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Gedächtnis

und
Erinnerung.
Ein interdisziplinäres
Handbuch

Christian Gudehus
Ariane Eichenberg
Harald Welzer
(Hrsg.)
Herausgegeben von
Christian Gudehus,
Ariane Eichenberg und
Gedächtnis
Harald Welzer und
Erinnerung
Ein interdisziplinäres
Handbuch

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Die Herausgeber
Christian Gudehus, promovierter Sozialwissen-
schaftler, ist wissenschaftlicher Geschäftsführer
des Center for Interdisciplinary Memory
Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in
Essen.
Ariane Eichenberg, Promotion 2003, ist Redak-
teurin der Zeitschrift »Erziehungskunst« und
Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart.
Harald Welzer ist Professor für Sozialpsychologie
an der Universität Witten-Herdecke und
Direktor des Center for Interdisciplinary
Memory Research am Kulturwissenschaftlichen
Institut in Essen.

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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
ISBN 978-3-476-02259-2 und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010
ISBN 978-3-476-00344-7 (eBook)
www.metzlerverlag.de
DOI 10.1007/978-3-476-00344-7 info@metzlerverlag.de

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V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 5. Architektur . . . . . . . . . . . . . . . 156


6. Archive und Bibliotheken . . . . . . . 165
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate 7. Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . 1 8. Denkmale und Gedenkstätten . . . . 177
9. Erinnerungsorte . . . . . . . . . . . . 184
10. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . 189
I. Grundlagen des Erinnerns 11. Printmedien und Radio . . . . . . . . 196
1. Neuroanatomische und neurofunktio- 12. Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
nelle Grundlagen von Gedächtnis . . 11 13. Film und Fernsehen . . . . . . . . . . 217
2. Zur Psychologie des Erinnerns . . . . 22 14. Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . 227
3. Die Entwicklung des autobio- 15. Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
graphischen Gedächtnisses . . . . . . 45 16. Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
4. Das Gedächtnis im Alter . . . . . . . 54
5. Psychoanalyse als Erinnerungs-
forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 64
IV. Forschungsgebiete
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
II. Was ist Gedächtnis/ 1. Geschichtswissenschaft . . . . . . . . 249
2. Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . 261
Erinnerung? 3. Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . 276
1. Das autobiographische Gedächtnis . 75 4. Literaturwissenschaft . . . . . . . . . 288
2. Das kollektive Gedächtnis . . . . . . 85 5. Biographieforschung . . . . . . . . . 299
3. Das kulturelle Gedächtnis . . . . . . 93 6. Tradierungsforschung . . . . . . . . . 312
4. Das kommunikative Gedächtnis . . . 102 7. Geschlechterforschung . . . . . . . . 319
5. Das soziale Gedächtnis . . . . . . . . 109 8. Generationenforschung . . . . . . . . 327
6. Das Politische des Gedächtnisses . . 115
V. Anhang
III. Medien des Erinnerns
1. Auswahlbibliographie . . . . . . . . . 337
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 338
1. Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . 346
2. Gedächtniskünste . . . . . . . . . . . 136 4. Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . 348
3. Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Personenregister . . . . . . . . . . . . 359
4. Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . 149
VII

Vorwort

Was ist Gedächtnis? heraus. Gesellschaftspolitisch relevant für das In-


Das System zur Aufnahme, zur Aufbewahrung und teresse an Gedächtnis und Erinnerung sind die
zum Abruf jeder Art von Informationen (z. B. Daten,
historischen Transformationsprozesse, die mit
Fähigkeiten, Emotionen)
der Auflösung der Sowjetunion in Gang gesetzt
Was ist Erinnerung? wurden. Sehr unterschiedliche nationale Ge-
Der Abrufvorgang dieser Informationen dächtnisse formulieren sich seitdem, stehen ein-
ander entgegen – und sollen doch zusammenge-
Das Gedächtnis schließt unsere menschliche hören, wie das Beispiel Ost- und Westdeutsch-
Existenz zu einer Einheit zusammen. Ohne die land zeigt –, so dass eine Beschäftigung mit dem
Fähigkeit zu erinnern, würde das Wissen von uns Gedächtnis unabdingbar ist. Eng verzahnt hier-
selbst und der Welt in unzusammenhängende mit ist die Wende in der Geschichtswissenschaft,
Einzelheiten auseinanderfallen. Eine Vergegen- in der nicht mehr nur noch das scheinbar unver-
wärtigung des Vergangenen für eine Orientie- änderbare Faktum im Forschungsmittelpunkt
rung in der Gegenwart und eine Gestaltung der steht, sondern dieses als Konstrukt aus der jewei-
Zukunft, wäre ohne Gedächtnis und Erinnerung ligen Perspektive begriffen werden kann.
nicht möglich. Das Gedächtnis als basales Organ Doch nicht zuletzt tragen die Neurowissen-
und die Erinnerung als zentrale Fähigkeit stehen schaften entscheidend dazu bei, dass sich das
somit seit Jahrtausenden im Fokus des menschli- Wissen um das Gedächtnis und die Erinnerung
chen Interesses. enorm erweitert hat. Durch die sogenannten
Seit inzwischen rund drei Jahrzehnten aller- bildgebenden Verfahren ist es möglich geworden,
dings ist dieses Interesse sprunghaft gestiegen das menschliche Gehirn während des Lernens
und hat eine Fülle unterschiedlichster For- und Erinnerns abzubilden und somit zu einer
schungsansätze und Fragestellungen hervorge- differenzierten Darstellung unterschiedlicher
bracht. Das Thema ›Gedächtnis und Erinnerung‹ Gedächtnissysteme zu kommen. Allein beschrei-
berührt seitdem nicht nur sämtliche kultur- und ben lassen die Gedächtnisinhalte sich mit den
naturwissenschaftlichen Disziplinen, politische neurowissenschaftlichen Verfahren nicht. Das
und öffentliche Debatten, sondern wirkt bis in Gedächtnis bildet sich im Laufe des Lebens ent-
den Alltagsdiskurs hinein. Die Gründe für diese sprechend seiner sozialen Erfahrungen, seiner
gesamtkulturelle Präsenz sind vielfältig und auf Einbettung in bestimmte Umwelt- und Lebens-
mehreren Ebenen zu suchen. Ein Aspekt ist, dass zusammenhänge fortwährend um und schafft
in modernen Gesellschaften Lebensläufe nicht damit immer neue neuronale Verknüpfungen.
mehr linear, auf generationellen und traditionel- Gehirn und Gedächtnis wie Erinnerung sind also
len Konzepten fußend, verlaufen. Sie sind hoch- immer in Interaktion mit der jeweiligen Umwelt
riskant, von Brüchen gekennzeichnet, so dass im weitesten Sinne zu denken.
eine fortwährende Vergewisserung der Vergan- Will man Gedächtnis und Erinnerung verste-
genheit erforderlich ist. Zugleich evozieren die hen, so liegt es in der Sache, die verschiedenen
demographischen Verschiebungen einen wach- Disziplinen und Konzepte zu verbinden: Ge-
senden Blick auf die Vergangenheit; krankhafte dächtnis und Erinnerung sind ein interdiszipli-
und altersbedingte Gedächtnisstörungen fordern näres Phänomen. – Das Handbuch bietet eine
nicht nur die medizinische Forschung, sondern Einführung in die Gedächtnis- und Erinnerungs-
auch die Gesundheitspolitik zu neuen Konzepten forschung. Von den neurologischen und psycho-
VIII Vorwort

logischen Grundlagen ausgehend, werden die wirken. Die inflationär und oft unscharf verwen-
vielfältigen Formen des Gedächtnisses vorge- deten Begriffe wie kulturelles, kommunikatives,
stellt, seine verschiedenen medialen Repräsenta- kollektives Gedächtnis werden in diesem Kapitel
tionsmöglichkeiten untersucht sowie einzelne so noch einmal einer Revision unterzogen und
Forschungsdisziplinen und -konzepte gesondert gegeneinander deutlich abgegrenzt.
dargestellt. Das dritte Kapitel »Medien des Erinnerns«
Das erste Kapitel »Grundlagen des Erinnerns« spannt einen großen entwicklungsgeschichtli-
fokussiert auf die organische und psychische chen Bogen. Es reicht von den frühesten Reprä-
Verfasstheit des Gedächtnisses sowie seine Ent- sentationsmöglichkeiten des Gedächtnisses wie
wicklung und Rückbildung. Aus neurowissen- Ritualen, Bildern und Schrift über Archive, Bi-
schaftlicher Perspektive werden die verschiede- bliotheken, Literatur, Architektur, Museen, Foto-
nen Gedächtnissysteme und ihre jeweiligen grafie und Film bis hin zu den neuesten medialen
Verarbeitungsstufen erläutert, Störungen der Ge- Vermittlungsinstanzen den Produkten und dem
dächtnisfunktionen und der Zusammenhang Internet. Hier wird vor allem nach der Geschichte
neuronaler Plastizität und Psychopathologie an des jeweiligen Mediums, seiner Zuordnung wie
Beispielen herausgearbeitet. Aus psychologischer Leistung gefragt.
Sicht wird die Erinnerungsfähigkeit – das Wie Das vierte und abschließende Kapitel »For-
und Warum des Erinnerns – in den Mittelpunkt schungsgebiete« nimmt eine gewisse Sonderstel-
gerückt. Neben der Geschichte der Gedächtnis- lung ein. Es greift verschiedene Forschungsge-
psychologie und ihren Methoden, wird das biete und Disziplinen noch einmal auf, die den
Vergessen als zentrale Instanz gegenüber dem Fragen nach Gedächtnis und Erinnerung inner-
Erinnern untersucht, um dann Gedächtnis, Er- halb ihres Faches eine zentrale Stellung einräu-
innern und Vergessen in den unterschiedlichsten men, wie die Philosophie, Literaturwissenschaft,
psychischen Funktionsbereichen erläutern zu Soziologie, aber auch Geschichtswissenschaft,
können. Daran schließen die Entwicklung des Geschlechter- und Genderforschung. Zugleich
autobiographischen Gedächtnisses durch sprach- enthält das Kapitel Beiträge, die nicht einer Dis-
liche Kommunikation in frühester Kindheit und ziplin zuzuordnen sind, die sich der Methoden
der natürlichen wie krankheitsbedingten Rück- und Theorien unterschiedlicher Fächer bedie-
bildung des Gedächtnisses im Alter an. Das Kapi- nen, die aber gedächtnisrelevante Gegenstände
tel endet mit psychoanalytischen Konzepten, untersuchen: die Biographieforschung und Tra-
dem Blick auf das unbewusste Wissen des Ge- dierungsforschung. Im Grunde sind es gerade
dächtnisses. letztere, die dem interdisziplinären Anspruch am
Das zweite Kapitel »Was ist Gedächtnis/Erin- meisten Genüge tun. Dieser im Titel des Buches
nerung?« stellt die Formen des Gedächtnisses aus formulierte Anspruch realisiert sich über die the-
geistes- und kulturwissenschaftlicher Sicht dar. matische und disziplinäre Breite der Einführung,
Es beginnt beim Individuum mit dem autobio- deren Zielgruppe vor allem Lehrende und Stu-
graphischen Gedächtnis, reicht über das kollek- dierende verschiedenster Fachrichtungen sind.
tive, kulturelle, kommunikative und soziale Ge- Sie sollen über die weit über eine Disziplin hin-
dächtnis ganzer Gruppen bis hin zum Politischen ausgehende Beschäftigung mit Phänomenen von
des Gedächtnisses von Nationen. Deutlich wird Gedächtnis und Erinnerung informiert werden.
hieran, dass zwar das Individuum Träger des Ge- Die vorgestellten Konzepte, Theorien, For-
dächtnisses ist, dass es rezipiert, umarbeitet und schungsrichtungen und Disziplinen sind ledig-
fortwährend das Wahrgenommene aktualisiert, lich eine Auswahl aus einem noch erheblich wei-
dass es aber als Teil verschiedener Kollektive in ter gestreuten und sich ständig erweiternden
soziale Prozesse eingebunden ist, die eigenen Ge- Feld, das sehr allgemein mit Gedächtnisfor-
setzmäßigkeiten folgen und in ihrer Vergangen- schung beschrieben werden kann. Um diese Un-
heitsrepräsentation auf das Individuum zurück- zulänglich jeden Druckerzeugnisses gegenüber
Vorwort IX

dem Internet, das die Möglichkeit ständiger Kor- tend für unsere Kollegen am Kulturwissenschaft-
rektur und Erweiterung bietet, auszugleichen, lichen Institut danken wir seinem Direktor Claus
findet sich im Anhang ein Verzeichnis, das auf Leggewie für die in jeder Hinsicht außergewöhn-
weitere Ressourcen zum Thema verweist. lich erfreulichen Arbeitsbedingungen.
Wir danken herzlich Ute Hechtfischer und
Franziska Remeika vom Verlag J. B. Metzler für Essen/Stuttgart, Dezember 2009
die gute Zusammenarbeit und das äußerst genaue
Lektorat, sowie all denjenigen, die Texte schrie- Christian Gudehus, Ariane Eichenberg,
ben, recherchierten und übersetzten. Stellvertre- Harald Welzer
1

Erinnerung und Gedächtnis.


