der Soziologie des Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Peter Gostmann
Nach den Staaten.
Alexandre Kojève, das Problem des Universalrechts
und die University in Exile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Peter-Ulrich Merz-Benz
Einleitung: „Soziologische Milieus – soziologische Karrieren“
oder: „Äußeres und inneres Milieu der Wissenschaft“ –
ein Verhältnis, wie es nuancenreicher kaum sein könnte . . . . . . . . . . 199
Carsten Klingemann
Lars Clausens Blick auf die Karriere von Soziologen
im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . 263
Inhalt VII
Sebastian Klauke
Hans Buske – der letzte Verleger von Ferdinand Tönnies . . . . . . . . . . 283
Teil IV: Prof. em. D. Dr. Gerhard Schmidtchen – Interview und Vorlesung
Gerhard Schmidtchen
Dies und Jenes aus dem Leben des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Gerhard Schmidtchen
Überleitungstext vom Grunewald-Interview zu meiner Vorlesung (1989)
über die Persönlichkeitstheorie in der „Negativen Dialektik“ . . . . . . . . 327
Gerhard Schmidtchen
Das Menschenbild der Sozialpsychologie – Vorlesung
an der Universität Zürich im Wintersemester 1989/90: Programm . . . . . 329
Gerhard Schmidtchen
Das Menschenbild der Sozialpsychologie – Vorlesung
an der Universität Zürich im Wintersemester 1989/90:
Kapitel 2.3. Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos
„Negativer Dialektik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
gestellt –, dass beim Unterfangen, die Entwicklung und Hervorbildung der Ge-
schichte der Soziologie denkbar und begrifflich darstellbar zu machen, sich die
beiden Perspektiven überlagern. Und eben dies trifft zu auf die Beiträge des vor-
liegenden Jahrbuchs für Soziologiegeschichte.
Ob wie in Teil I „Das Gesellschaftsganze – und der ‚Geist‘, der es erfüllt“ das
ist, worum es geht; oder wie in Teil II unsere Aufmerksamkeit dem Verhältnis von
„Recht und Gesellschaft“ gilt; oder wie in Teil III „Soziologische Milieus – soziolo-
gische Karrieren“ unser Thema sind; oder wie in Teil IV der Gegenstand unseres
Interesses unter dem Titel „Prof. em. D. Dr. Gerhard Schmidtchen – Interview und
Vorlesung“ steht – stets ist es die Kombination der sozial- und der ideengeschicht-
lichen Perspektive, die gewährleistet, dass der Blick des Betrachters in die Viel-
gestaltigkeit seines Gegenstandes, in die Geschichte der Soziologie einzudringen
vermag, auf dass diese aufgearbeitet und durchschaubar gemacht werde.
Gedankt sei all denen, die uns bei der Erstellung des vorliegenden Jahrbuchs für
Soziologiegeschichte behilflich waren. Vor allem aber gilt unser Dank den Verfas-
sern der Beiträge, denn ohne sie gäbe es den Band nicht.
BRYAN, Ian, Dr., Studium der Rechtswissenschaft an der Warwick University. Se-
nior Lecturer an der School of Law der Lancaster University. Seine Arbeitsschwer-
punkte sind: Strafrecht und Strafjustiz, Beweisrecht, Rechtsgeschichte, Rechts-
philosophie und Menschenrechte. Wichtigste Publikationen: Interrogation and
Confession: A Study of Progress, Process and Practice (1997); The Foundation of the
Juridico-Political: Concept Formation in Kelsen and Weber. Abingdon/New York:
Routledge (Hrsg. mit Peter Langford und John McGarry, 2015); The Reconstruction
of the Juridico-Political: Affinity and Divergence in Kelsen and Weber. Abingdon/
New York: Routledge (Hrsg. mit Peter Langford und John McGarry, 2016); Kelse-
nian Legal Science and the Nature of Law. Heidelberg, New York: Springer (Hrsg.
mit Peter Langford und John McGarry, 2017); and Hans Kelsen and the Natural
Law Tradition. Leiden: Brill (Hrsg. mit Peter Langford und John McGarry, 2019).
Mail: i.bryan@lancaster.ac.uk
dien zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Springer VS (Hrsg. mit
Alexandra Ivanova 2019). Zuletzt erschienen: Die Idee des Lehrers. Mehr als Päd
agogik. Baden-Baden: Tectum (2020).
Mail: gostmann@soz.uni-frankfurt.de
Mail: ftg-kiel@t-online.de
KLINGEMANN, Carsten (1950), Apl. Prof., Dr. phil. habil., bis September 2015,
Universität Osnabrück. Studium der Soziologie, Publizistik und Erziehungswis-
senschaft. Seit dem Jahr 1995 leitet er als Co-Sprecher (zusammen mit Peter-
Ulrich Merz-Benz) die Arbeitsgemeinschaft „Sozial- und Ideengeschichte der
Soziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zudem ist er Mit- und ge-
schäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Soziologiegeschichte. Er ist Lei-
ter von durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bundesgesundheitsminis-
Autorenverzeichnis XV
Mail: Carsten.Klingemann@uos.de
Mail: langforp@edgehill.ac.uk
chen. Zwei Mal weilte er als professeur invité an der Écoles des hautes études en
sciences sociales in Paris. Seit dem Jahr 1995 leitet er als Co-Sprecher (zusammen
mit Carsten Klingemann) die „Arbeitsgemeinschaft ‚Sozial- und Ideengeschichte
der Soziologie‘“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zudem ist er Mit-Her
ausgeber des Jahrbuchs für Soziologiegeschichte. Seine Arbeitsschwerpunkte sind:
Soziologische Theorie und Theoriegeschichte, Ideengeschichte, Kultursoziologie,
Religionssoziologie, Musiksoziologie. Zurzeit gilt sein Hauptinteresse der Begrün-
dung einer humanistischen Soziologie sowie der Ausarbeitung eines Begriffs der
soziologischen Bildung. Des weiteren beschäftigt er sich mit einer Neubestim-
mung des Verhältnisses von Gemeinwohl, Gemeinsinn und Eigeninteresse. Wich-
tigste Publikationen: Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen
Grundlagen der verstehenden Soziologie. Würzburg: Königshausen & Neumann
(1990); Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der
Sozialwelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1995); ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ – zur
Revision zweier soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden: VS Verlag (Hrsg. mit Pe-
ter Gostmann 2007); Erkenntnis und Emanation. Ferdinand Tönnies’ Theorie sozio-
logischer Erkenntnis. Wiesbaden: Springer VS (2016); Humanismus und Soziolo-
gie. Wiesbaden: Springer VS (Hrsg. mit Peter Gostmann 2018).
Mail: merz-benz@soziologie.uzh.ch
RAAB, Jürgen (1964), Prof. Dr., Studium der Soziologie und Politikwissenschaft.
Von 2011 bis 2013 Professor für Allgemeine Soziologie mit Schwerpunkt Mikro-
soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, seit 2013 Professor
für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau; 2015 war er Gastprofessor für
Soziologie an der Universität Wien. Er ist Mitglied im Vorstand der Sektion Wis-
senssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), Beirat im So-
zialwissenschaftlichen Archiv der Universität Konstanz (SAK), Mitherausgeber
der Buchreiche Visuelle Soziologie und geschäftsführender Herausgeber der Zeit-
schrift für qualitative Forschung (ZQF). Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Wissens-
soziologie, Kultursoziologie, Visuelle und Politische Soziologie, Phänomenologie
und philosophische Anthropologie sowie interpretative Verfahren der qualitativen
Sozialforschung. Wichtigste Publikationen: Erving Goffman. From the Perspective
of the New Sociology of Knowledge. Abingdon/New York: Routledge (2019); Wis-
sensforschung – Forschungswissen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa (Hrsg. mit Rei-
ner Keller 2016); Grenzen der Bildinterpretation. Wiesbaden: Springer VS (Hrsg.
mit Hans-Georg Soeffner & Michael R. Müller 2014); Visuelle Wissenssoziologie.
Konstanz: UVK (2008); Phänomenologie und Soziologie. Wiesbaden: Springer VS
(Hrsg. mit Michaela Pfadenhauer et al. 2008); Thomas Luckmann: Wissen und Ge-
Autorenverzeichnis XVII
sellschaft (Hrsg. mit Hubert Knoblauch & Bernt Schnettler 2002); Soziologie des
Geruchs. Konstanz: UVK (2001).
Mail: raab@uni-landau.de
Prof. em. D. Dr. Gerhard SCHMIDTCHEN, dem Teil IV „Interview und Vorle
sung“ gewidmet ist, hat zur Einleitung unter dem Titel „Dies und Jenes aus dem
Leben des Autors“ eine Kurzbiographie verfasst.
gerhard.schmidtchen@bluewin.ch
Zu Fritz SANDER, vom dem in Teil II „Recht und Gesellschaft“ ein Aufsatz aus
dem Jahr 1926 wieder zum Abdruck kommt, sei auf die Angaben in den einschlä-
gigen Lexika verwiesen. Zudem ist seinem Aufsatz eine Zusammenstellung von
Sekundärliteratur angefügt.
TÄNZLER, Dirk (1955), Prof. Dr., Studium der Philosophie und Soziologie. Pro-
fessor für Soziologie an der Universität Konstanz, Vertretungsprofessuren an den
Universitäten Zürich, Bonn und Koblenz, Gastprofessuren in Luzern und Wien.
Er ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Archivs an der Universität Konstanz,
Koordinator der EU-Forschungsprojekte Crime and Culture und in Kooperation
mit Transparency International ALAC, Projektleiter diverser Projekte über endo-
genes Wirtschaftspotential einer ostdeutschen Region, die Rekonstruktion post-
sozialistischer Betriebe, die Medialisierung politischen Handelns und Armut.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind: soziologische Theorie, Sozialphilosophie, Ge-
schichte der Soziologie, Kultursoziologie, Wissenssoziologie, politische Soziolo-
gie, Transformationsforschung, Korruptionsforschung, Soziologie der Armut und
qualitative Sozialforschung. Wichtigste Publikationen: Das Inzestverbot. Unter-
suchungen zur Struktur sozialer Konstitution. Frankfurt a. M. 1990 (Microfiche),
mit Angelos Giannakopoulos, Kostas Maras (Hrsg.): The Social Construction of
Corruption in Europe. Farnham: Ashgate/Routledge 2012, (Hrsg.): Der Tschechi-
sche Weg. Transformation einer Industriegesellschaft (1918 – 1998). Frankfurt a. M.,
Campus 1999, mit Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Figurative Politik. Zur Perfor-
manz der Macht in modernen Gesellschaften. Opladen, Leske + Budrich 2002. mit
Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Neue Perspektiven der Wis-
senssoziologie. Konstanz, UVK-Verlagsgesellschaft 2006, mit Hubert Knoblauch
und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Konstanz,
XVIII Autorenverzeichnis
Mail: dirk.taenzler@uni-konstanz.de
Teil I:
Das Gesellschaftsganze –
und der „Geist“, der es erfüllt
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze
denkbar wird – vom „Gesellschaftsganzen“
zur „gesellschaftlichen Totalität“
und zur „öffentlichen Meinung“
Peter-Ulrich Merz-Benz
„Das Gesellschaftsganze – und der ‚Geist‘, der es erfüllt“ – so lautete der Titel der
ersten der beiden Veranstaltungen der „AG ‚Sozial- und Ideengeschichte der So-
ziologie‘“ auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2016 in
Bamberg. Die folgenden Beiträge gehen alle zurück auf Vorträge, die im Rahmen
dieser Veranstaltung gehalten wurden. Und wie nicht anders zu erwarten, wird in
jedem dieser Beiträge eine besondere Problemstellung behandelt, unter Verwen-
dung der entsprechenden Begriffe und Denkfiguren. Nichtsdestotrotz lässt die
Lektüre der Beiträge den Eindruck aufkommen, als gewinne in den einzelnen Be-
stimmungen, in den zu ihnen hinführenden Argumentationslinien etwas an Kon-
tur, und sei es auch nur in einzelnen Aspekten, das der Einbildungskraft zwar vor-
schwebt, sich ihr dann aber doch entzieht. Diese Einleitung ist der Versuch, sich in
die jeweiligen Ausführungen, in deren systematischen Kern, soweit hineinzuden-
ken, auf dass zumindest eine Ahnung davon erweckt werde, worum es in diesen
Beiträgen auch noch geht.1
1 Bei dieser Einleitung handelt sich daher erklärtermaßen nicht um eine Einleitung im be-
kannten Sinne. Aufgrund der theoretischen und ideengeschichtlichen Ausrichtung der Bei-
träge erscheint das gewählte Vorgehen indes als gerechtfertigt, geht es doch in erster Linie
darum, im sich Hineindenken in die Argumentation der einzelnen Beiträge die Auseinan-
dersetzung mit dem gestellten Thema auf den Weg zu bringen.
Die im Einleitungstext verwendeten Zitate werden nicht im einzelnen nachgewiesen. Sie
entstammen jedoch ausschließlich den vorgestellten Beiträgen. Und wo es sich um Zitate
handelt, die von den Autoren der Beiträge angeführt werden, wird gesondert darauf hin-
gewiesen.
„Was macht Alfred Weber zufolge die Gesellschaft zu einem Ganzen ?“ Dies ist
die Ausgangsfrage des Beitrags von Peter-Ulrich Merz-Benz „Die Erstehung des
‚Gesellschaftsganzen‘ als schöpferischer Akt – Ein Blick auf die Kultursoziologie
Alfred Webers und weiter auf die aktuelle Theoriediskussion in der Soziologie“.
Und wie sogleich deutlich wird: Diese Frage lässt sich nicht ‚mit Mitteln‘ der So-
ziologie Alfred Webers oder ‚in deren Kontext‘ beantworten, vielmehr wird mit
der Suche nach einer Antwort Webers Soziologie oder, was für ihn dasselbe ist,
Kultursoziologie selbst zum Thema, einschließlich ihrer geistesgeschichtlichen
Wurzeln. Alfred Weber vertritt nichts Geringeres als den Anspruch, mit seiner So-
ziologie den „Goetheschen Weg“ für die Geschichte zu beschreiten – was aus Sicht
der Gegenwartssoziologie fraglos ungewohnt wirkt. Doch nichtsdestotrotz: Den
‚Geist der Soziologie‘ atmet die Argumentation Alfred Webers unbedingt.
Was macht die Gesellschaft zu einem Ganzen ? Webers Antwort ist eine zwei-
fache: Zum einen ist es das Angelegtsein der Gesellschaft auf „strukturelle Abge-
schlossenheit“, auf den End-Zustand der Strukturiertheit selbst, oder – was das
Entscheidende ist – auf die vollkommene Formung bzw. Durch-Rationalisierung
des „gesellschaftlichen „Daseins“. Den sozialen Körpern, und zuhöchst der Ge-
sellschaft, obliegt nichts weniger als die Ermöglichung menschlichen Zusam-
menlebens, und dazu bedarf es der intellektuellen Durschaubarmachung der mit
ihnen und durch sie gegebenen Möglichkeiten, sowohl die äußere, sinnliche ge-
gebene Welt, auch als die Welt der Sinnorientierungen gleichsam aufzuschließen.
Rationalisierung erfolgt als praktische, die Verwirklichung von Zwecken und die
Aufrechterhaltung von Ordnungsverhältnissen betreffend, als theoretische, bezo-
gen auf die Gewährleistung von Rationalitätsstandards, und – was besonders her-
vorzuheben ist – als aprioristische, die Möglichkeitsbedingungen sowie die Evi-
denz des Welt- und Ichbildes umfassend. Ob der Geist selbst rein formaler Art ist,
jenseits jeglichen Vermitteltseins durch andere Modalitäten des Denkens oder gar
durch reale Sinngebilde, oder sich die durch ihn bewirkte Rationalisierung nur an
und mit sozialen Körpern, vollziehen kann, ist bei Alfred Weber nicht eindeutig.
Sicher aber ist: als zu Ende geführte, als Inbegriff dessen, was Rationalität der Ge-
sellschaft oder, besser, als Gesellschaft sein kann, besitzt Strukturelle Abgeschlos-
senheit mithin einen rein ideellen Charakter.
Was die Gesellschaft zu einem Ganzen macht, ist zum anderen das Gefühl
der Gemeinsamkeit, das „Lebensgefühl“, welches uns in den realen Verhältnis-
sen des Zusammenlebens und durch diese ganz selbstverständlich überkommt,
als etwas, das immer schon da ist. In einer moderneren Ausdrucksweise ist damit
nichts anderes gemeint als das Erstehen von Sozialität, durch alle realen Verhält-
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 5
nisse, durch alle Konkretionen hindurch. Im Konkreten drängt etwas zum Vor-
schein, das nichts Konkretes ist, das vielmehr jenseits des Konkreten liegt, etwas
Allgemeines, gar Universelles. Diese Art der Konstitution, besser, des Erstehens
von Wirklichkeit ist Alfred Weber zufolge Kultur. Das Erstehen von Sozialität ist
dementsprechend nichts anderes als „kulturelles Tun“, doch besteht dieses Tun
wiederum nicht in realen menschlichen Tätigkeiten. Unsere Kultur muss begrif-
fen werden als „seelisch-geistige Ausdrucksform“ der Bewegung der Kultur selbst.
Wie bei seinem Bruder Max ist Kultur auch bei Alfred Weber wesentlich be-
stimmt durch den Wertbegriff. Auch im „kulturellen Tun“ geht es um Wertverwirk-
lichung. Doch davon, dass [Kultur-]Wertideen, ‚übersetzt‘ in Handlungsmotive,
im Handeln realiter zur Anwesenheit gebracht werden und dies die Konstitution
der sozialen und kulturellen Wirklichkeit ausmacht – davon kann bei Alfred We-
ber keine Rede sein. Vielmehr wird nach seinem Verständnis durch „eine see-
lisch-geistige Interpretation des Daseins“ dem Vorhandenen, konkreten Dingen
und Vorgängen, „Wertakzent erteilt“, sprich: das Vorhandene wird dazu bestimmt,
„kulturellen Universalien“ die Möglichkeit zu eröffnen, in die Wirklichkeit zu
emanieren. Und eine kulturelle Universalie ist – wie etwa die Religion, die Phi-
losophie und auch die Kunst, mitsamt den dazugehörigen Ausdrucksarten – auch
die Sozialität. Kulturelles Tun ist daher – so Alfred Weber – ein „schöpferischer
Akt“, wird mit ihm doch bewirkt, dass sich in den Sinnzusammenhängen in und
zwischen den konkreten Dingen und Vorgängen ein Universelles zu entfalten ver-
mag, wie dies zuvor noch nie stattfand; keine Konkretheit ist wie die andere. Mit
der Betonung des Schöpferischen des kulturellen Tuns weist Alfred Weber auch
jeden Gedanken an eine Übersetzung kultureller Universalien in Handlungsziele,
allgemein in Handlungsmotive von sich; auch in diesem Punkt unterscheidet er
sich klar von seinem Bruder Max. Was uns als Kultur begegnet, ist etwas Kon-
kretes, in dem doch ‚mehr‘ präsent ist, als wir mit unserem Begriffsvermögen zu
erfassen, wir uns in unserem Gefühlsleben inne zu werden vermögen; es ist der
Ausdruck eines schöpferischen Akts, Ausdrucksform eines jenseitigen, des kul-
turell Universellen. Deshalb spricht Alfred Weber von den Konkretheiten als von
„Tatsachen immanenter Transzendenz“, von Tatsachen, in denen – im Goethe-
schen Sinne, eben dies ist hier gemeint – der Abglanz des Unendlichen zu erken-
nen ist. Dem entspricht auch sein Methoden-Verständnis. Die Methode der Kul-
tursoziologie „ist gewiß intuitionistisch und synthetisch. Sie ist aber gleichzeitig
bewusst analytisch.“ Der Kultursoziologie ist es aufgegeben, intellektuell durch-
schaubar zu machen, was intuitiv, als Erspürtes, bereits präsent ist, synthetisie-
rend, was an „seelisch-geistiger Formung“ bereits in den realen Verhältnissen des
Zusammenlebens steckt. Und dabei ist die Methode selbst zu begreifen als immer
auch durch Konkretionen vermittelt. Mit seinem Methoden-Begriff oder, worum
es sich eigentlich handelt, mit seiner Vorstellung soziologischer Erkenntnis, die
6 Peter-Ulrich Merz-Benz
dem Vorbild der Geschichts- und näherhin der Kulturphilosophie Johann Gott-
fried Herders. Und über allem steht der Verweis der Soziologie auf den Goethe-
schen Weg – den Goetheschen Weg für die Geschichte.
Die Ausgangsfrage des Beitrags von Peter Gostmann: „Karl Mannheim, der Geist
der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge“ entspricht der Ausgangsfrage
des Beitrags von Peter-Ulrich Merz-Benz. „Wie könnte“ – so der Wortlaut der
Frage von Peter Gostmann – „ein Soziologe in adäquater Weise, d. h. unter Maß-
gabe, eine Größe mit einem eigensinnigen sozialen Gehalt zu beschreiben, vom
Gesellschaftsganzen reden ?“ Der Kontext, innerhalb dessen eine Antwort „mög-
lich“ wird, ist dem Autor zufolge die „Verbindung“ des Gesellschaftsganzen mit
„dem Begriff eines ‚Geistes, der es erfüllt‘ “. Die „Einheit“ des Gesellschaftsganzen
soll gerade darin bestehen, „dass sie den materialen Einheiten, die das Gesell-
schaftsganze bilden, aufgrund deren Existenzweisen zuzurechnen ist oder zu ih-
nen beiträgt, ohne dass ihnen selbst dies ersichtlich sein müsste“; materiale Ein-
heiten: das sind geistige Gebilde, gestaltet und insofern materialisiert in Reden, in
Skripten oder allgemein in sozial vermittelten Denkformen und durch diese. Ei-
nen Vorschlag „für eine solche kategoriale Bestimmung des Begriffs des ‚Geistes‘“
findet sich – so der Autor weiter – in einem Vortrag von Karl Mannheim auf dem
Zürcher Soziologentag 1928, und dieser von Mannheim selbst nicht aufgenom-
mene Vorschlag soll im vorliegenden Beitrag einer Prüfung unterzogen werden,
die „Perspektiven einer Soziologie des Geistes“ auf diese Weise „auslotend“. Dabei
wird deutlich, dass der Weg ‚hinter‘ Mannheim zurückführt, das bei Mannheim
zu konstatierende Problem eines ungeklärtem Historismus weiter explizierend auf
der Sicht einer „Soziologie avant la lettre“.
Es ist der folgende Argumentationsgang, der Peter Gostmann zur zentralen
Denkfigur seines Beitrags führt: „Aufgabe“ der Soziologie ist nach Mannheim
eine „Außenbetrachtung“ geistiger Gebilde. Anders als Leser und Zuhörer, die in
ihrer Zuwendung zu Skripten oder Reden ebenfalls eine Außenbetrachtung vor-
nehmen, tritt der Soziologe jedoch aus der „ideologischen Sphäre“ heraus. Leser
und Zuhörer, auch wenn sie sich mit den in geistigen Gebilden prätendierten
„Ideen“ nicht identifizieren, stehen zu diesen doch noch immer in einem Verhält-
nis des „Zweifels oder der „Negation“ und sind insofern Partei. Sie sind – der Aus-
druck ist hier durchaus angemessen – dem „historischen Gesamtsubjekt“, wie es
auch und gerade die Gesellschaft darstellt, immanent. Der Autor hält fest: „Da-
her lässt die Güte der soziologischen Betrachtung eines Skripts bzw. einer Rede
8 Peter-Ulrich Merz-Benz
Mannheim die Soziologie des Geistes gerade deshalb besonders geeignet, da de-
ren Protagonisten „sozial weitgehend freischwebend“ agieren. Dem Autor zufolge
sollen diese Protagonisten als Exponenten eines „experimentell gesteigerten Ge-
lehrtenbürgertums“ vorgestellt werden. Doch dann stellt sich die Frage, ob die
von ihnen in Wort und Schrift vorgetragenen Gedanken „aus der Perspektive al-
ler Unzeitgemäßen in der Gesellschaft“, präziser noch, gemessen an dem, was den
Unzeitgemäßen zufolge als unzeitgemäß gelten soll, nicht zum vorneherein als
„charakterlos“ oder, ihre „Teilhabe“ an einem höheren Sinn des Gesamtsubjekts
betreffend, zumindest als zweifelhaft erscheint. Und betrifft dies – konsequent
weiter gefragt – auch und gerade die durch die Soziologie des Geistes hergestell-
ten Synthesen, mit denen dieser Sinn am Ende – bewusst oder unbewusst – ver-
kannt wird ? Handelt es sich dabei – hier wird der im Titel des Beitrags genannte
Begriff vom Autor systematisch eingeführt – um „Lügen“, mitunter auch um „edle
Lügen“, entstanden aus dem wahrhaften Bemühen um die Gesellschaft ? Die Ant-
wort lautet wie folgt: Was die Soziologie des Geistes, vertreten durch das „Ge-
lehrtenbürgertum“, als Synthese, als Sinnzusammenhang des Gesellschaftsganzen
formuliert, ist nur temporär relevant, relevant in einem bestimmten historischen
Zeitpunkt, und in diesem Sinne „zeitgemäß“. Erst aus der Distanz, im Rückblick,
kann es überhaupt als Lüge identifiziert werden – erst wenn offen liegt, was die So-
ziologie des Geistes zu einer Lüge macht bzw. gemacht hat. Dazu bedarf es jedoch
der Einsicht in das ‚Wirken‘ des Gelehrtenbürgertums im sozialen Raum, und mit-
hin kommt auch das Thema „Lüge in der öffentlichen Seinsauslegung“ langsam in
den Blick. Nicht nur wird an dieser Stelle die zentrale Denkfigur des Beitrags ein-
mal mehr erkennbar, deutlich wird auch – und das ist das Entscheidende –, dass
Mannheim das Problem einer „dynamischen Synthese“, des Auseinanderhervor-
gehens unterschiedlicher Fassungen des Sinnzusammenhangs des Gesellschafts-
ganzen als Vorgang in der Geschichte begreift, samt und sonders der „Soziologie
des Geistes „eingeschrieben“. Das ‚soziale Wirken‘ der Soziologie des Geistes selbst
ist damit jedoch nicht Gegenstand der Betrachtung.
Um hier weiter zu kommen gilt es vorzustoßen zu einer ‚Soziologie des Geis-
tes avant la lettre‘. Welchen Weg es einzuschlagen gilt – dafür liefert die Vorstel-
lung der Protagonisten der Soziologie des Geistes als Exponenten eines „experi-
mentell gesteigerten Gelehrtenbürgertums“ den erforderlichen Hinweis. Und als
Leitfaden für die weitere Erläuterung von Mannheims Soziologie des Geistes dient
schließlich – so der Autor – deren Vergleich mit der bei Platon zu findenden Vor-
stellung einer „Sozialstruktur der Lüge“; gemeint ist das Konglomerat all derjeni-
gen Gruppen, die je auf ihre Weise, als „Gründer“, „Erzieher“, „Dichter“, „Regie-
rende“, „Krieger“, „Bürger“ usw. an der sinnhaften Struktur des gesellschaftlichen
Gesamtsubjekts mitwirken. An die Stelle der Gründer-Erzieher-Dichter treten bei
Mannheim die „freischwebenden Intellektuellen“, und in deren Tun und Denken,
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 11
verstanden, expliziert im Sinne Platons, zeichnet sich – nach der vom Autor ver-
folgten Argumentation – die Kontur einer Mannheimschen ‚Soziologie des Geis-
tes avant la lettre‘ ab. Diese Kontur weiter zu schärfen, zu beschreiben, was durch
sie ‚eingefasst‘ wird, ist nichts anderes als – wie ursprünglich beabsichtigt – „aus-
zuloten“, welche „Perspektiven“ sich mit Mannheims Soziologie des Geistes eröff-
nen. Dies ist der Weg, der zur Erfüllung der vom Autor mit seinen Beitrag verfolg-
ten Intention führen soll. Dieser Weg ist indes auch ein Weg in den Bereich der
„praktischen politischen Philosophie“.
Gegenstand des Beitrags von Dirk Tänzler „Das Ganze ist das Wahre/Unwahre.
Der Totalitätsbegriff als Mittel der Kritik und die soziologische Kritik des Tota-
litätsbegriffs“ ist das „Totalitäts- und Schließungsproblem“ bei Georg Friedrich
Hegel, Karl Marx und Niklas Luhmann. Dieses Problem wird behandelt vor dem
„Hintergrund“ der „zwei klassischen Grundmodelle von Staat und Gesellschaft“;
gemeint sind „die platonische Einheit und die aristotelische Vielheit“. Zudem bie-
tet der Beitrag von Dirk Tänzler mehrere Anhaltspunkte, die geeignet sind, die
von Karl Mannheim entwickelte „Hegelsche Lösung“ der „gesellschaftlichen Ge-
samttotalität“ weiter zu denken, zu erläutern, unter Umständen gar vorzustoßen
in bisher nicht erschlossene Problemschichten.
Den Auftakt bildet die Explikation von Hegels Begriff der „geschlossenen To-
talität“. Dieser Begriff steht für den Abschluss des Prozesses, in dem der sich selbst
bestimmende Geist zu sich kommt. Es ist dies ein eigentlicher Bildungsprozess –
ein Prozess, im Zuge dessen das Wahre als das Ganze, das selbst noch nicht ist,
aus dem, was einzig „wirklich“ ist, den Teilen bzw. „Individualitäten“, den ein
ander entgegenstehenden Meinungen, durch Negation, durch Kritik herausgear-
beitet wird. Kritik: damit ist nichts anderes gemeint als die Reflexion der einan-
der entgegenstehenden Teile im Hinblick auf ihre mögliche Vermittlung in einer
höherstufigen Einheit. Am Ende dieses Prozesses steht die „geschlossene Totali-
tät“. Mehr vermag der sich in Natur und Geschichte, auch und gerade in den sich
in „Ideen“, geistigen Gebilden und durch sie hindurch entäußernde Geist nicht zu
schaffen. Die Denkfigur, mittels derer Peter Gostmann Mannheims „Soziologie
des Geistes“ auszuloten sucht, ist hier klar erkennbar.
Ganz anders versteht Karl Marx den Bildungsprozess des Geistes, indem er
ihn – so der Autor – „entziffert als Abbild der die bürgerliche Gesellschaft to-
talisierenden ökonomischen Vernunft“. Und weiter: „Deren selbstzerstörerisches
12 Peter-Ulrich Merz-Benz
Potential (Aufhebung der Voraussetzungen, auf denen sie beruht, die sie aber
selbst nicht hervorbringen kann) betrachtet Marx als Bedingung der Möglichkeit
der Freiheit und einer neuen ganzheitlichen Lebenspraxis in einer offenen, herr-
schaftslosen Gesellschaft […]“. Damit bringt er „Aristoteles’ Idee der Vielheit und
damit das Prinzip der Alterität gegen den totalitären Identitäts- und Schließungs-
zwang des Kapitalismus […] erneut zur Geltung“. Nach dem vom Autor verfolgten
Argumentationsgang ist für Marx die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft „kei-
ne wahrnehmbare Gegebenheit“, sondern das „Resultat“ ihrer „Rekonstruktion
durch die theoretische Vernunft“. Diese ist jedoch selbst ein Produkt der Entfrem-
dung, Ausdruck der die bürgerliche Gesellschaft bestimmenden „falschen Gleich-
heit“. Und der Grund hierfür liegt in der „Realabstraktion des geldvermittelten
Warentausches“. Es gibt nichts, das nicht am Maßstab des Geldes, der „absoluten
Ware“, gegeneinander abgewogen werden könnte, und mithin sind der „Repro-
duktionsgesetzlichkeit des Kapitalismus“ und der ihr innewohnenden Tendenz,
alle Lebensbereiche zu durchdringen – in einer Weise, die für den praktischen
Menschen undurchschaubar ist –, keine Grenzen gesetzt. M. e. W.: Totalität ist
nichts weiter als ein „Zwangszusammenhang“, sprich: Produkt der die bürgerliche
Gesellschaft „totalisierenden ökonomischen Vernunft“. Und die „Theorie“ der Ge-
sellschaft kann nichts anderes sein als ein „Abbild“ ihres Gegenstands: der sinn-
lichen Wirklichkeit, zugerichtet durch die Logik des Kapitals. Es ist dies auch im
moralischen Sinne eine schlechte Totalität, entsprechend dem vom Autor zitier-
ten Wort von Theodor W. Adorno: „Das Ganze ist das Unwahre“. Weitergehende
Einsichten vermag hier fraglos der Blick auf die Marx-Kritik von Karl Mannheim
zu vermitteln – Stichwort „gesellschaftliche Seinstotalität“ als Gegenstand sozio-
logischer Betrachtung. Wird – wie Mannheim dies Marx bekanntlich zuschreibt –
durch die „Setzung einer Seinshierarchie“, der gemäß die ökonomischen Produk-
tionsbedingungen in ihrem ‚Realitätsgrad‘ und dementsprechend in der mit ihnen
gegebenen „Erkenntnisart“ ganz oben stehen, durch sie mehr an Realität vermit-
telt wird als durch juristische oder politische Skripte bzw. Reden – wird dadurch
die Güte der soziologischen Betrachtung wesentlich beeinträchtigt oder wird da-
durch – richtig verstanden: mit Marx Hegel auf den Kopf stellend – eine Theorie
und mithin eine Wissenschaft der Gesellschaft überhaupt erst möglich ?
Die Auseinandersetzung mit Marx’ Begriff der Totalität wird abgerundet durch
die Explikation der Totalität als Gegenstand einer negativen Metaphysik – einer
negativen Metaphysik nach dem Verständnis der Kritischen Theorie. In diesem
Zusammenhang taucht insbesondere die Frage auf, ob der Totalitätsbegriffs auf-
gegeben – dies ist die Konsequenz, die Jürgen Habermas zieht – oder – wie Jean-
Paul Sartre und Pierre Bourdieu dies vorsehen – beibehalten werden soll. Nach
Auffassung der Kritischen Theorie ist unter Totalität der Strukturzusammenhang
der Gesellschaft zu verstehen, wie er – im Marxschen Sinne – der Erfahrung nicht
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 13
gegeben ist, sondern aus dem Individuellen erst theoretisch erschlossen werden
muss. Totalität ist indes nicht bloß eine wissenschaftliche Konstruktion, sondern
die Möglichkeitsbedingung, auf die hin das Individuelle, die Gesamtheit der man-
nigfaltigen Wirklichkeiten erst als Strukturzusammenhang der Gesellschaft ge-
dacht, als solcher theoretisch rekonstruiert zu werden vermag. Damit aber ist die
Totalität in letzter Konsequenz doch nur Ausdruck der verzerrten Vernunft in der
gesellschaftlichen Praxis. Die Voraussetzungen dieser Vernunft gilt es freizule-
gen, etwa die in der ökonomischen Lehre verborgenen Voraussetzungen der Öko-
nomie, und mithin erweist sich – so der Autor – Kritik als Prozess fortwährender
Auflösung des „dogmatischen, sich seiner Denkvoraussetzungen nicht bewußten
Denkens“. Kritische Theorie gerät zur „negativen Metaphysik“. Und Totalität er-
hält keine positive Bestimmung mehr, sie ist lediglich ‚noch‘ eine Kategorie der
Erkenntniskritik im Sinne Kants, gestaltet nach den Vorgaben der Marxschen Ar-
beitswertlehre, und sollte daher aufgegeben werden. Eine Analogie zur kritischen
Intention von Mannheim besteht hier insofern, als die „gesellschaftliche Seins-
totalität“, auf die hin „frühere geistige Gestalten“, uns zu einem früheren Zeit-
punkt selbstverständlich umschließende Ideen, zu einem Sinnzusammenhang
gefügt werden können, nicht mehr ist als ein ‚Ausgangszustand‘ „historischen
Denkens“ und keine abschließende, positive Bestimmung erfährt.
Jean-Paul Sartre zufolge kann Totalität indes durchaus noch „studiert“ wer-
den: als „Totalitätsanschein“, Spur vergangener Akte, verantwortlich für die Schaf-
fung des „Praktisch-Inerten“, dessen, was jenseits unserer Handlungen und durch
diese hindurch „existiert“ als Vorstellung(en) von Einheit. Für Pierre Bourdieu
gilt: „Praxis“ kann nicht als defizienter Modus angewandter Logik aufgefasst wer-
den. Vielmehr hat – so, vom Autor zitiert, Bourdieu selbst – „nur der eine gewis-
se Chance […], die Praxis […] wissenschaftlich zu erklären, der die Effekte kennt,
die die wissenschaftliche Praxis schon durch Totalisierung erzeugt […]“. Gemeint
ist die „Fähigkeit, sich und anderen die synoptische Sicht der Totalität und Ein-
heit der Beziehungen“ etwa durch den Vergleich des Ungleichzeitigen überhaupt
erst zu gestatten. Entsprechend Bourdieus epistemologischem Relationismus ist
dies gleichsam die Möglichkeitsbedingung zur „Entzifferung“ der Praxis in ih-
rer Realität.
Es folgt der letzte Abschnitt des Beitrags von Dirk Tänzler: Totalität als Topos
der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Die Qualifikation der Totalität als Topos
ist durchaus angezeigt. Denn wie aus den Ausführungen von Dirk Tänzler unmit-
telbar hervorgeht, ist Totalität bei Luhmann mehr ein ‚Ort‘, an dem Denkfiguren
ineinanderlaufen, sich Motive für weitere Klärungen bilden, mithin Quelle neuer
Argumente, als eine klar bestimmte Begriffskategorie.
Maßgebend für die Bestimmung der Totalität ist – der Argumentation des Au-
tors zufolge – der für Luhmanns Systemtheorie prägende Antihumanismus oder
14 Peter-Ulrich Merz-Benz
negative Humanismus. Der Mensch gehört zur Umwelt der Gesellschaft, er kann
nicht als System betrachtet und mithin auch nicht totalisiert werden, denn To-
talität ist eine Sache des Systems. Dies wiederum sichert dem Menschen seine
Autonomie. Systeme – dies ist der Grundgedanke, auf den der Autor abstellt –
werden Luhmann zufolge konstituiert durch „Systemdifferenzierung“, ihre Aus-
grenzung aus der sie umgebenden Umwelt, und folgerichtig sind Aussagen über
Systeme immer auch – so vermittelt sie auch sein mögen – Aussagen darüber, was
der Mensch nicht ist, nicht sein kann. Das ist gemeint mit der Rede von dem die
Luhmannsche Systemtheorie prägenden negativen Humanismus. „Systemdiffe-
renzierung“ als, und dies durchaus im Kantischen Sinne, einzige noch verfügbare
Möglichkeitsdingung zur begrifflichen Fassbarmachung des Menschlichen ? – die
Frage ist berechtigt.
Der Weg zur Bestimmung von Totalität oder, worum es eigentlich geht, zur
Bestimmung dessen, was Totalität bei Luhmann noch sein kann, führt über das
Verständnis der Geschlossenheit von Systemen. Der Ausgangspunkt ist bekannt:
Systeme sind „autopoietische Systeme“, Systeme, die sich – analog der Selbst-
erneuerung des Lebens – fortwährend selbst hervorbringen, sprich: sich selbst er-
halten als Bereiche reduzierter Komplexität. Dies geschieht in operativ geschlosse-
nen Zirkeln, bestehend in Kommunikationsprozessen, in denen, und durch diese,
die jeweilige für die Identität des betreffenden Systems bestimmende spezifische
Systemdifferenzierung gleichsam von Moment zu Moment weiter vermittelt wird.
Worauf der Autor sein besonderes Augenmerk richtet, ist „der Irritationscharak-
ter der Beziehung der Systeme aufeinander“. Systeme sind keineswegs voneinan-
der abgeschottet, doch die Bezugnahme auf andere Systeme als Umwelt erfolgt
ausschließlich selektiv, das, was von anderen Systemen gewusst werden kann, ver-
arbeitend nach den eigenen internen Semantikregeln. Auf diese Weise wird die Ir-
ritation, wie sie den ‚Blick der Systeme‘ nach außen prägt, nach und nach abge-
baut. Für die Soziologie, auch als gesellschaftliche Selbstbeschreibung ein System
unter anderen, bringt dies einschneidende Konsequenzen. Die Soziologie kann
nichts anderes tun, als sich mit ihren Mitteln auf die Selbstbeschreibungen ande-
rer Systeme einzulassen, doch ohne Aussicht, die Gesellschaft selbst als Totalität
erfassen zu können. Was ihr bleibt, ist die Konstatierung von „Partialtotalitäten“ –
Partialtotalitäten, wie sie die Funktionssysteme der Gesellschaft darstellen. Ganz
ist es mit der Totalität aber dennoch nicht vorbei. Denn – so hält der Autor nicht
ohne eine gewisse Ironie fest – „Totgesagte leben länger“. Was die Gesellschaft zu-
sammenhält oder, besser noch, konstituiert, ist die Vielheit der Funktionssysteme,
und es ist dies daher eine „Gesellschaft ohne Zentrum“. Aber ist die System-Um-
welt-Differenz, verstanden im Kantischen Sinne als Möglichkeitsbedingung der
(Selbst-)Beschreibung von Systemen, nicht unhintergehbar, um durch ihr Bezo-
gensein, besser, ihr Bezogenwerden auf den letzten Referenten aller Kommunika-
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 15
Die Totalität, und mit ihr das Gesellschaftsganze, ist auch Thema des Beitrags von
Carsten Klingemann „Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz, das Gesellschaftsgan-
ze mit dem Instrument der Demoskopie zu erfassen – unter besonderer Berück-
sichtigung ihrer Kooperation mit Gerhard Schmidtchen“. Was das Verhältnis von
Totalität und Gesellschaftsganzem angeht, sind die Akzente jedoch ganz anders
gesetzt als in den bisherigen Beiträgen, wenngleich das Verhältnis selbst wesent-
liche Übereinstimmungen erkennen lässt. Der Begriff, mittels dessen dieses Ver-
hältnis erschlossen werden kann – man kann ruhig von einem Schlüsselbegriff
sprechen –, ist der Begriff der „Öffentlichen Meinung“. Noelle-Neumanns Be-
griff der „Öffentlichen Meinung“ – wie auch Norbert Elias’ Begriff der „Verflech-
tungsordnung“ – benennt – so der Autor – „einen Mechanismus, der gesellschaft-
liche Integration ermöglicht“, sprich: die Entstehung eines Gesellschaftsganzen.
Gesellschaftliche Integration geschieht durch Hervorbildung eines immer dich-
ter werdenden Vermittlungszusammenhangs der Individuen, wobei die Vermitt-
lung selbst in der im Einzelnen stattfindenden Verfestigung des Verhältnisses von
bewusster Selbstkontrolle und Internalisierung einer gleichsam „automatisch ar-
beitenden Selbstkontrollapparatur“ besteht. „Die Frage ist“ – so der Autor wei-
ter –, „wie kann man diesen gesellschaftlichen Integrationsprozess empirisch un-
tersuchen, ohne auf die Redeweise einer opaken Totalität auszuweichen ?“ Die
Antwort heißt „Demoskopie“. Noelle-Neumann hält fest – wie vom Autor zitiert:
„Für die Massengesellschaft ist die Demoskopie ein unentbehrliches Hilfsmittel ge-
worden, weil man sich über die so groß und abstrakt gewordene Gesellschaft, die
der unmittelbaren Beobachtung entrückt ist, anders nicht zuverlässig informie-
ren kann“.
Doch was genau ist der Gegenstand der Demoskopie ? Gleich zu Beginn sei-
nes Beitrags verweist der Autor auf Elisabeth Noelle-Neumanns Rekurs auf Émile
Durkheim, näherhin auf dessen Begriff der faits sociaux. Demnach geht es der
empirischen Sozialforschung um die Beschreibung „abstrakter Gruppen“; die
„Sätze der empirischen Sozialforschung […]“ – so Noelle-Neumann – „machen
16 Peter-Ulrich Merz-Benz
Aussagen über alle Mitglieder einer durch Merkmale definierten Gruppe“. Das
Individuum figuriert lediglich als Merkmalsträger und ist als solches nicht von
Interesse; Gegenstand der Forschung ist einzig der „Merkmalsbereich“. – Der
Begriff der faits sociaux hat in diesem Zusammenhang allerdings etwas Verfäng-
liches. Denn mit ihm wird gleichsam verfügt, dass das Interesse einer Tatsache
gilt, die nicht an der Oberfläche der sinnlich erfahrbaren Dinge und Vorgänge
liegt; von dieser Tatsache sind allein die/ihre ‚äußeren‘ Merkmale feststellbar, sie
selbst wird aus den Merkmalen nicht ersichtlich. Um ein Beispiel Durkheims zu
bemühen: „Soziale Strömungen“, anhaltende, bloß als Stimmungen gegebene Vor-
stellungen ‚richtigen Denkens und Handelns‘, sind realiter mitunter äußerst wirk-
sam, aus dem konkreten Geschehen bis ins Detail zu ersehen, für sich selbst je-
doch – auch und gerade als Realitäten – in unserer Erfahrung nicht präsent. Für
die empirische Sozialforschung bleibt daher zu beantworten, wie im „Merkmals-
bereich“ sich ausprägende „abstrakte Gruppen“, abstrakte Tatsachen im allgemei-
nen, fassbar gemacht werden können, ohne gleichsam einen Griff in die „opake
Totalität“ tun zu müssen.
Von entscheidender Bedeutung ist für Elisabeth Noelle-Neumann und vor al-
lem für Gerhard Schmidtchen indes das Verhältnis von Demoskopie und Macht.
Und dieses steht denn auch im Zentrum des Beitrags von Carsten Klingemann.
„Denken im Mehrzahlbereich ermöglicht Machtausübung“ und ruft daher ver-
ständlicherweise Widerwillen hervor, doch ohne die durch Umfrageforschung zu
Verfügung gestellten Daten ist „keine Verwaltung“, sind keine politischen Maß-
nahmen möglich – so Noelle-Neumann. Gerhard Schmidtchen macht darauf-
hin die gesellschaftspolitische Rolle der Demoskopie selbst zum Thema, indem
er nach eigener Aussage – vom Autor zitiert – aufzuzeigen sucht, „wie man mit
Hilfe demoskopischer Kenntnisse Macht gewinnt, und sodann, wie man mit Hilfe
empirischer Methoden Macht anwendet“. Es gelte mithin – so der Autor ergän-
zend – den Ort im politischen Prozess zu bezeichnen, an dem sich die Wirkungen
der Umfrageforschung beobachten ließen. Folgerichtig stellt sich auch die Frage,
welche Haltung die Soziologie zur Demoskopie einnimmt – eine Frage, die wie-
derum zum Problem des Verhältnisses von Öffentlicher Meinung und Herrschaft
und schließlich zur Bestimmung der Öffentlichen Meinung selbst führt. Worum
es im einzelnen geht ist Jürgen Habermas’ Kritik an Gerhard Schmidtchen so-
wie den immer stärker werdenden Zweifel darüber, ob die Öffentliche Meinung
als „Phänomen des objektiven Geistes“ nicht doch außerhalb der Reichweite der
Demoskopie liegt und demzufolge als Forschungs-Gegenstand überhaupt beibe-
halten werden soll.
Wovon hängt die „Kontinuität einer politischen Entwicklung, der Charak-
ter der politischen gesellschaftlichen Evolution […]“ ab ? Dies ist gewissermaßen
Schmidtchens Ausgangsfrage. Seine Antwort lautet – wie von Klingemann zi-
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 17
tiert –: die „Kontinuität einer politischen Entwicklung […] hängt eben davon ab,
wieweit es langfristig gelingt, die Dispositionen einer Bevölkerung mit politischer
Doktrin und Struktur, mit der Art und den Ergebnissen des fortlaufenden Ent-
scheidungsprozesses in Einklang zu bringen“. Und die „Dispositionen einer Be-
völkerung“ fassbar zu machen, als Öffentliche Meinung im Sinne einer Objekti-
vierung öffentlichen Meinens – dies obliegt der Demoskopie. Wie Klingemann
daraufhin herausstellt, handelt es sich für Habermas bei der Tätigkeit der Demo
skopie indes von vornherein um die Ausübung von Herrschaft. Was Schmidtchen
allgemein als Bedingung für die „Kontinuität einer politischen Entwicklung“ an-
sieht, unbesehen der bestehenden Machtverhältnisse, ist für Habermas immer
schon die Intention der politisch Herrschenden, sprich: die „Öffentliche Meinung
wird von vornherein im Hinblick auf [diese] Manipulation definiert“. Dennoch
hält Habermas am Begriff der Öffentlichen Meinung fest, und dies explizit im
„komparativen Sinne“: Meinungen sollen nach dem Grad ihrer Öffentlichkeit em-
pirisch gemessen werden können, denn eine solche Feststellung sei – Zitat Haber-
mas – „das zuverlässigste Mittel, um zu gesicherten und vergleichbaren Aussagen
über den demokratischen Integrationswert eines tatsächlichen Verfassungszustan
des zu gelangen“. In verschiedenen Kommunikationsbereichen, welche ihrerseits
verbunden sind durch die Massenmedien, werden Meinungen formuliert, und
es ist das Ergebnis kritischer Publizität, eine „im strengen Sinne öffentliche Mei-
nung“ herzustellen. „Nur“ – so die Bilanz, die Klingemann zieht – „verrät uns
Habermas nicht, wie denn die Vermittlung“ all der verschiedenen nicht-öffent-
lichen, quasi-öffentlichen sowie ver-öffentlichten Meiungen durch eine wiederum
in den Massenmedien entfachte kritische Publizität „von statten gehen soll“. Steht
hier – dies sei immerhin angemerkt – nicht auch eine früher bereits gestellte Frage
im Raum, die Frage nach der Möglichkeitsbedingung, auf die hin das Individuelle,
dargestellt durch die einzelnen Meinungen, erst als Kommunikationszusammen-
hang des räsonierenden Publikums gedacht werden kann ?
Der Versuch, eine oder gar die Öffentliche Meinung empirisch fassbar zu ma-
chen, lässt – wie im Folgenden gezeigt wird – auch eine gewisse „Hilflosigkeit der
Soziologie“ erkennen. „Gut ist populär“: nach dieser Maxime Gerhard Schmidt-
chens haben die Massenmedien die Aufgabe der Integration des Publikums auf
durchaus hohem Niveau, und der Präsentation der Politik obliegt es, die Bevölke-
rung langfristig zu integrieren. Nur – so die entscheidende Frage –: „Wie soll die
langfristige Wirkung ‚unterhaltender Publizistik‘ erfasst werden ?“ Indem – wie
dies Klingemann zufolge gerade die Absicht von Noelle-Neumann war – das Ge-
sellschaftsganze ins Auge gefasst wird. Die „Massenmedien“ – Zitat Noelle-Neu-
mann – „haben es mit einer ‚Öffentlichen Meinung‘ zu tun, die auf das Vielfäl-
tigste mit der gesamten sozialen und politischen Struktur eines Gemeinwesens
verwoben ist“. Dieser Ansatz – so die Einschätzung Klingemanns – ist soziologi
18 Peter-Ulrich Merz-Benz
scher als vieles, das Mitte der 1960er Jahre in der Soziologie über die Öffentliche
Meinung gesagt wurde. Zu Letzterem gehört insbesondere die – zu finden im
Handbuch der Sozialwissenschaften – eigenartige Dichotomie „des ‚Meinens der
Vielen‘ (Hegel)“ bzw. der „‚öffentlichen Meinung‘ als einer transpersonalen Sinn-
einheit“ und der „wahren politischen Erfordernisse“. Und was bleibt, ist der – in
der Tat – fragwürdige Befund, wonach die Meinungsforschung zwar in der Lage
sein soll, Materialien zur Überprüfung und Kritik theoretischer Sätze, mitunter
auch dogmatischer Thesen und ideologischer Positionen zu liefern, die Öffent-
liche Meinung als „Phänomen des objektiven Geistes“ aber nicht zu erfassen ver-
mag. Helmut Schelsky schließlich bestreitet gar das Bestehen eines homogenen,
meinungstragenden Publikums, sind doch mittlerweile fast alle Menschengrup-
pen Gegenstand publizistischer Interessen – unter welchen Gesichtspunkten auch
immer –, weshalb Meinungsforschung mit ihren „Methoden“ nurmehr – Zitat
Schelsky – die „Auswirkung[en] aller Arten von Publizität erforscht, eben […]
‚Meinungen‘“. So kommt die Öffentliche Meinung der Soziologie buchstäblich ab-
handen. Für Carsten Klingemann ist dies jedoch nicht das letzte Wort: „Denn
die ‚Publizität‘ jeder der ungezählten Sozialorganisationen“, die als Meinungsträ-
ger auftreten, „ist ja kein nur innerorganisatorisches Phänomen, sondern wird öf-
fentlich sichtbar – und bildet aggregiert ein hochkomplexes Phänomen eigener
Art […]“. Und fraglos lässt dieses Phänomen wiederum den Gedanken an eine auf
das Gesellschaftsganze bezogene Öffentliche Meinung aufkommen.
Dass die Öffentliche Meinung sich als etwas Objektives der empirischen For-
schung entzieht, gilt auch für den Forschungsansatz der „Gruppendiskussion“, ei-
nem neuen Verfahren der Umfrageforschung, entwickelt in den 1950er Jahren am
Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Bis zu seinem Wechsel an die
Universität Zürich war Gerhard Schmidtchen an der Ausarbeitung dieser neuen
„Methode“ wesentlich beteiligt. Wiederum geht es um die mit Habermas’ Kritik
an Schmidtchen aufgekommene Frage, ob und inwieweit die Öffentliche Meinung
von vornherein im Hinblick auf ihre Manipulation durch die politisch Herrschen-
den definiert wird. Individuelle Meinung – so lässt sich mit Carsten Klingemann
der Grundgedanke dieses neuen Verfahrens formulieren – stellt lediglich etwas
Abgeleitetes, Gemachtes dar; durch Stereotype erhalten die Individuen als Mei-
nende überhaupt erst ihre Sprache. In Wahrheit herrscht „Meinungszwang“, ver-
standen – gemäß einem vom Autor angeführten Zitat – als „Vorherrschaft des wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Produktionsapparates über den Konsum: auch
über den vorgeblich geistigen“. M. e. W. – wiederum ein Zitat –: „Dem einzelnen
gegenüber ist die öffentliche Meinung ein Objektives als Ausdruck der gesellschaft-
lichen Totalität.“ Nichtsdestotrotz soll es auch in einer atomisierten Gesellschaft,
in der Mannigfaltigkeit der subjektiven Meinungen „etwas wie öffentliche Mei-
nung“ geben, „handfeste Daten“, für deren Erfassung Umfragemethoden durch-
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 19
aus geeignet sind. Und wiederum sind wir bei der vom Autor gestellten Frage:
„Wie kann man diesen gesellschaftlichen Integrationsprozess“, wie er bestimmt ist
durch die fortwährende Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge, oder
auch – umgekehrt – durch die Befreiung von Fremdzwängen, „gleichsam empi-
risch untersuchen, ohne auf die Redeweise einer opaken Totalität auszuweichen ?“
Könnte hierbei der Begriff der faits sociaux, weitergedacht, nicht womöglich als
Leitfaden fungieren ?
„Das Gesellschaftsganze – und der ‚Geist‘, der es erfüllt“. So lautet der Titel des
ersten Teils des vorliegenden Jahrbuchs für Soziologiegeschichte. Der Titel könn-
te indes auch anders lauten. Denn der „Geist“, von dem in den vier Beiträgen die
Rede ist, ist auch der „Geist“, der das Gesellschaftsganze erst zu einem Ganzen
macht.
Es ist dies zum ersten der „Geist“, der in die Gesellschaft emaniert, in „kulturel-
lem Tun“ und durch „kulturelles Tun“ das Gesellschaftsganze in einem „schöpferi-
schen Akt“ erst erstehen lässt. Seine Präsenz gewinnt der Geist im „Lebensgefühl“,
welches uns in den realen Verhältnissen, indem wir durch sie eingenommen wer-
den, ganz selbstverständlich überkommt, als etwas, das immer schon da ist. In
diesem Sinne handelt es sich bei den Konkretheiten um „Tatsachen immanenter
Transzendenz“. Aufgabe der „Methode“ ist es, die Emanation – auch die Bezeich-
nung Emanationsbewegung wäre durchaus angebracht – im Erkennen gleichsam
einzuholen, intellektuell durchschaubar zu machen, was in der Realität bloß in-
tuitiv präsent ist, synthetisierend, was an „geistig-seelischer Formung“ bereits in
den realen Verhältnissen des Zusammenlebens steckt. Doch das rationale Denken
wirkt nur im Wirklichen. Was in die Realität kommt, dort erkannt wird, kommt
aus dem Transzendenten, als dessen Konkretisierung. Das ist die Position Alfred
Webers.
Der „Geist“, der das Gesellschaftsganze erst zu einem Ganzen macht, ist zum
zweiten der „Geist“, der immer schon in der Gesellschaft tätig ist, sich ausdrü-
ckend in Reden, Skripten, allgemein in sozial vermittelten Denkformen, und dort
in seinem Wirken kritisch aufgewiesen wird. Dies geschieht durch „historisches
Denken“, und das heißt: Von demjenigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekt aus, in
welchem der Betrachter drinsteht, in Distanz zu einem je früheren gesellschaftli-
chen Gesamtsubjekt tretend, wird dieses in seinem Sinnzusammenhang erst er-
fasst und als „gesellschaftliche Seinstotalität“ freigelegt. Die Leistung des Geistes
ist dabei prinzipiell analytischer Art: Rede, Skripten, soziale Denkformen werden
20 Peter-Ulrich Merz-Benz
für sich genommen gleich Elemente eines Begriffs, aus denen die gesellschaftliche
Seinstotalität als Sinnzusammenhang konstruiert wird. Der Weg ins Transzen
dente ist ein Weg in die Geschichte, begangen im kritischen Denken und durch
dieses, doch es ist dies immer auch ein Weg, erstehend in auseinander hervor-
gehenden – man könnte auch sagen: auseinander emanierenden – geschichtlichen
Zuständen. Das ist die Position von Karl Mannheim.
Der „Geist“, der das Gesellschaftsganze erst zu einem Ganzen macht, ist zum
dritten ein Produkt der die bürgerliche Gesellschaft „totalisierenden ökonomi-
schen Vernunft“. Zwar erscheint die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Totalität
zunächst, für sich genommen, als „Resultat“ ihrer „Rekonstruktion durch die
theoretische Vernunft“, bestehend jenseits aller „wahrnehmbaren Gegebenheiten“.
Doch die theoretische Vernunft ist selbst ein Produkt der Entfremdung; sie ist in
Wahrheit eine Auftretensform der in sämtliche Wirklichkeitssphären emanieren-
den „Reproduktionsgesetzlichkeit des Kapitalismus“. Das ist die Position von Karl
Marx. Mit der Kritischen Theorie, mit dem Aufweisen all der „Denkvorausset-
zungen“, deren sich das Denken selbst nicht bewusst ist, gerät die Totalität zwar
zu einer Kategorie der Erkenntniskritik im Sinne Kants. Und doch ist die Kritik
ist immer auch eine Selbstreflexion der sich vollziehenden Emanation der Logik
des Kapitals in alle Lebensbereiche. Bei Niklas Luhmann schließlich ist das Ge-
sellschaftsganze nichts anderes als die nicht genannte apriorische Voraussetzung,
auf die hin Kommunikationsprozesse, fortgesetzte Systemdifferenzierungen über-
haupt erst zu einem Ganzen geformt werden können, wobei – Stichwort „Auto
poiesis“ – Systembildung immer auch eine Selbsterneuerung des Lebens, eine
Emanation des Lebens aus sich selbst ist.
Der „Geist“, der das Gesellschaftsganze erst zu einem Ganzen macht, ist zum
vierten die „Öffentliche Meinung“. Öffentliche Meinung besitzt eine zweifache
Bedeutung. Zum einen handelt es sich bei ihr fraglos um eine Realität, um ei-
nen Bereich sinnlich erfahrbarer Tatsachen – Stichwort „Merkmalsbereich“ –,
zum anderen um „einen Mechanismus, der gesellschaftliche Integration ermög-
licht“, mithin ihr eigenes Bestehen. Sie empirisch zu untersuchen ist die Aufgabe
der Demoskopie. Doch in wessen Händen liegt die Demoskopie ? Mit der Beant-
wortung dieser Frage wird der Realitätscharakter der Öffentlichen Meinung un-
mittelbar zum Thema: die Öffentliche Meinung erst einmal ‚nur‘ als Forschungs-
gegenstand oder bereits im Vorhinein als Gegenstand von Herrschaftsinteressen
und dementsprechend von Manipulation, oder gar als „Phänomen des objektiven
Geistes“ und schließlich als „ein Objektives“ und mithin „Ausdruck der gesell-
schaftlichen Totalität“ ? Und gleichzeitig ist und bleibt die Öffentliche Meinung
ein Bereich „handfester Daten“ objektivierten öffentlichen Meinens. Die Öffent-
liche Meinung wird zusehends der Realität enthoben, entweder bestimmt als Auf-
tretensform kritischer Publizität – oder als etwas, das zwar eine gewisse Kontur
Einleitung: Wie die Gesellschaft als Ganze denkbar wird 21
erkennen lässt, in dem aber vieles Ausdruck erhält, das weiter im Dunkeln liegt.
Wenngleich vage, so zeichnen sich doch auch in der Bestimmung der Öffentlichen
Meinung als einem Geist, der die Gesellschaft zu einem Ganzen macht, die Denk-
figuren der Kritik und der Emanation ab.
Die Denkfiguren der Kritik und der Emanation sind es gerade, die in der Ar-
gumentation der einzelnen Beiträge zwar präsent sind, diese auch wesentlich
bestimmen, mitunter gar möglich machen, und doch nur in geringem Ausmaß
kenntlich werden. Hier die Einbildungskraft etwas zu befördern – darum ging es
in dieser Einleitung.
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“
als schöpferischer Akt
Ein Blick auf die Kultursoziologie Alfred Webers und weiter
auf die aktuelle Theoriediskussion in der Soziologie
Peter-Ulrich Merz-Benz
Aus Sicht der Gegenwartssoziologie erscheint das Werk Alfred Webers als eine
fremde Welt. Zwar können wir Alfred Webers Geschichts- und Kultursoziolo-
gie – für ihn die Soziologie schlechthin – historisch einordnen, ihre Begründung
und Ausgestaltung nachzeichnen, beginnend mit seinem Schlüsselreferat „Der
soziologische Kulturbegriff“ auf dem Deutschen Soziologentag 19121 bis hin zu
seinem Artikel „Kultursoziologie“ in Alfred Vierkandts Handwörterbuch der So-
ziologie von 19312; wir können das Milieu der Heidelberger Soziologie der spä-
ten 1920er Jahre beschreiben und dabei etwa auf Norbert Elias’ Bemühen ein-
gehen, bei Alfred Weber zu habilitieren – Elias hat bei ihm sogar einen Entwurf
eingereicht3; wir können uns mit Alfred Webers Auftritt in der Diskussion um
den Vortrag von Karl Mannheim „Die Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“ auf
dem Zürcher Soziologentag 1928 auseinandersetzen4 – und vieles mehr. Aber ge-
rade an Alfred Webers Stellungnahme zum Vortrag von Mannheim tritt exem-
plarisch hervor, wie fremd seine Soziologie aus Sicht der heutigen Soziologie er-
scheint: Mannheims Argumentation ist für uns nachvollziehbar, wenngleich sie
uns vielleicht nicht in allen Teilen verständlich vorkommt, doch die verwendeten
Begriffe und Denkfiguren sind für uns erkennbar als Teil des Vokabulars sozio-
logischen Denkens; die Beweggründe von Webers Kritik vermögen wir dagegen
kaum mehr einzusehen, dass es sich bei seiner Begrifflichkeit um eine soziologi-
sche handeln soll, mutet etwas merkwürdig an, und der Gedanke, Webers Ein-
wände seien das Ergebnis systematischer Überlegungen, kommt gar nicht erst auf.
Und dass von Alfred Weber aus der Weg weiter führt, seine Soziologie rezipiert,
sein Denken weiter entwickelt worden wäre ? Davon ist uns – von Ausnahmen
abgesehen – nichts bekannt. Wer hat schon den Namen Albert Salomon gehört ?
liche Tätigkeit besteht folgerichtig immer auch darin, sich dessen gleichsam zu
versichern, ineins mit der dazugehörigen Selbstexplikation. Am deutlichsten ist
dies am besonderen Charakter von Webers „soziologisch kulturtheoretische[r]Be-
trachtung[sweise]“, an seiner „Methode“ absehbar.7 Alfred Webers Methode ist
keine fachwissenschaftliche (soziologische) Methode im bekannten Sinn des Wor-
tes, denn mit ihrer ‚Anwendung‘ wird immer auch Thema, was in einer ‚rein‘ wis-
senschaftlichen Methode und durch sie ‚mit‘gedacht ist, von ihr aber nicht er-
reicht zu werden vermag. Kultur als Konstitutionsbedingung von Sozialität – und
ebenso diese als Konstitutionsbedingung jener – vermag mittels einer fachwis-
senschaftlichen Methode nicht gedacht und nicht aufgewiesen zu werden, macht
aber die Kulturtatsachen als solche mit aus. Und mithin schließt – und darauf
kommt es gerade an – die ‚Anwendung‘ der Weberschen Methode gleichzeitig
den Umgang mit den Grenzen der Soziologie ein. Mit der Kultursoziologie den
„Goethesche[n] Weg“ zu beschreiten, wie Weber dies im Sinn hat, den „Weg, den
er [Goethe; PUMB] für die Natur beschritten hat, […] hier für die Geschichte“8,
führt naheliegenderweise über die Sphäre methodengeleiteter wissenschaftlicher
Forschungsarbeit hinaus, darf jedoch – auch wenn das hier mitschwingende Pa-
thos einem solchen Eindruck wohl Vorschub leisten dürfte – gleichwohl nicht als
Abkehr von fachwissenschaftlicher Methodik per se verstanden werden. ‚Wissen-
schaftliche Methode, ja oder nein ?‘ – das ist für Alfred Webers „Methode“ keine
Alternative.
Soll – wie Alfred Webers dies vorsieht – die Soziologie auch Antworten fin-
den auf die großen Fragen der Zeit, unsere Kultur begreifend als „seelisch-geistige
Ausdrucksform“ der Bewegung der Kultur selbst, unseres gemeinsamen Schick-
sals, dann muss ihr Geist offen sein. Damit ist gemeint: Die Bestimmung des Geis-
tes der Soziologie ist (auch) die Bestimmung dessen, was auf ihn ein-, ja in ihn
hineinströmt, vom Verstand zwar konstatiert, doch ohne von ihm erfasst wer-
den zu können. Mit dieser Bestimmung tut – wenig erstaunlich – die fachwissen-
schaftliche Soziologie sich schwer. Bis heute wird Alfred Weber denn auch weit-
gehend als der unverstandene „Vermittler“ zwischen künstlerischem Erleben und
7 Weber, A. Der soziologische Kulturbegriff, S. 62, 62 ff. u. 71 ff.; Weber, Alfred 1927/2000d.
Einleitung [1927]. In Alfred Weber Ideen zur Staats- und Kultursoziologie. Karlsruhe: Braun
1927, S. 1 – 18. Zitiert nach der Edition dieser Textsammlung in Band 8 der Alfred Weber-Ge-
samtausgabe: Alfred Weber Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906 – 1958). Alfred
Weber-Gesamtausgabe, Band 8. Marburg: Metropolis-Verlag, S. 33 – 117, hier S. 35 – 59, S. 44.
8 Weber, Alfred. 1923/24//2000c. Kultursoziologie und Sinndeutung der Geschichte. In Der
Neue Merkur 7, Bd. 1. Stuttgart/Berlin 1923/24, S. 169 – 176. Zitiert nach dem Wiederabdruck
in der Textsammlung Ideen zur Staats- und Kultursoziologie von 1927 bzw. nach der Edi
tion dieser Textsammlung in Band 8 der Alfred Weber-Gesamtausgabe: Alfred Weber Schrif-
ten zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906 – 1958). Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 8.
Marburg: Metropolis Verlag, S. 33 – 117, hier S. 76 – 82, S. 79.
26 Peter-Ulrich Merz-Benz
begrifflich-rationalem Denken gesehen. Dass Weber sich des Wertes der Wissen-
schaft bewusst war, die wissenschaftliche Tätigkeit sich für ihn jedoch nicht in
sich selbst erschöpfte, sondern von ihm gleichzeitig als kulturelle Tätigkeit ver-
standen wurde und die produktive Einbildungskraft und Phantasie des Künstlers
für ihn gar den Leitfaden darstellte, Wissenschaft, auch und gerade Soziologie, mit
anderen kulturellen Formen der Weltaneignung und Weltauffassung zu vermit-
teln – das alles ist denn auch fraglos zutreffend.9 Und doch ist es nicht das, wor
auf es bei der Bestimmung des Geistes der Soziologie Alfred Webers ankommt.
Bei der Konstatierung der im Zuge der Vermittlung von künstlerischem Erleben
und wissenschaftlich-rationalem Denken auftretenden Unstimmigkeiten oder gar
Widersprüchlichkeiten darf es nicht sein Bewenden haben oder, das Entscheiden-
de herausstellend: das, was Alfred Webers „Methode“ ausmacht, liegt jenseits der
Vermittlung von künstlerischem Erleben und begrifflich-rationalem Denken; in
keiner Weise erweckt Webers „Methode“ den Anschein, als ginge es ‚bloß‘ um die
Vermittlung zweier verschiedenartiger ‚Verfahren‘.
Weber selbst hält zu seiner Methode fest: „Diese Methode ist gewiß intuitio-
nistisch und synthetisch. Sie ist aber gleichzeitig bewußt analytisch“.10 Mit ihr soll
versucht werden, „gedanklich [zu] isolieren“, was in „geschichtlichen Totalkom-
plexen“ wie dem „Kapitalismus“ oder der „Stadtwirtschaft“ zusammenkommt,
und zwar so, dass diese als „zusammengesetzte Phänomene“ „unmittelbar evident
sind“. Dabei „bleibt die [bloße; PUMB] Analyse [die Analyse allein; PUMB] [je-
doch] stehen“ oder, präziser, vermag sie an das „Wesen“ dieser zusammengesetzten
Phänomene gar nicht heranzureichen. Zur Überwindung des sich der Soziologie
hier entgegenstellenden Hindernisses bleibt der „Methode“ einzig die Intuition:
synthetisierend, was an „seelisch-geistiger Formung“ in diesen geschichtlichen
Totalkomplexen und durch sie geschieht, verdeutlichend, in welcher zivilisatori-
schen und gesellschaftlichen Situation „die stets schöpferische seelisch mensch-
liche Kraft“ in ihrem „Gestaltungsbedürfnis“ sich in diesen geschichtlichen Total-
komplexen befindet.11 – Zu welchem Ergebnis die Auseinandersetzung mit den
Kategorien bzw. „Anschauungsformen“ von Alfred Webers Kultursoziologie auch
immer führt, an der Bestimmung seiner „Methode“ ändert sich nichts. Durch
sie soll vor unserem geistigen Auge erstehen, was die Kulturtatsachen ausmacht,
und dies kann nur erreicht werden, wenn in ihr die verschiedensten Modalitäten
der Geistestätigkeit buchstäblich ineinanderfließen, als Ausdruck ebenso wie als
9 Bräu, Richard. 2000. Einleitung. In Alfred Weber Schriften zur Kultur- und Geschichtssozio-
logie (1906 – 1958). Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 8. Marburg: Metropolis Verlag, S. 7 –
26, hier S. 16 ff.
10 Weber, A. Einleitung, S. 11; Hervorh. v. mir; PUMB.
11 Vgl. Weber, A. Einleitung, S. 12 – 14 bzw. 45 – 47.
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“ als schöpferischer Akt 27
2 „Strukturelle Abgeschlossenheit“ –
und die Rationalisierung sozialer Körper
Was macht Alfred Weber zufolge die Gesellschaft zu einem Ganzen ? Das ist als
erstes ihr Angelegtsein auf „strukturelle Abgeschlossenheit“.12 „Strukturelle Ab-
geschlossenheit“ darf jedoch weder mit Undurchlässigkeit gesellschaftlicher Ver-
hältnisse gegen außen, noch mit der Absenz individueller Gestaltungsspielräume
im Gesellschaftsinneren gleichgesetzt werden. Nicht einmal der Begriff einer „so-
zialen Beziehung“, bei der in und mit dem unverrückbaren sinnhaften aufeinan-
der Abgestimmt- und mithin aneinander Orientsein der Handlungen Mehrerer
sämtliche Handlungsoptionen gleichsam vorweggenommen sind – wie komplex
und wie umfangreich diese soziale Beziehung auch immer sein mag –, taugt zur
Bestimmung struktureller Abgeschlossenheit im Sinne Alfred Webers.13 Unter
ziehung“ (Weber Max. 1973b. Soziologische Grundbegriffe. In: Max Weber Gesammelte Auf-
sätze zur Wissenschaftslehre. Vierte, erneut durchgesehene Auflage, hrsg. Johannes Winckel-
mann. Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 541 – 581, hier S. 567).
14 Weber A. Artikel „Kultursoziologie“, S. 286 f.
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“ als schöpferischer Akt 29
15 Salomon, Albert. 2008. Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland. In Al-
bert Salomon Werke, Band 1: Biographische Materialien und Schriften 1921 – 1933. Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 81 – 133, hier S. 84.
16 Äußerst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Albert Salomons Bezugnahme auf
Ferdinand Tönnies’ „Theorie der Gemeinschaft“, den „Ersten Abschnitt“ des „Erste[n]
Buch[es]“ in Tönnies’ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (als Quelle gibt Salomon
die zweite Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft von 1912 an, darin die Seiten 9 – 47)
(Salomon. Freundschaftskult, S. 84; Tönnies, Ferdinand. 1979. Gemeinschaft und Gesellschaft.
Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. [Neu-
druck der 8. Auflage Leipzig: Buske 1935], hier S. 7 – 33). Unschwer sind in den Schilderun-
gen Salomons die „Gemeinschaft des Blutes“ und die „Gemeinschaft des Ortes“ zu erken-
nen, während die „Gemeinschaft des Geistes“, die dritte Auftretensform gemeinschaftlicher
Sozialverhältnisse bzw. der dritte Teil von Tönnies’ „Theorie der Gemeinschaft“, unerwähnt
bleibt. Damit verkennt Salomon allerdings nichts weniger als das Konstituens der ihrem
Wesen nach spezifisch gemeinschaftlichen Sozialform. Denn einzig „Verständnis“ und Ein-
tracht“, welche zusammen die „psychische Substanz“ der „Gemeinschaft des Geistes“ bilden
und mithin den Inbegriff des als „gemeinschaftliche[r] bestimmende[r] Wille“ zu verstehen-
den Sozialen darstellen (Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft, S. XXXIV, 18), bleiben für
das „organische Leben“ definitiv unerreichbar.
30 Peter-Ulrich Merz-Benz
still wirkende Kraft des Lebens selbst, nichts mehr als Stoff“.17 Was aus diesem
„Stoff“ weiter wird, obliegt allein dem „menschlichen Geist“. An ihm ist es, „[d]ie-
sen [Stoff] zu erfüllen, zu lenken und zu gestalten“, auf diese Weise aus dem bio-
logischen (Zusammen-)Leben gleichsam das „höhere Leben“ entbergend – das ist
seine „eigentliche Aufgabe“.18 Dieses „höhere [soziale] Leben“ aber hat nichts Ge-
meinschaftliches mehr. Eine „Gemeinschaft des Geistes“ im Sinne von Ferdinand
Tönnies kennt Salomon nicht.19
Für Alfred Weber ist die Tätigkeit des Geistes ausschließlich eine formende.
Dessen Gestaltungskraft reicht nicht ins Leben hinein. Die Bestimmung der sozia-
len Körper als soziale und mithin die Bestimmung der sozialen Gebilde schlecht-
hin geschieht einzig anhand des Kriteriums der Formung, und Strukturiertheit
ist nichts anderes als eine Form. Die Formung aber unterliegt einem Rationali-
sierungsprozess, ja sie stellt im Grunde als solche einen Rationalisierungsprozess
dar, doch – wie wiederum gleich hinzuzufügen ist – einen Rationalisierungspro-
zess, der nicht für sich geschieht, als besäße er selbst, mit all den Prinzipien, die
ihn ‚ausmachen‘, Realitätscharakter, sondern sich nur an und mit sozialen Kör-
pern vollziehen kann. Insofern wird diesen durchaus ein bestimmtes Gestaltet-
sein, eine bestimmte Art des Gestaltetwerdens verordnet. Soziale Körper sind für
Alfred Weber prinzipiell Mittel zur „menschlichen Weltbemächtigung“, obliegt ih-
nen doch nichts weniger als die Ermöglichung menschlichen Zusammenlebens,
und dazu bedarf es der intellektuellen Durchschaubarmachung der mit ihnen ge-
gebenen Möglichkeiten, sowohl die äußere, sinnlich gegebene Welt, als auch die
Welt der Sinnorientierungen gleichsam aufzuschließen, sich in den beiden Welten
zurechtzufinden. Die sozialen Körper bilden dementsprechend – je für sich, eben-
so wie in ihrer Gesamtheit – einen – wie Weber sich ausdrückt – eigentlichen „in-
tellektuellen Kosmos“20, und dieser ist das Ergebnis eines „Rationalisierungspro-
zeßes des Daseins, der durch alle großen Geschichtskörper hindurchgeht“ und
ausstrahlt bis ins menschliche Tun.21 Näher besehen erfolgt die Rationalisierung
dreifach: nach der praktischen Seite hin, die Verwirklichung von Zwecken und die
Aufrechterhaltung von Ordnungsverhältnissen betreffend, nach der theoretischen
Seite hin, bezogen auf die Gewährleistung von Rationalitätsstandards, und nach
der aprioristischen Seite hin, die Möglichkeitsbedingungen sowie die Evidenz des
Welt- und Ichbildes umfassend.22 Solchermaßen geformt bzw. rationalisiert – man
ist versucht zu sagen: durch-rationalisiert – lassen die sozialen Körper was die
durch sie ermöglichten intersubjektiv gültigen sinnhaften Orientierungen angeht
die verschiedensten Gestaltungen erkennen, und in diesem Sinn erweisen sie sich
als strukturiert. Wird eine dieser Gestaltungen zur einzig verbindlichen, wird sie
in ihrer Strukturiertheit zu Ende gedacht, erweist sich Strukturiertheit als Zustand
struktureller Abgeschlossenheit. Damit besitzt strukturelle Abgeschlossenheit aller-
dings in letzter Konsequenz rein ideellen Charakter.
Eine gewisse Inkonsistenz im Aufbau von Alfred Webers Begriff des Geistes
ist allerdings nicht zu übersehen. Einerseits ist der Geist (In-)Begriff von Intel-
lektualität, verkörpert er in Webers „intellektuellem Kosmos“ der sozialen Kör-
per gleichsam das Intellektuelle selbst. Und so verstanden ist sein Vermögen kon-
sequenterweise ausschließlich formaler Art, ja besitzt er selbst Formcharakter,
jenseits jeglichen Vermitteltseins durch anderen Modalitäten des Denkens oder
gar durch reale Sinngebilde. Dies ist der Begriff des Geistes oder, was dasselbe
meint, der Rationalität, wie er begründet ist in der Philosophie der Südwestdeut-
schen Neukantianer, näherhin in der Erkenntnistheorie und Methodologie Hein-
rich Rickerts, und wie er auch das Denken Max Webers bestimmt. Andererseits
ist Alfred Weber zufolge der Geist prinzipiell ein formender und vermag sich die
durch ihn bewirkte Rationalisierung nur an und mit sozialen Körpern zu vollzie-
hen. Von einem reinen Formcharakter des Geistes kann hier keine Rede sein. Dies
weiterdenkend stellt sich vielmehr die Frage, ob Webers Begriff des Geistes nicht
insofern verkürzt ist, als es auch einen autonomen, für sich wirkenden Geist gibt,
der keinen Formcharakter besitzt und dennoch als Konstituens sozialer Körper
wirkt. Vorbild hierfür ist etwa der Geist in Ferdinand Tönnies’ „Gemeinschaft des
Geistes“, bestehend in einer personen- und ortsunabhängigen, jeglichen materiel-
len Gegebenheiten enthobenen „gegenseitig-gemeinsame[n], verbindende[n| Ge-
sinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft“. Tönnies zufolge verkörpert dieser
Geist „Sinn und Vernunft“ eines gemeinschaftlichen Verhältnisses – einen ‚reinen‘
Geist, der die gemeinschaftlichen Verhältnisse formt, ohne doch, gewissermaßen
als ‚bloß formender‘, von diesen losgelöst zu sein.23 Offenkundig laufen in Tön-
nies’ „Gemeinschaft des Geistes“ verschiedene, für das Verständnis der Konstitu-
tion sozialer Körper sowohl bei Weber als auch bei Salomon maßgebliche Bestim-
mungsprobleme zusammen.
Die entscheidende Frage aber ist noch nicht beantwortet: Was macht Alfred We-
ber zufolge die Gesellschaft zu einem Ganzen ? Dazu bedarf es als zweites, über
die Herstellung struktureller Abgeschlossenheit hinaus oder, präziser, jenseits von
ihr, der Schaffung eines uns im Zusammenleben unmittelbar einnehmenden „Le-
bensgefühls“. Dieses „Lebensgefühl“ ist wie eine Welt für sich, „Zentrum“ und
Verdichtung dessen, was uns aus den realen Verhältnissen des Zusammenlebens
im Erfühltwerden und durch dieses an Gemeinsamkeit ganz selbstverständlich
überkommt, und zwar als etwas, das immer schon da ist.24 Diese Begrifflichkeit
Webers kann ohne weiteres in eine modernere Ausdrucksweise übertragen wer-
den: Worum es geht, ist nichts weniger als die Schaffung, das Erstehen von So-
zialität. Und das Erstehen von Sozialität ist das Ergebnis „kulturellen Tuns“ oder,
das Entscheidende herausstellend: dies ist kulturelles Tun.25 Sozialität ist mithin
nichts, das einmal besteht, sondern ein fortwährender Akt. Sozialität ist jeglicher
Rationalisierung entzogen, und ebenso der Strukturiertheit. Auch gibt es keine
Idee der Sozialität. Sozialität besteht, indem sie fortwährend zum „Leben“ erweckt
wird; und dies geschieht im Konkreten und nirgendwo anders. Das Leben der So-
zialität ist – das versteht sich – kein organisches Leben. Vielmehr wird es im Ver-
mittlungszusammenhang der realen Verhältnisse des Zusammenlebens überhaupt
erst als solches fühlbar, und insofern erweist es sich als ‚höheres‘ Leben. Das „Le-
bensgefühl“ ist der ‚Ort‘, an dem all die Bedeutungen, die die Sozialität annimmt,
wenn sie als Gemeinsamkeit zum Vorschein drängt, variierend mit den sozialen
Körpern in all ihren Gestalten, zusammenkommen, und dazu gehört, dass es sich
um Bedeutungen handelt, welche die Konkretheiten gleichsam durchziehen. Mit
der Sozialität ist im Lebensgefühl daher etwas konzentriert, das nur im Konkreten
selbst ist, die verschiedenen Konkretheiten jedoch verbindet, indem es über die je
einzelnen Konkretheiten hinaus in die anderen Konkretheiten hineinreicht. Und
was sich hier abzeichnet, ist mithin, näher besehen, ein Paradoxon.
In seinem Schlüsselreferat „Der soziologische Kulturbegriff“, gehalten auf dem
Deutschen Soziologentag 1912, insistiert Alfred Weber darauf, dass die Soziolo-
gie sich in ihrem Denken nicht von Prinzipien – gleich welcher Art – leiten oder,
deutlicher noch, vereinnahmen lassen darf. Denn dies bedeutete die Reduktion
der Konkretheiten auf das, was an ihnen prinzipiengemäß ist, und mithin ihre
Zerstörung. Würden die Konkretheiten ausschließlich auf ein erkenntnisleiten-
des, soll heißen: an ihnen „erkennbares Prinzip“ bezogen, würden sie „gleichzei-
tig von innen her entleer[t] und ihrer Rundheit und Ganzheit, ihres vollen Sach-
inhalts beraub[t]“.26 Sie wären nicht mehr die Konkretheiten, die sie sind. Selbst
noch „den kleinsten Einzelerscheinungen des Lebens“, „[so] wir sie nicht als bloße
Individualität, sondern als Formation irgendwelcher noch so komplizierter All-
gemeinheiten auffass[ten]“, „würden wir etwas nehmen“, und zwar nichts Gerin-
geres als ihren ureigensten Charakter.27 – Webers Argumentation zum Verständ-
nis von Konkretheit(en) beinhaltet indes noch mehr. Denn mit ihr wird auch jeder
geschichts- oder kulturwissenschaftlichen – und selbstverständlich auch soziolo-
gischen – Betrachtungsweise, welche auf Abstraktion beruht, eine klare Absage er-
teilt. Und eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise in der Art einer Suche
nach den Gesetzen der Geschichte oder des menschlichen Zusammenlebens er-
scheint ohnehin undenkbar. Eine Konkretheit im Erkennen zuzurichten als Ab
straktum kommt grundsätzlich ihrer Zerstörung gleich. Selbst Prinzipien sind
letzten Endes bloß ein Abstraktionskriterium unter anderen. Folgerichtig verbie-
tet es sich für die Soziologie daher auch, Konkretheiten zum Gegenstand einer
individualisierenden Begriffsbildung zu machen, denn auch diese beruht auf ei-
ner Abstraktion. Dies überhaupt festzustellen ist nach der Argumentation Alfred
Webers fraglos unnötig, muss aber dennoch erwähnt werden. Denn damit tritt
hervor, dass Alfred Weber der Wissenschaftslehre des Südwestdeutschen Neu-
kantianismus und mithin dem Begriff einer wirklichkeitswissenschaftlichen So-
zialwissenschaft, wie sie sein Bruder Max zu begründen sucht, ablehnend gegen-
über steht.28
Das kann aber wiederum nicht das letzte Wort sein. Denn das Erkenntnis-
problem, welches mit der individualisierenden Begriffsbildung gelöst werden soll,
stellt sich auch für Alfred Weber. Sozialität erschöpft sich bekanntlich mitnichten
in den Bedeutungen, die sie bei ihrem Auftreten als Gemeinsamkeit des Sozialen
annimmt. Vielmehr handelt es sich bei den Bedeutungen der Sozialität um Bedeu-
tungen, welche die Konkretheiten, in denen sie verkörpert sind und durch die sie
verkörpert werden, gleichsam durchziehen, auf dass auf diese Weise die Soziali-
tät durch die Konkretheiten hindurch als konkrete lebt. Verkörpert sein in Kon-
kretheiten, ja selbst als Konkretheit(en) existierend, und dabei die Konkretheiten
durchziehend – das lässt nur einen Schluss zu: Sozialität ist ein Paradoxon. Dieses
lässt sich indes auflösen, und zwar durch die Vertiefung des Verständnisses der
Sozialität als „kulturelles Tun“. Denn Sozialität ist im Sinne Alfred Webers gleich-
zeitig ein kulturell „Universelles“: Wir begreifen Sozialität in ihrer „Reinheit“,
Den Begriff der Sozialität als kulturelles Tun und ebenso als kulturell Universel-
les gilt es nunmehr weiter zu erläutern, auf dass Alfred Webers Verständnis von
Soziologie bzw. – was für ihn bekanntlich dasselbe ist – Kultursoziologie weiter
Kontur gewinne. Kulturelles Tun ist „eine seelisch-geistige Interpretation des Da-
seins“, der uns begegnenden konkreten Dinge und Vorgänge. Diese Interpreta
tion ist ein gestalterischer oder, das entscheidende Prädikat endlich nennend, ein
schöpferischer Akt. Dabei geschieht folgendes: „allem Vorhandenen und Erfahr-
baren [wird] Wertakzent erteilt“. Das heißt: Es wird ihm ein „Deutungsgehalt [ge-
geben]“, der „auf den Daseinssinn [bezogen ist]“, sprich: sich in den Sinnzusam-
menhängen in und zwischen den konkreten Dingen und Vorgängen entfaltet und
uns in unserem Lebensgefühl unmittelbar einnimmt.32 Dem Vorhandenen und
Erfahrbaren Wertakzent erteilen heißt gerade nicht, es effektiv zu bewerten, ihm
selbst einen Wert zu verleihen. Vielmehr wird durch „seelisch-geistige Interpre-
tation des Daseins“ das Vorhandene und Erfahrbare fortan als etwas genommen,
aus dem ein Werthaftes ‚spricht‘, worauf sein Gehalt eben nicht mehr bloß ver-
standen, sondern auf etwas ganz Bestimmtes hin gedeutet wird: auf etwas, das aus
ihm erst ersteht – ersteht durch Deutung und in dieser, doch wie von selbst. Es ist,
als würde durch „seelisch-geistige Interpretation“ etwas Bestimmtem eröffnet, ins
Dasein zu kommen.
Dies erinnert fraglos an Max Webers Begriff der Kulturbegabung des Men-
schen. Wir „[sind]“ – so schreibt Max Weber in „Die ‚Objektivität‘ sozialwissen-
schaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ – Kulturmenschen […], begabt mit
der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen [sie zu deu-
ten und mithin zu bewerten; PUMB] und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches
immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte
Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu
ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen.“33 Kulturbegabung
des Menschen: Das ist für Max Weber nichts anderes als der Ursprung der Konsti-
tution des Gegenstandes der wirklichkeitswissenschaftlichen Sozialwissenschaft;
einige der wesentlichen von Heinrich Rickert ausgearbeiteten Bestimmungen der
individualisierenden Begriffsbildung sowie der menschlichen Kultur als Objekt
der historischen Wissenschaften erhalten hier gleichsam ihre sozialwissenschaft-
liche und, zumindest ansatzweise, auch bereits in handlungstheoretische Katego-
rien gefasste Gestalt.34 Es ist der Kulturmensch, der zur Welt, zu den ihn umge-
benden Dingen und Vorgängen Stellung nimmt, sie bewertet und dadurch die
Kulturwerte, auf die er sich bezieht, in der Wirklichkeit zur Anwesenheit bringt.
Das Ergebnis seines Tuns besitzt seinen Ausdruck in dem die Dinge und Vorgänge
einschließenden Sinnzusammenhang, welcher in seiner werthaften Konstitution
wiederum Anlass zu weiteren Beurteilungen gibt.
Für Max Weber sind die Kulturwerte jedoch nicht mehr als die Möglichkeits-
bedingung der Konstitution der sozialen und kulturellen Wirklichkeit, die Konsti-
tution selbst geschieht im menschlichen Handeln. Entsprechend dem Wertbegriff
der Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus gehören die Kulturwerte
ins Reich der Geltung; sie werden in der Wirklichkeit lediglich zur Anwesenheit
gebracht bzw., was dasselbe meint, im Handeln ver-wirklicht, sie sind keine Vor-
wegnahme(n) des Reich des Seins. Sie zu erschließen heißt allein sie kritisch auf-
weisen. – Um Wertverwirklichung geht es auch im „kulturellen Tun“ Alfred We-
bers, doch in einem ganz anderen Sinne. Davon, dass Kulturwerte im Handeln
und durch dieses überhaupt erst eine Stelle in der Wirklichkeit erhalten, ‚über-
setzt‘ in Handlungsmotive und realiter zur Geltung gebracht in Sinnzusammen-
hängen, konzentriert in der Verbindlichkeit von deren Struktur – davon kann bei
Alfred Weber keine Rede sein. Es ist vielmehr so, als werde mit der Erteilung von
Wertakzent ein Vorhandenes und Erfahrbares dazu bestimmt, etwas Präsenz im
turellen Wirklichkeit allein in der intersubjektiven Geltung von Werten und deren
innerwirklicher Auftretensform(en) in Gestalt von „sozialen Beziehungen“ und
zuhöchst von Ordnungen begründet ist – entsprechend der Auffassung von Max
Weber und mittelbar, weil quasi auf derselben neukantianischen Linie liegend,
auch der Auffassung von Talcott Parsons –, mutet in weiten Teilen tatsächlich wie
eine logizistische Fassung des kulturellen Tuns und – damit verbunden – des kul-
turell Universellen Alfred Webers an, mit einem entscheidenden Unterschied: In-
tersubjektiv gültige Werte vermitteln sozialen Zusammenhalt, nicht aber Sozialität,
und zudem wird sozialer Zusammenhalt als werthaft begründeter gleichsam aus
der Wirklichkeit herausgelöst. Der Begriff des Gesellschaftsganzen als des ultima-
tiven sozialen Zusammenhalts ist mithin in letzter Konsequenz nur denkbar un-
ter der Voraussetzung des einen universell gültigen Werts. Alfred Weber zufolge
trägt das Gesellschaftsganze seine Ganzheit vielmehr in sich – gleich einem Keim.
Das Gesellschaftsganze ist etwas, das im Handeln, sprich: im Handeln als einem
kulturellen Tun, erst ersteht: als ein fortwährender schöpferischer Akt, im Kleinen
und im Kleinsten. Dabei werden die Konkretheiten und ebenso die zwischen ih-
nen bestehenden Sinnzusammenhänge eben nicht bloß werthaft konstituiert, son-
dern durch das Universelle ‚erfüllt‘, hier: durch das Universelle in Gestalt der So-
zialität, sich präsentierend im menschlichen Zusammenleben, doch ohne je zu
einem Wirklichen zu werden. Das Gesellschaftsganze, wie es besteht als struktu-
rierter sozialer Körper im Zustand struktureller Abgeschlossenheit, ist dagegen
eine Ausdrucksform von Sozialität, die jeglichen Bezug zum Universellen ver-
loren hat, durchrationalisiert, intellektuell durchschaubar und in ihrer Gestaltbar-
keit ‚zum Abschluss‘ gebracht. Was das Soziale alles sein, welchen Daseinssinn es
(noch) verkörpern kann, entzieht sich vielmehr unserem Begriffsvermögen, und
das ist gemeint mit der Feststellung, die Wirklichkeit des menschlichen Zusam-
menlebens weise über sich hinaus ins „Unendliche“. Dass Sozialität in den Kon-
kretheiten des menschlichen Zusammenlebens präsent ist und somit gleichsam
in die empirischen Sachverhalte und dementsprechend in die Begriffsinhalte hin
einreicht, steht indes ebenso fest. In der Konkretheit, in und durch Konkretheit
vermittelt und diese selbst vermittelnd, ist das Universelle. Der Weg des Kultur
soziologen ist der Goethesche Weg: In der „Geschichtserscheinungswelt“ an sei-
nem Abglanz das Unendliche erkennen – gleich Faust im Anblick der Natur.37
Aufschlussreich – gerade für den Soziologen – ist schließlich – über die So-
zialität hinaus – der Blick auf andere Ausdrucksformen und mithin Gestalten des
Universellen. Die Konkretheiten und ebenso die Sinnzusammenhänge, in die sie
eingebunden sind, all die Dinge, Vorgänge und Ereignisse der sozialen und kul-
turellen Wirklichkeit, sind Abschattierungen des Universellen, die in sich einen
Von der Konkretheit Alfred Webers führt ein direkter Weg (zurück) zur Faktizität
des Kulturellen bei Johann Gottfried Herder, wie von diesem beschrieben in Auch
eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 – und diesen
Weg zu beschreiten lässt die Bestimmung der Weberschen Kultursoziologie als hu-
manistische Soziologie erst deutlich werden. Auch die Konkretheiten gehen – im
Sinne Herders – zurück auf „Anlässe“, die den Menschen dazu bringen, sie zu sei-
ner Selbstverwirklichung für sich zu gestalten. „Man bildet nichts aus, als wozu
Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt“ – und „dergleichen Anlässe“
bestehen für die menschliche Natur nirgendwo anders als in dem, was an Einzel-
nem in der „Fülle“ der Geschichte, in dem „ Gewirre von Scenen, Völkern, Zeit-
läuften“ wirkt, auftaucht, zur Blüte gelangt und vergeht.39 Das Einzelne in seiner
gesamten durch die Geschichte vermittelten Mannigfaltigkeit ist für die mensch-
liche Natur der Beweggrund, sich zu bilden und sich von den Verhältnissen bil-
den zu lassen, und in diesem „Betracht ist also [sogar] jede menschliche Vollkom-
menheit national, säkular und am genauesten betrachtet, individuell“40; in diesem
Sinne ist – wie es an anderer Stelle heißt – „das Individuelle“ die alleinige „Species
facti“41. Mithin zeichnet sich in der Argumentation Herders bereits ab, was spä-
ter von Heinrich Rickert explizit benannt und kategorial fassbar gemacht wurde:
dass Individualität eine zweifache Bedeutung besitzt. Individualität ist zum einen
bestimmt durch den Begriff der empirischen Wirklichkeit als eines „heterogenen
Continuums“, der Wirklichkeit in ihrer „stetigen Andersartigkeit“, und steht für
das fortdauernde jeweilige Anderssein des Einzelnen, der Konkretheiten in der
„Fülle“ der Geschichte.42 Individualität ist zum anderen aber auch der Begriff für
die Individualität, die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Einzelnen, der
Konkretheit selbst, näherhin für das, was das Einzelne, die Konkretheit für sich zu
einem individuellen resp. einer individuellen macht; aus der Mannigfaltigkeit ei-
ner solchen Konkretheit werden sodann im Zuge eines Abstraktionsprozesses ein-
zelne Bestimmungen ausgesondert und zu einem Begriff, zum Begriff eines „his-
torischen Individuums“ zusammengefügt.43
Auch die Wirklichkeit im Sinne Herders, die Wirklichkeit, in der der Mensch
nach Selbstverwirklichung strebt und die er entsprechend zu gestalten sucht, ist
ein „heterogenes Continuum“. Dem Menschen selbst wurden – so Herder – „An-
lagen [zur] Mannigfaltigkeit ins Herz“ gelegt, ansonsten er der „Fülle“ der Ge-
schichte, all den sich bietenden Anlässen, gar nicht begegnen könnte und vor al-
lem nicht die Möglichkeit besäße, sich selbst auf mannigfachste Art zu bilden und
gebildet zu werden, sprich: sich zu etwas Einzigartigem zu machen. Der Form
nach vollzieht sich eine eigentliche Begriffsbildung im Wirklichen. Denn jede die-
ser Anlagen und jeder gegebene Anlass menschlicher Vervollkommnung ist „aber
an sich selbst so wenig dringend, daß, wenn nur einige befriedigt werden, sich die
Seele bald aus diesen erweckten Tönen ein Konzert bildet“. „[Im] Kreis um uns,
uns zu Händen“ liegt unsere Welt, von uns gestaltet und zu einer Sinneinheit ge-
formt, Ergebnis eines Selektionsprozesses, mit dem die nicht erfüllten Anlagen,
die „unerweckten“ Töne, indes nicht einfach verschwinden, sondern „stumm und
dunkel den lautenden Gesang unterstützen“. Und mit dem Bestehen dieser Welt
und in ihr „mäßigt“ sich der „menschliche Blick, daß nach einer kleinen Zeit der
Gewohnheit [des sich miteinander ‚Einlebens‘; PUMB] ihm dieser Kreis Horizont“
wird.44 Nichts anderes als solche Kreise sind die Kulturen, einzigartige Gestal-
tungsformen menschlicher Selbst-Bildung, der Verwirklichung des mit dem Men-
schen, mit seiner Menschlichkeit gegebenen Versprechens. Und wo die Erfüllung
dieses Versprechen am besten gelingt, ist die Kultur am kultiviertesten.
Was Herder hier beschreibt, ist „kulturelles Tun“ im Sinne Alfred Webers, nur
ist bei Weber deutlich vorgezeichnet, dass Konkretheiten Übersetzungen sind,
Übersetzungen des menschlichen Selbst in die Geschichte. Die Übersetzung selbst
ist ein Akt der Bildung. Und mithin ist es auch – und gerade – das Bildungsgut,
welches in seiner Vielfalt, gleich den Bedeutungen des Sozialen oder des Religiö-
sen, die Konkretheiten durchzieht. Was im kulturellen Tun und durch dieses ge-
schieht, ist – in der Sprache Herders – die Verwirklichung menschlicher „An-
lagen“, und dies wiederum ist ein schöpferischer Akt, gleich dem Erwecken von
Tönen, mit denen das Menschliche im Dasein zum Klingen kommt. Es ist die See-
le, die aus den erweckten Tönen ein Konzert bildet oder, präziser noch, die die
erweckten Töne zu einem Konzert bildet, doch was erklingt, gleichsam in unse-
rem Gehör Präsenz erhält, liegt jenseits selbst der komplexesten Partitur. Nichts
Geringeres als die „Welt“ der verwirklichten menschlichen „Anlagen“, unsere Kul-
tur, liegt „im Kreis um uns, uns zu Händen“45 – und sie zu erfahren, ihr im Sin-
ne Alfred Webers „Wertakzent“ erteilend, „ist die tiefste Existenzerfassung, die an
diesem Ort sich [darbietet] und an ihm möglich [ist]“.46 Denn worauf wir stoßen,
ist das für uns als Menschen „innerlich universell [Bedeutsame]“, den „mensch-
lichen Ewigkeitsgehalt“.47 Dies alles fließt zusammen in Alfred Webers Begriff der
Kulturtatsachen als „Tatsachen von immanenter Transzendenz“.48 Demnach be-
Die Quellen sind: Weber, A. Artikel „Kultursoziologie“ S. 290, 289; Weber, Alfred. 2000e.
Geschichts- und Kultursoziologie als innere Strukturlehre der Geschichte. Zitiert nach dem
Wiederabdruck in der Textsammlung Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie von
1951 bzw. nach der Edition dieser Textsammlung in Band 8 der Alfred Weber-Gesamtaus-
gabe: Alfred Weber Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906 – 1958). Alfred We-
ber-Gesamtausgabe, Band 8. Marburg: Metropolis Verlag 2000, S. 129 – 146, hier S. 138; We-
ber, Alfred. 1997. [1935] Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Leyden: Sijthoff. Zitiert nach
dem Wiederabdruck in Band 1 der Alfred Weber-Gesamtausgabe: Alfred Weber [1997] Kul-
turgeschichte als Kultursoziologie. Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 1. Marburg: Me-
tropolis Verlag, S. 51 – 546, hier S. 71; Weber, Alfred. 1944. Über Sinn und Grenzen der
Soziologie. In Archiv für Kulturgeschichte, XXXII. Band, S. 43 – 51, hier S. 50. Beim Text „Ge-
schichts- und Kultursoziologie als innere Strukturlehre der Geschichte“, soll es sich – nach
Angaben Webers – um einen Wiederabdruck des Artikels „Kultursoziologie“ handeln (zi-
tiert als Weber [Alfred]. Artikel „Kultursoziologie“); dies trifft nicht zu. Der Text wurde von
Alfred Weber nicht nur – wie vom Herausgeber Band 8 der Alfred Weber-Gesamtausgabe
festgestellt (S. 22) – verändert und gekürzt, sondern auch ergänzt; dies betrifft insbesondere
die Stelle, an der von den „Tatsachen immanenter Transzendenz“ die Rede ist.
Auch Albert Salomon weist in seinem Artikel „The Place of Alfred Weber’s Kultursozio-
logie in Social Thought“ von 1936 auf die Bedeutung des „Begriff[s] ‚immanente Transzen-
denz‘“ für die Kultursoziologie Alfred Webers hin (Salomon, Albert. 2008/1936. [2008] Zur
Stellung von Alfred Webers Kultursoziologie im sozialen Denken. In: Albert Salomon Werke,
Band 2: Schriften 1934 – 1942. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 119 – 126, hier
S. 124. Deutsche Übersetzung von: Albert Salomon [1936] „The Place of Alfred Weber’s Kul-
tursoziologie in Social Thought“. In Social Research 3, S. 494 – 500), was von diesem in seinem
Brief an Salomon vom 4. 10. 1936 mit der Rede von den „Untergründen [des geschichtlichen
Stoffes; PUMB], dem Trans-Sociologischen, ‚immanent Transcendeten‘ und Unbeding-
ten“ wiederum aufgenommen wird (Weber, Alfred. 1936/2003. [Brief] 448. Alfred Weber an
Albert Salomon, 4. 10. 1936. In Alfred Weber Ausgewählter Briefwechsel. Zweiter Halbband.
Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 10. Marburg: Metropolis Verlag, S. 529 f., hier S. 529).
49 Weber A. Artikel „Kultursoziologie“, S. 290.
42 Peter-Ulrich Merz-Benz
das kulturell Universelle als das für uns als Menschen „innerlich universell [Bedeut-
same]“50, Präsenz, konkrete Gestalt gewinnt – dies aufzuweisen ist die Aufgabe der
Kultursoziologie. Als Fachwissenschaft stößt sie dabei an ihre Grenzen. Denn ihre
Aufgabe – und das heißt explizit: ihre Aufgabe als Wissenschaft – erschöpft sich –
was nur konsequent ist – nicht darin, sich innerhalb ihrer fachwissenschaftlichen
Grenzen zu halten, um dort gleichsam ihr ‚Tagesgeschäft‘ zu verrichten. Nicht dass
sie dieses vernachlässigen oder gar zugunsten des Strebens nach ‚höheren Ein-
sichten‘ aufgeben sollte; die empirische Forschungsarbeit und die Begriffsbildung
sind (auch) ihre Sache. Sie muss sich indes darüber im klaren sein, dass in ihren
Tatsachen etwas steckt, das zwar von ihr gedeutet wird, dessen „Deutung“ sie je-
doch – fraglos ein Paradoxon – „der Philosophie überlassen“ muss, doch wieder
um ohne – dies sei einmal mehr betont – sich damit zu bescheiden. Wessen sich
die kultursoziologische Analyse im Diesseitigen, in den von ihr festgestellten Tat-
sachen, gewahr zu werden vermag, ist einzig die Präsenz von etwas, das in diese
Tatsachen emaniert, sich als solches ihrem Blick jedoch verschließt. Als Ergebnis
eines Emanationsprozesses, sprich: als „Abglanz des Unendlichen“ im Goethe-
schen Sinne ist es aber gleichwohl ihr Gegenstand.
Es versteht sich daher, dass der Umgang mit dieser paradoxen Erkenntnis-
situation für die (Kultur-)Soziologie immer auch die Pflicht enthält, sich ihrer
selbst, ihrer Bestimmung als Wissenschaft gewahr zu werden. Denn geleitet wird
die Kultursoziologie letztlich von der Einsicht, „daß [in der] Existenz“ ihres Ge-
genstandes, der „Grundphänomene“, mit denen sie es zu tun hat, der „Tatsachen
immanenter Transzendenz“, auch der Sinn „ihrer eigenen Existenz und ihres ei-
genen Arbeitens“ begründet ist.51 Dass und in welcher Weise die Soziologie ein
Verständnis ihrer selbst als Kulturtatsache zu gewinnen vermag, macht ihre Kulti-
viertheit und ihre Aufgeklärtheit aus. Sich zu kultivieren bedeutet für die Sozio-
logie aufzuleben zu den mit ihr selbst gesetzten Vorgaben: bestrebt sein, das mit
sich selbst als Wissenschaft und Kulturtatsache gegebene Versprechen einzulösen.
Dann ist sie auch Wissenschaft von dem für uns als Menschen „innerlich univer-
sell [Bedeutsamen]“52, pflegt sie auf ihre Weise die sprichwörtliche ‚feine Lebens-
führung‘. Und indem sie dergestalt um sich weiß, erweist sie sich gleichzeitig als
aufgeklärt – aufgeklärt über sich selbst, mit den Mitteln, auf die sie als (Kultur-)
Soziologie verwiesen ist.
In letzter Konsequenz ist die (Kultur-)Soziologie mithin nichts anderes als
„kulturelles Tun“. Was in dem uns im Zusammenleben unmittelbar einnehmen-
den „Lebensgefühl“ ersteht, ist Sozialität. Das „Lebensgefühl“ ist bekanntlich der
‚Ort‘, an dem all die Bedeutungen, die Sozialität realiter annimmt, wechselnd von
Konkretheit zu Konkretheit und die Konkretheiten gleichzeitig durchziehend, zu-
sammenkommen. Und was aus dem „Lebensgefühl“ spricht, ist der Inbegriff des
Sozialen, selbst ein kulturelles Tun, mit den Kulturtatsachen als ihrem Ergeb-
nis. Der Soziologie als Wissenschaft ist es aufgegeben, dies zu deuten, die Kul-
turtatsachen als „Tatsachen immanenter Transzendenz“ mit ihrer „Methode“ ‚auf
den Begriff zu bringen‘ – und liegt in der „Existenz“ ihres Gegenstandes auch der
Sinn „ihrer eigenen „Existenz und ihres eigenen Arbeitens“53, erweist sich ihr wis-
senschaftliches Tun samt und sonders als kulturelles Tun. Dies ist auch eine Ab
sage an jegliche Form verselbständigter Rationalität, eine Absage, wie sie deut-
licher nicht ausfallen könnte. Was Sozialität ist, kann höchstens erahnt werden.
Die (Kultur-)Soziologie besitzt zwar die Mittel, etwas von ihrer Rätselhaftigkeit
abzutragen, sie selbst aber bleibt für den endlichen Menschengeist und sogar für
die Geistesmodalität genannt Rationalität unerreichbar. Damit erhält auch Alfred
Webers Begriff des Gesellschaftsganzen als Zustand struktureller Abgeschlossenheit
seine letzte Bestimmung – eine Bestimmung, die indes gleichzeitig über ihn und
im Endeffekt über die (Kultur-)Soziologie Alfred Webers als solche hinausreicht
und mit der das Gesellschaftsganze zu einem Zerrbild gerät. Als ultimatives Er-
gebnis des „Rationalisierungsprozeßes des Daseins“54 markiert der Begriff des Ge-
sellschaftsganzen die Grenzen der (soziologischen) Rationalität und folgerichtig
ebenso der Rationalität des Gegenstandes der Soziologie. Das Gesellschaftsganze
ist nicht mehr die „Form“ eines zu Formenden, sondern zeigt die negative Seite
des Begriffs struktureller Abgeschlossenheit, näherhin des Begriffs struktureller
Abgeschlossenheit in seiner rein ideellen (Ver-)Fassung. Nicht länger ist die Idee
des Gesellschaftsganzen die ‚Idee von etwas‘, sondern steht rein für sich. Die Ge-
sellschaft in ihrer Ganzheit erscheint als Inbegriff verselbständigter Rationalität,
durch diese gestaltet und ‚erfüllt‘, und insofern, als ihre Rationalisierung ihre Rea-
lisierung ist, ihre Konstitution als Realität, ist sie nurmehr eine Hyperrealität jen-
seits des Sozialen und kommt Sozialität in ihr gar nicht vor. Gesellschaft ist nichts
als ein Konglomerat von Begriffs-Hülsen, die bei näherem Hinsehen indes nichts
anderes sind als Erscheinungsformen theoretischer Versatzstücke, die sich durch
Selbst-Simulation, Selbst-Simulation anhand von Rationalitätskriterien, einander
angleichen. Gesellschaft ist letztlich nichts anderes mehr als eine – so paradox dies
55 Zum Begriff der Hyperrealität vgl. Baudrillard, Jean. 1982. Der symbolische Tausch und der
Tod. München: Matthes & Seitz, S. 112 – 119. Hier wird der Begriff der Hyperrealität allerdings
nicht auf die Methode, sondern auf die soziologische Theorie, eigentlich auf das soziologi-
sche Denken schlechthin angewandt.
56 Weber A. Prinzipielles zur Kultursoziologie, S. 166 [Hervorh. u. Einfügung v. mir; PUMB].
57 Yaneva, Albena. 2012. Grenzüberschreitungen. Das Soziale greifbar machen: Auf dem Weg
zu einer Akteur-Netzwerk-Theorie des Designs. In Das Design der Gesellschaft. Zur Kultur
soziologie des Design, hrsg. Stephan Moebius und Sophia Prinz. Bielefeld: transcript, S. 71 –
89, hier S. 71. [deutsche Übersetzung von: Yaneva, Albena. 2009. Making the Social Hold:
Towards an Acteur-Network Theory of Design. In Design and Culture 1, S. 273 – 288, hier
S. 273]. Dieser Artikel wird im Folgenden hauptsächlich in der deutschen Übersetzung zi-
tiert.
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“ als schöpferischer Akt 45
dies steht in keiner Weise im Widerspruch zu Alfred Webers Begriff des Sozialen.
Jegliche materiale Bestimmtheit ist – bei beiden – dem Sozialen ohnehin fremd.
Das Soziale ist nach der Akteur-Netzwerk-Theorie vielmehr eine „eigentümliche
Bewegung“ („peculiar movement“), mit der heterogene Akteure und Umwelten,
Konstellationen von Objekten, Handlungskontexte verbunden oder durch die ef-
fektiv Verbindungen geschaffen werden.58 Im Sinne Alfred Webers handelt es sich
bei dieser „eigentümlichen Bewegung“ um die ‚Formung eines zu Formenden‘
und ist das Formhafte der Bewegung nicht von den zu formenden oder schließ-
lich ge-formten Akteuren, Handlungen, Objekten, Inhalten der unterschiedlichs-
ten Art, losgelöst. In der „eigentümlichen Bewegung“ und mit ihr ersteht – der
Begriff Alfred Webers ist hier durchaus angemessen – Sozialität. Ein Unterschied
besteht allerdings insofern, als beim Verständnis von Sozialität, wie es bei Latour
zu konstatieren ist, der Akzent unmittelbar auf der Bewegtheit selbst liegt, wäh-
rend bei Weber, eingedenk der Bestimmung von Sozialität als kulturelles Tun und
mithin als „seelisch-geistige Interpretation des Daseins“, das Soziale erscheint als
etwas, das erst ins Dasein kommt bzw. emaniert, und nicht als etwas, das allein im
Realen wird. Indes bleibt zu klären, ob und inwieweit quasi das ‚Webersche‘ an der
Sozialität nicht eingeht in die Bewegung, sozusagen das Eigentümliche an ihr aus-
macht. – Zunächst aber gilt noch auf etwas anderes hinzuweisen: Die Kategorien
oder, wie es adäquater heißen muss, „Anschauungsformen“ Alfred Webers sind
geeignet, bei der Betrachtung des in der Akteur-Netzwerk-Theorie beschriebenen
Tuns, eben des Tuns, welches die „eigentümliche Bewegung“ ‚in Bewegung hält‘,
hervortreten zu lassen, was in der aktuellen Diskussion zwar die Erörterungen mit
bestimmt, selbst aber nicht Thema ist. Kulturelles Tun im Sinne Webers umfasst
bei näherem Hinsehen auch die Auseinandersetzung – nunmehr eine modernere
Terminologie verwendend – menschlicher mit nicht-menschlichen Aktanten, wo-
bei ausdrücklich von der Auseinandersetzung, nicht der Interaktion jener mit die-
sen zu sprechen ist. Und es ist Webers Analogie von kulturellem und Tun und
Kunstschaffen – wobei zu letzterem auch die kunstvolle Gestaltung des Alltags ge-
hört, dies feststellend wird Weber kein Zwang angetan –, welche hier das systema-
tische Verbindungsglied bildet.
Was bei Weber indes kein Thema ist oder höchstens annäherungsweise – im
Gegensatz zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) –, ist das allfällige Bestehen von
so etwas wie ‚Pfaden‘ im „sozialen Körper“, Strukturformen des „Daseins“, die bis
ins Kleinste hineinwirkenden und denen es beim kulturellen Tun zu folgen gilt
oder die dieses zumindest zu lenken und mitzugestalten vermögen. Bei Weber
liegt der Akzent klar auf dem Schöpferischen des kulturellen Tuns, hier: dem Er-
stehenlassen der im Dasein bisher nicht präsenten Sozialität. Ganz anders sieht
es dagegen bei der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) aus: Im „sozialen Körper“,
dort, wo „Bewegung“ ist, das Soziale geformt wird, Gestalt gewinnt, steckt ein
eigentliches „Skript“ („Script“).59 Darin ist vorgesehen, dass Objekte, insoweit ih-
nen ein Stück „Welt“ eingeschrieben ist und sie für uns in unserem Wirklichkeits-
verständnis und unserem Wirklichkeitsbezug dementsprechend Programm sind,
in Gestalt der durch sie verkörperten Handlungskontexte als „Mediatoren“ auftre-
ten. Ein Mediator hat nichts Passives an sich, vor allem aber ist er nicht bloss ein
„Intermediär“. Durch ihn werden vielmehr Bedeutungen, mit denen wir als Mit-
glieder einer langen Kette von Handlungsträgern unser Tätigsein, und sei es bloß
unser Alltagsleben, zu erfüllen suchen, „transformiert, übersetzt, verzerrt und
modifiziert“ („transform[ed], translat[ed], distort[ed], and modif[ied]“). Media-
toren sind per se „unberechenbar“ („unpredictable“) und dienen daher auch nicht
„zur Verdinglichung des Sozialen“ („reification of the social“).60 Die Vorstellung,
ja die Idee davon, was es heißt, es sich gemütlich zu machen, hat, nachdem wir in
dieser Polstergruppe gesessen sind, eine gewandelte, kraft der Mediatorentätig-
keit des besagten nicht-menschlichen Aktanten in einen neuen Handlungskon-
text übertragene Bedeutung. Und eine Verdinglichung erfährt die Vorstellung von
Gemütlichkeit dadurch erst recht nicht, lebt sie doch von Objekt zu Objekt immer
wieder neu auf. Zum Skript gehört indes ebenso, dass nicht-menschliche Aktanten
zu sogenannten Delegierten (gemacht) werden und fortan menschliches Handeln
formen durch „Präskription“. Technische Geräte, Design-Objekte, räumliche Ge-
staltungen des städtischen Lebensumfeldes sind für die Akteur-Netzwerk-Theo-
rie (ANT) keine Objektivierungen von Vorschriften, Bedienungsanleitungen oder
Verhaltensrichtlinien. Sie entfalten vielmehr ihre Wirkung, indem sie kraft eigener
Kompetenz, in Wahrnehmung eigener Verantwortlichkeiten mit uns als Quasi-
Objekten und gleichzeitig Akteuren, die wir ihren Präskriptionen Gestalt verlei-
hen, diese für uns beleben, komplexe Geflechte von Handlungen erstehen lassen,
Netzwerke eben. Mobile Radarkontrollen der Polizei sind mitunter der Ursprung
eigentlicher lokaler Handlungskulturen.
Im „Skript“ fehlt nichts. In all den Varianten – Formen im Sinne Alfred We-
bers –, heterogene Akteure und Umwelten, Konstellationen von Objekten, Hand-
lungskontexte zu verbinden oder gar Verbindungen zu schaffen, wird das Soziale
komponiert, errichtet, konstruiert, etabliert, erhalten und – auf welche Weise
59 Yaneva. Grenzüberschreitungen, S. 72, Anm. 3; Yaneva, Making the Social Hold, S. 284,
Note 1.
60 Latour. Reassembling the Social, S. 39; vgl. Latour, Bruno. 1991. Nous n’avons jamais été mo-
dernes: essai d’anthropologie symetrique. Paris: La Decouverte, S. 108 – 112.
Die Erstehung des „Gesellschaftsganzen“ als schöpferischer Akt 47
auch immer – versammelt. „Social does not designate a thing among other things
[…] but a type of connection between things that are not themselves social.“61 Et-
was aber fehlt doch: die Bestimmung dessen, was aus dem komplexen Geschehen
des Schaffens und Geschaffenwerdens von Verbindungen, überhaupt erst das So-
ziale erstehen lässt, was Sozialität hervorbringt. Gefragt ist – wiederum an einen
Grundbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) anschließend – das Eigen-
tümliche des Sozialen, das Eigentümliche der „eigentümlichen Bewegung“, das
doch in der Bewegung nicht aufgeht. Und dieses Eigentümliche ist das Schöpfe-
rische – das Schöpferische im Sinne Alfred Webers. Alfred Weber hat mit seiner
Kultursoziologie die Sozialität ins Leben zurückgeholt, aber nur soweit, als aus-
geschlossen bleibt, dass sie im „Skript“ des sozialen Körpers aufgeht, so komplex,
ausgestattet mit immenser Gestaltungsmacht, dieser auch sein mag. Dafür, dass
das Soziale selbst wird, ist nicht das Skript verantwortlich – das Skript ist nicht
von sich aus wirksam – und schon gar nicht sind es die es ausführenden Hand-
lungsträger. M. e. W.: Die „Greifbarmachung“, sprich: die kategoriale Bestimmung
des „Sozialen“ ist in letzter Konsequenz nur dann gewährleistet, wenn soziale Tat-
sachen, welche Gestalt sie auch immer besitzen mögen, als Tatsachen „immanen-
ter Transzendenz“ begriffen werden, als Tatsachen, bei denen das Soziale in ihnen
über sie hinausweist – auch über das Begriffsvermögen der Wissenschaft Soziolo-
gie hinaus. Das ist eine Denkfigur aus den Anfängen der Geschichts- und der Kul-
turphilosophie – Herder ist zu nennen und auch Johann Georg Hamann –, sys-
tematisch ausgedacht im Kontext der Wissenschaft Soziologie, der Wissenschaft
Soziologie als kulturellem Tun.
Zu guter Letzt noch ein Hinweis die Gegenwartssoziologie betreffend: Wird
all das, was im Skript als Möglichkeit des Sozialen vorgesehen ist, auf die äußerste
Möglichkeit des Sozialen als rein Schöpferisches hin (aus-)gedacht, vom „Entwor-
fenen“ zum „Erfundenen“ und darüber hinaus, eröffnet sich die Aussicht, auch
den Übergang vom Nicht-Sozialen zum Sozialen selbst zum Thema zu machen.
Und das gab es bisher nicht.
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Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft
und das Problem der edlen Lüge
Peter Gostmann
Wie könnte ein Soziologe in adäquater Weise, d. h. unter der Maßgabe, eine Größe
mit einem eigensinnigen sozialen Gehalt zu beschreiben, vom Gesellschaftsganzen
reden ? Die Gründe, die gegen diese Möglichkeit sprechen, liegen auf der Hand
und gehören zum Grundbestand des disziplinären Wissens. So beschrieb schon
G. W. F. Hegel die (bürgerliche) Gesellschaft in Begriffen der „Differenz, welche
zwischen die Familie und den Staat tritt“.1 Ihr Kennzeichen ist demnach nicht,
wie es bei der alten κοινωνία ποιλιτών der Fall war, ihre Selbstgenügsamkeit;2 son-
dern vielmehr, dass an ihrem Begriff die „konkrete Person, welche sich als beson-
dere Zweck ist“, als „ein Ganzes“, und die „Allgemeinheit, welche in der Bildung
ist“, als „organische Totalität“ kenntlich werden.3 Der Soziologe, der vom Gesell-
schaftsganzen redet, redet von dessen Einheit denn auch entweder unter dem Ge-
sichtspunkt, dass sie Größen umfasst, die „wesentlich getrennt“ sind;4 oder un-
ter dem Gesichtspunkt des „Bewußtsein[s], mit den andern eine Einheit“ anhand
„unzählige[r] singuläre[r] Beziehungen“ zu bilden, und also „durch die Kategorien
des Subjekts“ vermittelt und „von seinen Erkenntnisbedürfnissen her bestimmt“;5
oder unter dem Gesichtspunkt des Bedarfs der „Individuen“ an einem gedank-
1 Hegel, Georg W. F. 1970. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staats-
wissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen.
Werke 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 339.
2 Aristoteles. 1973. Politik. München: dtv, S. 49 – 50.
3 Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 339 – 340 und 398.
4 Tönnies, Ferdinand. 1979. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 34.
5 Simmel, Georg. 1992. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 43 – 44.
lichen „Fixpunkt“ für das „System von Pflichten und Obligationen“, das sie aus-
agieren.6
Eine Möglichkeit, anders als in Begriffen der Differenz vom Gesellschaftsgan-
zen zu reden, verspricht, wenigstens formal, seine Verbindung mit dem Begriff ei-
nes ‚Geistes, der es erfüllt‘ – sofern ‚Geist‘ eine immaterielle Größe bezeichnet, die
den mannigfaltigen materialen Einheiten, die als solche kein Gesellschaftsganzes
bilden, zwar nicht unmittelbar zugänglich ist, d. h. keine Einheit darstellt, der sie
sich aufgrund ihrer Existenzweise gegebenenfalls auch nicht zurechnen könnten
oder zu der sie nicht beitragen wollten; sondern eine Einheit, für die sich, sofern
man den ‚Geist, der das Gesellschaftsganze erfüllt‘, einmal in adäquater Weise ka-
tegorial bestimmt hat, zeigen ließe, dass sie den materialen Einheiten, die das Ge-
sellschaftsganze bilden, aufgrund deren Existenzweisen zuzurechnen ist oder zu
ihnen beiträgt, ohne dass ihnen selbst dies ersichtlich sein müsste.
Einen Vorschlag für eine solche kategoriale Bestimmung des Begriffs des
‚Geistes‘ hat bereits in den 1920er Jahren Karl Mannheim entwickelt; in einem
Vortrag anlässlich des Zürcher Soziologentags 1928 hat er seine Konzeption einer
„soziologischen Interpretation geistiger Gebilde“7 auf den prägnanten Begriff ei-
ner Soziologie des Geistes hin verdichtet.8 Er selbst hat dieses Programm vor dem
Hintergrund seiner Faschismusanalysen nicht weiterverfolgt, sondern seine Ge-
danken mit Blick auf das anscheinend unvermeidliche Problem der Planung und
unter Gesichtspunkten des Anspruchs, zu einer möglichst freiheitlichen Form
der Planung beizutragen, fortgeführt.9 In der Folge standen im Mittelpunkt sei-
nes Interesses statt vorzüglicher geistiger Gebilde die „Kenntnis des gesamten
Sozialmechanismus“ und, auf Grundlage dieser Kenntnis, die Frage des rechten
„Zugriff[s] an den richtigen Umschaltstellen“, was ein „klare[s] Wissen um die
Fernwirkungen“, die solche Zugriffe im „Gesellschaftsapparat“ erzeugen, beinhal-
ten müsste.10
Für die Nachkriegssoziologie, an der Mannheim, der 1947 starb, keinen un-
mittelbaren Anteil mehr hatte, spielte die Frage einer Soziologie des Geistes keine
Rolle mehr. Mit Blick auf Mannheims Wirkungsfeld bis 1933 lässt sich konstatie-
6 Durkheim, Emile. 1976. Soziologie und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 104.
7 Mannheim, Karl. 1982. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde.
In Der Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band. Die Entwicklung der deutschen Wissens-
soziologie, hrsg. Volker Meja und Nico Stehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 213 – 231.
8 Mannheim, Karl. 1982. Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen. In Der
Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band. Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziolo-
gie, hrsg. Volker Meja und Nico Stehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 325 – 370.
9 Mannheim, Karl. 1970. Freiheit und geplante Demokratie. Opladen: Westdeutscher Verlag,
S. 199.
10 Mannheim, Karl. 1935. Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Leiden: A. W. Sijt-
hoff, S. 91.
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 53
ren, dass hier beizeiten die Soziologie ihre „volle Entfaltung“, nachdem sie nach
1945 eine „Entwicklungsphase der Neukonstituierung“ durchlaufen hatte und
sich für den „Beginn einer zweiten Phase der inneren Konsolidierung“ empfahl,
durchaus in der Form des Beitrags zu einer möglichst freiheitlichen Form der Pla-
nung in Angriff nehmen wollte: als eine „Wissenschaft“ mit „spezifische[r] Bil-
dungsfunktion“, die mittels „rationale[r] Analyse der Gesellschaftsordnung […]
die Orientierung des Menschen über die sozialen und politischen Prozesse, die
sein Zusammenleben gestalten“, zu „beeinfluß[en] weiß.11 Die Frage der vorzüg-
lichen geistigen Gebilde sublimierte man anlässlich der angelegenen Professiona-
lisierung der eigenen Bildungsfunktion zu Fragen der kompetenten Kritik quasi-
kompetenter und inkompetenter Kritiken,12 der totemistischen Struktur,13 der
Paradigmen und Paradigmatase von Problemen und Problemlösungen14 oder der
Wissenskulturen15.
Im Folgenden wollen wir Mannheims liegengebliebenen Vorschlag einer Prü-
fung unterziehen und die Perspektiven einer Soziologie des Geistes ausloten.16 Zu
diesem Zweck rekonstruieren wir in knapper Form, wie mit Mannheims Ansatz
der ‚Geist, der das Gesellschaftsganze‘ erfüllt, sich erfassen ließe (2.). Anschlie-
ßend zeigen wir, dass Mannheims Ansatz, bei näherer Betrachtung, ein erkennt-
nislogisches Defizit aufweist, aufgrund dessen er in der überlieferten Form nicht
geeignet ist, einen ‚Geist, der das Gesellschaftsganze erfüllt‘, in einer adäquaten
Weise zu bestimmen (3.). Vor diesem Hintergrund erläutern wir, um den Horizont
des Problems zu bestimmen, in der Form eines Gedankenexperiments, in dessen
Mittelpunkt Platons Motiv der ‚edlen Lüge‘ steht (4.), die praktisch-philosophi-
sche Dimension des erkenntnislogischen Defizits in Mannheims Ansatz (5.).
11 Lepsius, M. Rainer. 1961. Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft.
Wiesbaden: Franz Steiner, S. 1 – 2.
12 Lepsius, M. Rainer. 1990. Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen. In Interessen,
Ideen und Institutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 270 – 285.
13 Lévi-Strauss, Claude. 1981. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
14 Kuhn, Thomas S. 1967. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp; Luhmann, Niklas. 1978. Handlungstheorie und Systemtheorie. Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie 30, S. 211 – 227.
15 Knorr Cetina, Karin. 2002. Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissens-
formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
16 Eine ausführlichere Rekonstruktion dieser Perspektive, die gegenüber dem vorliegenden
Text andere Schwerpunkte der Darstellung hat, bietet: Gostmann, Peter. 2019. Die Soziologie
des Geistes. Systematik und Praxis. In Soziologie des Geistes. Grundlagen und Fallstudien zur
Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, hrsg. Peter Gostmann und Alexandra Ivanova. Wiesba-
den: Springer VS, S. 9 – 61.
54 Peter Gostmann
Ein Schlüssel für das Verständnis von Mannheims Ansatz ist die Gegenüberstel-
lung von „Idee“ und „Ideologie“, die er als Siglen für zwei unterschiedliche „Be-
trachtungsweisen derselben [geistigen] Gebilde“, die aus den „Einstellungen“ der
sie Betrachtenden sich ergeben, einsetzt. Wo ein geistiges Gebilde (wie es z. B. in
einem Skript oder in einer Rede materialisiert ist), wenn sein Betrachter es „,von
innen heraus‘“ erfasse, von ihm als Idee „,erleb[t]‘“ werde, erlebe ein Betrachter,
der dem Gebilde „von einem außerhalb seiner liegenden Sein her“ begegne, es als
Ideologie.17
Für die Soziologie versteht sich als „Aufgabe“ eine „Außenbetrachtung“, zumal
eine solche Betrachtungsweise, da sie „ab einer bestimmten historischen Stufe“ als
voraussetzbar“ gelten könne, „prinzipiell jedem zumutbar“ ist. Indem ein Soziolo-
ge die „Idee“, die ein Skript, das er liest, oder eine Rede, die er verfolgt, prätendiert,
„als Ideologie erlebt“, unterscheidet seine Einstellung sich von derjenigen Einstel-
lung von Lesern bzw. Zuhörern, die im gebotenen „Sinngehalt“ gleichsam „[a]uf-
gehen“.18 Dabei soll seine Form der Außenbetrachtung unterschieden sein von
derjenigen von Lesern bzw. Zuhörern, die in der „ideologischen Sphäre“ verblei-
ben, obschon sie (den Möglichkeiten ihrer historischen Stufe entsprechend) mit
der prätendierten Idee sich nicht identifizieren, sondern ihr in den Formen des
„Zweifel[s]“ oder der „Negation“ begegnen. Denn dies sind Einstellungen jeman-
des, der selbst (gegenstrebig den Aktivisten dieser Idee) Partei ist. Ein Soziologe
dagegen soll ein Skript bzw. eine Rede unter „Rekurs auf das historische Gesamt-
subjekt und dessen Verhaltensweisen“ betrachten.19 Derjenige Leser bzw. Zuhörer,
der bei Einstellungen des Zweifels oder der Negation verbleibt, ist, ebenso wie der
Schreiber oder Redner selbst, ein Element dieses Gesamtsubjekts. Daher lässt die
Güte der soziologischen Betrachtung eines Skripts bzw. einer Rede danach sich
bemessen, ob es ihrem Protagonisten gelingt, solche gegenstrebigen Elemente als
Aspekte einer umfassenden Größe, zu der sie gemeinsam mit Skripten und Reden
beitragen, kenntlich zu machen.
Eine solche Einheit eines historischen Gesamtsubjekts, zu der verschiedene,
teils gegenstrebige Elemente gemeinsam beitragen, hat, so Mannheim, bereits Karl
Marx in Begriffen der „bürgerlichen Gesellschaft“ gekennzeichnet. Marx habe die
17 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 213 – 214.
18 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 215 und
214.
19 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 215. Vgl.
Mannheim, Karl. 1964. Das Problem einer Soziologie des Wissens. In Wissenssoziologie.
Neuwied: Luchterhand, S. 308 – 387.
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 55
„juristischen“ oder „politischen“ Skripte bzw. Reden der Zeit einer Außenbetrach-
tung unterzogen und folgerichtig in ihnen „[I]deologische[s]“ identifiziert, wes-
wegen er sich zum Zweck der Analyse jener ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ statt mit
solchen geistigen Gebilden vorrangig mit „ontisch realere[n] […] Konflikte[n]“,
nämlich den „in den ökonomischen Produktionsbedingungen vorhanden[en]“,
beschäftigen wollte.20 Diese Forschungsentscheidung weist Marx allerdings noch
nicht als Soziologen nach Mannheims Façon aus. Denn in ihrem Sinn rekurriert
er nicht auf das historische Gesamtsubjekt: die bürgerliche Gesellschaft in der Ge-
samtheit der Erfahrungszusammenhänge, die sie konstituieren; sondern er hebt
„eine[n] bestimmten Erfahrungszusammenhang“ besonders hervor. Anders ge-
sagt, er ist Partei geblieben, ersichtlich daran, dass er in Form der „Setzung ei-
ner Seinshierarchie“ (der gemäß die ökonomischen Produktionsbedingungen rea-
ler sind, als juristische oder politische Skripte bzw. Reden) verfährt und, dieser
Setzung entsprechend, von „der Dignität nach verschiedene[n] Erkenntnisarten“
ausgeht. Mannheim schlägt dagegen für die Soziologie vor, Marx’ Setzungsweise
als Element einer „positivistische[n] Lösung“ des Problems der Gesellschafts-
betrachtung zu verstehen, zu der als weitere Elemente z. B. die Prätentionen „bio-
logische[r]“ („Rasse“) oder „psychologische[r] („Macht-, Nahrungs- und sonstige
Triebe“) Ideen zählen.21
Mannheim würde seinen eigenen Vorgaben widersprechen, wenn er den Set-
zungen, die Marx und andere Vertreter der positivistischen Lösung des Problems
der Gesellschaftsbetrachtung vornehmen, nun seinerseits vorrangig in Form von
Zweifel oder Negation begegnete. Dessen bewusst sucht er das historische Ge-
samtsubjekt nicht abseits dieser Lösung, sondern in einer Verbindung der posi-
tivistischen und der ihr korrespondierenden „idealistischen Außenbetrachtung“,
für die namentlich „die Hegelsche Lösung“ steht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass
hier wie dort „Ideen“ prätendiert werden, die auf Substrate eines „letzthinnigen
Seins“ hin „funktionalisiert werden sollen“.22 Im Zuge der Bearbeitung solcher
durch Außenbetrachtung gewonnenen Funktionalisierungsvorstellungen ema-
niert Mannheim zufolge „neue[r] Sinn“, was er als das „Wunder eines jeden his-
torischen Denkens“ bezeichnet: „daß wir – historisch weitergetrieben – früheren
Gehalten gegenüber Distanz gewinnen und dadurch diejenigen geistigen Gehalte,
die wir zunächst ‚von innen heraus‘ erfaßt haben, später von ‚außen her‘ erfassen,
und diese in ihren Konturen sichtbar gewordenen Gehalte auf die, für uns bereits
20 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 217. Vgl.
Marx, Karl. 1859. Zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: F. Duncker.
21 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 217.
22 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 218 – 219.
56 Peter Gostmann
23 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 220 – 221.
24 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 220.
25 Mannheim, Karl. 2008. Das Problem der Generationen. In Schriften zur Wirtschafts- und
Kultursoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 121 – 166, hier S. 135.
26 Mannheim. Das Problem der Generationen, S. 139.
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 57
[…], das politische Denken“ und „das Denken in den Geistes- und Sozialwis-
senschaften“ in deren seinsverbundenen Anteilen, die sie zugleich dem „Denken
des Alltags“ verbinden. Die Einheit der öffentlichen Seinsauslegungen bezeichnet
Mannheim als ein „profunderes […] ‚Man‘“ (gegenüber jenem, von dem Heideg-
ger spricht).27
27 Mannheim. Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen S. 334 – 335. Vgl. Hei-
degger, Martin. 1993. Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.
28 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 221 und
S. 223.
29 Mannheim. Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, S. 364 – 365.
30 Mannheim. Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, S. 221 – 222.
58 Peter Gostmann
35 Gostmann, Peter, und Koolwaay, Jens. 2011. ‚Der Tag war da: so stand der Stern‘. C. H. Becker
und die Frankfurter Soziologie der Zwischenkriegszeit. In Zeitschrift für Ideengeschichte 5/3,
S. 17 – 32.
36 Mannheim. Ideologie und Utopie, S. 136.
37 Mannheim. Ideologie und Utopie, S. 137 und 132.
60 Peter Gostmann
Mit dieser letzten Feststellung haben wir den Punkt unserer Argumentation
erreicht, an dem wir, wie angekündigt, zum Zweck der Erläuterung des praktisch-
philosophischen Problems, das der erkenntnislogischen Defizienz der von Mann-
heim vorgeschlagenen Soziologie des Geistes korrespondiert, uns auf die Spur von
Platons Motiv der ‚edlen Lüge‘ begeben können. Um die Möglichkeit der gedank-
lichen Verknüpfung dieses Motivs mit Mannheims Bestimmung des Verhältnisses
von Idee und Ideologie zu verdeutlichen, können wir das skizzierte Problem des
Historismus auch wie folgt formulieren: Die Frage, ob es sich bei der Soziologie
des Geistes um eine Lüge handelt, stellt sich erst dann, wenn Synthesen nicht mehr
gefragt sind, d. h. sie nicht (nur) für die Unzeitgemäßen, sondern für die, die de-
finieren, was zeitgemäß ist, etwas Charakterloses geworden ist. Nach den Regeln
der Soziologie des Geistes selbst wird allerdings dann diese Frage, da die Mittel der
Soziologie des Geistes schon nicht mehr gefragt sind, bereits positiv beantwortet
sein: Es wird sie nur noch geben als etwas, das man als eine Lüge identifiziert hat.
Im Folgenden wollen wir zeigen, dass das Problem des ungeklärten Historismus
der Soziologie des Geistes eine praktisch-philosophische Dimension hat. Dazu
unternehmen wir ein Gedankenexperiment, das uns zunächst von Heidelberg auf
der Höhe des 20. Jahrhunderts in die Niederungen Athens nach den peloponnesi-
schen Kriegen führt. Zugleich bleiben wir mit ihm beim Problem der Lüge in der
öffentlichen Seinsauslegung.
Der Schriftsteller Platon, der seine Stadt nach der Wiederherstellung der De-
mokratie zuerst verlassen hatte und nach der Heimkehr, nach Jahren in Megara
und anderwärts, durch die sicher „die alte gewohnte Umgebung einen zusätzli-
chen Sinn erhalten hat,38 in seinem Haus unterrichtet, schreibt für einen umfang-
reichen, dem Problem der πολιτεία gewidmeten Dialog die Frage auf, „[w]elche
Möglichkeit […] es gäbe, einer Unwahrheit von […] unentbehrliche[r] Art […]
also eine einzelne, durchaus wohlgemeinte Lüge am liebsten den Regierenden
selbst, wo nicht, doch den übrigen Bürgern glaubhaft zu machen“.39 Platon legt
diese Frage Sokrates, der ihn unterrichtet hatte, in den Mund, der sie an Glau-
kon, Platons älteren Bruder, richtet. Neben Glaukon ist Platons ältester Bruder
Adeimantos anwesend. Er hat vorher die Fragen von Sokrates beantwortet,40 wo-
38 Schütz, Alfred. 2002. Der Heimkehrer. In Der Fremde als sozialer Typus, hrsg. Peter-Ulrich
Merz-Benz und Gerhard Wagner. Konstanz: UVK, S. 93 – 110, hier S. 104.
39 Platon. 1923. Der Staat. Leipzig: Felix Meiner, S. 128.
40 Platon. Der Staat, S. 75 – 104.
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 61
bei er von Glaukon übernahm,41 so wie der später wieder von ihm in der Rolle
des Fragenden abgelöst wird.42 Außer Glaukon und Adeimantos sind noch „ande-
re“ anwesend,43 neben einigen politischen Führern nicht zuletzt der Rhetorikleh-
rer Thrasymachos, der Sokrates zu einem früheren Zeitpunkt einen „böswillige[n]
Wortverdreher“ genannt hat. Thrasymachos hat ihm angekündigt, seine „bösen
Schliche bl[ie]ben nicht unbemerkt“,44 nachdem Sokrates beansprucht hatte, ge-
gen Thrasymachos’ Behauptung nachgewiesen zu haben, dass es „gerecht“ sein
könne, „das den Regierenden und Stärkeren Unvorteilhafte zu tun“.45
Platon lässt Sokrates seine Frage nach der Möglichkeit einer einzelnen, un-
entbehrlichen und wohlgemeinten Lüge als die Frage nach der Möglichkeit ei-
nes überzeugenden „Geschichtchen[s]“ behandeln, das jedenfalls mit „große[r]
Überredungskunst“ vorgetragen werden muss. Es bedarf für eine solche Lüge also
jedenfalls derjenigen Fähigkeiten, die Thrasymachos lehrt und die die anwesen-
den Politiker aus Gründen der Profession beherrschen sollten. Platons früherer
Konkurrent Thrasymachos ist denn auch in der Folge begierig, mehr über die Sa-
che zu hören.46 Die Adressaten der Lüge sollen die „Regierenden“, die „Kriegs-
männer“ und die „übrigen Bürger“47 der „Stadt“, die die Anwesenden im Gedan-
kenexperiment gründen, sein. Im Großen und Ganzen wollen sie diese ideale
Stadt gründen, ohne „Erzählungen zu dichten“, d. h. ohne Geschichtchen, da die
„Gründer“ einer Stadt ihrerseits deren „Gepräge“ doch „kennen“ sollten, dem „die
Darstellungen der Dichter“ auf eher unvollkommene Weise Ausdruck verleihen
werden.48 Der Gegenstand der einzelnen, für die Stadt unentbehrlichen und ih-
rem Wohl geschuldeten Lüge soll „alles“ sein, das die Adressaten bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt, den die Gründer definieren, „erlebten und an sich vor-
gehen sahen“. Nicht zuletzt „das Erziehungs- und Bildungswerk, das wir an ihnen
vollzogen“, soll den Adressaten wie ein „Traum“ erscheinen. Als die „Wahrheit“,
die tatsächlich dieser Traum verschleiert, soll diese einzelne, unentbehrliche und
wohlgemeinte Lüge behaupten, dass die Adressaten und alles, was die Stadt ihnen
mitgibt, „unter der Erde gebildet und erzogen wurden“. Die Moral, die aus dem
Geschichtchen folgen soll, lautet, dass man „für das Land […] mit Rat und Tat ein-
stehen“ soll, „wenn sich ein Feind gegen es regt“; dass man „gegen die übrigen Bür-
ger so gesinnt sein soll, wie gegen „Brüder“, da sie „gleichfalls Erdgeborene“ sind;
dass jeder der Bürger einem „seiner Natur entsprechenden Stand“ zugehört, und
die „Regierenden“ berufen sind, die Ämter der Stadt nach der Ordnung der na-
türlichen Begabungen zu vergeben.49 Wir wollen an dieser Stelle daran erinnern,
dass Platons Sokrates zuvor gegen Thrasymachos’ Behauptung gezeigt hat, dass es
„gerecht“ sein könne, „das den Regierenden und Stärkeren Unvorteilhafte zu tun“,
und dieser ihm daraufhin vor allen Anwesenden angekündigt hat, er werde seine
bösen Schliche bemerken.50
Bevor Sokrates das Geschichtchen berichtet hat, das die Gründer der Stadt in
Form einer einzelnen, für die Stadt unentbehrlichen und ihrem Wohl geschul-
deten Lüge unter die Leute bringen müssten, spricht er von seinen „gerechtfer-
tigten Bedenken“, diesen Bericht zu geben, und bezeichnet dies als „Kühnheit“.51
Nachher kommen Glaukon und Sokrates überein, dass diese „Erzählung“ den
„ersten Bürger[n] der Stadt“, den Zeitgenossen der Gründer, nicht „glaubhaft zu
machen“ wäre; „wohl aber ihren Söhnen und deren Nachkommen, sowie den wei-
teren künftigen Menschen“.52 Das Maß für den Erfolg einer solchen einzelnen,
unentbehrlichen und wohlgemeinten Lüge hatte Sokrates schon vorher im Zwie-
gespräch mit Adeimantos ermittelt. Es müsste sich um eine „wahrhafte Lüge“, han-
deln, d. h. um eine „Unwissenheit in der Seele“, nicht eine „Lüge in Worten“. Aller-
dings hält gerade diesen Zustand „jedermann“ für „am wenigsten wünschenswert“
und wiese eine solche Unwissenheit in seiner Seele, erführe er von ihr, „mit größ-
tem Abscheu von sich“, während er eine Lüge in Worten gelegentlich als „nützli-
ches Abwehrmittel“ schätzen wird.53 Dies gilt besonders, wenn es sich um einen
„Regenten“ handelt – der allerdings, „wenn ein Laie“ ihm „nicht die Wahrheit sagt“,
gerade im Fall einer der Stützen der Stadt, „ihn züchtigen“ wird „als einen, der ein
Verhalten einführt, das für die Stadt so umstürzend und verderblich ist wie für ein
Schiff ein Schiffbruch“.54
Uns interessiert, zu Zwecken des Vergleichs mit Mannheims Soziologie des
Geistes, die Frage der Sozialstruktur der Lüge. Sie umfasst zuerst die Gruppe der
Gründer. In der Form einer imagined community sind dies die Anwesenden: So-
krates, Glaukon, Adeimantos und die anderen; in der Stadt, existierte sie, wäre
dies Gruppe der Erzieher (zu der womöglich auch dann und wann Dichter und in
einigen Fällen Regierende zählen). Sie bilden die Gruppe derjenigen in der Ord-
nung der Lüge, die nur einmal lügen: wohlgemeint, d. h. um der Stadt Besten wil-
len, und nur in Worten. Von dieser Gruppe unterscheidet sich die Masse derjeni-
gen, die unwissend in ihrer Seele sind und wie die Gründer-Erzieher(-Dichter) in
Worten lügen, aber nicht unbedingt um der Stadt Besten willen: jedermann, der
nichts von der einen, für die Stadt unentbehrlichen und ihrem Wohl geschuldeten
Lüge der Gründer weiß und sie, erführe er von ihr, mit größtem Abscheu von sich
wiese. Diese große Masse umfasst Regierende (jedenfalls in der Regel), Kriegsmän-
ner und weitere Stützen der Stadt („den erleuchteten Seher, den Arzt, den Meister
des Baus“),55 daneben den großen Rest der übrigen Bürger. Die Regierenden un-
terscheiden sich von allen anderen, sofern diese unter ihren Gesichtspunkten Lai-
en sind. Sie alle sind zwar nicht Brüder, aber sollten um der Stadt Besten willen
sich als Brüder verstehen. Die Gründer-Erzieher(-Dichter) dagegen werden weder
sie noch sich als Brüder verstehen; aber sie sind zu dem Schluss gekommen, dass
um der Stadt Besten willen sie dieses Gepräge haben sollte. Daneben gibt es die
Gruppe der Feinde der Stadt. Es ist die Gruppe derjenigen, von der wenigstens die
Regierenden sicher annehmen oder jedenfalls behaupten, dass sie unwissend in
der Seele sind, während die Gründer-Erzieher(-Dichter) dies wissen, so wie sie
allerdings auch die Unwissenheit in den Seelen der Regierenden selbst kennen.
Wir wollen im Folgenden die Sozialstruktur der Lüge, die Platon Sokrates in
den Mund legt und ihn vor einer imagined community anwesender Erzieher und
Politiker erläutern lässt, als eine Soziologie des Geistes avant la lettre behandeln.
Was sie von der Soziologie des Geistes, die Mannheim vorschlägt, unterscheidet,
ist, wie wir sehen werden, eine Frage der praktischen politischen Philosophie.