Desiderate und Perspektiven

Die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung hat rung der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung
über die letzten drei Jahrzehnte eine beispiellose als ›normal science‹ an. Dazu gehört selbstver-
Konjunktur erlebt, wobei besonders bemerkens- ständlich auch die Publikation eines Handbuchs,
wert ist, dass dieser Befund für beide Kulturen das den Stand der Dinge zu repräsentieren und
der Scientific Community gilt: Sowohl die kultur- zusammenzufassen sucht. Die hier versammelten
wie die naturwissenschaftliche Gedächtnisfor- Beiträge stehen für den aktuellen Stand der The-
schung verzeichnet in diesem Zeitraum rasante oriebildung und der Forschung vor allem in der
Fortschritte; in den Kultur-, Sozial- und Geistes- kulturwissenschaftlichen Erinnerungs- und Ge-
wissenschaften stehen vor allem die Gedächtnis- dächtnisforschung. Jedoch bleiben gerade in der
praktiken im Zentrum empirischer Untersuchun- Zusammenschau noch einige Fragen offen, die
gen und theoretischer Konzeptualisierungen und im Folgenden vor allem im Hinblick darauf dis-
in den Neurowissenschaften die Gedächtnisfunk- kutiert werden sollen, welche weiteren Entwick-
tionen und ihre neuronalen und hirnanatomi- lungs- und Forschungsperspektiven sich der Er-
schen Korrelate. In Untersuchungen zur Onto- innerungs- und Gedächtnisforschung in Zukunft
genese des menschlichen Gedächtnisses sind eröffnen (sollten).
Perspektiven und Methoden aus beiden Wissen- In der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
schaftskulturen zusammengeführt worden. Ge- forschung ist inzwischen, besonders durch die
dächtnis und Erinnerung sind transdisziplinäre Arbeiten von Jan und Aleida Assmann, ein be-
Forschungsgegenstände par excellence, finden friedigender Zustand in systematischer und be-
doch alle hirnorganisch angelegten Entwick- grifflicher Hinsicht erreicht; insbesondere die
lungsschritte der humanspezifischen Formen des Differenzierung von kulturellem und kommu-
Gedächtnisses unter kulturellen Formatierungen nikativem Gedächtnis hat sich sowohl unter
statt. Dieser zentrale Befund hat nicht nur zu ei- theoretischen wie unter forschungspraktischen
ner Fülle interdisziplinärer Forschungsprojekte Gesichtspunkten als ausgesprochen hilfreich er-
(etwa ›Strukturen der Erinnerung‹ an der Ruhr- wiesen (s. Kap. II.2, II.3). Innerhalb der Subdiffe-
Universität Bochum; ›Das soziale Gehirn‹ an der renzierungen – also etwa hinsichtlich eines ›sozi-
Universität Heidelberg) geführt, sondern auch zu alen‹, ›familialen‹, ›Alltags-Gedächtnisses‹ oder
der Etablierung einer in vielen Teilbereichen sich in Bezug auf Formen von Gedächtnis, wie sie in
mit der Gedächtnisforschung überlappenden ›so- Routinen und im Habitus wirksam sind, besteht
cial neuroscience‹. Ein weiterer prosperierender auch in der Gegenwart noch einiger Klärungsbe-
Bereich liegt im Bereich der alterspezifischen Ge- darf. Dasselbe gilt für den Umstand, dass das
dächtnisforschung und hier insbesondere im Zu- menschliche Gedächtnis in erheblichem Ausmaß
sammenhang mit Demenzerkrankungen (s. Kap. nicht innerhalb des individuellen Gehirns orga-
I.4). Das Erscheinen von anerkannten Zeitschrif- nisiert ist, sondern außerhalb. Das individuelle
ten (Memory bzw. Memory Studies in allgemeiner Gedächtnis ist in vielerlei Hinsicht nicht ein Spei-
Perspektive sowie ein Fülle spezialistischer Jour- cherorgan, sondern ein Interface von Erinnerun-
nals vor allem aus dem medizinischen Bereich) gen, ein Umstand, der für künftige Forschungen
sowie von einschlägigen Buchreihen (wie der von sicher von erheblicher Tragweite ist. Unter empi-
Erll/Nünning herausgegebenen Reihe ›Media and rischen Gesichtspunkten ist gewiss auch von Be-
Cultural Memory‹) zeigt – folgt man dem klassi- deutung, dass die Forschung zur Rezeption erin-
schen Modell von Thomas S. Kuhn – die Etablie- nerungskultureller Angebote einstweilen defizi-
2 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven

tär ist. Das gilt auch für komparative Forschungen episodische, das spezifische Ereignisse behält und
zu Erinnerungskulturen und spezifischen Erin- schließlich das autobiographische, das einen
nerungsphänomenen. Ein eklatant vernachläs- Raum-Zeit-Bezug, ein entwickeltes Selbstkon-
sigter Aspekt von Erinnerung und Gedächtnis ist zept und eine emotionale Codierung voraussetzt
generell deren prospektive Seite: der epistemische (s. Kap. I.1, II.1). Andere Lebewesen und selbst
Bezugspunkt allen Erinnerns ist die Zukunft; die nicht-menschliche Primaten erreichen offenbar
evolutionäre Funktion des Gedächtnisses ist nur die semantische Ebene, und da es manchmal
Überlebenssicherung in sich verändernden Um- unklar ist, ob sie nicht doch mehr erinnern,
welten. Daher ist die Kategorie ›Vergangenheit‹ spricht die Forschung hier etwas hilflos von ›epi-
für die Theorie und Empirie von Erinnerung und sodic-like memory‹.
Gedächtnis in Zukunft vielleicht weniger wichtig Autobiographisches Gedächtnis entwickelt
als die Kategorie ›Zukunft‹. Damit wird die fol- sich etwa mit dem dritten Lebensjahr eines Kin-
gende Übersicht schließen. des, und es dauert bis zum Ende der Adoleszenz,
bis es sich vollständig entfaltet – was man unter
anderem daran ablesen kann, dass Menschen erst
Engramme und Exogramme
zu diesem Zeitpunkt eine Lebensgeschichte er-
Zunächst: Alle Lebewesen haben ein Gedächtnis; zählen können, die den sozialen Anforderungen
einer der berühmtesten Gedächtnisforscher, der an diesen Typ von Geschichte entspricht und
mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Biologe Eric durch ein hinreichendes Maß an Linearität und
Kandel, hat die grundlegenden Zusammenhänge Kohärenz zusammengehalten wird. Das verweist
der neuronalen Bedingungen des Gedächtnisses schon auf den eminent sozialen und kulturellen
an einer Meeresschnecke untersucht und zeigen Charakter des autobiographischen Gedächtnis-
können, dass auch bei diesem mit einem extrem systems. Wie es phylogenetisch zum Entstehen
einfachen neuronalen System ausgestatteten Tier dieses Gedächtnissystems gekommen ist, ist un-
Umwelterfahrungen in seine synaptische Ver- geklärt, aber die Fähigkeit, sich bewusst und
schaltungsarchitektur übersetzt werden. Ge- selbstbezogen, autonoetisch, erinnern zu kön-
dächtnis ist auf dieser Ebene nichts anderes als nen, ist Ergebnis einer komplexen phylo- und on-
die Integration eines erfahrenen Reizes in die Or- togenetischen Entwicklung und ein humanspezi-
ganisationsstruktur des neuronalen Apparates, fisches Vermögen.
um, einfach gesagt, etwas in einer Vergangenheit Die Verfügung über ein autobiographisches
Erlerntes in einer jeweiligen Gegenwart für künf- Gedächtnissystem schafft die Möglichkeit, die ei-
tiges Überleben anwenden zu können. Ein sol- gene Existenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum
ches System ist notwendig, damit Organismen in zu situieren und auf eine Vergangenheit zurück-
dynamischen Umwelten überleben können. blicken zu können, die der Gegenwart vorausge-
Die meisten Tiere verfügen, wie übrigens Säug- gangen ist. Ganz offensichtlich dient das kom-
linge auch, lediglich über ein Erfahrungsgedächt- plexe Vermögen, ›mentale Zeitreisen‹ – wie En-
nis, das ihnen über die Lerntechniken der Habi- del Tulving dieses Phänomen nannte – vornehmen
tuation und Sensitivierung eine sich selbst opti- zu können, dem Zweck, Orientierungen für zu-
mierende Anpassung an die Bedingungen jener künftiges Handeln zu ermöglichen. Erlerntes und
Umwelten ermöglicht, in denen sie existieren. Sie Erfahrenes kann auf diese Weise für die Gestal-
leben in einer unablässigen Gegenwart; ihre Ge- tung und Planung von Zukünftigem genutzt wer-
dächtnissysteme – das prozedurale, perzeptuelle den.
und das Priming-Gedächtnis – sind implizit oder Autobiographische Erinnerungen sind ›auto-
non-deklarativ; ihr Funktionieren setzt keinerlei noetisch‹, das heißt, Menschen erinnern sich
Bewusstsein voraus. Bei Menschen entwickeln nicht nur, sondern können sich auch dessen be-
sich ontogenetisch bald weitere Gedächtnissys- wusst sein, dass sie sich erinnern. Dieses Vermö-
teme: das semantische, das Wissen speichert, das gen zur autonoetischen oder deklarativen Erin-
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven 3

nerung liefert den unschätzbaren Vorteil eines Weitergabe von Erinnertem erlauben. Menschen
expliziten Abrufs von Erinnerungen. Das bedeu- können Informationen aufbewahren und kom-
tet, dass man sich willentlich in längst vergangene munizieren; sie können sie mit der Erfindung
Situationen zurückversetzen kann, zum Beispiel, von Schrift schließlich sogar an Menschen wei-
um sich eine Handlung und ihre nicht wahrge- tergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich
nommenen Alternativen vor Augen zu führen, überhaupt nichts verbindet, womit sich ein Fun-
um in einer analogen Situation in der Gegenwart dus von gespeichertem Wissen auftut, der die Be-
ein breiteres Handlungsspektrum nutzen und schränkungen der direkten Kommunikationen
eine begründete Entscheidung treffen zu kön- radikal überwindet. Neben das Engramm, die
nen. neuronale Einschreibung einer Gedächtnisspur,
Mit der Möglichkeit, sich reflexiv zu dem zu tritt das Exogramm, die externe Gedächtnisspur,
verhalten, was einem widerfahren ist und wie die von Dauer sein und auf die deshalb übertem-
man darauf reagiert hat, wird Gedächtnis bei poral zurückgegriffen werden kann.
Menschen in zwei Hinsichten auf eine funktional Exogramme sind externale Gedächtnisinhalte
effizientere Ebene als bei nicht-menschlichen Le- jeglicher Art, die zur Bewältigung gegenwärtiger
bewesen gehoben. Die Fähigkeit, sich selbst in ei- Anforderungen und zur Entwicklung von Hand-
nem Raum-Zeit-Kontinuum situieren zu kön- lungsoptionen für die Zukunft genutzt werden.
nen, bedeutet erstens, dass die eigene Umwelt Es kann sich dabei um schriftliche, mündliche,
planmäßig erschlossen und ausgewertet werden symbolische, gegenständliche, musikalische, ha-
kann: Während ohne bewusstes Gedächtnis Reize bituelle, kurz: um jegliche Inhalte handeln, die
und Reaktionen, Anforderungen und Antworten entweder selbst als menschliches Orientierungs-
unmittelbar aufeinander folgen, eröffnet die Fä- mittel entwickelt worden sind (wie eine Karte)
higkeit zum autonoetischen Erinnern einen prin- oder als solche verwendet werden können (wie
zipiell unendlichen Raum von Aufschüben zwi- der Sternenhimmel zum Navigieren). Ein solcher
schen den jeweiligen Anforderungen und den Inhalt springt, um es quantentheoretisch zu for-
möglichen Reaktionen darauf. Ein solches Ge- mulieren, in dem Augenblick in den Zustand ei-
dächtnis ermöglicht das Warten auf bessere Gele- nes Exogramms, in dem er von einem Subjekt als
genheiten, das Überstehen problematischer Situ- externer Gedächtnisinhalt betrachtet und ver-
ationen, das Entwickeln effizienterer Lösungen, wendet wird.
kurz: Es erlaubt Handeln, das auf Auswahl und Im Unterschied zu Engrammen sind Exo-
Timing beruht. Ein solches Gedächtnis schafft gramme permanent, das heißt, sie überschreiten
Raum zum Handeln und entbindet vom unmittel- die zeitlichen und räumlichen Grenzen der indi-
baren Handlungsdruck; es schafft genaugenom- viduellen Existenz und den Horizont persönli-
men erst jenen Unterschied zum Agieren und cher Erfahrung. Evolutionär betrachtet, liegt der
Reagieren, der als ›Handeln‹ bezeichnet wird. entscheidende Schritt der menschlichen Phylo-
Zweitens, und damit zusammenhängend, genese in der Entwicklung von Symbolen, weil
schafft ein solches Gedächtnis die Möglichkeit, diese, wie Merlin Donald gezeigt hat, die Mög-
Gedächtnisinhalte zu externalisieren, aus dem lichkeiten der menschlichen Kognition um einen
einzelnen Organismus auszulagern: angefangen höchst leistungsfähigen Gedächtnisspeicher be-
von der einfachen Markierung eines Nahrungs- reichern, wobei sich vor allem die Speichereigen-
verstecks über die Entwicklung symbolischer schaften von Engrammen und Exogrammen un-
Austauschformen durch sprachliche Kommuni- terscheiden: Engramme »sind unbeständig, win-
kation bis zur Herausbildung von Schriftspra- zig und schwer zu modifizieren, lassen sich im
chen haben Menschen ganz einzigartige Formen Bewusstsein nicht langfristig präsent halten und
der Repräsentation von Gedächtnisinhalten ge- sind nicht leicht aufzufinden und abzurufen.
schaffen, die wiederum zum einen Entlastung Demgegenüber sind externe Symbole mit sta-
von Handlungsdruck, zum anderen die soziale bilen, dauerhaften und im Prinzip beliebig
4 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven

erweiterbaren Erinnerungszeichen verknüpft« die nach dem Erleben abgespeichert wurden, um