In Mannheims Soziologie des Geistes steht an der Stelle, an der bei Platons So
krates die Gründer-Erzieher(-Dichter) stehen, die Gruppe der freischwebenden
Intellektuellen, zu denen auch Soziologen zählen, so wie Sokrates selbst neben
Glaukon, Adeimantos und den anderen Teil der imagined community der Grün-
der ist. Mannheims freischwebende Intellektuelle bilden ihrerseits allerdings eine
imagined society: ein experimentell gesteigertes Gelehrtenbürgertum, das nicht
eine Stadt gründet, sondern die Weltbilder und politischen Orientierungen par-
tikularer gesellschaftliche Gruppen im Rahmen eines bereits gegründeten politi-
schen Verbands (eines als föderative Republik verfassten Reichs) zeitlich befris-
tet befrieden soll. Freischwebende Intellektuelle interessieren sich nicht für die
Frage der Lüge in den Seelen der Bewohner des Verbandsgebiets, so wie Platons
55 Platon. Der Staat, S. 91. Vgl. Homer. 2003. Odyssee. In: Ilias – Odyssee. Düsseldorf: Patmos,
S. 439 – 7 76, hier S. 679.
64 Peter Gostmann
Gründer es tun; sondern für die Lügen in den Worten von Agenten der verbands-
öffentlichen Seinsauslegung, so wie Platons Gründer sich auch für die Lügen in
den Worten der Dichter und der Erzieher der Stadt interessieren. Freischweben-
de Intellektuelle interessieren sich für diese Lügen, um aus ihrer Zusammenschau
ein (bis auf weiteres) gültiges (nicht notwendig wahres) Wort (wie ‚Funktions-
sinn‘) über das Gesellschaftsganze zu destillieren, während Platons Gründer an
den Lügen in den Worten der Dichter und Erzieher interessiert, wie darauf hin-
zuwirken wäre, dass sie ausfallen möchten gemäß der einzigen, für die Stadt un-
entbehrlichen Lüge, d. h. nicht an die wohltätige Unwissenheit in den Seelen der
Bewohner der Stadt rühren. Anders als Platons Gründer, die nur einmal lügen,
aber in der Stadt zu deren Wohl nicht im Besonderen als Lügner kenntlich werden,
überantworten die freischwebenden Intellektuellen die Frage, ob ihre Worte Lüge
sind, dem Urteil ihrer Mitbürger (den Regierenden und den übrigen, die idealer-
weise allesamt Stützen der Gesellschaft sind). Im Sinn dieser Delegation gilt so-
lange, wie es den freischwebenden Intellektuellen gelingt, im politischen Verband
glaubhaft zu machen, ihre Worte dienten dem Wohl des Gesellschaftsganzen, dass
sie im Großen und Ganzen nicht gelogen haben. Während für Platons Gründer-
Erzieher(-Dichter) die eine Lüge um des Wohls der Stadt willen unentbehrlich ist,
wird es im Fall der freischwebenden Intellektuellen sich unvermeidlich zu einem
späteren Zeitpunkt herausstellen, nicht zuletzt in den Augen der freischweben-
den Intellektuellen folgender Generationen (sofern es dann freischwebende In-
tellektuelle geben wird), dass die gegenwärtige Generation in ihren Seelen rela-
tiv unwissend gewesen sein muss, weil ihre Worte relativ unzeitgemäß erscheinen.
Es spricht nichts dagegen, Erzieher und Dichter, auch Regierende oder Kriegs-
leute dem Kreis der freischwebenden Intellektuellen einzugemeinden, so lange sie
dem Prinzip der Synthese folgen: Einparteiungen in das politische Feld meiden,
auf die Befriedung der Weltbilder hinwirken und am höheren Sinn des Gesell-
schaftsganzen interessiert sind. Bei Platon sind, in der Figur Thrasymachos oder
dem ebenfalls anwesenden Rhetor Lysias, Erzieher jedenfalls Teil der Gründer-
gemeinde, ebenso wie, in den Figuren Glaukon, Adeimantos und dem ebenfalls
anwesenden Oligarchen Kleitophon, einige nobilitierte Bürger, die an der Regie-
rung Interesse haben und gegebenenfalls für die Stadt und die eigenen Interes-
sen in den Krieg ziehen. In der Figur Sokrates verbinden sich die beiden Figu-
rengruppen. Jedenfalls zählen zu dieser Gruppe keine Laien, längst nicht jede der
Stützen der Stadt, und schon gar nicht jedermann. Dagegen die freischwebenden
Intellektuellen, das Gelehrtenbürgertum eines als föderative Republik verfassten
Reichs, das existentiell sich und es zum Gesellschaftsganzen steigert, umfasst idea-
lerweise jedermann, wenn auch nicht oder nur mittelbar in seinen materiellen
Äußerungen, sondern im Geist und mittels des Agenten der öffentlichen Seins-
auslegung, der sein Weltbild oder seine politische Orientierung repräsentiert. Es
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 65
liegt der imagined society freischwebender Intellektueller, anders als der imagined
community der Gründer, nichts daran, ob die Regierenden und die übrigen Bür-
ger der Stadt sich als Brüder verstehen; sie sind eine Generation, unabhängig da-
von, ob der Einzelne dies „weiß oder nicht, […] sich ihr zurechnet oder diese Zu-
rechenbarkeit vor sich verhüllt“.56
Feinde im strengen Sinne der Annahme der Regierenden Platons, dass dies
Leute seien, die unwissend in der Seele oder jedenfalls gegen die Stadt sind, ken-
nen die freischwebenden Intellektuellen nicht. Selbst diejenigen im politischen
Verband, die das Prinzip der Synthese in Frage stellen und erklären, bei den frei-
schwebenden Intellektuellen handle es sich um Lügner, bilden nach den Regeln
der Soziologie des Geistes Elemente des Gebildes partikularer gesellschaftlicher
Gruppierungen, aus deren Weltbildern und politischen Orientierungen der Geist,
der das Gesellschaftsganze erfüllt, destilliert werden soll. Ob die Anwesenden in
Platons imagined community Feinde im Sinne der Annahmen der Regierenden
der Stadt kennen, ist zweifelhaft: Immerhin sind die Regierenden, wie wir gese-
hen haben, anders als die Gründer, in den meisten Fällen unwissend in der Seele,
und erst die einzelne, für die Stadt unentbehrliche und ihrem Wohl geschuldete
Lüge, auf der die Unwissenheit in ihren Seelen basiert, behauptet die strikte Un-
terscheidung der erdgeborenen Bruderschaft der Stadt und ihrer Feinde. Jeden-
falls aber hat innerhalb der Gruppe der Anwesenden Platons Sokrates einen Feind:
Thrasymachos, der ihn, nachdem er gegen dessen Behauptung gezeigt hat, dass
es gerecht sein kann, das den Regierenden und Stärkeren Unvorteilhafte zu tun,
einen bösartigen Wortverdreher genannt und ihm vor allen Anwesenden ange-
kündigt hat, er werde seine bösen Schliche bemerken. Sokrates hat sich Thra-
symachos nicht zum Feind gewählt, sondern der hat sich, wenn er auch beizeiten,
namentlich als es um Sokrates’ Geschichtchen geht, begierig scheint, an seinen
Überlegungen teilzuhaben, als sein Feind erklärt. – Wir wollen daher in der Fol-
ge näher betrachten, wie Sokrates sich zu Thrasymachos stellt, bevor wir uns zum
Abschluss die Frage vorlegen, in welchem Verhältnis Mannheim zu einem solchen
Thrasymachos stünde.
Der Konflikt zwischen Sokrates und Thrasymachos umfasst wegen des Ge-
genstands, an dessen Analyse er sich entzündet, von Beginn an eine dritte und
eine vierte Partei: die Gruppe der Regierenden und Stärkeren, zu deren Nach-
teil zu verfahren nach Sokrates’ Urteil beizeiten eine gerechte Sache sein soll; und
die Gruppe derjenigen, die beizeiten zum Nachteil der Regierenden und Stärke-
ren verfahren möchten. Die Lage ist insgesamt für Sokrates unangenehmer, als sie
es für Thrasymachos ist. Thrasymachos könnte, wenn es ihm, wie er es ankündigt,
gelänge, Sokrates als bösartigen Wortverdreher kenntlich zu machen, gegebenen-
falls in der Form eines Geschichtchens, durch das er den Regierenden und Stär-
keren glaubhaft machen kann, dass sein Kontrahent ein Feind der Ordnung: ein
Revolutionär, ist, diesem beträchtliche Schwierigkeiten bereiten. Dagegen Sokra-
tes mag sich mit seiner Beweisführung zwar die Sympathien einiger oppositionel-
ler Laien und potentieller Revolutionäre, die er ins Recht setzt, sichern, wird aber,
wenn er einmal in Schwierigkeiten geraten ist, nicht unbedingt auf sie zählen kön-
nen (wenn nicht gerade der Fall einträte, dass die Revolution ausbricht).
Wegen dieser misslichen Lage muss Sokrates, schon bevor er ausdrücklich be-
ginnt, das Geschichtchen für die imaginären Gründer der idealen Stadt zu erläu-
tern, mit einem es begleitenden Geschichtchen für Thrasymachos beginnen, das
er nicht ankündigt. Dieses Geschichtchen bereitet Platons Sokrates durch eine dia-
lektische Operation vor, mit deren Hilfe er deutlich macht, dass sein Beweis, dem-
zufolge es gerecht sein könnte, zum Nachteil der Regierenden und Stärkeren zu
agieren, nicht dazu geeignet ist, die Rechte der Regierung zu bestreiten, solche
Aktionen scharf zu verurteilen (,umstürzend und verderblich‘ zu nennen) und zu
verfolgen (die Agenten zu ‚züchtigen‘) – dass er ein solches Vorgehen im Gegenteil
für selbstverständlich hält. Es wird demnach für Thrasymachos nicht so einfach
sein, glaubhaft zu machen, Sokrates sei ein Feind der Ordnung. Überdies rückt
Sokrates auf diese Weise das Problem, an dem der Konflikt mit Thrasymachos sich
entzündet hatte, gegenüber der Frage der Regierungskunst, an der Thrasymachos
von Berufs wegen beteiligt ist, in den Hintergrund. Indem dann Platons Sokrates,
bevor er mit dem Geschichtchen für die imaginären Gründer der idealen Stadt
beginnt, Tugend und Sorge dessen aufruft, der die Regierung lehrt (die ‚Kühn-
heit‘, deren es bedarf, Politikern und Kriegsmännern eine wahrhaftige Lüge zu
empfehlen, und die ‚gerechtfertigten Bedenken‘, was der Vortrag einer solchen
Lüge auslösen mag), stellt er heraus, was sie beide verbindet und von allen an-
deren Anwesenden trennt. Mit Beginn des Geschichtchens selbst, an dessen Bei-
spiel Thrasymachos der Überlieferung zufolge Sokrates nicht böser Schliche an-
geklagt hat, ist Thrasymachos dann, wie alle Anwesenden, ein Teil der imagined
community von Gründern nach Sokrates’ Vorgabe, unter denen er in Sonderheit
mit ihm den Lehrberuf und einen früheren Konflikt über die Frage der Gerechtig-
keit teilt. Sofern der Gründer einer idealen Stadt, die noch nicht existiert, ein po-
tentieller Revolutionär ist, können wir sagen, dass mit Beginn der Erläuterung sei-
nes Geschichtchens Thrasymachos und er selbst mit den anderen Anwesenden in
der Teilhabe an einer imagined community von Revolutionären verbunden sind.
Mannheims Thrasymachos ist keine Einzelperson, sondern sind bestimmte
partikulare gesellschaftliche Gruppierungen und Prätendenten von solchen Welt-
bildern oder politischen Orientierungen, die auf eine nicht-synthetische Gestalt
des Gesellschaftsganzen oder auf andere Gestaltganzheiten (ein anderes Reich
oder eine andere Republik) hinauslaufen. Dies sind alle die Gruppen, die die ver-
Karl Mannheim, der Geist der Gesellschaft und das Problem der edlen Lüge 67
bandliche Ordnung ablehnen, welche einer etablierten Soziologie des Geistes die
Freiheit des routinierten Experimentierens garantiert; wir können diese Gruppe
die der oppositionellen Laien und potentiellen Revolutionäre nennen. Solange die
dynamische Synthese das verbandlich anerkannte Mittel der Organisation der Zu-
griffe im Gesellschaftsapparat und der Orientierung der Menschen über die so-
zialen und politischen Prozesse ist, werden diese Gruppen, ob erklärt oder nicht,
auch die Feinde der freischwebenden Intellektuellen sein, die die Soziologie des
Geistes praktizieren, weil diese die geltende Ordnung, die sie ablehnen, mit der
Dignität eines höheren Sinns ausstatten. Wenn die Lage der freischwebenden In-
tellektuellen beizeiten unangenehm wird, dann also wegen der Oppositionellen
(oder im Fall der Revolution). Während Platons Sokrates damit rechnen muss,
dass Thrasymachos tatsächlich unwissend in der Seele ist, d. h. nicht seinen Be-
weis, dass es beizeiten gerecht ist, zum Nachteil der Regierenden zu handeln, als
eigene Erkenntnis anerkennt, sondern wegen der Niederlage im Streit um die
Wahrheit, d. h. aus niederen Motiven, seinen Kontrahenten denunzieren könnte,
rechnet Mannheims freischwebender Intellektueller, da ihn nur die Worte seiner
Thrasymachen interessieren, nicht mit der Unwissenheit in deren Seelen. Die dia-
lektische Operation, die er vollzieht (die Synthese), dient denn auch der (geisti-
gen) Integration der Opponenten trotz deren Ablehnung, nicht der Absicherung
gegen deren niedere Absichten.
Überhaupt spielt es für die Erkenntnisbildung des freischwebenden Intellek-
tuellen keine Rolle, ob die Prätendenten der Weltbilder und politischen Orien-
tierungen, aus denen er einen höher gelagerten Sinn destilliert, unwissend in der
Seele sind, niederen oder höheren Motiven folgen. Selbst wenn jeder einzelne von
ihnen gegebenenfalls die persönliche Revanche der Anerkennung der Wahrheit
vorzöge, Tugend und Sorge seines Berufs ignorierte und die Frage der Gerech-
tigkeit zum Nachteil aller behandelte, stellte dies den Erfolg der Synthese, den
kennzeichnet, zeitgemäß den Geist, der das Gesellschaftsganze erfüllt, zu erfassen,
nicht in Frage. Platons Sokrates kommt zur Frage der Einheit der Stadt (mit sei-
nem Gründer-Geschichtchen) in Konsequenz des Konflikts, der sich an der Fra-
ge der Gerechtigkeit entzündet hat; d. h. von den Unterschieden (zwischen Regie-
renden und Regierten, Stärkeren und Schwächeren, Politikern und Laien, Lehrern
der Wahrheit und Lehrern der Meinungsbildung) her. Daher muss er die Kunst
der differenzierten Rhetorik, die wir uns am Beispiel der Verhältnisse zwischen
Sokrates und Thrasymachos verdeutlicht haben, genauestens befolgen.
Wir können sagen, dass Sokrates, schon um sich und die Wahrheit, der Thra-
symachos’ Feindschaft gilt, zu schützen, auf Grundlage der Kenntnis der Sozial-
struktur der Lüge agiert. Dagegen Mannheims freischwebender Intellektueller, da
er mit der Vorstellung der Einheit (dem Prinzip der Synthese) beginnt, ist nicht
darauf eingestellt, die Feinderklärungen seiner Thrasymachen ernst zu nehmen.
68 Peter Gostmann
Allgemein spielt für den freischwebenden Intellektuellen die Kunst der differen-
zierten Rhetorik, schon weil er nicht zwischen den Lügen in den Seelen und den
Lügen in den Worten unterscheiden muss, keine Rolle. Nach dem Anteil, der in
der Praxis der Soziologie des Geistes dem rhetorischen Element als der Form der
äußeren Gestaltung der Verhältnisse von Wahrheit und Gerechtigkeit zukommt,
ist demnach die Praxis des Sokrates gegenüber der Praxis der freischwebenden In-
tellektuellen die politisch-philosophisch raffiniertere. Allerdings ist, trotz des grö-
ßeren Raffinements der Praxis des politischen Philosophierens, das Platons gegen-
über Mannheims Protagonisten auszeichnet, keinesfalls sicher, dass es auf diese
Weise gut ausgeht. Bekanntlich musste später Sokrates sich, ohne Erfolg, gegen die
Anklage verteidigen, dass er „wider die Gesetze [frevelt] und […] Unfug [treibt],
indem er dem nachspürt, was unter der Erde ist und was am Himmel sich zeigt,
und die schlechte Sache zur guten macht, zudem auch andere in ebendiesen Din-
gen unterweist“.57
Literatur
57 Platon. 1922. Apologie des Sokrates. In Apologie des Sokrates und Kritias. Leipzig: Felix Mei-
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Das Ganze ist das Wahre/Unwahre
Der Totalitätsbegriff als Mittel der Kritik
und die soziologische Kritik des Totalitätsbegriffs
Dirk Tänzler
Das Verhältnis der Teile zum Ganzen ist eine der klassischen Grundfragen der
Philosophie. Urbild des Ganzen ist der Organismus. Sieht Platon das Ganze, näm-
lich das Zusammenleben in Harmonie und die Einheit als Telos des Staates, wie
später Thomas Hobbes, ist das Ganze für Aristoteles – und ihm folgend wird
Hannah Arendt Macht definieren1 – Grund, nämlich der Vielheit, der funktiona-
len Differenzierung der Einheit. Platons Wächterstaat ist dann auch eine geschlos-
sene kommunistische Gesellschaft, Aristoteles Republik dagegen eine im Prinzip
offene, auf Ungleichheit beruhende Gesellschaft im Popperschen Sinne.2 Platon
und Aristoteles gemeinsam ist die Vorstellung, daß die Gemeinschaft (koinonia)
ein Organismus (zoon, soma), somit Teil der Natur sei. Das klingt in der Sozio-
logie bis heute nach. Noch Émile Durkheim begreift die Arbeitsteilung als etwas
Organisches, zur Natur des Menschen und der Gesellschaft Gehörendes: Im Un-
terschied zur rein technisch-mechanistischen Sicht der Ökonomen (Nutzenmaxi
mierung) ist Arbeitsteilung, soziologisch betrachtet, eine Form der Solidarität
und damit Sozialität.3
Das Denken des Ganzen, so Dieter Henrich, ist Metaphysik, in der Antike als
Rede vom Sein, in der Moderne als Diskurs über das Nichts. Nichts ist aber keine
Gegebenheit oder ein Zustand, sondern, so Henrich, eine Erfahrung, die Erfah-
rung des Bewußtseins.4 Wurde das Problem der Ganzheit in der Antike ontolo-
gisch behandelt, so in der modernen Subjektphilosophie hauptsächlich epistemo-
logisch. Hegel vermittelt die ontologische und die erkenntnistheoretische Frage:
alle Erscheinungen sind nur Ausdruck und damit Teil eines sich reflektierenden
Ganzen, der analytisch ur-teilenden und synthetisch vereinheitlichenden Arbeit
des Begriffs. Louis Althusser spricht von einer geschlossenen „expressiven To-
talität“5 bei Hegel, der er ein „schon gegebenes komplexes, strukturiertes Gan-
zes“6, also die Idee eines offenen Systems bei Karl Marx gegenüberstellt. Jenseits
einer rein wissenschaftstheoretischen Betrachtung wie bei Althusser läßt sich mit
Marx auch eine dritte, nicht zuletzt durch die Soziologie propagierte Sicht- und
Vorgehensweise verbinden, die konstruktivistische. Konstruktivismus meint, daß
Wissen („Idealität“) nicht Wirklichkeit („Phänomenalität“) abbildet, sondern her-
vorbringt, ontologisch gesprochen: nicht das Sein, aber die Erscheinungen. Die
Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem berührt also das Verhältnis von
Wahrheit und Wirklichkeit. Edmund Husserls Intentionalitätsthese7 besagt in die-
sem Sinne, daß wir Welt nur als Wissen haben, also Wissen die primordiale Bezie-
hungsform des Menschen zur Welt ist.
Im Folgenden wird in aller Kürze das Totalitäts- und Schließungsproblem
bei Hegel, Marx und Niklas Luhmann – der sich selbst ja für den einzig wahren
Husserlianer hielt – behandelt und zwar vor dem Hintergrund der zwei klassi-
schen Grundmodelle von Staat und Gesellschaft: die platonische Einheit und die
aristotelische Vielheit. Zum Schluß wird ein praktisches Anwendungsbeispiel ge-
geben.
Totalität gibt es nicht, sondern, so Hegel, ist ein Werden, der Prozeß des Hervor
bringens von Wirklichkeit, die in einem Spannungsverhältnis steht zur Wahr-
heit. „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“.8
4 Henrich, Dieter. 2016. Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin.
München: C. H. Beck.
5 Althusser, Louis, und Etienne Balibar. 1972. Das Kapital lesen. Band I. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt, S. 17.
6 Althusser, Louis. 1968. Für Marx. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 137 – 146.
7 Husserl, Edmund. 1992. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie. In Edmund Husserl Gesammelte Schriften. Band 5, hrsg. Elisabeth Ströker.
Hamburg: Meiner, S. 187 ff.
8 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Natur-
recht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Theorie Werkausgabe. Band 7, hrsg. Eva Mol-
denhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 24.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 73
Lesen wir den berühmten Satz aus der Rechtsphilosophie einmal nicht als Ak-
kommodationsbekenntnis, sondern nehmen es philosophisch ernst, dann meint
Hegel hier, daß nicht alles Denken Substanz und damit Bestand hat, sondern nur
das, was sich im Wirklichkeit hervorbringenden Handeln bewährt, so wie wir ja
auch sagen, daß eine Handlungsabsicht ehrenvoll gemeint sein mag, aber eben
unrealistisch und d. h. unvernünftig ist, weil sie doch dem übergeordneten Hand-
lungszweck, der Selbstbehauptung, entgegensteht. Der Zweite Halbsatz meint, daß
alles was ist, Vernunft verkörpert, aber eben auch, daß das, was keine Vernunft in
sich birgt, kein anderes Recht hat als unterzugehen. Was Vernunft ist, zeigt sich in
der Wirklichkeit. Beide Bestimmungen, Vernunft und Wirklichkeit, enthalten die
jeweils andere als notwendiges Korrelat, wir können auch sagen: Voraussetzung,
in sich. Damit ist aber die Differenz nicht aufgelöst, sondern diese treibt zu höhe-
rer Einheit. In dieser Totalität sind sie aufgehoben – insofern ist das Ganze und
sind nicht die Teile für sich das Wahre, da aber nur Teile („Individualitäten“) sind,
ist das Wahre nichts, bestimmte Negation, Prozeß, in der Phänomenologie des
Geistes ein Bildungsprozeß, in dem die Wahrheit durch Kritik, d. i. bestimmte Ne-
gation der Meinungen herausgearbeitet wird. Die Geschichte ist so gesehen Fort-
schritt im Bewußtsein der Freiheit, und Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit,
in die Vernünftigkeit der Weltgeschichte. Die moderne Metaphysik des Nichts
schlägt dialektisch um in eine antikisierende Metaphysik des Seins.
In Hegels geschlossener Totalität kommt der sich in die Natur und Geschichte
entäußernde und damit sich selbst bestimmende Geist schließlich zu sich und
damit der ganze Weltprozeß zu einem Ende. Diesen Bildungsprozeß des Geistes
entziffert Marx als Abbild der die bürgerliche Gesellschaft totalisierenden öko-
nomischen Vernunft. Deren selbstzerstörerisches Potential (Aufhebung der Vor
aussetzung, auf denen sie beruht, die sie aber nicht selbst hervorbringen kann)
betrachtet Marx als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit und einer neuen ganz-
heitlichen Lebenspraxis in einer offenen, herrschaftslosen Gesellschaft, bringt also
Aristoteles’ Idee der Vielheit und damit das Prinzip der Alterität gegen den totali-
tären Identitäts- und Schließungszwang des Kapitalismus (z. B. manifest im gren-
zenlosen Wachstumspostulat, das der Endlichkeit der Welt und ihrer Ressourcen
widerspricht) wieder zur Geltung. Marx unterscheidet zwei Begriffe der Totalität:
einen utopisch positiven der Anthropologie mit dem Zentralbegriff der Arbeit
als Selbsterschaffung des menschlichen Gattungswesens von einem methodolo-
gisch negativen der Kapitalismusanalyse mit dem Zentralbegriff der entfremdeten
Lohnarbeit, genauer: der abstrakt gesellschaftlichen Arbeit.
74 Dirk Tänzler
9 Marx, Karl. 1972. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In Marx-En-
gels-Werke, Band 23. Berlin: Dietz, S. 27.
10 Marx, Karl. 1974. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz, S. 22.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 75
und entmündigt dem Arbeitszwang ausgesetzt ist.11 Das den Kapitalismus fun-
dierende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist ein Verstoß gegen das uni-
verselle Brüderlichkeitsgebot („Menschenrechte“) als Voraussetzung des gelten-
den Gesellschaftsvertrages. Die „falsche“ Gleichheit der bürgerlichen Gesellschaft
wurzelt nach Marx in der Realabstraktion des geldvermittelten Warentauschs. Die
Warenanalyse mit dem rätselhaften Anhang zum Fetischismus – immerhin ein re-
ligionswissenschaftlicher Begriff – berührt bekanntlich den Kern der Marxschen
Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie.12
In der Warenanalyse zeigt Marx, daß der Wert keine objektive Eigenschaft der
Dinge ist, sondern eine Vorstellung, die aus dem Vergleich von Dingen, also einem
sozialen Handeln resultiert. Tertium comparationis des Tauschwerts, darauf läuft
die Argumentation dann hinaus, ist das Geld, die absolute Ware und diese ver-
weist auf die Totalität, nämlich die Reproduktionsgesetzlichkeit des Kapitalismus
(W–G–W’).13 Bedingung des Praktischwerdens der Reproduktionsgesetzlichkeit
ist ihre Undurchschaubarkeit für den praktischen Menschen und ihre Verding-
lichung und Fetischisierung zur zweiten Natur. Totalität meint damit nicht mehr
Harmonie, Vermittlung des menschlichen Seins mit seinem Gattungswesen, son-
dern sein Gegenteil: Zwangszusammenhang. Den Zusammenhang der bürger-
lichen Welt, um Marcus Gabriels Neuen Realismus zu kolportieren, gibt es nicht,14
es sei denn in der Vorstellung der Marktteilnehmer, die sich entsprechend verhal-
ten. Die Vorstellung ist totalitär, weil in der bürgerlichen Gesellschaft die Tendenz
besteht, alle Lebensbereiche, wie die Frankfurter Schule nicht müde wird zu beto-
nen, dieser ökonomischen Tauschrationalität zu unterwerfen und damit ihre eige-
ne Voraussetzung, nämlich die funktionale Differenzierung, aufzuheben.
Der Clou der Marxschen Theorie besteht nun allerdings darin, daß der Ge-
genstand als und in Totalität nur dargestellt werden kann, weil der Gegenstand
herrschende Totalität, ein unter Bedingungen der Realitätsverkennung reprodu-
zierter gesellschaftlicher Zwangszusammenhang, ist und die dialektische Syn-
these der Theorie nur als „Abbild“ oder Modell einer Realabstraktion, d. i. realer
Subsumtion der sinnlichen Wirklichkeit und Mannigfaltigkeit unter ein abstrak-
tes Wertgesetz, die Logik des Kapitals, gelingt. Solche instrumentelle Vernunft ist
11 Weber, Max. 1976. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Fünfte,
revidierte Auflage. Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 439 f.
12 Vgl. Backhaus, Hans-Jürgen. 1997. Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen
Ökonomiekritik. Freiburg im Breisgau: Ça ira.
13 Marx. Das Kapital.
14 Gabriel, Markus. 2013. Warum es die Welt nicht gibt. Berlin: Ullstein.
76 Dirk Tänzler
Herrschaft.15 Marx’ wissenschaftliche Analyse ist nicht nur eine positive Theorie,
sondern als solche zugleich ein einziges moralisches Urteil über die schlechte
Totalität der Wirklichkeit. Entsprechend heißt es bei Theodor W. Adorno: „Das
Ganz ist das Unwahre.“16 Dem wird eine utopische Ganzheit des Menschen als
mit seiner Natur versöhntem Sinneswesen und Mitglied eines herrschaftslosen
Vereins freier Menschen gegenübergestellt. In seinen von Feuerbach beeinflußten
Frühschriften spricht Marx in Bezug auf die Sinnlichkeit von „Positivität“ im Sin-
ne eines „ganzheitlich“ erfüllten Seins, d. h. Selbstverwirklichung als Vermittlung
mit seinem Gattungswesen,17 das, so ernst Ernst Bloch, im Zustande des „Noch-
Nicht“ verharrt und wie Dornröschen auf Erlösung wartet.18
Alles kritische Denken ist Denken des Ganzen und insofern metaphysisch. To-
talität meint in der Kritischen Theorie Strukturzusammenhang im oben erläuter-
ten Marxschen Sinne als Gesellschaft, die, da nur Individuelles ist, als Allgemeines
der Erfahrung nicht gegeben ist und als Bedingung der Möglichkeit, Vorausset-
zung der mannigfaltigen Wirklichkeiten theoretisch erschlossen werden muß. Die
Totalität ist keine bloße wissenschaftliche Konstruktion, sondern Resultat der Re-
konstruktion des sinnlich nicht wahrnehmbaren Strukturzusammenhangs, d. h.
der wie auch immer verzerrten Vernunft in der gesellschaftlichen Praxis. Der kri-
tische Kritiker rekonstruiert aus den Einzelerscheinungen etwa der bürgerlichen
Ökonomie das Ganze oder das System der in der ökonomischen Lehre verborge-
nen Voraussetzungen der Ökonomie. Kritische Theorie ist negative Metaphysik
als Auflösung dogmatischen, sich seiner eigenen Denkvoraussetzungen nicht be-
wußten, Denkens. Das Resultat ist kein absolutes Wissen, sondern, wie wir heute
sagen würden, Dekonstruktion, Verschieben der Fragestellung. Die klassische Ar-
beitswertlehre von Smith und Ricardo stellt Marx insofern auf den Kopf, daß er
zeigt, wie ihr Festhalten am Begriff der konkreten Arbeit als Prinzip der Selbstver-
wirklichung des bürgerlichen Menschen, sie daran hindert, die hinter der Ausbeu-
tung und Entfremdung produzierenden Lohnarbeit versteckte abstrakt allgemei-
ne Arbeit zu entdecken.19
15 Horkheimer, Max, und Theodor W. Adorno. 1987. Dialektik der Aufklärung. In Max Hork-
heimer Gesammelte Schriften. Band 5, hrsg. Alfred Schmidt und Gunzlin Schmid Noerr.
Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 142 f.
16 Adorno, Theodor W. 1980. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In
Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften. Band 4, hrsg. Rolf Tiedemann. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, S. 55.
17 Marx, Karl, und Friedrich Engels. 1968. In Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband 1. Berlin:
Dietz, S. 510 – 521.
18 Bloch, Ernst. 1959. Das Prinzip Hoffnung. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 129 – 203.
19 Marx: Das Kapital, S. 61, 94 f., 181.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 77
20 Lukács, Georg. 1965. Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die For-
men der großen Epik. Neuwied und Berlin: Luchterhand. Der Satz findet sich in der be-
rühmten Passage Seite 27 f.: „Unsere Welt ist unendlich groß geworden und in jedem Win-
kel reicher an Geschenken und Gefahren als die griechische, aber dieser Reichtum hebt den
tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf: die Totalität. Denn Totalität als formendes
Prius jeder Einzelerscheinung bedeutet, daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann; voll-
endet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres
Außen hinweist; vollendet, weil alles in ihm zur eigenen Vollkommenheit reift und sich er-
reichend sich der Bindung fügt. Totalität des Seins ist nur möglich, wo alles schon homo-
gen ist, bevor es von den Formen umfaßt wird; wo die Formen kein Zwang sind, sondern
nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Innern des
zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat; wo das Wissen die Tugend ist und
die Tugend das Glück, wo die Schönheit den Weltsinn sichtbar macht. (…) Das ist die Welt
der griechischen Philosophie.“
21 Lukács. Theorie des Romans, S. 25.
22 Lukács. Theorie des Romans, S. 35.
23 Adorno, Theodor W. 1973. Negative Dialektik. In Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften.
Band 6, hrsg. Ralf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
24 Helmuth Plessner hat den auf Rousseau zurückgehenden, normativ aufgeladenen kulturkri-
tischen Begriff der Entfremdung, der das Individuum als vorsoziale Entität evoziert, im Rah-
men der Rollentheorie positiv gewendet zur anthropologischen Bedingung menschlicher
Freiheit durch Distanzwahrung zu sich und anderen. Vgl. Plessner, Helmuth. 1985. Das Pro-
blem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung. In Helmuth Plessner Gesammelte
Schriften X. Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
S. 212 – 226.
25 Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funk-
tionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 492 – 505.
78 Dirk Tänzler
bestimmbar als ein Gebilde, das, radikal verschieden von der Summe seiner Teile,
sich … in jedem seiner Teile wiederfindet. (…) Da diese Realität der Voraussetzung
nach eine geschaffene ist …, kann sie nur in der Vorstellung, das heißt als Korre-
lat eines Aktes der Phantasie existieren. Der ontologische Status … ist der des An-
sich oder … der Trägheit. Die synthetische Einheit, die diesen Totalitätsanschein
hervorbringt, kann keine Handlung, sondern nur die Spur eines vergangenen Ak-
tes sein. … diese passiven Totalitäten (schaffen) jenes Verhältnis zwischen den
Menschen (…), das wir das Praktisch-Inerte nennen … Diese menschlichen Ge-
genstände müssen in der menschlichen Welt studiert werden.“26 Ganzheitliche Er-
kenntnis ist für Sartre ein Privileg der dialektischen Vernunft, welche die, von
Marx als mit einem naturalisierenden Fetischschleier verbrämten, Objekte als
durch menschliche Praxis geschaffene menschliche Gegenstände durchschaubar
macht und so als Elemente der sinnstrukturierten Welt wiedererweckt. Vor dem
Inerten, den natürlichen Dingen, die einfach sind, dem Sein ohne Sinn, empfand
Sartre schlicht Ekel.27 Der Naturfreund Claude Lévi-Strauss hält den Existentia-
lismus für eine subjektivistische Engführung und sein Strukturalismus will die
Ganzheitlichkeit der Erkenntnis auf die Natur ausweiten bzw. die Kultur(-wissen-
schaft) in die Natur(-wissenschaft) reintegrieren. Der Anthropologe nimmt da-
mit die aktuelle Kritik an den subjektphilosophisch, etwa phänomenologisch be-
gründeten Grenzen des Sozialen vorweg.28 Referenzmodell ist ihm nicht mehr die
Gesellschaft, sondern die Sprache. „Die Linguistik stellt uns einem dialektischen
und totalisierenden, doch außerhalb (oder unterhalb) des Bewußtseins und des
Willens stehenden Seins gegenüber. Als nicht reflexive Totalisation ist die Spra-
che eine menschliche Vernunft, die ihre Gründe hat und die der Mensch nicht
kennt.“29 Diese Exzentrizität ist nicht Entfremdung bzw. diese Entfremdung ge-
hört zur Natur des Menschen.30 Die Naturalisierung der Vernunft und den impli-
ziten Logozentrismus des Strukturalismus transzendiert Pierre Bourdieus struk-
turalistisch aufgeklärte, auf einem epistemologischen Relationismus gegründete,
Praxistheorie. Praxis kann nicht als defizienter Modus angewandter Logik auf-
gefaßt werden, woraus folgt, „daß nur der eine gewisse Chance hat, die Praxis …
26 Sartre, Jean-Paul. 1967. Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis.
Reinbek: Rowohlt, S. 46 f.
27 Sartre, Jean-Paul. 1963. Der Ekel. Reinbek: Rowohlt.
28 Luckmann, Thomas. 1980. Über die Grenzen der Sozialwelt. In Thomas Luckmann Lebens-
welt und Gesellschaft. Paderborn: Schöningh (UTB), S. 56 – 92; Latour, Bruno. 1996. On Ac-
tor-network Theory. A few Clarifications. In Soziale Welt 47, Heft 4, S. 369 – 382.
29 Lévi-Strauss, Claude. 1968. Das Wilde Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 290.
30 Referenzen sind Galilei und Freud. Exzentrizität ist der Grundbegriff der Philosophischen
Anthropologie in Deutschland. Vgl. Plessner, Helmuth. 1981. Gesammelte Schriften IV. Die
Stufen des Organischen und der Mensch. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 79
wissenschaftlich zu erklären, der die Effekte kennt, die die wissenschaftliche Pra-
xis allein schon durch Totalisierung erzeugt … d. h. die Fähigkeit, sich und ande-
ren die synoptische Sicht der Totalität und Einheit der Beziehungen“ etwa durch
Vergleich des Ungleichzeitigen „zu gestatten, welche die Voraussetzung der an-
gemessenen Entzifferung ist“31, die der Praxis selbst versagt ist.
31 Bourdieu, Pierre 1987. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 150 f.
32 Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, S. 286 – 289, 346.
33 Luhmann. Soziale Systeme, S. 428.
34 Ich verdanke Maren Lehmann den Hinweis, daß Luhmann Autopoiesis nicht als Segen, son-
dern Gefahr gesehen hat.
80 Dirk Tänzler
35 Theunissen, Michael. 1978. Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 237 f.
36 Luhmann. Soziale Systeme, S. 59.
37 Malinowski, Bronislaw. 1975. Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
38 Parsons, Talcott. 1951. The Social System. Glencoe, Ill.: Free Press.
39 Luhmann. Soziale Systeme, S. 148 – 190.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 81
47 Goffman, Erving. 1969. Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Pi-
per.
48 Tocqueville, Alexandre de. 1956. Die Demokratie in Amerika, hrsg. Jakob Peter Mayer. Frank-
furt am Main: S. Fischer.
49 So etwa in den brasilianischen Favelas. Vgl. Luhmann, Niklas. 1997. Die Gesellschaft der Ge-
sellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 631; Luhmann, Niklas. 1996. Jenseits von Bar-
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hrsg. Max Miller und Hans-Georg Soeffner. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 219 – 230, hier.
S. 227 f.
Das Ganze ist das Wahre/Unwahre 83
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Fünfte, revidierte Auflage. Tübingen: Mohr (Siebeck).
Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz,
das Gesellschaftsganze mit dem
Instrument der Demoskopie zu erfassen –
unter besonderer Berücksichtigung ihrer
Kooperation mit Gerhard Schmidtchen
Carsten Klingemann
1 Noelle-Neumann, Elisabeth, und Thomas Petersen. 2000. Alle, nicht jeder. Einführung in die
Methoden der Demoskopie. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, S. 14.
2 Noelle-Neumann und Petersen. Alle, nicht jeder, S. 54.
das Image – auch jenes der Meinungsforscher – Schaden nehmen könne: „Daß
alle diese Tätigkeiten mit einem gewissen Odium behaftet sind, kann sich viel-
leicht aus der von alters her vorhandenen engen Verknüpfung zwischen Denken
im Merkmalsbereich und Macht erklären. Wer eine größere Zahl von Menschen
verwalten und lenken will, ist zum Mehrzahldenken gezwungen, und umgekehrt:
Denken im Mehrzahlbereich ermöglicht die Machtausübung.“3 Wer exklusiv über
Daten des Gesellschaftsganzen verfügt, ruft nicht nur Widerwillen, sondern even-
tuell sogar Widerstand gegen die Umfrageforschung und den damit verbunde-
nen Machtanspruch hervor, der ja durchaus „Härten“ mit sich bringen könne.
Aber – so Noelle-Neumann nochmals ohne Umschweife – anders ist „keine Ver-
waltung, keine Untersuchung, die einer großen Zahl von Menschen gilt, keine
‚Ordnung‘ ohne dieses Denken im Mehrzahlbereich möglich.“4
Gerhard Schmidtchen, Autor des fachwissenschaftlichen Bestsellers Die be-
fragte Nation und nach seiner Tätigkeit als Assistent am Institut für Sozialfor-
schung in Frankfurt am Main (IfS) langjähriger enger Mitarbeiter am IfD, erklärt
ebenso unbefangen und offen, wie er die gesellschaftspolitische Rolle der Demo-
skopie einschätzt, indem er darlegen will, „wie man mit Hilfe demoskopischer
Kenntnisse Macht gewinnt, und sodann, wie man mit Hilfe empirischer Metho-
den Macht anwendet.“5 Das Ziel seiner Untersuchung sei es, den Ort im politi-
schen Prozess zu bezeichnen, an dem sich die Wirkungen der Umfrageforschung
beobachten ließen. Es geht ihm also darum herauszufinden, wie Entscheidungen
getroffen werden. Jedoch stehen dabei zwei Hemmnisse im Wege. Erstens: „All-
gemein publizierte Ergebnisse der Umfrageforschung werden in der Politik zwar
beachtet, aber sie sind für konkrete politische Entscheidungen nicht ohne weiteres
von Belang, weil ihnen meistens der aktuelle und sachliche Bezug zu den Proble-
men fehlt, die bei einer Entscheidung zu berücksichtigen sind. Diese Anforderun-
gen kann nur Auftragsforschung erfüllen.“6 Nun ist allerdings allgemein bekannt,
dass Auftragsforschung nicht öffentlich praktiziert wird, sodass zweitens bedacht
werden muss: „Es ist nicht immer ganz leicht, den Weg der Umfrageergebnisse
im politischen Entscheidungsprozeß zu verfolgen. Welche Rolle sie gespielt ha-
ben, läßt sich oft nur noch indirekt ermitteln, von den Wirkungen her beurteilen.“7
8 Lepsius, M. Rainer. 1979. Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945
bis 1967. In Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug, hrsg.
Günther Lüschen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 25 – 70.
9 Lepsius, M. Rainer. 1961. Denkschrift zur Lage der Soziologie und der Politischen Wissenschaft.
Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, S. 49.
10 Lepsius. Denkschrift, S. 19.
90 Carsten Klingemann
Diese Formulierung lässt allerdings offen, an welche Gefahren und an welche Mas-
sensuggestionen Lepsius dabei gedacht hat. Eine böswillige Deutung könnte un-
terstellen, dass Lepsius der Soziologie die Befähigung zuschreibt, die Masse, oder
anders ausgedrückt, die Öffentliche Meinung – im Sinne einer Objektivierung öf-
fentlichen Meinens – mithilfe der Umfrageforschung zielgerichtet manipulieren
zu können. Wenn dem so wäre, hätte ihn dieselbe Kritik von Jürgen Habermas
treffen müssen wie Gerhard Schmidtchen. Habermas beschließt nämlich seinen
Klassiker Strukturwandel der Öffentlichkeit bemerkenswerter Weise mit dem Ka-
pitel über das Verhältnis von Umfrageforschung und Öffentlicher Meinung. Darin
spielt Schmidtchen eine prominente Rolle in der Hinsicht, dass seine Aussagen zur
Öffentlichen Meinung und Umfrageforschung als Gegenposition aufgebaut wer-
den zu den Begriffen der kritischen Publizität und räsonablen Kommunikation,
wie sie von Habermas immer wieder emphatisch bemüht werden. Dabei zitiert
11 Alle drei Zitate aus Lepsius, M. Rainer. 1953. Was kann die Soziologie ? In Die Neue Zeitung.
Die Amerikanische Zeitung in Deutschland 9, Nr. 62, 14./15.03., S. 9.
12 Lepsius. Was kann die Soziologie ?, S. 9.
Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz 91
20 Scharf, Wilfried. 2006. Wilmont Haacke: Wissenschaftliche Karriere und Bedeutung für das
Fach. In 50 Jahre Publizistik, hrsg. Christina Holtz-Bacha, Arnulf Kutsch, Wolfgang R. Lan-
genbucher, und Klaus Schönbach. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 113 –
143.
21 Bei Schmidtchen. Die befragte Nation (1959), heißt es „gut und populär“, S. 246.
22 Haacke, Wilmont. 1962. Meinungsbildung durch Unterhaltung. In Die öffentliche Meinung.
Publizistik als Medium und Faktor der öffentlichen Meinung, hrsg. Martin Löffler. München/
Berlin: Beck, S. 31 – 56, hier S. 54.
23 Haacke. Meinungsbildung durch Unterhaltung, S. 55.
24 Haacke. Meinungsbildung durch Unterhaltung, S. 55.
94 Carsten Klingemann
die Massenmedien haben es mit einer ‚Öffentlichen Meinung‘ zu tun, die auf das
Vielfältige mit der gesamten sozialen und politischen Struktur eines Gemein
wesens verwoben ist.“25 Dieser Ansatz scheint mir deutlich soziologischer zu sein
als der, den der Soziologe und ausgewiesene Max Weber-Experte Georg Weip-
pert in seinem Artikel Öffentliche Meinung 1964 im Handwörterbuch der Sozial-
wissenschaften vorstellt. Er geht von der Anonymität des „erfragten Meinens“ der
Meinungsforschung aus und erklärt: „Die Qualität dieses unveröffentlichten Mei-
nens ist im Prinzip eine spezifisch andere als die des öffentlichen Meinens. Keine
wie immer geartete Generalisierung durch Umfragen ermittelter Befunde führt
demnach zu dem, was etwa der Geschichtsschreibung, der verstehenden Soziolo-
gie, der Kulturanthropologie, nicht zuletzt einer verantwortlichen Journalistik als
Analyse des Sinngehaltes einer konkreten öffentlichen Meinung vorschwebt und
aufgegeben ist.“26
Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, es ist seit 1964 dabei geblieben, dass
die Analyse des Sinngehalts einer konkreten Öffentlichen Meinung nach wie vor
der verstehenden Soziologie nur vorschwebt, ihr also weiterhin aufgegeben ist.
Weippert selbst kommt unter Verweis auf Hegel und Wilhelm Hennis nicht über
die Definition der Öffentlichen Meinung als „transpersonale Sinneinheit“ hinaus,
wenn es heißt: „In der Tat kann die heute weithin allgemeine Verwechselung des
‚Meinens der Vielen‘ (Hegel) mit der ‚öffentlichen Meinung‘ als einer transper-
sonalen Sinneinheit – sehr zum Nachteil der wahren politischen Erfordernisse –
zu einer ‚Verdrängung‘ dieser durch jenes führen (Hennis).“27 Erstaunlicherweise
folgt im direkten Anschluss an dieses Zitat das Bekenntnis, die Bedeutung der
Umfrageforschung für die Politik wie für die Wissenschaft sei „gleichwohl erheb-
lich.“28 Weiterhin sei eine im Dienste theoretischer Fragestellung stehende Mei-
nungsforschung fähig, Materialien zur Überprüfung und Kritik theoretischer Sätze,
fallweise dogmatischer Thesen und ideologischer Positionen zu liefern.29 Mit die-
ser doch überraschenden Wende endet das Kapitel über Öffentliche Meinung und
Meinungsforschung. Begonnen hatte es mit einem Verweis auf die Begrifflich-
keit „Umfrageforschung“ nach Gerhard Schmidtchen. Bei dieser Gelegenheit weist
Weippert deren mitlaufenden Anspruch, an die Stelle bisheriger Bemühungen um
25 Noelle, Elisabeth. 1960. Die Wirkung der Massenmedien. Bericht über den Stand der empi-
rischen Studien. In Publizistik. Festschrift für Emil Dovifat. Bremen: Heye, S. 212 – 223, hier
S. 220. Haacke. Meinungsbildung durch Unterhaltung, S. 55.
26 Weippert, Georg. 1964. Öffentliche Meinung. In Handwörterbuch der Sozialwissenschaften,
8. Bd. Stuttgart: G. Fischer, Tübingen: J. C. B. Mohr, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
S. 29 – 36, hier S. 34.
27 Weippert. Öffentliche Meinung, S. 34.
28 Weippert. Öffentliche Meinung, S. 34.
29 Weippert. Öffentliche Meinung, S. 34 f.
Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz 95
in ihrem Kreislauf diese am Leben erhält.“34 Hat Schelsky damit wirklich gezeigt,
dass es keine Öffentliche Meinung gibt ? Ich glaube nicht. Denn die „Publizität“
jeder der ungezählten Sozialorganisationen ist ja kein nur innerorganisatorisches
Phänomen, sondern wird öffentlich sichtbar – und bildet aggregiert ein hochkom-
plexes Phänomen eigener Art, das neben der Publizität vieler anderer Meinungs-
macher steht. Es könnte damit Bestandteil der von Schelsky voreilig verabschiede-
ten ominösen Öffentlichen Meinung sein.
Um die Öffentliche Meinung geht es auch am wieder errichteten IfS, das mit der
Methode der Gruppendiskussion einen alternativen Weg ihrer empirischen Er-
fassung beschreiten will. Bei den Arbeiten zur Gruppenstudie treffen sich Ger-
hard Schmidtchen, zu der Zeit Assistent am IfS, und Diedrich Osmer, der – wie
schon erwähnt – in engem Kontakt zu Noelle-Neumann steht. Es gab einen regen
Wechsel von Nachwuchswissenschaftlern, wie etwa Ludwig von Friedeburg, zwi-
schen dem IfS und dem IfD. Schmidtchen beschreibt seine Zusammenarbeit mit
Gretel Adorno am IfS sehr anschaulich: „Die erste Phase der Arbeit an der Grup-
penstudie bestand im Verschlüsseln, wobei für jeden Teilnehmer an den Diskus-
sionen ein Blatt angelegt wurde. Die Klassifikationsprobleme wurden in unserem
Keller-Großraumbüro diskutiert. So entwickelten wir ein Methodenverständnis
für die qualitativen Probleme, die mit dem Versuch der Quantifizierung verbun-
den waren. Auch Magarete Karplus, also Frau Gretel Adorno, hat mitgewirkt, im-
mer luzide praxisnah und mit schnellem Witz. Sehr kollegial war sie und von al-
len geschätzt, wir vermißten sie, wenn sie nicht bei uns war. In der zweiten Phase
der Untersuchung ging es um die quantitative Auswertung der auf IBM-Lochkar-
ten übertragenen Daten. Im Herbst 1951 war das neue Institutsgebäude fertig. In
dessen Keller war eine Fachzählsortiermaschine aufgestellt, ein technisches Wun-
der. Aufgrund meiner Erfahrungen im Jugendbeirat [in Wiesbaden, C. K.] war mir
die Logik dieser Geräte vertraut. Gretel Adorno und ich bildeten das Team, das
sich der asketischen Arbeit annahm. Bald vollführten wir Auswertungskunststü-
cke, indem wir sortierte Gruppen in Form von Lochkarten-Stapeln nach neuen
Kriterien durchzählten und so Zusammenhängen auf die Spur kamen. Diese Zu-
sammenarbeit ging über Monate.“35 Bevor Schmidtchen eine Professur für Sozio-
logie und Sozialpsychologie an der Universität Zürich übernahm, war er der füh-
rende Sozialwissenschaftler am Institut für Demoskopie.
Diedrich Osmer seinerseits ist der übergeordnete Organisator der Tätigkeiten
der vielen Mitarbeiter an der Gruppenstudie. Er ist ein Jugendfreund von Noelle-
Neumann, arbeitet am Institut für Sozialforschung im Auftrag des Instituts für
Demoskopie und promoviert bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1953
mit der Dissertation Die Gruppendiskussionsmethode, ein neues Verfahren der em-
pirischen Soziologie. Zur Rolle Osmers bei den Arbeiten an der Gruppenstudie fin-
det sich eine erste Annäherung in Kapitel 9 meiner Textsammlung Soziologie im
Deutschland der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Nachkriegs-
zeit: „Der Mythos der Amerikanisierung der westdeutschen Soziologie durch
den Import der Empirischen Sozialforschung: das Institut für Sozialforschung in
Frankfurt am Main und der Beitrag ehemaliger Reichssoziologen zu dessen em-
pirischer Soziologie.“36 Der Titel von Osmers Dissertation weist schon daraufhin,
dass eine Alternative zu den bekannten Methoden der Meinungsforschung ent-
wickelt werden soll. Osmer, der zu dieser Zeit auch als sehr engagierter Vermitt-
ler zwischen Adorno und Horkheimer sowie Noelle-Neumann fungiert, die sich
auf Anregung von Horkheimer bei Adorno mit der Arbeit Der Begriff des Mehr-
zahlbereichs und seine Bedeutung für die Demoskopie habilitieren will, schildert in
seiner Dissertation einleitend sehr detailliert die am Institut für Sozialforschung
vertretene Kritik an der sogenannten positivistischen Meinungsforschung. So will
er dem nachgehen, „ob die eingeschliffene Technik der Erforschung öffentlicher
Meinung das leistet, was sie zu leisten verspricht.“37 Ihr „demokratisches Poten-
tial“ sei „nicht so fraglos“ wie angenommen,38 es gebe die Tendenz, Subjekte in
Anhängsel, Agenten des Getriebes zu verwandeln.39 Öffentliche Meinung werde
als Gebiet der gegenwärtigen Sozialforschung bevorzugt, aber nicht reflektiert,40
obwohl die Bestimmung einer repräsentativen Stichprobe vom Begriff der Öffent-
lichen Meinung abhängig sei.41 Die Meinungsforschung unterscheide nicht zwi-
schen einer Meinung, die eine adäquate Beziehung auf den Sachverhalt vorweise
35 Schmidtchen, Gerhard. 2007. Der Gesang des Denkens. Mein Weg zu Adorno. In Adorno-
Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen, hrsg. Stefan Müller-Doohm. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 24 – 39, hier S. 28.
36 Die Textsammlung erscheint im Oktober 2020 bei Springer VS, Wiesbaden.
37 Osmer, Diedrich. 1953. Die Gruppendiskussionsmethode, ein neues Verfahren der empirischen
Soziologie. Dissertation. Universität Frankfurt am Main, S. 4.
38 Osmer. Die Gruppendiskussionsmethode, S. 8.
39 Osmer. Die Gruppendiskussionsmethode, S. 9.
40 Osmer. Die Gruppendiskussionsmethode, S. 10.
41 Osmer. Die Gruppendiskussionsmethode, S. 11.
98 Carsten Klingemann
oder aber nicht.42 Sie vertrete die vulgäre These, jeder habe seine Meinung und
das Recht dazu, „ohne diese Weisheit als Verfallsform des Gedankens der geistigen
Autonomie zu durchschauen.“43 Der Begriff des Meinens umfasse Bewusstseins-
inhalte von ganz unterschiedlicher Qualität.44 Der Widerspruch zwischen dem
„Meinungszwang“ und der Unfähigkeit zum Meinen verführe zahlreiche Indivi-
duen dazu, Stereotype zu nutzen. Auf Befragen werde eine Meinung vorgebracht,
die man gar nicht habe. Die Meinungsforschung sehe von den realen Differenzen
gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht ab. Aber: „Jeder Gewitzigte weiß, daß in
weitem Maße Meinungen ‚gemacht‘ werden. Der von der Meinungsforschung zu-
grunde gelegte Begriff der öffentlichen Meinung jedoch bietet keinerlei Ansatz
dafür, die gemachte Meinung von der der machenden, die mächtigen und sich
durchsetzenden Anschauungen von den hilflosen und oftmals dumpfen zu unter-
scheiden.“45 Öffentliche Meinung sei „ein Stück Ideologie“, da sie formale Gleich-
heit der Subjekte als in der Tat Gleiche annehme. Die gesellschaftliche Macht sei in
die Analyse der öffentlichen Meinung „hineinzuwägen.“46 Individuelle Meinung
sei nämlich in Wahrheit ein höchst Abgeleitetes und Vermitteltes, das „geistige
Klima“, der „objektive Geist“, demgegenüber das Primäre47, und zwar im Sinne der
„Vorherrschaft des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Produktionsapparates
über den Konsum: auch über den vorgeblich geistigen.“48 Die Verhältnisse selbst
werden vom einzelnen als „dinghaft geronnen und verselbständigt erfahren“, was
ihn zur Anpassung zwingt. „Dem einzelnen gegenüber ist die öffentliche Meinung
ein Objektives als Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität.“49
Greift man diesen Satz positivistisch auf, dürfte die empirische Erfassung der
Öffentlichen Meinung möglich sein. Das ist eine Position, die Noelle-Neumann
unermüdlich vertreten hat, jedoch mit der Einschränkung, es fehle noch an aus-
reichenden Daten, die aber ja fortwährend erhoben würden – und nicht nur durch
ihr Allensbacher Institut. Diese Position stellte Osmer schon 1953 in seiner Dis-
sertation radikal infrage: „Man vertröstet sich auf eine Zukunft, in der so viel em-
pirisches Material gesammelt sei, daß die Frage nach dem Wesen der öffentlichen
Meinung dadurch sich schlichte, und verblendet sich dagegen, daß die Richtung
des Tatsachensammelns, von dem man sich die Klärung verspricht, bereits einen
Begriff der öffentlichen Meinung voraussetzt, der der Realität nicht angemessen
ist.“50 Osmer konzediert der Meinungsforschung zwar, dass sie Hypothesen for-
muliere und teste, die sich aber nur „nach dem Maßstab des atomistisch-summa
tiven Verfahrens“ verifizieren oder falsifizieren ließen.51 Damit werde aber die
Zuverlässigkeit der scheinbar so objektiven Forschungsmethoden selber tangiert.
Andererseits räumt Osmer ein, dass es auch in einer nivellierten und atomisti-
schen Gesellschaft „etwas wie öffentliche Meinung gibt. Der Gedanke ist nicht
von der Hand zu weisen, daß die atomistische Methode der gegenwärtigen statis-
tischen Meinungsforschung gerade diesem Zustand gerecht wird.“52 Und schließ-
lich heißt es sogar: „Solche Kritik soll nicht das Umfrageverfahren als solches
diskreditieren. Seine Erfolge sind unbezweifelbar und ebenso, daß die handfeste
Methode überall dorthin gehört, wo handfeste Daten gesucht werden.“53 Nach
dieser abenteuerlichen Volte fragt man sich, wo denn diese handfesten Daten zu
suchen wären, vielleicht hinter dem totalen Verblendungszusammenhang ?
Für die Frankfurter Kritischen Theoretiker stand fest, dass nur sie es vermögen,
hinter den totalen Verblendungszusammenhang zu schauen, aber suchte dort
nicht auch schon Noelle-Neumann nach einer Lösung, wie mithilfe der Umfrage-
forschung gesellschaftliche Totalität empirisch dingfest gemacht werden könnte ?
Und zwar mittels ihrer Konzeption der „sozialen Haut“, wonach die Öffentliche
Meinung die Gesellschaft schütze wie eine Haut, indem sie diese zusammenhalte,
während das Individuum an seiner sozialen Haut leiden könne, weil es sie ja als
soziale Kontrolle empfinde. So ist nach Noelle-Neumann – unter Rückgriff auf
Rousseau – die Öffentliche Meinung der Feind des Individuums, aber der Schutz
der Gesellschaft.54 Diesen Blick auf die gesellschaftsintegrierende Funktion der
Öffentlichen Meinung als soziale Kontrolle verdankt Noelle-Neumann einer Rei-
he namhafter Soziologen (Floyd H. Allport, Richard T. LaPiere, Niklas Luhmann,
Edward A. Ross und viele andere). Für Noelle-Neumanns Ansatz spielen ihre An-
nahmen, das Individuum unterliege einem Konformitätsdruck und leide unter
55 Elias, Norbert. 1977. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen. 2. Bd: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 314.
56 Elias. Über den Prozeß der Zivilisation, S. 317.
57 Elias. Über den Prozeß der Zivilisation, S. 371.
58 Noelle, Elisabeth. 1966. Öffentliche Meinung und Soziale Kontrolle. Tübingen: Mohr (Sie-
beck), S. 11.
Elisabeth Noelle-Neumanns Ansatz 101
Literatur
Elias, Norbert. 1977. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogene-
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Osmer, Diedrich. 1953. Die Gruppendiskussionsmethode, ein neues Verfahren der empi-
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Scharf, Wilfried. 2006. Wilmont Haacke: Wissenschaftliche Karriere und Bedeutung
für das Fach. In 50 Jahre Publizistik, hrsg. Christina Holtz-Bacha, Arnulf Kutsch,
Wolfgang R. Langenbucher, und Klaus Schönbach. Wiesbaden: VS Verlag für
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schung auf die Politik. Freiburg im Breisgau: Verlag Rombach.
Schmidtchen, Gerhard. 1965. Die befragte Nation. Über den Einfluß der Meinungsfor-
schung auf die Politik. Frankfurt am Main/Hamburg: S. Fischer.
Schmidtchen, Gerhard. 2007. Der Gesang des Denkens. Mein Weg zu Adorno. In
Adorno-Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen, hrsg. Stefan Müller-Doohm.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 24 – 39.
Weippert, Georg. 1964. Öffentliche Meinung. In Handwörterbuch der Sozialwissen-
schaften, 8. Bd., Stuttgart: G. Fischer, Tübingen: J. C. B. Mohr, Göttingen: Van-
denhoeck & Ruprecht, S. 29 – 36.
Teil II:
1 Bei dieser Einleitung handelt sich daher erklärtermaßen nicht um eine Einleitung im be-
kannten Sinne. Aufgrund der theoretischen und ideengeschichtlichen Ausrichtung der Bei-
träge erscheint das gewählte Vorgehen indes als gerechtfertigt, geht es doch in erster Linie
darum, im sich Hineindenken in die Argumentation der einzelnen Beiträge die Auseinan-
dersetzung mit dem gestellten Thema auf den Weg zu bringen.
Die im Einleitungstext verwendeten Zitate werden nicht im einzelnen nachgewiesen. Sie
entstammen jedoch ausschließlich den vorgestellten Beiträgen. Und wo es sich um Zitate
Im Zentrum des Beitrags von Peter Langford und Ian Bryan steht die „Freirechts-
bewegung“, beispielhaft verkörpert durch das Werk von Hermann Kantorowicz.
Das Interesse der Autoren gilt insbesondere der sich mit der „Freirechtsbewegung“
stellenden Frage nach den Bestimmungsgrößen und der Legitimität „freier Rechts-
findung“ durch den Richter sowie – und vor allem – der mit dieser Frage darüber
hinaus erhobenen Forderung nach einer Begründung der Rechtstheorie insgesamt.
Nach Darstellung von Langford und Bryan eröffnete sich damit ein eigentliches
Theorieprogramm, dessen Erfüllung indes über die Rechtstheorie hinaus im zeit-
genössischen Kontext der Diskussion um die methodologische Begründung der
Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der jüngsten Entwicklungen der Psycho-
logie erfolgen musste. Max Weber und Hans Kelsen haben dies zum Anlass genom-
men, sich mit der „Freirechtsbewegung“ mehrfach auseinanderzusetzen, womit,
wie von den Autoren aufgezeigt, das Verhältnis zwischen der Theorie des kodifi-
zierten Rechtspositivismus und der Rechtssoziologie selbst zum Thema wird. Und
auf diesem Hintergrund kann wiederum – die Diskussion noch ausweitend – Kan-
torowicz als vorweggenommene Antwort auf Weber und Kelsen gelesen werden.
Kantorowicz zufolge – so die Autoren – transzendiert die „Freirechtsbewegung“
die Größen der Jurisprudenz, der Rechtsprechung, indem sie die Rechtswissen-
schaft begreift als zur sozialen Welt hin offen stehend. In seinem Referat auf dem
Deutschen Soziologentag von 1910 sieht Kantorowicz in der Rechtssoziologie erst
einmal nicht mehr als die „vornehmste Hilfswissenschaft der dogmatischen Juris-
prudenz“. Er geht jedoch gleich weiter: Das Verhältnis von Recht und sozialem Le-
ben erscheint als „Interessenwägung“; die Rechtsordnung wird zur Kulturwertidee,
welche im Handeln realiter zur Anwesenheit gebracht wird – und nichts anderes
geschieht auch im Abwägen, im Vermitteln von Interessen, womit dieses, verstan-
den als ein Verfahren zur Erschließung sozialer Wirklichkeit, den Charakter einer
soziologischen Methode annimmt. Seine Position ausarbeitend bezieht sich Kan-
torowicz, wie von den Autoren ausgeführt, indes nicht auf Max Weber, sondern
auf dessen philosophischen Gewährsmann Heinrich Rickert, dessen Methodolo-
gie ihm schließlich dazu verhilft, das Verhältnis von Rechtsdogmatismus und So-
ziologie im Sinne Kants neu zu definieren: ‚Rechtsdogmatismus ohne Soziologie ist
leer, Soziologie ohne Rechtsdogmatismus ist blind‘. All dies mündet in einer Neu-
fassung der Rechtsgeschichte, der gemäß die Verfahren der Rechtsprechung immer
handelt, die von den Autoren der Beiträge angefiihrt werden, wird gesondert darauf hin-
gewiesen.
Einleitung: Rechtstheorie und Rechtssoziologie 107
auch eine Reflexion der sie umschließenden Interessen, ihres historischen Kontex-
tes, darstellen und mithin ein integraler Teil der Sozialgeschichte des Rechts sind.
In seiner Antwort auf Kantorowicz’ Referat auf dem Deutschen Soziologentag
1910 und weiter in Wirtschaft und Gesellschaft nimmt Max Weber, wie von Lang-
ford und Bryan weiter ausgeführt, Bezug auf die sich im Ausgang von Kantoro-
wicz eröffnende Möglichkeit, die soziologische in die rechtsdogmatische Betrach-
tungsweise des Rechts zu integrieren. Die Konsequenz ist allerdings – so Weber –,
dass die Sicherheit, wie sie durch die Rationalität formal-rechtlicher Bestimmun-
gen gewährleistet wird, durch die in der Rechtsdogmatik nunmehr mitgedachte
Vielfalt „freier Rechtsfindung“ aufgelöst zu werden droht oder, worum es eigent-
lich geht, in der Vielfalt „freier Rechtsfindung“ erst gefunden werden muss. Folge
richtig gerät die „Freirechtsbewegung“ selbst zu einem Gegenstand soziologischer
Analyse und ist im Endeffekt nurmehr ein Aspekt der anti-formalistischen Ten-
denzen des modernen Rechts. Die Argumentation von Hans Kelsen weist, der
Darstellung der Autoren folgend, in die gleiche Richtung. Ausgehend von einer
klaren Trennung von Rechtspositivismus und Rechtssoziologie richtet Kelsen sei-
ne Aufmerksamkeit anschließend auf ein Problem, welches gleichsam im Inneren
der „Freirechtsbewegung“ selbst liegt. So zeigt er auf, dass die „Freirechtsbewe-
gung“ die von ihr für die Entscheidungsfindung durch den Richter in Anspruch
genommene Offenheit im Rahmen der von ihr vertretenen Rechtstheorie gar
nicht zu fassen vermag, was wiederum, zur Überwindung der dadurch entste-
henden Unsicherheiten in der Rechtsprechung, die Einführung ‚außerrechtlicher‘
Richtlinien bedingt, und sei es auch nur implizit. Die Tür, die von der Rechtstheo-
rie zur Rechtssoziologie führt, steht damit weit offen. Und wie bei Weber steht
auch bei Kelsen das von Kantorowicz neu definierte Verhältnis von Rechtsdogma-
tik und Rechtssoziologie – wenngleich unausgesprochen – im Raum.
mer Soziologie des Rechts. Anders ausgedrückt: Rechtswissenschaft ist eine „be-
sondere Gesellschaftslehre“, ihr Gegenstand ist die Besonderung gesellschaftlicher
Akte zu Rechtsakten. Das ‚Rechtliche‘ – so hält Sander klar fest – ist nur ein ‚Ge-
sellschaftliches‘, und Rechtswissenschaft muss besondere Gesellschaftslehre sein,
anders vermöchte sie „Recht als Kollektivum rechtlich-gesellschaftlicher Akte“
nicht „auszusondern und abzugrenzen“. Und so erstaunlich dies erscheint, aus
eben diesem Grunde ist die Rechtsdogmatik praktische Rechtswissenschaft und
nicht reine Rechtswissenschaft, denn ihre Begriffe sind „logische Reflexionen über
vergangene Rechtsakte und logische Folgerungen an zukünftige Rechtsakte“. Er-
klärtermaßen handelt es sich hier nicht um eine rein rechtswissenschaftliche Aus-
legung des Rechts, sondern um die Erfüllung einer besonderen, ihrerseits gesell-
schaftlich vermittelten Aufgabe der Rechtswissenschaft als Gesellschaftslehre, in
letzter Konsequenz – so Sander – um „Rechtspolitik“.
Aus dieser Bestimmung des Verhältnisses von Gesellschaftslehre und Rechts-
wissenschaft wird auch die Stoßrichtung von Sanders Kritik an Max Weber und
Hans Kelsen ersichtlich. An beide ergeht der Vorwurf einer verfehlten „Grenzzie-
hung zwischen Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie“. Bei Weber ist die Rechts-
soziologie, eingeschlossen in das Gegenstandsgebiet der verstehenden Soziologie,
demnach lediglich noch eine empirische Wissenschaft, wogegen die Rechtsdog-
matik überhöht wird zu einer Wissenschaft, die, „ohne Wertung“, allein „der Er-
kenntnis hingegeben“, jeglichen Bezug zur Wirklichkeit der Rechtsakte verloren
hat. Als Folge davon wird die reine Rechtswissenschaft sogar ‚zurückgebildet‘
zu einem Gegenstand der verstehenden Soziologie. Bei Kelsen gilt Sanders Kri-
tik unmittelbar dem Verständnis der Rechtsdogmatik, welche – so der Vorwurf
im einzelnen – von Kelsen zwar nicht überhöht wird zu einer vollkommen wert
indifferenten Wissenschaft wie bei Weber, als reine normative Rechtslehre aber
gleichfalls keine Verbindung mehr zur Rechtswirklichkeit aufweist. Von hier aus
besteht ein äußerst interessanter systematischer Bezug zu den im Beitrag von Peter
Langford und Ian Bryan dargestellten kritischen Stellungnahmen von Hans Kel-
sen und von Max Weber gegenüber der „Freirechtsbewegung“. Zudem eröffnet
sich die Aussicht auf eine vertiefte Bearbeitung der Begründung der Methodo-
logie und allgemein der Logik der Sozialwissenschaften in der Philosophie des
Neukantianismus; mithin würde sogar ein neues Forschungsfeld betreten, denn
während Max Webers Beziehung zum Südwestdeutschen Neukantianismus seit
Jahrzehnten Gegenstand eingehender Untersuchungen ist, stützt Fritz Sander sich
auf den in der Soziologie und auch in der Philosophie bisher kaum behandelten
Greifswalder Neukantianismus.
Im weiteren beschäftigt sich Sander mit der Schrift von Siegfried Marck „Sub-
stanzbegriff und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie“, deren „Kernpunkt“
wiederum die Auseinandersetzung mit der verstehenden Rechtssoziologie Max
Einleitung: Rechtstheorie und Rechtssoziologie 109
Webers und der normativen Rechtslehre Hans Kelsens sein soll. Zentrale Themen
sind „Persönlichkeit im Recht“ und „Übertragung des Ich-Begriffs auf die sozia-
len Kollektivphänomene“, wobei – selbstverständlich – die Aufmerksamkeit im-
mer auch der Begründung der Rechtswissenschaft selbst gilt. Das „Prinzip“ der
„Kollektivität“ ist schließlich, zusammen mit dem „Prinzip“ der „Gesetzmäßig-
keit“, Gegenstand von Sanders Auseinandersetzung mit dem ersten Band der „So-
ziologie des Rechts“ von Franz W. Jerusalem. In seinen Erörterungen konzentriert
sich Sander dabei hauptsächlich auf den Begriff der „Urkollektivität“, der Urkol-
lektivität als der Quelle des Kollektivgeistes im Recht und mittelbar des Erlebnis-
ses von Kollektivität schlechthin. Die Darstellung mündet denn auch im Postulat
des Menschen als Betrachtungsgegenstand „der nüchternen Methode der moder-
nen deskriptiven Psychologie“.
Gegenstand des Beitrags von Peter Gostmann ist Alexandre Kojèves Vorstellung
eines Universalrechts – eines Rechts, dessen Geltungsbereich – entsprechend dem
Titel des Beitrags – die Wirklichkeit „Nach den Staaten“ ist. Und während sich die
Ausführungen der beiden vorhergehenden Beiträge im Rahmen eines (neu-)kan-
tianisch geprägten Rechtsverständnisses bewegten, steht mit Kojève ein hegelia-
nischer Standpunkt zur Erörterung an. Nichtsdestotrotz gibt es ein Bindeglied zu
den vorhergehenden Beiträgen: Es handelt sich um die vom Kelsen-Schüler Erich
Hula vorgenommene Analyse der Dumbarton Oaks Proposals, der Ergebnisse ei-
ner folgenreichen Washingtoner Konferenz von 1944. Hulas Positionierung zu der
in Dumbarten Oaks verhandelten Weltnachkriegsordnung lässt – so Gostmann –
eine bemerkenswerte Korrespondenz mit Überlegungen erkennen, die Kojève un-
gefähr zeitgleich in seinem rechtstheoretischen Hauptwerk anstellt – unbesehen
der unterschiedlichen philosophischen Ausgangspunkte. Kojèves hegelianischer
Standpunkt ist – das versteht sich – geschichtlich vermittelt, weshalb von ihm
dementsprechend als einem „Standort“ zu sprechen ist, von einem Standort im
„politisch-kulturellen Gebilde“ Europa gelegen, präziser noch, im „politisch-kul-
turellen Gebilde“ Europa zu einem bestimmten Zeitpunkt, entwickelt „unterwegs“,
auf „Umwegen“. Gostmanns Rekonstruktion dieses Wegs beginnt mit der Denk-
bewegung, die Kojève in den 1930er Jahren, in seiner berühmten Seminarreihe zu
Hegels Phänomenologie des Geistes an der École Pratique des Hautes Études in Pa-
ris ausgeführt hatte, und führt über verschiedene Zwischenstationen bis zu Kojè-
110 Peter-Ulrich Merz-Benz
keit „nach den Staaten“ zu sich selbst zu kommen, steht bei Peter Gostmann – wie
bei Peter Langford und Ian Bryan auf der einen und Fritz Sander auf der ande-
ren Seite – wiederum das Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtssoziologie zur
Erläuterung an. Anlässlich des Falls Kojève erscheint dieses Verhältnis allerdings
unter hegelianischen Gesichtspunkten, als – wie eingangs festgestellt – zweite Fas-
sung des übergreifenden Verhältnisses von „Recht und Gesellschaft“.
Kelsen, Weber and the Free Law Movement*
Peter Langford and Ian Bryan
* The paper was completed in 2015. Literature published since then could not be considered.
1 The term encompasses, acknowledging the significant degree of internal divergence within
the movement, the works of: Ehrlich, Eugen. 1903. Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswis-
senschaft. Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft in Wien am 4. März 1903. Leipzig:
Hirschfeld; Fuchs, Ernst. 1908. Recht und Freiheit in unserer heutigen Justiz. Berlin: Hey-
mann; Fuchs, Ernst. 1909. Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz. Karls
ruhe: Braun; Gnaeus Flavius [Kantorowicz, Hermann]. Der Kampf um die Rechtswissenschaft.
Heidelberg: Winter; Mayer, Max E. 1903. Rechtsnormen und Kulturnormen. Breslau: Schlet-
ter; Stampe, Ernst. 1905. Rechtsfindung durch Konstruktion. In Deutsche Juristen-Zeitung
10, p. 417 – 422; Stampe, Ernst. 1905. Rechtsfindung durch Interessenwägung. In Deutsche Ju-
risten-Zeitung 10, p. 713 – 719; Stampe, Ernst. 1905. Gesetz und Richtermacht. In Deutsche
Juristen-Zeitung 10, p. 1017 – 1022; Sternberg, Theodor. 1904. Allgemeine Rechtslehre. Leip-
zig: Göschen; Wurzel Karl G. 1904. Das juristische Denken. Wien: Perles; Zitelmann, Ernst.
1903. Lücken im Recht. Rede, gehalten bei Antritt des Rektorats der Rheinischen Friedrich-Wil-
helms-Universität zu Bonn am 18. 10. 1902. Leipzig: Duncker & Humblot. For overviews of the
Free Law Movement, see the early presentation: Stampe, Ernst. 1911. Die Freirechtsbewegung,
Gründe und Grenzen ihrer Berechtigung. Vorträge gehalten vor Richtern und Staatsanwälten
des Kammergerichtsbezirks. Berlin: Vahlen; and the contemporary assessements of: Musche
ler, Karlheinz. 1984. Relativismus und Freirecht. Ein Versuch über Hermann Kantorowicz.
Heidelberg: C. F. Müller; and: Rückert, Joachim. 2008. Freirechtsbewegung. In Handwörter-
buch zur deutschen Rechtsgeschichte. Band 1, hrsg. Albrecht Cordes, Hans-Peter Haferkamp,
Heiner Lück, Dieter Werkmüller und Ruth Schmidt-Wiegand. Berlin: Schmidt, p. 1772 – 1777.
2 The Free Law Movement will be considered solely as a question for German language the-
ories of law, as any potentially analogous developments in other national theoretical tradi-
tions are considered to arise with either little or no significant connection to this Movement.
On this lack of connection, see: Schmidt, Katharina I. 2014. Der ‘Formalismus-Mythos’ im
deutschen und amerikanischen Rechtsdenken des frühen 20. Jahrhunderts. In Der Staat 53,
p. 445 – 473.
3 The term Begriffsjurisprudenz is an overtly polemical notion introduced by Rudolf von Jhe
ring in the nineteenth century to denote certain schematic features of a theory of law – Pan-
decticism – with which he sought to break with definitively.
4 On the relation between private law and the state in nineteenth century Germany, see Hafer
kamp, Hans-Peter. 2008. The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century
Germany. In Beyond the State. Rethinking Private Law, hrsg. Nils Jansen and Ralf Michaels.
Tübingen: Mohr (Siebeck), p. 245 – 268; and John, Michael. 1989. Politics and the Law in Late
Nineteenth Century Germany. The Origins of the Civil Code, Oxford: Oxford University Press.
5 In terms of the question of periodization, in particular, with regard to the work of Hans Kel
sen, the Free Law Movement, with Kantorowicz as its exemplary representative, will be con-
sidered up to, and including, the first edition of the Pure Theory of Law (Reine Rechtslehre)
(1934). All references will be to B. L. and S. L. Paulson’s translation from German to English of
Kelsen’s first edition of the Pure Theory of Law (Reine Rechtslehre) (1934) cited in the Bibliog-
raphy as Kelsen, Hans. 1934/2002. Introduction to the Problems of Legal Theory. Oxford: Ox-
ford University Press.
Kelsen, Weber and the Free Law Movement* 115
6 Kantorowicz, Hermann. 1906/2006. The Battle for Legal Science. In The German Law Jour-
nal 12, p. 2005 – 2030. Originally published under a pseudonym, Gnaeus Flavius, indicating
a critical stance towards the hidden truths of the legal system analogous to those of the an-
cient roman legal writer, tribune of the people, senator, and curule aedile, Gnaeus Flavius
(c. 300 BC).
7 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2005.
8 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2005.
9 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2006.
116 Peter Langford and Ian Bryan
10 These forms are identified as juristic analogy, fiction, ratio legis (the reason of the law); see,
Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2014 – 2017.
11 See, Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2025.
12 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2025.
13 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2008.
14 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2008
15 Kantorowicz. The Battle for Legal Science, p. 2010.
Kelsen, Weber and the Free Law Movement* 117
The effect of this dissolution shifts the primacy previously accorded to cognition
in juridical decision-making, by the prevailing theory, to the will. In this shift, the
will, as the origin of judicial decision-making, becomes the object of a legal sci-
ence in which the Free Law Movement detaches it from subservience to the Code
and confers upon it a “greater” task:16 “Free legal determination is where it discov-
ers community law and brings it to application; it rises to free legal creation where
it produces individual law and gives it worth. Being the source of law itself, it must
then have the same nature as all other sources, and, as law itself, it must be willed.
With this knowledge, legal science concludes its humanistic course of the nine-
teenth century and enters its voluntaristic phase.”17
The primacy accorded to the will is the reversal of the relation between the
will – the enactment of a decision – and the mind – the cognitive determination,
through forms of legal reasoning, of the rationale for a decision. Hence, it is nei-
ther the assertion of pure arbitrariness – the nihilism of the will18 – nor of the
simple revival of the tradition of the German Historical School19 – the will as the
expression of a pre-existing community.
In the reversal of this relationship, the Free Law Movement seeks to transcend
the parameters of jurisprudence, as the prevailing theory of legal decision-making
within a codified legal system, through the construction of a legal science which
is open to rather than closed off from the surrounding social world. Within the
confines of the form of a manifesto, this openness is indicated in terms of the
reconception of the relationship between the judge and the Code,20 the reform of
university legal education and of the training of the judiciary21 and the introduc-
tion of a notion of justice as the mediation between the law and the social world.22
The indications of a legal science which are contained in 1906 Manifesto under-
go further thought and reflection, and are provided with a more comprehensive
articulation in Kantorowicz’s presentation, entitled Rechtswissenschaft und Sozio
logie, at the first meeting of the German Sociological Association in 1910.23 The
presentation, while programmatic in character,24 indicates an overtly methodo-
logical reconsideration of the original impetus of the Free Law Movement and, in
particular, the conceptualization of its theoretical orientation as a sociology of law.
The process of conceptualization involves, in distinction from the unifying
purpose of the earlier manifesto, a methodological differentiation of Kantoro
wicz’s position in relation to other representatives of the Free Law Movement. The
differentiation centres upon the manner in which to conceive the source or ori-
gin of the basis for judicial decision-making beyond the demonstrable implausi-
bility of the jurisprudential theory of Begriffsjurizprudenz.25 For Kantorowicz, the
source or origin is to be conceived through the more foundational question of the
possibility of a knowledge of this source or origin which can attain the status of a
science.26
The recourse to the necessity of this foundational question arises from the par-
ticular argumentative strategy which Kantorowicz deploys in the text. The initial
element of this strategy is the differentiation from certain of the preceding pres-
(Rechtsordnung) and, thus, the transformation of the balance of interests into a so-
ciological method.36 It is in relation to this value, as the underlying purpose of the
legal system, that a methodologically coherent balance between interests can be
undertaken and established.37
The further methodological development of this position entails the explicit
engagement with the Neo-Kantian philosophy of Rickert. While, for Kantorowicz,
Rickert has indicated a degree of interest for jurisprudence within his philosoph-
ical framework,38 these indications have, in contrast to Weber’s application of
Rickert’s wider philosophical position to the work of Roscher and Knies in field
of the historical school of national economics, remained comparatively underde-
veloped. Kantorowicz, thus attempts, on the basis of the results of the preceding
argumentation, to render Rickert’s philosophical framework productive for a the-
ory of law.39 The engagement with Rickert involves a critical reflection upon the
Rickertian methodological distinction between the natural and cultural sciences
based upon their generalizing and individualizing approach to the analysis of phe-
nomena within their respective domains. Kantorowicz supplements and corrects
the Rickertian distinction through the presentation of four types of theoretical
and empirical sciences.40 This typology is then utilized to classify the sociology of
law and jurisprudence and, through this classification, to retain an essential posi-
tion for dogmatic jurisprudence as a generalizing science of norms.
From this modified Rickertian position, Kantorowicz defines his methodo-
logical position against all attempts to supplant jurisprudence with a sociology of
law. This, in turn, leads, in contrast to the Manifesto, to a critique of other repre-
sentatives of the Free Law Movement, in particular, Fuchs and Ehrlich, who are
now considered to exemplify this reductive tendency.41 For Kantorowicz, the cor-
rect methodological position is encapsulated by a return to, and modification of
Kant’s phrase in the Transcendental Dialectic of the Critique of Pure Reason: “[le-
gal] [d]ogmatism without Sociology is empty, Sociology without [legal] Dogma-
tism is blind”.42
The methodological relationship which Kantorowicz establishes between juris-
prudence and a sociology of law then becomes the basis for the re-examination of
the status and character of legal history. The conception and purpose of legal his-
tory are reconsidered on the basis of three methodological tenets which form the
regulative principles for the correct orientation towards legal history “in the mod-
ern sense”.43 The first is the reassertion of the intrinsic value of history, though,
in accordance with the methodological protocol of the German Sociological As-
sociation which requires a desistance from any discussion of value, Kantorowicz
leaves this tenet in a merely indicative condition. The second tenet involves the de-
termination of the initial parameters of the correct historical method, conceived
as the conferral of a scientific status and orientation. These parameters are estab-
lished through the critique of both the earlier approach of the historical school
derived from the work of Savigny and the conventional approach of the legal his-
torian.44 Here, the emphasis, for Kantorowicz, should be placed upon the integra-
tion of the sociological and historical approach to the understanding of the causes
of historical change in legal phenomena. The final tenet concerns the prevention
of the absorption of legal history by the “systematic-constructive”45 orientation
contained in the prevailing legal dogmatics of Begriffsjurisprudenz. In opposition
to this potential absorption, Kantorowicz proposes an interpretative position in-
formed by sociology in which the projection of legal dogmatics is replaced with
the careful reconstruction of the pertinent historical context for the comprehen-
sion of the relevant legal norms.46
The question of justice, which had been acknowledged in the work of 1906 as
one of the central concerns of the Free Law Movement, returns in the concluding
section of the 1910 presentation. It is now held to arise from the relationship be-
tween sociology and the social history of law: “the study of the development of
social life in regard to its relationship to the legal norms that govern it”.47 Within
this relationship, it arises immanently, as an integral element of the social history
of law without which this history would be biased or one-sided (einseitig).48 This,
in turn, leads to a final precision, from the perspective of the social history of law,
in relation to the earlier work’s presentation of the Free Law Movement’s concep-
tion of the connection between judicial-decision making and justice. The process
of judicial-decision making, for a social history of law, extends beyond the deci-
sion itself to encompass the procedural forms – the pleadings – as the reflection of
those interests and the wider historical context in regard to which the decision is
made. The social history of procedural law thus becomes, for Kantorowicz, an in-
tegral part of the social history of law.
3 Max Weber and the Free Law Movement: The ‘Free Law
Movement’ as Legal Sociology
“the privileged framework for the formulation of legal rules in the world of medieval com-
merce, but a framework which appears [from Weber’s analyses to be] as much as a resource
as a constraint to legal innovation” (Melot. Le capitalisme médiéval entre communauté et so-
ciété, p. 749). For Weber, the origin of legal innovation within the framework of Canon Law
is to be sought in the relationship between economic and legal techniques, and thereby, “to
underline that these evolutions in the economic techniques (the individualisation of the ac-
countable measure) herald the future changes in the juridical techniques of contract (the
progressive limitation of responsibility in the modern capitalist enterprises)” (Melot. Le ca-
pitalisme médiéval entre communauté et société, p. 753). The analytical focus upon this re-
lationship indicates the rudiments for the later distinction, in the response to Kantorowicz,
between dogmatic juridical reasoning and sociological reasoning, which is itself the corol-
lary of two distinct conceptions of a legal norm. On the place of the dissertation, see, also:
Dilcher, Gerhard. 2008. From the History of Law to Sociology. Max Weber’s Engagement
with the Historical School of Law. In Max Weber Studies 8, p. 163 – 186; Kaelber, Lutz. 2015.
Max Weber’s Dissertation. An Analysis (and a Comparison to his Habilitation). In The Foun-
dation of the Juridico-Political. Concept Formation in Hans Kelsen and Max Weber, hrsg. Ian
Bryan, Peter Langford and John McGarry. London: Routledge, p. 207 – 225; and Marra, Rea
lino. 1992. Dalla comunità al diritto moderno. La formazione giuridica di Max Weber 1882 –
1889. Turin: Giappichelli. One should note, however, that it is difficult to attribute to the
dissertation a stronger, direct causal link to Weber’s subsequent work, as a result of both the
topic and approach of his habilitation (Weber, Max. 1891. Die römische Agrargeschichte in ih
rer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht. Stuttgart: Enke), and the subsequent work on
methodology, in particular, the essay: Weber, Max. 1907/2012. Stammler’s ‘Overcoming’ of
the materialist conception of history. In Max Weber Collected Methodological Writings, hrsg.
Hans Henrik Bruun and Sam Whimster. London: Routledge, p. 185 – 226, which Weber ex-
plicitly draws upon in his response to Kantorowicz.
50 Weber, Max. 1911/2012. Intervention in the debate on H. Kantorowicz’s paper on ‘Legal Sci-
ence and sociology’. In Max Weber Collected Methodological Writings, hrsg. Hans Henrik
Bruun and Sam Whimster London: Routledge, p. 365 – 369, here p. 365.
51 Weber. Intervention in the debate on H. Kantorowicz’s paper, p. 365.
124 Peter Langford and Ian Bryan
can be posed to a legal rule. The distinction between these questions demarcates
the field of law from that of sociology, which is immediately revealed by posing the
question of what “the ‘meaning’ of this legal rule is; that is to say: We can assume
that we are in the presence of a general, hypothetically formulated norm, and ask:
as [this norm] is formulated, is it applicable in cases X, Y and Z, in the sense that
a judge who wishes to deliver a ‘correct’ judgment would have to rule in such and
such a way ?”.52 For Weber, this is “a question of dogma, and not of fact; not a soci-
ological question in any sense of the word, but a pure question of law”.53
In contrast, the sociological field is revealed by posing a distinct question to
the same legal rule, and, in posing this question, the legal rule “not only immedi-
ately changes its meaning, but becomes something else entirely”.54 The existence
of a legal rule within the field of sociology entails: “if the facts X, Y, Z (which I just
mentioned) are present, then there is a certain actual probability, a ‘chance’, that
factual consequences of a certain kind will occur, and that an actual compulsion
will be exerted in a certain direction in favour of [any] person who turns to cer-
tain authorities established by the state – the ‘courts’ – and who is willing and able
to pay required amount of money and to accept whatever further repercussions
[these actions] could have”.55
This, in turn, produces a sociological reinterpretation of the ‘legal-dogmat-
ic’ notion of the validity of a legal rule: “[t]here is a certain probability that certain
actual circumstances will lead to a certain compulsory intervention by the state”.56
The centrality of the notion of a probability which cannot be calculated – ‘chance’ –
indicates, for Weber, that the initial methodological framework of this sociolo-
gy contains no significant distinction between the methods of the natural and the
social sciences. Probability within the legal field and, in particular, the process of
legal decision-making, is the degree of non-calculable certainty that a particular
interpretation of “a printed rule contained in a Code” will be the “‘usual interpre-
tation’”: “the power of the state will in fact support the economic or other inter-
ests in question”.57 Hence, the sociological methodology creates a reinterpretation
of the validity of a legal rule in which the ‘legal-dogmatic’ notion – the material-
isation or application of a legal rule in a process of legal decision-making – is re-
placed with “an empirical probability of facts”.58
From this, the further process of the sociological determination of the validity
of the legal rule shifts from “the juridical sense [of] a legal Ought” to questions
which involve reference to a “practically infinite complex” which is essentially fac-
tual in character.59 The connection between this approach and Weber’s earlier-
work, Stammler’s ‘Overcoming’ of the materialist conception of history,60 becomes
explicit in Weber’s reutilization of the plurality of senses that can be attributed
to the concept of the United States. This concept and its associated meanings are
introduced in order to exemplify and reinforce the distinction between the ap-
proach of legal science and that of social science.61 The distinction is introduced
in order to demarcate an autonomous domain of analysis, but has no pretention
to supplant or erase the domain of legal-dogmatic analysis. Thus, Weber arrives
at the point of intersection with Kantorowicz’s presentation – the question of the
relationship between legal science and sociology. For Weber, the domain of legal-
dogmatic analysis is, in its relationship to the domain of sociological analysis, ac-
corded a comparative heuristic advantage which flows from the superior logical
clarity of its concepts.62 Sociological analysis commences from the conceptual re-
sources furnished by legal-dogmatic analysis and, through the introduction of the
distinct notion of validity, performs a type of internal semantic transformation of
the particular legal concepts.63 The semantic transformation entails the shift of the
object of validity, from the realm of the ideal to the realm of the real: the shift from
correspondence with an ideal, normative sense to correspondence with a real, em-
pirical sense of the probability that “people, and in particular judges, will act in a
certain way which corresponds to it”.64
The delineation of this relationship leads to Weber’s reposing of Kantorowicz’s
question: “how is it logically possible that sociological findings can nevertheless be-
come important for legal considerations ?”.65 Weber accepts that the superior logi-
cal clarity of legal norms is qualified by Kantorowicz’s presentation of the essential,
logical imperfection of the legal system in which they are situated.66 Thus, the
demonstration of logical imperfection opens the question of the place of the ‘het-
erogeneous approach’ of the sociological method.67 For Weber, as for Kantorowicz,
there can be no simple substitution of the legal-dogmatic by the sociological, only
the potential, in situations in which the legal-dogmatic method confronts the log-
ical imperfection of the legal system, for the sociological method to form the “ba-
sis for determining the purpose of legal norms”.68
From this position, Weber then proceeds to analyse the explicit provision in
Article 1 of the Swiss Civil Code 1907 (in force 1912), to which Kantorowicz had
also made reference in his preceding presentation.69 The Article is considered, by
Weber, to be formulated in a manner which appears, in the situation of the imper-
fection of a statute, to circumscribe legal decision-making by a duty analogous in
formulation to that contained in Kant’s Critique of Practical Reason. The duty, as
understood by Weber,70 is one in which the process of legal decision-making is
undertaken ‘as if ’ (als ob) the judge were in the position of the legislator; and, if it
continues to be articulated within this framework, it remains unable to express the
logical possibility for the relationship between the heterogeneous fields of the ju-
ridical and the sociological. The expression of this relationship, following Weber’s
agreement71 with the interjection of Kantorowicz, consists of understanding the
duty as one which “must have recourse to sociological considerations in order to
72 Weber. Intervention in the debate on H. Kantorowicz’s paper, p. 367. The words are those of
Kantorowicz.
73 This final paragraph is not included in the Bruun and Whimster edition, the quotation here
refers to the partial translation of this paragraph contained in Jacobson’s and Schlink’s book
on Weimar jurisprudence: Weber, Max. 1911/2000. On Legal Theory and Sociology. In Wei
mar. A Jurisprudence of Crisis, hrsg. Arthur J. Jacobson and Bernhard Schlink. Berkeley: Uni-
versity of California Press, p. 50 – 53, here p. 53.
74 Both terms are placed in quotation marks in the original. Although Weber provides an at-
tribution to Jhrering for the notion of “formal justice”, through without, from a value-neu-
tral orientation, ascribing Jhering’s superior value to formal justice, the origin of the notion
of “Kadi justice” is only revealed in Weber’s Economy and Society as one which he appropri-
ates from the work of Richard Schmitt, in particular, the article: Schmidt, Richard. 1908. Die
deutsche Zivilprozessreform und ihr Verhältnis zu den ausländischen Gesetzgebungen. In
Zeitschrift für Politik 1, p. 245 – 275 (The reference is to be found in: Weber, Max. 1978. Econo-
my and Society. Vol. 2, hrsg. Guenther Roth and Claus Wittich. Berkeley: University of Cali-
fornia Press, p. 976, footnote 2).
128 Peter Langford and Ian Bryan
replaced with a more complex framework within which the notions of formal and
substantive law are established and related to each other.78
A certain affinity remains79 between the 1910 response and Economy and So-
ciety concerning the methodological orientation of sociology to the field of le-
gal norms and legal-dogmatic analysis. However, this is now associated with the
structure of a significant historical exposition of the developmental tendencies
and characteristics of law – a process of legal rationalization – in the chapter, in
Economy and Society, entitled Sociology of Law.80 The complex process of legal ra-
tionalization which Weber presents, with its depth and wealth of accompanying
footnotes, represents the assertion of a methodological distinction between We-
berian sociology and that of Kantorowicz and the Free Law Movement. The dis-
tinction, which is simultaneously the assertion of superiority or primacy over the
approach of the Free Law Movement, commences from the capacity of this pro-
cess of rationalization and its periodization to confine the Free Law Movement to
the phenomenon of modern law.81
This initial methodological approach enables Weber to proceed to consider
the Free Law Movement as one particular expression of the wider anti-formalist
tendencies in the further process of development of modern law. The approach in
Economy and Society thus extends beyond the 1910 response to constitute the Free
Law Movement itself as an object of Weberian sociological analysis. The question
of the relationship between legal science and sociology, as a methodological ques-
tion within the parameters of the German Sociological Association (Deutsche Ge-
sellschaft für Soziologie), is now displaced by the attribution of the emergence of
the Free Law Movement to the effect of “[s]tatus ideologies of lawyers […] opera-
tive in legal theory and practice”.82
Modern law, for Weber, confronts the lawyer with increasingly circumscribed
possibilities for interpretation in which “the more universal the codified statute
law has become” the greater the confinement “to the interpretation of statutes and
contracts, like a slot machine into which one just drops the facts (plus the fee) in
order to have it spew out the decision (plus opinion)”.83 In relation to this effec-
tive challenge to interpretative autonomy of lawyers, Weber presents their asser-
tion of “‘judicial creativeness’, at least where the statute is silent”, as the basis upon
which the Free Law Movement articulates a more general position. For the Free
Law Movement, the silence of the statute “is the inevitable fate of every statute in
view of the irrationality of the facts of life; that in countless instances the applica-
tion of the statutes as ‘interpreted’ is a delusion, and that the decision is, and ought
to be, made in the light of concrete evaluations rather than in accordance with for-
mal norms”.84
The example Article 1 of the Swiss Civil Code 1907 is then reintroduced, but
subject to an altered interpretation from the 1910 response. The earlier agreement
between Weber and Kantorowicz over the potential compatibility between this
specific statutory provision, and the logical possibility of the pertinence of soci-
ology for legal decision-making, is now absent. The statutory provision is consid-
ered to dissolve rather than establish the purpose of legal norms “in view of the
inevitability of value-compromises”, and “at least in cases of conflict, would have
to admit concrete evaluations, i. e., not only nonformal but irrational lawfinding”.85
Hence, in contrast to the 1910 response, Economy and Society holds the statutory
provision to lead to the supplanting of formal legal norms by a sociological anti-
formalism.
The Free Law Movement encapsulated, for Weber, in the “doctrine of the in
evitability of gaps in the legal order as well as the campaign to recognize as fiction
the systematic coherence of the law”, is subject to “further impetus”.86 Here, We-
ber presents this impetus as a contemporaneous process of radicalization which,
commencing from the assertion of the primacy of the concrete case over gener-
al norms and legal principles, concludes with the “postulate that the true foun-
dation of law is entirely ‘sociological’”.87 This impetus is also present in another
form of radicalization related to the “modern theory of legal sources” which as-
serts, against all reference to either “customary law” or the “will of the legislator”,
the primacy of “statute rather than the legislator”, thereby confining the interpre-
tative focus to “the jurists”.88 The marginalization of the importance of “the legis-
lative determination of a legal command”, by the modern theory of legal sources,
exacerbates rather than restores legal certainty.89 For the insistence upon the con-
nection between legal validity and legal practice – “the preference for a case law
which remains in contact with legal reality” – requires a notion of legal precedent
if it is to maintain a systematic, formal certainty. For Weber, this possibility is “sub-
verted by the argument that no precedent should be regarded as binding beyond
its concrete facts. The way is thus left open to the free balancing of values in each
individual case”.90
The presence of this particular anti-formalist phenomenon, represented by the
Free Law Movement, and its further radicalization, can be understood as initial-
ly, from within the German context, as a fear of a fundamental decline in the im-
portance and freedom – “the prestige” – of “legal scholars or practitioners”.91 This
is combined, for Weber, with the desire and effective collective organization of
modern lawyers “to heighten their feeling of self-importance and to increase their
sense of power”.92 These elements in the causal explanation of this anti-formalist
phenomenon are accompanied by Weber’s situation of this fear as a reflection of
the reaction to the wider process of legal rationalization. “[A]ll variants of the de-
velopments which have led to the rejection of that purely logical systematization
of the law as it has been developed by Pandectist learning, including even the irra-
tional variants, are in their turn the product of the self-defeating scientific ration-
alism of legal thought as well as of its relentless self-criticism. To the extent that
they do not themselves have a rationalistic character, they are a flight into the ir-
rational and as such a consequence of the increasing rationalisation of legal tech-
nique. In that respect they are a parallel to the irrationalization of religion.”93
The discussion of the Free Law Movement and its anti-formalist tendencies is
then supplemented by the discussion of the effect upon formal legal rationalism of
contemporary Anglo-American Law and Lay Justice and Corporative Tendencies
in the Modern Legal Profession. The further tendencies and causes of anti-formal-
ism are identified and discussed providing a multi-causal or plurivocal interpreta-
tive understanding of the tensions within modern law. The approach of Economy
and Society reveals the double particularism of the Free Law Movement. It is re-
vealed in both the particularism of its sociological origin in the sectional or group
interests of lawyers and legal scholars and in its contribution, as a determinate and
particular cause, to the anti-formalist tendencies of modern law. In this manner,
Weber seeks a methodology which will simultaneously acknowledge and under-
mine the challenge of the Free Law Movement.94
The first, explicit engagement, by Kelsen, with the work of Kantorowicz is con-
tained in the critical review95 of Kantorowicz’s presentation, Rechtswissenschaft
und Soziologie, and Kornfeld’s Soziale Machtverhältnisse: Grundzüge einer allge
meinen Lehre vom positiven Recht auf soziologischer Grundlage.96 In the part of the
review dedicated to Rechtswissenschaft und Soziologie, Kelsen’s approach is one of
a fundamental methodological critique. It centres upon revealing its incoherence
and its reflection of a more general underlying self-destructive drive (Selbstver-
nichtungstrieb)97 of the Free Law Movement in its attempt to effectively supplant
jurisprudence, as a theory of positive law, with a sociology of law.
The presentation of the relationship between sociology and jurisprudence, in
Rechtswissenschaft und Soziologie, is considered, by Kelsen, to develop the earlier
insights of the 1906 Manifesto.98 In particular, Kelsen indicates the emphasis upon
the fundamental limitations of the prevailing legal theory of positive law, the in-
evitable presence of gaps in a system of positive law and the concomitant require-
ment for legal decision-making based upon a free law orientated by sociology. The
94 Kantorowicz, however, initially continues, after Weber’s death, to emphasize his adherence
to the Weberian project. See: Kantorowicz. Max Weber; and Kantorowicz. Der Aufbau der
Soziologie.
95 Kelsen, Hans. 1912. Zur Soziologie des Rechtes. Kritische Betrachtung. In Archiv für Sozial-
wissenschaft und Sozialpolitik 34, p. 601 – 614. All references are to the version reproduced
with the same pagination as the original, in Paulson, Stanley L. (Hrsg.). 1992. Hans Kelsen
und die Rechtssoziologie. Aalen: Scientia.
96 Kornfeld, Ignatz. 1911. Soziale Machtverhältnisse. Grundzüge einer allgemeinen Lehre vom
positiven Recht auf soziologischer Grundlage. Wien: Manz.
97 Kelsen. Zur Soziologie des Rechtes, p. 602.
98 Kelsen. Zur Soziologie des Rechtes, p. 603.
Kelsen, Weber and the Free Law Movement* 133
critique commences from the insistence upon the maintenance of the methodo-
logical distinction between a theory of positive law and a sociology of law.99
This insistence is then transposed into two forms of critical analysis of Kan-
torowicz’s approach. The initial form of critical analysis consists of a re-exam-
ination of the central object of Kantorowicz’s critique: jurisprudence. Kelsen
proceeds to demonstrate the caricatural presentation of jurisprudential theories
of positive law as the counterpart of the apparently radical innovation of Kantoro
wicz and the Free Law Movement.100 The exclusive concentration is upon the car-
icatural presentation of older jurisprudential theories of positive law without the
acknowledgement of their modification and transformation by more recent ju-
risprudential theories of positive law. In this manner, for Kelsen, Kantorowicz is
unable to recognise the presence of normative change and a dynamic theory of
positive law in these older theories.101 This is combined with the failure to consid-
er that the more recent theories of positive law in which the static and dynamic
conceptions of a system of positive law maintain a continuous logical relationship
between the system of positive law and the process of legal decision-making. This
logical relationship is essential, for Kelsen, in order to be capable of conceiving of
the possibility of a legal system. Hence, the Free Law Movement’s conception of
a sphere of legal decision-making which, as a result of ‘gaps’, is beyond or outside
the existing system of norms of positive law, must be analysed with extreme cau-
tion (größter Vorsicht).102 The contrast which the Free Law Movement seeks to in-
stall, based upon the existence of ‘gaps’, between legal decision-making which is
sine lege (without law and, thus, legitimate) and contra legem (against the law and,
thus, illegitimate) is, for Kelsen, logically untenable: there is no pertinent differ-
ence between the notions of contra legem and sine lege.103
From this position, Kelsen then shifts the focus of critical analysis to two ex-
amples which Kantorowicz utilizes to demonstrate the existence of ‘gaps’ in the
system of positive law. In relation to criminal law, the example of sentencing for
a criminal offence, where the tariff is set between a minimum and a maximum,
rather than a single, fixed term, the judicial decision is not ‘free’, for Kelsen, but
remains within the parameters established by the legal system. In relation to civil
law, the example of Article 1 of the Swiss Civil Code of 1907, is, for Kelsen, merely a
restatement of accepted and unexceptional judicial practice, rather than the most
advanced recognition of the new “freedom” of legal decision-making.104
The two forms of critical analysis, which indicate the Kelsenian methodologi-
cal divergence from Kantorowicz and the Free Law Movement, are themselves in-
dicative of more fundamental differences. For Kelsen, at the level of the distinction
between the old jurisprudential theory and the free law theory of positive law the
difference extends beyond the isolated question of legal decision-making to the
question of the enactment of law and the formulation of statutory provisions. The
response to this question, and the degree of judicial freedom which it recognizes,
is not, for Kelsen, juridical, but an element of broader world-view (Weltanschau-
ung).105 The further difference is, therefore, to be sought in the foundation of Kan-
torowicz’s sociology of law upon the work of Rickert. Here, Kelsen considers that
Kantorowicz’s respective definitions of a sociology of law and of jurisprudence
provide a confirmation not of the auxiliary position of a sociology of law, but of
the fundamental methodological distinctness of sociology and jurisprudence.106
The reconsideration of the Free Law Movement, within what might be broadly
termed the interwar Austrian legal philosophy of the ‘Vienna School’, originates
in the work of another member, Fritz Schreier. It is not Kelsen, but Schreier who
is the first to recognize the potential importance and affinity with the Free Law
Movement, in particular, with regard to the question of legal interpretation, and
to emphasize the pertinence of a serious re-engagement with the work of the Free
Law Movement by the Vienna School.107
sion in: Loidolt, Sophie. 2011. Einführung in die Rechtsphänomenologie. Eine historisch-syste
matische Darstellung. Tübingen: Mohr (Siebeck).
108 As Paulson notes (Paulson. Formalism, ‘Free Law’, and the ‘Cognition’ Quandary, p. 20)
there is, prior the Pure Theory of 1934, an acknowledgement of the affinity between a pure
theory of law and the Free Law Movement, on the final page of Kelsen’s short article: Kelsen,
Hans. 1929. Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre. In Juristische Wochenschrift 58,
p. 1723 – 1726.
109 All references are to the English translation by S. L. Paulson and B. Litschewski-Paulson:
Kelsen, Hans. 1934/2002. Introduction to the Problems of Legal Theory. Oxford: Oxford Uni-
versity Press.
110 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 77 (§ 32).
111 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 77 (§ 33).
112 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 78 (§ 33).
113 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 78 (§ 34).
136 Peter Langford and Ian Bryan
the sense of the norm which, in turn, leads to the question of the disjunction or
discrepancy between the “linguistic expression of the norm and the will of the
norm-issuing authority”.114
Both forms of indeterminacy at the lower level, as processes of interpreta-
tion of a higher-level norm, reveal “various possibilities for applying the higher-
level norm”.115 From this, it follows, for Kelsen, that the meaning of the higher-
level norm is “simply a frame within which various possibilities for application are
given, and every act that stays within the frame, in some possible sense filling it in,
is in conformity with the norm”.116 Legal interpretation then becomes “the discov-
ery of the frame that the norm to be interpreted represents and, within this frame,
the cognition of the various possibilities for application”.117 The characterization
of legal interpretation in this manner entails that it ceases to be the determination
of “the only norm possible” and is, instead, a choice of one of the possibilities de-
lineated by the frame of the higher-level norm.118
The affinity between the Free Law Movement and the Kelsenian science of pos-
itive law, as expounded in the Pure Theory of Law, is evident in Kelsen’s subsequent
discussion and critique of the method of “traditional jurisprudence”: the method
“for filling in the discovered frame correctly”, which rests upon a distinction be-
tween mind and will in which it is the mind alone that selects, and this selection is
the “correct choice”.119 For Kelsen, there exists no method for ascertaining the cor-
rect norm from range of possibilities, and the existing jurisprudential theories of
interpretation are to be understood as having achieved the more limited position
that the particular choice is “merely a possible result”.120 The presumption of tra-
ditional jurisprudence, orientated by the primacy accorded to the mind, that the
indeterminacy of the higher-level norm is overcome by “cognition of the existing
law”, is, thus, revealed to be self-contradictory, as it undermines the very possibil-
ity or existence of interpretation.121
Hence, for Kelsen, “[t]he necessity of an ‘interpretation’ arises precisely be-
cause the norm to be applied – or the system of norms – leaves open various pos-
sibilities, which is really to say that neither the norm nor the system of norms
provides a decision as to which of the interests involved is of greater value. This de-
cision, this ranking of interests, is left instead to a future act of norm creation – to
the judicial decision, for example”.122 This, in turn, reverses the primacy accorded,
by traditional jurisprudence, to cognition and replaces it with a primacy accorded
the will. In this reversal, Kelsen also emphasizes his methodological distance from
the preceding legal ‘positivism’ of the nineteenth century with its “illusion of legal
certainty”: “law as a fixed system governing every aspect of human behaviour, in
particular the activity of law-applying organs, above all the courts”.123
The primacy which Kelsen accords to the will in the process of interpretation,
in conformity with the Free Law Movement, is not the assertion of mere arbi-
trary will. However, the Pure Theory introduces the further precision that it is the
reflection of the position of the legislator and the judge in relation to the essen-
tial indeterminacy of the hierarchical structure of a legal system of positive law.124
This acknowledges the different degrees of interpretative freedom of the legislator
(wider) and the judge (narrower) in relation to the common process of “creating
law”.125 The notion of ‘creation’ is to be understood as one of relative freedom as,
in order to be legal interpretation, it has to result in a choice through which “the
frame of the general norm is filled out thereby”.126 In this process, cognition is,
therefore, not removed, but confined to “discovering the frame within which the
act of application is to be confined”.127
From this position, Kelsen then introduces a stronger demarcation between
the Pure Theory of Law and his understanding of the Free Law Movement. This en-
tails a simultaneous recognition and dissolution of the Free Law Movement’s as-
sertion of a ground for legal interpretation outside the existing system of positive
law. The process of recognition and dissolution can be held to be directed, in par-
ticular, at Kantorowicz’s ‘Manifesto’ and the Rechtswissenschaft und Soziologie as
both contain, through in different forms, the assertion of this ground beyond the
frame of the general norm.
For the Pure Theory, the ground beyond the frame of the general norm arises
from the inherent capacity for legal cognition to exceed the methodological lim-
its of the discovery of the frame of the general norm. The passage beyond these
methodological limits is, however, to relinquish legal cognition, as the cognition
of positive law, and to engage in the “cognition of other norms, which now make
their way into the law-creating process, the norms, namely, of morality, of jus-
tice – social-value judgments”.128 In contrast, legal cognition, as a process of legal
interpretation, remains within the methodological limits of the Pure Theory, and
can only characterize these social-value judgments negatively: “they do not stem
from the positive law itself ”, and, thus, apart from this characterization, “noth-
ing can be said about their validity and whether or not they can be identified”.129
Hence, the position of Kantorowicz, in which there exists a supplementary or aux-
iliary ground for legal cognition is dissolved by the Kelsenian definition of le-
gal cognition as one confined to positive law. The Free Law Movement’s position
of both positive law and an auxiliary ground is replaced with either positive law
or norms which are external to positive law. The either/or position of the Kel
senian approach is accompanied by the assertion, which derives from Kelsen’s ear-
lier essay of 1928, Natural Law Doctrine and Legal Positivism, of the primacy of a
self-contained positive law which is both static and dynamic. The system of pos-
itive law, as an exclusively “human, arbitrary order”,130 is capable of modification
and change, and has the continual potential to transform the legal norms which
are contained within it. The potential dualism of the Free Law Movement’s pres-
entation of two sources of legal cognition is overcome by the dynamic character of
positive law: the necessity to engage in legal interpretation created by the essential
indeterminacy of a hierarchical system of positive law.
This is accompanied by the capacity of the system of positive law to include or
encompass social-value judgments, however, the process of inclusion is a process
of formal, institutional, legal recognition – the transformation of norms previous-
ly external to the existing system of positive law into legal norms. Thus, for Kel
sen, “the authority called upon to act [to engage in an act of legal interpretation] is
free to do so according to his own discretion unless the positive law itself author-
izes some metalegal norm such as morality, justice, and so on. This norm, howev-
er, would be thereby transformed into a norm of positive law”.131 In this manner,
the primacy of positive law, as a dynamic normative system, is combined with a
128 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 83 (§ 38). Kelsen designates them here
as “customary catch-phrases” such as “‘welfare of the people’, ‘public interest’, ‘progress’”.
129 Kelsen. Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 83 (§ 38).
130 Kelsen, Hans. 1928/2006. Natural Law Doctrine and Legal Postivism. In General Theory of
Law and State. New Jersey: Transaction Publishers, p. 391 – 446, here p. 393.
131 Kelsen Introduction to the Problems of Legal Theory, p. 83 (§ 38).
Kelsen, Weber and the Free Law Movement* 139
this gap – the fiction – is revealed as “nothing but the difference between the posi-
tive law and a system held to be better, more just, more nearly right”.136 The fiction
enables the orientation to the discovery of the frame of the norm and its applica-
tion to be replaced by another norm whilst maintaining the appearance of legal in-
terpretation as the “application of the norm to be interpreted”.137
For Kelsen, this, in turn, reveals the fictional status of a notion of technical
gaps at the level of legal interpretation of a statute and of a notion of a legislator’s
theory of gaps and its explicit expression in specific statutory provisions. The no-
tion of technical gaps, in which “the legislator fails to regulate something that he
would have to regulate to make technically possible the application of a statute”,138
is simply either the difference between positive law and desired law or a less pre-
cise formulation of the indeterminacy flowing from “the frame-like character of
the norm”.139 The notion of a legislator’s theory of gaps is merely the attempt, by
a higher level in the normative hierarchy to simultaneously acknowledge and cir-
cumscribe the inherent indeterminacy of a system of positive law and its legal in-
terpretation. This theory of gaps recognizes that the “full import of law creation
threatens to shift from the general to the individual level, that is, from the legisla-
tor to the law-applying authority”.140 It responds to the risk that the process of le-
gal interpretation will transform itself into one of a “delegated legislator even in
cases where the original legislator would wish to have the statute applied”.141 The
form of response is one which explicitly specifies the parameters of the exercise
of discretion in the event of the discovery of a ‘gap’ in the statute. It seeks to cir-
cumscribe or minimize “this risk as much as possible, the empowerment to cir-
cumvent the statute is formulated in such a way that the law-applying authority is
not made aware of the extraordinary power that is actually being delegated to him.
He is to believe that he may forebear from applying the statute only in those cases
where it cannot be applied because it is in and of itself impossible to apply”.142 The
fiction is the legislator’s introduction of a relationship between statute and gap in
a system of positive law in order to “have the effect that the law-applying authori-
ty makes only the most sparing use of his conceded freedom not to apply the stat-
ute to a concrete case”.143
5 Conclusion
The emergence of the Free Law Movement and, within it, the work of Kantorowicz,
represents a concerted attempt to reorient the conception of a system of codified
positive law and the parameters of legal decision-making. The ‘Manifesto’ of 1906,
and the further development of its themes in Rechtswissenschaft und Soziologie of
1910, articulate a significant theoretical project which seeks to integrate the con-
temporaneous discussion of the methodological foundations of the social and cul-
tural sciences. The integration of this discussion extends the purview of the Free
Law Movement to encompass the question of the methodological status and foun-
dation of a theory of law.
The extent of this methodological challenge to the determination of the pa-
rameters of a theory of law is recognized by both Kelsen and Weber. In particular,
Kelsen and Weber consider the Free Law Movement to pose the question of the
relationship between a legal theory of positive law and a sociology of law. It is the
seriousness of this question, and the methodological challenge that it represents,
which animates their distinct responses to Kantorowicz.
For Weber, whose invitation of Kantorowicz to the first meeting of the German
Sociological Association enables the presentation of 1910, there is an initial degree
of affinity between their methodological approaches. Weber’s response to Kan-
torowicz emphasizes the methodological distinction between the legal-dogmatic
and the sociological approach to a legal norm. This is then the basis for repos-
ing Kantorowicz’s question as the logical possibility for the sociological approach
to be integrated or incorporated into the legal-dogmatic approach. The acknowl-
edgement of this possibility is, however, qualified by Weber’s final remarks which
indicate the potential for the dissolution of the certainty of modern, formal legal
rationality by the unconstrained adoption of ‘free law’. These hesitations and con-
cerns are subsequently reformulated in Economy and Society to mark a divergence
between Weber and Kantorowicz concerning the characterization of modern law.
For Weber, the Free Law Movement is now itself the subject of sociological anal-
ysis and represents a particular element or aspect of the anti-formalist tendencies
of modern law. This final methodological distance from, and critique of, the Free
Law Movement is the basis upon which Weber seeks to dissolve the challenge of
the Free Law Movement.
For Kelsen, the approach is marked by the initial, overt expression of distance
from the Free Law Movement of the 1912 review, and the insistence upon the effec-
tive separation of a theory of positive law from a sociology of law. The subsequent
return to the questions posed by the Free Law Movement, in the Pure Theory of
Law of 1934, represents a different approach which is centred upon overturning or
undermining, from within, the challenge of the Free Law Movement. Kelsen, by
142 Peter Langford and Ian Bryan
demonstrating a degree of openness in the system of positive law which the Free
Law Movement is unable to conceive (and here, Kelsen returns, in this sense, to
the critical perspective of the 1912 review which holds that the Free Law Movement
has a simplistic or caricatural conception of positive law). This openness – the es-
sential indeterminacy created by the hierarchical structure of positive law – re-
veals a degree of freedom in relation to which any notion of gaps in the law is both
logically impossible and indicative of the introduction of extra-legal limits to this
underlying indeterminacy.
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Kelsen, Weber and the Free Law Movement* 143
1 Zuerst 1926 publiziert in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 55, S. 800 – 818. Für
die vorliegende Edition wurde die Rechtschreibung behutsam dem aktuellen Standard ange-
passt, allerdings nicht in Zitaten, die Sander wiedergibt; Hervorhebungen in Form von Sper-
rungen wurden als Kursivierungen abgebildet, wobei Sperrungen von Eigennamen nicht
übernommen wurden; Nachweise von Zitaten stehen sämtlich in Fussnoten; die Zitation
wurde den Richtlinien dieses Jahrbuch-Bandes angepasst; ergänzend wurde ein Literatur-
verzeichnis erstellt [d. Hrsg.].
Zur Bedeutung von Fritz Sander für die Rechtstheorie und die Rechtssoziologie und ins-
besondere zum Verhältnis von Fritz Sander zu Hans Kelsen siehe die Sekundärliteratur am
Schluss des Beitrags [d. Hrsg.].
begriff immer. Bezeichnet man unter ‚Form‘ einer gewissen Klasse psychischer
Akte jene Merkmale, welche allen Akten dieser Klasse generell zukommen, unter
‚Inhalt‘ jene Merkmale, welche nur gewissen Akten dieser Klasse individuell zu-
kommen, so ist also nicht das ‚Rechtliche‘ die Form der gesellschaftlichen Akte,
vielmehr das ‚Gesellschaftliche‘ die Form der rechtlichen Akte, deren ‚rechtliche
Merkmale‘ ihren ‚Inhalt‘ bilden. Die Entgegensetzung von Rechtssoziologie als
Lehre von der ‚Tatsache‘ ‚Recht‘ und von ‚Rechtsdogmatik‘ als Lehre vom ‚Sinn‘
‚Recht‘ kann nur als die Entgegensetzung theoretischer und praktischer Rechts-
wissenschaft Bestand haben, denn die Soziologie des Rechtes hat, wie jede Geistes-
wissenschaft, ‚Sinn‘ zum Gegenstande, und zwar den ‚Sinn‘ der Rechtsakte. Jener
‚Sinn‘ hingegen, welcher der Rechtsdogmatik als Gegenstand zugeordnet wird und
welchen man ‚idealen‘, ‚objektiven‘, ‚normativen‘ Sinn des Rechtes nennt, ist über-
haupt nicht der Sinn der Rechtsakte, die intentionale Meinung der Rechtsakte set-
zenden ‚zuständigen‘ Menschen, sondern der Sinn, welchen die ‚freie‘ Interpreta-
tion der Rechtsdogmatik auf Grund vergangener Rechtsakte künftigen Rechtsakten
zumisst, anrät, vorschreibt. Alle Begriffe der Rechtsdogmatik zielen auf rechtswis-
senschaftliche Auslegung des Rechtes, sind nicht Recht, sondern logische Refle-
xionen über vergangene Rechtsakte und logische Forderungen an zukünftige
Rechtsakte. Die Rechtsdogmatik ist also ihrem Wesen nach eine praktische Wis-
senschaft vom Rechte, ist Rechtspolitik. Insoferne nun die Urteile der Rechtsdog-
matik auf Beeinflussung künftiger Rechtsakte zielen, sind sie gesellschaftliche Akte,
und können den Gegenstand einer besonderen Gesellschaftslehre bilden, einen
Gegenstand, der zum Gegenstande der Rechtswissenschaft in einer genetischen
Beziehung stehen kann. Denn die Urteile der Rechtsdogmatik spielen eine erheb-
liche Rolle unter den Motiven der Rechtsakte, sind aber niemals selbst Rechtsakte,
welchen allen das meinende Moment der ‚Zuständigkeit‘ wesentlich ist, die Mei-
nung, dass der dem intentionalen Gegenstande des Aktes adäquate Zustand durch
‚Zwang‘ wirklich gemacht werden kann. Da die Rechtsdogmatik sich für eine theo-
retische Rechtswissenschaft erachtete, und den rechtswissenschaftlichen Sinn nicht
vom rechtlichen Sinne scharf sonderte, war sie keine reine Rechtslehre, hatte viel-
mehr Rechtliches (Rechtsakte) und Nicht-Rechtliches (auf Rechtsakte bezogene
nicht-rechtliche Akte) zum Gegenstande. Auch als praktische Rechtswissenschaft
kann die Rechtsdogmatik niemals reine Rechtswissenschaft sein, weil sie das
Recht samt gewissen seiner Motive im Blicke hat. Nur die Rechtswissenschaft als
besondere Gesellschaftslehre kann sich als reine Rechtswissenschaft konstituieren,
weil sie allein das Recht als Kollektivum rechtlich-gesellschaftlicher Akte aus-
zusondern und abzugrenzen vermag. Nicht jede intentionale Beziehung kann
Glied jener Aktmannigfaltigkeit sein, welche man ‚Recht‘ nennt, insbesondere
auch nicht die erkennende oder fordernde intentionale Beziehung des rechtswis-
senschaftlichen Urteiles, sondern lediglich das gesellschaftliche Urteil, es werde
150 Fritz Sander
(a) durch den Ausdruck eigener Wünsche und Urteile im anderen ein Verstehen
des Ausgedrückten und das Urteil hervorgerufen werden, dass er, der andere, zu
dem ausgedrückten Wunsche adäquater Handlungen übergehen werde, und (b),
falls diese Handlungen nicht eintreten, werden dritte Personen den dem ausge
drückten Wunsche adäquaten Zustand – und nur dem diesem ausgedrückten
Wunsche adäquaten Zustand – wenn nötig mit Zwang herstellen.2 Wenn sich die
theoretische Rechtswissenschaft als Gesellschaftslehre in dem hier angedeuteten
gegenständlich bestimmtem Sinne konstituiert, betritt sie das von Webers ‚verste-
hender Soziologie‘ abgegrenzte Gegenstandsgebiet. Die Grenzziehung zwischen
Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie war eines jener Probleme, die zum wieder-
holten Male Webers Untersuchung herausforderte,3 mit dem Ergebnisse, dass We-
ber lediglich der Rechtssoziologie den Charakter einer empirischen Wissenschaft
zuerkannte. Obwohl nun Weber definitionsweise die Möglichkeit einer nicht-em-
pirischen Wissenschaft vom Rechte mehrfach anerkannte, scheint doch gerade
aufgrund seiner bezüglichen Aufstellungen der Charakter der Rechtsdogmatik als
einer theoretischen, will sagen, ohne Wertung der Erkenntnis hingegebenen Wis-
senschaft durchaus fragwürdig zu sein: Was im Sinne reiner Wissenschaft vom
Rechte ausgesagt werden kann, wird eigentlich durchaus der verstehenden Sozio-
logie vorbehalten, welche mit ihrem Anspruche nunmehr in einen strikten Ge-
gensatz zu einer Rechtslehre wie jener Kelsens tritt, der gerade die Rechtsdogma-
tik als reine Rechtslehre in Anspruch nimmt. Die Auseinandersetzung zwischen
der verstehenden Rechtssoziologie Webers und der normativen Rechtslehre Kel-
sens bildet einen, wenn nicht den Kernpunkt einer sehr interessanten und wert-
vollen Schrift Siegfried Marcks,4 der von der Entgegensetzung funktionaler und
substantialer Rechts- und Staatsauffassungen ausgeht, von denen die erstere Auf-
fassung „den Primat der spezifischen Rechtsformen gegenüber den sozialen In-
halten, die in jenen ihre rechtliche Bedeutung erhalten“, behauptet.5 Marck lehnt
Kelsens Begriff der Soziologie als „eine Form naturwissenschaftlich verstandener
Psychologie“ ab, die vielmehr „nur eine Form der verstehenden intentionalen Psy-
2 Die Meinung (a) umfasst die generellen gesellschaftlichen Wesensmerkmale jedes Rechts-
aktes (vgl. meine Abhandlung: Sander, Fritz. 1925a. Der Gegenstand der reinen Gesell-
schaftslehre. In Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 54, S. 329 – 423). Die Meinung
(b) umfasst die individuellen Momente des Rechtsaktes. Diese Meinung wird hier bloß ange-
deutet, ihre eingehende Analyse behalte ich einer baldigen besonderen Publikation vor.
3 Weber, Max. 1922. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr (Siebeck),
S. 86 ff., 170, 182, 394 ff., 322 ff., 435 ff. und 565 ff.; Weber, Max. 1925. Wirtschaft und Gesell-
schaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr (Siebeck), passim.
4 Marck, Siegfried. 1925. Substanzbegriff und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie. Tübin-
gen: Mohr (Siebeck).
5 Marck. Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 3.
Zum Problem der Soziologie des Rechtes 151
chologie sein kann“.6 Er entscheidet sich grundsätzlich für meine Auffassung vom
bloß reflexiven Charakter der Rechtswissenschaft – d. h. für die theoretische
Rechtswissenschaft als Verstehen des ‚subjektiv gemeinten‘ Sinnes der Rechtsakte
im Gegensatze zum sog. objektiven Sinne, welchen die rechtswissenschaftliche
Auslegung postuliert,7 verwirft jedoch wie Kelsen,8 Binder9 u. a. meine Auffassung
der Rechtsakte als Urteile. Die hier und sonst erhobene Einwendung, dass „Urteile
nur im Rahmen einer Wissenschaft“ möglich seien, ist jedoch m. E. durchaus halt-
los, da gerade im Sinne der modernen deskriptiven Psychologie ‚Urteilen‘ eine
Grundfunktion allen Seelenlebens darstellt. Einwendungen wären nur dagegen zu
erheben, dass in meinen bisherigen Schriften das unterscheidende Wesen der
Rechtsurteile noch nicht mit genügender Klarheit herausgearbeitet war, obwohl
auch in dieser Beziehung mein Begriff der intentionalen Zuständigkeitsmeinung
genügend Anhaltspunkte bot. Inzwischen musste ich zu der Auffassung gelangen,
dass alle gesellschaftlichen Akte Urteile sind,10 welche Auffassung sich übrigens
jeder empirischen Betrachtung des Gesellschaftlichen aufdrängen muss.11 Wenn
Marck das Recht als „souveräne atheoretische Geltungssphäre“ bezeichnet, so liegt
dies durchaus im klaren Sinne meiner Lehre, die im wiederholt hervorgehobenen
Begriffe der ‚Zuständigkeit‘ die Korrelativierung auf das ‚Ich‘ des Organs, also die
‚Ich‘funktion gegenüber der wissenschaftlichen ‚Ist‘funktion scharf beleuchtete.12
Obwohl sich Marck grundsätzlich für die verstehende Rechtssoziologie entschei-
det, sagt er: „erscheint weder die Trennung von objektivem und subjektivem Sinn
noch die Einordnung der Jurisprudenz in die reinen Bedeutungswissenschaften
wirklich überzeugend“.13 Marck unterscheidet nämlich „Akt, Inhalt und Gegen-
stand“, der Akt beziehe sich durch den Inhalt auf seinen Gegenstand, der inhalt-
liche Sinn eines Aktes sei also stets „subjektiv“ und „objektiv“. Indes haben Bren-
tano, Marty und Rehmke überzeugend nachgewiesen, dass die Unterscheidung
von Akt, Inhalt und Gegenstand völlig haltlos ist, einen Rest der Methode des
genetischen Naturalismus in der Psychologie darstellt. Es ist das Wesen des psy-
chischen Aktes, einen Gegenstand zu meinen, wobei ‚Gegenstand‘ ein bloß mit-
bedeutendes Wort ist, und da der Akt nichts anderes ist als ‚Meinen eines Gegen-
standes‘ tritt dem Akte kein ‚Inhalt‘, kein ‚Sinn‘ gegenüber, ist vielmehr ‚Akt‘ und
‚Sinn‘ (Gegenstandsmeinen) ein und dasselbe. Webers Unterscheidung von ‚sub-
jektivem‘ und ‚objektivem‘ Sinne zielt aber – was Marck zu übersehen scheint – auf
einen ganz anderen Sachverhalt, nämlich auf die Unterscheidung des ‚Sinnes‘, wel-
chen ein ‚gesellschaftlich Handelnder‘ gehabt hat (subjektiver Sinn), von jenem
Sinne, welchen ein Betrachter auf Grund ethischer oder logischer Postulate dem
‚gesellschaftlich Handelnden‘ bloß zumisst (objektiver Sinn). Die theoretische
Rechtswissenschaft sucht bloß den ‚subjektiven Sinn‘ zu verstehen, d. h. sie geht
unter Ausschaltung aller geforderten ‚Objektivität‘ von Sittlichkeit und Wahrheit
auf das, was seelische Wirklichkeit der ‚rechtlich Handelnden‘ ist. Deshalb muss es
als ein Rückfall in die grundsätzlich abgelehnte Auffassung vom konstitutiven
Charakter der Rechtswissenschaft bezeichnet werden, wenn Marck sagt: „Ihre re-
flexive Stellung dem Rechte gegenüber besteht vielmehr in einer inhaltlichen Voll-
endung des Rechtsurteils, in der größeren Klarheit, zu der dessen eigener im
manenter Sinn gebracht werden soll“.14 Aber die klare, reflexive Beleuchtung des
Sinnes rechtlich Handelnder ist etwas anderes als die „inhaltliche Vollendung des
Rechtsurteiles“, was ja nur bedeuten könnte, dass dem wirklichen, d. h. in der ge-
schichtlichen Erfahrung gegebenen Sinne von Rechtsakten durch die Rechtswis-
senschaft etwas zugemessen wird, was nie in ihm vorhanden war.
Gegen die Auffassung der Rechtswissenschaft als reiner Bedeutungswissen-
schaft wird ferner von Marck eingewendet, dass die Jurisprudenz „nur durch den
ständigen Ausblick ins Metajuristische, in die soziale Wirklichkeit, ihre Aufgabe
erfüllen könne“. Indes ist das gesamte Gebiet der gesellschaftlichen Wirklich-
keit ein Reich von Bedeutungen, von psychischen Akten, von ‚Geist‘, und für die
Rechtswissenschaft kommt das ‚Meta-Rechtlich-Gesellschaftliche‘ nur insoweit in
Betracht, als es etwa ein gemeinter Gegenstand rechtlicher Akte ist: Die Rechts-
wissenschaft hat es dann mit dem Meinen metarechtlicher Akte, z. B. von Herr-
schaftsakten, im Rechtsakte zu tun, was aber selbstverständlich etwas ganz anderes
ist, als jene metarechtlichen Akte selbst. Damit ist aber auch ausgesprochen, dass
der Ausblick auf Metarechtliches in keiner Weise den rechtswissenschaftlichen
‚Funktionalismus‘ zu entwurzeln vermag. Denn die Rechtswissenschaft hat es le-
diglich mit dem ‚Meinen‘ (der ‚Funktion‘) von Rechtsakten, mit dem rechtlichen
Meinen von metarechtlichen Gegenständen, z. B. Staat, niemals aber mit der Sub-
stanz jener metarechtlichen Gegenstände selbst zu tun, wie die bisherige Rechts-
wissenschaft annahm. Beschreibe ich den psychischen Akt des ‚Urteiles über ei-
nen psychischen Körper‘, so beschreibe ich nicht jenen physischen Körper selbst,
sondern etwas Psychisches, eben ein Urteil, während der Körper selbst mit dem
Urteil in einer genetisch-kausalen Beziehung stehen mag. Beschreibe ich Rechts-
akte, die immer auch etwas Metarechtliches, nämlich staatlichen Zwang, meinen,
so beschreibe ich nicht den ‚Staat‘, sondern das Meinen des Staates im Rechtsakte,
wenn auch der Staat jene ‚Substanz‘ sein mag, welche das Recht ‚trägt‘, wenn es
auch staatliche oder nichtstaatliche Herrschaftsverhältnisse sein mögen, aus de-
nen Rechtsakte als besondere Herrschaftsakte entstehen.
Sehr feine Ausführungen widmet Marck dem Probleme der Persönlichkeit im
Rechte.15 Seiner Meinung nach widerstrebt das ‚Ich‘ der Auflösung in eine Re-
lation. „Nicht etwas im Ich beharrt im Wechsel seiner Erlebnisse, sondern das
Ich selbst beharrt in allen Veränderungen“.16 „Weder der naive noch der kritische
Substanzbegriff können auf das Ich eine Anwendung finden. In Relationen aber
ist es nicht auflösbar, weil es nicht in seinen psychischen Einzelerlebnissen auf-
geht. […] So bietet sich tatsächlich in geschichtlicher Anknüpfung der Begriff der
Monade“.17 Im individuellen Rechtssubjekte erblickt Marck „ein substantielles
Künstlichwerden des im spezifisch psychologischen Sinne funktionalen Ich. Denn
nicht die Totalität des Ich kann in die Rechtssubjektivität eingehen“.18 „Person im
Rechtssinne ist allemal ein künstliches, nicht lebendiges Subjekt“.19 Indes erhebt
sich gegenüber Marck die Frage, ob das Wort ‚künstlich‘ in ‚künstliches Subjekt‘
ein bereicherndes oder ein modifizierendes Beiwort ist. Offenbar ein verändern-
des Beiwort; d. h. aber, ein ‚künstliches Subjekt‘ ist überhaupt kein Subjekt, wel-
ches immer ein ‚lebendiges Subjekt‘, also die ‚physisch-psychische Totalität‘ eines
menschlichen Individuums ist. Wenn behauptet wird, daß die ‚Ich-Substanz‘ nicht
Gegenstand der theoretischen Rechtswissenschaft sein könne, so gründet sich die-
se Behauptung auf den Sachverhalt, dass Gegenstand der Rechtswissenschaft nur
das Recht, d. h. gewisse psychische Akte von Menschen, nicht aber Menschen
selbst sind. Selbstverständlich läßt sich kein psychischer Akt von der Totalität des
zugehörigen Subjektes wirklich loslösen: Jeder psychische Akt, also auch jeder
Rechtsakt, trägt das Moment des ‚Ich-Bezuges‘ in sich. Aber dieses ‚Meinen des
eigenen Ich‘ in jedem Akte ist etwas ganz anderes als das ‚eigene Ich‘ selbst, ist eine
intentionale Relation zum eigenen Ich, nicht aber die wirkliche Substanz des ei-
genen Ich. Man bezeichnet nun alle Rechtsakte, welche durch das Moment des in-
tentionalen Bezuges auf das gleiche Ich gekennzeichnet sind, welche zum gleichen
Erlebnisstrome gehören, als ‚Rechtssubjekt‘, als ‚Rechtspersönlichkeit‘, was aber
eine sprachliche Fiktion ist, da man sonst mit ‚Subjekt‘ nicht gewisse Akte eines
Menschen, sondern dessen einheitliche Totalität bezeichnet. ‚Dieser Mensch ist
Rechtssubjekt‘ bedeutet nichts anderes als: ‚Dem Erlebnisstrome dieses Menschen
gehören Rechtserlebnisse an‘, d. h. er fällt in gewissen Lagen das Urteil, dass er
durch gewisse Ausdrücke andere Menschen veranlassen werde, zu seinen Gunsten
gewisse Zustände herzustellen. Das Problem des ‚Rechtssubjektes‘, der ‚Rechtsper-
son‘ ist kein sachliches Problem der theoretischen Rechtswissenschaft, sondern
ein terminologisches Problem. ‚Rechtssubjekt‘, ‚Rechtspersönlichkeit‘ sind bild-
liche Fiktionen der inneren Sprachform, welche den intentionalen Bezug gewisser
Gruppen von Rechtsakten auf ein Ich kennzeichnen, Fiktionen, welche den Wert
einer abkürzenden Ausdrucksweise haben, indem eine Mannigfaltigkeit gleich-
artiger Akte eines ‚Subjektes‘ durch das Wort ‚Subjekt‘ selbst bezeichnet wird.
Wenn bereits in der herrschenden Lehre von der individuellen Rechtspersön-
lichkeit Fiktionen der figürlichen inneren Sprachform die wahre Bedeutung ge-
wisser Worte verdecken, so verdunkelt in noch weit höherem Maße das Sprach-
gewand den Begriff in der herrschenden Lehre von der Verbandspersönlichkeit.
Marck erkennt mit scharfem Blicke das „Problematische der Übertragung
des Ich-Begriffes auf die sozialen Kollektivphänomene“,20 welche Übertragung
für die organische Rechts- und Staatsauffassung charakteristisch ist. Die gesell-
schaftlichen Kollektiva sind nach Marck nicht „Ich“, sondern „Ganzheit“. Für die
Beziehung von Ganzheit und Ich stellt Marck die folgende Skala von Verbin-
dungen auf: „1. im realen individuellen Ich finden wir Ganzheit und Ich unlös-
bar vereint; 2. die soziale Gemeinschaft stellt eine Ganzheit, aber kein Ich dar;
3. das individuelle Rechtssubjekt ist Ich, aber nicht Ganzheit, und zwar als par-
tieller Ausdruck des realen individuellen Ich, das eben zugleich Ganzheit bedeu-
tet; 4. die juristische Verbandsperson ist ebenfalls Ich und nicht Ganzheit, und
zwar als künstliches Abbild des sozialen Gebildes, das seinerseits nur Ganzheit
und keine Ichhaftigkeit darstellt“.21 „[A]lles was von der Beziehung des Rechts-
subjektes überhaupt zum Ich gesagt wurde, läßt sich streng analog auf die Bezie-
hungen zwischen juristischer Verbandsperson […] und Gemeinschaft übertragen.
Die Gemeinschaft, die hier allerdings nicht Person, sondern lediglich Ganzheit ist,
stellt die soziale Realität dar, die Verbandsperson im juristischen Sinne ihr sub-
stanzialisiertes Abbild“.22 Marck betont also sowohl die ‚Künstlichkeit‘ der indivi-
duellen, als auch jene der Verbandspersönlichkeit. Wie das individuelle Rechts-
subjekt ihm ein künstliches, substanzialisiertes Abbild des realen Ich, so bedeutet
ihm die juristische Verbandsperson ein künstliches, substanzialisiertes Abbild der
realen Gemeinschaftsganzheit. Indes liegt – was Marck leider übersieht – diese
‚künstliche substanzialisierte Abbildung‘ lediglich in den Worten: Es handelt sich
durchwegs um sprachliche Fiktionen, die aus gedanklicher Unklarheit entstanden
sind und (oder) dem Zwecke bequemer Abkürzung dienen. Die innere Sprach-
form für die Bezeichnung eines Kollektivums wird sehr häufig den Worten zur
Bezeichnung einzelner individueller Gegebenheiten entnommen. Wie im Begrif-
fe der individuellen Rechtspersönlichkeit die Mannigfaltigkeit der Rechtsakte ei-
nes menschlichen Individuums selbst bezeichnet wird, so wird auch im Begriffe
der rechtlichen Verbandspersönlichkeit – z. B. Staatspersönlichkeit – die Mannig-
faltigkeit gewisser Rechtsakte mehrerer menschlicher Individuen durch das Wort
zur Bezeichnung eines menschlichen Individuums selbst bezeichnet. Nur weil die
rechtswissenschaftliche und rechtliche Sprache fiktiv auf Substanzen bezügliche
Worte zur Bezeichnung von seelischen ‚Funktionen‘ (Rechtsakten) verwendet, hat
überhaupt das gänzlich unfruchtbare Problem der ‚Rechtspersönlichkeit‘ in end-
lose Erörterungen der Rechtswissenschaft seinen Einzug gehalten. Die mensch-
lichen Verbände sind Mannigfaltigkeiten von Akten verschiedener Menschen
und niemals – auch nicht im Rechte – eine ‚Persönlichkeit‘. Wenn gesagt wird,
dass ein menschlicher Verband im Rechte als ‚Persönlichkeit‘ auftritt, so ist dies
wieder lediglich eine abbreviative Sprachfiktion für den Sachverhalt, dass, wäh-
rend gewöhnlich Rechtsakte ‚im Interesse‘ jenes Menschen vollzogen werden, des-
sen Erlebnisstrome sie zugehören, gewisse Menschen – die sog. Verbandsorga-
ne – Rechtsakte vollziehen, die nicht – oder nicht vorwiegend – ihrem ‚Interesse‘,
sondern dem Interesse eines Verbandes, also mehrerer anderer Menschen, dienen.
Auch der rechtliche Organakt ist aber nur Akt der individuellen Organpersön-
lichkeit, nicht einer ‚Verbandspersönlichkeit‘, welches Wort vielmehr stets nur ge-
wisse Beziehungen von Akten eines Menschen zu Akten anderer Menschen zum
Ausdrucke bringt. Die Lehre von der Verbandspersönlichkeit lässt mit besonde-
rer Klarheit hervortreten, wie am Eingange aller Gesellschaftslehre eine Kritik der
Sprache, insbesondere eine Unterscheidung von ‚innerer Sprachform‘ und ‚Bedeu-
tung‘ (im Sinne Anton Martys) Platz zu nehmen hat. Und in besonderem Maße
gilt dies wieder von der Theorie der gesellschaftlichen Kollektiva, auf deren Gebie-
te häufig die wahre Bedeutung von Worten durch deren bildliche innere Sprach-
form völlig verdrängt wird, insbesondere durch den sprachlichen Kunstgriff, ein
Mannigfaltiges individueller Dinge durch Worte zu benennen, die gewöhnlich zur
23 Jerusalem, Franz W. 1925. Soziologie des Rechts. I. Band: Gesetzmäßigkeit und Kollektivität.
Jena: Fischer.
24 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. V.
25 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 3.
Zum Problem der Soziologie des Rechtes 157
bunden“.26 Der vorliegende erste Band des Werkes Jerusalems bietet jedoch noch
nicht eine eigentliche Soziologie des Rechtes, sondern setzt es sich zur Aufgabe,
die „Gegenständlichkeit des sozialen Lebens überhaupt“ zu untersuchen. Dies soll
von der Basis der beiden Prinzipien der Gesetzmäßigkeit und der Kollektivität aus
erfolgen. Nach einer Einleitung über „[d]ie lebendige Energie“ beschäftigt sich
zunächst der erste Teil des Bandes mit der „Gesetzmäßigkeit“. Rücksichten auf
den zur Verfügung stehenden Raum verbieten es mir, mich mit den Darlegun-
gen dieses ersten Teiles näher zu beschäftigen. Indes soll nicht verschwiegen wer-
den, dass diese Darlegungen gerade vom Standpunkte einer reinen, d. h. deskrip-
tiven Soziologie die stärksten Bedenken hervorrufen müssen. Jerusalem vindiziert
der gesamten „lebendigen Energie“, also auch der menschlichen Gesellschaft, ei-
nen „Drang zur Gesetzmäßigkeit“, einen „Drang zur Reduktion“, einen „Drang zur
Selbstverwirklichung“ und einen „Drang zur Freiheit“. Ganz abgesehen nun von
dem Umstande, dass die Formulierung dieser vier Arten des ‚Dranges‘ trotz zahl-
reicher Beispiele aus den verschiedensten Gegenstandsgebieten reichlich unklar
bleibt und ganz disparate Tatbestände mit einem Worte bezeichnet werden, ergibt
sich vor allem die Einwendung, dass gerade im Sinne der Methode der reinen Ge-
genständlichkeit zunächst der konkrete Gegenstand beschreibend umgrenzt wer-
den muss; da dies nicht geschieht, ist es ein fragwürdiges Unternehmen, aus weit-
abliegenden Ursachen – Arten des ‚Dranges‘ – die ‚Gesellschaft‘ ableiten zu wollen.
Die genetische Methode setzt eben die deskriptive Methode voraus, d. h. wir müs-
sen vor allem wissen, nach wessen Ursachen gefragt wird, weil sich sonst der auf-
gezeigte Kausalnexus in den Horizont einer vagen Unendlichkeit verliert und wir
keine Gewähr dafür haben, dass wir einen Weg gerade zu dem konkreten Gegen-
stande finden. Ganz besonders bedenklich erscheint es, wenn Jerusalem häufig als
Analogie zu gesellschaftlichen – also psychischen – Tatbeständen Beispiele her
anzieht, welche dem Gebiete physischer Tatbestände entnommen sind. Hier und
dort bedeutet der ‚Drang‘ etwas ganz Verschiedenes: Die ‚Gesetzmäßigkeit‘ der
belebten und unbelebten Materie ist ein deskriptiver Ausdruck für unverstande-
ne Gegebenheiten wiederkehrender Aufeinanderfolgen, die ‚Gesetzmäßigkeit‘ des
Geistes und also auch der Gesellschaft hingegen verstehen wir, weil sie das Ergeb-
nis rationaler Zweckmäßigkeitserwägungen und anderer verstehbarer Motive ist.
Im ersteren Falle ist der ‚Drang zur Gesetzmäßigkeit‘ nichts anderes als eine unpas-
sende Verdoppelung des Tatbestandes ‚Gesetzmäßigkeit‘, da wir ja niemals einen
‚Drang‘, sondern lediglich eine ‚Gesetzmäßigkeit‘ der Materie erleben; im letzteren
Falle ist ‚Drang zur Gesetzmäßigkeit‘ eine Bezeichnung für die Motive der Gesetz-
mäßigkeit, die wir aber alle konkret zu verstehen vermögen, weshalb ihre Benen-
dies nämlich nicht der Fall, dann reden wir von Nicht-Gegebenem, also von ei-
nem Nichts, welches nur durch ethisch-politische Postulate zu einem ‚Etwas‘ ge-
macht werden kann. Indes dürfen die Gesellschaftswissenschaften überhaupt nur
mit der allergrößten Vorsicht, nur dann, wenn jede andere Erklärung einer gesell-
schaftlichen Tatsache unmöglich erscheint und bedeutende, sorgfältig erwogene
Indizien vorliegen, zur Annahme psychischer Erscheinungen greifen, welche heu-
te nicht mehr unmittelbar erlebt werden ! Umso größere Vorsicht wird die Ge-
sellschaftslehre in dieser Beziehung walten lassen müssen, je entfernter und un-
zugänglicher jene historische Zeit ist, in welcher die angenommenen psychischen
Erscheinungen vorhanden gewesen sein sollen. Und selbst wenn schließlich eine
Hypothese seelischer Erscheinungen, die der heutigen Psychologie nicht oder nur
als krankhafte Erscheinungen bekannt sind, nicht völlig absurd erscheint, wird
immer noch zu prüfen sein, ob diese Hypothese nicht ein ethisch-politisches Pos-
tulat in sich birgt, welches gewisse seelische Erscheinungen für die Gegenwart for-
dert und die Wirklichkeit solcher Erscheinungen in eine ferne Vergangenheit ver-
legt, wo eben alles so herrlich war, wie es nun wieder werden soll.
Diese Prüfung wird in jeder Hinsicht auch auf Jerusalems Aussagen über das
‚Prinzip der Kollektivität‘ angewendet werden müssen. Jerusalem sucht nämlich
das Wesen des Kollektivgeistes nicht durch Analyse gegenwärtiger seelischer Ge-
gebenheiten, die uns ja am besten zugänglich sind, zu bestimmen, sondern er ver-
legt die Blüte des Kollektivgeistes in die ferne Zeit der „Urkollektivität“. „Es ent-
hüllt sich ein allgemeines Entwicklungsgesetz, wonach alles menschliche Dasein
vom Kollektivismus zum Individualismus strebt, um von da wieder zum Kollekti-
vismus zurückzustreben, und es zeigt sich, daß die Lebensformen des individua-
listischen Zeitalters nur Funktionen in dieser Entwicklung darstellen“.29 Dass es
nun aber einmal ein ‚kollektivistisches‘ Zeitalter mit den gleich zu ‚betrachtenden‘
seelischen Erscheinungen der ‚Urkollektivität‘ gegeben habe, wird von Jerusalem
nicht durch umfassende und eindringende psychologische Analyse historischer
Gegebenheiten, sondern fast ausschließlich durch Berufung auf die Gesellschafts-
lehre Othmar Spanns und vor allem auf die Untersuchungen Otto Gierkes über
das deutsche Genossenschaftswesen zu beweisen versucht. Indes irrt Jerusalem,
wenn er die Organologie gewissermaßen als die moderne, im Vordringen befind-
liche Gesellschaftslehre darstellt.30 Vielmehr gehört die organische Gesellschafts-
lehre einem überwundenen wissenschaftlichen Zeitalter, jenem der Romantik, an,
und lediglich dem Umstand, dass die Gesellschaftslehre der Romantik gewisse
ethisch-politische Dogmen in sich birgt, welche heute im deutschen Volke wie-
der lebendig gemacht werden sollen, verdankt der Romantizismus in der Gesell-
31 Vgl. meine Abhandlung: Sander, Fritz. 1925b. Othmar Spanns ‚Überwindung‘ der individua-
listischen Gesellschaftsauffassung. In Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52, S. 11 –
80. Vgl. ferner: Litt, Theodor. 1924. Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kultur-
philosophie. Leipzig: Teubner, welches Buch eine meisterhafte Kritik der Gesellschaftslehre
Spanns und der organischen Gesellschaftslehre überhaupt enthält. Litts Gesellschaftslehre
zeigt vor allem, daß die moderne deskriptive Psychologie weit schärfere Instrumente zur
Zergliederung des Kollektivgeistes bereitgestellt hat, als sie jemals der organischen Gesell-
schaftslehre zur Verfügung standen.
32 Gierkes Gesellschaftslehre ist nur aus ihrem ethisch-politischen Kerne verständlich. Vgl.
Sander, Fritz. 1922. Staat und Recht. Prolegomena zu einer Theorie der Rechtserfahrung.
I. Halbband. Leipzig, Wien: Deuticke, S. 299 ff. Ebenso wie bei Gierke die letzte Stütze der
organischen Gesellschaftslehre im Appell an das Erlebnis von 1871 besteht, findet sich bei Je-
rusalem mehrmals die Berufung auf den Geist von 1914.