(Donald 2008, 298). Darüberhinaus kann man unter bestimmten Bedingungen wieder abgeru-
Exogramme leicht und mit einer Fülle unter- fen werden zu können. Dass ein menschliches
schiedlicher Verfahren abrufen. Das menschliche Gedächtnis aber als ein distributives System or-
Bewusstsein verfügt damit über zwei Repräsenta- ganisiert ist, das sowohl die Grenzen zwischen
tionssysteme, ein internes und ein externes, wäh- Individuen wie die zwischen Individuen und
rend alle anderen Lebewesen nur über ein inter- technischen Speichermedien jederzeit über-
nes verfügen. schreitet, legt das Bild nahe, dass ein sich erin-
In diesem zugleich en- wie exogrammatischen nerndes Individuum wie ein Interface operiert,
Charakter des menschlichen Gedächtnisses liegt dass je nach der gegebenen Anforderungssitua-
begründet, dass autobiographische Gedächtnis- tion ganz unterschiedliche Segmente und Les-
inhalte durchaus externen Quellen entstammen arten von engrammatisch und exogrammatisch
können, obwohl die sich erinnernde Person fest verfügbaren Erinnerungseinheiten neu organi-
davon überzeugt ist, sich an Selbsterlebtes zu er- siert und nach Gebrauch wieder abspeichert. Mit
innern. Um alle möglichen, aus Filmen, Erzäh- diesem einfachen Modell lässt sich einerseits alles
lungen oder Kommunikationen stammenden integrieren, was seit Freuds Fehlerinnerungen
Episoden nahtlos in das eigenen autobiographi- über Elisabeth Loftus’ ›false memories‹ bis hin zu
sche Gedächtnis einzufügen, ist lediglich erfor- den allfälligen Überschreibungsvorgängen von
derlich, dass diese eine hinreichende Wahr- Erinnerungen im Gebrauch gut belegt ist, und
scheinlichkeit aufweisen, dass sie auch im Leben andererseits ein transsubjektives Konzept des
des sich Erinnernden vorgekommen sein könn- menschlichen Gedächtnisses entwerfen, das viel
ten, und dass sie zweitens von den Erinnerungs- eher Kommunikations- als Speichermodellen
gemeinschaften geteilt werden können, zu denen entspricht.
die sich erinnernde Person zählt. Die Wahrheit Weitere theoretische Arbeit in diese Richtung
des autobiographischen Gedächtnisses unterliegt würde die Erinnerungs- und Gedächtnisfor-
allein sozialen Bestätigungskriterien; diese Krite- schung nicht nur über den Scheinwiderspruch
rien sind nicht – wie etwa juristische oder wis- hinwegführen, dass nur individuelle Gedächt-
senschaftliche Wahrheitskriterien – an objekti- nisse ein organisches Substrat haben, kollektive
vierbare Datenbestände gebunden. Bei einem in aber nicht. Sie würde sie überdies aus ihrer Ver-
so hohem Maße exogrammatisch operierenden gangenheitsfixierung lösen, die auf die Annahme
Gedächtnissystem wie dem menschlichen ist es zurückgeht, dass jene Teile des Gedächtnisses, die
funktional gleichgültig, ob die ›Lehre‹, die man humanspezifisch sind, auf materielle Wirklich-
aus einer Vergangenheit zu ziehen und anzuwen- keiten rekurrieren. Diese Annahme übersieht,
den meint, auf ein authentisches oder ein impor- dass die Wirklichkeiten, innerhalb derer mensch-
tiertes Erlebnis zurückgeht, stärker formuliert: ob liche Überlebensgemeinschaften operieren, vor
man etwas selbst oder ob es jemand anderes er- allem kultureller und keineswegs nur materieller
lebt hat. Natur sind.
Erinnerungskonflikte auf der gesellschaftli-
chen und auch auf der individuellen Ebene re-
Co-Evolution
kurrieren auf eine Kongruenz zwischen einer Er-
eignis- und einer Erinnerungsgeschichte, die es »Die Regulierung der Uhren beruht auf der Re-
nicht gibt und auch nicht geben kann. Meist ist gelmäßigkeit der Naturbewegungen […]. Aber
das Verständnis der Funktionsweise des mensch- was wüssten wir von der natürlichen Chronolo-
lichen Gedächtnisses noch sehr stark der traditi- gie ohne unser Uhrensystem?« Dieses nachdenk-
onalen Annahme verhaftet, es handele sich beim liche Aperçu von Jean Piaget (1974, 386 f.) ver-
Sich-Erinnern um den Abruf von Erfahrungen, deutlicht, dass Menschen Wesen sind, die aus der
die die jeweilige Person selbst gemacht hat und langsam verlaufenden biologischen Evolution he-
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven 5

rausgetreten sind, indem sie einen ungeheuer ef- jene enormen Synchronisierungsleistungen her-
fizienten Entwicklungsbeschleuniger eingeführt vorbringen konnten, die unterschiedlichste Men-
haben: die kulturelle Weitergabe von Erfahrung schen mit unterschiedlichsten Funktionen an un-
und Wissen. Voraussetzung dafür war eben das terschiedlichsten Orten innerhalb einer einzigen
autonoetische Gedächtnis, denn ohne ein solches temporalen Matrix zusammenschaltet. Diese
gibt es keine Möglichkeit der Auslagerung von Synchronisierung erfordert auf Seiten der einzel-
Gedächtnis, von Symbolisierung, von Aufbewah- nen Subjekte ein temporal organisiertes Selbst-
rung. Der Entwicklungspsychologe Michael konzept, was nichts anderes ist als das autobio-
Tomasello hat auf der Basis vergleichender Säug- graphische Gedächtnis.
lings- und Primatenforschung die Theorie auf- Wenn also auf der Ebene der Phylogenese seit
gestellt, dass das Beherrschen symbolischer Kom- etwa viertausend Jahren Zeitkonzepte entwickelt
munikationsformen einen evolutionären Fort- werden, die soziale Zeit zunehmend von abstrak-
schritt ums Ganze bedeutet: Die Schaffung einer ter Zeit entkoppeln, dann bedeutet das ontogene-
Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Er- tisch, dass diese Auffassung von Zeit immer
fahrungen im Medium der sprachlichen Kom- schon Teil der Entwicklungsumwelt ist, in der das
munikation, argumentiert Tomasello, beschleu- Kind heranwächst. Dasselbe gilt etwa für die
nigt die langsame biologische Evolution mit den Sprache oder jedes andere symbolische Orientie-
Mitteln des Sozialen (Tomasello 2009). Darauf rungsmittel, das Menschen im Zuge der Phyloge-
geht die atemberaubende und sich permanent nese entwickelt haben. Dies alles gewährleistet
steigernde Entwicklungsgeschwindigkeit der eine gegenüber anderen Säugetieren völlig andere
Evolution menschlicher Existenzformen zurück: Entwicklungsdynamik der Spezies, die mittels
Kulturelle Weitergabe ermöglicht, dass die jeweils Speicherung und Weitergabe von Erfahrung und
folgenden Generationen auf der Basis der ge- Wissen, Tradierung und Traditionsbildung er-
machten und in soziale Praktiken überführten reicht wird.
Bewältigungserfahrungen ihre Entwicklungs- Möglich wird dieser Sprung über die biologi-
möglichkeiten auf jeweils höheren Erfahrungsni- sche Evolution hinaus dadurch, dass Menschen
veaus ansetzen und entfalten können. über ein Gehirn verfügen, dessen eigene Organi-
Vor diesem Hintergrund findet die Ontoge- sation sich erst in der Auseinandersetzung mit ei-
nese in anthropogenen adaptiven Umgebungen ner spezifischen Umwelt strukturiert. Die neuro-
statt – also immer unter spezifischen kulturellen nale Struktur des menschlichen Gehirns bildet
Bedingungen. Nachwachsende Generationen set- sich nutzungs- und erfahrungsabhängig. Man
zen ihre Entwicklung sozial jeweils auf der Stufe muss dabei berücksichtigen, dass Menschen hin-
an, die die Vorgängergenerationen erreicht und sichtlich ihrer Hirnreifung völlig unfertig auf die
kultiviert haben. Man kann das sehr klar an ei- Welt kommen und diese erst im jungen Erwach-
nem sozialen Orientierungsmittel wie ›Zeit‹ il- senenalter abgeschlossen wird – bis zu diesem
lustrieren. Die Verfügung über einen Zeitbegriff Zeitpunkt sind soziale und biologische Entwick-
ist essentiell für das autobiographische Gedächt- lungsaspekte Teile ein und desselben Vorgangs.
nis; aber wie das obige Zitat von Piaget andeutet, Deshalb sind Menschen einzigartig anpassungs-
ist sie zunächst nichts anderes als ein – so würde offen und modulationsfähig, und die schier uner-
der Soziologe Norbert Elias sagen – menschliches schöpfliche Flexibilität der menschlichen Hirn-
Orientierungsmittel auf hohem Syntheseniveau. organisation zeigt sich auch daran, dass es hirn-
Es bedurfte phylogenetisch einer außerordentlich biologisch und -anatomisch keinerlei Unterschied
langen Entwicklungszeit, bis Menschen lineare, zwischen den Menschen der Gegenwart und de-
regelmäßige und abstrakte Zeitintervalle operati- nen gibt, die vor 200.000 Jahren gelebt haben.
onalisiert hatten, mit deren Hilfe sie zum einen Unser Gehirn sieht genauso aus wie das ihre, und
Ordnung in experimentell oder direkt beobacht- vermutlich leistet es auf der Ebene seiner Hard-
bare Abläufe bringen konnten und zum anderen ware auch nicht mehr. Dieser erstaunliche Be-
6 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven

fund gibt in etwa die Dimension der co-evolutio- sich wiederholende Abläufe und Routinen und
nären Beschleunigung durch die menschliche später mittels ›memory talk‹ als eine Form sozia-
Kultur an. Evolution bedeutet biologisch nichts ler Praxis vermittelt und angeeignet wird (s. Kap.
anderes als den Vorgang der Genese und Bereit- I.3). Qi Wang hat in vergleichenden Untersu-
stellung von Potential für Entwicklung (was im chungen gezeigt, dass die Autobiographisierung
Übrigen eine ausgesprochen klassische Defi- in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlichen
nition von Evolution ist). Sie liefert Entwick- Lebensaltern einsetzt; in den traditionell weniger
lungsmöglichkeiten, die so oder so, besser oder individualistisch orientierten asiatischen Kultu-
schlechter, optimal oder suboptimal ausgewertet ren später als in den westlichen (Wang 2006). In
werden können. Die humanspezifische kulturelle historischer Perspektive ist anzunehmen, dass
Evolution nutzt also einfach ein Entwicklungspo- unter anderen Gesellschaftsformationen mit ge-
tential, das die biologische Evolution einer be- ringerem Individualisierungsgrad wie im Mittel-
stimmten Primatenart eröffnet hat. alter oder in der frühen Neuzeit andere autobio-
Die außergewöhnlich lange Entwicklungszeit graphische Regime vorgelegen haben als heute.
des menschlichen Gehirns bedeutet zugleich, Wo jede Bedingung fehlt, den eigenen Lebenslauf
dass eine sehr viel engere und länger anhaltende zu gestalten, liegt vermutlich eine Autobiographi-
Vernetzung mit anderen Menschen, in der Regel sierung im modernen Sinn gar nicht vor. All das
den Eltern, gewährleistet sein muss, damit ein verdeutlicht, in welch ausgeprägtem Maße kultu-
sich entwickelndes Kind sein Potential ausschöp- relle Formationen in die Gedächtniskonstitution
fen kann. Die menschliche Ontogenese ist daher einwirken, so dass man mit Recht davon spre-
in viel höherem Maße sozial als die anderer Lebe- chen kann, dass das menschliche Gehirn ein bio-
wesen; menschliche Babys kommen, wie eine kulturelles Organ ist, das sich im Rahmen von
Unzahl entwicklungspsychologischer Studien ge- Netzwerken anderer Gehirne unter historisch
zeigt hat, daher mit einer ›readiness for commu- und kulturell spezifischen Bedingungen entwi-
nication‹ zur Welt. Da Menschen zu früh und ckelt.
höchst unfertig geboren werden, sind alle ihre Das unterstreicht einmal mehr, dass das
basalen Fähigkeiten ausschließlich überlebens- menschliche Gedächtnis als ein transsubjektives,
orientiert – ihr Gehirn, genauer gesagt: das distributives System zu verstehen ist, ohne das
Stammhirn sorgt dafür, dass sie atmen können, die kooperative Überlebensform der menschli-
dass ihr Herzschlag sich reguliert, ihr Stoffwech- chen Gattung nicht auskommen würde. Das zen-
sel funktioniert, aber auch, dass sie vom ersten trale Unterscheidungsmerkmal zwischen Prima-
Moment an lernen und kommunizieren können. ten und menschlichen Primaten ist dann auch of-
Auch diese letztere Fähigkeit ist essentiell, da fenbar in einer fundamentalen Differenz der
menschliche Neugeborene die angemessene Be- sozialen Organisation ihrer Überlebensgemein-
treuung durch ihre älteren Artgenossen viel in- schaften zu suchen. Während nicht-menschliche
tensiver und länger brauchen als andere Tiere. Sie Primaten innerhalb ihrer Überlebensgemein-
existieren deshalb nicht als Individuen, sondern schaft um Nahrungsmittel konkurrieren und ein
als Teil eines sozialen Netzwerks. Das menschli- Sozialsystem entwickelt haben, das durch strikte
che Gehirn ist das einzige Gehirn in der Bio- Hierarchisierung und eine inflexible soziale Ord-
sphäre, das sein Potential nicht aus sich selbst nung die Ernährungs- und Fortpflanzungserfor-
heraus realisieren kann. Es muss Teil eines dernisse der Gruppe reguliert, setzen menschli-
Netzwerks werden, bevor seine Eigenschaften che Überlebensgemeinschaften auf ein völlig an-
entwickelt werden können (vgl. Donald 2008, deres Prinzip: auf Kooperation. Kooperation
11). steigert die Potentiale der Einzelnen, indem sie
Wie Katherine Nelson und ihre Mitarbeiterin- Fähigkeiten und Kräfte bündeln, kombinieren,
nen gezeigt haben, ist auch die Fähigkeit, sich au- kumulieren kann und damit ihrerseits neue Po-
tonoetisch zu erinnern, etwas Erlerntes, das über tentiale zu entfalten in der Lage ist. Gerade da-
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven 7