33 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 172 [Hervorhebungen von Fritz Sander; die Hrsg.].
34 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 184 [Hervorhebungen von Fritz Sander; die Hrsg.].
35 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 196 [Hervorhebungen von Fritz Sander; die Hrsg.].
36 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 221 [Hervorhebungen von Fritz Sander; die Hrsg.].
37 Jerusalem. Soziologie des Rechts, S. 223 und 228.
Zum Problem der Soziologie des Rechtes 161
den kann, das also nur unmittelbar zu verstehen ist“.38 „Wissenschaftliche Arbeit
hat das Denken zum Ausgangspunkt, die Aufstellung fester, d. h. gesetzmäßiger
Begriffe; der Kollektivgeist aber, auch da, wo er gegenständlich auftritt, hat nur
teilweise gesetzmäßige Formen ausgebildet, vielfältig tritt er nur als Gefühl auf,
das sich jedem Versuch einer begrifflichen Bestimmung entzieht“.39 Der Kollektiv-
geist und seine Aktionsform, der Gesamtakt, wird aber auch von Jerusalem be-
grifflich beschrieben: „Wir brauchen uns nur vorzustellen, daß die gegenseitige
Angleichung der Genossen in dem Prozeß der passiven und aktiven Fühlung eine
so vollkommene ist, daß sie nicht mehr als eine Summe von Aktionsformen der
Einzelnen erscheint, daß vielmehr der Vorgang der Angleichung sich völlig ver-
wischt hat, völlig verschwunden ist: als ein einheitlicher Stern kreist dann das Kol-
lektiverlebnis durch die Seelen der Glieder der Kollektivität. Jetzt macht es auch
keine Schwierigkeiten mehr, sich vorzustellen, daß dies geistige Erlebnis, das vom
Standpunkte individuellen Selbstbewußtseins der Höhepunkt eines Einfühlungs-
prozesses ist, in Wirklichkeit am Anfange gestanden hat, während das individu
elle, geistige Leben das Entwicklungsprodukt jenes kollektiven geistigen Erlebnis-
ses darstellt“.40 „[I]st die Kollektivität […] auch Einheit, und zwar durch die
Einheit des geistigen Lebens, in dem ihre Glieder verschmolzen sind“.41 „Das geis-
tige Leben in der Kollektivität ist in erster Linie nicht Gegenstand eines Selbst-
bewußtseins“.42 „Es mag dahingestellt bleiben, ob das geistige Leben, das in dieser
Symbiose als Gesamtakt zum ersten Male entstand, aus dem physiologischen Da-
sein hervorgegangen ist, oder ob eine überirdische Macht, indem sie jene Lebens-
gemeinschaft herbeiführte, dem Menschen ein besonderes geistiges Leben ein-
hauchte, wodurch er sich von nun an wesenhaft von seinesgleichen unter den Tie-
ren unterschied“.43 „Was dieser Inhalt in der Urkollektivität gewesen ist, wissen wir
nicht und können wir nicht wissen, nur rückschließend darf man annehmen, daß es
vom heutigen Standpunkte aus völlig inhaltlos war und ohne jeden konkreten In-
halt die im Gesamtakt Verbundenen durchströmt haben muß“.44 „Im Zeitalter des
Kollektivismus, jedenfalls noch in der frühen Zeit, erscheint der Gesamtakt als das
Gefäß, innerhalb dessen allein geistiges Leben möglich ist; in ihm müssen sich
die Glieder der Kollektivität zum Genusse des geistigen Erlebnisses vereinen“.45
„Höhepunkte des kollektiven Lebens sind ferner alle Zusammenkünfte der Genos-
sen, insbesondere der Gesamtakt“.46 „Ueberall, wo es sich darum handelt, ein Kol-
lektiverlebnis oder religiöse Gefühle hervorzurufen, sucht man deshalb das ratio-
nale Denken auszuschalten“.47 „Eine Kollektivität ist nur da vorhanden, wo die
Verschmelzung der Träger des Kollektivgeistes zu einer Einheit des geistigen Er-
lebnisses eine so intensive ist, daß jene in einer gesetzmäßigen Ordnung zum Er-
lebnis des Kollektivgeistes periodisch zusammentreten.“48 „Das geistige Erlebnis,
welches sich in dem Gesamtakt vollzieht, flutet, wie wir sahen, wie ein einheitli-
cher Strom durch die Seelen der Teilnehmer.“49 „Denn der geistige Gesamtakt ist
geistige Verschmelzung seiner Träger.“50 „Das Ich und Du innerhalb der Kollekti-
vität sind mit anderen Worten ursprünglich identisch.“51 „Zum Wesen der Kollek-
tivität gehört also der körperliche Zusammenschluß, wenn er auch nicht dauernd
besteht, sondern nur in bestimmter Gesetzmäßigkeit wiederhergestellt wird.“52
Warum aber – fragen wir – soll man das alles ‚denken‘, ‚vorstellen‘, ‚annehmen‘,
warum soll man die Schwierigkeiten, welche sich diesem Vorstellen entgegenstel-
len, überwinden, warum, mit einem Worte, wird diese ganze Hypothese eines Ur-
kollektivgeistes eingeführt, da doch Jerusalem von uns bekannten Erlebnissen nur
jenes der „Hypnose“53 als Analogie zum Kollektiverlebnis heranzuziehen vermag,
während die Psychologie der normalen Seelenerlebnisse vollständig ausreicht, um
die Erscheinungen der gesellschaftlichen Kollektivität zu erklären, ja sie allein im-
stande ist, uns diese Gegebenheit verstehend zu durchleuchten ? Jerusalem zieht
als Beispiel für die Einheit des Kollektiverlebnisses die „Debatte“ herein: „Ein Vor-
gang, bei dem es sich um eine unmittelbar nachweisbare Einheit des geistigen Er-
lebnisses handelt, ist die Debatte. Besonders in dem Beschluß, in welchem die De-
batte ausmündet, enthüllt sich ihre innere Einheit mit voller Deutlichkeit. Aus
dem Hin und Her der aufgetauchten Gedanken, die in die Debatte geworfen, auf-
genommen, zurückgewiesen oder modifiziert werden, geht schließlich als Resul-
tat etwas hervor, an dem zwar alle mitgearbeitet haben, ohne daß aber der einzel-
ne ein selbständiges Urheberrecht für sich in Anspruch nehmen und ohne daß
dasjenige, was jeder hinzugefügt hat, als Teil einer mechanischen Zusammen-
fügung betrachtet werden könnte“.54 Dass jedoch ein ‚Beschluss‘ eine ‚innere geis-
tige Einheit‘ der Beschließenden sei, ist lediglich eine als solche nützliche, weil ab-
kürzende Fiktion der inneren Sprachform. Denn in Wirklichkeit ist das geistige
Erlebnis des Beschlusses ein Kollektivum von individuellen psychischen Akten,
die gesellschaftlich aufeinander bezogen, aber niemals eine ‚Einheit‘ sind, wofern
nicht ‚Einheit‘ bloß bedeutet, dass alle diese psychischen Akte gewisse gleiche We-
sensmerkmale haben. Die juristische Frage, wie aus einer Vielheit von Willen ein
einheitlicher Wille entsteht, ist natürlich, wenn man innere Sprachform und Be-
deutung verwechselt, ein barer Unsinn. Die Frage hat vielmehr zu lauten: Welcher
(oder welche) von vielen individuellen Beschlussakten soll (sollen) dem Wesens-
inhalte nach zu einem derartigen Ausdrucke gelangen, dass dann Menschen in
verstehender Rückbeziehung auf den ausgedrückten Beschluss ausführende
Handlungen setzen ? In gleicher Weise wird Jerusalem von Sprachfiktionen der ju-
ristischen Terminologie getäuscht, wenn er meint, dass das ‚Resultat‘ nicht den in-
dividuellen Beschlussakten zugerechnet werden könne. Denn aus der Tatsache,
dass es kein Urheberrecht an Beschlüssen gibt, weil der Beweis der individuellen
Urheberschaft im einzelnen Falle schwierig oder unmöglich ist, kann nicht ge-
schlossen werden, dass in Wirklichkeit keine individuelle Urheberschaft an dem
Beschlusse vorhanden sei, wenn es sich auch nicht um eine ‚mechanische Zusam-
menfügung‘ handelt, die ja hinsichtlich psychischer Akte, ortloser Gegebenheiten,
undurchführbar ist. Wenn also Jerusalem sagt: ‚Die Einheit des geistigen Erlebnis-
ses ist bei der Debatte etwas objektiv Gegebenes‘, so muss ihm entgegengehalten
werden, dass die Frage geistiger Einheit lediglich von der Psychologie entschieden
werden kann, hingegen der Begriff der ‚Einheit‘ in der Rechtswissenschaft, auf
welchen sich die mythischen Gebilde der ‚juristischen Persönlichkeit‘ und des ‚Ge-
samtwillens‘ stützen, immer nur eine Fiktion der inneren Sprachform zur abkür-
zenden Bezeichnung von Individuellem, also nicht Einheitlich-Geistigem ist. Das
von Jerusalem herangezogene Beispiel der ‚Debatte‘ zeigt evident, dass die Gebilde
der metaphysischen Gesellschaftslehre nur so lange Bestand haben, als die nüch-
terne Analyse der deskriptiven Psychologie nicht angewendet oder nicht genü-
gend weit getrieben wird.
Überdies enthält aber auch Jerusalems Gesellschaftslehre einen Wesenskern
ethisch-politischer Postultate, welcher ihm vielleicht nicht bewusst war, jedoch
bei nüchterner Betrachtung mit voller Helligkeit das Gehäuse der wissenschaftli-
chen Ausführungen durchstrahlt. Jerusalem legt zunächst Wert auf die Betonung
der (behaupteten) Tatsache, dass die Urkollektivität ein rein geistiges Erlebnis ge-
wesen sei: „Der Satz, daß der Mensch ein animal social sei, ist oft ausgesprochen,
noch öfter wiederholt worden. Aber er bedeutet nicht nur, daß der Mensch des
Menschen bedarf, weil er von Natur von allen Tieren am hilflosesten ist, bedeutet
nicht nur, daß er einen Instinkt zum geselligen Leben hat, sondern daß das Men-
schendasein im weitesten Umfange kollektiven Charakter hat. Nur die biologi-
schen und physiologischen Vorgänge im Menschen gehören nicht dazu; alle ande-
164 Fritz Sander
chen Kollektivlebens; sein Auftreten bedeutet für den einzelnen die Rückkehr in
jene Regionen irrationaler Geistigkeit, wo er das Erlebnis der Kollektivität ge-
nießt“.69 „Sichtbar tritt das geistige Leben, insbesondere der Kollektivgeist i. e. S. in
den Aktionen des Menschen in die Erscheinung. Dieser gibt vor allem dem Men-
schen die Haltung und den Inhalt seines Lebens. Erfüllt von ihm ist er edel, gut,
tapfer; jede Tugend hat in ihm ihren Ursprung. Jedes Verbrechen, jede Gemein-
heit und Niederträchtigkeit bedeutet nur, daß der Kollektivgeist in dem einzelnen
nicht lebendig oder nicht mehr stark genug ist“.70 „Im Banne eines Kollektiverleb-
nisses von großer Intensität ist der Selbsterhaltungstrieb der Kreatur ausgelöscht.
Im Augenblicke nationaler Gefahr läßt auch der Mensch des individualistischen
Zeitalters sein Leben mit der gleichen Todesverachtung, wie es der primitive für
die Kollektivität opfert“.71 Es ist zu fürchten, dass sich vom Boden einer derartigen
Lehre von der Kollektivität aus sehr schwer nur eine Brücke schlagen läßt zu jener
‚rein gegenständlichen‘ Darstellung des Rechtes, welche Jerusalem uns für den
zweiten Band seines Werkes in Aussicht gestellt hat. Bereitwillig stimmen wir Je-
rusalem zu, wenn er sagt, dass Staat und Recht nur von der Grundlage der Kollek-
tivität aus begriffen werden können und „daß nicht der Staat, sondern die Kollek-
tivität Ausgangspunkt der Lehre vom Recht sein muß“.72 Indes muss die Theorie
der Kollektivität sich aus jener ethisch-politischen und ‚weltanschaulichen Grund-
lage‘ befreien, welche sie für jede wissenschaftliche Verwendung unbrauchbar
macht. Es ist kein Zufall, dass Jerusalem zu wiederholtem Male Rousseau als jenen
Denker hervorhebt, welcher als erster einer Rückkehr vom Individualismus zum
Kollektivismus den Weg gewiesen hat. Denn ebenso wie Rousseau ist auch Jerusa-
lem Anhänger des Naturrechtes, d. h. er projiziert ethisch-politische Postulate auf
das angebliche Seiende einer fernen Vergangenheit, die bei Rousseau ‚Natur-
zustand‘, bei Jerusalem ‚Urkollektivität‘ heißt, in beiden Fällen aber passender das
‚Märchen vom goldenen Zeitalter‘ heißen sollte. Dieses Märchen zerrinnt jedoch,
wenn wir die ‚Urzeit‘ und den ‚primitiven‘ Menschen frei von allen ‚weltanschau-
lich‘ gefärbten Hypothesen betrachten und mit der nüchternen Methode der mo-
dernen deskriptiven Psychologie zu verstehen suchen. Dann tritt unserem Blicke
keineswegs ein Mensch gegenüber, welcher in kollektiven Gesamtakten ein eksta
tisches geistiges Leben führt, außerhalb dieses Gesamtaktes aber in tierischem
Dasein dahindämmert, sondern ein Mensch, der bewusste Individualität besitzt,
der zwar ein anderer Mensch ist als wir, aber eben ein Mensch mit den wesentli-
chen psychischen Zügen alles Menschlichen, ein Mensch, der vorstellt, urteilt und
fühlt und eben deswegen allein Gegenstand der gegenwärtigen verstehenden Wis-
senschaften sein kann.73
Literatur
Beck, Walter. 1924. Das Individuum bei den Australiern. Ein Beitrag zum Problem der
Differenzierung primitiver Gesellschaftsgruppen, im Zusammenhang mit dem
psychologischen Problem der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung. Leipzig:
Voigtländer.
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73 Vgl. zu dieser Frage die außerordentlich interessante Schrift: Beck, Walter 1924. Das Indivi
duum bei den Australiern. Ein Beitrag zum Problem der Differenzierung primitiver Gesell-
schaftsgruppen, im Zusammenhang mit dem psychologischen Problem der Persönlichkeit und
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168 Fritz Sander
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Nach den Staaten
Alexandre Kojève, das Problem des Universalrechts
und die University in Exile
Peter Gostmann
Alexandre Kojève ist, folgt man den Herausgebern einer kürzlich erschienenen,
als Euro Trash angezeigten Textsammlung, ein „Erdenbürger“ mit „Standortvor-
teile[n]“, die sich den „Umwege[n]“, die ihn beizeiten „nach Europa führten“, ver-
danken.1 Der erste Text der Sammlung, der diese Überlegung illustrieren soll, ist
die deutsche Übersetzung eines Kommentars Kojèves aus dem Jahr 1950 zu einem
Vermerk Thierry de Clermont-Tonnerres, seines Vorgesetzten im Ministère des Fi-
nances et des Affaires économiques; er galt dem Betreff nach einer „[p]olitisch-öko-
nomische[n] Ableitung des Status“ einer „Europäischen Investitionsbank“.2 Wir
wollen, der Hypothese der Herausgeber von Euro Trash folgend, versuchen zu ver-
stehen, was sich unter einem solchen Erdenbürger mit Standortvorteilen vorstel-
len ließe. Dabei gehen wir von Kojèves Kommentar zu Clermont-Tonnerres Ver-
merk aus; unser besonderes Augenmerk liegt allerdings darauf, seine Umwege
genauer zu ermitteln. Wir werden argumentieren, dass in dieser Hinsicht für Ko-
jèves späteren europäischen Standort besonders bedeutsam seine Vorstellung ei-
nes Universalrechts ist; und dass wir, wenn wir diese Vorstellung verstehen wollen,
nicht ignorieren sollten, dass Kojève sie unterwegs entwickelt – weswegen wir die
Frage der vorläufigen Trägerschaft dieses Universalrechts mit Hilfe des Motivs ei-
ner University in Exile erläutern.
1 Bromberg, Svenja, Mühlhoff, Birthe, und Scholz, Danilo. 2016. Standortvorteile. In Euro
Trash, hrsg. Svenja Bromberg, Birthe Mühlhoff und Danilo Scholz. Berlin: Merve, S. 8 – 22,
hier S. 8.
2 Kojève, Alexandre. 2016. Notiz für die Menschheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In Euro Trash, hrsg. Svenja Bromberg, Birthe Mühlhoff und Danilo Scholz. Berlin: Merve,
S. 23 – 31, hier S. 23.
14 Kojève. Outline of a Phenomenology of Right, S. 175. Vgl. Davie, Maurice R. 1929. The Evolu-
tion of War. A Study of its Role in Early Societies. New Haven: Yale University Press.
15 Nichols. Kojève, S. 48.
16 Vgl. Lomas, Robert. 2002. The Invisible College. The Royal Society, Freemasonry and the Birth
of Modern Science. London: Headline Book Publishing. Vgl. überdies: Haas, Peter M. 1992.
Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination. In: Interna-
tional Organization 46, S. 1 – 35.
17 Gostmann, Peter, und Meyer, Thomas. 2012. Formal Aspects of ‚The Nature of Politics and
Society‘. An Analysis of the ‚University in Exile‘, 1933 – 45. In Socjologiczna perspektywa pro-
cesów kształtowania życia społecznego. Roczniki Nauk Społecznych 40/4, S. 89 – 114; Krohn,
Claus-Dieter. 1993. Intellectuals in Exile. Refugee Scholars and the New School for Social Re-
search. Amherst: University of Massachusetts Press; Lachman, Charles. 1976. The Univer-
Nach den Staaten 173
Kojève. Um den Bogen zurück zum Thema Europa und zur Frage der Standort-
vorteile von Erdenbürgern, die Umwege nach Europa geführt haben, zu schlagen,
kommen wir abschließend (5.) auf Kojèves 1957 vor dem Rhein-Ruhr-Klub vor-
getragene Überlegungen zum Kolonialismus in europäischer Sicht18 zu sprechen.
sity in Exile. In Discourse 2, S. 25 – 37; Luckmann, Benita. 1981. Eine Universität im Exil. Die
Graduate Faculty der New School for Social Research. In Die Soziologie in Deutschland und
Österreich 1919 – 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Köl-
ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 23, S. 427 – 441; Rutkoff, Pe-
ter M. und Scott, Wiliam B. 1986. New School. A History of the New School for Social Research.
New York: Free Press.
18 Kojève, Alexandre. 1998. Kolonialismus in europäischer Sicht. In Schmittiana. Beiträge zu
Leben und Werk Carl Schmitts. Band VI, hrsg. Piet Tommissen. Berlin: Duncker & Humblot,
S. 126 – 140.
19 Descombes, Vincent. 1981. Das Selbe und das Andere, S. 17 und 11 – 12.
20 Descombes. Das Selbe und das Andere, S. 37.
21 Descombes. Das Selbe und das Andere, S. 37. Vgl. Kojève. Introduction à la lecture de Hegel,
S. 435.
174 Peter Gostmann
22 Descombes. Das Selbe und das Andere, S. 38. Vgl. Kojève. Introduction à la lecture de Hegel,
S. 301.
23 Diese Überlegung setzt voraus, dass Kojève nicht nur zum Zeitpunkt der Seminarreihe, son-
dern auch später, als er im französischen Staatsdienst arbeitete, nicht davon ausging, die
besagte Schlussszene stände unmittelbar bevor. Gegen diese Überlegung sprechen – wenn
wir seine Aneignung des Hegel-Worts von der List der Vernunft ernst nehmen und ein we-
nig hermeneutische Mühe aufbringen – weder Kojèves ironische Äußerungen in Rezensio-
nen von Romanen Raymond Queneaus (Kojève, Alexandre. 2007. Die Romane der Weisheit.
In Überlebensformen, hrsg. Andreas Hiepko. Berlin: Merve, S. 7 – 26) bzw. Françoise Sagans
(Kojève, Alexandre. 2007. Die letzte Neue Welt. In Überlebensformen, hrsg. Andreas Hiepko.
Berlin: Merve, S. 27 – 38) während der 1950er Jahre, noch die Spekulation, die Schlussszene
sei bereits im Gang, mit der er später Journalisten und für Spekulationen empfängliche Leser
von Magazinen unterhielt (Kojève, Alexandre. 2007. Philosophen interessieren mich nicht,
ich suche Weise. Interview mit Gilles Lapouge. In Überlebensformen, hrsg. Andreas Hiepko.
Berlin: Merve, S. 58 – 66).
Nach den Staaten 175
24 Vgl. Lilla. Mark. 2016. The Reckless Mind. Intellectuals in Politics. New York: New York
Review of Books, S. 113 – 136.
25 Descombes. Das Selbe und das Andere, S. 37. Vgl. Kojève. Introduction à la lecture de Hegel,
S. 435.
26 Nichols. Kojève, S. 22; Kojève. Hegel, S. 20 – 47; Hegel. Phänomenologie des Geistes, S. 127 –
136.
176 Peter Gostmann
gen gewesen sein werden, die in ihrer Zeit als kriegerische „Katalysator[en]“ zu
diesem Hindurchgang beigetragen haben.33
Zum Zeitpunkt des Kommentars zum Clermont-Tonnerre-Vermerk ist offen-
kundig für Kojève Europa eine Größe, die, jedenfalls im größeren Maßstab (der
Welt), nicht noch einmal Sieger sein wird; Europäer sind Sieger von einst, auch
wenn sie womöglich noch 1950 hier und dort wie Herren behandelt werden mö-
gen. Gerechtfertigter als gegenüber den Europäern ist es gegenüber den Vereinig-
ten Staaten und der UdSSR, wenn man sie als Sieger behandelt; immerhin sind
beides, wie erinnerlich, für Kojève Größen, die zu genuinem politischem Handeln
in der Lage sind. Allerdings sind offensichtlich in Europa ebenso wie in den Ver-
einigten Staaten und der UdSSR, neben den Staatsleuten und Regierungen, die
den herrschaftlichen Qualitäten der drei Größen Ausdruck verleihen, auch aller-
lei Knechte am Werk: jene Größen, die, als ihre demographische Basis, die poli-
tisch-ökonomischen Strukturen Europas, der Vereinigten Staaten oder der UdSSR
unterhalten und sie in diese oder jene Richtung und mit größerer oder geringe-
rer Geschwindigkeit ausweiten, d. h. jedenfalls in Form von Arbeit an der Herstel-
lung einer technischen Welt, in der einmal die Knechte herrschen werden, betei-
ligt sind. Wir können sagen, dass als Kollektivgrößen die Vereinigten Staaten und
die UdSSR arbeitsame Herrschaften sind, dagegen Europa eine untätige (Schein-)
Herrschaft arbeitsamer Knechte darstellt.
Die List der Vernunft als eine Größe, die, wie wir gesehen haben, Verände-
rung (der wahren Prinzipien menschlicher Welt- und Selbsterkenntnis) bewirkt,
ist, unter Gesichtspunkten der Dialektik von Herr und Knecht, jedenfalls eher bei
den Knechten. Ihre Protagonisten bilden sicher keinen festen und dauerhaften
Stand. Wenn Knechte, wie wir gesehen haben, Kojève zufolge kennzeichnet, dass
sie insgesamt auf Veränderung, Transzendenz, Verwandlung und ‚Erziehung‘ ge-
stellt sind, so können wir vermuten, dass für die Protagonisten der List der Ver-
nunft von diesen Wesenszügen besonders die Transzendenz und die ‚Erziehung‘
in ihrer Arbeit eine Rolle spielen. Wenn es gelegentlich einem von ihnen gelingt,
Staatsleute und Regierungen, d. h. Repräsentanten der Herrschaft, für sich wir-
ken zu lassen, indem er deren Interessenkämpfe orchestriert, so können wir dem-
nach sagen, dass er, wenigstens punktuell, in seinem Handeln eine künftige Herr-
schaft der Knechte antizipiert. Tut er dies im Mittel des Gelds, wie es im Dienst
des Ministère des Finances et des Affaires économiques angelegen ist, so ist für ihn
dieses Mittel ebenso ein vorläufiger „Katalysator“ (einer Richtung und Geschwin-
digkeit des Wertschöpfungsprozesses),34 wie, wie wir gesehen haben, im größeren
Rahmen Kojève zufolge einmal die Herren als Katalysatoren (des Hindurchgangs
des geformten und gebildeten Menschen durch die Knechtschaft) sich erwiesen
haben werden.
3 Marseille, 1943
Dass Europa gegenüber den Vereinigten Staaten und der UdSSR als Größen der
arbeitsamen Herrschaft, die sie gegebenenfalls in einem dritten Weltkrieg bewäh-
ren könnten, eine untätige (Schein-)Herrschaft arbeitsamer Knechte darstellt, die
einen solchen Krieg tunlichst vermeiden sollten, da sie ihn nicht nur lediglich als
abhängige Größe bestreiten würden, sondern überdies in dessen Ausgang ihr po-
litisch-kultureller Referenzwert notwendig nicht mehr existieren würde, war zu
Zeiten der Pariser Seminarreihe, die Kojève bis zum Beginn eines zweiten Welt-
kriegs durchführte, nicht absehbar. Als er 1943, der Signatur nach in Marseille, sei-
nen Esquisse d’une phénoménologie du Droit abschließt,35 dürfte dieser Eindruck,
dem er dann 1950 im Kommentar zum Clermont-Tonnerre-Vermerk Ausdruck
verlieh, bereits näher gelegen haben. Marseille ist der Ort, auf den hin in den Jah-
ren zuvor eine massenhafte „Flucht vor dem deutschen Tod“ sich gerichtet hatte.36
Für die Geflohenen, Hinterlassene besiegter und siegreicher Nationalstaaten und
Vorboten des Endes des nationalstaatlichen Prinzips, gleicht dieser Ort je nach
Perspektive einem „Wartesaal“ oder der „Vorhölle“.37 Mit dem Recht können sie
hier dem Vernehmen nach nur mehr in Form magischer Praktiken, „Visentanz
und Konsulatszauber“, Umgang pflegen, um im kaum prognostizierbaren Fall de-
ren Erfolgs von hier aus bis irgendwohin zwischen Dakar und Martinique, viel-
leicht fast bis Kuba, am Besten in die Vereinigten Staaten zu kommen.38 Marseille
repräsentiert in diesem Sinn gleichsam „[d]ie Welt“ in „[e]ine[r] Provinzstadt“.39
Kojève, der ursprünglich den Namen Александр Владимирович Кожевников
trug und unter diesem Namen einschlägige Erfahrungen mit der Relativität der
Rechte im internationalen Verkehr gemacht hatte,40 beschäftigt sich 1943 vor dem
Hintergrund Marseilles bereits ausdrücklich mit den Verhältnissen zwischen Her-
ren und Knechten angesichts der „actuality of human reality“, d. h. abseits der ab
strakten „logical ‚principles‘“, deren Dialektik ein zentrales Element der Pariser
Seminarreihe gewesen war, von denen er aber weiß, dass sie im reinsten Typus
nicht (mehr) existieren.41 Es geht ihm vielmehr in Marseille um Herr und Knecht
unter Gesichtspunkten der Figur des „Citizen, who is a Master to the extent that he
is recognized by others and a Slave to the extent that he himself recognizes them“.42
Während z. B. im Fall von Regierungen und Staatsleuten das erstere in relativ ho-
hem Maß der Fall ist, allerdings nicht, wenigstens dem Kommentar von 1950 nach,
im Verhältnis der Protagonisten der List der Vernunft zu ihnen, gilt letzteres z. B.
im Fall der Bürger, die als demographische Basis in der Verwaltung der politisch-
ökonomischen Strukturen sich von ihren Regierungen und Staatsleuten steuern
lassen – aber auch für die einsichtigeren der Bürger Europas in ihrem Verhältnis
zu den arbeitsamen Herrschaften der Vereinigten Staaten und der UdSSR.
Die Form der arbeitsamen Herrschaft, mit der Kojève die Bürger der neueren
Zeit, abgesehen von der 1943 unmittelbar spürbaren Prävalenz genuinen politi-
schen Handelns in Gestalt der kriegführenden Staaten, befasst sieht, ist, gemäß der
Frage von Mensch und Tier und der Begierde nach Anerkennung als des Bestim-
mungsgrunds menschlicher Wertschöpfung,43 eine bestimmte Ausdrucksform ei-
ner allgemeinen „idea of Justice“, der „the presence of consent in the anthropogen-
ic Struggle“ zugrunde liegt, und die, sofern „mutuality of this consent“ gegeben ist,
in Form von „contracts“ Niederschlag findet.44
Um solche contracts, d. h. Versuche, die Idee der Gerechtigkeit mit Blick auf
eine spezifische Frage ins Recht zu setzen, geht es später auch in Kojèves Kom-
mentar zum Clermont-Tonnerre-Vermerk. Er formuliert dann, im Zeichen des
Scheiterns am größeren Projekt der Havanna-Charta 194845 und vor dem Hinter-
grund des fortschreitenden Defizientwerdens der überkommenen Nationalstaa-
ten, am Gegenstand einer Investitionsbank in Begriffen Europas den Anspruch
auf ein alternatives politisch-kulturelles Konzept, das, untergründig bereits vor-
40 Kojève, Alexandre. 2015. Tagebuch eines Philosophen. Berlin: Matthes & Seitz, S. 62. Vgl. Fi-
loni, Marco. 2015. Eine gute Handarbeit. Das Tagebuch von Alexandre Kojève. In Tagebuch
eines Philosophen. Berlin: Matthes & Seitz, S. 157 – 167, hier S. 161; Auffret, Dominique. 1990.
Alexandre Kojève. La philosophie, l’Etat, la fin de l’Histoire. Paris: Grasset & Fasquelle, S. 79 –
155; Mohler, Armin. 1998. Kojeve als Flüchtling. In Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk
Carl Schmitts. Band VI, hrsg. Piet Tommissen. Berlin: Duncker & Humblot. S. 46 – 48.
41 Auffret. Alexandre Kojève, S. 270 – 272.
42 Kojève. Outline of a Phenomenology of Right, S. 213; Hervorhebung von mir, PG.
43 Kojève. Outline of a Phenomenology of Right, S. 216 – 218.
44 Kojève. Outline of a Phenomenology of Right, S. 219 – 220.
45 Kojève. Notiz für die Menschheit, S. 23.
180 Peter Gostmann
ten ist, als es, als Kollektivgröße genommen, nur mehr eine untätige (Schein-)
Herrschaft arbeitsamer Knechte darstellt.
Das verwirklichte Universalrecht und die Rechte der bürgerlichen Gesellschaft
zu Zeiten des Marseiller Esquisse unterscheidet, dass das erstere „absolute“ sein
wird, dagegen die letzteren „relative“ sind, sofern es „will be the only one and
will not change“, dagegen sie als Elemente eines (Rechts-)„system of dialectical
triads“ ihre Wirksamkeit entfalten.50 Dem verwirklichten Universalrecht und den
Rechten der bürgerlichen Gesellschaft, deren „result“ es ist, ist allerdings gemein-
sam, dass sie zum Ausdruck kommen in konkreten „juridical situation[s]“. Das
allgemeine Kennzeichen solcher juridischen Situationen ist, dass eine Größe C
(„supposed to be able to be anyone at all“) konsistent und wirkungsvoll gegen
eine bestimmte Form der Suprematie, die eine Größe B gegenüber den berech-
tigten Begehrlichkeiten einer Größe A behauptet, interveniert und sie erfolgreich
außer Kraft setzt – „by itself or by a solicitation coming from A, with or without
B’s consent“.51
Unter dem Gesichtspunkt der juridischen Situation kennzeichnet die Lage der
Fluchtbürger Marseilles, dass seinerzeit die Regierungen und Staatsleute im Amt
der Nationalstaaten, die bis auf weiteres noch prätendieren, in Form von contracts
die Rechte der bürgerlichen Gesellschaft zu organisieren, für sie nicht zuständig
sind bzw. zwar für sie zuständig, aber interventionsinkompetent. Wir können sa-
gen, dass die Figur, deren arbeitsamer Herrschaft die Fluchtbürger Marseilles be-
dürften, um in ihr Recht gesetzt zu werden, eben jener Citizen ist, den Kojève
als Träger des Rechts für die Schlussszene des homogenen und universalen Staats
sich vorstellt: jemand, der, ob in einem oder ohne Amt, gegebenenfalls bereit und
in der Lage ist, „illegal“ im Sinne des untauglichen Rechtsschemas der National-
staaten zu agieren, um, vorerst fallweise,52 „the Just in itself “ in einem Vorgriff
auf dessen endgültigen (wahren) Gehalt auf den Weg zu bringen – als ein Akti-
vist des Dritten, der interveniert, weil dies im Sinne der Universale berechtigter
Begehrlichkeiten zu tun ist, und der deswegen einmal beiseitelässt, dass vorerst
die Menschen einander im Großen und Ganzen noch äußerlich sind, die gesell-
schaftlichen Gegensätze keinesfalls beseitigt und die Natur noch nicht endgültig
gezähmt ist.53
54 Ein Beispiel für eine Deutung des politischen Intellektuellen Kojève in diesen Jahren, die das
Motiv der ‚List der Vernunft‘ vernachlässigt, gibt: Scholz, Danilo. 2019. Zwischen Vichy und
Résistance. Alexandre Kojève im Krieg. In Zeitschrift für Ideengeschichte 13/3, S. 23 – 35. Aus
dem eingangs beschriebenen Korpus der Texte, die Kojève in der ersten Hälfte der 1940er
Jahren verfasste, rückt Scholz hier gegenüber dem Esquisse d’une phénoménologie du Droit
die Schrift über La notion de l’autorité ins Zentrum, während wir umgekehrt uns auf die
Rechtsphänomenologie konzentrieren und auf eine Untersuchung der Autoritäts-Schrift
verzichten.
55 Rutkoff und Scott. New School, S. 94.
Nach den Staaten 183
Assistent Hans Kelsens, der seine Heimatstadt 1938 verlassen hat.56 Hula beschäf-
tigt sich als Mitarbeiter des Institute of World Affairs57 mit dem Recht im Zeitalter
der Nationalstaaten aus der Perspektive eines „Hapsburg [sic] cosmopolitanism“,
der das „uneasy equilibrium“ reflektiert, in dem in der Zeit vor den Weltkriegen
der Versuch einer Synthese von „Austrian monarchy“ und „Catholicism“ die Fra-
ge der nationalstaatlichen Souveränität und die Verhältnisse zwischen Herren und
Knechten („class conflict“) hielt.58
Wir wollen uns im Folgenden auf Hulas Analyse der Dumbarton Oaks Propos-
als59 konzentrieren, d. h. auf seine Untersuchung der Ergebnisse einer folgenrei-
chen Washingtoner Konferenz vom Oktober 1944, an der Delegierte der Vereinig-
ten Staaten, des Vereinigten Königreichs und der UdSSR bzw. Chinas teilnahmen.
Hula, der bereits zuvor mit Blick auf das Problem des „establishment of a world
order more stable than the international system set up after the First World War
proved to be“ die Frage der Hinderung eines dritten Weltkriegs antizipiert hat-
te,60 d. h. desjenigen Ziels, das Kojève 1950 definieren wird, analysiert die Ergeb-
nisse von Dumbarton Oaks unter Gesichtspunkten ihrer Defizienz gegenüber der
„definite charter of the future world-organization“.61 D. h. Hula untersucht sie nach
dem Maß eines künftigen Rechtszustands, erst durch den sichergestellt wäre, dass
(vorerst) im Großen und Ganzen nichts Neues mehr geschieht – was gemäß des
Duktus von Kojèves Pariser Seminarreihe das Endstadium der menschlichen Ge-
schichte kennzeichnet.62
Wir beginnen mit Blick auf Hulas Text, so wie wir im Fall der Pariser Seminar-
reihe begonnen haben, mit der Frage einer historischen Schlussszene. Für Hula
spielt sie, d. h. spielt die Möglichkeit eines Zustands von „permanent peace“, für
die „intentions of [the] authors […] of the Dumbarton Oaks Proposals“ keine
Rolle, schon weil deren „framers“ sich nach den „imperious necessities of interna-
tional politics“ richten und sie „on the level of actual circumstances“ bearbeiten
müssen.63 Wir müssen also, um Hulas Vorstellung der künftigen Charta der Welt-
ordnung nachzuvollziehen, einen indirekten Weg gehen, nämlich nachvollziehen,
was seiner Analyse zufolge die (am Maßstab des ewigen Friedens falsch bemes-
senen) Intentionen derjenigen kennzeichnet, die für sie zeichnen (authors), und
welches die Notwendigkeiten der internationalen Politik sind, die über die beglei-
tende Arbeit der internationalen Rechtsgelehrten (framers) gebieten.
Mit Blick auf Kojèves Kommentar zum Clermont-Tonnerre-Vermerk können
wir sagen, dass formal zwischen authors und framers ein ähnliches Verhältnis be-
steht, wie dort zwischen Staatsleuten und Regierungen und denjenigen, die idea-
lerweise als Protagonisten der List der Vernunft diese Staatsleute und Regierungen
für die Idee, um die es eigentlich geht, wirken lassen – tatsächlich kann man Kojè-
ve, der nach der Havanna-Charta im Amt des Ministère des Finances et des Affaires
économiques das Programm einer Europäischen Investitionsbank erläutert, in Be-
griffen Hulas als framer verstehen.
Auf den ersten Blick scheint Hula, wenn er die Praxis der framers als den Ge-
boten der internationalen Politik unterworfen beschreibt, anders als Kojève kaum
Möglichkeiten zu sehen, von solchen Ämtern aus das Weltgeschehen zu steuern.
Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir neben den arbeitsamen Herrschaf-
ten und den (Schein-)Herrschaften arbeitsamer authors und framers eine dritte
Größe in den Vorgängen der internationalen Politik identifiziert haben, die, wenn
wir in Begriffen einer List der Vernunft denken, nicht ohne weiteres, womöglich in
letzter Konsequenz nur für ihresgleichen erkennbar ist und also jedenfalls genaue-
ren Hinsehens bedarf: die citizens, die, ob in einem oder ohne Amt, die berech-
tigten Begehrlichkeiten von Fluchtbürgern gegen die (nationalstaatlich und des-
wegen defizitär orchestrierten) contracts ins Recht setzen – d. h. nicht im Einklang
mit der vorherrschenden, aber unwirksamen „fully secularized notion of ‚positive‘
law“ agieren,64 weil solche Unbotmäßigkeit im Sinne des universalen Rechts ge-
boten ist, und die dergestalt ein Bild dessen vorstellen, was in der Zeit des Über-
gangs zum homogenen Weltstaat „es heißt, frei zu sein“.65
Die authors, die nach Hulas Analyse in Dumbarton Oaks nicht eine für die
Zukunft taugliche Ordnung der Welt ins Recht gesetzt haben, sind, wie erinner-
lich, Staatsleute im Regierungsamt der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Kö-
nigreichs, der UdSSR und Chinas. Dass diese Rechtsetzung in Dumbarton Oaks
noch nicht geschehen ist, hängt, wie wir sehen werden, Hula zufolge damit zusam-
men, dass diese Auswahl an Staatsleuten und Regierungen es war, die für sie zeich-
nen sollten. Dass es aber gerade diese Auswahl war, die die neue Weltordnung ins
Recht setzen sollte, folgt der Logik des Krieges, d. h. antwortet auf die Frage, wer
noch zu politischem Handeln sui generis in der Lage ist oder zu sein scheint – und
dies ist das Kernproblem der Proposals.
Die Dumbarton Oaks-Ordnung, so Hula, folgt „[i]n wording as well as in
structure“, d. h. mit Blick auf die an ihr arbeitenden framers, im Großen und Gan-
zen einem „American Design“,66 d. h. ist eine nationalstaatliche Angelegenheit. Sie
sieht die Mitgliedschaft von „all peaceloving states“ vor; unter diese Kategorie fal-
len, nach Maßgabe von „The Big Three“ (Vereinigte Staaten, Vereinigtes König-
reich, UdSSR), aber nicht vorrangig solche Staaten, die den Frieden praktizieren,
sondern diejenigen „which were by March 1, 1945, at least formally participating
in the present war on the side of the United Nations“.67 Es handelt sich also in
Wirklichkeit um eine arbeitsame Herrschaft gegenwärtiger Sieger, deren Suprema-
tie sich nach dem Grad ihrer Fähigkeit und erklärten Bereitschaft zu politischem
Handeln sui generis bzw. fallweise nach dem Grad der abhängigen Teilhabe an
diesem Zweck, wenigstens im Sinne politisch-ökonomischer Unterstützung, be-
misst. Diese Ordnung ist, so Hulas Analyse, offen für zwei weitere Gruppen von
Staaten: relativ konfliktfrei im Fall der „neutrals“;68 erst „after a period of proba
tion“ in Fällen besiegter Staaten. Sofern kein Staat prinzipiell von der Mitglied-
schaft ausgeschlossen, aber „the voluntary withdrawal from it […] not legally per-
missible“ ist, ist diese Ordnung tendenziell auf Endgültigkeit angelegt; jedenfalls
kann sie formal gegen das Veto der „big powers“ nicht aufgelöst werden.69 Sie ist
also, genauer gesagt, zwar auf Endgültigkeit angelegt, kann aber nur so dauer-
haft sein, wie die gegenwärtigen Sieger ihre Suprematiefähigkeit (oder deren An-
schein) aufrechterhalten.70
Die Dumbarton-Oaks-Ordnung verfügt mit dem Security Council über eine
Akteurin, die, in den Begriffen von Kojèves Marseiller Esquisse, als Dritte inter
venieren soll, um Mitgliedstaaten, gegen deren berechtigte Begehrlichkeiten an-
dere Mitgliedstaaten (oder Nicht-Mitgliedstaaten) ihre Suprematie behaupten, im
Sinne der Weltordnung ins Recht zu setzen.71 Der Security Council, den „five per-
manent members“ (neben den genannten vier big powers der französische Staat,
in dessen Ministère des Finances et des Affaires économiques bald darauf Kojève zu
arbeiten beginnt) und „six non-permanent members“ bilden,72 ist für Hula vor
allem deswegen eine interessante Größe, weil gemäß der Proposals seine Inter-
ventionen den Charakter von „political“ statt von „judicial settlement[s] even of
disputes that by their very nature lend themselves to decision by a court“ haben
werden: „[T]he Dumbarton Oaks proposals mean the legalization of settlements
in contradiction to the law whenever the ratio of the disputants’ physical strength
suggests and warrants such a solution as the only possible means of avoiding an
armed conflict among the great powers of this world“.73 Mit anderen Worten, die
Dumbarton Oaks-Ordnung ist, „for good“,74 angelegt als die Ordnung einer Welt
„qualitativ [ge]steiger[ter]“ Staaten mit der Perspektive einer durch fortgesetzte
juridische Nachbereitung (framers) der arbeitsamen Herrschaft der great powers
(authors), d. h. durch Organisation eines rechtmäßigen (Verteilungs-)Tausches in
und zwischen den sich qualitativ steigernden Staaten, nach und nach sich einstel-
lenden „sichere[n] und gerechte[n] Großraumeinteilung“.75
Wie erinnerlich geht es uns darum, Hulas Positionierung in den Vorgängen
der internationalen Politik, die wir exemplarisch für die dritte beteiligte Größe ne-
ben den authors und framers analysieren, indirekt zu ermitteln, indem wir nach-
vollziehen, welches nach seiner Darstellung deren (falsch bemessene) Intentio-
nen bzw. welches die (falschen) Notwendigkeiten, die über ihre Arbeit gebieten,
sind. Im Licht unserer letzten Überlegungen können wir schließen, dass der citi
zen im Amt der Vernunft, den uns Hula exemplifiziert (ebenso wie Александр
Владимирович Кожевников im Pariser Ministère des Finances et des Affaires éco-
nomiques), die Frage der Intervention eines Dritten zugunsten der berechtigten
Begehrlichkeiten relativ machtloser Größen gegenüber den Suprematiebehaup-
tungen von big powers jedenfalls lieber nicht den Staaten überließe. Wenn aber
die europäischen Fluchtbürger diese Frage trotz besseren Wissens (bis auf weite-
res) den authors und framers im Amt von Staaten überlassen müssen, dann jeden-
falls nicht ohne Hinweis darauf, dass das Recht der Staaten nicht genuines Recht
ist, sondern lediglich die Sanktionierung sicherheitspolitischer ‚Notwendigkeiten‘
darstellt, die die herrschende Ordnung der Suprematiefähigen fortlaufend zu pro-
duzieren in der Lage ist.
Das Mittel der Wahl, um die stets zu erwartende Umarbeitung von Suprematie
in ‚Sicherheitspolitik‘ nach Möglichkeit einzuhegen, scheint für citizens wie Hula
oder Kojève unter den gegebenen Umständen, die ihnen eine relativ geringe juri-
dische Kapazität gestatten, eine Praxis der präemptiven Intervention zu sein. Diese
Praxis kann sich im Fall einer unabhängigen öffentlichen Expertise, den der Auf-
satz Hulas exemplifiziert, z. B. in der öffentlichen Anzeige einer institutionalisier-
ten Verwechslung von juridical virtue und political virtue niederschlagen; oder,
im Fall verwaltungsinterner Vorgänge, den der Kommentar Kojèves zum Cler-
mont-Tonnerre-Vermerk exemplifiziert, z. B. im aktenkundigen Appell an gegen-
über der Ordnung der Suprematiefähigen höhere Maßstäbe (‚List der Vernunft‘).
Wir wollen das Kollegium der Dritten, die in dieser Weise praktizieren, mit
dem Begriff beschreiben, mit dem man zuerst lediglich die einzelne kleine Ein-
richtung in New York bezeichnet hat, an der Hula nach dem Verlassen Europas
agierte, um Europäer zu bleiben: als University in Exile. Folgt man Kojèves An-
nahme einer mit Notwendigkeit fortgesetzt hin zum Endzustand eines univer-
salen und homogenen Staats sich verdichtenden Welt, so ist dies ein Kollegium,
mit dem man für die Zukunft jedenfalls rechnen kann, so gering auch vorläu-
fig die juridischen Kapazitäten sein mögen, über die seine Mitglieder in effectu
verfügen. Denn einhergehend mit diesem fortgesetzten weltpolitischen Verdich-
tungsvorgang wird notwendig die Universale von Akteuren sich ausweiten, die vor
dem Hintergrund von Erfahrungen ähnlich denen der Fluchtbürger von Marseille
über einen solchen Horizont verfügen, der es ihnen ermöglicht, als unparteiische
und unabhängige Dritte Hinderungen des Rechts zu erkennen und anzuzeigen,
ohne dafür der Konsultation überkommener (aber zunehmend defizienter) natio-
nalstaatlicher contracts zu bedürfen.
Im Mai 1956 erhält Kojève von dem Diagnostiker einer Welt qualitativ ins Groß-
räumliche gesteigerter Staaten, dessen Formulierung wir herangezogen haben, um
den Gegenstand des Vorbehalts zu verdeutlichen, den Hula anlässlich seiner Ana-
lyse der Dumbarton Oaks Proposals geltend macht, einen Brief mit dem Vorschlag,
„einen Vortrag für [ihn] zu organisieren“. Dieser solle im „Rhein-Ruhr-Club in
Düsseldorf “ stattfinden, was auf ein Publikum „hauptsächlich [der] mittlere[n]
Industrie und selbständige[r] Unternehmer“ schließen lasse76 – also auf eine Aus-
wahl der zeitgenössischen (Schein-)Herren der Bundesrepublik, die schlecht und
recht, aber arbeitsam, deren demographische Basis (bis auf weiteres) verwalten.
Kojève kommt der Einladung am 16. Januar des folgenden Jahres nach; er spricht
76 Schmitt, Carl. 1998. An Alexandre Kojève. 11. 05. 1956. In Schmittiana. Beiträge zu Leben und
Werk Carl Schmitts. Band VI, hrsg. Piet Tommissen. Berlin: Duncker & Humblot, S. 116 – 117,
hier S. 117.
188 Peter Gostmann
nolens volens den Aufstieg der Untoten fördert, mögen seine Zuhörer dies als Auf-
forderung zu einer anderen Form der Herrschaft verstehen – vor dem Hintergrund
des Kommentars ist der Gegenstand seines Vorschlags indes ein stillschweigender
Pakt arbeitsamer Knechte gegen diejenigen, die kraft ihrer Suprematiefähigkeit
alle „Commodity-agreements“ ablehnen, z. B. „Erdöl“ nicht schlicht Erdöl nennen
(sondern texanisches und orientalisches Erdöl unterschiedlich bemessen) und auf
diese Weise, ganz im Sinn der Ordnung von Dumbarton Oaks, der Hulas präemp-
tive Intervention galt, den globalen (Verteilungs-)Tausch nach einer verschleier-
ten Logik des Kriegs orchestrieren.92 Kojèves Zuhörer sollen seine Ausführungen
zum prinzipiellen Kolonialismus, wie er ihnen erklärt, „cum grano salis […] neh-
men“, was bedeute: als einen „Scherz“, der „im Grunde ernst gemeint“ sei und in
diesem Sinne „‚pädagogisch‘“ sein wolle – womit er ihnen nahelegt, sicherheits-
halber, bevor auf den Auftritt des prinzipiellen Kolonialismus der nächste folgt,
noch einmal zu prüfen, ob sie diesen Auftritt auch recht verstanden haben.
Daraufhin ruft Kojève im nächsten Bild mit großem Aplomb („geistreichst“,
„brilliantest“) den Herrn aus Plettenberg, der den Vortrag initiiert hat, und mit
ihm den „alte[n] griechische[n] Nomos“, den dieser kürzlich zu Zwecken eines er-
neuerten „Jus Publicum Europaeum“ in Szene gesetzt hat, auf die Bühne. Diesem
alten stellt Kojève einen „moderne[n] Nomos“ zur Seite, der sich in einer Hinsicht
von seinem Vorgänger unterscheide, nämlich in sich nicht allein Praxen des „Neh-
men[s]“, des „Teilen[s]“ und des „Weiden[s]“ verbinde, sondern überdies eine Pra-
xis des „Geben[s]“ integriere.93 Kojèves Pointe lautet nun, dass im Fall eines recht
betriebenen Nomos „‚Geben‘“ und „‚Nehmen‘ […] praktisch dasselbe bedeute[n]“,
wie nicht zuletzt der „gebende“ (fordistische) „Kapitalismus“ in Europa, aus dem
auch die Herren vom Rhein-Ruhr-Club Gewinne entnehmen, illustriere. Der „ge-
bende Kolonialismus“, an dessen „‚Gesetz‘“ mitzuwirken Kojève seinen Zuhö-
rern als Antidot gegen neomarxistische Ambitionen vorschlägt, steht demnach,
so wie das alte Griechenland und das moderne Europa zwei Seiten eines politisch-
kulturellen Gebildes bilden, unter der Schirmherrschaft des Herrn aus Pletten-
berg.94 Wenn wir Kojèves Weg von Paris nach Marseille bedenken, so wissen wir
allerdings, dass das Problem, das er mit einem solchen neuen Gesetz des Kolo-
nialismus verbindet, nicht die Gestaltung eines „[e]poch[alen] […] raum-eintei-
lende[n] Grundvorgang[s]“ seitens eines zum europäischen „Leistungsraum“ ge-
steigerten Staats ist95 – sondern die Antizipation eines Universalrechts, in dem
nicht political virtue, sondern juridical virtue gilt: das Problem der Möglichkeit ei-
ner Intervention zugunsten berechtigter Begehrlichkeiten relativ machtloser Grö-
ßen gegenüber den Suprematiebehauptungen von big powers.
Wie wir gesehen haben, sind allerdings, so wie die Dinge liegen, nicht nur die
juridischen Kapazitäten des Privatmanns Kojève begrenzt, sondern ebenso dieje-
nigen Europas – auch wenn manche Europäer, mutmaßlich auch einige der in der
Wolfsschlucht anwesenden, sich noch oder demnächst wieder für zu genuin poli-
tischem Handeln fähig halten mögen. Der letzte Auftritt, den Kojève vor den Her-
ren vom Rhein-Ruhr-Club organisiert, gehört denn auch – ausdrücklich im Sinne
des „gute[n] Recht[s]“ – dem „‚kleinen‘, ja […] ‚kleinsten‘ Europa“. Er führt es ein
als eine Größe, die, unter Gesichtspunkten der Möglichkeiten des Nehmens-und-
Gebens betrachtet, aus einer „von Gott gesegnete[n] Region“ (der „Mittelmeer-
region“) stammt, die es mit Afrika und Asien teilt. Kojève lässt seine Adressaten
im Unklaren, was in Zukunft aus dem klein(st)en Europa werden mag; er deutet
lediglich an, dass seine Lage beizeiten, je nach der Form des ‚Kolonialismus‘, den
die Europäer wählen werden, „gefährlich“ werden könnte.96
Das Motiv der Gefahr nimmt Kojève wieder auf, nachdem er gleich darauf, mit
der letzten Pointe seines Vortrags, seinen Zuhörern mitgeteilt hat, dass er „[s]ei-
nen eigentlichen Vortrag nicht einmal angefangen“, sondern lediglich „Binsen-
wahrheiten“ ausgebreitet habe; der Eindruck, den sie folglich mitnehmen müss-
ten, sei der einer „[E]nttäusch[ung]“. Die „[E]ntschuldig[ung]“, die er für diese
Enttäuschung anbietet, lautet, dass Binsenwahrheiten doch immerhin „Wahrhei-
ten“ seien – während „das Originale […] Gefahr“ laufe, „sich später oder früher
als einfach falsch zu erweisen“.97 Wenn wir diesen Gedanken mit der Frage der
Gefährdung verbinden, der das klein(st)e Europa ausgesetzt wäre, wenn es sich
dem gebenden Kolonialismus verschlösse, so ist sicher nicht eine afro-asiatische
Erweiterung der schon 1943 in Marseille absehbaren Universale von Fluchtbür-
gern, die einmal den nordwestlichen Bereich des Mittelmeers fluten möchten, das
Problem. Das Problem sind vielmehr diejenigen Europäer, die beim Original ih-
res prinzipiellen Kolonialismus bleiben wollen und dabei übersehen, dass Europa
nicht länger zu den Größen gehört, die zu diesem Kolonialismus in der Lage wä-
ren – sondern im Gegenteil zu denjenigen Größen, die, je mehr der Schein ihres
Herrschaftsgebarens sich trüben wird und solange das Universalrecht nicht ver-
wirklicht ist, im Zweifelsfall selbst Gegenstand der kolonialen Bestrebungen ge-
nuiner politischer Akteure und also jeglicher präemptiver Interventionen zuguns-
ten eigener legitimer Begehrlichkeiten bedürftig sind.
So wie für die Binsenwahrheiten, als die Kojève seine Ausführungen zum Ka-
pitalismus qualifiziert hatte, gilt auch für die Binsenwahrheiten, die er ausgangs
des Vortrags, den er eigentlich noch nicht begonnen hat, im Großen und Ganzen
konzediert, dass der Hinweis auf sie den Herren vom Rhein-Ruhr-Club nahelegt,
sie dürften davon ausgehen, seine Ausführungen schon richtig verstanden zu ha-
ben, so wie sie sie verstanden haben. Wenn wir Descombes’ Vorschlag folgend
diesen Vortrag als philosophischen Feuilletonroman gelesen haben, so sollten wir
allerdings über der Fülle erstaunlicher Auftritte und Pointen nicht vergessen, dass,
wie wir bereits festgestellt haben, für den Redner Altheidelberg, wenn sich auch ei-
nige seiner Zuhörer darunter vielleicht eher einen von Erbprinzen und Corps be-
völkerten Sehnsuchtsort der Herrschaft vorstellen möchten, der Name eines Exils
ist; d. h. eines Orts, der von der Erfahrung durchzogen ist, dass es sich empfiehlt,
statt auf die Vernunft der Verwalter nationalstaatlicher contracts sich zu verlassen,
sie listig zu praktizieren. So ist es auch nicht überraschend, dass Kojève die aus-
drücklich wichtige Frage, welches denn der rechtmäßige „Name“ dessen ist, was
er nur provisorisch als „gebenden Kolonialismus“ bezeichnet, ausdrücklich offen
lässt.98 Sie ist, wie auch immer Kojèves Leser über seine Vorstellungen eines En-
des der Geschichte oder eines Universalrechts denken mögen, fraglos bis heute
unbeantwortet.
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Teil III:
Soziologische Milieus –
soziologische Karrieren
Einleitung: „Soziologische Milieus –
soziologische Karrieren“ oder:
„Äußeres und inneres Milieu der
Wissenschaft“ – ein Verhältnis, wie es
nuancenreicher kaum sein könnte
Peter-Ulrich Merz-Benz
Bereits ein kurzer Blick auf die Thematik des dritten Teils des vorliegenden Jahr-
buchs für Soziologiegeschichte „Soziologische Milieus – soziologische Karrieren“
lässt verschiedene Fragen aufkommen. Soziologisches Milieu oder soziologische
Schule ? Inwieweit sind Karrieren ‚schulgemacht‘ ? Oder machen Karrieren ‚Schu-
le‘ ? Und gibt es in der Soziologie, dort, wo Schulbildung stattgefunden hat bzw.
stattfindet, auch Anhaltspunkte für die von Émile Durkheim getroffene Unter-
scheidung von äußerem und innerem sozialem Milieu – oder von äußerem, sozia-
lem und politischem und innerem, wissenschaftlichem Milieu ? Das von den Au-
toren in diesem dritten Teil Ausgeführte begreifend als Antwort auf diese Fragen,
eröffnet sich die Möglichkeit, sich unmittelbar in die Argumentation, wie sie in
den einzelnen Beiträgen verfolgt wird, hineinzudenken. Am Ende führt dies viel-
leicht sogar zu zusätzlichen Einsichten.1
1 Bei dieser Einleitung handelt sich daher erklärtermaßen nicht um eine Einleitung im be-
kannten Sinne. Aufgrund der theoretischen und ideengeschichtlichen Ausrichtung der Bei-
träge erscheint das gewählte Vorgehen indes als gerechtfertigt, geht es doch in erster Linie
darum, im sich Hineindenken in die Argumentation der einzelnen Beiträge die Auseinan-
dersetzung mit dem gestellten Thema auf den Weg zu bringen.
Die im Einleitungstext verwendeten Zitate werden nicht im einzelnen nachgewiesen. Sie
entstammen jedoch ausschließlich den vorgestellten Beiträgen. Und wo es sich um Zitate
handelt, die von den Autoren der Beiträge angeführt werden, wird gesondert darauf hin-
gewiesen.
„Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie“ – das ist das Thema
des Beitrags von Jürgen Raab und Dirk Tänzler. Und um gleich zum Wesentli-
chen zu kommen, zu dem von den Autoren gezogenen Resümee: Die „‚Konstan-
zer Schule‘ verfügt über einen in der altehrwürdigen Tradition der sinnverste-
henden Soziologie verwurzelten Kerngedanken“, den „Sozialkonstruktivismus“.
„Allerdings“ – dies ist, wie von den Autoren gleich angefügt, „der Grundtenor
unserer Darlegungen“ – „figuriert die ‚Konstanzer Schule‘ […] weniger als ein-
heitliches Denkgebäude, denn als verbindendes Dach, unter dem sich – ganz ge-
mäß George H. Meads berühmter Formulierung ‚sociality is the capacitiy of being
several things at once‘ – eine Diskussions- und Forschungsgemeinschaft zusam-
menfindet. Ihre Mitglieder teilen grundlegende Werte und Ziele, zu deren Ver-
wirklichung sie aber durchaus unterschiedliche Wege wählen und verschiedene
Mittel einsetzen.“ Zusammenfassend ist festzuhalten: Es sind bestimmte Wert-
haltungen, Konzepte des zu untersuchenden Gegenstandes mitsamt den entspre-
chenden Herangehensweisen, Begriffskategorien, mittels derer die Dinge, Vor-
gänge, Ereignisse denkbar und darstellbar gemacht werden können, Bestände der
soziologischen Theorie und Methodologie, allgemein Bestimmungen einer beson-
deren, doch wiederum nicht bloß auf eine Disziplin zutreffenden Form von Wis-
senschaftlichkeit – insgesamt Elemente einer wissenschaftlichen Grundhaltung,
die alle unter dem Titel „Konstanzer Schule“ zusammen kommen, sich zudem
auf verschiedenste Weise durchdringend. Sie stammen größtenteils aus dem Fun-
dus der soziologischen Klassiker und wurden gemäß den von den Mitgliedern der
„Konstanzer Schule“ gesetzten Kriterien adaptiert und im Zuge der wissenschaft-
lichen Arbeit auch weiterentwickelt. Bei der „Konstanzer Schule“ von einem wis-
senschaftlichen Milieu zu sprechen ist daher durchaus angezeigt, was wiederum
bestärkt wird durch den Umstand, dass der Begriff der „Schule“, von den Autoren
charakterisiert als „ambivalent“, geprägt durch wechselnde „Couleurs“ und zudem
mehr und mehr „unter die Vorzeichen von Bürokratisierung und Kanonisierung“
geratend, in erster Linie bei Bestimmungen ex negativo Verwendung findet. An
einer Stelle wird vielmehr explizit auf Émile Durkheims Unterscheidung von „in-
nerem“ und äußerem Milieu“ Bezug genommen, gefolgt von der Ankündigung,
dass fortan das „innere Milieu“ der „Konstanzer Schule“ im Zentrum der Auf-
merksamkeit stehen werde.
„Positionen“, die gegen andere abgrenzbar sind, die jedoch keinen „kodifizier-
ten Wissensbestand“ darstellen, der an „Schülerinnen und Schüler“ weitergegeben
wird, sondern vielmehr als Konstituenzien eines „Forschungs- und Kommunika-
Einleitung: „Soziologische Milieus – soziologische Karrieren“ 201
sellschaft bringt für den Menschen mithin die Aufgabe, im Rahmen der sozialen
Verhältnisse und unter deren Bedingungen ein Verhältnis zu sich selbst zu gewin-
nen, jenseits seiner Bestimmung als „Mängelwesen“. Und unter diesen Vorausset-
zungen, eingedenk dessen, dass es sich bei den Sozialverhältnissen um Sinnbil-
dungen handelt, werden für Soeffner im folgenden auch Kultur und Religiosität
zum Thema – und zum Forschungsgegenstand. An der Soziologie ist es schließ-
lich, zu begreifen, dass sie der Vielfalt der Sozialformen, sprich: kommunikativen
Gattungen, und zuhöchst der Gesellschaft nur dann auf die Spur kommen kann,
wenn sie sich nicht auf Methodenfragen beschränkt, sondern bei der Ausarbei-
tung qualitativ-interpretativer Verfahren immer auch die Konstitution ihres Ge-
genstandes mit reflektiert, eben: „Hermeneutik als Sozialtheorie“. Und damit tritt
gleichzeitig – einmal mehr – hervor, was von den Autoren als „Kerngedanke“ der
„Konstanzer Schule“ bezeichnet wird, das, was das „innere Milieu“ der „Konstan-
zer Schule“ gleichsam zusammenhält und auch das Potential künftiger Entwick-
lungen ausmacht: der „Sozialkonstruktivismus“. Und ist die „Konstanzer Schule“
am Ende ‚nur‘ ein wissenschaftliches Milieu, kommt sie an Bestandesfestigkeit ei-
ner Denkschule im klassischen Sinne doch fraglos gleich.
Im Beitrag von Carsten Klingemann „Lars Clausens Blick auf die Karriere von
Soziologen im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik“ erhält die Frage
nach den Betrachtungsperspektiven gleich zu Beginn eine klare Antwort. Und
mithin liegen auch die eingangs gestellten Fragen ebenfalls auf dem Tisch, aller-
dings mit dem Zusatz, dass mit Milieu – dem äußeren und mittelbar auch dem
inneren – in erster Linie ein politisches und weltanschauliches Milieu gemeint
ist. Die Frage ist – so Klingemann: „Wie blickt nun Clausen auf die Soziologie im
Dritten Reich ? Er kennt zwei Perspektiven: eine ‚von oben‘ und eine auf die Person
gerichtete.“ Wobei sich selbstverständlich auch die Frage stellt, inwieweit Clau-
sen selbst in seinen Betrachtungen geprägt ist von den Akzentsetzungen und Ein-
schätzungen, wie sie bestimmend sind für den Blick der Nachkriegssoziologie und
im weiteren auch der Gegenwartssoziologie auf ihre eigene Geschichte.
In seiner „Sicht von oben“ – wie von Klingemann einleitend konstatiert – ver-
mittelt Lars Clausen nicht den Eindruck, als gelte seine Aufmerksamkeit etwas Be-
stimmtem. Viel eher trifft zu, dass er seinen Blick gleichsam schweifen lässt, über
die Entwicklung der Soziologie in der NS-Zeit, über die Mannigfaltigkeit der die-
se Entwicklung prägenden Geschehnisse, Dinge und Vorgänge hinweg. Aber – so
die rhetorische Frage – liegt dies nicht auch – und gerade – in der Natur des Ge-
204 Peter-Ulrich Merz-Benz
chen ‚Schule‘] ganz entschieden [verneinten]“, wogegen die Jüngeren, von denen
keiner mehr in Leipzig studiert hatte, sich zwar der gängigen Auffassung von der
Existenz einer solchen Einrichtung angeschlossen haben, deren Bezeichnung als
‚Schule‘ aber „entrüstet“ ablehnen würden. Lars Clausen wiederum hält fest, in ei-
nem vom Autor angeführten Zitat: „Jedenfalls war die Leipziger Schule die einzige
wirklich blühende Schule der Soziologie.“ Entscheidende Bedeutung kommt hier
offenkundig dem Begriff der Schule zu. Denn während bei einer Schule, verstan-
den als Denkschule, die Teil einer universitären Institution ist, äußeres und inne-
res Milieu zu einem großen Teil ineinander übergehen, lässt die Vorstellung einer
Schule im Sinne der „Konstanzer Schule“, der Schule „weniger als einheitliches
Denkgebäude, denn als verbindendes Dach“, bestehend aus gemeinsamen Wer-
ten und Zielen, unter dem sich eine Diskussions- und Forschungsgemeinschaft
zusammenfindet, die Trennung von äußerem und innerem Milieu zu – und nach
dieser zweiten Vorstellung von Schule könnte das wissenschaftlich Neutrale tat-
sächlich aus dem nationalsozialistisch infizierten Kontext der „realsoziologischen
Forschung“ gleichsam herausgelöst werden.
Wie komplex sich das Verhältnis von äußerem und innerem Milieu der So-
ziologie in der NS-Zeit darstellt, ist schließlich auch daran absehbar, dass das in-
nere Milieu sich mitunter gar als Ausdrucks- und Gestaltungsform des äußeren
Milieus erweist. Belegt wird dies durch Äußerungen, zu finden im „höchst wahr-
scheinlich“ von Helmut Schelsky stammenden Vorwort zum Buch Die deutsche
Schule der Soziologie von Karl Heinz Pfeffer aus dem Jahr 1939; für die Autoren-
schaft Schelskys bringt Carsten Klingemann eine Reihe von Indizien bei. „Im be-
sagten Vorwort heißt es“ – so Klingemann – „dass die ‚heutige deutsche Soziolo-
gie‘“ sich „‚im Gewande verschiedener anderer Wissenschaften‘ verberge“. „Diese
Feststellung“ – so der Autor weiter – „halte ich für sehr bedeutsam, da sie der Le-
gende vom Ende der Soziologie durch NS-Machtübernahme auf spezifische, aber
eindeutige Weise widerspricht […].“ Dazu passt eine weitere Aussage Schelskys
von 1950, wonach es – wie von Klingemann zitiert – „sehr wohl eine angewand-
te Soziologie in Deutschland noch gegeben hat“, doch „die Träger waren ganz an-
dere Wissenschaften“. „Andere Wissenschaften“, in deren Gewande Soziologie be-
trieben wird, schulmäßig, und noch dazu „deutsche Soziologie“ – es ist, als habe
man es bei der Soziologie in letzter Konsequenz mit einer verschlüsselten Fassung
der NS-Zeit zu tun. Und dabei hat – Klingemann zufolge – die Ausschöpfung von
Lars Clausens Einführung in die Soziologie sowie seiner Wikipedia-Artikel, und
dies wiederum auf der Grundlage der zur Erforschung der Soziologie in der NS-
Zeit vorliegenden Ergebnisse, erst begonnen.
206 Peter-Ulrich Merz-Benz
Zum Milieu einer wissenschaftlichen Karriere gehört schließlich auch der Ver-
leger. Einen ersten Blick auf dessen besondere Stellung zwischen der Tätigkeit
des Wissenschaftlers und den Zeitumständen, vorab der politischen Situation, er-
möglicht uns Sebastian Klauke in seinem Beitrag „Hans Buske – der letzte Ver-
leger von Ferdinand Tönnies“. „Aus welchen Gründen“ – so die einleitende Fra-
ge – „verlegte Buske Ferdinand Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft und Geist
der Neuzeit ?“ Die Antwort ist: Die Initiative ging von Buske aus, der Tönnies als
bedeutenden Autor in seinen Verlag holen wollte. Der Grund, aus dem Buske da-
mit Erfolg hatte, er die Tönniesschen Werke ohne Weiteres publizieren konnte,
ist angesichts der bestehenden Zeitumstände allerdings als eher ungewöhnlich
zu bezeichnen. Denn dass Buske insbesondere mit der Veröffentlichung von Ge-
meinschaft und Gesellschaft kaum ein Risiko einging, weder ein „wirtschaftliches“
noch ein „ideologisches“, zeigt sich nach Darstellung des Autors an der durch ei-
nen maßgeblichen Vertreter des NS-Regimes geübten Kritik an Tönnies’ Theo-
rie der Sozialwelt sowie an deren wissenschaftlicher Rezeption. Inwieweit Tönnies
es vermochte, mit Gemeinschaft und Gesellschaft die Sozialwelt denkbar und dar-
stellbar zu machen, und zwar dergestalt, dass tatsächlich die Realität des mensch-
lichen Zusammenlebens in den Blick kommt – allein darum ging es und das war
auch das eigentliche Beurteilungskriterium. Der Autor führt dazu eine Äußerung
des Reichspressechefs Otto Dietrich aus dessen Rede zu den „‚philosophischen
Grundlagen des Nationalsozialismus‘“ vom November 1934 an. Darin wird Tön-
nies wie folgt erwähnt: „Den fundamentalen Unterschied zwischen Gemeinschaft
und Gesellschaft hat zwar Tönnies für die Wissenschaft klargemacht, Eucken hat
ihn idealistisch unterbaut, ohne aber daß die Wissenschaft die Wertlosigkeit des
Gesellschaftsbegriffs für ihre grundlegende Arbeit erkannt hätte.“
Die wissenschaftliche Bedeutung von Gemeinschaft und Gesellschaft und – was
wohl das Entscheidende gewesen sein dürfte – die einschlägige ideologische Ver-
wendbarkeit dieses Buches wog für das NS-Regime offenkundig schwerer als die
Tatsache, dass – wie von Klauke gleich anschließend festgestellt – Tönnies „von
Beginn an ein engagierter Gegner des Nationalsozialismus [war] und […] viel-
fach in tagespublizistischen Interventionen gegen diesen [auftrat]“. Auch Tönnies
selbst war sich – wie er in einer vom Autor angeführten Briefstelle bemerkt – des
Schicksals oder eben des „Erfolgs“ seiner „Theorie von Gemeinschaft, der in der
N.-Ideologie vorlieg[t]“, durchaus bewusst. Mithin präsentiert sich dem Betrach-
ter eine Situation, in der das äußere, ideologisch-politische Milieu der NS-Zeit im
inneren Milieu der Wissenschaft und näherhin in der Rezeption und Bewertung
Einleitung: „Soziologische Milieus – soziologische Karrieren“ 207
ter Aufsicht eines Meisters ausgeübten und an Mitarbeiter und Schüler weiterge-
gebenen Handwerks bezeichnen, das noch im 15. Jahrhundert, etwa bei Leonardo
da Vinci, die Wissenschaft miteinschloss. Von dieser Sichtweise und Praxis grenzt
sich die moderne positivistische Wissenschaft scharf ab, wenn sie zwischen den
praktischen, auf Naturbeherrschung zielenden „artes mechanicae“, vornehmlich
den Naturwissenschaften, einerseits, und den nicht auf Broterwerb ausgerichte-
ten „artes liberales“ andererseits unterscheidet: den späteren Geistes- und dann
auch Sozialwissenschaften, zusammengefasst zu den Humanwissenschaften, aus
denen in den USA die der Allgemeinbildung vorbehalten „liberal arts“ hervorgin-
gen.3 Doch wenn sich in der Moderne die autonome Kunst verselbständigt, sich
der künstlerische Stil, am radikalsten unter der Parole „l’art pour l’art“, zur per-
sönlichen Handschrift entwickelt und der Künstler zu einer Art Schöpfer und Ge-
nie aufsteigt,4 scheint ein solches Verständnis, trotz des Charisma akademischen
Handelns,5 auf die wissenschaftlichen Disziplinen nur schwer übertragbar. Zwar
lassen sich in der Soziologie von Beginn an Tendenzen der Schulbildung erken-
nen, besonders ausgeprägt in Frankreich von Émile Durkheim bis Pierre Bour-
dieu, was aber auf die dort bis heute nichtvollzogene Trennung von „arts“ und
„sciences“ zurückgeht.6 In Deutschland aber ist die Rede von „Schulen“ und vor al-
lem von „Meisterklassen“ im akademischen Kontext eher unüblich. „Frankfurter
Schule“ und „Kölner Schule“ sind denn auch eher Kampfbegriffe im sogenannten
Positivismus-Streit, der sozialwissenschaftlich als Prozess der Loslösung der So-
ziologie von der Philosophie, mithin der Trennung von positiven und normativen
wissenschaftlichen Disziplinen, gedeutet werden kann.7
Versuche, Denkschulen der Soziologie in Deutschland zu benennen und zu
portraitieren,8 sind schließlich auch vor dem Hintergrund einer aktuell sich voll-
3 Der aktuelle Trend zu den Kulturwissenschaften sowie die Abwanderung etwa der Psycho-
logie von den Sozial- zu den Geisteswissenschaften – besonders radikal an der Universität
Konstanz – ist insofern eine Renaissance dieser alten Unterscheidung.
4 Ulrich Oevermann bringt die Entstehung („Ausdifferenzierung“) autonomer Kunst („Rea-
lismus“) in Zusammenhang mit der gegen den Akademismus gerichteten Schulbildung des
Vorimpressionismus – Schule von Barbizon – und der Entstehung eines Kunstmarktes.
5 Oevermann, Ulrich. 1991. Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Pro-
blem der Erklärung der Entstehung des Neuen. In Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Ge-
genwart, hrsg. Stefan Müller-Doohm. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 267 – 336.
6 Lepenies, Wolf. 1985. Die Drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft.
München: Hanser.
7 Schule als Selbstbeschreibung ist eigentlich nur für die „Frankfurter“ gebräuchlich. Neben
der „Kölner“ könnte man als Fremdbeschreibungen auch von einer „Münsteraner Schule“
um Helmut Schelsky oder von einer „Freiburger Schule“ um Heinrich Popitz usw. sprechen,
also sehr wohl nur von Zuschreibungen.