rum sind menschliche Überlebensgemeinschaf- Vermutlich würden die strukturellen Gemein-


ten prinzipiell kommunikative Gemeinschaften, samkeiten gegenüber den nationalen Spezifika
denn Kooperation setzt natürlich Kommunika- dann überwiegen« (Kirsch 2002).
tion und die Distribution des von Einzelnen Ge- Zunehmend finden sich aber Studien, die mit
wussten voraus. gleichen Konzepten und Methoden erinnerungs-
kulturelle Praktiken in unterschiedlichen Län-
dern untersuchen. Neuere Beispiele sind die Ar-
Vergleichende Studien
beiten der Gruppe um Welzer (2007), die mit
Was Studien zu erinnerungskulturellen Fragestel- einem einheitlichen Forschungsdesign das Ver-
lungen angeht, dominieren noch immer Arbeiten hältnis von privater zu öffentlicher Erinnerung in
das Feld, die sich mit der Bearbeitung und Reprä- sieben europäischen Ländern untersucht hat oder
sentation sogenannter ›negativer Geschichte‹ der von Claudio Fogu, Wulf Kansteiner und Ri-
(Koselleck 2002) beschäftigen. Gemeint sind von chard Ned Lebow herausgegebene Band, in dem
kollektiver Gewalt geprägte Vergangenheiten, die die öffentlichen und politischen Prozesse in Folge
oft tiefe Spuren in Kollektiven und Individuen des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Län-
hinterlassen haben (was Saul Friedländer (2007) dern mit einer einheitlichen Fragestellung und
›deep memory‹ nennt). Herausgebildet am noch einem abgestimmten Begriffsapparat untersucht
immer paradigmatischen Fall Deutschlands, hat worden sind (2006). Als Klassiker kann die Ar-
sich dieses Feld inzwischen regional und hin- beit von James E. Young gelten, der durch den
sichtlich der Fragestellungen und Ansätze breit Vergleich von Gedenkstätten, Denkmalen und
aufgefächert. Die Anzahl der Studien zur Erinne- Museen in Deutschland, Israel, Polen und den
rungspolitik, zu juristischen Aufarbeitung, zur USA verdeutlicht hat, wie das jeweilige national
Übersetzung in Bildung, zur kulturellen Reprä- vorherrschende Selbstverständnis als Opfer, Tä-
sentation auf verschiedensten Ebenen – Kunst, ter, Überlebende oder Retter sich in den jeweili-
Medien, Wissenschaft – sind weltweit kaum noch gen Vergangenheitsrepräsentationen wieder fin-
zu überblicken. So haben sich zwischenzeitlich den (1992).
Spezialdisziplinen wie die Transitional Justice- Grundsätzlich dient bisher in der Regel der
Forschung herausgebildet, eine weitere Atomisie- Nationalstaat als relevante räumliche Vergleichs-
rung des Gegenstandes ist zu erwarten. Dagegen einheit. Das Spektrum der Vergleichsobjekte
sind trotz einiger Bemühungen, übrigens gerade reicht von großräumigen Gebilden (z. B. Erinne-
im letztgenannten Bereich, die Potenziale verglei- rungskulturen) bis zu Segmenten (z. B. Denkma-
chender Forschung noch längst nicht ausge- len, Museen, Wahrheitskommissionen). Weiter
schöpft. Lange dominierten die Forschungsland- ist zwischen diachronen Vergleichen (zeitver-
schaft Sammelbände, in denen wenig systema- schieden, vorrangig in einem Land, z. B. zwischen
tisch einige Länderstudien nebeneinandergestellt Berliner, Bonner und Weimarer Republik), syn-
und allenfalls mühsam in einleitenden Artikeln chronen (zeitgleich, meistens zwischen Ländern,
verbunden werden. Diesen Aspekt hat Jan Holger aber auch zwischen unterschiedlichen Territo-
Kirsch schon vor einigen Jahren kritisch gewür- rien innerhalb eines Landes) und zeitversetzten
digt. Er schrieb seinerzeit: »Wichtiger erscheint zu unterscheiden. Der grundsätzliche Gewinn
mir – auch für künftige Forschungen – eine kon- des Vergleichs besteht einerseits darin, Fallspezi-
zeptionelle Überlegung: Statt die nationalen, in- fisches vom Allgemeinen zu unterscheiden. So
zwischen weitgehend bekannten Erinnerungspa- unterscheiden sich die Dynamiken juristischer,
radigmen relativ isoliert nebeneinanderzustellen, kultureller und politischer Thematisierung nega-
wäre es vielleicht erkenntnisfördernder, be- tiver Vergangenheit zum Teil erheblich zwischen
stimmte Aspekte im direkten Vergleich zu unter- einzelnen Kollektiven. Dennoch kann in allen
suchen – beispielsweise die Phasen, Akteure, Fällen beobachtet werden, wie Vergangenheit als
Medien und Deutungsmuster der Erinnerung. Ressource für Produktion von Sinn, Orientierung
8 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven

und Kohärenz erzeugende Narrationen genutzt bis 2011 in einer ländervergleichenden Mehrge-
wird, dass diese Prozesse hochgradig konflikthaft nerationenstudie nachgegangen, die sich mit der
sind und dass Konjunkturen festzustellen sind, Frage beschäftigt, wie die seit den 1970er Jahren
die unmittelbar an die jeweils vorherrschenden sich vollziehenden Strukturveränderungen auf
politischen Konstellationen gebunden sind. Eine dem Arbeitsmarkt und in den sozialstaatlichen
ganz andere Vergleichsperspektive eröffnen Me- Versorgungssystemen sich auf die Entwicklung
tastudien, wie sie in der Psychologie und Soziolo- und Reichweiten von individuellen Zukunftsvor-
gie regelmäßig zur Anwendung kommen. stellungen auswirkt. Das Verschwinden tradier-
Wie einige Autorinnen und Autoren in diesem ter Gewissheiten der Lebensplanung, die Abkehr
Handbuch anmahnen (s. Kap. II.2, 3, III.13, IV.6), vom Konzept des Lebensberufs, die Flexibilisie-
fehlt es an empirischen Arbeiten zur Rezeption rung von Berufserwartungen und -verläufen und
der verschiedenen medial und kommunikativ an- nicht zuletzt größere soziale Unsicherheit müss-
gebotenen Deutungsweisen von Vergangenheit. ten, so die Annahme, auch zu generationell diffe-
Da für unterschiedliche Bereiche wie etwa Mu- renten Zukunftshorizonten führen. Und, wie es
seen, Internet, Radio oder auch Film Rezeptions- etwa die anhaltende Vergangenheits- und Erin-
studien vorliegen, sollten diese noch stärker als nerungsfixierung in der Bundesrepublik Deutsch-
bisher hinsichtlich ihrer Ergebnisse, aber beson- land nahelegt, eingeschränkte Zukunftshorizonte
ders im Hinblick auf die Methoden systematisch korrespondieren möglicherweise mit ausgedehn-
verglichen werden. Vor allem aber können rezep- teren Vergangenheitsbezügen. Vergleichbare Fra-
tionswissenschaftliche Ansätze auch der Erinne- gestellungen lassen sich in Bezug auf Umweltrisi-
rungsforschung interessante Hinweise liefern. ken mit zerdehnter zeitlicher Struktur entwi-
Beispielhaft genannt seien eine ethnographisch ckeln: So wirft etwa der Klimawandel aufgrund
angelegte Studie, in der die orientierende Funk- seiner zeitlich extrem ausgedehnten Spanne zwi-
tion von Telenovelas in Brasilien eine Rolle spielt schen Verursachung und Wirkung nicht nur ganz
(Machado-Borges 2006) oder eine Interviewstu- neue, generationsübergreifende, Handlungsper-
die, die zeigt, dass schwarze und weiße Amerika- spektiven auf, sondern konfrontiert Akteure mit
ner unterschiedliche Lesarten von Madonnas Vi- der Relevanz von Zukunftshorizonten, die bis-
deo »Papa don’t preach« entwickeln (Brown/ lang bei Handlungsplanungen noch kaum in
Schulze 1990). Rechnung gestellt werden mussten. Untersu-
chungen solcher Phänomenbereiche wären sehr
geeignet, der Erinnerungs- und Gedächtnisfor-
Prospektives Gedächtnis
schung einen Raum zu eröffnen, der bislang noch
Aus der Tradierungsforschung und der in Folge kaum ausgemessen wurde. Die gegenwärtige Er-
sozialpsychologischer Experimente entwickel- innerungs- und Gedächtnisforschung hat eine
ten Weitererzählforschung ist bekannt, dass die sehr starke Verzerrung hin zu retrospektiven
Operation des Sinnmachens in der transgenera- Gedächtnisformen und -praktiken; in Zukunft
tionellen Kommunikation ebenso wie in Weiter- dürfte es darauf ankommen, die prospektiven As-
erzählexperimenten sowohl kulturellen Normen pekte des Gedächtnisses stärker zu beachten, mit-
als auch generationsspezifischen Bedingungen hin Zukunft in die Gedächtnisforschung zu brin-
folgt (s. Kap. IV.6). Das diesem Typ Forschung gen.
zugrunde liegende Paradigma kann jedoch auch Erinnerung hat funktional nichts mit Vergan-
umgekehrt Anwendung finden: dann nämlich, genheit zu tun. Sie dient der Orientierung in ei-
wenn nicht nach Lesarten von Vergangenheiten ner Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns.
gefragt wird, sondern etwa kulturell oder gene- Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass
rationell differente Zukunftsvorstellungen und Gedächtnis vor allem mit der Vergangenheit zu
-horizonte in Kommunikationen untersucht tun habe; ganz im Gegenteil spielen ›Vorerinne-
werden. Diesem Aspekt wird in den Jahren 2009 rungen‹, wie Edmund Husserl (1917/18) bemerkt
Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven 9

hat, also Vorgriffe auf etwas erst in der Zukunft Schluss ziehen, dass der epistemische Bezugs-
Existierendes, als Orientierungsmittel für die punkt des Gedächtnisses die Zukunft und keines-
Ausrichtung von Entscheidungen und Handlun- wegs, wie gewöhnlich angenommen, die Vergan-
gen eine mindestens so wichtige Rolle wie der genheit ist.
Rückgriff auf real oder vorgestellt erlebte Vergan- An dieser Stelle öffnet sich der Erinnerungs-
genheiten (s. Kap. IV.3). Die von Husserl ein- und Gedächtnisforschung ein erheblich weiterer
geführte Unterscheidung zwischen Retentionen Raum als bisher. In empirischer kulturwissen-
als Rückgriffen auf Vergangenheitsbestände und schaftlicher Perspektive könnten etwa spezifische
Protentionen als auf Späteres gerichteten Intenti- Ungleichzeitigkeiten in Handlungsorientierun-
onen, die schon die enorme Bedeutung von ima- gen und -optionen sowohl auf der gesellschaftli-
ginierten Zukünften für Handlungsentwürfe und chen wie auf der individuellen Ebene zum Unter-
-ausführungen dargelegt hat, ist von Alfred suchungsgegenstand werden, die Schwerkraft
Schütz in seinem Konzept der »antizipierten Re- von Selbstbildern und Habitusbildungen oder die
trospektionen« weiterentwickelt worden. Das hu- Tiefenwirkung historischer Erfahrungen auf die
manspezifische Vermögen, die persönliche Exis- Konzipierung von Zukunftsentwürfen oder all-
tenz in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situie- gemeiner: zukunftsbezogenen Handlungspoten-
ren und auf eine Vergangenheit zurückblicken zu tialen analysiert werden. In theoretischer Hin-
können, die der Gegenwart vorausgegangen ist, sicht ließen sich Konzeptionen entwickeln, die
hat den Zweck, Orientierungen für zukünftiges den Gedächtnistätigkeiten immanenten Zu-
Handeln zu ermöglichen. Umgekehrt können kunftsbewältigungszielen systematisch Rech-
Menschen auf eine Zukunft zurückblicken, die nung tragen und Bausteine zu einer Theorie eines
noch gar nicht Wirklichkeit geworden ist. Die wiederum humanspezifischen Zukunftsgedächt-
grammatische Form dafür ist das Futurum II – es nisses zusammenstellen. Und in neurowissen-
wird gewesen sein –, seine mentale Form die »an- schaftlicher bzw. interdisziplinärer Perspektive
tizipierte Retrospektion«, der Vorausblick auf et- ließe sich grundlagenwissenschaftlich möglicher-
was, noch bevor es verwirklicht worden ist weise Aufschluss darüber gewinnen, welche zeit-
(Schütz 1972, 261). lichen Horizonte von menschlichen Gedächt-
Antizipierte Retrospektionen spielen für nissen kapazitär überhaupt prozessiert werden
menschliches Handeln eine zentrale Rolle – jeder können. All dies würde die Erinnerungs- und
Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Mo- Gedächtnisforschung auf ein höheres Abstrak-
dell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der tions- und Syntheseniveau als bisher heben kön-
in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau nen und überdies die gerade in Bezug auf kollek-
aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands tive Gedächtnisphänomene leider noch allzu oft
speisen sich Motive und Energien – aus dem fehlende Trennung von normativen und analyti-
Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als schen Perspektiven sicherstellen. Damit würde
den gegebenen. Gedächtnis ist eine dreistellige die rein normative Privilegierung der Vergangen-
Relation aus Vergangenheit, Gegenwart und Zu- heit gegenüber der Gegenwart und der Zukunft
kunft, und gerade der prospektive Teil dieser Re- in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung
lation hat der menschlichen Lebensform nicht ebenso Geschichte sein wie die Höherbewertung
nur den evolutionären Vorsprung verschafft, des Erinnerns gegenüber dem Vergessen. Da jede
Vorteile und Hindernisse bei der Gestaltung der Gedächtnistätigkeit ein notwendig selektiver
Welt abschätzen und virtuell durchspielen zu Vorgang ist, ist Vergessen konstitutiv für Erinne-
können, sondern diese Lebensform überhaupt rung überhaupt. Und da der funktionale Überle-
mit einem Gedächtnis ausgestattet, das seine In- benswert des Gedächtnisses von seinem Zu-
halte nicht nur aus dem Gegebenen und dem Ver- kunftsbezug abhängt, ist es die Zukunft, die kon-
gangenen, sondern auch aus dem Vorgestellten stitutiv für das Gedächtnis ist, und nicht die
und Erwünschten bezieht. Man kann daraus den Vergangenheit.
10 Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven

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11

I. Grundlagen des Erinnerns

1. Neuroanatomische und konstruktion eines Fernsehers oder eines ande-


neurofunktionelle Grundlagen ren Alltagsobjekts aus einer fragmentierten Dar-
stellung des Objekts). Zwei weitere Gedächtnis-
von Gedächtnis systeme, das perzeptuelle Gedächtnis und das
Wissenssystem, können sowohl an bewussten (ex-
Das Gedächtnis ist kein einheitliches anatomi- plizites Gedächtnis) als auch unbewussten Ge-
sches und funktionelles System, sondern kann in dächtnisverarbeitungsprozessen beteiligt sein.
Bezug auf verschiedene Charakteristika in spezi- Das perzeptuelle Gedächtnis arbeitet auf der prä-
fische funktionelle Subsysteme unterteilt werden. semantischen Stufe: seine Basis ist die Vertraut-
Hinsichtlich der Dimension ›Zeit‹ wird das Ge- heit wahrgenommener Reize (z. B. Wiedererken-
dächtnis in Ultrakurzzeit-, Arbeits-, und Lang- nen einer vertrauten Banknote). Das Wissenssys-
zeitgedächtnis unterteilt (für die folgenden Aus- tem leistet dagegen die grundlegende semantische
führungen Piefke/Markowitsch, 2008). Der Zeit- Verarbeitung von Information. Das episodische
raum der Informationserhaltung umfasst im Falle Gedächtnis operiert auf der Ebene des bewussten
des Ultrakurzzeitgedächtnisses einige Millise- Erinnerns von Ereignissen und Episoden ein-
kunden und beim Arbeitsgedächtnis mehrere schließlich deren zeitlicher, räumlicher und emo-
Minuten. Der Behaltenszeitraum des Langzeitge- tionaler Kontexte. Abbildung 1 (s. S. 12) illus-
dächtnisses kann einige Stunden, Jahre oder so- triert diese fünf unterschiedlichen Systeme des
gar Jahrzehnte umfassen. Letzteres gilt insbeson- menschlichen Langzeitgedächtnisses anhand der
dere für das autobiographische Gedächtnis. Das spezifischen Arten von Information, die jedes der
Arbeitsgedächtnis ermöglicht die kurzfristige Systeme verarbeitet.
und unmittelbare Speicherung von Information,
die nicht mehr perzeptuell in der Umwelt verfüg-
Das episodisch-autobiographische
bar ist. Es leistet jedoch nicht nur die Speiche-
Gedächtnis
rung, sondern auch die aktive Verarbeitung von
Informationsmaterial zur Steuerung nachfolgen- Um die komplexen Wege der Informationsverar-
den Verhaltens (z. B. Entwicklung von Strategien beitung in diesem Gedächtnissystem beschreiben
zur Lösung einer Aufgabe). Das Langzeitgedächt- zu können, muss zunächst eine Unterteilung in
nis integriert vielfältige bewusste und unbewusste unterschiedliche Verarbeitungsstufen vorgenom-
Lern- und Gedächtnisprozesse. Nach dem Kon- men werden.
zept multipler Gedächtnissysteme (Tulving 2005) Enkodierung und Konsolidierung: Episodische
kann man das menschliche Langzeitgedächtnis Information findet über sensorische Bahnen Ein-
in fünf Gedächtnissysteme unterteilen. Zwei die- gang in das Gehirn und wird zunächst kurzfristig
ser Systeme, das prozedurale Gedächtnis und das »online« in Assoziationsarealen des Kortex (=
Primingsystem, operieren auf der Ebene der un- Hirnrinde) gespeichert (insbesondere in denen
bewussten Informationsverarbeitung (implizites des seitlichen Scheitellappens und des Stirn-
Gedächtnis). Das prozedurale Gedächtnis er- hirns). Von dort wird die Information in das so-
möglicht den Ablauf vorwiegend motorischer genannte limbische System übermittelt, einem
Routinen (z. B. Fahrrad fahren), während das Pri- phylogenetisch älteren System von Strukturen
mingsystem das unbewusste Wiedererkennen und Faserverbindungen im zentralen Nervensys-
vertrauter perzeptueller Reize erlaubt (z.B Re- tem, das die Enkodierung und Konsolidierung
12 I. Grundlagen des Erinnerns

Abb.1: Nach dem Konzept multipler Gedächtnissysteme (Tulving 2005) ist das Langzeitgedächtnis des Menschen
in fünf verschiedene Subsysteme unterteilt: das prozedurale Gedächtnis, das Primingsystem, das perzeptuelle
Gedächtnis, das Wissenssystem und das episodisch-autobiographische Gedächtnis. Die Abbildung beschreibt
jedes Subsystem des Langzeitgedächtnisses durch die spezifischen Arten von Information die es verarbeitet. Das
episodische Gedächtnis, das Wissenssystem und das perzeptuelle Gedächtnis verarbeiten bewusste (explizite)
Erinnerungen. Die Dimensionen des unbewussten (impliziten) Langzeitgedächtnisses sind durch das prozedurale
Gedächtnis und das Priming-System repräsentiert.

kognitiver und emotionaler Information sowie dächtnisprozessen und Emotionsverarbeitung


deren Integration in das bereits bestehende Ge- spielt insbesondere für das episodisch-autobio-
dächtnisrepertoire über einen begrenzten Zeit- graphische Gedächtnis eine Schlüsselrolle. Die
raum leistet. Abbildung 2 illustriert die wichtigs- Abbildung veranschaulicht die Lage der wichtigs-
ten zum limbischen System gehörenden Struktu- ten limbischen Gehirnstrukturen im Zentralen
ren des menschlichen Zentralen Nervensystems. Nervensystem des Menschen. Dazu gehören die
Dem limbischen System werden zentrale Amygdala, der Hippocampus, thalamische Regi-
Funktionen für das episodische Langzeitgedächt- onen, das basale Vorderhirn, der Gyrus cinguli,
nis und die Verarbeitung von Emotionen zuge- der Fornix, die Mammillarkörper und der mam-
schrieben. Die im limbischen System stattfin- millothalamische Trakt.
dende Integration von episodischen Langzeitge- Zusätzlich sind die Strukturen und Faserver-
1. Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis 13

Abb. 2: Das limbische


System im menschlichen
Zentralen Nervensystem

bindungen des limbischen Systems in die Evalua- den anterioren Thalamus, den Gyrus cinguli und
tion eingehender Information und deren Über- den Hippocampus einschließlich der zwischen
tragung zu den endgültigen neokortikalen Spei- diesen Regionen verlaufenden Fasersysteme.
cherorten involviert. Der Hippocampus und die Eine Gedächtnisspur (Engramm) hat nach der
Amygdala gehören zu den Kernstrukturen des Enkodierung und Übertragung der Information
limbischen Systems. Für Gedächtnisfunktionen in die Hirnrinde zur Langzeitspeicherung noch
spielen jedoch weitere limbische Strukturen eine keine Stabilität. Es müssen weitere Konsolidie-
Schlüsselrolle. Das limbische System wird in zwei rungsprozesse stattfinden, die »frisch erworbene«
verschiedene Netzwerke untergliedert: den baso- Information mit schon lange gespeicherter ab-
lateralen limbischen Schaltkreis und den Papez- gleichen und integrieren. Die gegenwärtigen
schen (medialen) Schaltkreis. Der basolaterale Kenntnisse über die Biochemie der Gedächtnis-
limbische Schaltkreis bildet die Basis der Evalua- konsolidierung sprechen für eine den Konso-
tion affektiver und emotionaler Aspekte von In- lidierungsprozessen inhärente Tendenz, eine
formation (z. B. gefährlich oder erstrebenswert), kongruente und kontinuierliche »Gestalt« des
während der Papezsche Schaltkreis in erster Li- Gedächtnisrepertoires zu formen (Piefke/Marko-
nie die kognitiven Dimensionen der Evaluation witsch 2008). Auf diese Tendenz wird bei der Be-
und Übertragung von Information für die Lang- schreibung des autobiographischen Gedächtnis-
zeitspeicherung leistet. Zum basolateralen limbi- ses später näher eingegangen.
schen Schaltkreis gehören die Amygdala, der me- Speicherung: Ausgedehnte und weit verzweigte
diodorsale Thalamus (d. h. in der Mitte und hö- neuronale Netzwerke in neokortikalen Gehirn-
her gelegene thalamische Regionen) und die regionen (insbesondere im Assoziationskortex)
subcallosale Region (d. h. unterhalb des Corpus sind die Speicherorte episodischer Information.
Callosum – es handelt sich um einen Balken, der Die Speicherung von emotionaler episodisch-au-
die rechte und linke Gehirnhemisphäre verbin- tobiographischer Information benötigt auch ei-
det) des basalen Vorderhirns. Diese Strukturen nen Input von unterhalb der Hirnrinde gelege-
sind verbunden durch verschiedene Nervenfa- nen Strukturen, insbesondere von der Amygdala
sern, die die Weiterleitung von Information zwi- und den septalen Kernen.
schen diesen Regionen ermöglichen. Der Papez- Abruf: Laterale und mediale Regionen des
sche Schaltkreis umfasst die Mammillarkörper, Stirnhirns (= präfrontaler Kortex), der temporale
14 I. Grundlagen des Erinnerns

Pol (Schläfenlappenspitze), mediale temporale Störungen episodisch-autobiographischer