8 Soziologische Denkschulen in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. Joachim Fischer und
Stephan Moebius. Wiesbaden. Springer 2019.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 211
Zwar wird das langjährige Wirken von Thomas Luckmann und seinem Nachfolger
und Freund Hans-Georg Soeffner an der Universität Konstanz oft mit der Sozio-
logie in Konstanz gleichgesetzt. Dieser Umstand darf aber nicht darüber hinweg-
täuschen, dass auch andere bedeutende Geister in Konstanz gewirkt haben. Zur
ersten, der Gründergeneration zählt Ralf Dahrendorf, dessen Außenwirkung al-
lerdings größer war, als seine akademische Innenwirkung; Seminare ließ er gern
stilvoll am Kamin in der Konstanzer Seestraße von statten gehen. Der Indologe
9 Bekanntlich hat bereits Bourdieu von einer Entwertung der Abschlüsse an den Massenuni-
versitäten gesprochen, vgl. Bourdieu, Pierre. 1984. Homo academicus. Paris: Les Édition de
Minuit.
10 Nicht zufällig wurde der Begriff „Denkschulen“ zu allererst eine in der Managementlehre
gebräuchliche Klassifikation, vgl. Mintzberg, Henry, Bruce Ahlstrand und Joseph Lam-
pel. 1998. Strategy Safari. A Guided Tour Through the Wilds of Strategic Management. Upper
Saddle River: Financial Times Prentice Hall.
212 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
und Entwicklungssoziologe Detlef Kantowsky lud dann schon eher einmal zur au-
ßerweltlich orientierten Yoga-Sitzung oder zum japanischen Teeritual und sorgte
ansonsten dafür, dass der – in der deutschen Soziologie immer schon zu kurz ge-
kommene – ethnologische Blick in der Konstanzer Alltagssoziologie für die nö-
tige Entfremdung sorgte. Ein in den 1960er- und 70er-Jahren wichtiges, danach
verdrängtes soziologisches Arbeitsfeld, die auch oft kulturvergleichende Sozial-
psychologie und Sozialisationsforschung, wurde in Konstanz von Gisela Tromms-
dorff repräsentiert, die eine Professur für Entwicklungspsychologie und Kultur-
vergleich im Fach Psychologie innehatte und u. a. ein „Wörterbuch der Soziologie“
mitherausgab.11 Hier gab es interdisziplinären Austausch, zumal Soziologie und
Psychologie bis zu deren naturwissenschaftlichen Wende in der sozialwissen-
schaftlichen Fakultät vereint waren. Der Dahrendorf-Schüler Erhard Roy Wiehn
erwarb sich Verdienste in der Sozialstrukturanalyse, der Soziologie abweichenden
Verhaltens und neben anderen Schwerpunkten dann vor allem als Herausgeber
der Edition „Schoáh & Judaica“. Er wirkte auch in der Konstanzer Hochschulfor-
schung, die bis heute große Reputation genießt. Horst Baier floh vom politisch
bewegten Frankfurt, wo man den Schelsky-Schüler auf den Adorno-Lehrstuhl
berufen hatte, ins friedlichere Konstanz, um medizinsoziologische und sozialpoli-
tische – heute neudeutsch und mit stärker verwaltungswissenschaftlichem Akzent
als „public health“ bezeichnet –, aber auch wissenssoziologische und sozialphi-
losophische Themen zu lehren. Dagegen wirkte der Schweizer Kurt Lüscher vor
allem als Sozialisations-, Medien- und Familiensoziologe und hat sich darüber
hinaus mit seiner Arbeit im Komitee für die künstlerische Ausgestaltung der Uni-
versität Konstanz ein Denkmal gesetzt.
Zur zweiten Generation zählen neben Hans-Georg Soeffner, der der „Kon-
stanzer Soziologie“ ein kultursoziologisches Profil zu geben trachtete, Bernd Gie-
sen, Werner Georg und nicht zuletzt Karin Knorr Cetina, die – legt man einen
Begriff von „weak ties“ zugrunde – mit ihrem kultur-, wissens- und wissenschafts-
soziologischen Programm durchaus dem mit den Namen Luckmann und Soeffner
assoziierten Cluster zugerechnet werden dürfen. Die Berufung des Kulturwissen-
schaftlers Andreas Reckwitz auf den Lehrstuhl von Luckmann beziehungsweise
Soeffner drohte dann das Ende dieser Tradition in Konstanz einzuläuten. Mit den
Emeritierung von Karin Knorr Cetina und Bernd Giesen hätte sie auch als abge-
schlossen betrachtet werden können, wäre 2016 mit Christian Meyer nicht der ers-
te Vertreter der dritten Generation berufen worden.
Das Soziologische Institut, heute Teil des Fachbereichs Geschichte und Sozio-
logie (mit Sportwissenschaft und empirischer Bildungsforschung) stellt das „äu-
11 Wörterbuch der Soziologie, hrsg. Günter Endruweit und Gisela Trommsdorf. Stuttgart: Krö-
ner 1989. Neuausgabe 2014 unter Mitwirkung von Nicole Burzan. Konstanz: UVK.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 213
12 Die Unterscheidung zwischen „innerem“ und „äußerem Milieu“ geht bekanntlich auf Émile
Durkheim zurück, vgl. Durkheim, Émile. 1895. Les Règles de la méthode sociologique. Paris:
Presses Universitaires de France. Zum Milieubegriff in der phänomenologisch orientierten
Soziologie vgl. Grathoff, Richard. 1989. Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänome-
nologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp; Hitzler, Ronald, und Anne Honer. 1984. Lebenswelt – Milieu – Situation. Termino-
logische Vorschläge zur theoretischen Verständigung. In Kölner Zeitschrift für Soziologie
und Sozialpsychologie 1, S. 56 – 74; Die Räume des Milieus. Neue Tendenzen in der sozial- und
raumwissenschaftlichen Milieuforschung, in der Stadt und Raumplanung, hrsg. Ulf Matthie-
sen. Berlin: Sigma 1998. Die Form des Milieus. Zeitschrift für Theoretische Soziologie 1, Son-
derband, hrsg. Peter Isenböck, Linda Nell und Joachim Renn. Weinheim und Basel: Beltz
2014. Eine Feldanalyse der „Konstanzer Schule“ der Neuen Wissenssoziologie, wie sie Peter
Gostmann am Beispiel Albert Salomons durchgeführt hat, kann an dieser Stelle nicht geleis-
tet werden, vgl. Gostmann, Peter. 2014. Beyond the Pale. Albert Salomons Denkraum. Das in-
tellektuelle Feld im 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Springer.
13 Treibel, Annette. 2006. Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, 7. Auflage,
Wiesbaden: Springer, S. 96.
14 Matthiesen, Ulf. 2006. Das Wissen des Karneades in der Hauptstadt der Kritischen Theo-
rie. Thomas Luckmann in Frankfurt am Main 1965 – 1970. In Neue Perspektiven der Wissens-
soziologie, hrsg. Dirk Tänzler, Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner. Konstanz: UVK,
S. 337 – 344.
15 Alfred Schütz Werkausgabe. 2003 – 2020, hrsg. Richard Grathoff, Hans-Georg Soeffner und
Ilja Srubar. Konstanz: UVK. Endreß, Martin. 1999. Die Alfred Schütz Werkausgabe. Konzep-
214 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
tion und editorisches Profil. In Jahrbuch für Sozialgeschichte 1995. Opladen: Leske + Budrich,
S. 281 – 311.
16 Diese Aversion gegen jegliche Sektenbildung verdankt sich sicherlich auch der Sensibili-
tät der Religionssoziologen Luckmann und Soeffner für die feinen Unterschiede zwischen
weltanschaulichen Bekenntnisgemeinschaften, die durch „strong ties“ zusammengeschweißt
werden, und der scientific community mit ihren durch „weak ties“ nur „locker“ vernetzten,
autonomen Forschern.
17 Sprondel, Walter M. 1994. Vorwort. In Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommuni-
kative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, hrsg. Walter M. Sprondel. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 9 – 14, hier S. 9.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 215
Publikationen,18 über eine Reihe von Berufungen auf universitäre Lehrstühle so-
wie durch die Übernahme leitender Funktionen innerhalb der Deutschen Gesell-
schaft für Soziologie und ihrer Sektionen, allen voran der Sektion Wissenssoziolo-
gie, ist die „Konstanzer Schule“ in der Profession deutlich sichtbar geworden und
geblieben. Einen nicht unerheblichen Beitrag hierzu leistet das bereits erwähnte
„Sozialwissenschaftliche Archiv Konstanz“.
Im Folgenden ist es uns es allerdings nicht darum getan, der Architektur eines
vermeintlich festgefügten Lehrgebäudes mit seinen Etagen, Nischen und deren
Verwaltern und Bewohnern den Anstrich höherer Weihen zu verleihen. Vielmehr
ist uns daran gelegen, die Formation der „Konstanzer Schule“ im wissenssoziolo-
gischen Stil selbstreflexiv und nüchtern zu rekonstruieren. Aus den Innenansich-
ten zweier „Schüler“ wollen wir die theoretischen, methodologischen und me-
thodischen Fundamente benennen, auf denen die wissenschaftliche Position der
„Konstanzer Schule“ aufruht.19 Dabei ist das handlungsleitendes Motiv, diesen
komplexen Zusammenhang nicht als kohärente Einheit zu fingieren, sondern auf
seine ihm innewohnenden Spannungen, Brüche, Konfliktlinien und darüber auf
sein Potential und seine Perspektive hin zu befragen. Diese vielschichtigen inne-
ren Dynamiken mögen der Außenwahrnehmung verschlossen bleiben oder nur
partiell und fragmentarisch zugänglich sein, was zum Bild einer geschlossenen
„Konstanzer Schule“ beitragen mag. Die Innensicht vermag jedoch den subjektiv
18 Exemplarisch Alfred Schütz Werkausgabe und die Buchreihen Wissen, Kommunikation und
Gesellschaft. Schriften zur Wissenssoziologie, hrsg. Hans-Georg Soeffner, Ronald Hitzler, Hu-
bert Knoblauch und Jo Reichertz. Konstanz: UVK, sowie Klassiker der Wissenssoziologie,
hrsg. Bernt Schnettler. Konstanz: UVK, jetzt Köln: Herbert von Halem. Vgl. darüber hinaus
die beiden Tagungsbände Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. 2006. Hrsg. Dirk Tänzler,
Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner. Konstanz: UVK, und Kritik der Wissensgesell-
schaft. 2006. Hrsg. Dirk Tänzler, Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner. Konstanz:
UVK, schließlich die Festschriften Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative
Konstruktion. Für Thomas Luckmann. 1994. Hrsg. Walter M. Sprondel, Frankfurt am Main:
Suhrkamp; Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung von Kultur. 1999. Hrsg. Anne Honer,
Ronald Kurt und Jo Reichertz, Konstanz: UVK; Hermeneutik der Kulturen – Kulturen der
Hermeneutik. Zum 65. Geburtstag von Hans-Georg Soeffner. 2004. Hrsg. Jo Reichertz, Anne
Honer und Werner Schneider. Konstanz: UVK; Fragile Sozialität. Inszenierungen, Sinnwelten,
Existenzbastler. Für Ronald Hitzler zum 60. Geburtstag. 2010. Hrsg. Anne Honer, Michael
Meuser und Michaela Pfadenhauer. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Herme-
neutik als Lebenspraxis. Ein Vorschlag von Hans-Georg Soeffner. 2014. Hrsg. Ronald Hitzler.
Weinheim und Basel: Beltz.
19 Siehe auch Knoblauch, Hubert. 2005. Wissenssoziologie. Konstanz: UVK; Maasen, Sabine.
1999. Wissenssoziologie. Bielefeld: transcript; Handbuch Wissenssoziologie und Wissenschafts-
forschung. 2007. Hrsg. Reiner Schützeichel. Konstanz: UVK.
216 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
gemeinten Sinn und damit die konkurrierenden Motivlagen hinter der vermeint-
lich einheitlichen Fassade dieser Denkschule zu „dekonstruieren“.20
Das Manifest der Neuen Wissenssoziologie, die von Peter L. Berger und Thomas
Luckmann verfasste „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“21, sieht
sich seit ihrem Erscheinen dem Vorwurf ausgesetzt, die soziologischen Klassiker
als Steinbruch für eine Popularisierung der Soziologie benutzt zu haben. Dabei
wird geflissentlich übersehen, dass auch für diesen soziologischen Bestseller gilt,
dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile und es mithin auf den Zusam-
menhang ankommt, in den Berger und Luckmann die „membra disjecta“ der Dis-
ziplin stellen. An der „Gesellschaftlichen Konstruktion“ kann daher nicht nur das
epigonale Schicksal, das alle nachklassische Soziologie ereilt – denn „wir stehen
alle auf Schultern von Riesen“22 –, sondern auch die schöpferische Nachahmung23
der Klassiker studiert werden, ganz gemäß der Devise: „Was du ererbt von deinen
Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“.24 Zum einen handelt es sich bei dieser
Schrift zwar um eine Synopse des erreichten soziologischen „stock of knowledge“,
so einer der wissenssoziologischen Zentralbegriffe von Berger und Luckmann.
Zum anderen aber ist die „Gesellschaftliche Konstruktion“ als Grundlegung einer
„Theorie der Wissenssoziologie“ durchaus eine Streitschrift wider das Mitte des
20. Jahrhunderts hegemoniale Theorieprogramm von Talcott Parsons. Die sozio-
logische Sozialisations-, Rollen-, Klassen- und Institutionentheorien werden kon-
20 Persöhnliches und Allzumenschliches aus der Perspektive des „Kammerdieners“, für den es
keine Individualität und Allgemeinheit verkörpernden Helden gibt, sind allerdings nicht zu
erwarten. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Einleitung. In Georg Wilhelm Fried-
rich Hegel, Werke Band 12. Philosophie der Geschichte, hrsg. Eva Moldenhauer und Karl Mar-
kus Michel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48.
21 Berger, Peter L., und Thomas Luckmann. 1966. The Social Construction of Reality. A Theory
of the Sociology of Knowledge. Garden City und New York: Doubleday & Company. Im Fol-
genden zitiert nach der deutschen Ausgabe 1970: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk-
lichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: S. Fischer.
22 Luckmann, Thomas. 2006. Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. In Neue Per-
spektiven der Wissenssoziologie, hrsg. Dirk Tänzler, Hubert Knoblauch und Hans-Georg
Soeffner, S. 15 – 26, hier S. 18, Fußnote 3. Luckmann bezieht diese zuerst bei Bernhard von
Chartres verbürgte Metapher, die Robert K. Merton als Titel seines Werks On the Shoulders
of Giants. A Shandean Postscript, Chicago und London: Chicago University Press 1993, ver-
wendete, auf Wilhelm von Humboldt.
23 Tarde sieht in der Nachahmung die eigentlich schöpferische Tätigkeit des Menschen, vgl. Tar-
de, Gabriel de. 1890. Les lois de l’imitation. Paris: Félix Alcan.
24 Goethe, Johann Wolfgang. 1808. Faust. Eine Tragödie. Tübingen: Cotta, Vers 682 f.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 217
sequent auf eine wissenssoziologische Basis gestellt, was heißt, aus der Perspek
tive der Erfahrung und des subjektiv gemeinten – im phänomenologischen Jargon
„erlebten“ und „gelebten“ – Sinns der handelnden Menschen zu einem sinnvollen
Zusammenhang aggregiert, der in der Formel von der „gesellschaftlichen Kon-
struktion der Wirklichkeit“ kulminiert.25 Die Formel markiert denn auch die
Differenz zwischen der „alten“ Wissenssoziologie, die von Max Scheler bis Karl
Mannheim als philosophische Vernunftkritik betrieben wurde, und der nun so-
genannten Neuen Wissenssoziologie, die Berger und Luckmann zu einer erfah-
rungswissenschaftlichen soziologischen Gegenstandsanalyse umbilden.
Mit dieser Grenzziehung verabschieden sich die Autoren von dem seit Au-
guste Comte, Émile Durkheim und zuletzt von Niklas Luhmann erhobenen, aber
überzogenen Anspruch einer positivistischen Wissenssoziologie als Einheitswis-
senschaft. Eine solche Vereinnahmung der Philosophie durch die Soziologie wird
ebenso zurückgewiesen wie umgekehrt das Ansinnen einer philosophischen Wis-
senschaftstheorie, die vermeint, den einzelnen Disziplinen ihre Gegenstände vor-
schreiben zu können. Für letztere darf John Searles „The Construction of Social
Reality“, die sich im Untertitel eine „Ontologie sozialer Tatsachen“ nennt, als Pa-
radebeispiel gelten, das jedoch kaum zur Grundlegung der Soziologie beiträgt.26
Beide Male, in der Soziologie als Einheitswissenschaft wie in der philosophischen
Ontologie des Sozialen, werden erkenntniskritische Fragen der Sinnkonstitution
mit realwissenschaftlichen Problemen der Wirklichkeitskonstruktion auf unent-
wirrbare Weise verquickt. Die Neue Wissenssoziologie beschreitet einen dritten
Weg. Denn während sich die „alte“ Wissenssoziologie noch als Purgatorium der
Vernunft und als Propädeutik der Philosophie verstand, gelingt es ihr – parado-
xerweise doch wieder unter Rekurs auf die Philosophie27 – sich aus der dienen-
den Stellung einer philosophischen Hilfsdisziplin zu entbinden und zur Herrin
25 Unverkennbar wird hier an Max Webers sinnverstehende Soziologie und Alfred Schütz’
sinnhaften Aufbau der Sozialen Welt angeknüpft. Zu Gemeinsamkeiten, aber auch zur
grundsätzlichen Differenz zwischen Webers und Schütz’ Soziologie vgl. Seyfart, Constans.
1979. Alltag und Charisma bei Max Weber. Eine Studie zur Grundlegung der verstehenden
Soziologie. In Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, hrsg. Walter
M. Sprondel und Richard Grathoff. Stuttgart: Enke, S. 155 – 177.
26 Searle, John. 1995. The Construction of Social Reality. New York: The Free Press; vgl. auch
Kondylis, Panajotis. 1999. Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie.
Berlin: Akademie Verlag sowie die Beiträge in Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseins-
analytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft. 2001. Hrsg. Johannes
Weiß, Konstanz: UVK, hier insbesondere Ilja Srubar, Heidegger und die Grundfragen der
Sozialtheorie, S. 175 – 195.
27 Plessner, Helmuth. 1970. Zur deutschen Ausgabe. Vorwort in Peter L. Berger und Thomas
Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssozio-
logie, S. IX – XIX.
218 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
28 Grathoff, Richard. Milieu und Lebenswelt; Kurt, Ronald. 2002. Menschenbild und Methode
der Sozialphänomenologie. Konstanz: UVK; Endreß, Martin. 2006. Varianten verstehender
Soziologie. In Max Webers ‚Grundbegriffe‘. Kategorien der Kultur und sozialwissenschaftlichen
Forschung, hrsg. Klaus Lichtblau. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 21 – 46,
hier S. 21; Knoblauch, Hubert. 2009. Phänomenologische Soziologie. In Handbuch Soziolo-
gische Theorien, hrsg. Georg Kneer und Markus Schroer Wiesbaden: VS Verlag für Sozial-
wissenschaften, S. 299 – 322. Luckmann gibt dann auch zu Protokoll: „Ich betreibe gar keine
phänomenologische Soziologie, ich behaupte, dass es so etwas gar nicht geben kann. Oder
es ist ein ‚misnomer‘, ein falsches Etikett“. Vgl. Luckmann, Thomas. 2010. „Teilweise zufällig,
teilweise, weil es doch Spaß macht“. In Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Frage
stellungen, hrsg. Monika Wohlrab-Sahr. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
2010, S. 73 – 98, hier S. 87. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Soziologie vgl. außer-
dem Matthiesen, Ulf. 1983. Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen
Handelns. München: Fink; die Beiträge in Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Po-
sitionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. 2008. Hrsg. Jürgen Raab, Mi-
chaela Pfadenhauer, Peter Stegmaier, Jochen Dreher und Bernt Schnettler. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften, sowie The Social Construction of Reality. Special Issue Hu-
man Studies 39 (1), 2016, hrsg. Martin Endreß und Stefan Nicolae.
29 Berger und Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion, S. XVII.
30 Plessner, Helmuth. 1985. Soziale Rolle und menschliche Natur. In Gesammelte Schriften X.
Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, hrsg. Günter Dux, Odo Marquard und Elisa-
beth Ströker. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 212 – 226; Tänzler, Dirk. 2009. Gesellschaft.
In Handwörterbuch Erziehungswissenschaft, hrsg. Sabine Andresen, Rita Casale, Thomas Ga-
briel, Rebekka Horlacher, Sabine Larcher Klee, Jürgen Oelkers. Weinheim und Basel: Beltz,
S. 356 – 378; Soeffner, Hans-Georg. 2020a. Die ‚Rollendebatte‘ in der Soziologie der ‚alten‘
Bundesrepublik Deutschland. In Plessner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. Joachim
Fischer. Stuttgart: J. B. Metzler (in Druck).
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 219
31 Srubar, Ilja. 1988b. Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred
Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
32 Matthiesen, Das Dickicht der Lebenswelt, S. 23. Hier stellt sich denn auch das fundamen-
tale Problem der „Gegebenheitsweise des Anderen“ und der „Intersubjektivität“; vgl. Husserl,
Edmund. 1992. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno-
menologie. In Husserliana Band VI, hrsg. Elisabeth Ströker, Hamburg: Meiner; Schütz, Al-
fred. 2009. Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl. In Alfred Schütz
Werkausgabe Band III.3, Philosophisch-phänomenologische Schriften 1. Zur Kritik der Phäno-
menologie Edmund Husserls, hrsg. Richard Grathoff, Hans-Georg Soeffner und Ilja Srubar,
Konstanz: UVK, S. 223 – 266; Luckmann, Thomas. 1979. On the Boundaries of the Life World.
In Phenomenology and Social Reality. Essays in Memory of Alfred Schutz, hrsg. Maurice Na-
tanson. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 73 – 100, deutsch: Über die Grenzen der Sozialwelt.
In Luckmann, Thomas. 1980. Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschicht-
liche Wandlungen. Paderborn: Schöningh, S. 56 – 92; Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des
kommunikativen Handelns Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 191 f.: „Lebenswelt …
erlaubt Sprecher und Hörer nicht (sich) auf etwas als ‚etwas Intersubjektives‘ (zu) beziehen“.
Schütz Haltung zu transzendentaler Lebensweltanalyse und pragmatistischer Handlungs-
theorie, bleibe „zwiespältig“, so Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns Band 2,
S. 197.
33 Wenn Weber vom subjektiv gemeinten Sinn einer Handlung spricht, dann ‚meint‘ er in der
Sprache der Phänomenologie, dass Handeln ein Sinnerleben, also die empirisch gar nicht
zugängliche Innenseite eines beobachtbaren Verhaltens, ist. Dem entspricht die Unterschei-
dung zwischen Leib und Körper.
34 Simmel, Georg. 1992. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung.
In: Georg Simmel Gesamtausgabe Band 11, hrsg. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
220 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
35 Schütz, Alfred. 2004. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Einleitung in die verstehen-
de Soziologie. In Alfred Schütz Werkausgabe Band II, hrsg. Richard Grathoff, Hans-Georg-
Soeffner und Ilja Srubar, Konstanz: UVK.
36 Schütz. Der sinnhafte Aufbau, S. 88.
37 Schütz. Der sinnhafte Aufbau, S. 89.
38 Schütz. Der sinnhafte Aufbau.
39 Der Existentialismus analysiert dieses „Geworfensein“ am „Ekel“ als Erleben der sinnlosen
Faktizität der Dinge und des daher grundlosen Seins der materiellen Welt oder des „Frem-
den“ als Grundbefindlichkeit des Absurden, so Jean Paul Sartre beziehungsweise Albert Ca-
mus in ihren gleichnamigen Romanen.
40 Nassehi, Armin. 2008. Phänomenologie und Systemtheorie. In Phänomenologie und Sozio-
logie, hrsg. Jürgen Raab, Michaela Pfadenhauer, Peter Stegmaier, Jochen Dreher und Bernt
Schnettler, S, 163 – 173, hier S. 168. In der Denkfigur der „Bastelexistenz“ sind beide, die als
sinnlos und die als Heimat erfahrene Welt, zur postmodernen Synthese gekommen, vgl.
Hitzler, Ronald, und Anne Honer. 1994. Bastelexistenz. In Riskante Freiheiten, hrsg. Ulrich
Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 307 – 315.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 221
verbürgende Heimat,41 so dass ihm der Vorwurf gemacht wurde, er habe Webers
Ideal des Kulturmenschen zu wörtlich genommen. Kurz, verbleibt der subjektiv
gemeinte Handlungssinn bei Weber im „Als-ob“ der Idealtypenkonstruktion, so
erscheint er bei Schütz wie ein empirisches Faktum.42 Die zwischen Weber und
Schütz strittige Sinnfrage prägt die innere Dynamik der „Konstanzer Schule“ bis
heute und drückt sich unverkennbar in ihren unterschiedlichen Methoden und
Methodologien aus.43
41 Schon bei Husserl lässt sich eine vertraute Heimwelt als Kernzone vom Horizont einer
Fremdwelt abheben, vgl. Waldenfels, Bernhard. 1985a. Heimat in der Ferne. In Bernhard
Waldenfels In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 194 – 211, hier
S. 199 f.
42 Vgl. Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns Band 2, S. 198; Nassehi. Phänomeno-
logie und Systemtheorie, S. 168.
43 Vgl. Alfred Schütz und die Hermeneutik. 2010. Hrsg. Michael Staudigl. Konstanz: UVK.
44 Weber, Max. 1976. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auf-
lage. Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 1.
45 Weber, Max. 1988. Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkennt-
nis. In Max Weber Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Auflage. Tübingen: Mohr
(Siebeck), S. 146 – 214.
222 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
dann Schütz’ Fragen nach dem Sinn auf die Konstitutionsleistungen eines zu-
nächst rein transzendentalen, dann mundanen Subjekts. Berger und Luckmann
unterscheiden daher zwischen egologischer Konstitution und sozialer Konstruk-
tion und machen deutlich, dass ihr Sozialkonstruktivismus philosophisch gesehen
ein Realismus ist.46
Der Kantianer Weber sieht das Kulturmenschliche in der Leistung, als Subjekt
in der Kausalkette der natürlichen Welt „einen Anfang zu setzen“, also rational in
die Ordnung der Dinge einzugreifen.47 Damit sind nicht nur natürliche Ursachen
für die objektiven Wirkungszusammenhänge der Welt verantwortlich, sondern
auch kulturelle Motive, normativ fundierte „gute“ Gründe, die, wenn sie denn ei-
nen Handlungszusammenhang stiften, gleichfalls ursächlich wirken. Insofern ist
das „deutende Verstehen“ ein „ursächliches Erklären“, nämlich der Kausalketten,
die das gesellschaftliche Geschehen und damit den Gegenstandsbereich der So-
ziologie bilden. Kurz, für Weber ist Verstehen der für die Kulturwissenschaften
typische Modus des Erklärens, während für Husserl und Schütz das Erklären und
das Verstehen prinzipiell niemals zur Deckung zu bringen sind.48 In einer sozialen
Welt werden die Beziehungen zu den Dingen über die anderen vermittelt, es beste-
hen also Motivationsbeziehungen und keine (Natur-)Kausalitäten.49 Die Kausal-
erklärung bleibt für Husserl und Schütz das Modell aller analytischen Gesetzeswis-
senschaften, die dem Gebot der Weltbeherrschung folgend scheinbar normfrei auf
äußere Gegenstände gerichtet sind. Der Erfolg einer solchen instrumentellen Ver-
nunft beruht auf Funktionalisierung von Natur zu Objekten, als Mittel zum Zweck,
ist insofern Herrschaft50 – in Kants berühmter Formulierung: „Wir schreiben der
Natur die Gesetze vor“ – und nicht einfühlendes Verstehen. Die moderne Wissen-
schaft tendiert dazu, ihre Sicht als die umfassende Weltsicht auszugeben, nämlich
die Welt als Totalität der für lebenspraktische Zwecke instrumentalisierten Ge-
genstände aufzufassen. Damit wird die Welt selbst zum Gegenstand, zu einer Art
46 Ähnlich Niklas Luhmann: „Es gibt Systeme“. In: Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme.
Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 30.
47 Hannah Arendt zitiert Augustinus mit den Worten „Initium ut esset, creatus est homo – da-
mit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen“. In Ahrendt, Hannah. 1951. The Origins of
Totalitarianism. New York: Schocken Books, S. 479.
48 In dieser Hinsicht setzt die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns die Webersche Linie
fort, von der die Neue Wissenssoziologie mit Alfred Schütz abzweigt.
49 Husserl, Edmund. 1952. Ideen zu einer reinen Phänomenologie. In Edmund Husserl Hus
serliana IV, hrsg. Elisabeth Ströker. Hamburg: Meiner, S. 229.
50 Heißt es in Francis Bacons Novum Organum noch euphorisch: „Wissen ist Macht“, so in Max
Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung voller Schrecken: „Ver-
nunft ist Herrschaft“. Vgl. Bacon, Francis. 1999. Novum Organum. Hamburg: Meiner, S. 65
sowie Horkheimer, Max, und Theodor W. Adorno. 1947. Dialektik der Aufklärung. Philoso-
phische Fragmente. Amsterdam: Querido.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 223
Behälter. Weil es die „Welt“ jedoch nicht gibt, kann sie auch nicht erklärt werden.
Vielmehr zeigt sich „Welt“ in den Horizonten der vom Subjekt intendierten Ge-
genstände. Dieses Sich-Zeigen nun ist der Vollzug des Verstehens, das nicht auf
die Gegenstände, sondern Akte der Sinnstiftung zielt. Verstehen bezieht sich inso-
fern auf etwas der Wirklichkeitswissenschaft prinzipiell Unzugängliches, nämlich
auf das Rätsel der Urkorrelation zwischen Ich und Welt, die einem Bewusstsein
gleichursprünglich und originär gegeben ist etwa, wie Heinz Bude neuerdings in
Anschluss an Heidegger und Tarde betont, in Stimmungen.51 Als Verstehen wird
die reine Rückversicherung der sinnkonstituierenden Subjektivität und der Ge-
genstände ihrer Erfahrung in reiner Idealität verstanden. Wie aber ist Fremdver-
stehen und darin gründendes soziales Handelns möglich, wenn doch der Sinn des
Anderen – seine Schmerzen, Ängste Wünsche – nicht etwas in der geteilten Hand-
lungswirklichkeit ist, kein Etwas, auf das Ego unmittelbaren Zugriff hätte ?
Eng verbunden mit der Methode und den Problemen des Fremdverstehens und
der Intersubjektivität ist die Frage nach dem Grundbegriff der Soziologie, nämlich
Handlung oder Kommunikation. Beim späten Luckmann bahnt sich eine kom-
munikative Wende an,52 die allerdings schon in der „Gesellschaftlichen Konstruk-
51 Bude, Heinz. 2016. Das Gefühl der Welt. Über die Macht der Stimmungen. München: Carl
Hanser. Bude nimmt eine sich in der Gegenwart ausbreitende gegenmodernisierende und
rationalismuskritische Stimmung in der Gesellschaft und Wissenschaft auf und hat vor al-
lem Massenphänomene in Folge neoliberaler Politiken und der Prekarisierung der Lebens-
lagen der zur politischen Rechten abdriftenden Modernisierungs-, oder wie man heute
sagen muß: Globalisierungsverlierer im Blick. Allerdings setzt sich Bude wie schon sein Ge-
währsmann Heidegger der Gefahr aus, undurchschaut, wie von Helmuth Plessner gezeigt,
doch im überwunden geglaubten Subjektivismus und der Krise der Moderne, dem beklag-
ten Weltverlust, befangen zu bleiben. Darüberhinaus werden die Grenzen wissenschaftli-
cher Rationalität überschritten und somit die Versuche, die Soziologie als Erfahrungswis-
senschaft zu etablieren, konterkariert. So inspirierend Tardes wiederentdeckte Theorie der
Nachahmung und seiner Analyse der Masse auch sein mag, seine naturwissenschaftliche
Metaphorik von magnetischen und elektrischen Strömen bleibt deskriptiv und suggeriert
eine Kausalität, die der Absicht Budes zuwiderläuft. Heidegger wie Tarde – und darin tref-
fen sich Fundamentalontologe und Monadologe – erliegen selbst einer epochalen Stimmung
anstatt sie zu zumindest begrifflich zu transzendieren. Vgl. Mann, Michael. 2018. Angst,
Abscheu und moralische Bedenken auf dem Schlachtfeld. Siegfried-Landshut-Lecture 2018.
Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 29 – 62.
52 Luckmann, Thomas. 2002a. Der kommunikative Aufbau der sozialen Welt und die Sozial
wissenschaften. In Thomas Luckmann Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981 –
2002, hrsg. u. eingeleitet Hubert Knoblauch, Jürgen Raab und Bernt Schnettler. Konstanz
UVK, S. 157 – 181 sowie Luckmann. Das kommunikative Paradigma der ‚neuen‘ Wissens-
224 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
soziologie, S. 201 – 210 und Luckmann. Die kommunikative Konstruktion der Wirklich-
keit. In Neue Perspektiven der Wissenssoziologie, S. 15 – 26; Kommunikative Lebenswelten. Zur
Ethnographie einer geschwätzigen Gesellschaft. 1996. Hrsg. Hubert Knoblauch. Konstanz:
UVK; Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem
neuen wissenssoziologischen Ansatz. 2013. Hrsg. Reiner Keller, Hubert Knoblauch und Jo Rei-
chertz. Wiesbaden: Springer VS; Der kommunikative Konstruktivismus bei der Arbeit. 2017.
Hrsg. Jo Reichertz und René Tuma. Wiesbaden: Springer VS; Knoblauch, Hubert. 2017. Die
kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
53 Diese Wandlung vollzog sich nicht ohne Reibungsverluste, d. h. den Austritt sich exkom-
muniziert fühlender Mitglieder und entsprechender Nebengeräusche. Siehe: http://www.
academia.edu/8026286/Loer_an_Soeffner_Kündigung_Mitgliedschaft_DGS _Ihre_Nach-
frage.
54 Vgl. Keppler, Angela. 2006. Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der
Darstellung von Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Knoblauch, Hubert. 2004. Die Vi-
deo-Interaktions-Analyse. In Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung
Heft 1, S. 123 – 138; PowerPoint-Präsentationen. Neue Formen der gesellschaftlichen Kommuni-
kation von Wissen. 2007. Hrsg. Bernt Schnettler und Hubert Knoblauch. Konstanz: UVK;
Tuma, René. 2017. Videoprofis im Alltag. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 225
55 Vgl. hierzu auch Bergmann, Jörg R. 1985. Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozia-
ler Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In Entzauberte
Wissenschaft. Zur Relativität der Geltung soziologischer Forschung, hrsg. Wolfgang Bonß und
Heinz Hartmann. Göttingen: O. Schwarz, S. 299 – 320.
56 Vgl. Luckmann, Thomas. 1992. Theorie des sozialen Handelns. Sammlung Göschen. Berlin
und New York: de Gruyter, S. 110 – 124. Siehe auch die eindrückliche Analyse von Bergmann,
Jörg R., Hans-Georg Soeffner und Thomas Luckmann. 1993. Zwei Päpste. In Charisma. Theo-
rie, Religion, Politik, hrsg. Winfried Gebhard, Arnold Zingerle und Michael N. Ebertz. Mate-
riale Soziologie Band TB 3. Berlin: de Gruyter, S. 121 – 155.
57 Kellner, Hansfried. 1978. On the Cognitive Significance of the System of Language in Com-
munication. In Phenomenology and Sociology, hrsg. Thomas Luckmann. Harmondsworth:
Penguin, S. 324 – 342, hier S. 324 ff.
58 Matthiesen. Das Dickicht der Lebenswelt, S. 50 ff.; Köster, Werner 2007. Raum. In Wörter-
buch der philosophischen Metaphern, hrsg. Ralf Konersmann. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, S. 274 – 292, hier S. 287.
59 Vgl. Waldenfels, Bernhard. 1985b Rationalisierung der Lebenswelt – ein Projekt. Kritische
Überlegungen zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. In Waldenfels. In den
Netzen der Lebenswelt, S. 94 – 119, hier S. 98.
60 Für Luckmann und Soeffner waren die Arbeiten von Gerold Ungeheuer von großer Be-
deutung. Dazu grundlegend: Schnettler, Bernt. 2006. Thomas Luckmann. Klassiker der
Wissenssoziologie Band 1, hrsg. Bernt Schnettler. Konstanz: UVK; Zifonun, Darius. 2020.
Hans-Georg Soeffner. Klassiker der Wissenssoziologie Band 18, Köln: Herbert von Halem; Un-
geheuer, Gerold. 1987. Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verste-
hen, hrsg. u. eingeleitet Johann G. Juchem, Nachwort von Hans-Georg Soeffner und Tho-
mas Luckmann, Aachen: Rader. Siehe auch: Tänzler, Dirk. 2019. Interaktion. In Staatslexikon
8. Auflage, Band 3, hrsg. Görres-Gesellschaft und Verlag Herder. Freiburg im Breisgau, Basel
und Wien: Herder, S. 335 – 358.
226 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
anderen nicht verborgen blieben, obwohl deren Ausdruck nicht intentional auf
diese gerichtet sei. Als „empirisch bedeutsamste Form der Kommunikation“ habe
jedoch die unmittelbare soziale Interaktion zu gelten. Denn sie ist durch Rezi-
prozität gekennzeichnet und an die Verwendung von Sprache oder andere Zei-
chensysteme (Medien) und damit an ein System material objektiver Bedeutungen
gebunden: Körperlichkeit („Materialität“) sowohl der Medien wie der sich ihrer
bedienender Akteure bleibe aus phänomenologischer Sicht eine unauflösliche Be-
dingung aller kommunikativen Vorgänge.61
6 Wissenssoziologische Gattungstheorie
und Gattungsanalyse
für die Ausgestaltung von Kommunikation erkennen, fungieren sie doch als Or-
ganisationsprinzipien für soziale Ereignisse auch und gerade indem sie das kom-
munikative Handeln anleiten.65 Darüber hinaus lassen sich zwei weitere Verglei-
che ziehen. Denn zum einen gibt die Konzeption kommunikativer Gattungen
unschwer die Spuren der Durkheimschen Kategorie des „fait sociale“ zu erken-
nen: „extériorité“ (Äußerlichkeit) und „coercition“ (Zwanghaftigkeit).66 Nicht we-
niger markant offenbart sich zum anderen eine deutliche Nähe zu Arnold Gehlens
Institutionenbegriff: Wenn sich die Handelnden auf überprägnante, sehr detail-
liert und eindeutig festgelegte, ja in weiten Teilen sozial verpflichtende Handlungs-
und Deutungsformen einlassen und verlassen können, dann wirken diese verfes-
tigten Formen handlungs- und deutungsentlastend. Was nach Max Weber soziale
Beziehungen kennzeichnet, die Chance, dass auf eine angebbare, also erwartbare
Art und Weise sozial gehandelt wird, steigert sich im Einsatz von Deutungs- und
Handlungsformen, die wie im Falle der Gattungen zu Institutionen der Kom-
munikation gerinnen, fast bis zur intersubjektiven Gewissheit.
Zwar ist nicht jedes kommunikative Handeln derart hochgradig institutiona-
lisiert. Doch sind für Luckmann die zu Gattungen verfestigten Formen für das
Verständnis des kommunikativen Aufbaus einer Gesellschaft von herausragender
Bedeutung. Aufgrund ihres stark institutionellen Charakters und der ihnen zu-
geschriebenen besonderen gesellschaftlichen Relevanz geben sich kommunika
tive Gattungen dem analytischen Blick schon in der ersten empirisch-analyti-
schen Annäherung relativ schnell und leicht zu erkennen. Denn zum einen ist
das alltagsweltliche Wissen über solche Gattungen deutlich ausgeprägt, nicht
nur als stillschweigendes Gebrauchswissen, sondern auch als Bestandteil alltags-
sprachlich mehr oder minder deutlich ausformulierter Gattungstaxonomien und
Gattungstheorien. Zum anderen waren Gattungen schon lange Gegenstand von
Logik, Rhetorik und Poetik, Theologie und Literaturwissenschaft, Volkskunde,
Linguistik und Biologie, bevor sich die Soziologie ihnen zuwandte. Weniger liegt
das Problem demnach in der Identifikation kommunikativer Gattungen als in de-
ren idealtypischer Beschreibung, folglich in der Analyse, Ausarbeitung und Dar-
stellung kommunikativer Gattungen als sozialwissenschaftlichen Konstruktionen
zweiter Ordnung im Sinne von Alfred Schütz. Die Gattungsanalyse erstellt ein In-
ventar kommunikativer Gattungen, ihrer elementaren Bausteine und deren Bau-
pläne. So können Gattungen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Verfestigungs-
65 Goffman, Erving. 1974. Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. Cam-
bridge: Harvard University Press. Zu Goffman als Klassiker wissenssoziologischen Denkens
vgl. Raab, Jürgen. 2019b. Erving Goffman. From the Perspective of the New Sociology of Knowl-
edge. Abingdon und New York: Routledge sowie Keller, Reiner. 2012. Das interpretative Para-
digma. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
66 Vgl. Durkheim, Les règles de la méthode sociologique.
228 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
grade und mit Blick auf ihre verschiedenen Untertypen aufgespürt, erfasst und
miteinander verglichen werden. Das Fern- und Hauptziel von Gattungstheorie
und Gattungsanalyse aber besteht in der systematischen Erschließung des Ge-
samtfeldes von schwächer bis stark institutionalisierten kommunikativen Hand-
lungsformen, um über diese Bestandsaufnahme den Gesamtumfang und Ge-
samtinhalt des kommunikativen Haushalts einer Gesellschaft und damit deren
Relevanzsysteme, zu erfassen, mithin den Kern dessen, was man zu einem be-
stimmten Zeitpunkt als die Kultur einer Gesellschaft bezeichnen kann.
Die Gattungsanalyse unterscheidet heuristisch drei Kontextebenen. Erstens,
den inneren Kontext, über den die Binnenstruktur kommunikativer Gattungen
erschlossen wird. Hier richtet sich die Analyse auf die konkreten Kommunika-
tionsinhalte und den konkreten Kommunikationsablauf, mit dem bereits ge-
nannten Ziel, die einzelnen Bausteine einer kommunikativen Gattung ebenso zu
eruieren wie deren je spezifische Verknüpfungen zu Sinn- und Bedeutungszusam-
menhängen. Zweitens kennt die Gattungsanalyse einen interaktiven Kontext zur
Erschließung der Bedingungen der situativen Realisierung einer kommunikati-
ven Gattung, womit insbesondere Aspekte der interaktiven Rahmung einer Kom-
munikation beispielsweise durch Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale ge-
meint sind, oder etwa die Koordination der Kommunikationsteilnehmer durch
Regelungen der Abfolgen ihrer Kommunikationsbeiträge. Drittens schließlich be-
trachtet die Gattungsanalyse den externen Kontext zur Beschreibung der Außen-
struktur einer kommunikativen Gattung. Hier geht es, heuristisch gesehen am
äußersten Rand des eigentlichen kommunikativen Handelns, um die Berücksich-
tigung des Milieus, der Orte und Zeiten für die Realisierung oder Aktualisierung
einer kommunikativen Gattung, oder des sozialen Status und der sozialen Posi-
tionen der Handelnden.
Bereits die Analyse des inneren Kontextes zur Erschließung der Binnenstruk-
tur – und allein auf sie wollen wir uns im Folgenden beschränken – kommt nicht
ohne Bezug auf Hermeneutik und Sequenzanalyse aus. Die Gattungsanalyse
selbst verschweigt diesen Bezug nicht, bewahrt allerdings ein ambivalentes Ver-
hältnis zur Hermeneutik. Denn während sie auf die Hermeneutik angewiesen ist,
bereitet ihr deren Anwendung aus methodologischen und methodischen Grün-
den zugleich Probleme, was wiederum zur Abstandswahrung gegenüber der Her-
meneutik führt. Auf drei eng miteinander verbundene, daher nur analytisch zu
trennende Probleme, mit denen zugleich die Schwierigkeiten in der Anschluss-
fähigkeit der beiden wissenssoziologischen Verfahren hervortreten, soll nun in
Zusammenhang mit der Analyse der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen
eingegangen werden: (1) auf das methodische Primat des deutenden Verstehens;
(2) auf die Zeitstruktur und den Kontext des kommunikativen Handelns; sowie
(3) auf den Verfestigungsgrad kommunikativer Gattungen. Die Diskussion dieser
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 229
Aspekte schließt zugleich den Versuch ein, den methodologischen Ort der Her-
meneutik innerhalb von Gattungstheorie und Gattungsforschung genauer und vor
allem systematischer zu bestimmen.
(1) Max Webers bereits angeführter Grundsatz der verstehenden Soziologie,
„die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will“,67 ist ein zentraler Bezugspunkt von Gattungs-
theorie und Gattungsforschung. „Was immer man an der Wirklichkeit der mensch-
lichen Welt erklären will“, so Luckmann, „muss man zuerst verstehen“.68 Erst wenn
Sinnadäquanz gefunden wurde, kann nach Kausaladäquanz gesucht werden.69
Dem Verstehen wird ein Primat vor dem Erklären eingeräumt – allerdings nur
methodologisch-praktisch. Theoretisch hat das Erklären als Endzweck allen wis-
senschaftlichen Bemühens absolute Priorität.70 Dieser Widerspruch bleibt unlös-
bar, solange an der Dichotomie von Verstehen und Erklären festgehalten wird. Das
„dadurch“ in der berühmten Weberschen Formulierung wird in aller Regel, so auch
von Luckmann, im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders gedeutet, was grammati-
kalisch nicht angemessen ist, wird damit doch ein modales Verhältnis bezeichnet:
durch deutendes Verstehen wird ursächlich erklärt. Die Folge der Um- oder Fehl-
deutung ist, dass das Verstehen unaufgeklärt bleiben muss, weil ihm der Makel des
Vor-, um nicht zu sagen Unwissenschaftlichen anhängt. Das liegt nun daran, dass
seit Husserl die Phänomenologie sich der Idee der exakten Wissenschaft verpflich-
tet fühlt: einem analytischen Denken, das sein Urmodell in der Mathematik hat.
In diesem Sinne zielt auch die Gattungsanalyse auf Formalisierung, Systematisie-
rung und letztlich Grundlegung einer sozialwissenschaftlichen „mathesis univer-
salis“. Die hermeneutische Blindheit birgt dabei allerdings die Gefahr einer zirku-
lären Erklärung. Denn die Identifikation von Merkmalen und insbesondere von
Merkmalsverknüpfungen erfolgt vor dem Hintergrund und unter Bezug auf be-
reits vorhandenes und unbemerkt in die Analyse eingesickertes Vorwissen über
kommunikative Gattungen.
(2) Kommunikatives Handeln zeichnet sich, hier lässt sich neben Husserl auf
John Dewey, George Herbert Mead, Henry Bergson und vor allem auf Alfred
Schütz rekurrieren, durch eine besondere Zeitstruktur aus. Handeln ist durch ei-
nen Entwurf in die Zukunft bestimmt, als vollzogen phantasierter Zustand „modo
futuri exacti“, auf den das Handeln schritt- und phasenweise hinarbeitet, und der
im Idealfall in der abgeschlossenen Handlung als objektives Datum erreicht ist.
Wenn dieser Zukunftsbezug die Sinnstruktur auch kommunikativen, ggf. hoch-
gradig routinierten und stark formalisierten Handelns auszeichnet, und wenn zu-
dem gilt, dass die Daten so zu behandeln sind, dass ihre Sinnhaftigkeit und Ge-
schichtlichkeit nicht zerstört, sondern in der Analyse herausgearbeitet werden
soll, dann muss die Analyse der zeitlichen Struktur kommunikativen Handelns
gerecht werden. Die Gattungsanalyse kommt dieser Anforderung allerdings in
unentschiedener Weise nach, indem sie zwar sowohl auf die Hermeneutik und
ihr Kernstück, die Sequenzanalyse, wie auch auf deren historische Vorläuferin, die
ethnomethodologische Konversationsanalyse, rekurriert, ohne diese Bezugnah-
men aber methodologisch zu konkretisieren.71
(3) Die stark verfestigten und institutionell eingebetteten, kommunikativen
Gattungen sind zwar von herausragender Bedeutung für das Verständnis des
kommunikativen Aufbaus einer Gesellschaft. Mit ihnen ist aber nur ein Teil des
kommunikativen Haushalts einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft erfasst.
Denn neben den kanonisch festgelegten kommunikativen Gattungen existieren
nicht nur spontane, teilweise flüchtige kommunikative Formen, sondern auch aus
diesen beiden Arten synthetisierte, „unreine“ hybride Gebilde, wie etwa die Ein-
schübe von Anekdoten in Festreden.72 Wenn jedoch, wie in der Mehrzahl kom-
munikativer Vorgänge, die Übergänge fließend und die Grenzziehungen unscharf
sind, wird es schwer, den Gesamtumfang und Gesamtinhalt des kommunikativen
Haushalts einer Gesellschaft zu erfassen und zu systematisieren. Daraus ergibt sich
ein unter den aktuellen Bedingungen sogenannter postmoderner Gesellschaften
verschärfendes Problem: Gattungen und gattungsähnliche Formen sind keine sta-
tischen Gebilde, sondern gehen immer wieder neue Verbindungen ein, in denen
sich ihre Strukturen ineinanderschieben oder koppeln. Solche Struktursynthesen
sind vor allem im Einsatz neuer Kommunikationsmedien und neuer Kommunika-
tionstechnologien zu beobachten. Sie sind aber auch insbesondere dort anzutreffen,
wo in „kleinen Lebenswelten“73 und Milieus eigene kommunikative Ausdrucks-
71 Vgl. Luckmann, Thomas. 2012. Alles Soziale besteht aus unterschiedlichen Niveaus der Ob-
jektivierung. In Sozialität in Slow Motion. Theoretische und empirische Perspektiven, hrsg.
Ruth Ayaß und Christian Meyer. Wiesbaden: Springer VS, S. 21 – 41.
72 Sehr eindrücklich exemplifiziert Erving Goffman solcherart Modulationen in seinem Vor-
tag „The Lecture“. In Goffman, Erving. 1981. Forms of Talk. Philadelphia: University of Penn-
sylvania Press, S. 162 – 195.
73 Luckmann, Benita. 1970. The Small Life Worlds of Modern Man. In Social Research 4, S. 580 –
596.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 231
Für alle angeführten Probleme bietet sich der konsequente Einsatz der hermeneu-
tischen Sequenzanalyse als Lösungshilfe an. Immer wenn ein Datum mit Bezug
auf ein alltagsweltliches oder wissenschaftliches Vorwissen, also eine allgemeine
74 Paradigmatisch für die Cultural Studies vgl. Hebdige, Dick. 1979. Subculture: The Meaning of
Style. London sowie Certeau, Michel de. 1980. L’invention du quotidien. 1. Arts de faire. Paris:
Union Générale d’Editions. Siehe außerdem Soeffner, Hans-Georg, und Jürgen Raab. 2005a.
Stil/Soziologie der Lebensstile. In Ästhetische Grundbegriffe Band 5, hrsg. Karlheinz Barck,
Marin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burckhardt Steinwachs und Friedrich Wolfzettel. Stutt-
gart und Weimar: J. B. Metzler, S. 688 – 703, sowie Soeffner, Hans-Georg, und Jürgen Raab.
2005b. Subkultur. In Ästhetische Grundbegriffe Band 5, hrsg. Karlheinz Barck, Marin Fontius,
Dieter Schlenstedt, Burckhardt Steinwachs und Friedrich Wolfzettel. Stuttgart und Weimar:
J. B. Metzler, S. 786 – 805.
75 Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 106 ff. und 171.
232 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
Regel dekodiert wird, handelt es sich um ein Erklären des objektiven Sinns, nicht
um ein Verstehen und inneres Nacherleben eines subjektiv gemeinten Sinnes. Soll
also der Sinn eines Handelns aus der Perspektive der Akteure verstanden wer-
den, müssen die Deutenden alles Vorwissen oder Kontextwissen einklammern.
Das ist schlicht eine logische Konsequenz aus der Grundannahme des Sozialkon-
struktivismus, nach der Daten nicht einfach gegebene Fakten sind76 oder solche
repräsentieren, sondern Objektivierungen menschlichen Handelns darstellen.
Prägnant ausgedrückt: Menschen Handeln nicht in präformierten Kontexten, sie
bringen Kontexte im Handeln erst hervor.
Die innere Struktur eines Handelns drückt sich im Prinzip der Sequentialität
aus. Als Modell kann hier der Sprechakt gelten.77 Denn wie sich Sprechen gleich
anderen Formen des Handelns an einem Ort, also im Raum zuträgt, so vollzieht
und entfaltet es sich in der Zeit. Der Raum ist im Text durch dessen Materialität,
die Zeit durch die lineare Abfolge der Zeichen – Buchstaben, Wörter, Sätze – re-
präsentiert. Dieser Struktur folgen auch das Lesen und damit das Verstehen als
Nachvollzug des im Text gemeinten Sinns. Dabei unterstellt das Prinzip der Se-
quentialität grundsätzlich einen Zusammenhang zwischen dem Text und einer
in ihm protokollierten sozialen Realität. Tertium comparationis ist der roman-
tische Begriff des Ausdrucks: der Text ist ein Ausdruck, weil, so Helmuth Pless-
ner, menschliches Leben aufgrund seines Doppelcharakters als selbst- und fremd
referentielle Wesenheit in seinem Verhalten zwangsläufig expressiv ist. Handeln
vermittelt zwischen einer inneren subjektiven und einer äußeren objektiven Welt,
ist Externalisierung interner Regungen und Internalisierung externer Ereignisse.78
Damit wird die Handlung zum objektiven Ausdruck einer Subjektivität. Mit ande-
ren Worten: Der Text ist, erstens, selbst eine Realität und als Kommunikat, zwei-
tens, Teil einer sozialen Welt.
Wissenschaftstheoretisch betrachtet, bedeutet das Prinzip der Sequentialität
eine Anweisung („Maxime“) zur Umsetzung des für die Wissenschaft konstitu-
tiven Objektivitätsgebots – also der Forderung, dass nicht subjektiv-willkürlich
interpretiert werden soll. Sequentialität ist aber nicht nur eine formelle Struktur,
sondern auch eine Abfolge von material-rationalen, das heißt wertfundierten Ent-
scheidungen. Denn jede menschliche Äußerung ist Folge einer Wahl zwischen
76 Genau das ist die recht opak vorgetragene These von Luckmann im Gespräch mit Voruba
und Soeffner, die letzteren augenscheinlich irritiert, aber unaufgeklärt bleibt. Thomas Luck-
mann, Hans-Georg Soeffner und Georg Voruba, Nichts ist die Wirklichkeit selbst, S. 422 –
427.
77 Austin, John L. 1962. How to do things with words. Oxford: Oxford University Press; Searle
John R. 1969. Speech Acts. Cambridge: Cambridge University Press.
78 Vgl. auch Bloch, Ernst. 1985. Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 233
Optionen auf der Grundlage normativer Urteile der Angemessenheit. Formal ge-
schieht die Sequenzanalyse daher in sinnlogisch aufeinander folgenden Schrit-
ten. Sie prüft mit Bezug auf sprachliche und sprachpragmatische Regeln, die je-
dem „native speaker“ vertraut, als „implizites Wissen“ verfügbar sind, zunächst
die wörtliche Bedeutung eines Ausdrucks („Was kann allgemein unter diesem
Ausdruck verstanden werden ?“), sodann dessen mögliche Kontextbedeutung („In
welchen sozialen Situationen kann ein solche Äußerung gemacht werden ?“) und
schließlich die Anschlussmöglichkeiten („Welche Äußerung kann auf den getätig-
ten Ausdruck folgen ?“). Diese vermeintlich einfachen Fragen lassen das Prinzip
und das Anliegen der Sequenzanalyse deutlich werden: Gilt es zunächst, mög-
lichst alle denkbaren Lesarten sowie deren Kontextuierungen und Anschlüsse zu
konstruieren, werden dann diese hypothetischen mit dem im Text tatsächlich rea-
lisierten Lesarten, Kontextuierungen und Anschlüssen verglichen, was zu einer
Reduktion, aber auch zu einer Konkretisierung der Lesarten führt.79 Wenn in so-
zialen Situationen die Handelnden mit jedem Ausdrucksgebaren eine Entschei-
dung kundtun, die den Horizont ihrer objektiv möglichen Handlungsoptionen
einschränkt, so ist es die Aufgabe der Sequenzanalyse, das in den Daten protokol-
lierte Handeln unter Wahrung seiner „natürlichen“ Ablauf- und Zeitstruktur in
diese Entscheidungsmomente zu zerlegen. Die Prozedur wird solange fortgesetzt,
bis nur noch wenige Lesarten, im anzustrebenden Idealfall eine einzige Lesart üb-
rigbleiben bzw. übrigbleibt. Bestimmt man schließlich die Typik dieser analytisch
gewonnenen Ordnungsstruktur, treten die Subjektivität des Handelnden und sei-
ne handlungsleitenden Motive hervor: das Datum, die abgeschlossene Handlung
wird als Handeln und damit als Ausdruck einer Trajektorie und Biographie les-
bar.80 Die analytische Zerlegung der Handlung „in der Linie des Geschehens“81
führt zur Rekonstruktion ihres Entstehungsprozesses und der Zeitlichkeit (damit
der Subjektivität) des Handelns. Die sich darin materialisierende Reproduktions-
gesetzlichkeit eines Lebensstils erklärt die Faktizität des Datums als ein sozio-his-
torisches „Gewordensein“.82
79 Die Sequenzanalyse verfährt also wie von Weber für die Idealtypentheorie gefordert.
80 Vgl. Soeffner, Hans-Georg. 1991. Trajectory – Das geplante Fragment. In BIOS 4, S. 1 – 12;
Strauss, Anselm L. 2004. Analysis through Microscopic Examination. In Sozialer Sinn. Zeit-
schrift für hermeneutische Sozialforschung 2, S. 169 – 176; Kurt, Ronald. 2004. Die Praxis der
Auslegung – Die Auslegung der Praxis. In Ronald Kurt Hermeneutik. Eine sozialwissenschaft-
liche Einführung. Konstanz: UVK, S. 237 – 262; Wernet, Andreas. 2003. Einführung in die In-
terpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-
schaften.
81 Dilthey, Wilhelm. 1979. Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung
für das Studium der Gesellschaft und Geschichte. In Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften
Band 1. Stuttgart: Teubner und Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S. 214.
82 Dilthey. Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 214.
234 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
Weil die Sequenzanalyse darauf abzielt, vor dem Hintergrund eines immer wie-
der zu exemplifizierenden gültigen Bedeutungspotentials von Sinneinheiten die
objektiv möglichen Schritte eines sozialen Handelns in Bezug auf ein bestimm-
tes Handlungsziel und auf die damit verbundenen subjektiven Selektionsprozes-
se hin zu rekonstruieren, besteht der Gewinn in der Vielfalt und Reichhaltigkeit
der durch diese Vorgehensweise zustande kommenden weiten und ggf. erweiter-
ten Interpretationshorizonte.83 Diese geben Einsicht und Aufschluss über das je-
weils aktuelle Darstellungs-, Handlungs- und Deutungsrepertoire einer Gruppe,
Gemeinschaft oder Gesellschaft – über ihren kommunikativen Haushalt im Sin-
ne Luckmanns.
Eine Besonderheit der „Konstanzer Schule“ ist ihr Methodenpluralismus. In
der empirischen Forschung kommt ein breites Spektrum qualitativ-interpretati-
ver Methoden zum Einsatz. Ganz im Bewusstsein, dass es kein alle Erscheinungs-
formen und alle Teilaspekte sozialen Handelns gleichermaßen abdeckendes und
erschließendes Verfahren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geben
kann, standen und stehen gattungstheoretische Studien84 neben hermeneutischen
Analysen85 und ethnographische Forschungen86 neben konversations- und dis-
83 Vgl. Oevermann, Ulrich, Tilmann Allert, Elisabeth Konau und Jürgen Krambeck. 1979. Die
Methodologie einer ‚objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Be-
deutung in den Sozialwissenschaften. In Interpretative Verfahren in der sozialwissenschaftli-
chen Forschung, hrsg. Hans-Georg Soeffner. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 352 – 434; Oevermann,
Genetischer Strukturalismus.
84 Knoblauch, Hubert, und Jürgen Raab. 2002. Der Werbespot als kommunikative Gattung.
In Die Werbung der Gesellschaft, hrsg. Herbert Willems. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
2002, S. 139 – 154 sowie Schnettler und Knoblauch. PowerPoint-Präsentationen.
85 Kurt. Menschenbild und Methode; Raab, Jürgen. 2008a. Visuelle Wissenssoziologie. Theoreti-
sche Konzeption und materiale Analysen. Konstanz: UVK; Raab, Jürgen, und Dirk Tänz-
ler. 2014. Video Hermeneutics. In Video-Analysis. Methodology and Methods, hrsg. Hubert
Knoblauch, Bernt Schnettler, Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner. Frankfurt am Main:
Peter Lang, 4. Auflage, S. 85 – 97; Materiale Visuelle Soziologie, Schwerpunktheft der Zeit-
schrift für Qualitative Forschung 1/2 2016, hrsg. Roswitha Breckner und Jürgen Raab und
Fotografie und Gesellschaft. Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven. 2017.
Hrsg. Thomas S. Eberle. Bielefeld: transcript.
86 Luckmann, Thomas. 2013. The Communicative Construction of Reality and Sequential
Analysis. In Qualitative Sociology Review 9 (2), S. 40 – 46; vgl. auch Honer, Anne. 1993. Le-
bensweltliche Ethnographie. Ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von
Heimwerker-Wissen. Wiesbaden: Universitätsverlag; Hitzler, Ronald. 1999. Welten erkun-
den. In Soziale Welt 50, S. 473 – 482; Hitzler, Ronald, Corinna Iris Leuschner und Frank Mü-
cher. 2013. Lebensbegleitung im Haus Königsborn. Konzepte und Praktiken in einer Langzeit-
pflegeeinrichtung für Menschen mit schweren Hirnschädigungen. Weinheim und Basel: Beltz;
Knoblauch, Hubert 1991. Die Welt der Wünschelrutengänger und Pendler. Erkundungen ei-
ner verborgenen Wirklichkeit. Frankfurt am Main und New York: Campus; Knoblauch, Hu-
bert (Hrsg). 1996. Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnographie einer geschwätzigen Ge-
sellschaft. Konstanz: UVK; Knoblauch, Hubert. 2001. Fokussierte Ethnographie. Soziologie,
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 235
Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie. In Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneu-
tische Sozialforschung 1, S. 123 – 141 sowie Jo Reichertz, Arne Niederbacher, Gerd Möll, Mi-
riam Gothe und Ronald Hitzler. 2010. Jackpot. Erkundungen zur Kultur der Spielhallen. Wies-
baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
87 Vgl. Bergmann und Luckmann. Kommunikative Konstruktion von Moral; Keppler, Angela.
1994. Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Kon-
versation in Familien. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Keller, Rainer. 2011. Wissenssoziolo-
gische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden; Perspektiven
wissenssoziologischer Diskursforschung. 2016. Hrsg. Saša Bosančić und Reiner Keller. Wies-
baden: Springer VS; Diskursive Konstruktionen. 2019. Hrsg. Saša Bosančić und Reiner Keller.
Wiesbaden: Springer VS.
88 Tänzler, Dirk. 2008. Korruption als Metapher. Tatsachen, Wahrnehmungen, Deutungsmus-
ter. In Mittelweg 36 1, S. 69 – 84; The Social Construction of Corruption in Europe. 2012. Hrsg.
Dirk Tänzler, Konstandinos Maras und Angelos Giannakopoulos, Farnham: Ashgate.
89 Vgl. Luckmann. The Communicative Construction of Reality and Sequential Analysis, S. 46
sowie Reichertz, Jo. 2004. Das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitern. Hans-
Georg Soeffner im Gespräch mit Jo Reichertz. In Forum Qualitative Sozialforschung/Forum.
Qualitative Social Research 5 (3), Art. 29. Verfügbar über http://www.qualitative-research.
net/fqs-texte/3-04/04-3-29-d.htm.
90 Vgl. hierzu die Beiträge in: Ruth und Meyer. Sozialität in Slow Motion.
236 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
91 Unangetastet bleibt indessen die Frage nach der Grenze der Sinnhaftigkeit der sozialen Welt
bestehen. Vgl. Luckmann. On the Boundaries of the Life World.
92 Luckmann, Thomas. 1991. Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Der Aus-
druck unsichtbare Religion meint nicht, wie häufig missverstanden, den historischen Typus
der privatisierten Frömmigkeit in einer individualisierten Multioptionsgesellschaft, sondern
die elementare Form von Religion im Sinne Durkheims überhaupt, die sich, wie es Jan Ass-
mann ausdrückt, zu den verschiedenen Religionen (Animismus, Totemismus, Christentum
etc.) verhält wie „die Sprache“ zu den natürlichen Einzelsprachen, die also eine allgemein
menschlich-soziale Grundproblematik in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen“.
Vgl. Assmann, Jan. 1994. Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis. In Sprondel, Die
Objektivität der Ordnungen, S. 404 – 421.
93 Nicht zufällig vertritt der Katholik Luckmann einen am Institutionenbegriff orientierten
Ordogedanken, während der Protestant Berger das Erleben religiöser Gemeinschaft in den
Mittelpunkt stellt. Wir beschränken uns hier auf die Diskussion des Einflusses der philoso-
phischen Anthropologie auf das Denken der ‚Konstanzer Schule‘ und heben den oft über-
sehenen Unterschied zwischen dem Katholiken Arnold Gehlen und dem zum Protestantis-
mus konvertierten Juden Helmuth Plessner hervor.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 237
die Soziologie genommen.94 Logisch betrachtet folgt der biologischen These eines
durch Instinktreduktion verursachten Mangels das Korollarium vom „Instinkt-
ersatz“.95 Die so markierte Leerstelle füllt der Soziologe nur zu gern mit dem Be-
griff der Institution. Die These vom „nichtfestgestellten“,96 man kann auch sagen
unangepassten, weltoffenen Tier bleibt grundlegend für Gehlens Institutionen-
begriff, der deutlich von einem romantischen Antimodernismus und Antilibera-
lismus konnotiert ist. Dem kontrastiert aufs Schärfste Georg Simmels Feststellung,
dass das Individuum „nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas
ist“,97 die dann Plessner in seiner Rollentheorie aufgreift und mit deutlich liberaler
Tönung weiterentwickelt.98 Folgen Berger und Luckmann institutionentheoretisch
Gehlen, berufen sie sich in ihrem Beitrag zur soziologischen Identitätstheorie auf
Plessner. Allerdings betonen sie eher deren scheinbare Gemeinsamkeiten, weniger
das im Werk Hans-Georg Soeffners zu Tage tretende Trennende der beiden An-
thropologien.
Die Theorie vom „Mängelwesen“ besagt in aller Kürze, dass der Mensch als
„physiologische Frühgeburt“ im Sinne von Adolf Portmanns einen Instinktverlust
erleide, der durch institutionelle Außensteuerung (Eltern und andere „Autoritä-
ten“) und geistig-moralische Innensteuerung („Gewissen“) ersetzt werden müsse.
Die Kompensation dieses Mangels führe zur individuellen und kulturellen Plas-
tizität menschlicher Ausdrucksfähigkeit. Der Akzent wird auf die Außensteue-
rung durch Institutionen gelegt, weil das Individuum aus eigener Kraft nicht in
der Lage sei, sein körperliches und geistig-moralisches Überleben zu sichern. Bei
Luckmann haben die Sozialmoralen einen institutionellen Kern, der ganz im Sin-
ne Durkheims ihren obligatorischen Charakter sichert und damit gemäß der Geh-
lenschen Theorie der Entlastungsfunktion von Institutionen individuelle Freiräu-
me eröffnet. Persönliche Identität und soziale Institution bilden denn auch die
Grundpfeiler des menschlichen Lebens. Wie die Vertreter der Chicago School of
Sociology – George H. Mead, Charles H. Cooley, William I. Thomas, Erving Goff-
man – sieht Luckmann die Ausbildung von persönlicher Identität eng an die Exis-
94 Zur Kritik am „Mängelwesen“ aus biologischer Sicht vgl. Bischof, Norbert. 1985. Das Rätsel
Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts zwischen Intimität und Autonomie. Mün-
chen: Piper, insbesondere S. 512 ff.
95 Vgl. Berger und Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 49 – 138 sowie Luckmann,
Thomas. 1992. Theorie des sozialen Handelns. Berlin und New York, S. 125 – 167 und Luck-
mann, Thomas. 2002d. Zur Ausbildung historischer Institutionen aus sozialem Handeln. In
Thomas Luckmann Wissen und Gesellschaft, S. 105 – 115.
96 Friedrich Nietzsche. 1999. Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zu-
kunft. In Friedrich Nietzsche Kritische Studienausgabe Band 5, hrsg. v. Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter und München: Deutscher Taschenbuchverlag, S. 81.
97 Simmel. Soziologie, S. 26.
98 Vgl. Tänzler. Gesellschaft, S. 379.
238 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
tenz und an den Bestand von sozialen Institutionen gebunden: Die Institutionen
konstituieren „den signifikanten Wissenskern innerhalb einer Gesellschaft“ und
„bilden das soziohistorische Apriori für die einzelnen Angehörigen der Spezies“;
sie „definieren die ungefähren Bedeutungen von Handlungen und artikulieren
die höchsten Werte des Lebens in dieser Gesellschaft. Derart bestimmen sie auch
den Bedeutungsrahmen für die Face-to-face-Interaktionen, in denen persönliche
Identität konstituiert wird“.99
Zwar steht für Luckmann in Anschluss an Georg Simmel und Helmuth Pless-
ner zweifelsfrei fest, dass das subjektive Leben nicht völlig gesellschaftlich ist, sich
der Mensch folglich als ein Wesen erlebt, das zugleich innerhalb und außerhalb
der Gesellschaft steht, und demnach „die Beziehung von Individuum und sozialer
Welt […] ein fortwährender Balanceakt“ ist.100 Doch in diesem Balanceakt mar-
kieren die sozialen Institutionen den Sicherheit stiftenden und ausgleichenden,
die Individuen von „Außen“ stabilisierenden und in ihrer Unruhelage stillstel-
lenden Pol. Das riskante Abenteuer der Individualisierung kann sich nur im si-
cheren Schoß der Institutionen abspielen. Denn ist die Objektivität und Faktizität
der Institutionen gefährdet, wird sie erschüttert, brüchig oder gar gesprengt, dann
wirkt der Institutionenabbau unweigerlich nach „Innen“ und zieht den Rückbau
auch der persönlichen Identitäten nach sich: die „Entinstitutionalisierung“ führt
zur „Verunsicherung der betreffenden Personen, und zwar bis in die Tiefe hinein“,
zu einer die Individuen auf sich selbst zurückwerfenden und mit Vereinzelung
bedrohenden „Barbarei der Reflexion“.101 Vor diesem Hintergrund sind die Be-
wahrung und Absicherung jener aus sozialen Institutionen sich konstituierenden
„zweiten Heimat“, in der sich Menschen einrichten und sicher fühlen können, für
Luckmann eine Daueraufgabe des sozialen Handelns, und die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit ein kontinuierlicher, unabgeschlossener, histori-
scher Prozess.
Was für Arnold Gehlen einen durch die sozialen Institutionen zu unterdrü-
ckenden oder zumindest abzuschwächenden Effekt von soziohistorischen Aus-
99 Vgl. Raab, Jürgen. 2019a. Identität. In Staatslexikon. Wirtschaft, Gesellschaft, Recht, 8. Auf-
lage, Band 3, hrsg. Görres-Gesellschaft und Verlag Herder. Freiburg im Breisgau, Basel und
Wien: Herder, S. 125 – 129. Entsprechend erkennt Luckmann in den kommunikativen Gattun-
gen „kommunikative ‚Institutionen‘ […], die vertraute Rahmen für die Produktion und Re-
zeption kommunikativer sozialer Interaktionen zur Verfügung stellen“, Luckmann, Zur Me-
thodologie, S. 188, Hervorhebungen im Original.
100 Berger und Luckmann. Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 145.
101 Gehlen, Arnold. 1986. Mensch und Institutionen. In Arnold Gehlen Anthropologische und
sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 69 – 77, hier S. 73;
vgl. Schelsky, Helmut. 1965. Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar ? Zum Thema einer
modernen Religionssoziologie. In Helmut Schelsky Auf der Suche nach Wirklichkeit. Düssel-
dorf: Econ, S. 250 – 275.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 239
102 Vgl. Soeffner, Hans-Georg. 2003a. Erving Goffman. In Philosophen-Lexikon. Von den Vor-
sokratikern bis zu den Neuen Philosophen, hrsg. Bernd Lutz. Stuttgart und Weimar: J. B.
Metzler, 3. Auflage, S. 251 – 253 und Raab, Jürgen. 2008b. Erving Goffman. Klassiker der Wis-
senssoziologie Band 6, hrsg. Bernt Schnettler, Konstanz: UVK.
103 Soeffner, Hans-Georg. 2004. Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. 2. Auflage.
Konstanz. UVK (UTB); vgl. auch Kurt, Ronald. 2011. Hans-Georg Soeffner – Kultur als Halt
und Haltung. In: Kultur. Theorien der Gegenwart, hrsg. Stephan Möbius und Dirk Quadflieg.
Wiesbaden: Springer VS, 2. Auflage, S. 227 – 240.
104 Cassirer, Ernst. 1910. Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die
Grundfragen der Erkenntniskritik. In Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Aus-
gabe Band 6, hrsg. Birgit Recki. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Cassirer
hat neben Plessner Soeffners Ritual- und Symboltheorie entscheidend geprägt, vgl. Soeffner,
240 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
Hans-Georg. 2010. Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals. Wei-
lerswist: Velbrück.
105 Plessner, Helmuth. 1981. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi-
losophische Anthropologie. In Helmuth Plessner Gesammelte Schriften Band IV: Die Stufen
des Organischen und der Mensch, hrsg. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
106 Kierkegaard, Søren. 2004. Die Krankheit zum Tode. In Søren Kierkegaard, Werke, hrsg. v.
Lise
lotte Richter. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, S. 13. Walter Schulz wiederum
spricht von einem „gebrochenen Weltbezug“. Vgl. Schulz, Walter. 1994. Der gebrochene Welt-
bezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart. Stuttgart: Nes-
ke.
107 Vgl. Tänzler, Dirk. 2017b. Fragment als Form. Versuch über Hölderlins unvollendetes Ge-
dicht Heimath. In Alphazet der Kulturen. Für Ulrich Schödlbauer, hrsg. Peter Brandt, Steffen
Dietzsch und Uwe C. Steiner. Heidelberg. Manutius, S. 177 – 196.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 241
108 Vgl. Soeffner, Hans-Georg. 2003b. Die Perspektive der Kultursoziologie. In Phänomen Kul-
tur, hrsg. Klaus E. Müller. Bielefeld: transcript, S. 171 – 194.
109 Vgl. Luckmann. Die unsichtbare Religion und Soeffner, Hans-Georg 2000a. Das ‚Ebenbild‘ in
der Bilderwelt. In Hans-Georg Soeffner Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von
Ordnungskonstruktionen. Weilerswist: Velbrück, S. 97 – 123.