Regionen, der posteriore Gyrus cinguli und der Gedächtnisfunktionen
retrospleniale Kortex (in der Mitte gelegene
Strukturen in hinteren Bereichen des Gehirns) Bei Patienten mit Beeinträchtigungen des episo-
sind die Kernstrukturen der funktionellen Neu- disch-autobiographischen Gedächtnisses sind
roanatomie des episodisch-autobiographischen anatomische und/oder funktionelle Schädigun-
Gedächtnisabrufs. Präfrontale und temporopo- gen meistens im medialen und lateralen Tempo-
lare Regionen sind durch den Fasciculus uncina- rallappen und/oder im präfrontalen Kortex loka-
tus, eine großes Bündel von Nervenfasern, mitei- lisiert. Dieser Befund stimmt gut überein mit den
nander verbunden. Die präfrontalen Areale stel- oben beschriebenen gegenwärtigen Kenntnissen
len Auslöser (»Trigger-Signale«; z. B. Lenkung über die funktionelle Neuroanatomie des episo-
der Aufmerksamkeit auf die gesuchte Informa- disch-autobiographischen Gedächtnisses. Wenn
tion) bereit für den Abruf von Information, die in die Amnesie (= Gedächtnisstörung) Information
den posterioren Assoziationskortizes gespeichert betrifft, die nach dem Eintreten der Gehirnschä-
ist. Die temporopolaren und medialen tempora- digung enkodiert wurde, spricht man von einer
len Regionen leisten die affektive und emotionale anterograden Amnesie. Betrifft sie Informations-
Verarbeitung sowie die Re-Enkodierung episo- material, das vor dem Eintreten der Schädigung
discher Information. Re-Enkodierungsprozesse des Zentralen Nervensystems enkodiert wurde,
finden grundsätzlich während des Informations- wird sie als retrograde Amnesie bezeichnet. Ante-
abrufs statt, so dass es fortlaufend zu einer Re-In- rograde und retrograde Amnesien können sepa-
tegration und damit zu einer Veränderung und rat oder kombiniert auftreten. Verletzungen des
Aktualisierung abgerufener Information kommt. Hippocampus in einer (unilateral) oder beiden
Auch die Re-Enkodierungsprozesse während des Hemisphären des Gehirns (bilateral) führen typi-
episodischen Abrufs unterstützen die schon im scherweise zu schwerwiegenden anterograden
Zusammenhang der Gedächtniskonsolidierung und retrograden Gedächtniseinbußen. Das klas-
erwähnte Tendenz zur Herstellung eines kongru- sische Fallbeispiel ist in diesem Zusammenhang
enten Gedächtnisrepertoires. Hier zeigt sich der Patient HM, der nach einer bilateralen Resek-
insofern eine Entsprechung zu einer wichtigen tion im medialen Temporallappenbereich (wegen
psychologischen Funktion von Erinnerungen. einer medikamentös nicht behandelbaren Epilep-
Re-Enkodierungsprozesse basieren vermutlich sie), die auch Teile beider Hippocampi einschloss,
insbesondere auf Hippocampusfunktionen. Der bleibend amnestisch war (Scoville/Milner 1957).
episodische Abruf basiert insofern in erster Linie Er konnte sich an jedem neuen Tag nicht an den
auf einem fronto-temporalen Netzwerk, das mit vorausgegangenen erinnern (anterograde Amne-
posterioren, vor allem im Scheitellappen gelege- sie), und auch sein episodisch-autobiographi-
nen Gehirnregionen interagiert. Eine posteriore sches Altgedächtnis war schwerwiegend beein-
neokortikale Struktur, die an der Generierung vi- trächtigt (retrograde Amnesie).
sueller Vorstellungen während des episodischen Bei retrograden Amnesien infolge von Hippo-
Abrufs beteiligt ist, ist der Präkuneus, eine der campusschädigungen beobachtet man häufig (je-
Strukturen des Scheitellappens (Piefke 2008). Da- doch nicht immer) ein zeitliches Gefälle, so dass
her ist diese Gehirnstruktur auch als »the mind’s rezente Erlebnisse nicht mehr erinnert werden
eye« bekannt (Fletcher u. a. 1995). Je nach Aufga- können, während das episodische Gedächtnis für
benstellung zeigten neurofunktionelle Bildge- Kindheitserinnerungen oft intakt ist (z. B. Rem-
bungsstudien eine rechts- oder linkshemisphäri- pel-Clower u. a. 1996). Der Hippocampus hat
sche Dominanz von Aktivität innerhalb des neu- möglicherweise eine auf den Zeitraum der Ge-
ronalen Netzwerks, das die Grundlage des Abrufs dächtniskonsolidierung begrenzte Funktion beim
von Information aus dem episodischen Gedächt- Abruf episodischer Erinnerungen, so dass nach
nis bildet (Piefke u. a. 2003). einer selektiven Schädigung dieser Struktur nur
1. Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis 15

Abb. 3: Bilaterale Aktivität der Hippocampi während des Abrufs rezenter emotionaler autobiographischer
Episoden relativ zum Abruf alter emotionaler Kindheitserinnerungen (modifiziert nach Piefke u. a. 2003). Die
Histogramme zeigen das Ausmaß (in %) der Veränderung des »blood-oxygen-level-dependent« (BOLD) Signals
in den Hippocampi während des Abrufs rezenter autobiographischer Ereignisse. Der umgekehrte Vergleich
(Erinnerungen an Kindheitsepisoden versus Erinnerungen an rezente autobiographische Episoden) zeigte
keinerlei differenzielle neuronale Aktivität (R = rechts, L = links, CP = positive Kindheitserinnerungen, CN =
negative Kindheitserinnerungen, RP = positive rezente Erinnerungen, RN = negative rezente Erinnerungen).

rezent enkodierte episodische Information von sche Schädigungen des Zentralen Nervensystems
einer Amnesie betroffen ist (Squire 1992). Die können Beeinträchtigungen von Gedächtnis-
Befunde hierzu sind jedoch nicht eindeutig. Auch funktionen zur Folge haben. Der Begriff der psy-
neurofunktionelle Bildgebungsstudien über das chogenen Amnesie bezeichnet Gedächtniseinbu-
experimentelle und autobiographische episodi- ßen, denen keine (mit den derzeit zur Verfügung
sche Gedächtnis an gesunden Versuchpersonen stehenden Untersuchungsmethoden feststellba-
ergeben kein einheitliches Bild. Einige sprechen ren) neuroanatomischen Veränderungen zu-
für das Modell einer zeitbegrenzten Funktion des grunde liegen. Vielmehr bilden funktionelle Ver-
Hippocampus beim Abruf rezenter Erinnerun- änderungen von Funktionen des Zentralen Ner-
gen (eine Zusammenfassung findet sich in Piefke vensystems das neuronale Korrelat psychogener
u. a. 2003). Andere Autoren berichten dagegen, Gedächtnisdefizite. Personen mit psychogenen
dass der Hippocampus auch in den Abruf auto- Amnesien können entweder Teile oder sogar ihre
biographischer Ereignisse involviert ist, die lange gesamte Autobiographie nicht mehr erinnern.
zurück liegen (eine Überblicksarbeit geben Ca- Entsprechend der oben beschriebenen neuroana-
beza/St. Jacques 2007). Abbildung 3 zeigt die in tomischen Grundlagen von episodischen Ge-
der Studie von Piefke u. a. (2003) beobachtete Ak- dächtnisfunktionen liegen neurofunktionelle
tivierung der Hippocampi in beiden Gehirnhe- Veränderungen bei psychogenen Amnestikern
misphären während des Abrufs rezenter autobio- vor allem in medialen temporalen, medialen und
graphischer Erinnerungen (im Vergleich zum lateralen präfrontalen Gehirnstrukturen sowie
Abruf früher Kindheitserinnerungen). posterioren Regionen des Scheitellappens. Diese
Psychogene Amnesien: Nicht nur morphologi- lokalen Veränderungen neuronaler Mechanis-
16 I. Grundlagen des Erinnerns

men können gelegentlich, aber keineswegs im- den Zugang zu zeitlichen und räumlichen Kon-
mer mit neurofunktionellen Bildgebungsverfah- texten von Ereignissen und beinhaltet im Falle des
ren entdeckt werden. Unmittelbarer Auslöser für episodisch-autobiographischen Gedächtnisses ty-
das Auftreten psychogener Amnesien ist häufig pischerweise Eindrücke der eigenen Erfahrung ei-
ein emotional belastendes Erlebnis. So etwa im nes Erlebnisses und des ›persönlichen Eigentums‹
Fall des psychogenen Amnestikers A.M.N., der einer Erinnerung. In nicht-pathologischen Fällen
nach einem Schockerlebnis die für funktionelle sind wir überzeugt, uns an Episoden unserer ›ei-
Gedächtnisstörungen typischen Defizite im Be- genen‹ Vergangenheit zu erinnern. Bei psychiatri-
reich des episodisch-autobiographischen Ge- schen Patienten mit Schizophrenie oder dissozia-
dächtnisses zeigt. A.M.N. hatte als Vierjähriger tiver Identitätsstörung kann das autonoetische
gesehen, wie ein Mann in einem Auto verbrannte. Bewusstsein schwerwiegend gestört sein. Bei-
Später, im Alter von 23 Jahren, erlebte er einen spielsweise können die Patienten in bestimmten
offenen Brand im eigenen Haus. Nach diesem Stadien der Erkrankung eigene Erinnerungen als
zweiten Branderlebnis trat bei ihm eine persistie- die einer fremden Person erleben. (Es gibt noch
rende psychogene Amnesie auf. Eine kernspinto- vielfältige weitere Störungen des episodischen Ge-
mographische Untersuchung (Magnetresonanz- dächtnisses und anderer Gedächtnissysteme, die
tomographie) seines Gehirns zeigte keine anato- Bestandteile der Symptomatik solcher psychiatri-
mischen Schädigungen des Zentralen Nerven- schen Krankheitsbilder sind.) Nach dem philoso-
systems. Mit Hilfe eines Untersuchungsverfah- phischen Ansatz von Gallagher (2000) beinhaltet
rens, das die Messung des Glukosestoffwechsels das autonoetische Bewusstsein sowohl den Ein-
im Gehirn ermöglicht, konnte jedoch in gedächt- druck des persönlichen Eigentums (self-ownership
nisrelevanten Strukturen des Zentralen Nerven- = das Gefühl, dass ich selbst es bin, der eine Erfah-
systems ein verminderter Glukosestoffwechsel rung macht) als auch den des eigenen Handelns
nachgewiesen werden. Zum Zeitpunkt dieser Un- (self-agency = das Gefühl, dass ich selbst es bin,
tersuchung hatte A.M.N. keinerlei bewusste Er- der die Quelle oder der Initiator einer Handlung
innerungen an autobiographische Episoden sei- ist). Inwieweit Tiere (z. B. Rabenvögel, Primaten)
ner letzten sechs Lebensjahre (retrograde Amne- derartige eng an die Differenzierung episodischer
sie), und er konnte sich auch neue Information Gedächtnisfunktionen geknüpfte Bewusstseinsfä-
nicht mehr einprägen (anterograde Amnesie). higkeiten besitzen, wird seit einiger Zeit intensiv
Ein Jahr später war seine psychogene Amnesie untersucht (z. B. Mulcahy/Call 2006).
noch so schwerwiegend, dass er weiterhin nicht Der Abruf von prä-semantischer Information
seinem früheren Beruf nachgehen konnte. Eine aus dem perzeptuellen Gedächtnis und von Fak-
Folgeuntersuchung zeigte jedoch zu diesem Zeit- tenwissen aus dem Wissenssystem ist nach Tul-
punkt (d. h. zwölf Monate nach dem Auftreten ving (2005) von einem noetischen Bewusstsein be-
der psychogenen Amnesie) eine Wiederherstel- gleitet. Dieses unterscheidet sich von der autono-
lung des normalen zerebralen Glukosestoff- etischen Bewusstseinsform vor allem durch den
wechsels. Parallel wurden bei A.M.N. erste mit- Aspekt des Kontextbezugs. Während das auto-
tels neuropsychologischer Testverfahren mess- noetische Bewusstsein zeitliche und räumliche
bare Verbesserungen seiner Gedächtnisleistungen Kontexte von Ereignissen mit einschließt (siehe
nach etwa acht Monaten beobachtet (Marko- oben), beinhaltet das noetische Bewusstsein kei-
witsch u. a. 2000). nen solchen Kontextbezug. Es erlaubt daher
keinen Zugang zu zeit-räumlichen Ereigniskon-
texten, sondern ausschließlich den Abruf von
Gedächtnis und Bewusstsein
vertrauten Aspekten perzeptueller Information
Nach Tulving (2005) ist das episodische Gedächt- (perzeptuelles Gedächtnis) und von Fakten (Wis-
nis von einem autonoetischen Bewusstsein beglei- senssystem). Beispiele hierfür sind weiter oben in
tet. Diese Form des Bewusstseins ermöglicht uns Abbildung 1 illustriert.
1. Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis 17

Der unbewusste Abruf motorischer und per- nes Menschen. Umgekehrt verändern aktuelle
zeptueller Fähigkeiten aus dem prozeduralen Ge- Selbstkonzepte die (Re-)Interpretation autobio-
dächtnis und dem Primingsystem ist nach Tul- graphischer Erlebnisse und modifizieren dadurch
ving (2005) mit einem anoetischen Bewusstsein auch die persönlichen Erinnerungen daran.
assoziiert. Das anoetische Bewusstsein ermög-
licht es uns insofern, etwas aus dem Gedächtnis
Neuronale Mechanismen der Rekonstruktion
abzurufen, ohne dass wir uns dieser Gedächtnis-
vergangener Lebenswelten
leistung bewusst sind (Beispiele finden sich eben-
falls in Abbildung 1). Neuronale Plastizität: Sowohl Umwelteinflüsse
(extrinsische Faktoren; z. B. Erfahrungen in der
Familie und im sozialen Umfeld, generell Um-
Eigenschaften des episodisch-
welteinwirkungen) als auch genetische und bio-
autobiographischen Gedächtnisses
logische Faktoren (intrinsische Faktoren; z. B. ge-
Das episodisch-autobiographische Gedächtnis netische Dispositionen, physiologische Prozesse,
operiert rekonstruktiv und erlaubt auf diese Weise diverse medizinische Erkrankungen) formen und
eine fortlaufende Re-Interpretation vergangener modifizieren die Vernetzung von Nervenzellen.
persönlicher Erlebnisse. Wir sind in der Lage, die Diese Eigenschaft unseres Gehirns wird als neu-
persönliche Vergangenheit jeder neuen Perspek- ronale Plastizität bezeichnet. Die Plastizität des
tive aus einer aktuellen Lebenssituation kontinu- Zentralen Nervensystems ist in frühen Lebens-
ierlich anzupassen. Die Rekonstruktivität des epi- stadien besonders stark ausgeprägt, bleibt jedoch
sodisch-autobiographischen Gedächtnisses fällt – wenngleich sie im Verlauf des Alterns abnimmt
besonders ins Auge, wenn man die Veränderun- – über die gesamte Lebensspanne eines Men-
gen subjektiver kognitiver und emotionaler Be- schen erhalten.
wertungen von persönlichen Lebenserfahrungen Eine Studie von Maguire u. a. (2000) demons-
im Verlauf des Lebens eines Individuums be- triert die neuronale Plastizität unseres Gehirns
trachtet. Durch die Verknüpfung mit einem eindrucksvoll bei Taxifahrern in London. Mit
autonoetischen Bewusstsein ist das episodisch- Hilfe der Magnetresonanztomographie fanden
autobiographische Gedächtnis an eine selbst-refe- die Autoren bei Taxifahrern typische erfahrungs-
rentielle Perspektive geknüpft: es ist per se eine abhängige Vergrößerungen einer Teilstruktur des
selbst-referentielle Form unseres Gedächtnisses. Hippocampus, die auf die beruflich bedingten
Entsprechend besitzt es eine Schlüsselfunktion hohen Anforderungen an das räumliche Ge-
für Prozesse der Persönlichkeits- und Identitäts- dächtnis und die räumliche Orientierung zurück-
entwicklung (z. B. Pasupathi 2001) sowie auch für geführt werden können. Der Hippocampus spielt
die synchrone subjektive Wahrnehmung einer- insbesondere für den räumlichen Kontextbezug
seits der Kontinuität und andererseits des Wan- des episodischen Langzeitgedächtnisses, aber
dels von eigenen Persönlichkeits- und Identitäts- auch generell für die räumliche Kognition und
merkmalen. Die Befunde entwicklungspsycholo- Navigation eine Schlüsselrolle (Squire 1992).
gischer Studien über das autobiographische Die Plastizität des Zentralen Nervensystems
Gedächtnis stimmen mit dieser Sichtweise gut erlaubt, dass sich jede neue Erfahrung in das Ge-
überein: die Genese des episodisch-autobiogra- hirn ›einschreibt‹ und auf diese Weise unsere
phischen Gedächtnisses verläuft parallel zu und bewussten und unbewussten Erinnerungen an
in enger Verknüpfung mit der Identitäts- und vergangene Ereignisse und deren Interpretation
Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen (z. B. verändert. Umwelteinflüsse können unser Ge-
Cycowicz 2000). Erinnerungen an persönliche dächtnis und damit auch unser Verhalten modi-
Erlebnisse bilden die Erfahrungsgrundlage für fizieren. Die neurobiologische Grundlage solcher
die Entstehung, die Kontinuität und den Wandel Veränderungen ist die erfahrungsabhängige Mo-
von Selbstkonzepten im Zeitverlauf des Lebens ei- dulation der neuroanatomischen und neurofunk-
18 I. Grundlagen des Erinnerns

tionellen Vernetzung von Strukturen des Zentra- oder teilweise amnestisch für das Schockerlebnis
len Nervensystems. Die Plastizität unseres Ge- und seinen Kontext oder erleben es als unwirk-
hirns stellt Mechanismen zu Verfügung für die lich. In den meisten Fällen ist jedoch nicht nur
Formbarkeit unserer Sichtweise vergangener und das Trauma-Ereignis selbst von der Störung be-
gegenwärtiger Situationen und die Herstellung troffen, sondern auch emotional und/oder erfah-
von Kohärenz und Kontinuität in unseren Le- rungsabhängig assoziierte Aspekte von Alltags-
bensgeschichten. Wir sind daher in der Lage, un- episoden. Typisch für die Gedächtnissymptoma-
sere Vergangenheit entsprechend unserer aktuel- tik bei PTSD-Patienten sind auch Störungen der
len Lebenssituationen zu re-modellieren und sie selbst-referentiellen Perspektive und Schwierig-
unseren gegenwärtigen Bedürfnissen entspre- keiten bei der Integration von Erinnerungen in
chend zu adaptieren. Die persönliche Lebens- den raum-zeitlichen autobiographischen Kon-
geschichte wird so flexibel nutzbar für die wech- text. Die autobiographischen Erinnerungen sind
selnden Anforderungen unterschiedlicher Le- meistens fragmentiert, und einzelne Fragmente
bensphasen und -situationen. sind voneinander dissoziiert. Angsterkrankun-
gen und Depression treten bei PTSD-Patienten
als häufigste komorbide (= zusätzliche, von der
Neuronale Plastizität und Psychopathologie
Grunderkrankung abzugrenzende) Störungen
Der Befund, dass Umwelteinwirkungen Konse- auf.
quenzen für den Aufbau und die Funktion des Die Ursache morphologischer und funktionel-
Zentralen Nervensystems haben, ist auch von ler Schädigungen neuronaler Strukturen kann
zentraler Bedeutung für das Verständnis der Ge- sowohl in einer massiven einmaligen und punk-
nese psychiatrischer Erkrankungen und die tuellen (wie z. B. bei einem schweren Unfall) als
Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventio- auch in einer chronischen Stresseinwirkung (wie
nen. Emotional traumatische Erlebnisse können z. B. bei über Jahre andauerndem sexuellen Miss-
›Narben‹ im Gehirn hinterlassen, die im weiteren brauch) liegen. Eine veränderte Ausschüttung
Entwicklungsverlauf zu psychopathologischen von Stresshormonen spielt als physiologische
Symptomen und manifesten psychiatrischen Er- Grundlage der Entstehung solcher durch trauma-
krankungen führen. Die Plastizität des Gehirns tischen Stress verursachten Gedächtnisdefizite
bildet die neurobiologische Grundlage sowohl eine Schlüsselrolle (Sapolsky 1996). Im Kindes-
für die Pathogenese psychiatrischer Erkrankun- alter ist das Gehirn besonders verletzbar durch
gen, als auch für die Modifikation oder Remis- Stresserfahrungen. Aber auch im Erwachsenen-
sion der Störung und eine entsprechende Ver- alter kann traumatischer Stress das Gehirn nach-
änderung von Verhaltensmustern und Persön- haltig schädigen, so dass er über die gesamte Le-
lichkeitsmerkmalen durch psychotherapeutische bensspanne eines Individuums hinweg zu blei-
Intervention (einen Überblick gibt Piefke 2008). benden kognitiv-emotionalen Störungen und
Die Mechanismen der Entstehung klinischer psychiatrischen Krankheitsbildern führen kann.
Symptome durch schädigende Umwelteinwir- Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie
kungen auf die neuroanatomische und neuro- und einiger neurofunktioneller Bildgebungs-
funktionelle Konnektivität von Gehirnstrukturen techniken (z. B. funktioneller Magnetresonanz-
ist besonders evident bei Personen, die nach ei- tomographie, Positronenemissionstomographie)
nem traumatischen Erlebnis (z. B. schwerer Un- konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus,
fall, Umweltkatastrophe, sexuelle Gewalt) eine die Amygdala und angrenzende limbische Areale
posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ent- sowie auch Regionen des präfrontalen Kortexes
wickeln. Eines der Kernsymptome der PTSD ist besonders anfällig für Stresseinwirkungen sind
ein gestörtes emotionales episodisch-autobiogra- (z. B. ein Überblick findet sich in Piefke u. a.
phisches Gedächtnis (z. B. intrusive Erinnerun- 2007). Gurvits u. a. (1996) berichteten verringerte
gen, Dissoziation). PTSD-Patienten sind oft ganz Volumina des Hippocampus (< 25 %) bei Viet-
1. Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis 19

nam-Veteranen mit chronischer PTSD. Liberzon stimmend, dass anatomische und funktionelle
u. a. (1999) zeigten bei Kriegsveteranen mit eben- Veränderungen in Gehirnregionen, die die neu-
falls langjähriger PTSD eine verstärkte Aktivie- ronalen Grundlagen des emotionalen Gedächt-
rung limbischer (z. B. Amygdala) und paralimbi- nisses bilden, bereits in frühen, akuten Stadien
scher Gehirnregionen (z. B. Nucleus accumbens) der PTSD auftreten können. Piefke u. a. (2007)
während der Darbietung von Kriegsgeräuschen. belegten und erweiterten diese Befunde kürzlich
Ähnlich beobachteten Driessen u. a. (2004) in ei- in einer funktionellen Magnetresonanztomogra-
ner Traumaexpositionsstudie bei Frauen mit phie-Studie an chirurgischen Patienten mit aku-
PTSD eine verstärkte Aktivität in Hippocampus- ter PTSD infolge schwerer Unfalltraumata. Die
und Amygdalabereichen der rechten Hemi- akut traumatisierten Unfallpatienten zeigten aus-
sphäre. Parallel zu der limbischen Hyperakti- gedehnte neurofunktionelle Abweichungen im
vierung fanden Liberzon u. a. (1999) eine ver- Hippocampus und in der Amygdala sowie weite-
ringerte Aktivität (= Hypoaktivität) frontaler ren Strukturen des limbischen Systems. Darüber
Gehirnareale, die die Kontrolle und Steuerung hinaus beobachteten die Autoren auch Verände-
emotionaler Prozesse leisten. Die Befunde über rungen der Aktivität des retrosplenialen Kortexes
neuroanatomische und neurofunktionelle Verän- und emotionsregulierender Regionen des prä-
derungen bei Kriegsveteranen mit chronischer frontalen Kortexes. Der Vergleich dieser Befunde
PTSD zeigen besonders eindrucksvoll, dass Trau- über akute PTSD von Piefke u. a. (2008) mit frü-
mata nicht nur in der Kindheit, sondern auch im heren bildgebenden Untersuchungen chroni-
Erwachsenenalter zu schwerwiegenden Schädi- scher Erkrankungsphasen zeigt, dass akute Sta-
gungen des Gehirns führen können. dien der PTSD mit instabileren und weiter ausge-
In den meisten neurofunktionellen Bildge- dehnten neurofunktionellen Veränderungen in
bungsstudien über die Auswirkungen von trau- limbischen, paralimbischen und neokortikalen
matischem Stress auf Gehirnfunktionen wurden Regionen des Zentralen Nervensystems verbun-
bislang Personen mit chronischer PTSD unter- den sind. Während die chronische PTSD auf um-
sucht. Vermutlich spielt jedoch gerade die akute schriebenen und stabilen – und daher nur noch
Phase der Erkrankung eine entscheidende Rolle schwer veränderbaren – anatomischen und funk-
für das wissenschaftliche Verständnis neurofunk- tionellen Veränderungen des Gehirns zu basieren
tioneller Mechanismen der Krankheitsgenese scheint. Es ist daher anzunehmen, dass therapeu-
und des weiteren Erkrankungsverlaufs. Bremner tische Interventionen im frühen, akuten Krank-
(2006) betont die Wichtigkeit der Untersuchung heitsstadium mit größerem Erfolg zum Nachlas-
früher und akuter Effekte emotionaler Traumata, sen von Krankheitssymptomen als in späteren
nicht nur für die neurobiologische Grundlagen- chronischen Erkrankungsphasen eingesetzt wer-
forschung, sondern auch ganz besonders für Aus- den können (Piefke u. a. 2008).
arbeitung effizienter therapeutischer Interventio-
nen zur Vermeidung und Behandlung chroni-
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
scher Formen der PTSD. Bislang sind wenige
Bildgebungsstudien über akute neurobiologische Komplexe neuronale Netzwerke in neokortikalen
Folgen von traumatischem Stress und deren Ver- (insbesondere präfrontalen, temporalen und pa-
änderung im Krankheitsverlauf publiziert. In ei- rietalen) Regionen des zentralen Nervensystems
nigen experimentell kontrollierten Gruppenstu- und in limbischen Strukturen (insbesondere Hip-
dien wurden Abweichungen der Morphologie pocampus, Amygdala, anteriorer Gyrus cinguli)
des anterioren cingulären Kortexes, des Hippo- bilden die neuronale Basis episodischer Gedächt-
campus und der Amygdala, oder veränderte neu- nisprozesse (Enkodierung, Konsolidierung, Spei-
ronale Antworten der Amygdala auf emotionale cherung, Abruf). Entsprechend entstehen Stö-
Gesichtsausdrücke bei Patienten mit akuter rungen des episodischen Gedächtnisses durch
PTSD untersucht. Die Studien zeigten überein- neuroanatomische und/oder neurofunktionelle
20 I. Grundlagen des Erinnerns

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22 I. Grundlagen des Erinnerns