110 Durkheim, Émile. 1968. Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris: Presses Universi-
taires de France; vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Band 2, S. 7 – 169.
111 Soeffner. Symbolische Formung; Durkheim. Les formes élémentaires de la vie religieuse, sowie
Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns.
242 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
tausch. Die Fokussierung auf die Darstellung des Selbst im Alltag lässt die alltägli-
che Mikropolitik und damit neben dem Menschen als Schauspieler den Menschen
als politisches Wesen thematisch werden. Denn er kann sein Selbst nur mit Macht
gegen andere behaupten, wobei Macht sehr Unterschiedliches meinen kann, z. B.
auch die Kompetenz zur Darstellung, was ein neues Licht auf die sogenannte sym-
bolische Politik wirft, in der die politologischen Fachleute nur eine „deformation
professionelle“ sehen können, aber auch auf die Theorie der Macht insgesamt. Die
Chancen des einzelnen, sich mit dem Potentialen seiner Besonderheit und seiner
„ureigenen“ Erfahrungen gegen das Kollektiv und mithin auch gegen Kultur und
Religion zu wenden – und dafür wiederum jene soziale Akzeptanz herzustellen,
auf die sich die Formierung neuer Gefolgschaften und Kollektive und die Aus-
bildung neuer sozialer Ordnungen stützt –, bilden den Ausgangsort für Soeffners
Untersuchungen zum Darstellungs- und Handlungsfeld der Politik.120
352, hier S. 347. Diese auf den „kategorischen Konjunktiv“ gegründete ästhetisierte Moral hat
augenscheinlich mehr Ähnlichkeiten mit Theodor W. Adornos Minima Moralia. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp von 1951 als mit Jürgen Haber-
mas’ Diskursethik, vgl. Habermas, Jürgen. 1983. Moralbewusstsein und kommunikatives Han-
deln. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
120 Vgl. Soeffner, Hans-Georg. 2000b. Erzwungene Ästhetik: Repräsentation, Zeremoniell und
Ritual in der Politik. In Hans-Georg Soeffner Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labili-
tät von Ordnungskonstruktionen. Weilerswist: Velbrück, S. 280 – 309; Figurative Politik. Zur
Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft. 2002a. Hrsg. Hans-Georg Soeffner und
Dirk Tänzler, Opladen: Leske + Budrich; Soeffner, Hans-Georg, und Dirk Tänzler. 2002b.
Medienwahlkämpfe – Hochzeiten ritueller Politikinszenierung. In Wahl-Kämpfe. Betrach-
tungen über ein demokratisches Ritual, hrsg. Andreas Dörner und Ludgera Vogt. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, S. 92 – 115; Tänzler, Dirk. 2003. Zur Geschmacksdiktatur in der Medien
demokratie. Ein Traktat über politische Ästhetik. In Merkur. Deutsche Zeitschrift für euro-
päisches Denken 11, S. 1025 – 1033; Tänzler, Dirk. 2005. Repräsentation als Performanz. Die
symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen im Leviathan des Thomas Hobbes. In Die
Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der frühen Neuzeit, hrsg. Jan An
dres, Alexa Geisthövel und Matthias Schwengelbeck. Frankfurt am Main und New York
Campus Verlag, S. 19 – 44; Tänzler, Dirk. 2007. Charisma in der entzauberten Welt. In Macht
und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe, hrsg. Peter Gostmann und
Peter-Ulrich Merz-Benz Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 107 – 137, gekürzt
und überarbeitet in Hitzler. Hermeneutik als Lebenspraxis, S. 381 – 395; Raab, Jürgen, und
Hans-Georg Soeffner. 2008. Politik im Film. Über die Präsentation der Macht und die Macht
der Präsentation. In Gesellschaft im Film, hrsg. Markus Schroer. Konstanz: UVK, S. 171 – 197;
Tänzler, Dirk. 2017c. Reading Hobbes with Durkheim. The Ritual Roots of Politics. In The
Sacred and the Law. The Durkheimian Legacy. Schriften des Käte-Hamburger-Kollegs Recht
als Kultur Band 20, hrsg. Werner Gephart und Daniel Witte. Frankfurt am Main: Kloster-
mann, S. 213 – 226; Tänzler, Dirk. 2018. Politische Ästhetik. In Macht:Denken. Substantialisti-
sche und relationalistische Theorien – eine Kontroverse, hrsg. Falk Bornmüller und Katrin Fel-
genhauer, Bielefeld: transcript, S. 91 – 104; Raab, Jürgen, und Dirk Tänzler. 2019. Theatralität
und Politik. In Grundthemen der Literaturwissenschaft Band 10: Drama, hrsg. Andreas Engl-
hart und Franziska Schößler. Berlin und Boston: de Gruyter, S. 632 – 646
244 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
Doch ästhetische Erfahrungen leben auch von der Differenz zwischen Erle-
bendem und Erlebten, erfüllen sich als ins Positive gewendetes Scheitern. Nicht in
der durch Techniken („Riten“) herbeiführbaren religiösen Verschmelzung der Ho-
rizonte und in der Offenbarung des ganz Anderen liegt das Glück der ästhetische
Erfahrung, sondern völlig unberechenbar und jenseits aller Lebensnot im zweck-
freien Bei-Sich-Sein im Anderen: Ein utopischer Zustand, in dem der Mensch
seiner „exzentrischen Positionalität“ gewahr wird. Im Scheitern liegt dann auch
der Neuanfang beschlossen, das Motiv, das Leben, das dem Menschen zur Auf-
gabe gegeben ist, mit Würde und Stil fortzuführen. Als Gegnerin des Notwendi-
gen meint ästhetische Erfahrung aber nicht nur die Verzauberung der Welt, son-
dern ist auch die Bedingung eines zweiten konstitutiven Moments des utopischen
Zustandes: der Freiheit und des Bundes freier Menschen. Aus dieser Perspektive
ist das Ästhetische die Gestalt der Politik des Unpolitischen als einer vom Macht-
kampf befreiten Geselligkeit. Weil Soeffner die mannigfaltigen Wirklichkeiten der
Lebenswelt nicht wie Alfred Schütz als gegeneinander abgeschottet,121 sondern
aufeinander verweisend ansieht, handgreiflich in der Stilisierung der Lebensfüh-
rung, sind die Lebensführungsstile der archimedische Punkt „flüchtiger Ordnun-
gen“ und mithin der Gegenstand einer sinnverstehenden Soziologie. Um diese
präreflexiven Evidenzerlebnisse, die seit Edmund Husserl im Zentrum des phäno-
menologischen Erkenntnisinteresses stehen, über konkrete Fallanalysen freizule-
gen, nämlich aus den Ausdrucksgestalten und den Präsentationsformen sozialen
Handelns heraus, bedarf es der methodisch kontrollierten Praxis hermeneutischer
Auslegungen.122
121 Schütz, Alfred. 2003. Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, In Alfred Schütz Werkausgabe
Band V.1, Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt. Konstanz:
UVK, S. 181 – 239.
122 Vgl. Soeffner, Hans-Georg. 2005. Vermittelte Unmittelbarkeit. Das Glück der ästhetischen
Erfahrung In Hans-Georg Soeffner Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und
Schuld. Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag, S. 129 – 150; Soeffner, Hans-
Georg. 2014. Zen und der ‚kategorische Konjunktiv‘. In Grenzen der Bildinterpretation, hrsg.
Michael R. Müller, Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner. Wiesbaden: Springer VS, S. 55 –
75; Müller, Michael R. 2014. Gesellschaft im Konjunktiv. Über ästhetisches Handeln. In Her-
meneutik als Lebenspraxis, hrsg. Ronald Hitzler. Weinheim und Basel: Beltz, S. 487 – 499; Das
Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie visueller Sozialkommunika-
tion. 2018. Hrsg. Michael R. Müller und Hans-Georg Soeffner. Weinheim und Basel: Beltz;
Soeffner, Hans-Georg. 2020b. Bild- und Sehwelten. Visueller Erkenntnisstil und Hermeneutik
des Sehens. Weinheim und Basel: Beltz.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 245
Mit dem Sozialkonstruktivismus verfügt die „Konstanzer Schule“ über einen in der
altehrwürdigen Tradition der sinnverstehenden Soziologie verwurzelten Kern-
gedanken. Allerdings figuriert die „Konstanzer Schule“, so der Grundtenor unserer
Darlegungen, weniger als einheitliches Denkgebäude, denn als verbindendes Dach,
unter dem sich – ganz gemäß George H. Meads berühmter Formulierung „social-
ity is the capacity of being several things at once“123 – eine Diskussions- und For-
schungsgemeinschaft zusammenfindet. Ihre Mitglieder teilen grundlegende Wer-
te und Ziele, zu deren Verwirklichung sie aber durchaus unterschiedliche Wege
wählen und verschiedene Mittel einsetzen. An diese Einsicht anknüpfend, wollen
wir daher abschließend fragen, welche Potentiale und welche Perspektiven sich aus
der spezifischen Haltung der „Konstanzer Schule“ für die Wahrnehmung, Analyse
und Beschreibung von aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen, Entwicklungen
und Problemen ergeben.
Peter Berger und Thomas Luckmann haben mit der Neuen Wissenssoziologie
die Idee des Sozialkonstruktivismus in Wissenschaft und Alltag als (post-)moder-
nes Credo hoffähig und publik gemacht. Allerdings blieben die bei solchen Vor-
gängen der Verallgemeinerung und Popularisierung üblichen Verkürzungen und
Trivialisierung nicht aus.124 Ihre wissenssoziologische Grundfrage lautet, wie sub-
jektiv gemeinter Sinn (Max Weber) die Geltung objektiver Wirklichkeit (Émile
Durkheim) erlangen kann. Der Weg zu Antworten führt die Autoren über die
sozialen Institutionen. Als pragmatisch sich bewährende Lösungen für grund-
legende und daher immer wiederkehrende menschliche Probleme entwickeln
sich Institutionen aus zunächst individuellen und eigensinnigen hin zu überindi-
viduellen und verpflichtenden Handlungen. Zu „Gestalten eigenen Gewichts“125
geronnen repräsentieren Institutionen dann die objektive Kultur einer Gruppe, ei-
ner Gemeinschaft oder Gesellschaften, die sie als ihre Tradition heiligen, tradieren
und, mit entsprechenden Machtmittel ausgestattet, vor Achtlosigkeiten und Ab-
weichungen, vor Verletzungen und Veränderungen bewahren können.
Wenn nun postmoderne Theorien eine radikale Enttraditionalisierung, De
institutionalisierung und Individualisierung in sogenannten Wissensgesellschaf-
ten konstatieren, so muss zunächst zwar dahin gestellt bleiben, ob und inwieweit
123 Mead, George Herbert. 1932. The Philosophy of the Present. Chicago und London: The Uni-
versity of Chicago Press, S. 49.
124 Tenbruck, Friedrich H. 1975. Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozess. In
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 18, Wissenschaftssoziologie.
Studien und Materialien, hrsg. Nico Stehr und René König. Opladen: Westdeutscher Verlag,
S. 19 – 47.
125 Gehlen. Mensch und Institutionen, S. 71.
246 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
126 Vgl. exemplarisch Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moder-
ne. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Giddens, Anthony. 1990. The Consequences of Modernity.
Oxford: Polity Press, Luhmann, Soziale Systeme; Schulze, Gerhard. 1992. Die Erlebnisgesell-
schaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main und New York: Campus Ver-
lag; Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
127 Sennett, Richard. 1998. The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the
New Capitalism. New York: W. W. Norton; Bröckling, Ulrich. 2007. Das unternehmerische
Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Sloterdijk, Pe-
ter. 2009. Du musst dein Leben ändern. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Reckwitz, Andreas.
2012. Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt
am Main: Suhrkamp; Reckwitz, Andreas. 2019. Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum
Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
128 Musil, Robert. 1978. Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Musils
Roman gilt als ein Hauptwerk der Moderne, handelt aber von der „Postmoderne“. Anthony
Giddens. Consequences of Modernity, sieht in der Postmoderne nur die Konsequenz, das
heißt wie Ulrich Beck. Risikogesellschaft, die zu sich gekommene Moderne. Martin Albrow.
1997. The Global Age. State and Society Beyond Modernity, Stanford: Stanford University
Press, hat daraufhin die Frage aufgeworfen, ob wir, wenn wir „post“ sagen, meinen, die Mo-
derne bereits hinter uns gelassen, oder mit Musil gesprochen, einen „anderen Zustand“ er-
reicht zu haben, dem der Dichter aber numinose Qualitäten zuspricht, was dem Soziologen
zu denken geben sollte.
Die ‚Konstanzer Schule‘ der Neuen Wissenssoziologie 247
129 Informalisierung hat hier die doppelte Bedeutung der Auflösung formal-institutioneller
oder traditioneller Zwänge einerseits (die Ablösung von „strong ties“ durch „weak ties“), so-
wie der Medialisierung und Abwertung leibgebundener Face-to-face-Kommunikation an-
dererseits. Beide Formen der Informalisierung führen zur Auflösung starrer Grenzen und
mithin zu dem, was Anthony Giddens die Entbettung von sozialen Beziehungen nennt, vgl.
Giddens, Anthony. 1995. Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 28,
33 ff., 72. Ein Prozess, der mit der Moderne einsetzt und in der Postmoderne konsequent
fortschreitet.
130 Reckwitz, Andreas. 2006. Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bür-
gerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück.
131 Samuel Huntington sprach sogar von einem „clash of civilizations“, vgl. Huntington, Sa
muel P. 1996. The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Si-
mon & Schuster.
132 Vgl. Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnographische Erkundungen. 2008.
Hrsg. Ronald Hitzler, Anne Honer und Michaela Pfadenhauer. Wiesbaden: VS Verlag für So-
zialwissenschaften; Raab, Jürgen. 2010. Prekäre Sozialität in pluralen Sinnwelten. Reflexio-
nen über Theorie und Analyse spätmoderner Vergemeinschaftungsformen. In Fragile Sozia-
lität, hrsg. Anne Honer, Michael Meuser und Michaela Pfadenhauer, S. 371 – 384.
248 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
133 Auch für Ernest Gellner ist „shared high culture […] no longer the priviledge of a limit-
ed clerical or legal stratum; instead, it is a precondition of any social participation at all, of
moral citizenship.“ Vorwort zu Gellner, Ernest. 1994. Encounters with Nationalism. Oxford:
Blackwell Publishers, p. VIII.
134 Vgl. Soeffner. Die Perspektive der Kultursoziologie; Soeffner. Zeitbilder; Fragiler Pluralismus.
2014. Hrsg. Hans-Georg Soeffner und Thea D. Boldt. Wiesbaden: Springer VS; Ritual Change
and Social Transformation in Migrant Societies. 2016. Hrsg. Hans-Georg Soeffner und Darius
Zifonun. Frankfurt am Main: Peter Lang; Tänzler, Dirk. 2014. ImageWorlds. Aesthetic Ex-
perience and the Problem of Hermeneutics in Social Sciences. In Schutzian Phenomenology
and Hermeneutic Traditions. Contributions To Phenomenology Vol. 68, hrsg. Michael Staudigl
und George Berguno. Dortrecht: Springer, S. 253 – 270.
135 Wie unangemessen, weil letztlich national fixiert die Bezeichnung „Konstanzer Schule“ ist,
erweist sich schon an der Tatsache, dass mit dem Amerikaner Peter L. Berger einer der
Gründerväter der Neuen Wissenssoziologie exkludiert bliebe. Die Bezeichnung „Konstan-
zer Schule“ ist blind sowohl für die historischen als auch sachlichen Zusammenhänge. Ne-
ben der „geographischen Zerstreuung“ als Folge der erzwungenen Emigration aus Nazi-
deutschland „weist die schulische Dissoziiertheit auf die Natur der Sache hin“, so Michael
Wicke in der Vorbemerkung zu Konfigurationen lebensweltlicher Strukturphänomene. So-
ziologische Varianten phänomenologisch-hermeneutischer Welterschließung. Festschrift für
Hansfried Kellner zum 60. Geburtstag. 1997. Hrsg. Michael Wicke. Opladen: Leske + Budrich.
Konstanz blieb Exil und Episode eines sich andernorts weiterentwickelnden Theorie- und
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262 Jürgen Raab & Dirk Tänzler
Mit diesem Aufsatz greife ich aus der kaum überschaubaren Fülle der von Clau-
sen präsentierten Vorlesungsthemen einige heraus, die sich mit bestimmten So-
ziologen befassen, die zum Teil schon in der Weimarer Republik, dann im Dritten
Reich und nach 1945 in Westdeutschland als Fachvertreter aktiv waren. Neben die-
ser notgedrungen selektiven Darstellung individueller Karrieren werden auch in-
stitutionelle Sachverhalte unter der Fragestellung „Kontinuität oder Bruch ?“, wie
sie Clausen behandelt, diskutiert und dabei mit Sichtweisen aus der Soziologie-
geschichtsschreibung konfrontiert. Ich versuche, jede Beckmesserei zu vermeiden,
auch um, und da schließe ich mich Jan-Frederick Bandel und Klaus R. Schroeter
an, die den überarbeiteten Text Meine Einführung in die Soziologie in Kooperation
mit Bettina Clausen dankenswerterweise herausgegeben haben, ihm nicht „den
Charme des spontanen, gelegentlich digressions-, immer aber zuspitzungsfreudi-
gen mündlichen Erzählens zu nehmen.“1 Außer der Einführung ziehe ich Artikel
aus der Wikipedia heran, die Clausen unter dem Pseudonym „€pa“ bearbeitet hat,
das wir mit freundlicher Genehmigung von Bettina Clausen lüften dürfen.
So bezeichnet Clausen den fünfjährigen Clausen als „kleinen Nazi“2 aufgrund
folgender Selbstbeobachtung. Clausen, dessen Erinnerungen bis ins zweite Le-
bensjahr zurückgehen, musste als bereits mit fünf Jahren eingeschulter Knirps für
1 Bandel, Jan-Frederik, und Klaus R. Schroeter. 2015. Vorbemerkung. In Lars Clausen Meine
Einführung in die Soziologie. 15 Vorlesungen in freier Rede. Frankfurt am Main/Basel: Stroem-
feld, S. 9 f.
2 Clausen, Lars. 2015. Meine Einführung in die Soziologie. 15 Vorlesungen in freier Rede. Hrsg.
Jan-Frederik Bandel und Klaus R. Schroeter, unter Mitwirkung von Bettina Clausen. Frank-
furt am Main/Basel: Stroemfeld, hier S. 24.
Wie blickt nun Clausen auf die Soziologie im Dritten Reich ? Er kennt zwei Per-
spektiven: eine „von oben“ und eine auf die Person gerichtete. Seine Sicht von
oben erweist sich hin und wieder als etwas pauschal. So heißt es, die Deutsche Ge-
sellschaft für Soziologie (DGS) sei „1933 gleichgeschaltet“ worden6, ohne dass man
erfährt, wer sie gleichgeschaltet hat und wie sie in diesem Modus weitergeführt
wurde. Bekannt ist, dass es eine Gruppe um den Jenaer Soziologen Franz Wilhelm
Jerusalem und seinen Assistenten Reinhard Höhn gab, die eine feindliche Über-
nahme vorbereiteten, der Leopold von Wiese, der amtierende Geschäftsführer der
DGS, mit seiner Strategie der Selbstgleichschaltung entgegenwirken wollte. Beide
Initiativen scheiterten, sodass Hans Freyer als Kompromisskandidat die DGS still-
legte.7 Damit war aber nicht die Soziologie stillgelegt. Nichtsdestotrotz bevorzugt
Clausen eine weitere Sicht von oben, die er allerdings mit vielen Anderen teilt:
„Unter den Nazis war Soziologie etwas, das sehr kleingeschrieben wurde.“8 Diese
Feststellung trifft er, nachdem er gerade berichtet hat, dass Helmut Schelsky, ein
Nazi, wie er sagt, die venia legendi unbedingt für Soziologie haben wollte, ob-
wohl sein „Habilitationsvater“, wie Clausen formuliert, davon nicht sehr erbaut
war, aber resigniert zustimmte.9 Den Namen des Habilitationsvaters nennt Clau-
sen nicht. Es ist Gunther Ipsen, den manche für den schlimmsten der ehema-
ligen Reichssoziologen halten. Ipsen, der hervorragende Kontakte zum Reichswis-
senschaftsministerium hatte, war auch der Chefplaner der Teilnahme deutscher
Soziologen am Internationalen Soziologie-Kongress in Bukarest, der 1939 statt-
finden sollte, aber ausfiel. Seit Anfang der fünfziger Jahre war Ipsen ein sehr ein-
flussreicher Abteilungsleiter, man sagt, der heimliche Chef der Sozialforschungs-
stelle Dortmund.10 Bis Helmut Schelsky, der ihm in der Wehrmacht unterstellt war,
dort Direktor wurde, und damit Ipsens Vorgesetzter, was dieser nicht akzeptieren
konnte und die Sozialforschungsstelle verließ. Deswegen konnte Clausen, der ei-
nige Jahre nach Ipsens Weggang angestellt wurde, ihn dort zumindest nicht mehr
kennenlernen.
Eine weitere Variante seiner Sicht von oben auf die Soziologie im NS-Staat gar-
niert Clausen mit dem ihm eigenen Sinn für Ironie. Im Kontext der Darstellung
der Entwicklung der empirisch orientierten Nachkriegssoziologie hält er als de-
ren Ausgangspunkt fest: „In Deutschland gab es keine empirische Sozialforschung,
außer der Geheimen Staatspolizei natürlich, im ‚Dritten Reich‘.“11 Meines Wis-
sens hat die Geheime Staatspolizei keine empirische Sozialforschung betrieben. Es
könnte sich aber um die sogenannte Lebensgebietberichterstattung im Sicherheits-
dienst der SS handeln, die der bereits erwähnte Reinhard Höhn dort etablierte.
Sie wurde unter seinem Nachfolger Otto Ohlendorf als Meldungen aus dem Reich
weitergeführt, um unabhängig von der NSDAP und anderen NS-Institutionen Da-
ten über Meinungen und Einstellungen zu den tatsächlichen Verhältnissen mit-
hilfe eines reichsweiten Informanten-Netzes erheben zu können, was vielen NS-
Größen missfiel. Dieses Meinungsforschungsinstitut der Diktatur, das nach Höhn
der als Kriegsverbrecher hingerichtete Otto Ohlendorf leitete, ging zusammen mit
seinen Meldungen aus dem Reich unter, und Reinhard Höhn verlor seine Profes-
sur an der Berliner Universität. Aber über seine später gegründete Akademie für
Führungskräfte der Wirtschaft in Bad Homburg hielt er engen Kontakt zu dem be-
reits erwähnten Gunther Ipsen und auch zu dem Nachwuchssoziologen Karl Mar-
tin Bolte.12 Höhn, Ipsen und Bolte hatten ein gemeinsames Interesse an der empi-
rischen Automationsforschung.13
Empirische Sozialforschung wurde nicht erst auf Initiative der amerikanischen
Besatzungsmacht betrieben, was auch Clausen weiß. Im Zusammenhang mit sei-
nem Abriss der Aktivitäten von Soziologen, die nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten in Deutschland blieben, erwähnt er Andreas Walther: „Es
blieb Andreas Walther in Hamburg, eigentlich der erste moderne Methodenmann
in Deutschland. Der machte Stadtsoziologie, viele facts, Kriminalitätsbelastungen
von Hamburg-Barmbek usw. Das hörten die Nazis ganz gerne.“14 Andreas Wal-
ther, ein international anerkannter Max Weber-Experte, hatte sich in den zwan-
ziger Jahren mit der Chicagoer empirischen Soziologie vor Ort vertraut gemacht.
Für Hamburg entwickelte er ein sozial-kartographisches Modell der Erfassung
von Devianz und Delinquenz zur Vorbereitung von Flächensanierungen Hambur-
ger Slum-Viertel. Im Zuge der Etablierung der NS-Diktatur erhielt er großzügige
Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft und konnte so zwölf Mitarbeiter
einstellen, die Daten aus öffentlichen und nichtöffentlichen Quellen sammelten
sowie in großem Umfang selbst in den Quartieren erhoben.15 Über ehemalige
Mitarbeiter sind Ergebnisse in die Hamburger Stadtplanung eingeflossen.
Als weiteren Daheimgebliebenen erwähnt Clausen Heinz Maus, bis 1933 Schü-
ler Max Horkheimers, der während der NS-Herrschaft zeitweilig in Oslo gearbei-
tet hatte, aber auch von dem bereits erwähnten Hans Freyer geschützt wurde, wie
Clausen hervorhebt. Was ihm wohl nicht bekannt war, ist, dass Maus sich 1940
bei Andreas Walther habilitieren wollte – und zwar mit „einer Art Handbuch so-
ziologischer Arbeitsmethoden“. Zur Habilitation bei Walther ist es nicht gekom-
men, aber die ihm von Maus vorgetragene Idee ist der Ursprung des Handbuchs
der empirischen Sozialforschung, das später René König herausgegeben hat. König
wurde nach Karl Gustav Specht von Maus als Juniorpartner aufgenommen. Kö-
nig bedankt sich im Vorwort der ersten Auflage bei Maus für seine Initiative und
gibt das Handbuch ausdrücklich „unter Mitwirkung von Heinz Maus“ heraus.16
12 Klingemann, Carsten. 2012. Karl Martin Boltes Version. In Soziologie 41, S. 422 – 424.
13 Klingemann, Carsten. 2009. Soziologie und Politik. Sozialwissenschaftliches Expertenwissen
im Dritten Reich und in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften, S. 259 – 261.
14 Clausen. Meine Einführung in die Soziologie, S. 179.
15 Roth, Karl Heinz. 1987. Städtesanierung und „ausmerzende“ Soziologie. Der Fall Andreas
Walther und die „Notarbeit 51“ der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ 1934 –
1935 in Hamburg. In Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdräng-
tes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte, hrsg. Carsten Klingemann. Opladen:
Westdeutscher Verlag, S. 370 – 393.
16 Klingemann. Soziologie und Politik, S. 274.
Lars Clausens Blick auf die Karriere von Soziologen im Nationalsozialismus 267
Maus, der sich auch für eine Stelle im Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deut-
schen Arbeitsfront interessierte, das selbst sozialstatistische Erhebungen organi-
sierte, war also der Meinung, dass die Soziologie schon im Nationalsozialismus
über ein vorzeigbares Repertoire von Arbeitsmethoden verfügte.
Wie das praktisch aussah, lässt sich am Institut für Sozial- und Staatswissen-
schaften an der Universität Heidelberg (InSoSta) veranschaulichen, das Carl Brink-
mann nach dem Ausscheiden Alfred Webers ab 1933 allein leitet. Den Personen-
artikel zu Carl Brinkmann legte Clausen am 14. September 2006 in der Wikipedia
an. Er teilt dort mit, dass Brinkmann ein deutscher Soziologe und Volkswirt war,
der „vornehmlich im Gebiet der Sozialökonomie und Makrosoziologie publi
zierte.“ Dabei belässt es Clausen, er nimmt keine inhaltlichen Veränderungen und
Ergänzungen mehr vor. In seiner Einführung wird Brinkmann, soweit ich sehen
kann, überhaupt nicht erwähnt. Was Clausen dazu veranlasst haben könnte, den
Wikipedia-Artikel anzulegen, entzieht sich meiner Kenntnis. Jürgen Oetting, der
eine mehrjährige Kommunikation über Wikipedia mit Clausen pflegte, sieht den
Grund darin, dass eine möglichst vollständige Liste von Soziologen angestrebt
wurde.17 Für eine Auseinandersetzung mit Fragen empirischer Soziologie im Na-
tionalsozialismus wären Brinkmanns professionelle Aktivitäten als Direktor des
InSoSta und als Mitgründer und Mitglied des Heidelberger Instituts für Groß-
raumwirtschaft sehr aufschlussreich gewesen.18
Aus dem InSoSta stammt nicht nur der spätere Bundeswirtschaftsminister Karl
Schiller, von dem Clausen sagt, „der war Nazi.“19 Auch Max Ernst Graf zu Solms-
Roedelheim, der Neffe des Marburger Soziologen Graf Solms kam aus dem InSoSta
als ehemaliger persönlicher Assistent Brinkmanns. Bei ihm hatte er mit der em-
pirischen Arbeit über Die Einflüsse der Industrialisierung auf 14 Landgemeinden
bei Karlsruhe 1939 promoviert, war Stipendiat der Reichsarbeitsgemeinschaft für
Raumforschung und erstellte zwei Arbeiten zur badischen Siedlungsgeschichte für
die Studiengesellschaft für Nationalökonomie, wissenschaftliche Forschungsstelle des
Reichsbauernführers.20 Solms-Roedelheim hält engen Kontakt zu seinem Onkel
Graf Solms, insbesondere bei der Arbeit an seiner Habilitationsschrift, die er bei
Brinkmann einreichen will. Sie trägt den Titel Frage nach der Aussagekraft von Max
Webers Protestantismus-These. Es handelt sich um eine historisch-empirische Ar-
beit, was schon im Untertitel Eine kritische Untersuchung anhand der mühlhauser
Industriegeschichte zum Ausdruck kommt. Sein Onkel Graf Solms hat sich über
17 Oetting, Jürgen. 2016. „Cool, ein Taucher“. Lars Clausen als Wikipedia-Autor. In Tönnies-Fo-
rum 25, S. 33 – 38.
18 Klingemann, Carsten. 1996. Soziologie im Dritten Reich. Baden-Baden: Nomos, S. 120 – 158.
19 Clausen. Meine Einführung in die Soziologie, S. 180.
20 Klingemann. Soziologie im Dritten Reich, S. 147.
268 Carsten Klingemann
Jahrzehnte sehr intensiv mit Max Weber beschäftigt, im Sommersemester 1935 hält
er sogar ein Seminar über Webers Protestantische Ethik ab. Auch wenn Graf Solms
eine eher randständige Figur in der Soziologen-Szene war, zeigt auch schon dieser
Tatbestand, dass Weber nicht vergessen war. Was sich aber noch deutlicher darin
ausdrückt, dass Graf Solms und sein Neffe 1947 und 1948 je einen Sammelband
von Schriften Webers herausgeben. Solms-Roedelheim wird nach 1945 Professor
an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, im Zuge
ihrer Integration in die Universität Göttingen wird er dort Professor für Soziologie.
Für seinen Onkel hätte sich fast schon 1944 die Möglichkeit ergeben, an der
Universität Hamburg einen Lehrstuhl für Soziologie zu bekommen. Der bereits
erwähnte Hamburger Soziologe Andreas Walther lässt sich 1944 emeritieren und
schlägt auch Solms als seinen Nachfolger vor. Im langwierigen Verlauf des Ver-
fahrens der Wiederbesetzung publiziert Solms im Juli 1944 seinen Aufsatz Formen
des zwischenmenschlichen Lebens mit dem Untertitel Soziologie als exakte Fachwis-
senschaft im Hamburger Tageblatt, das als Untertitel Zeitung der Nationalsozialis-
tischen Deutschen Arbeiterpartei trägt. Obwohl sich Andreas Walther für Solms
einsetzt, kommt er nicht zum Zuge.21 Der Lehrstuhl bleibt vakant, bis ihn einige
Jahre später Clausens Doktorvater Helmut Schelsky besetzt. Wenngleich Clausen
also nicht ganz recht hat, wenn er sagt, Solms habe die ganzen zwölf Jahre nicht
publiziert,22 so stellt aber dessen Aufsatz in der Zeitung der NSDAP alles ande-
re als eine Anpassung an deren weltanschauliche Vorgaben dar. Solms bezeichnet
darin Psychologie und Historie als ältere Schwestern der Soziologie, die zusam-
men mit den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften „die Ausgangswissenschaf-
ten der monumentalen Soziologie Max Webers“ seien, „sie müssen den Weg künf-
tiger Soziologie mit zunehmender Grundsätzlichkeit in allen ihren Teilproblemen
auf Schritt und Tritt begleiten.“23 Ob Solms sich mit dem Aufsatz geschadet hat, ist
mir nicht bekannt. Laut Clausen war er „ein untadeliger Anti-Nazi“.24 Auf jeden
Fall hielt er auf Distanz zum NS-Regime,25 nachdem er 1933 noch als Privatdozent
das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu
Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat unterschrieben hatte.26
Aus dem InSoSta kam auch Carl Jantke, den Clausen als einen seiner soziolo-
gischen Lehrer bezeichnet. Er sei zwar langweilig gewesen, aber sachlich sehr in-
teressant. „Er war damals der Sozialgeschichtler überhaupt in Deutschland.“27 Au-
ßerdem „machte er auch die erste Industriesoziologie nach dem Krieg überhaupt:
Bergmann und Zeche.“28 Clausen berichtet, dass Jantke immer erzählt habe, „wie er
in der Hand ein amerikanisches Methodenbuch hatte, während er die Arbeiter be-
fragte.“ Wie man dem Vorwort zu Bergmann und Zeche von Walther G. Hoffmann,
dem Direktor der Sozialforschungsstelle, entnehmen kann, leitete der Initiator der
Gründung der Sozialforschungsstelle, Otto Neuloh, die Feldarbeit. Sie wurde von
vier promovierten Mitarbeitern durchgeführt, darunter ein Arzt, der gleichzeitig
im Heilrevier des Betriebs tätig war, und eine Frau. Weiterhin heißt es im Vor-
wort: „Nachdem einzelne Teilberichte im Entwurf vorlagen, übernahm Dr. Jantke
die Aufgabe, den Gesamtbericht in der vorliegenden Form zu erstatten.“29 Es war
von vornherein nicht „eine im Stichprobenverfahren durchzuführende Befragung
der gesamten Untertagebelegschaft“ geplant, sondern eine „‚pilot-study‘, die sich
auf bestimmte begrenzte Bezirke des Arbeitslebens untertage“ beschränkt.30 „Die
Befragungen untertage erfolgten unter Zugrundelegung des Frageschemas, das je-
der Mitarbeiter beherrschen mußte. Nach der Zusicherung, daß die Anonymität
gewahrt würde, nahmen die Bergleute keinerlei Anstoß daran, daß Notizen ge-
macht wurden […].“31 Weiterhin wurden Bergmannsfrauen in ihren Wohnungen
befragt: „Die Gespräche mit den Bergmannsfrauen fanden in der Weise statt, daß
unsere Hausbesuche stets unangemeldet erfolgten. Die Fragen waren hier nach
Abfolge und Formulierung so gehalten, daß sie nach aller Vermutung die Befrag-
ten veranlassen würden, von sich aus über die sie bewegenden Probleme zu spre-
chen.“32
Die Befragungen untertage und entsprechende Beobachtungen wurden vor
Ort während der jeweiligen Schicht im Sommer 1950 durchgeführt, wobei sich
eine sehr vertraute Atmosphäre entwickelte. Die amerikanischen Kollegen Con-
rad M. Arensberg, Max Ralis und Nels Anderson gaben wertvolle Ratschläge, heißt
es im Vorwort. Von einem amerikanischen Methodenbuch ist nicht die Rede, es
tel Neugründung mit Kontinuität zur NS-Sozialforschung ein, vier Jahre nach Clau-
sens Tod. Es wäre spannend gewesen, ob, beziehungsweise wie er darauf eingegan-
gen wäre.
Zum Direktor der Sozialforschungsstelle, Helmut Schelsky, bei dem Clausen,
wie bereits erwähnt, promoviert, und der für ihn „mein großer Meister“ ist, hat er
sich in seiner Einführung deutlich geäußert: „Auch Schelsky war […] Nazi“, aller-
dings, wie Clausen ergänzt, „ein Studenten-Nazi.“37 Diese Aussage trifft er völlig
unerwartet in der fünften Vorlesung zum Thema „Ralf Dahrendorf und die Nor-
malität des sozialen Wandels“. Es geht dabei um eine spezielle Form des sozialen
Wandels, die Clausen mit einer, wie er es nennt, „Schelsky-Anekdote“ illustriert.
Am 30. Januar 1933 sei Hans Freyer ins Seminar gekommen und habe gesagt:
„Rousseau hat gewonnen.“ Und zwar der Rousseau, der „aus Versehen eine Figur
gezeugt“ habe, und zwar die wahre Inkarnation der revolutionären Tugend der
Französischen Revolution: Robespierre, der Mann der September-Morde.38
In dieser Passage seiner Vorlesung kommt Clausen nicht wieder auf Schel-
sky zu sprechen, es geht ihm jetzt um Freyer. „Freyer war Nazi“, heißt es kurz und
bündig. Rousseau hat mit Hitlers Machtübernahme gewonnen, weil der nun qua-
si als Nachfolger Robespierres den „Terror der Tugend“ als Staatsräson etabliert.
„Was gut für Deutschland ist, ist gut für alle. Alles andere wird umgelegt. Wenn das
so ist, kann man auch ein KZ einrichten, ist ja tugendhaft.“ Mit diesem Vorlauf be-
schreibt Clausen das Verhältnis des Nazis Freyer zu den Nazis an der Macht: „Man
kann sich also vorstellen, auf welchen Wegen Freyer eine solche Nazi-Kritik an-
gebracht hat. Selbstverständlich wurde er nie deutlicher, er war ein furchtsamer
Mann und hat es ja auch gut überlebt.“39 Wenn man bedenkt, dass Clausen über
Freyer auch sagt, er „stand von allen den Nazis am nächsten“,40 dann mag deutlich
werden, dass Clausen bei der Aufstellung der Rangfolge großer und größter Nazi-
Soziologen flexibel ist, was noch wieder aufgegriffen wird.
Das mag auch daran liegen, dass Clausen Freyer persönlich kannte, er besuch-
te dessen Oberseminar an der Universität Münster.41 Freyer war laut Clausen im
persönlichen Umgang „durch und durch liberal. Er hat keine Leute ans Messer ge-
liefert und eben auch Marxisten behalten.“42 Ob es mehrere Marxisten waren, ist
fraglich, aber auf jeden Fall hat Freyer den Marxisten Heinz Maus geschützt. Hans
Linde, auf den noch zurückzukommen ist, berichtet unter Berufung auf Maus,
dass während ihrer gemeinsamen Zeit an Freyers Leipziger Institut, die Gestapo
sich auf dessen Spur gesetzt habe und bei der Durchsuchung seiner Wohnung
Schriften von Marx, Lenin und Ernst Niekisch fand. Freyer habe Maus „‚heraus-
gepaukt‘, indem er die inkriminierte Literatur zum Material von ihm veranlaßter
wissenschaftlicher Arbeiten erklärte.“43 Maus verstand sich – wie bereits erwähnt –
als Schüler Max Horkheimers. Freyer, der ja auch von Clausen als ein sehr vor-
sichtiger Mann geschildert wird, hat also trotz seiner weltanschaulich-politischen
Nähe zum Nationalsozialismus menschliche Stärke gezeigt. Maus hat Freyers Hal-
tung gegenüber dem NS-Regime in einem Brief vom Januar 1939 an Horkheimer
in der Weise geschildert, dass im Gegensatz zum öffentlich vorgetragenen „dicken
Konformismus“ seine „privaten Ansichten“ ganz andere seien.44 Maus stand dem-
nach zumindest zeitweilig in einem relativ engen persönlichen Kontakt zu Frey-
er. Dennoch halte ich es für verfehlt, ihn als Angehörigen der Leipziger Schule der
Soziologie zu bezeichnen, wie es schon in der ersten Version des Wikipedia-Ar-
tikels zur Leipziger Schule vom 2. Juli 2004 behauptet wird. Richtig ist aus meiner
Sicht, wie es in dem Artikel heißt, dass Freyer „im Nationalsozialismus eine be-
deutende Chance zur Wirksamkeit sah“, und einige der sich um ihn scharenden
„Gelehrten“ auch „politisch aktive Nazis“ waren.
Clausen hat einmal sehr energisch in diesen Artikel eingegriffen. Am 23. Janu-
ar 2009 löscht ein mittlerweile gesperrter Autor den bereits zitierten, inzwischen
modifizierten Satz: „Freyer sah im Nationalsozialismus eine Chance zur Wirk-
samkeit; einige seiner Schüler waren auch politisch aktive Nationalsozialisten.“
Noch am selben Tag macht Clausen diese Löschung rückgängig. Politisch aktiv
konnten Freyers Schüler durch ihr Engagement in unterschiedlichen Feldern sein.
Entweder direkt in einer Institution der NSDAP wie zum Beispiel Helmut Schel-
sky im NS-Studentenbund oder als Sozialwissenschaftler wie Hans Linde. Linde
trat im November 1933 in die SS ein, die er später auf eigenen Wunsch wieder ver-
ließ. Nach der Aufhebung der allgemeinen Aufnahmesperre wird er dann zum
1. Mai 1937 Mitglied der NSDAP. Beide Mitgliedschaften bezeugen aber keine po-
litischen Aktivitäten. An der Universität Leipzig war er zu der Zeit Hilfsassistent
im Institut für landwirtschaftliche Betriebslehre, die einzige Tätigkeit Lindes wäh-
rend des Dritten Reichs, die Clausen in dem von ihm angelegten Wikipedia-Arti-
kel über Linde erwähnt. Danach war er Sachbearbeiter der Reichsarbeitsgemein-
schaft für Raumforschung an der Universität Leipzig, wie er in seinem im Bestand
des ehemaligen Berlin Document Center (Bundesarchiv Berlin) überlieferten Le-
43 Linde, Hans. 1981. Soziologie in Leipzig 1925 – 1945. In Soziologie in Deutschland und Ös-
terreich 1918 – 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, hrsg.
M. Rainer Lepsius. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 102 – 130, hier S. 112.
44 Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1993/1995, hrsg. Carsten Klingemann, Michael Neumann,
Karl-Siegbert Rehberg, Ilja Srubar und Erhard Stölting. Opladen: Leske + Budrich, S. 263.
Lars Clausens Blick auf die Karriere von Soziologen im Nationalsozialismus 273
benslauf vom 1. Mai 1938 angibt. Ab Oktober 1938 ist er „Sachbearbeiter im Stabs-
amt des Reichsbauernführers für Bevölkerungspolitik in der Abteilung F 1“. Zum
1. April 1939 wird er zum Rasse- und Siedlungshauptamt der SS versetzt. Er publi-
ziert unter anderem mehrfach in der Fachzeitschrift Archiv für Bevölkerungswis-
senschaft und Bevölkerungspolitik, im Handwörterbuch des Grenz- und Ausland-
deutschtums wie auch in Odal. Zeitschrift für Blut und Boden. Ab September 1956
ist er Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund und später auch
Mitglied im Methodenausschuss der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie
Professor für Soziologie in Karlsruhe.
Linde repräsentiert das Prinzip der rekursiven Kopplung, also der Politisie-
rung der Wissenschaft und der Verwissenschaftlichung der Politik, in idealer Wei-
se. Er ist maßgeblich an der Begründung der modernen Sozialgeschichtsschrei-
bung beteiligt, wofür ihn schon seine 1937 eingereichte Dissertation Piassutten,
Kreis Ortelsburg. Ein Beitrag zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in Süd-Ost-
preußen prädestinierte. Die Nationalsozialistische Bibliographie, herausgegeben
von der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS.-Schrifttums, die
Texte daraufhin beurteilt, ob sie der Verteilung und Vertiefung des nationalsozia-
listischen Gedankenguts dienen, schreibt zu Lindes Dissertation, die 1939 über-
arbeitet als Beiheft des Archivs für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungs-
politik unter dem Titel Preußischer Landesausbau. Ein Beitrag zur Geschichte der
ländlichen Gesellschaft in Süd-Ostpreußen am Beispiel des Dorfes Piassutten/Kreis
Ortelsburg erscheint: „Verf. sieht den ‚Preußischen Landesausbau‘ als das Wachs-
tumsgesetz des bäuerlichen Dorfes unter der preußischen Verfassung des 18. u.
19. Jh. bis zur Massenabwanderung als Folge ländlicher Übervölkerung. ‚Landes-
ausbau, nicht Landnahme geschieht hier, weil der Lebensraum schon in den Zu-
sammenhang des Landes eingegliedert war.‘ Im Ergebnis der Untersuchung er-
scheint das Schicksal dieses masurischen Dorfes beispielhaft für das politische
Werden des deutschen Volkes. Die Arbeit ist zugleich ein wertvoller Beitrag zur
Bevölkerungsgeschichte des deutschen Ostens.“45 Diese Kurzbesprechung über-
nimmt an mehreren Stellen wörtlich Passagen aus dem Vorwort zur Dissertation.
Das hat aber keiner der beiden Gutachter, Hans Freyer oder Hans-Jürgen Sera-
phim, geschrieben, sondern Gunther Ipsen, der seit 1931 Dorfforschungen durch-
führte, in deren Kontext Lindes Arbeit entstanden war. Ipsen schildert deren sach-
lichen Gehalt, den er, wie üblich, in seinem eigenen Sprachstil präsentiert, wenn
45 Anonym. 1942. Kurzbesprechung von Hans Linde. Preußischer Landesausbau. Ein Beitrag
zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in Süd-Ostpreußen am Beispiel des Dorfes Piassut-
ten, Kreis Ortelsburg. Leipzig. In Nationalsozialistische Bibliographie, 4. Beiheft. Hochschul-
schrifttum, Verzeichnis von Dissertationen und Habilitationsschriften, hrsg. Parteiamtliche
Prüfungskommission zum Schutze des NS.-Schrifttums, Zentralverlag der NSDAP, Franz
Eher Nachf. GmbH Berlin, S. 8.
274 Carsten Klingemann
sich zum Beispiel „eine neue Staatlichkeit und ihr tragendes Volkstum selbst er-
schafft aus züchtendem Willen.“46
Rückblickend schreibt Linde, das Vorwort habe den „hellen Zorn“ des mit Ip-
sen befreundeten Heinrich Harmjanz erregt, da es den in mehrfacher Hinsicht
inopportunen Inhalt der Arbeit „mit seinem [Ipsens] guten Namen verbunden
habe.“ Harmjanz habe die „Vernachlässigung der ‚völkischen Stellung [Piassut-
tens] als Grenzdorf ‘“ durch Linde missfallen.47 Harmjanz war als habilitierter
Volkskundler mit soziologischer Ausrichtung Referent für Geisteswissenschaf-
ten im Reichswissenschaftsministerium, später persönlicher Referent und Leiter
des Ministeramtes des Reichwissenschaftsministers Bernhard Rust. Er gab zusam-
men mit Ipsen die Zeitschrift für Volkskunde heraus, in der seine Mängel-Rüge
an Lindes Dissertation erschienen war. Harmjanz verlor mit dem Ende des Drit-
ten Reichs seine Professur und arbeitete nach 1945 als Lateinlehrer. Ipsen wurde
als Reichsdeutschem seine Wiener Professur entzogen, er konnte sich bekanntlich
in der Sozialforschungsstelle Dortmund etablieren.
46 Ipsen, Gunther. 1939. Vorwort. In Hans Linde Preußischer Landesausbau. Ein Beitrag zur Ge-
schichte der ländlichen Gesellschaft in Süd-Ostpreußen. Leipzig, S. III – V, hier S. IV.
47 Linde. Soziologie in Leipzig, S. 122, 129.
48 Linde. Soziologie in Leipzig, S. 117.
49 Linde, Hans. 1959. Artikel Gunther Ipsen. In Internationales Soziologenlexikon, hrsg. Wilhelm
Bernsdorf, in Verbindung mit Horst Knospe. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, S. 239 f.
50 Linde. Soziologie in Leipzig, S. 117.
Lars Clausens Blick auf die Karriere von Soziologen im Nationalsozialismus 275
51 Linde, Hans. 1984. Artikel Gunther Ipsen. In Internationales Soziologenlexikon, hrsg. Wil-
helm Bernsdorf und Horst Knospe. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, S. 385.
52 Rehberg, Karl-Siegbert. 1983. Protokoll, vorgelegt von Karl-Siegbert Rehberg unter Mitwir-
kung von Irmgard Pinn und Elfriede Üner. Arbeitstagung der Fritz-Thyssen-Stiftung: Gab
es eine ‚Leipziger‘ Schule der Soziologie und Sozialphilosophie ? am 29. und 30. April 1982 im
Gästehaus der RWTH Aachen, S. 4.
53 Clausen, Lars. 1995. Wohin treibt das Schiff ? Soziologische Betrachtungen in stürmischen
Zeiten. Ein Interview mit Lars Clausen, Interviewer: Ursula Pasero und Wolf R. Dombrow-
sky. In Wissenschaft, Literatur, Katastrophe. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars
Clausen, hrsg. Wolf R. Dombrowsky und Ursula Pasero. Opladen: Westdeutscher Verlag,
247 – 267, hier S. 258.
54 Clausen. Meine Einführung in die Soziologie, S. 178 f.
55 Clausen. Meine Einführung in die Soziologie, S. 182.
276 Carsten Klingemann
chen ‚Schule‘. Die Jüngeren, von denen keiner mehr in Leipzig studiert hatte, also
die ‚Enkel‘, haben sich der heute gängigen Soziologie-Geschichtsschreibung, wie
sie etwa durch die Auffassungen von Wolf Lepenies (Geschichte der Soziologie.
4 Bde. Frankfurt a. M. 1981) oder Rainer Lepsius (Die Entwicklung der Soziologie
nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 – 1967. In KZfSS-Sonderheft 21 (1979), S. 25 – 70)
repräsentiert werden, angeschlossen, oft wider Willen, denn sie selbst verstehen
sich untereinander keineswegs als ‚Schule‘, würden dies sogar entrüstet ablehnen.
Hier findet eine entlastende Mumifizierung der Väter und Großväter durch die
Enkel statt […].“56 Was Schelsky mit „entlastende Mumifizierung“ meint, bleibt
für mich ein Rätsel. Eine Mumie kann einerseits für ewige, aber neutralisierte
Existenz stehen und schützt so die Enkel. Es gibt aber auch den todbringenden
Fluch, den Mumien bei Berührung aktivieren. Clausen sah das ganz anders: „Je-
denfalls war die Leipziger Schule die einzige wirklich blühende Schule der So-
ziologie.“57 Andererseits sind der historiographische und der heuristische Nutzen
des Konzepts Schule oder Denkschule äußerst umstritten.58
Schelsky weist die Gleichsetzung der Leipziger Schule mit Pfeffers Die deut-
sche Schule der Soziologie durch M. Rainer Lepsius strikt zurück. Freyer habe die-
sen Begriff nie gebraucht. „Das sei vor allem die Begriffsprägung eines ‚damals in
Leipzig von uns allen als peinlich empfundenen Buches von Pfeffer‘ (1939) gewe-
sen.“ „In diesem Buch komme Freyer nur ein einziges Mal vor […].“59 Der Titel
des peinlichen Buches lautet bekanntlich Die deutsche Schule der Soziologie, je-
doch stellt sich die Frage, war das Buch in toto peinlich ? Pfeffers Sohn, Prof. Georg
Pfeffer, Berlin, schrieb mir am 20. Juli 2016, dass „bei den vielen Angriffen we-
gen seiner Vergangenheit (die nach 1956 einsetzten) immer wieder die ‚deutsche
Schule der Soziologie‘ genannt wurde […].“ Sein Vater habe jedes Mal erklärt,
dass das wegen seiner antisemitischen Prägung besonders kritisierte Vorwort gar
nicht von ihm, sondern von Helmut Schelsky stamme, ohne dass der Autor na-
mentlich ausgewiesen worden sei. Georg Pfeffer ist darüber hinaus der Meinung,
eine „Textanalyse dürfte schnell den Autor des Vorworts von dem des Hauptteils
unterscheiden“, wie er mir am zweiten August 2016 schrieb. Aus meiner Sicht gibt
es noch weitere Indizien für Schelskys Autorenschaft. Im besagten Vorwort heißt
es, dass die „heutige deutsche Soziologie“ sich „im Gewande verschiedener an-
derer Wissenschaften“ verberge. Diese Feststellung halte ich für sehr bedeutsam,
da sie der Legende vom Ende der Soziologie durch die NS-Machtübernahme auf
spezifische, aber eindeutige Weise widerspricht, außerdem korrespondiert sie mit
Schelskys Wunsch, die venia legendi für das Fach Soziologie zu bekommen. Hin-
zu kommt ein weiteres Indiz, das für Schelsky als Autor spricht. Im besagten Vor-
wort verbirgt sich also die Soziologie Ende der dreißiger Jahre im Gewande ver-
schiedener anderer Wissenschaften. Im Juli 1950 hält Schelsky auf einer Tagung
fest, „daß es sehr wohl eine angewandte Soziologie in Deutschland noch gege-
ben hat.“ Und dazu führt er aus: „Die Träger waren ganz andere Wissenschaften
[…].“60 Inhaltlich lässt sich somit eine komplette und in der Formulierung eine
fast identische Übereinstimmung der beiden Zitate feststellen. Es kommt noch
hinzu, dass in dem Vorwort zu Pfeffers deutscher Schule der Soziologie von ei-
ner solchen keine Rede ist, sondern von der „heutigen“ und „gegenwärtigen“ So-
ziologie sowie von „einem lebendigen System der deutschen Volkslehre.“ Alle ge-
nannten Indizien zusammengenommen, erscheint die Autorenschaft Schelskys
als höchst wahrscheinlich.
In dem von Marta Mierendorff verfassten Artikel über Pfeffer für das 1959 er-
scheinende Internationale Soziologenlexikon wird seine deutsche Schule der So-
ziologie kommentarlos aufgeführt. Allerdings heißt es amüsanter Weise: „Einer
bestimmten Schule gehört Pf. nicht an.“61 In der zweiten Auflage aus dem Jahr
1984 wird Mierendorff nicht mehr als Autorin genannt, sondern die Redaktion des
Lexikons, die den zitierten Satz ins Imperfekt setzt, da Pfeffer ja inzwischen ver-
storben war. Weiterhin wird der Satz hinzugefügt: „In der Zeit des ‚Dritten Rei-
ches‘ vertrat er nationalsozialistische Anschauungen.“62 In Otthein Rammstedts
Deutscher Soziologie, die mit einem großen „D“ geschrieben werden muss, spielt
Pfeffer eine Hauptrolle als Protagonist dieser Deutschen Soziologie als „‚Waffe‘ des
NS-Regimes.“63 Clausen hatte im Wikipedia-Artikel zu Rammstedt zwar die Cha-
rakterisierung René Königs als „altersmilde“ gelöscht, aber dessen harsche Kritik
an Rammstedt nicht angerührt. Clausen und Rammstedt kannten sich, Ramm-
stedt hat sogar einen Beitrag zur Festschrift anlässlich Clausens sechzigstem Ge-
60 Schelsky, Helmut. 1950/51. Lage und Aufgaben der angewandten Soziologie in Deutschland.
Soziale Welt 2, S. 3 – 14, hier S. 6.
61 Mierendorff, Marta. 1959. Artikel Karl Heinz Pfeffer. In Internationales Soziologenlexikon,
hrsg. Wilhelm Bernsdorf, in Verbindung mit Horst Knospe. Stuttgart: Ferdinand Enke Ver-
lag, S. 435 f., hier S. 436.
62 Red. 1984. Artikel Karl Heinz Pfeffer. In Internationales Soziologenlexikon, 2. Bd., hrsg. Wil-
helm Bernsdorf und Horst Knospe. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag, S. 659.
63 Rammstedt, Otthein. 1986. Deutsche Soziologie 1933 – 1945. Die Normalität einer Anpassung.
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278 Carsten Klingemann
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Lars Clausens Blick auf die Karriere von Soziologen im Nationalsozialismus 281
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Wissenschaft, Literatur, Katastrophe. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars
Clausen. 1995. Hrsg. Wolf R. Dombrowsky und Ursula Pasero. Opladen: West-
deutscher Verlag.
Hans Buske – der letzte Verleger
von Ferdinand Tönnies1
Sebastian Klauke
Über Hans Buske, der 1935 in Leipzig die achte und zu Ferdinand Tönnies’ Lebzei-
ten letzte Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft3 und Tönnies’ letztes Werk
1 Mein Dank gilt Frau Prof. Dr. Bettina Clausen, die die Idee und ihre Quellen für diesen Text
an mich herangetragen, ihn kritisch gegengelesen und mit mir diskutiert hat. Sie ist viel zu
früh am 9. Mai 2018 verstorben. Weitere Hinweise verdanke ich Herrn Prof. Dr. Haselbach.
Eine kürzere Fassung des Textes wurde im Tönnies-Forum, Heft 2 2017 auf den Seiten 75 bis
82 veröffentlicht.
2 Solms, Freda Gräfin zu (Hrsg.). 1982. Max Graf zu Solms. Ein Lebensgang. Briefe Selbstzeug-
nisse Berichte, Marburg: N. G. Elwert, S. 248.
3 Tönnies, Ferdinand. 1935. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziolo-
gie. Achte, verbesserte Auflage. Leipzig: Hans Buske. Zuletzt erschienen 2019 als Band 2 der
Tönnies Gesamtausgabe die kritische Edition des Hauptwerks von Tönnies mit dem Titel
Gemeinschaft und Gesellschaft. 1880 – 1935. Beginnend mit dem ersten Konzept aus Tönnies
Hand aus dem Jahr 1880 bis hin zur Ausgabe letzter Hand 1935 werden hier alle Auflagen
vergleichend dokumentiert. Im Editorischen Bericht werden die Entstehungsgeschichte so-
wie die Rezeption des Buches im Detail nachvollzogen und die Verbindungen zum übrigen
Werk aufgezeigt.
Geist der Neuzeit4 verlegte und auch der Festschrift zu Tönnies’ 80. Geburtstag5
eine verlegerische Heimat gab, war bislang nur wenig bekannt. In den erschiene-
nen Bänden 14, 22, 22.2 und 23.2 der Tönnies Gesamtausgabe (TG) wird sein Ge-
burtsjahr zwar korrekt mit 1903 angegeben, beim Sterbedatum bestanden jedoch
Zweifel. Dank Recherchen von Bettina Clausen im Zusammenhang mit der Edi-
tion von Gemeinschaft und Gesellschaft als Band 2 der Tönnies Gesamtausgabe
(TG) – eine Arbeit, die sie seit mehreren Jahren gemeinsam mit Dieter Haselbach
intensiv bis zu ihrem plötzlichen Tod im Mai 2018 vorangetrieben hatte und die
im Juni 2019 veröffentlicht wurde – ist es nun möglich, große Lücken im Wissen
über das Leben und Wirken von Hans Buske zu schließen. Im Folgenden wird es
darum gehen, erstmals einen biographischen Abriss Buskes vorzulegen. Die auf-
geführten politischen, beruflichen und privaten Informationen stammen aus dem
Nachlass Hans Buskes bzw. gehen aus Archivalien6 hervor und sind nicht zuletzt
Ergebnis mehrerer Gespräche mit dem Sohn Hans Buskes, dem Berliner Musik-
journalisten Peter Buske.7
Hans Buske wurde am 23. August 1903 in Schöneberg bei Berlin8 geboren. Sein
vollständiger Name lautet Johannes Willy Buske. Er stammt aus einer Beamten
familie. Sein 1864 geborener Vater Ernst Konrad war Geheimer Kanzlei-Sekretär
im Auswärtigen Dienst und u. a. an den Botschaften in Kopenhagen und Moskau
tätig. Die 1871 geborene Mutter Helene war Hausfrau. In Berlin besuchte Buske
von 1909 bis 1920 die Kirchner-Oberrealschule. 1916 kam es auf Grund der be-
ruflichen Tätigkeiten des Vaters zu einem Schulbesuch in Kopenhagen. Sein Ab-
gangs-Zeugnis vom 31. März 1920 – Buske wurde in die Unterprima, d. h. die
12. Klasse versetzt, die er allerdings nicht mehr besuchte – zeugt von überwiegend
mäßigen Leistungen, die Fächer Religion und Zeichnen wurden mit mangelhaft
bewertet, einzig sein Betragen war „sehr gut“.
4 Tönnies, Ferdinand. 1935. Geist der Neuzeit. Leipzig: Hans Buske. Dieser Band enthält den
ersten Teil der Schrift. Manuskripte zu den Teilen II, III und IV, lange als verschollen an-
genommen, wurden 2016 als Band 22.2 im Rahmen der TG von Bärbel und Uwe Carstens
herausgeben. Geist der Neuzeit I erschien 1998 als Band 22 der TG und wurde von Lars Clau-
sen ediert.
5 Jurkat, Ernst [Redaktion]. 1936. Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdi-
nand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935, dargebracht von Albrecht,
Gerhard et al. Leipzig: Hans Buske (nachgedruckt Frankfurt am Main: Antiquariat und Ver-
lag Keip 1989 sowie erneut erschienen München: Profil Verlag 2018).
6 Besonderen Dank an Frau Dr. Thea Kluttig vom Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig.
7 Wir danken Herrn Peter Buske an dieser Stelle für die freundwillige Bereitstellung von Do-
kumenten aus seinem Privatarchiv und die freundlichen Gespräche.
8 Ab 1912 lautete der Ortsname Berlin-Schöneberg, am 1. Oktober 1920 wurde Schöneberg
dem Verwaltungsbezirk Groß-Berlin zugeordnet. Mittlerweile ist Schöneberg Teil des Be-
zirks Tempelhof-Schöneberg.
Hans Buske – der letzte Verleger von Ferdinand Tönnies 285
Nach dem Schulabgang entschied sich Buske für den Buchhändlerberuf und
absolvierte bis 1922 eine Lehre in der Berliner Buchhandlung Weber. Im Vorder-
grund stand dabei weniger ein belletristisch-künstlerisches, sondern ein deutlich
(antiquarisch-)wissenschaftliches Leseinteresse. Nach deren Abschluss war er Ge-
hilfe in verschiedenen wissenschaftlichen Buchhandlungen in Berlin und Leip-
zig. 1924 trat Buske der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Berlin
bei. Mitte der 1920er Jahre siedelte er nach Leipzig über und arbeitete in der Buch-
handlung Fock als angestellter Antiquar. In Leipzig war er bis 1933 u. a. Kassie-
rer und Literaturobmann der KPD. In dieser Zeit wurde er auch Gewerkschafts-
mitglied im Allgemeinen freien Angestelltenbund (Afa-Bund), einem sozialistisch
ausgerichteten Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften. Weiterhin trat
er der Organisation der Proletarischen Freidenker9 sowie der Roten Hilfe10 bei.
Am 29. September 1925 trat der evangelisch getaufte Buske aus der Kirche aus.
Sein Sohn schildert ihn als einen ‚strenggläubigen Atheisten‘. Hans Buske habe als
das ‚schwarze Schaf ‘ der Familie gegolten, der nicht der Frömmigkeit der Eltern,
geschweige denn deren politischer Orientierung nachkam. Man darf ihm also ei-
nen durchaus individuellen Widerstandsgeist unterstellen, der ihn später auch als
Buchhändler und Verleger auszeichnete.
1927 eröffnete Buske in Leipzig eine eigene Buchhandlung, die zugleich Anti-
quariat war.11 Im gleichen Jahr begann er auch als Verleger tätig zu werden. Buske
9 Gemeint ist vermutlich die Gemeinschaft Proletarischer Freidenker, 1908 in Eisenach als
Zentralverband Deutscher Freidenker gegründet. 1922 erfolgte die Umbenennung in Proleta
rische Freidenker. Kennzeichen waren eine klar atheistische, sozialistische, gegen bürgerliche
Strömungen der Freidenker gerichtete Ausrichtung. Für eine zeitgenössische Darstellung sie-
he Walter und Anna Lindemann. 1926. Die proletarische Freidenker-Bewegung. Geschichte
Theorie Praxis. Leipzig: Freidenker Verlag (Wiederveröffentlichung Münster 1981).
10 Die Rote Hilfe Deutschlands wurde 1924 als eine der KPD nahestehende politische Hilfs-
organisation gegründet. Ihre Hauptaufgabe sah die Organisation vor allem in der Unter-
stützung von in Haft befindlicher Mitglieder des Rotfrontkämpferbundes, Gewerkschaftern
sowie von SAP- und KAP-Mitgliedern. Sie löste sich 1936 selbst auf. Seit 1975 existiert der
Verein Rote Hilfe, der sich in der Tradition des Vorgängers verortet.
11 Sein Geschäft bewirbt Buske 1927 als Hans Buske, Buchhandlung und Antiquariat für Poli-
tik, Staats- und Sozialwissenschaft. In der New York Public Library liegen fünf Kataloge des
Antiquariats vor, in denen jeweils ein kleiner Teil des Antiquariatslagers vorgestellt wird.
Der älteste Katalog aus dem Jahr 1927 trägt die Nr. 8 und präsentiert 487 Publikationen zu
dem Themenbereich Volkswirtschaft, Sozialismus, Politik. Als Adresse ist hier die Kreuz-
straße 3 b sowie Leipzig C 1, Lange Straße 32 a angegeben. Der zweite Katalog ist auf den
Mai 1930 datiert und trägt die Nummer 17. Unter dem Titel Sozialwissenschaft werden hier
543 Veröffentlichungen u. a. zu den Themen Soziologie, Marxismus, Genossenschaftswesen
und Utopien präsentiert. U. a. wird auch ein Buch von Bakunin angeboten, was für den wei-
ten Horizont seiner politischen Anschauungen spricht. Die Adresse lautet hier Leipzig C 1,
Talstraße 2. Unter dieser Adresse im Zentrum der Bücherstadt Leipzig domizilierte die Ver-
lagsbuchhandlung bis zur Ausbombung am 4. Dezember 1943. Der Katalog Nr. 22 vom April
286 Sebastian Klauke
1931 bietet eine Auswahl aus den Bereichen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft. Buske prä-
sentiert sich jetzt als Fachbuchhandlung und Antiquariat für Rechts- und Staatswissenschaf-
ten und wirbt auch für neue Publikationen aus seinem eigenen Verlag. Der Katalog Nr. 148
vom Juli 1937 führt 689 Veröffentlichungen zum Thema Römisches Recht und antike Rechts-
geschichte auf. Die Wirtschaftswissenschaften sind Gegenstand des letzten vorliegenden Ka-
talogs mit der Nummer 154. Es werden 990 Titel angeboten. Hier sind auch – in der Unter-
kategorie Volkswirtschaft – Tönnies’ Geist der Neuzeit und die 8. Auflage von Gemeinschaft
und Gesellschaft aufgeführt.
12 Der Buske Verlag verlegte neun Schriftenreihen und Zeitschriften. Von 1927 bis 1939 erschie-
nen außerdem etwa 90 einzelne Buchtitel.
13 Der Autor Maximilian Bisle beschäftigt sich mit dem Thema im Rahmen einer juristisch-his-
torischen Perspektive.
14 Jahn war u. a. Professor der wirtschaftlichen Staatswissenschaften und Statistik an der Uni-
versität Halle und nach 1945 an der TH Berlin-Charlottenburg tätig. 1937 wurde er von den
Nationalsozialisten in Ruhestand versetzt, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Weiteres
zur Person siehe https://www.catalogus-professorum-halensis.de/jahngeorg.html (zuletzt
abgerufen am 18. November 2019).
15 Zur Person Stoltenberg siehe Mohr, Arno. 2016. Hans Lorenz Stoltenberg. Bausteine seiner
Biographie, seines Werkes und seines Verhältnisses zu Ferdinand Tönnies. In Tönnies-Forum
25 (2), S. 18 – 32.
16 Zur Person Solms siehe Fechner, Rolf, und Claas, Herbert (Hrsg.). 1996. Verschüttete Soziolo-
gie. Zum Beispiel: Max Graf zu Solms Schriftenreihe der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft, Bd. 8.
Berlin: Duncker & Humblot.
17 Vom Sonderbeauftragten der Reichsschrifttumskammer wird der Firma am 10. Januar 1944
bescheinigt, „dass ihr Gesamtbetrieb am 4. Dezember 1943 durch Fliegerangriff total zerstört
worden ist“.
Hans Buske – der letzte Verleger von Ferdinand Tönnies 287
18 Nähere Details und Quellenverweise finden sich im Editorischen Bericht des Bandes TG 2
„Gemeinschaft und Gesellschaft“.
19 Tönnies hatte sich an Buske mit der Bitte gewandt, eine Neuauflage seiner Beiträge zur Kon-
junkturforschung aus den Jahre 1914 und 1915 zu verlegen (Brief vom 28. 11. 1932, Schleswig-
Holsteinisches Landesbibliothek, Signatur Cb 54.51.2), die Buske abschlägig beschied mit der
Begründung, dass er bereits gedruckte Bücher kein weiteres Mal veröffentliche. Eine weitere
Verbindung lässt sich dahingehend vermuten, dass Buske im April 1924 den Vorträgen von
Maria und Paul Krische über die Gemeinschaftskultur im Rahmen der II. Freigeistigen Wo-
che der Arbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände der deutschen Republik im Leipzig bei-
gewohnt hat. Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gemeinschaft wurde hierbei
explizit erwähnt, siehe Krische, Maria, und Krische, Paul. 1924. Gemeinschafts-Kultur. Zwei
Vorträge. Leipzig-Lindenau: Verlagsanstalt für proletarische Freidenker, S. 10 f.
20 Buske hatte 1932 dessen Schrift Bau und Gliederung der Menschengruppen (Teil II) verlegt.
21 Zur Person Dietrich siehe Krings, Stefan. 2010. Hitlers Pressechef. Otto Dietrich (1897 – 1952).
Eine Biographie. Göttingen: Wallstein. Krings thematisiert auch die Rede, aber Tönnies wird
nicht als von Dietrich genannte Person aufgeführt, andere Intellektuelle hingegen schon.
22 Die Rede wurde als eigenständige Schrift 1935 veröffentlicht. Das Zitat ist hieraus entnom-
men, siehe Dietrich, Dr. Otto. 1935. Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus.
Ein Ruf zu den Waffen deutschen Geistes. Breslau: Hirt, S. 19. Der Band enthält neben einem
Nachwort des Journalisten und Mitarbeiters des Propagandaministeriums, Alfred-Inge
mar Berndt (S. 42 – 46), auch eine ausführliche Übersicht über die ‚Stimmen der Presse‘, vgl.
ebenda, S. 47 – 61.
288 Sebastian Klauke
liege, und es ist dafür einiger Grund vorhanden“.23 In persönlicher Hinsicht war
Tönnies von Beginn an ein engagierter Gegner des Nationalsozialismus und trat
vielfach in tagespublizistischen Interventionen gegen diesen auf.24 Außerdem pro-
testierte er bspw. gegen antisemitische Vorgänge an der Breslauer Universität.25
Das hatte ab 1933 persönlichen Folgen: Ende September 1933 wurde Tönnies aus
dem Universitätsdienst entlassen. Seine Bezüge wurden zum Dezember 1933 gänz-
lich gestrichen, ab Januar 1934 erhielt er eine Gnadenrente.26 Allerdings lag Tön-
nies – nachträglich gesehen – mit seiner Einschätzung der politischen Ansichten
des Nationalsozialismus falsch: er vermutete, bei der NSDAP die programmatische
Triebkraft in einer Restauration der Monarchie27. Tönnies und seine Konzeption
von Gemeinschaft und Gesellschaft waren auch Gegenstand zweier nationalsozia-
listischer Dissertationen. In beiden wird Tönnies nicht in den nationalsozialisti-
schen Kanon aufgenommen.28
Buske, der – soweit wie bekannt – keine Verbindungen zu den Nationalsozia-
listen unterhielt, wurde von Seiten der Reichsschrifttumskammer, der alle Buch-
veröffentlichungen vorgelegt werden mussten, nicht an der Veröffentlichung ge-
hindert und unterlag keiner Zensur.29 Ganz offen konnte der Verlag für die beiden
Tönnies-Publikationen werben. In einer 16 Seiten umfassenden Werbebroschüre
des Buske-Verlags aus dem Jahr 1935 werden – wie damals gängige Praxis – auch
30 Die Verbundenheit von Georg Jahn mit Tönnies zeigt sich auch in seinem Kondolenzbrief an
Marie Tönnies vom 12. April 1936, wenn er schreibt „… daß nun der Meister der deutschen
Soziologen von uns gegangen ist, er, der uns allen ein Vorbild denkerischer Energie, wissen-
schaftlicher Strenge und unerbittlicher Charakterstärke war und ist.“ Der Brief liegt vor in
der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, Signatur Cb 54.56 – 425,9.
31 Werbebroschüre Verlag Hans Buske u. a. 1935, S. 10. Sie ist unter der Bezeichnung Ferdi-
nand Tönnies: [Gemeinsamer Prospekt von 4. Verlagen] (Vorr.: Georg Jahn) in der Berliner
Staatsbibliothek und der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Kiel
(Signatur A 8867) verzeichnet. Ein weiteres Exemplar findet sich im Tönnies-Archiv im Nis-
sen-Haus, Husum.
32 Zum Verhältnis von Tönnies zum Nationalsozialismus sowie Faschismus steht eine ausführ-
liche und erschöpfende Darstellung noch aus. Hinweise und Skizzen finden sich u. a. im
Werk von Günther Rudolph, z. B. Rudolph, Günther. 2002. Ferdinand Tönnies und der Fa-
schismus. In Tönnies-Forum 10 (12), S. 51 – 61 (leicht gekürzt, geringfügig überarbeitet, zuerst
in Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, 3 1965, S. 339 – 344).
290 Sebastian Klauke
schule II an. Sein höchster Dienstgrad war der eines Obergefreiten. Laut Peter
Buske gehörte zu den Aufgaben seiner Einheit die Abdeckung des Müggelsees, um
die Flugnavigation der Alliierten zu verwirren. An der Front musste Hans Buske
nicht dienen. Davon, dass er wegen seiner linken politischen und beruflichen Ver-
gangenheit von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, ist nichts bekannt.
Ende 1945 kehrte Buske aus britischer Gefangenschaft in den Arbeitslagern
Glückstadt und Pinneberg in Schleswig-Holstein zurück, er war dort seit Mai 1945
interniert gewesen. Buskes Sohn spricht davon, dass es nun galt, etwas Neues zu
machen, generell zu überleben und die Familie zusammenzuhalten.
Noch im gleichen Jahr arbeitete Buske als Verwaltungsangestellter im Leip-
ziger Messeamt33 als Leiter der Abteilung Organisation und Verkehr. Zeitgleich
übernahm er die Leitung des Reisebüros des Messeamts. Ab 195234 war er der Or-
ganisationsleiter der DEWAG35-Reisebürozentrale in Berlin, nach deren Zusam-
menlegung mit dem Deutschen Reisebüro bekleidete Buske den Posten des stell-
vertretenden Direktors der Zentralen Leitung und übernahm dann zum 1. Februar
1955 die Bezirksleitung des Deutschen Reisebüros in Berlin. Am 13. Oktober 1956
wurde er für seinen Einsatz ‚in Anerkennung hervorragender Arbeitsergebnisse‘
mit der ‚Medaille für ausgezeichnete Leistungen im 5-Jahrsplan‘ geehrt. Damit
verbunden war eine Prämie in Höhe von 200 Mark. Buske wurde bescheinigt,
sich um die ‚Entwicklung des Deutschen Reiseverkehrs verdient gemacht [zu] ha-
ben‘.
Am 29. April 1960 wurde Buske auf eigenen Wunsch von der Funktion des Be-
zirksbeauftragten der Bezirksgeschäftsstelle Berlin entpflichtet und war fortan bis
1962 als ‚wissenschaftlicher Mitarbeiter auf dem Gebiet Schulung und Erwachse-
nenqualifizierung‘ für die Zentrale Leitung des Deutschen Reisebüros tätig.
Politisch gehörte er ab 1946 wieder der KPD an und vollzog im gleichen Jahr
den Übergang in die SED. Gewerkschaftlich war er nach 1945 im FDGB36 organi-
siert. Er war Mitglied der Betriebsparteiorganisation (BPO) des Messeamtes und
gehörte zeitweilig der dortigen Parteileitung an. Später gehörte er auch der BPO
im Deutschen Reisebüro an. Auch hier übernahm er verschiedene Funktionen.
Vom 3. Januar 1951 bis zum 30. Mai 1951 nahm Buske mit Erfolg am 5. Kurzlehrgang
33 Das Leipziger Messeamt existierte von 1916 bis 1991 und diente insbesondere der Förderung
der Leipziger Mustermessen, die zwei Mal im Jahr stattfanden.
34 Buske blieb – politisch ganz bewusst – in der 1949 gegründeten DDR.
35 DEWAG steht für die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft, eine staatliche Agentur
der DDR, verantwortlich für Werbung und öffentliche Informationstafeln sowie Plakate in
der gesamten DDR. Ein großer Teil der Aktivitäten ist dem Bereich der politischen, öko-
nomischen und kulturellen Agitation und Propaganda zu zuordnen.
36 FDGB lautet die Abkürzung für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, dem Dachver-
band von rund 15 Einzelgewerkschaften, der von 1945 bis zum September 1990 existierte.
Hans Buske – der letzte Verleger von Ferdinand Tönnies 291
37 Forst Zinna ist ein ehemaliges Militärgelände und gehört zum Stadtgebiet von Jüterbog in
Brandenburg. 1947 wurde hier die Deutsche Verwaltungs-Akademie eingerichtet, die an die-
sem Standort bis 1953 verblieb.
38 Gegründet 1947 und bis heute – wenngleich längst keine Massenorganisation mehr – exis-
tent.
292 Sebastian Klauke
Fotoauschnitt: Hans Buske mit Sohn und Vater; ohne Ort, ohne Jahr (ca. 1942). Privatbesitz
Peter Buske.
Hans Buske verstarb am 12. Juni 1962 in Berlin. Er wurde in Leipzig neben seiner
ersten Ehefrau beerdigt.
Buskes bleibendes Verdienst ist es, Ferdinand Tönnies zu einer Zeit verlegt zu
haben, in der dieser jegliche Hoffnung auf weitere Publikationen längst aufgege-
ben hatte. So wurde mit Geist der Neuzeit Tönnies’ großes Werk zur Geschichte
veröffentlicht und sein Hauptwerk erlebte eine achte Auflage.
Vom 9. April 1936 datiert ein letzter Brief39 von Buske an Tönnies, geschrieben
noch an dessen Sterbetag. Er verdeutlicht die tiefe Verbundenheit des Verlegers
mit seinem Autor und sei daher hier vollständig wiedergegeben.
Lassen Sie mich Ihnen hiermit sagen, wie sehr ich an Ihrem gesundheitlichen Befin-
den Anteil nehme. Ich wünsche von Herzen, daß sich Ihre Erkrankung bessert. Ihre
Frau Tochter hat mir berichtet, daß die Übersendung der Festschrift Ihnen eine Freu-
de bereitet hat. Darüber bin ich sehr glücklich. Ich darf Ihnen mitteilen, daß die
Nachfrage nach der Festschrift sehr rege ist. Es liegen schöne Bestellungen vor aus
Amerika, aus Asien und aus fast allen Ländern Europas. Das ist doch ein Beweis da-
für, wie groß die Verehrung für Sie und Ihr geistiges Werk in der ganzen Welt. Möge
Ihnen dieses Zeichen eine rechte Herzstärkung sein.
Wir alle, ich, meine Frau und sämtliche Mitarbeiter meines Verlages wünschen
Ihnen eine glückliche Überwindung Ihrer Krankheit.
Literatur
Die Familie blieb intakt, meine Mutter war eine gute Zuhörerin. Ihre Ethik
und Sprache waren geprägt durch ihre Herkunft aus einer alten Oldenburger Be-
amten- und Pastorenfamilie. Ihr Name ist Gertrud Janssen. Die weiter zurück-
liegenden Namen sind Mengers und Bücking, sowie Wardenburg. Dietrich Ernst
Wardenburg (1768 – 1842), mein Urahn, war Prediger in Blexen. Sein Name steht in
Goldenen Buchstaben auf der Empore seiner Kirche. Er wurde steckbrieflich von
Napoleon gesucht, im Verdacht, einen Aufstand geplant zu haben. Sein Bruder
Wilhelm Gustav Friedrich (1781 – 1838), war General und Kommandeur des Olden-
burger Corps, kämpfte auf russischer Seite gegen Napoleon. Wardenburgs Trup-
pen waren auch an der Völkerschlacht in Leipzig beteiligt. Er erhielt zwei Aus-
zeichnungen, den Pour-le-Mérite und den russischen St. Anna Orden.
Meine Mutter gebar mich an einem Sonntag, den 17. Mai 1925 in Hamm/West-
falen. Sie heiratete 1920 einen Migranten russischer Staatsbürgerschaft. Das gab in
der Familie meiner Mutter zunächst zu reden. Mein Vater, Gustav Schmidtchen,
stammte aus einer deutschen Familie, die den Werbeaufrufen der Zarin Kathari-
na gefolgt war. Als Webmeister waren sie begehrt. Mein Vater hatte das russische
Gymnasium besucht und schon früh hatte er eine leitende Funktion in der Tex-
tilindustrie. Seine Sprache war ein klassisches Bühnendeutsch mit russischem „r“.
Die militärische Dienstpflicht absolvierte er in einem Schützenregiment der zaris-
tischen Armee in Odessa. Der Mobilisierung 1914 entging er wegen einer Blind-
darm-Operation. Während des Genesundurlaubs wurde die Schlacht von Tannen-
berg geschlagen, und die deutschen Truppen drangen weit nach Osten. Mein Vater
fand sich unter einem deutschen Besatzungsregime. Das bot ihm die Möglichkeit
einer Arbeit im Deutschen Reich, als relativ freier Zivilinternierter, der sich ein-
mal die Woche bei der Polizei melden musste. Der Kreis der Bekannten, der Fa-
milie, auch Mitarbeiter und Firmenkunden erlebten ihn als eine Person von gros-
ser Festigkeit. Er versuchte in Allem die Vernunft walten zu lassen, was in Zeiten
hysterischer Diktatur nicht einfach und auch gefährlich war.
Meine Mutter litt an Nierensteinen. Nach einer Harnwegsoperation stellte sich
eine Sepsis ein, damals nicht beherrschbar. Sie starb schon 1940, mit 41 Jahren. In
der Nacht ihres Sterbens gab es wildes Flak-Feuer gegen englische Bomber, der
Himmel schien zu bersten, ein Trauergetöse. Nachdem meine Mutter ins Grab ge-
sunken war, sanken meine Schulzensuren.
Verdächtiger „Ahnenpass“
Jeder Einwohner Deutschland war gehalten, einen amtlich beglaubigten sogenann-
ten Ahnenpass vorzulegen, die Daten von Eltern und Grosseltern enthaltend. An-
fang der vierziger Jahre hiess man die Schüler, ihre Ahnenpässe mitzubringen. Die
Papiere wurden während der Unterrichtszeit in der Klasse besprochen. Als der
Klassenlehrer meinen Ahnenpass las, schreckte er auf. Meine Grossmutter väter-
Dies und Jenes aus dem Leben des Autors 299
licherseits war eine geborene Hirsch. Da ist ja ein jüdischer Einfluss in der Fami-
lie, so der Lehrer. „Jetzt verstehe ich, warum Du so undurchsichtlich bist.“ Diese
Wortschöpfung gefiel ihm so gut, dass er sie wiederholte: „Undurchsichtlich.“ Das
hörte sich an wie ein pädagogischer Offenbarungseid. In einer Diktatur nach dem
„Führerprinzip“ schrumpften alle pädagogischen Überlegungen. Der Lehrer un-
terrichtete Mathematik, was ihn nicht davor schützte, politisch verworren zu den-
ken. Heimlich aber war ich stolz auf diese Grossmutter und den russischen Vater.
Psychotherapeutin mit analytischer Schärfe. Wir haben das damals nicht so gese-
hen. Es dauerte noch fast ein halbes Jahrhundert bis posttraumatische Belastun-
gen zum Thema und kassenfähig wurden.
Burg Lede
Der Bruder meiner Mutter, Dr. Elimar Janssen und seine Frau Sittah, geb. Abel
wurden mir zu einem zweiten Zuhause. Ende der zwanziger Jahre zogen sie nach
New York. Er hatte eine Anstellung bei IG Farben. Sie studierte Kunstgeschichte
an der Columbia bei Erwin Panofsky. Sie kehrten 1934 nach Deutschland zurück.
Damals kursierte in der angelsächsischen Welt hier und da die Vorstellung, die-
ser Politclown Hitler könne sich nicht lange halten. In den Jahren nach 1945 leb-
ten die Janssens in Minden, dann in Kelkheim und schliesslich in Bonn, dem neu-
en politischen Zentrum. Sie fanden in Vilich eine besondere Wohnung, eine Etage
in der Burg Lede. Diese alte Wasserburg gehörte den Grafen Berghe von Trips.
Sie wurde zum Janssen Familientreffpunkt. Hier fand ich Verständnis und Rück-
halt, humorreichen Umgang mit Problemen und viele Beispiele klugen Denkens.
Sittah war eine gute Aquarellistin. Sie zeichnete und malte an Stelle von Fotos.
Als Beobachterin der Gegenstände um sie herum bestand sie auf beziehungsrei-
che Ordnungen. War sie pedantisch ? Nein sagte sie. „Ich bin viel schlimmer, ich
bin eine Ästhetin.“ Elimar war einfach friesisch, manchmal unangenehm schweig-
sam, dann aber mit blitzendem Humor dem Gespräch Tempo gebend. Bei einer
Zusammenkunft warnte ein amerikanischer Freund die Damen, geben sie acht,
„The old gamekeeper is coming“ (D. H. Lawrence). Elimar trat ein. Ich beobachtete,
dass die Damen unruhig wurden.
Ich will nicht darüber nachdenken, welchen Weg ich ohne Elimar und Sittah
gegangen wäre.
Orientierungssuche
In meinen akademischen Suchbewegungen waren Wissensdurst und zornige Un-
ruhe präsent, samt Lernschwierigkeiten. Die Erkundungen erstreckten sich über
die Fächer: Theologie, Psychologie und Philosophie. Die klassischen Wissenszu
gänge, die in der Diktatur vergessenen, gaben keine Antwort auf meine Kardinal-
frage: Wie konnte es geschehen, dass die Wähler eines kulturell angesehenen Lan-
des einer aggressiven Verbrecherbande zur Macht verhalfen, einer Partei, die sich
früh als organisierte Dummheit zu erkennen gab ?
minister) des Kantons Zürich erklärte mir die vorgesehene Ausstattung des Extra-
ordinariats: zwei Assistentenstellen und eine Sekretärin 50 %. Nicht nur deswegen
fiel mir die Entscheidung für Zürich leicht. Es waren Semesterferien. König sagte,
er werde das Dossier im Umlaufverfahren den anderen Gremien zuleiten. „Da
sind wir schneller als die Österreicher.“
Menschen antworten nicht nach dem Zufallsprinzip. Worin besteht die Struk-
tur ? Jede Vergegenständlichung, jede Vorstellung hat eine affektive Ladung. In ei-
ner Serie von Antworten in einer repräsentativen Umfrage sind also Gefühlswelten
verborgen. Deren Potential und Richtung kann durch Verfahren der Datenreduk-
tion ans Licht kommen. Ein Beispiel ist die multidimensionale Skalierung (MDS).
Ausgangspunkt ist eine Matrix von Ähnlichkeitsmassen von Testäusserungen. Die
Ähnlichkeiten werden nach Euclid in Strecken transformiert. Es ergibt sich zu-
nächst ein zweidimensionales Bild. Wenn die zweidimensionale Lösung zu viel
Zwängerei ausweist, wird eine dritte Dimension vorgeschlagen. Die Testäusserun-
gen (items) schwimmen jetzt wie Fische in einer Momentaufnahme eines Aqua-
riums. Ein Beispiel: Die Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltete 1983 den
Kongress über „Irrwege der Angst und Chancen der Vernunft. Mut zur Offenen
Gesellschaft.“ Angst und Hoffnung war der Titel meines Beitrags, auf der Basis ei-
ner empirischen Untersuchung im Auftrag der Stiftung.
Später erst fand ich, dass Benedictus de Spinoza die affektiven Zustände von
Furcht und Hoffnung um 1670 zum Thema seiner Kritik gemacht hat. „Weil (die
Menschen) … bei ihrem masslosen Streben nach ungewissen Glücksgütern kläg-
lich zwischen Furcht und Hoffnung schwanken, ist ihr Sinn in der Regel dazu ge-
neigt. alles Beliebige zu glauben.“ Furcht macht anfällig für Aberglaube. Dagegen
hilft Aufklärung, Freiheit des Philosophierens und sagen dürfen, was der Mensch
denkt. Für den Staat ergeben sich daraus keine Nachteile, im Gegenteil. In einem
Gemeinwesen mit diesen Freiheiten finden die Menschen zum normalen Gang
der Dinge zurück.
In der Untersuchung von 1983 wurden Vergegenständlichungen von Angst
und Hoffnung mit einem repräsentativen Querschnitt diskutiert. Die MDS-Ana-
lyse zeigte, dass Angst in drei thematischen Dimensionen entsteht: Im zwischen-
menschlichen, im Persönlichen und durch die Institutionen. Hoffnung ist eben-
falls dreidimensional fundiert: In der Persönlichkeitsstärke, in guten Institutionen
und im Ideellen. Die Erkenntnisse sind klar. Angst und Hoffnung korrelieren
nicht miteinander. Es kann Hoffnung in Verzweifelten Lagen geben und depres-
sive Ausblicke ohne rechte Gründe. „Angstfreiheit“ ist kein Programm, das auto
matisch zu mehr Hoffnung führt. Die Bilanz von Angst und Hoffnung ist ent-
scheidend, sie wird wesentlich durch die Qualität der von den Bürgern getragenen
Institutionen beeinflusst.
Zur Methode sagte Heinz Maier-Leibnitz: „Es ist ein objektives Verfahren.“ Es
zeigt Strukturen unabhängig von der Interpretationslust des Forschers. Aus zufäl-
lig wirkenden Einzelmeinungen ergeben sich solide Strukturen.
Kollegen in Ann Arbor, Michigan, die ich 1972 besuchte, hatten mich auf die
multidimensionale Skalierung aufmerksam gemacht. Wolfgang Otto, der System-
analytiker der meinem Lehrstuhl zugeordneten Sozialforschungsstelle, erhielt die
Dies und Jenes aus dem Leben des Autors 305
Pragmatik
Wissenschaft beginnt mit Unwissen. Wer nur etwas weiss oder nicht genau genug,
muss Wissen herstellen. Die Wahl der Verfahrensweisen beginnt. Zunächst sollte
die Ausgangsfrage präzisiert werden. „Warum sinkt die Arbeitsmoral ?“ könnte die
Frage des Personal-Vorstands lauten. Vielleicht sehen die Mitarbeitenden wenig
Sinn, sich mit dem Unternehmen zu identifizieren, bei gleichzeitig ausgeprägte-
rem Engagement für ihren Beruf. Die Ausgangsfrage wird in ein empirisches For-
schungsdesign übersetzt. Die Ergebnisse der Befragungen und/oder Beobachtun-
gen werden in Datenkonfigurationen übersetzt. Jetzt beginnt ein Dialog zwischen
Datenbasis und theoretischer Erwartung. Gelingt die Kongruenz nicht, sind neue
Versuche der Datentransformation notwendig oder eine Umformulierung der Er-
wartungen, eventuell der Testserie. Rudolph Meier bemerkte nach Lektüre eines
empirischen Textes: „Sie argumentieren mit den Zahlen.“ In der angewandten
Forschung müssen Ziele und Einflussgrössen benannt werden. Was muss man tun,
damit sich etwas ändert ? Änderungen wird man in Wahrscheinlichkeiten mes-
sen. Hier ist an Kant zu erinnern: calculus probabilium ist ein bestimmtes Urteil.
Die Teilnehmer an Märkten, die Repräsentanten der Politik sind froh, wenn sie
im harten Geschäft der Wahrscheinlichkeiten gut abschneiden. Für die Klienten
der angewandten Sozialpsychologie sind präzis begrenzte Theorien gefragt, die
zur Führung von Unternehmen und Institutionen beitragen können. Zwei Sätze
von Heisenberg lassen sich auf die Sozialforschung übertragen. Wissenschaftliche
Theorien sind Aussagen über den Ausgang von Experimenten. Und: Wissenschaft
ist eine Kombination von Philosophie und Handwerk.
In der Welt der Sozialwissenschaften werden zuweilen Ordinarien-Theorien
formuliert. Sie dienen der Organisation des Unterrichts, und kippen leicht um in
Dogmatik. Meistens handelt es sich um Gesamttheorien über kulturelle Tenden-
zen. Die Chef-Theorie wird dann in Seminaren und Abschlusstexten gebührend
gewürdigt. Das kann man mit schweizer Studentinnen und Studenten nicht ma-
chen. Geschult in direkter Demokratie verhalten sie sich pragmatisch und wählen
individuelle Themen, möglichst anwendbar.
Teilnehmer: GS: Gerhard Schmidtchen, IK: Isabel Kemna, SR: Sohn Ralph, CK:
Carsten Klingemann
CK: Herr Schmidtchen1, ich würde gerne mit der berühmten „Gruppenstudie“2
des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) beginnen, um dann die dorti-
ge Empirie- und Methodenausbildung anzusprechen, danach das Habilitations-
verfahren von Elisabeth Noelle-Neumann. Dabei geht es mir um die Rolle von
Diedrich Osmer, der meiner Meinung nach für Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer die Arbeit Korrektur gelesen hat. Es liegt ein DIN A 4-Blatt mit Kor-
rekturen und Vorschlägen vor, die eindeutig die Handschrift von Osmer tragen.
CK: Sie berichten in Ihrer Erinnerung, „Mein Weg zu Adorno“3, dass Sie und Gre-
tel Adorno (Margarete Karplus) an der IBM-Fachzählsortiermaschine im Keller
des neuen Institutsgebäudes gearbeitet haben. Könnten Sie vielleicht ein paar De-
1 Vgl. den Wikipedia-Artikel über Gerhard Schmidtchen. Seine Mitarbeit am IfS wird dort al-
lerdings nicht erwähnt (15. 02. 2017).
2 Vgl. Pollock, Friedrich. 1955. Gruppenexperiment: ein Studienbericht. Frankfurt am Main:
Europäische Verlags-Anstalt.
3 Schmidtchen, Gerhard. 2007. Der Gesang des Denkens. Mein Weg zu Adorno. In Adorno-
Portraits. Erinnerungen von Zeitgenossen, hrsg. Stefan Müller-Doohm. Frankfurt am Main:
Suhrkamp, S. 24 – 39. Gerhard Schmidtchen. 2017. Erinnerungen an Hermann Schweppen-
häuser. Der Freund. Die Botschaft. In Bild und Gedanke: Hermann Schweppenhäuser zum
Gedenken, hrsg. Gerhard Schweppenhäuser. Wiesbaden: Springer VS, S. 73 – 82.
tails erwähnen, denn damit saßen Sie ja im Herzen dieser auch international be-
kannten Studie ?
GS: Wir haben in einem langen Verfahren zunächst einmal in einer Gruppe alle in
einem Raum im alten Institut, in der Ruine, die Daten aufgenommen, also aus den
Diskussionsbeiträgen haben wir die Diskussionsprotokolle genommen und dann
jeweils dem Teilnehmer zugeordnet, sie wurden ja mit Namen angesprochen. Die
Äußerungen haben wir klassifiziert, ein Erfassungsschema entwickelt, ein inhalt-
liches und auch ein Erfassungsschema, das ein bisschen die Stimmung und die
Emotionalität mit berücksichtigt hat. So haben wir die Daten erfasst und damit
gewissermaßen zählbar gemacht. Aber damit hörte die Zählbarkeit auch schon
auf, denn, als wir den Datensatz hatten, haben wir gemerkt, das heißt, wir wuss-
ten das vorher, wie lückenhaft das Material ist. Ein Teilnehmer äußert sich zu den
Themen a, b, c, es wird aufgenommen, der nächste Teilnehmer zu x, y, z. Es hat
also nichts miteinander zu tun. Man kann nichts vergleichen, also man hat nie in
dieser Studie Korrelationen haben können zwischen dem, was die Leute an einer
Stelle zu einem Thema sagen, und das vergleichen mit dem, was sie zu einem an-
deren Thema sagen. Das heißt also, die Gleichheit der Datenlage für die einzelnen
Teilnehmer war überhaupt nicht gegeben, und damit scheitert natürlich im Grun-
de genommen eine quantitative Auswertung.
Und was uns am meisten fasziniert hat, war natürlich das Phänomenologische,
das heißt, wie tritt das Bewusstsein in Erscheinung bei diesen heiklen Themen, die
ja vorgegeben wurden durch den sogenannten „Grundreiz“. Dann kamen noch
ein paar andere Reize dazu während des Gesprächs. Da war mein hauptsächlicher
Eindruck der, dass die Menschen damals 1951, das war fünf bis sechs Jahre nach
dem Krieg, überhaupt noch nicht das Vokabular hatten, mit modernen Fragen
umzugehen. Die haben alles im alten Vokabular abgehandelt, „der Russe“, „die
Polen“. Sie haben alles in Stereotypen gesprochen, obwohl sie es vielleicht nicht
so ganz für sich durchgezogen haben. Dieses Sprachniveau ist natürlich erschre-
ckend gewesen für Menschen, die demokratische Kommunikation gewohnt sind.
Das waren die Studienleiter, die das auswerteten. Das war eben damals Bewusst-
seinszustand vieler. Die Idee von Horkheimer war eigentlich die methodische,
dass er Leute nicht über einen Kamm scheren lassen wollte. Dass sie nicht einem
Frageraster begegnen, in das sie sich einordnen sollen. Das hielt er für mensch-
lich nicht vertretbar, sondern vertretbar war, dass die Menschen sich frei äußern
können. Sie brauchen eine Situation dazu und Anreize natürlich auch. Das Be-
wusstsein sollte aus ihnen heraus sprechen. Das war seine Idee von Empirie und
Philosophie. Das heißt, im Grunde genommen ist diese Methode begrenzt, sie ist
entstanden aus einem philosophischen Idealismus heraus, es war also eine sehr
philosophische Studie. Adorno hat in seinen Beiträgen über „The Authoritarian
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 309
Personality“ das genauso gemacht. Ich habe die ganze Authoritarian Personality
mit dem Lexikon in der Hand durchgearbeitet, Zeile für Zeile, um einfach ein
Gefühl für diesen Zugang zu bekommen, und zwar eben auf Englisch, das war
ganz wesentlich. Ich hatte vorher Anglistik studiert, aber es war wesentlich für
die Vervollkommnung meiner englischen Wissenschaftssprache. Da konnte man
sehen, dass die Menschen ernst genommen werden, das heißt aber letztlich, sie
werden auch verantwortlich gemacht. Da können mich Menschen ernst nehmen
und nicht sagen, oh, aber Verantwortung habt ihr nicht, sondern die fußt auf den
Grundsätzen und den Denkbewegungen.
Insofern war das für uns ein wichtiger Ausgangspunkt für all das, was noch
kommt an rein quantitativer Untersuchung. Die wird ja meist in der Literatur
oder von Leuten, die das nicht richtig können, falsch dargestellt. Sie sagen, ja, das
sind dumme Fragen, mit Fragen kann man die Wirklichkeit doch gar nicht erfas-
sen, Umfrageergebnisse stimmen nicht. Ich habe damals meine Diplomarbeit über
die quantitative Erfassung von Gruppendiskussionsmaterial geschrieben4. Daran
habe ich mich abgearbeitet, und gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, man
müsste noch ganz anders vorgehen. Ich wollte immer das Ganze ins Auge fassen,
das heißt also, jeder spricht in vergleichbarer Weise zu jedem Thema, und dann
kann man anfangen, mit dem Material zu arbeiten. Mit dem Gruppendiskus
sionsmaterial kann man keine Skalierung machen, keine multidimensionale Ska-
lierung, die auf Ähnlichkeitskoeffizienten beruht.
CK: An welche Mitarbeiter können Sie sich noch erinnern, die in der einen oder
anderen Weise an der „Gruppenstudie“ mitgearbeitet haben ?
CK: Ralf Dahrendorf berichtet in seinen Erinnerungen, er sei für einen knappen
Monat auch am Institut gewesen. Adorno habe gesagt, bislang sei mit der Aus-
wertung ein „stupider Marktforschungstyp“ beauftragt, er hoffe, dass Dahrendorf
mehr daraus machen würde, dann könne man den Marktforscher entlassen.5 Ha-
ben Sie eine Erinnerung an den Auftritt von Dahrendorf ?
GS: Nein, nur daran, dass ich ihn mal auf den Fluren gesehen habe, also er war en
passant im Institut. Ich habe nicht gesehen oder erfahren, dass er irgendwas effek-
tiv gemacht hat an dieser Studie. Was Schweppenhäuser und mir auffiel, war sein
stark nach außen diffundierendes Selbstbewusstsein.
CK: Ludwig von Friedeburg hat sich mehrfach in kleineren Aufsätzen auch zur
Gruppenstudie geäußert, dabei berichtet er von einer Gruppe von sechs bis sie-
ben Studenten. Einer sei derjenige gewesen, der deren Arbeit koordiniert und an-
geleitet habe. Das müsste Diedrich Osmer gewesen sein, der noch gleichzeitig in
Frankfurt im Klaviergeschäft Kaiser in der Goethestraße gearbeitet hat.
GS: Osmer gehörte zu dem Team, das die Klassifizierung gemacht hat, nicht also
zum Verschlüsselungsteam. Es war noch jemand dabei, der nach Kanada ausge
wandert ist.
CK: Also Osmer leitete die Klassifizierungsgruppe. Hat es überhaupt eine strikte
formale Aufgabenverteilung gegeben ?
GS: Nein, überhaupt nicht, wir waren Gleichberechtigte, und wir diskutierten halt
die Fälle, ob das nun so oder so zu klassifizieren war. Wir haben uns die Äußerun-
gen vorgelesen, die sind zum Teil sehr lustig gewesen. Es hätte der Philosophie des
Instituts widersprochen, das so hierarchisch aufzubauen, obwohl es natürlich eine
Bewunderungshierarchie gab. Adorno war ganz oben, auch durch seine phantas-
tische Formulierungsfähigkeit.
CK: Der „Grundreiz“ war ja der Brief eines Besatzungsoffiziers. Können Sie sich
daran erinnern, wie dieser Grundreiz entwickelt wurde ?
GS: Nein, das weiß ich nicht. Der wurde vorgestellt als der Gedankengang oder
Brief eines Amerikaners.
CK: In der Literatur findet man den Hinweis auf Gerhard Wurzbacher, der zu dem
Zeitpunkt in Hamburg bei Helmut Schelsky Assistent war, aber ganz offensichtlich
auch einen guten Kontakt nach Frankfurt hatte. Er hat den Vorschlag gemacht,
nehmen wir einen fiktiven Brief. René König, mittlerweile in Köln, fand die Idee
nun ganz formidable, „ein kleines Kunstwerk“. Ich frage deswegen nach Wurz-
bacher, weil er tatsächlich jemand war, der bereits vor 1945 Erfahrung mit empi-
rischer Sozialforschung gemacht hatte und von daher auch so inspirativ wirken
konnte. Heinz Sauermann, zu der Zeit Dekan der Staats- und Wirtschaftswissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt, hat für die „Gruppenstudie“ auch
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 311
eine Rolle gespielt. Er hat den Vorschlag gemacht, dass man keine künstlichen
Gruppen bildet, sondern natürliche. Ist Ihnen Sauermann begegnet ?
GS: Wir haben ihn im Institut nicht erlebt, aber ich habe bei Sauermann studiert,
ich kannte ihn. Er hat seine allgemeine Theorie, die mathematisierte Nationalöko-
nomie vertreten.
CK: Sauermann ist ursprünglich Soziologe gewesen, aber dann mehr und mehr in
die theoretische Volkswirtschaftslehre abgewandert, wiewohl er nach wie vor Be-
ziehungen zur Soziologie gepflegt hat. Von ihm stammt einer der ersten Nach-
kriegsaufsätze über die gesellschaftliche Rolle der Sozialwissenschaften aus dem
Jahr 1949. Außerdem war er im selben Jahr der erste Austausch-Professor, der an
die Universität Chicago ging. Er war auch maßgeblich an der Rückkehr des In-
stituts für Sozialforschung beteiligt. Bei diesem Austauschprogramm spielte die
Sozialwissenschaft eine besondere Rolle, weil man sich von ihr eine Demokrati-
sierung der Gesellschaft erhoffte. In diesem Zusammenhang wird eine spezielle
Amerikanisierungstheorie vertreten, wonach die moderne empirische Soziologie
aus den USA importiert worden sein soll. Könnten Sie das kommentieren ?
GS: Wir haben schon gesehen, es gibt deutsche Soziologen, die geblieben sind,
also Leopold von Wiese zum Beispiel. Diese an den Universitäten noch tätigen
Soziologen fielen uns dadurch auf, dass sie merkwürdige Thesen aufstellten, also
die berühmte These von Wieses: Hinz und Kunz fragt man doch nicht, und gerade
das wollten wir. Wir fanden Hinz und Kunz hoch interessant. Das ist Forschungs-
gegenstand, wenn man die Menschen ernst nimmt in ihrer Einfachheit.
Das fiel mir übrigens nicht schwer. Ich bin in einer Hafengegend aufgewach-
sen. Die meisten Leute, mit denen ich als Kind zu tun hatte, waren Arbeiter, das
waren Schauerleute, das waren Lagerarbeiter, das waren holländische Schiffer, und
das waren Krahnführer. Das war was Interessantes, wenn die die Krähne bewegen
konnten. Ein Fenster unserer Wohnung war sozusagen am Wasser, man konnte
die vorbeilaufenden Krähne sehen, und die Krahnführer, die kannten mich na-
türlich, haben gewunken und haben mit dem Krahn manchmal ein Ballett auf-
geführt. Ich habe in den Werkstätten gearbeitet, es gab Schreinerwerkstätten, da
hat mir einer gezeigt, wie man eine Säge führt, damit sie nicht hakt. Ich habe gro-
ßen Respekt vor Hinz und Kunz. Das waren alles kluge Leute, die nur völlig an-
ders aufgebaute Fähigkeiten, nicht diesen Begriffsfirlefanz im Kopf gehabt haben,
aber rechtschaffene Leute waren. Von daher fiel es mir eigentlich sehr leicht, also
auch später als Interviewer bei Homeinterviews, mit denen ganz schnell in Kon-
takt zu kommen.
312 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
CK: Bei Leopold von Wiese ergibt sich eine ziemlich paradoxe Situation. Er war
ja einer der wenigen deutschen Soziologen, die vor 1933 so etwas wie empirische
Soziologie gemacht haben. Er ist mit seinem Seminar auf Halligen oder in Win-
zer- und Eifeldörfer gefahren, um dann ein, zwei Wochen lang vor Ort im theo-
retischen Rahmen seiner formalistischen Beziehungslehre qualitativ Daten zu er-
heben. Er war nicht vollkommen Empirie fern, nur, dass man in der quantitativen
Meinungsforschung Hinz und Kunz befragt und das auch noch bei Umfragen in
der Intimsphäre, das konnte er einfach nicht begreifen.
GS: Diese Methoden, die Sie jetzt schildern, das sind die berühmten Enquête-Me-
thoden. Da geht man in einen sozialen Zusammenhang hinein. Oder Max Weber
und die ostelbischen Landarbeiter, das war erlaubt, das war akademisch geneh-
migt, das konnte man machen. Aber was wir in Allensbach machten, das fanden
die ganz abscheulich, und wir fanden solche Äußerungen natürlich außerordent-
lich rückständig.
CK: René König gilt als Vorkämpfer der universitären Etablierung der empirischen
Sozialforschung nach amerikanischem Vorbild.
GS: Er ist eingestiegen in diesen Trend. Er sah, dass die Meinungsforschung er-
folgreich war, ließ sich nicht wegdiskutieren, ist vorangegangen und hat ein Me-
thodenbuch herausgegeben.
CK: Bei der „Gruppenstudie“ mussten eigene Wege gefunden werden, was sich
auch auf die Methodenausbildung in Frankfurt ausgewirkt hat. Dabei hat der Aus-
tausch zwischen dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Allens-
bacher Institut für Demoskopie eine wichtige Rolle gespielt. Diedrich Osmer war
das zentrale intellektuelle Verbindungsglied, aber auch Ludwig von Friedeburg
hat dabei eine spezifische Rolle gespielt. Sein erster wissenschaftlicher Standort
war die Universität Freiburg, an der er bei dem ehemaligen Wehrmachtspsycho-
logen Robert Heiss Psychologie studierte und diplomierte. Sein zweiter Standort
war das Institut für Demoskopie in Allensbach. Das IfD hatte eine Umfrage in der
Intimsphäre für eine Wochenzeitschrift durchgeführt. Auf der Basis dieses Mate-
rials schreibt von Friedeburg seine Doktorarbeit, „Die Umfrage als Instrument der
Sozialwissenschaften. Zur Methode und Verwendung der Umfrage unter beson-
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 313
GS: Ich habe mit Friedeburg zusammen in Allensbach gearbeitet, in einem Raum
sogar. Er hat Hörerforschung gemacht, und ich habe auch Teile davon geschrieben.
Er war forsch, auch in seinen Formulierungen, aber ein großer Formulierer war er
eigentlich nicht, aber er hat es handwerklich gut gemacht.
CK: Um diese Zeit gibt Elisabeth Noelle-Neumann ihren Plan auf, sich bei Adorno
zu habilitieren. Es gibt einen langen Brief aus dem Jahr 1963, in dem sie Horkhei-
mer rückblickend ihre Entscheidung erläutert. Sie verweist darauf, dass die Ein-
leitung zu ihrem in vielen Auflagen erschienen Buch, „Umfragen in der Massen-
gesellschaft“, auf einem Gedankengang des Entwurfs ihrer Habilitationsschrift
beruht. Horkheimer wie auch Adorno hatten wohl die Habilitationsschrift in
Händen. Es gibt aber ein DIN A 4-Blatt mit Korrekturvorschlägen und Verbes-
serungen bezogen auf diesen Text, allerdings in der Handschrift von Diedrich Os-
mer. Er hatte in der Zeit davor „Elisabeth“ immer wieder brieflich gefragt, was die
Arbeit mache, und ihr auch konkret vorgeschlagen, wie sie diese – quasi in Klau-
sur – am besten zu einem Abschluss bringen könnte. Das ist ihr offensichtlich ge-
lungen. Aber in ihren „Erinnerungen“ heißt es, sie habe den Frankfurtern vor-
geschlagen, Ludwig von Friedeburg an ihrer Stelle zu habilitieren. So ist es dann ja
auch geschehen. Weiß man darüber Genaueres ?
GS: Die Gesamtsicht des Instituts behagte ihr irgendwie nicht. Das Einführungs-
kapitel zu dem Buch „Umfragen“ hat sie mir vorgelegt. Da war ich noch ganz neu
in Allensbach. Dann habe ich es gelesen und es schlicht und einfach auseinander-
genommen. Sie hatte Begriffe von Einzahlbereich und Mehrzahlbereich, das war
verschwommen. Es gibt in der philosophischen Logik viel klarere Definitionen
über Begriff und Zahl. Sie hat das zum Anlass genommen, das ganze Kapitel um-
zuschreiben. Seither hatte sie das Gefühl, dass meine philosophische Ausbildung
6 Das Typoskript der Dissertation trägt das Datum 1952. Es umfasst 206 Seiten. Als Buch ist es
1953 bei Enke in Stuttgart im Umfang von 95 Seiten ohne den Methodenteil erschienen.
314 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
etwas Besonderes sei, um mit Problemen zu handeln. Ich habe das Buch mit ver-
folgt, sie hat sehr viele Dinge aus meiner praktischen Arbeit zitiert.
Ich komme da oft vor, das sind zum Teil Arbeiten gewesen, die wir ausge
tauscht haben im Zusammenhang mit einem sogenannten Methodenausschuss
der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der tagte meistens in Frankfurt. Die
haben sich beschäftigt mit dem Interview, was das Interview eigentlich ist. Die
sind von der Idee eines Kommunikationskonzeptes gar nicht weggekommen. Das
ist aber im Grunde genommen keine praktikable Antwort auf die Frage, was ist
ein Interview ? Ich hatte da ganz andere Vorstellungen, die sind auch in mehreren
Aufsätzen dokumentiert.
CK: Elisabeth Noelle-Neumann und Helmut Schelsky, der die herkömmliche Mei-
nungsforschung allerdings heftig kritisierte.
SR: Kannst Du Dich an die Paten für die Aufnahme in die DGS erinnern ?
GS: Ich erinnere mich an viele Sitzungen im Institut für Sozialforschung. Es ging
ganz konzentriert um Umfrageforschung, Interviews, und es wurde erwogen, wie
man eine Interviewtheorie bauen könnte. Ich habe mir das alles angehört und
habe meine eigene Theorie gehabt, aber habe sie dort nicht geäußert, weil ich
dachte, das publizieren wir erst mal. Die Tatsache, dass ein Methodenausschuss
für Elisabeth Noelle so interessant war, zeugt davon, dass sie überhaupt die Demo-
skopie auf ein wissenschaftliches Niveau anheben wollte. Das war eigentlich im-
mer ihr durchgehendes Anliegen, das war der Cantus Firmus.
Dazu gehört natürlich, in verschiedenen Bereichen anständige Umfragen zu
machen, die Stichproben müssen stimmen. Das zweite ist, das Interview muss so
formuliert werden, dass man das Bewusstsein anregt, aber auch trifft in der For-
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 315
skalieren. Wenn man die beiden Skalen zusammenführt, kriegt man eine, und die
ist hoch indikativ für die persönliche Verfassung, für Lebensmut. Also nur ein
Beispiel für einen relativ einfachen Index, aber den muss man sich natürlich auch
erst mal ausdenken.
Einen Index „Arbeitsmoral“ habe ich in den Drägerwerken-Untersuchungen
entworfen. Das war eine bedeutende Untersuchung, da bin ich in die Drägerwer-
ke gefahren, und dann haben die mich überall herumgeführt. Worin besteht die
Industrie, die besteht in der Herstellung von Teilen, und die Teile müssen zusam-
mengesetzt werden, zum Beispiel, wenn man Atemventile machen will wie Dräger.
Als ich zum ersten Mal in den Betrieb kam, sah ich nur die Menschen von hinten,
gebückt über eine Drehbank, zehn Jahre später sehe ich überhaupt keine Dreh-
bank mehr, mit einer Ausnahme, sondern die großen Cincinnati-Automaten, wie
Türme, einer nach dem anderen. Man sieht keine Arbeiter, und die Kühlemulsion
läuft über die Teile, und die Maschinen arbeiten automatisch. Wenn sie mit einem
Arbeitsgang fertig ist, bleibt die Maschine plötzlich stehen, die Emulsion fließt
nicht mehr. Die Maschine greift sich ein anderes Werkzeug, bringt es her und ar-
beitet mit dem anderen neuen Werkzeug weiter, also völlig automatisiert. Ich sehe
keinen Arbeiter, plötzlich sehe ich da einen ganz großen stolzen Mann, ein Nord-
deutscher, die sagen ja nicht viel, er machte nur so, und das heißt, was willst Du
hier ? Ich habe nur mit Kurzsätzen geantwortet. Ich will was fragen. Ja, was ? Woher
kommst Du ? Ja, ich komme von der Universität Zürich. Ich will was fragen. Ja, leg’
mal los, was hast Du denn da ? Und dann hat er auch Kartenspiele durchgesehen,
eine Karte angesehen, da stand drauf, was braucht man im Beruf ? Da stand drauf,
Fleiß ? Nee, sagt er, „brook wie nich“ und guckt auf die Maschinen. Die Maschi-
nen sind fleißig. Daraus habe ich eine ganze Theorie des Wertewandels entwickelt,
wie sich die Technik auf die Arbeitsmoral auswirkt: „Neue Technik, neue Arbeits-
moral“ ist der Titel des daraus entstandenen Bandes.
Man muss, um wirklich etwas erfahren zu können, natürlich schon mit einem
Instrumentarium ausgestattet sein, aber man muss auch reingehen in die Situa
tion. Ich habe mir damals einen Blaumann angezogen, bin nicht mit Schlips und
Kragen da aufgetaucht. Das hat funktioniert, das war einfach ein Türöffner. Wenn
man eine Serie von Reaktionen von Testäußerungen in einem experimentell kon-
zipierten Interview hat, dann kann man Verfahren einsetzen wie Multi Dimen-
sional Scaling und findet neue Skalen. Damit darf man sich nicht begnügen, son-
dern diese Testitems nehmen, daraus eine Skala machen und dann testen gegen
die theoretischen Erwartungen, die man hat. Wenn das durchgelaufen ist, hat man
eine neue Theorie der Verhältnisse, also ganz dicht an der Beweisbarkeit. Das ist
mein Methodenkonzept, Theorie und Empirie sind ganz eng miteinander verbun-
den. Das heißt natürlich nicht, dass die Theorie sich beschränkt auf aktuelle The-
men irgendeiner Umfrage, sondern man wird immer versuchen, allgemeine Re-
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 317
geln abzuleiten. Was ist das Zentrum der Person, zum Beispiel was heißt „ich“.
Kann man alles messen und zwar in einem Bevölkerungsquerschnitt ? Wenn man
diese Zusammenhänge sieht, weiß man, ob die Annahmen über die Funktions-
weise des Persönlichkeitssystems stimmen oder nicht. Ich habe Untersuchungen
über Selbstschädigung gemacht. Das war ursprünglich für die Bundeswehr ge-
dacht wegen der vielen Selbstmorde. Dabei habe ich festgestellt, dass die Voraus-
setzung dieser Selbstmordhäufigkeit nicht stimmt, dass es immer Ausschläge gibt
bei besonderen Ereignissen. Seit Durkheim weiß man, wenn Weltausstellungen
stattfinden, gibt es mehr Selbstmorde. Auch bei der Baader-Meinhof-Geschichte
gab es mehr Selbstmorde in der Bundeswehr. Ich sagte, das ebnet sich wieder ein,
genauso war es. Da sagten die, naja, das brauchen wir nicht mehr auszuschreiben,
das Projekt kriegen Sie, denn Sie haben die Voraussetzungen bereits im Vorfeld
geklärt. Das ist ein kleiner Band geworden über Selbstschädigung und die Ten-
denz zum Selbstmord, die Tendenz überhaupt zum destruktiven Verhalten.
Das geht schon sehr in die zentrale Motivation, was man mit einer repräsenta-
tiven Umfrage machen kann. Das hat natürlich mit einfacher Meinungsforschung,
wie viele Leute glauben oder wissen, sehr wenig zu tun. Es ist etwas ganz anderes,
menschliches Verhalten durch Datenkonfiguration zu erklären. Man muss wirk-
lich in den Kohlenkeller gehen und die Daten wirklich auch erheben. Es ist sehr
teuer und sehr schwer. Mein Sohn sagte mal, ja du arbeitest eben nicht top down,
sondern bottom up.
SR: Diese induktive angelsächsische Denkrichtung, die deine Arbeit auch geprägt
hat, trotz der philosophischen Ausbildung, obwohl du beides miteinander kombi
niert hast, das ist eigentlich das angelsächsische Denken.
GS: Man geht ja nicht vorgefasst in ein Feld, also nicht mit vorgefassten Theo-
rien, mit Vorwissen ja. Wenn man wirklich menschliches Verhalten erklären will,
dann geht man methodisch in diesen Etagen vor. Es gibt zwei Möglichkeiten, ent-
weder man hat, wie Adorno sagt, eine Idee, so oder so könnte es sein. Danach
konstruiert man die Untersuchung, um festzustellen, ob das so ist. Es geht auch
umgekehrt, dass man im Zuge einer komplexeren Forschung auf unerwartete Da-
tenstrukturen trifft, dann muss man neu darüber nachdenken. Unerwartet heißt,
wenn man es theoretisch nicht erwartet, gibt das dann Anlass zur Bildung bezie-
hungsweise zur Revision von theoretischen Erwartungen. Der frühere Leiter der
Schleyer-Stiftung, Friedhelm Hilterhaus, sagte mal, bei Ihnen muss man aufpas-
sen, was Sie in Nebensätzen sagen, da stecken die Theorien. Ich bereite den Boden
vor, hier ist substantielles Datenmaterial, und dann kann man beiläufig auch noch
sagen, wie das einzuordnen ist. Damit verkauft man natürlich keine Theorien, das
ist der Nachteil. Aber es gibt Beispiele, wie Theorien entstanden sind. Eine solche
318 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
Theorie ist die Ambivalenz-Theorie, die ich ziemlich ausführlich entwickelt habe.
Das ist eine Entscheidungstheorie. Menschen tendieren dazu, Dinge einzuteilen
in angenehm und unangenehm, in Nähe und Ferne, in gefährlich und nicht ge-
fährlich. Wenn man einfach nur Nähe und Ferne nimmt, reicht das schon völlig
aus, um Gegenstände zu klassifizieren: Der ist nah, der ist fern. Wenn man nun
einen Gegenstand hat und fragt, welche Eigenschaften hat dieses Objekt, wenn
man zehn Eigenschaften testet, davon sind fünf positiv und fünf negativ, dann ist
man entscheidungsunfähig. So habe ich das in der religionssoziologischen For-
schung angewendet. Wenn man die Kirche klassifiziert nach positiven und nega-
tiven Eigenschaften, dann bleibt in der Mitte eine große ambivalente Gruppe. Was
tut der Mensch in der Ambivalenz ? Er kann sich nicht so richtig entscheiden für
das eine oder andere. Es gibt wechselnde Interaktionen, mal geht man zur Kirche,
mal nicht. Man hat das Gefühl, das könnte stimmen, oder damit kann ich ein-
verstanden sein, damit nicht. Ambivalenz ist auch in der Parteienforschung ei-
gentlich immer ein Durchgangsstadium für Umorientierung. Wenn die Zahl der
Ambivalenten steigt, dann wird es politisch kippelig, aber komischerweise macht
kein Institut von diesem Wissen Gebrauch. Ich kenne keine entsprechende Unter-
suchung. Auch die Parteienforscher, die dick auftreten, wagen sich nicht daran.
Das kommt denen zu kompliziert vor, aber es ist das Einfachste von der Welt, so
orientieren sich Menschen wie jedes Lebewesen, Annäherung und Flucht. So ist
der Mensch gebaut, er muss ja einen robusten Mechanismus haben, mit dem er
sich orientiert in der Welt. Wenn alles zu kompliziert wird, dann versucht man die
Einordnung eindeutig zu machen, und wenn nicht, dann muss man eben in die-
sem ambivalenten Zustand bleiben.
CK: Ich wollte nochmal auf diese ganz profane Forschung kommen, wie sie Er-
win K. Scheuch gepflegt hat. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen Scheuch
und Noelle-Neumann über Wahlprognosen, da hat es richtig gekracht, auch im
Methodenausschuss. Haben Sie daran teilgehabt ?
GS: Scheuch ist einfach sehr frech gewesen. Das hat er bei René König gelernt.
CK: Es gibt diese Geschichte, man wollte, aus dem Exil zurückgekehrt, die Zeit-
schrift für Sozialforschung, die ja eindeutig marxistisch orientiert war, vergessen
machen. Es habe noch einige Exemplare in einem berüchtigten Karton unten im
Keller gegeben. Da durfte aber keiner hin, Horkheimer habe sich symbolisch im-
mer davorgestellt und gesagt, die rührt mir keiner an.
GS: Das kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass Horkheimer immer eine gewisse Vor-
sicht hegte, wenn es darum ging, in welche Schublade wird man gesteckt. Es gab ei-
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 319
nige Schubladen, die mochte er überhaupt nicht, die passten auch nicht zu ihm, er
hatte ja ein ganz anderes Bild. Adorno auch, also von Gesellschaft, von Entwicklung
der Gesellschaft. Das hatte mit dem Historischen Materialismus nun überhaupt
nichts zu tun, sondern das war stete Beweglichkeit, nichts für gegeben nehmen.
Das entspricht Adornos These der Dauerreflektion vom Gegebenen, das Gegebene
ist das Bewegliche. Die Vergegenständlichung von Gesellschaft sieht in der Theorie
völlig anders aus, als die beinharten Marxisten das wollten, und ganz anders, als die
Terroristen, die dann anfingen Kaufhäuser anzuzünden, sich dachten.
CK: Eine Nachfrage, in den frühen Nummern der Zeitschrift für Sozialforschung
sind ja die programmatischen Aufsätze von Horkheimer zu finden, was denn Kri-
tische Theorie sein soll. Hat man sich in Ihrer Zeit, als Sie vor Ort waren, dafür in-
teressiert ?
GS: Vielleicht über Horkheimer in gewisser Weise. Er hat mir ein Exemplar seines
Buches, „Eclipse of Reason“, in die Hand gedrückt. Das hat er selbst als sein Ver-
mächtnis betrachtet. Und die praktische Forschungsarbeit schlug sich ja zum Teil
nieder in broschürenartigen Berichten. Horkheimer machte ab und zu kleine Ple-
narsitzungen mit Institutsmitarbeitern. Da saßen wir in seinem Zimmer an der
Senckenberg-Anlage, er sprach, diskutierte mit Mitarbeitern und sagte, wir ma-
chen natürlich Forschung und griff einen dieser Berichte und bemerkte, aber zu-
halten muss man sie. Es gibt unleserliches Zeug. Er fand es grässlich, was diese
Statistikmüller so hervorbrachten.
Für meinen wissenschaftlichen Werdegang war Horkheimer sehr wichtig. 1944
habe ich mich zum ersten Mal an einer Universität eingeschrieben, allerdings für
Medizin. Mein nicht stattgefunden habendes Abitur wurde anerkannt. Aber die
Folge war, dass mir zwei Jahre Gymnasium eigentlich fehlten, dafür zwei Jahre Mi-
litär, wo ja geistig nichts stattfand. Ich kam mir vor wie der letzte Ungebildete an
einer Universität. Ich wollte immer zur Universität, dachte, das wäre meine Um-
gebung, aber ich kam mir grässlich rückständig vor. Deswegen habe ich begierig
alles aufgegriffen, was mich interessierte. Mein Vater sagte immer, mach’ Betriebs-
wirtschaft, da kannst du Wirtschaftsprüfer werden, das ist ein anständiger Beruf.
Recht hat er gehabt, aber ich habe das nicht gemacht, vielmehr mich für Philoso-
phie interessiert. Da wird Gesellschaft als Spezialgebiet ausgeklammert. Nun hat
die Begegnung mit Horkheimer diese Richtung auf den Kopf gestellt, da ist Gesell-
schaft von Anfang an dabei.
CK: Nun kommt aber René König und sagt, was da in Frankfurt gemacht wird, ist
gar keine Soziologie, das ist Sozialphilosophie, das war ja sein Kampfbegriff. Er
propagierte bekanntlich Soziologie, die nichts als Soziologie ist, das ist seine an-
320 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
GS: Ja, ja, das ist überhaupt ein Motiv, das Wissenschaftler versuchen, ein Podest
für sich zu finden, wo Wissenschaftler allein darauf stehen.
SR: Ich wollte noch zurückkommen auf eine Äußerung, die du vorher getan hast
über Horkheimer, wonach er sich nicht habe einordnen lassen in Schubladen.
Welche Schubladen haben ihm denn nicht gepasst ?
GS: Generell die Schublade der Diskriminierung, dass sie als Juden anders behan-
delt werden; nicht dass er verschwiegen hat, dass er ein Jude ist. Peter von Hasel-
berg berichtete, er habe einen Vortrag miterlebt, den Horkheimer in Bonn vor
Politikern und Wirtschaftlern hielt. Er hat den Vortrag begonnen mit den Wor-
ten: Ich bin ein Jude. Haselberg sagte, die Gesellschaft erstarrte fast. Horkheimer
wusste, warum er das sagte. Er wusste um die deutschen Schuldgefühle. Adorno
hat sich ja sehr mit Schuld und Abwehr beschäftigt, das war eines der Forschungs-
themen. Horkheimer wollte auch nicht in diese ganz linke primitive Marxismus-
Schublade gesteckt werden. Der nicht organisierte und nicht militärisch gestützte
Marxismus wäre schon längst in der freien Diskussion marginalisiert worden. Sol-
che Schubladen passten ihm überhaupt nicht, wie etwa die Emigrantenschublade.
Die Menschenfeindlichkeit einer solchen Entwicklung hat er ganz früh gespürt in
seiner Untersuchung über die Familie in den zwanziger Jahren. Das war für ihn
der Ausgangspunkt zu sagen, wir können nicht in diesem Land bleiben. Er sagte,
so viele Juden sind gestorben, nur deswegen, weil sie sich nicht von ihrem Hab
und Gut trennen wollten oder von ihrer Umgebung, sie hätten radikal sofort weg-
gehen müssen.
GS: Das hat er gesagt in einem Vortrag im Institut für Sozialforschung im Zuge
seiner Vorlesungen.
SR: Hat sich Horkheimer auch mal über seinen Aufenthalt in Amerika, über die
amerikanische Kultur oder über die aktuellen Beziehungen zu den Amerikanern
geäußert. Ich meine, die mussten ja auch mit den Amerikanern zusammenarbei-
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 321
ten, und das war nicht konfliktfrei, auch wenn sie den Amerikanern viel zu ver-
danken hatten, sie arbeiteten ja auch mit der alliierten Hohen Kommission, als
Besatzungsmacht zusammen. Kannst du dich an Äußerungen Horkheimers über
diese Beziehung erinnern ?
GS: Nein, eigentlich nicht. Man weiß nur aus ihren Tätigkeiten und aus ihrem Ver-
halten heraus, dass sie die Amerikaner schon allein deswegen schätzten, weil sie
aufgenommen worden sind als Flüchtlinge, mit Schwierigkeiten. Ich glaube, wenn
der Felix Weil nicht dahinter gewesen wäre, wäre es denen erst sehr schlecht ge-
gangen. Das kommt wiederum dialektisch zum Ausdruck in der Tatsache, dass
sie in Amerika die Studien über Faschismus gemacht haben. Die These war, wenn
es so etwas gibt, wenn das gesellschaftlich begründet ist, dann gibt es das überall,
auch in Amerika können wir das studieren. „The Authoritarian Personality“ ist ja
auch auf der Basis einer Studie gemacht worden von den Verhältnissen in Ame-
rika, das ist das Faszinierende dabei. Sie haben im Gegenzug geschätzt, ja es ist
eine ganz freie Gesellschaft, und man kann als Forscher von dieser Freiheit Ge-
brauch machen und nicht sagen, wir sind allesamt demokratische Engel in Ame-
rika, sind wir nicht.
CK: Es gab eine relativ dogmatische Position, dass man sagte, der Faschismus ist
die zwangsläufige Folge des Kapitalismus in der Krise. Die Faschisten retten den
Kapitalismus auf ihre Art und Weise, und das ist ein globales Phänomen.
GS: Ich glaube nicht, dass sie diese Doomsday-Philosophie hatten. Horkheimer ist
noch eine Etage höher gegangen in seiner „Eclipse of Reason“. Die Vernunft, die
aufgeklärte Gesellschaft, kann sich wegen der Zwänge der technischen Organisa-
tion durchaus wieder geistig verdunkeln. Das bedeutet, vernünftig sein, der Ge-
brauch der Vernunft, in einer Gesellschaft geschieht nicht rein durch Kommuni-
kation, sondern das muss organisiert sein, es muss Institutionen geben, die das
Handeln schützen. Wenn wir zum Beispiel in der Weimarer Republik bessere Ver-
fassungsgesetze gehabt hätten zum Schutz der Verfassung, dann hätte man die
Nazis schon in einem Frühstadium verbieten können. Ich meine, die bayerische
Bereitschaftspolizei war schon ganz gut, aber die haben nicht lange genug geschos-
sen, ein paar Minuten mehr wäre gut gewesen, dann wäre Hitler auch krepiert.
CK: Ich würde Sie gerne fragen, wie Sie die Max Weber-Rezeption nach 1945 ein-
schätzen. Sie haben sich ja in Ihrer Habilitationsschrift mit Webers These über
die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus auseinandergesetzt. War
Max Weber bis zum Heidelberger Soziologentag 1964, dem sogenannten Weber-
Kongress, wirklich ein in Westdeutschland weitgehend Unbekannter ?
322 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
GS: Schon vor dieser Max Weber-Renaissance war er mir ganz gut bekannt, sonst
wäre ich nicht auf die Idee gekommen, mal die empirischen Daten mit seinen
Thesen zu vergleichen. Ich bin eingestiegen in die Interpretation der Weberschen
Schriften, aber ich habe mich nicht mit der Tradition der Rezeption von Max
Weber beschäftigt. Ich habe nichts gefunden, was meine Thesen hätte stützen kön-
nen.
GS: Ich habe mich natürlich auch umgeschaut, ob jemand erklären kann, dass
die lutherischen Protestanten sich ganz ähnlich verhielten, wie man es von Max
Webers These her annehmen würde. Aber er hat gerade gesagt, die haben doch
ein mystisches Gottvertrauen, die sind schlampert, die schließen nicht mal Le-
bensversicherungen ab. Er hatte von den lutherischen Protestanten überhaupt gar
nicht dieses Bild, das er von den Zwinglianern und hauptsächlich Calvinisten ent-
worfen hat. Der Calvinismus ist schon eine strenge und radikale Religion, die sich
zunächst in Genf als terroristisch bemerkbar machte. Da ist ja eine Moralpolizei
nichts dagegen. Aber wesentlich scheinen mir die kirchlichen Impulse oder Bil-
der für die gesamte Lebensorganisation der Menschen, für deren Lebensdisziplin.
Das Modell ist wirklich von Genf aus über die Niederlande exportiert worden. Für
mich ist Amerika das Ergebnis eines exportierten Calvinismus, das ist angewand-
ter Calvinismus. Man muss bestimmte Ordnungen haben und auch bestimmte
Kontrollen, damit es den Menschen gut geht. Unter Kontrolle verstand man nicht,
dass man den Einzelnen kontrollieren muss. Die amerikanische Verfassung be-
ruht ja auf Schriften, die die Hauptüberlegung enthielten, wie kontrolliere ich die
Herrschenden. Also andersrum, das war „Sinister Majority“, eine Überlegung, die
ganz andersrum lief, sowohl was die pragmatische Lebensführung angeht als auch
das politische System, dass keiner denken soll, er ist der König und bleibt es.
CK: Die Venia legendi haben Sie für welches Fach oder Fachgebiet beantragt ?
GS: Ach, das war ganz lustig. Ich habe Soziologie und Sozialpsychologie beantragt,
und dann gehe ich die Zürichbergstrasse hoch, das ist in der Nähe der Univer-
sität, und entgegen kommt mir der damalige Dekan Wilhelm Keller, der Psycho-
loge und Philosoph. Er sagt, gut, dass ich Sie treffe, wir haben gerade eine Fakul-
tätssitzung. Sie haben Soziologie und Sozialpsychologie beantragt. Haben Sie was
dagegen, wenn wir das umdrehen, Sozialpsychologie und Soziologie ? Ja, hören
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 323
Sie gut zu, da gibt es demnächst Veränderungen. Es ist besser, wir drehen das um.
Ich sagte, ich bin einverstanden. Seitdem bin ich Psychologe, ich habe nie Psycho-
logie studiert.
GS: In der Kommission saßen Rudolf Meyer, Konrad Widmer, der Pädagoge, und
ganz zum Schluss war der Heintz noch berufen worden.
GS: Er hat die Schrift gelesen, und er muss sie voller Abscheu gelesen haben, denn
Keller sagte mir, er hat so einige Epetita ornata ausgestrichen. – Im Laufe der Zeit
konnte ich aufgrund großer Datensätze nachweisen, dass man mit wenigen de-
mographischen Daten vorhersagen kann, was jemand wählt. Mehr und mehr sah
man aber, dass die Meinungsströme durch soziale Determinanten, wie etwa Reli-
gionszugehörigkeit, hindurchgehen. Das heißt, die Meinung emanzipiert sich von
den ideologischen Voraussetzungen.
GS: Die evangelischen und katholischen Theologen haben das sehr geschätzt.
Zum Teil haben sie meine Untersuchungen kommentiert. Lothar Roos, einer der
führenden katholischen Theologen in Bonn, sprach sogar davon, ich hätte gerade-
zu prophetische Fähigkeiten. Aber ein Prophet ist ja nicht jemand, der vorhersagt,
sondern jemand, der in die Gesellschaft hineinspricht, und insofern stimmt es
ja gar nicht. Inzwischen hat meine Habilitationsschrift auch eine Art von Rezep
tionsgeschichte. Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat sich ge-
nau auf das Feld gesetzt. Er hält einen Vortrag. Ich sitze im Saal, und plötzlich höre
ich meine Texte. Er sieht sich selber als den Inbegriff der protestantischen Persön-
lichkeit. Ich habe hingegen auch von der Nachtseite des Protestanten gesprochen,
also mehr Suizid, mehr psychische Probleme. Ich hatte aber nur die Daten, die se-
kundär anfielen. Er hat ein paar Daten mehr gesammelt, nichts Besonderes, aber
hat genau das vorgetragen mit dem Titel die „Nachtseite des Protestantismus“. Er
hat mich nicht einmal erwähnt. Ich hatte geschrieben, dass die Betonung der di-
rekten Gottesbeziehung, damit auch die Akzeptanz des Laienpriestertums, prak-
tisch auf eine Abschaffung der Kirche hinausläuft. Nachdem die Protestanten die
Kirche abgeschafft haben, seitdem bauen sie sich Ersatzkirchen mit Ideologien.
Graf hatte gesagt, seitdem die Protestanten den Papst abgeschafft haben, suchen
sie sich Ersatzpäpste. Das ist auch eine Art von Plagiat, diese Grundfigur des Den-
324 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
kens. Er ist da genau in meine Spur geraten und dachte sich, das ist 35 Jahre her,
dass der das publiziert hat.
Es gab in Erlangen einen Professor Georg Merz, einen Theologen. Es geht auf
ihn zurück, dass ich dort den Ehrendoktor bekommen habe für Theologie und
zwar mit der Begründung der Bedeutung meines Lebenswerkes für die praktische
Theologie. Ich habe ja die Kirchenuntersuchung gemacht, die große Synoden
untersuchung, Priesteruntersuchung, die evangelische Untersuchung, Gottes-
dienst in einer rationellen Welt. Das wurde sehr geschätzt, ich war sehr über-
rascht, insbesondere war die Fakultät überrascht. Eine philosophische Fakultät
mit Philosophen natürlich und Literaturwissenschaftlern, die gaben den Ton an,
dann die große Reihe der Pädagogen, außerdem noch Musik und dann die So-
ziologen. Man hatte immer das Gefühl, die gehören eigentlich gar nicht so richtig
dazu, nicht zu diesem erlesenen Kreis von Wissenschaftlern, die sich eben nur mit
Buchstaben beschäftigt haben und nicht mit Zahlen. Und jetzt hat der Dekan be-
kannt gegeben, ich hätte einen Ehrendoktor bekommen im Fach Theologie. Dar
aufhin ging eine unglaubliche Bewegung durch die Fakultät, weil sie es gar nicht
zusammenbringen konnten. Der Dekan sagte, also ich finde das fabelhaft, das ist
eine Sprache, die die Fakultät versteht.
IK: Das ist bis heute so geblieben, das ist das „D.“ vor deinem Doktortitel, mit dem
keiner was anfangen kann.
GS: Das ist eine alte Form des lutherischen Ehrendoktors an einer der ältesten
theologischen Fakultäten. Mit der Sicht Max Webers auf die Lutheraner Protes-
tanten hatte ich mich ja auch intensiv befasst. Ich hatte eine Idee von Webers Pro-
testantismus-Theorie, mit der lief ich schon lange rum, und in Allensbach hatten
wir sehr viel einschlägiges Material. Wir machten eine Untersuchung über Geld
und Geldverhaltensweisen. Zusammengefasst skaliert, habe ich gesehen, dass
die Protestanten auf der Skala „Haushaltsrationalität“ viel höher sind als die Ka-
tholiken. Das wäre doch eine Bestätigung von Max Weber. Ich habe die Leiden-
schaft gehabt, in Antiquariaten herumzustöbern. In Konstanz war ein Antiquarier,
der stattete die Universität aus, der kriegte Bücher mehrfach, aber die Univer-
sität braucht nur ein Exemplar. Die doppelten Ausgaben habe ich mir angeguckt
und die großen Max Weber-Bände geholt. Ergänzend habe ich noch die Aufsätze
herangezogen. Ich stellte fest, dass Weber die lutherischen Protestanten von seiner
Analyse ausgeschlossen hat. Die sind anders, er hat den Typus des Calvinisten her
ausgearbeitet und den Übergang zum Pietismus, restriktiv in der Lebensführung
und expansiv im Unternehmertum, in der Investition. So hat er die Kapitalakku-
mulation erklärt. Es war ein relativ langer Weg. Ich hatte eine Vorstellung von die-
ser Theorie mit diesem Befund. Es war ein einziger Befund, der mich veranlasste,
Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen 325
das Ganze zu untersuchen. Das Institut für Demoskopie in Allensbach hatte, wie
gesagt, ein großes Archiv, das ich nach Fragen durchforstet habe, die zeigen, wie
Protestanten und Katholiken sich unterscheiden. Kann man natürlich nicht so
pauschal nehmen, der soziologische Hintergrund der Protestanten war eben an-
ders als der der Katholiken in Deutschland. Nun stand ich vor der These, wieso
die webersche Diagnose auch auf den Lutheraner zutrifft, obwohl er das gar nicht
so meinte. Dafür habe ich eigentlich die ganze Studie gemacht und eine eigene
Theorie entwickelt, die da heißt, Protestanten sind unbehaust und leben in einem
offenen System mit allen Vor- und Nachteilen. Aus dieser Unbehaustheit wächst
einerseits die Organisation der Lebensführung, also Disziplinierung der Lebens-
führung, andererseits Persönlichkeitsaufgabe. Ein Katholik, der in Schwierigkei-
ten kommt, weiß, er bleibt Katholik, er bleibt in Gottes Gnade, er braucht nur in
die Kirche zu gehen, das reicht schon. Oder überhaupt, weil er als Katholik die
Kommunion erhalten hat. Das existentielle Heimatgefühl, das ist bei Katholiken
viel ausgeprägter. Das zeigt sich ganz eindeutig, wenn man untersucht, wo gibt es
Persönlichkeitsstörungen zum Negativen hin.
GS: Ja, das kommt dann zu solchen Indikatoren, also einerseits Höhenflüge und
andererseits die Tendenz zur Selbstaufgabe. Mein Anwalt in Zürich, der hatte sehr
viele arabische Klienten, und eines Tages, durch irgendwelche Währungsentschei-
dungen, haben die ihre Investitionen in der Schweiz zurückgezogen. Er hat prak-
tisch keine Aufträge mehr gehabt, in kürzester Zeit konnte er sein Personal nicht
mehr bezahlen und fiel dadurch auf, dass er einsam ein paar Tage durch die Wäl-
der lief. Dann hat er sich erschossen, er hatte Familie, er hatte Kinder, hatte An-
gestellte, ist einfach ausgestiegen. In der Schweiz ist die Selbstmordrate sehr hoch.
Ein Herr Krug von der schweizerischen Bundesverwaltung hatte in der Schublade
eine Privatsammlung über besondere Fälle. Ich habe ihn besucht, wir konnten die
Daten nach Alter und Geschlecht sortieren. Es kam heraus, dass mit zunehmen-
dem Alter, also wenn man Alter als Belastungsindex nimmt, ein linearer Anstieg
der Selbstmordrate in der Schweiz zu beobachten ist.
CK: Die berühmte Studie, „Die Arbeitslosen von Marienthal“, ist vom Verlag für
Demoskopie im Jahr 1960 wieder neu aufgelegt worden. Marie Jahoda und Paul F.
Lazarsfeld sind dabei die beiden bekanntesten Protagonisten. Es gibt dazu einen
Briefwechsel aus dem Ende der sechziger Jahre. Ich bin aber nicht in der Lage her
auszufinden, wie der erste Kontakt zwischen Erich Peter Neumann und Elisabeth
Noelle mit Paul F. Lazarsfeld zustande gekommen ist. Haben Sie von dieser An-
gelegenheit erfahren ?
326 Gespräch mit Professor D. Dr. Gerhard Schmidtchen
GS: Nein, ich kenne nur die späteren Kontakte mit Lazarsfeld. Ich habe ihn in
Amerika an der Columbia besucht. Er hatte später einen Kongress in der Zentral-
schweiz. Wir haben ihn in Viznau am Vierwaldstätter See getroffen und sind mit
der Bahn auf den Rigi gefahren. Er war sehr einfallsreich, auch was Methoden an-
ging. Er hat immer das Gefühl gehabt, alles was er sich ausdenkt, wird weggetragen.
Schließlich sagte er, also entweder werde ich nicht verstanden, oder ich werde be-
stohlen. Ich glaube, Lazarsfeld spielte in Allensbach immer schon eine Rolle, weil
er wichtige methodische Texte veröffentlicht hatte, die wir auch beachtet haben.
SR: Meines Wissens kommt der allererste Berührungspunkt mit Lazarsfeld schon
in der Dissertation meiner Großtante vor, da wird er zitiert als Quelle. Meine Fra-
ge, wir haben nie über eine Freundin gesprochen, die Elisabeth ein Leben lang
hatte, Imogen Seger. Sie hat am selben Ort gearbeitet wie Lazarsfeld, und ich habe
in der Korrespondenz gesehen, dass der Kontakt zu ihm zum Teil über Imogen Se-
ger gelaufen ist. Sie und meine Großtante hatten sich im Arbeitsdienst während
des Nationalsozialismus kennengelernt und sind ein Leben lang befreundet ge-
blieben. Sie war viele Jahre in Amerika tätig. Dann ist sie nach Deutschland zu-
rückgekommen. Sie war auch schon sehr früh in Allensbach. Ich glaube, sie war
wichtig beim Einfädeln der ersten Kontakte zu Lazarsfeld. Sie hat „Knaurs Buch
der modernen Soziologie“ geschrieben, das, versehen mit einem Geleitwort von
Robert K. Merton, in sehr hohen Auflagen erschienen ist, sowie andere Fachbü-
cher auf Deutsch und Englisch, die ebenfalls hohe Auflagen erreichten.
GS: Sie war eine eindrückliche Erscheinung, sie hatte so ein bisschen rötlich blon-
des Haar. Sie kam fast immer wie Jugendstil gekleidet. Es gab damals die Reform-
kleider für Frauen, so Säcke, die herunterhingen, das galt als modern. Es gibt ja
einige Darstellungen von Frauen von Malern des Jugendstils. Sie war ganz einfach
angezogen, eine auffallend große Erscheinung.
GS: Ja, mehrfach getroffen. Sie hat auch Texte von mir gelesen, zum Beispiel die
erste Synodenuntersuchung. Da sagte sie, ach, was machen denn die amerikani
schen Religionssoziologen angesichts deiner Korrelation. Ich hatte einen sehr ho-
hen Korrelationskoeffizienten zwischen Wertorientierung und Verhältnis zu Kir-
che, 0.8, das sind schon fast Identitätszusammenhänge.
CK: Ich bedanke mich für Ihre uneingeschränkte Bereitschaft, Auskunft zu geben,
für unser schönes Gespräch sowie für Ihre und Frau Kemnas großzügige Gast-
freundschaft.
Überleitungstext vom Grunewald-Interview
zu meiner Vorlesung (1989) über
die Persönlichkeitstheorie in
der „Negativen Dialektik“
1951 bis Ende 1953 arbeitete ich am Institut für Sozialforschung bei Theodor W.
Adorno, als Stipendiat. Zum Team gehörte ich, das die „Gruppenstudie“ prak-
tisch begleitete und dann auswertete. Wir sahen Adorno oft, zeitweise täglich,
und ebenso Gretel Adorno, die in sanfter Präsenz mitwirkte und die Arbeit in
spirierte. Wann immer möglich besuchten wir Adornos Vorlesungen. Wir wollen
erleben, wie er dachte. Gretel Adorno war immer anwesend, mit einem Tonband-
gerät nahm sie seine Vorlesungen auf. Er sprach über neue, noch nicht gehörte
Themen. Öfter sass ich neben ihr: Sie sagte zu mir: „Er spricht druckfertig.“ Seine
Vorlesungen hatten nichts Lineares, waren ohne aufzählbare Gliederung. Seine
Gedankenführung war sinfonisch, in einer Art Ouvertüre klangen Themen an,
die noch kommen würden. Während des Vortrags überlagerten sich die Themen,
Hauptargumente traten in den Hintergrund, um nach Erläuterungen machtvoll
hervorzutreten. Für den Zuhörer waren seine Vorlesungen ein Abenteuer, man
hielt sich an den Grenzen des Verstehens auf. Nach einer Vorlesung trat Adorno
an mich heran und sagte: „Es ist mir wichtig, dass Sie in die Vorlesung kommen.“
Als ich 1966 die bei Suhrkamp erschienene Negative Dialektik zur Hand nahm,
kam mir Vieles vertraut vor, ich las Sätze, die ich gleichsam noch im Ohr hatte.
Mehrfach besuchte ich nach meiner Stipendiatenzeit das Institut für Sozial-
forschung, auch um meinen Freund Hermann Schweppenhäuser zu sehen. Bei ei-
ner Gelegenheit traf ich Adorno – ich arbeitete schon in Allensbach. Er fragte, ob
ich nicht bei ihm promovieren wolle, und sagte „Sie gehören doch zu uns.“ Im Fe-
bruar 1967 besuchte ich Adorno zum letzten Mal, mit der Negativen Dialektik in
der Hand. Er schrieb mir die Widmung in das Buch: „Für Gerhard Schmidtchen,
herzlichst von seinem alten Theodor W. Adorno“.
Vertrautheit und immer erneute Faszination waren im Spiel, als ich 1989 eine
Vorlesung über das Menschenbild der Sozialpsychologie an der Universität Zü-
rich vorbereitete.
Darüber kann man nicht reden, ohne sich mit der Negativen Dialektik aus-
einanderzusetzen.
Auf den folgenden Seiten ist der Text der Vorlesung wiedergegeben. Eine Ge-
samtgliederung ist angefügt.
Die Vorlesung über das Menschenbild habe ich im Wintersemester 2001/2002
im Rahmen der Eric Voegelin Gastprofessur an der LMU München gehalten, er-
gänzt um das Kapitel „Das Rätsel der Gewalt“.
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C. Klingemann und P.-U. Merz-Benz (Hrsg.), Jahrbuch für 329
Soziologiegeschichte 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30782-0_17
330 Programm der Vorlesung „Das Menschenbild der Sozialpsychologie“
Programm der Vorlesung „Das Menschenbild der Sozialpsychologie“ 331
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Soziologiegeschichte 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30782-0_18
334 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 335
336 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 337
338 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 339
340 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 341
342 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 343
344 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 345
346 Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“
Gesellschaftskritische Sicht, zu Theodor W. Adornos „Negativer Dialektik“ 347
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