2. Zur Psychologie des Erinnerns KIV etc.). Die (vermeintliche) semantische Leere,
das gemeinsame Konstruktionsprinzip und die-
selbe Länge der Silben sollen die Gleichartigkeit
Pioniere der Gedächtnispsychologie:
des Materials gewährleisten. Ebbinghaus, der
Historische Annotationen
Forscher und Untersuchungsobjekt zugleich war,
In Historiographien der Gedächtnispsychologie lernte in zahlreichen Selbstversuchen zum soge-
werden ausnahmslos zwei besonders einfluss- nannten Listenlernen oder seriellen Lernen eine
reiche Wissenschaftler genannt: Hermann Eb- Reihe sinnloser Silben auswendig. Dazu las er die
binghaus (1850–1909) und Frederic C. Bartlett Liste laut vor, versuchte sie zu reproduzieren, las
(1886–1969). Diese Namen repräsentieren sie wieder laut vor, versuchte sie abermals wie-
grundsätzlich verschiedene Erkenntnisinteressen derzugeben, und dies tat er so lange, bis es ihm
sowie theoretische und methodische Zugänge. fehlerfrei gelang. Im Anschluss ließ er eine (vari-
Andere Pioniere und Wegbereiter der modernen able) Zeit verstreichen und versuchte, die Liste
Gedächtnispsychologie sind weniger prominent. erneut zu reproduzieren. Die Anzahl an Durch-
So wird eher selten an die bedeutenden gedächt- läufen, die er nun brauchte bis seine Behaltens-
nispsychologischen Studien Aleksej N. Leont’evs leistung wieder vollkommen war, notierte er und
(1903–1979) erinnert, wohl auch deswegen, weil setzte sie zu der Anzahl an Durchläufen ins Ver-
diese Studien für eine des Russischen nicht hältnis, die er für das erste Lernen benötigt hatte.
mächtigen Leserschaft lange Zeit nur unvollstän- Er zog die zweite Zahl von der ersten ab und kam
dig zugänglich waren. Im Folgenden werden die so zu einem Maß ersparter Wiederholungen. Die-
Beiträge dieses Mitbegründers der sogenannten ses kann auch prozentual angegeben werden. Da-
sowjetischen kulturhistorischen Schule in der raus resultiert die Ersparnisrate. Ein Beispiel: Bei
Psychologie ebenfalls als klassische Arbeiten ei- 30 ursprünglich benötigten Lautlesedurchgängen
ner noch jungen Gedächtnispsychologie gewür- und 15 Wiederholungsdurchgängen ergibt sich
digt. eine Ersparnisrate von 50 Prozent. Mit Hilfe die-
Ebbinghaus setzt sich in seiner Arbeit Über das ser Ersparnismethode kam Ebbinghaus zur For-
Gedächtnis (1885) das Ziel, das ›reine‹ Gedächt- mulierung der berühmten Vergessenskurve (s.
nis zu untersuchen, d. h. Gedächtnisleistungen, Abb. 1).
die möglichst unabhängig von vorhergehenden Die Vergessenskurve besagt, dass die Erspar-
Erfahrungen und Lernleistungen, aktuellen Wis- nisrate mit zunehmendem Zeitabstand zum ur-
sensbeständen und sonstigen Zuständen sein sol- sprünglichen Lernen immer geringer wird. Dabei
len. Dabei interessieren Ebbinghaus vor allem verhält es sich so, dass in der ersten Zeit nach
Behaltensleistungen. Dieses Memorieren wird als dem ersten Lernen besonders schnell, dann zu-
erfahrungsunabhängige mnestische Funktion des nehmend langsamer vergessen wird, bis hin zu
häufig sogenannten mechanischen, reprodukti- einem ›unvergesslichen Rest‹. Der von Ebbing-
ven oder passiven Gedächtnisses bestimmt. Um haus erstmals aufgewiesene und in zahlreichen
dieses ›reine‹ Gedächtnis untersuchen zu kön- nachfolgenden Untersuchungen (auch mit ande-
nen, müssen die Gedächtnisinhalte von Sinn und rem Material) bestätigte Zusammenhang lässt
Bedeutung ›gereinigt‹ werden, da man es sonst sich stets als negativ beschleunigte Kurve darstel-
bei der Untersuchung ja mit ganz unterschiedli- len. In Abhängigkeit vom Lernmaterial sowie der
chen Voraussetzungen zu tun hätte. Diesen Prüfmethode weisen Vergessenskurven aller-
Zweck sollen ›sinnlose Silben‹ erfüllen, deren Re- dings charakteristische Unterschiede auf. Bedeu-
produktion nach vorhergehendem Auswendig- tungsvolles Material etwa geht mit einer deutlich
lernen rasch zur Standardmethode der Gedächt- geringeren Vergessensrate einher. Sinnlose Silben
nispsychologie wurde. Die sinnlosen Silben kon- werden besonders rasch vergessen. Neben der
struierte Ebbinghaus so, dass ein Vokal von zwei Vergessenskurve gelangte Ebbinghaus in seinen
Konsonanten umschlossen wird (z. B. BOW, JAV, Selbstversuchen noch zu weiteren experimentell
2. Zur Psychologie des Erinnerns 23

Abb. 1: Die Vergessenskurve


(nach Steven Schwartz: Wie
Pawlow auf den Hund kam …:
Die 15 klassischen Experi-
mente der Psychologie.
Weinheim/Basel: Beltz 1988,
110)

fundierten Einsichten. Zu ihnen gehört der Be- chungen zum Teil anders geprüft. Der Test erfolgt
fund, dass die Gedächtnisleistungen umso besser nun nicht mehr allein mittels der Ersparnisme-
sind, je häufiger die Listen im ersten Lautlese- thode, sondern umfasst auch solche Verfahren
durchgang wiederholt werden. Das bedeutet, dass wie die freie oder die gebundene Reproduktion,
sich die aufgewendete Lernzeit positiv auf die Be- die Treffermethode oder Verfahren des Wieder-
haltensleistung auswirkt; intensive Übung beim erkennens.
ersten Einprägen hat einen hohen Ersparniswert Was die praktische Relevanz der Ebbinghaus-
– diesen Tatbestand bezeichnete Ebbinghaus als schen Versuche anbelangt, so sind sie für das
(empirisch bestätigte) Ganzheitshypothese. Auswendiglernen unterschiedlichen Materials,
Ebbinghaus’ Arbeit gehört nicht zuletzt des- etwa Vokabellisten, noch am ehesten von Bedeu-
halb zu jenen Klassikern der Gedächtnispsycho- tung. Ansonsten sind seine Befunde und Theo-
logie, auf welche bis heute Bezug genommen rien kaum oder allenfalls mit erheblichen Ein-
wird, weil sie die experimentelle Methode auf ein schränkungen auf den normalen Alltag übertrag-
neues Gebiet anwandte. Bislang meinte man, Ge- bar. Dies hat dem Ansatz eines vermeintlich
dächtnisleistungen seien in Experimenten gar ›reinen‹, jedenfalls ziemlich artifiziellen Gedächt-
nicht erforschbar. Die experimentelle Psycholo- nisses, das mit ›sinnlosen‹ Silben befasst ist, den
gie bewegte sich deswegen vor allem in den Bah- Vorwurf mangelnder ökologischer Validität ein-
nen der Psychophysik. Das änderte sich mit Eb- gebracht, den Vorwurf also einer mangelnden
binghaus’ innovativen Ideen schlagartig. Sein Gültigkeit seiner Ergebnisse außerhalb des expe-
Ansatz und Vorgehen machte Schule. Gedächt- rimentalpsychologischen Laboratoriums. Diese
nispsychologische Untersuchungen zum soge- Kritik geht mit dem Einwand einher, so etwas wie
nannten verbalen Lernen ab den 1960er Jahren im strengen Sinne des Wortes völlig ›sinnlose‹
sowie zum Paarassoziationslernen etwa sind in Silben gebe es gar nicht, da Menschen auch sol-
ihrem methodischen Aufbau dem Ebbinghaus- ches Material mit Sinn versähen, das auf den ers-
schen Vorbild verpflichtet. Allerdings werden die ten Blick keinen aufweise. So kann man eine Silbe
Behaltensleistungen in diesen neueren Untersu- vielleicht als eine individuell bedeutungsvolle
24 I. Grundlagen des Erinnerns

Abkürzung für ein Wort oder als Erinnerungszei- erzählen soll, der es wiederum einer weiteren
chen für ein persönlich wichtiges Ereignis kodie- Person erzählt usw. (serielle Reproduktion). Zu
ren. Dieses und weitere Bedenken haben an un- den zentralen Resultaten dieser Analysen gehört
terschiedlichen Orten etwa zur gleichen Zeit die Erkenntnis, dass Erinnerungsleistungen kei-
Aleksej N. Leont’ev und Frederic C. Bartlett geäu- neswegs reproduktiv im Sinne eines getreuen Ab-
ßert. Sie forderten die Untersuchung nicht des bildes, sondern aktiv und konstruktiv auf der Ba-
vermeintlich reinen oder passiven, sondern des sis vorgängiger, nicht zuletzt implizit erworbener
aktiven, produktiven, kreativen, dynamischen und soziokulturell variabler Schemata und
oder konstruktiven Gedächtnisses, und zwar un- Skripte (s. u.) erfolgen. Dies zeigt sich etwa daran,
ter alltagsweltlichen oder möglichst lebensnahen dass bei der Reproduktion die Erzählung in der
Bedingungen. Regel kürzer wird, Namen nicht mehr richtig er-
In Bartletts 1932 erschienenem Buch Remem- innert werden und die Nacherzählungen eine
bering geht es um »efforts after meaning«, um ein Reihe weiterer bezeichnender Fehler enthalten,
sinn- und bedeutungsvolles Erinnern und Ver- die häufig etwas mit eigenen – sei es kulturellen,
gessen. Der englische Gedächtnisforscher wird sozialen oder persönlichen – Erfahrungen, Er-
damit zu einem Wegbereiter einer Psychologie, wartungen und den verfügbaren sprachlichen
die an »acts of meaning« (Bruner 1990) interes- Ausdrucksmöglichkeiten zu tun haben. Beson-
siert ist und dabei auch kulturpsychologische ders bemerkenswert war für Bartlett, dass die bri-
Perspektiven einnimmt. Bartlett rückt genau das- tischen Versuchspersonen aus den teilweise ja
jenige ins Zentrum, wovon sich Ebbinghaus ent- ziemlich fremdartigen Bestandteilen der indiani-
ledigen wollte in seiner möglichst objektiv und schen Geschichte vertraute Ereignisse und Hand-
exakt verfahrenden, dem naturwissenschaftli- lungen machten. Die Nacherzählungen waren
chen Ideal verpflichteten Gedächtnispsychologie. nicht nur einfacher, sie zeichneten sich auch viel
Für subjektive, soziale oder kulturelle Akte der stärker durch eine den Probanden vertraute, lo-
Sinngebung oder Bedeutungszuschreibung war gisch-rationale Ordnung aus als die mitunter et-
da kein Platz. Auch Bartlett hatte zunächst mit was mythische Originalgeschichte.
sinnlosen Silben geforscht, diesen Ansatz aber Remembering blieb durch die Dominanz des
bald schon verworfen. Er widmete sich fortan Behaviorismus lange Zeit eine angemessene
den Strukturen und Funktionsweisen des Ge- Rezeption verwehrt. Erst im Zuge der kogniti-
dächtnisses als eines lebensweltlichen und alltäg- ven Wende, also seit den 1950er Jahren, änderte
lichen Phänomens. Dies heißt, dass Gedächtnis, sich das rapide. In der an alltagsweltlichen Prak-
Erinnerung und Vergessen in Abhängigkeit von tiken interessierten ›ökologischen‹ Gedächtnis-
soziokulturellen Rahmenbedingungen und prag- forschung (Ulric Neisser u. a.) wird Bartlett
matisch-situativen Erinnerungskontexten be- ebenso wiederentdeckt wie in den neuen Arbei-
trachtet werden. ten zur künstlichen Intelligenz (Marvin Minsky
Methodisch wird dieses Interesse im Rahmen u. a.). Ähnliches widerfuhr der Würzburger
›qualitativer‹ Forschungen in alltagsnahen Set- Schule der Denkpsychologie, der Berliner Schule
tings mittels ökologisch valider, also auch für All- der Gestaltpsychologie und weiteren Strömun-
tagskontexte gültige, Aufgaben umgesetzt, deren gen, die nun allesamt zu neuen Ehren kamen und
Bearbeitungen protokolliert und interpretiert der Forschung neue Impulse verliehen. Bis heute
werden. Sinn- und bedeutungsvolle Akte des Er- knüpfen zahlreiche Analysen speziell an Bartletts
innerns und Vergessens werden in Remembering Einsichten an, z. B. im Bereich des ›false memory
etwa mit der Darbietung des indianischen Mär- syndromes‹ (s. u.) oder im weiten Feld der für die
chens The War of the Ghosts untersucht, das (stu- Erinnerungs- und Gedächtnisforschung des spä-
dentische) Probanden nach variierenden Zeitab- ten 20. Jahrhunderts so wichtigen narrativen Psy-
ständen nacherzählen sollen (wiederholte Repro- chologie. Die für Bartletts Struktur- und Funkti-
duktion) bzw. das ein Proband einem anderen onstheorie des Gedächtnisses zentralen Erinne-
2. Zur Psychologie des Erinnerns 25

rungsschemata, die mit den im Alltag tagtäglich so dar: Der ›Primitive‹ verfügt lediglich über ein
erneuerten Ereignis- und Handlungsskripten elementares, natürliches Gedächtnis und lebt
verwandt sind, waren eben nicht zuletzt Erzähl- noch beinahe ausschließlich in der Gegenwart.
schemata. Die soziokulturell geprägte Sinn- und Dieses natürliche Gedächtnis ist abhängig von
Bedeutungsstruktur von Erinnerungen ist ohne den gerade eintreffenden Reizen, die mal diesen,
deren häufig geschichtenförmige Gestalt kaum mal jenen Gedächtnisinhalt hervorrufen. Im wei-
zu begreifen. Erinnerungen gehören zu einem teren kulturgeschichtlichen Verlauf tauchen Völ-
bemerkenswerten Teil zum narrativen Modus ker auf, die ihre Erinnerungsleistungen deutlich
menschlichen Denkens (Bruner 1986). verbessern können. Dies gelingt ihnen durch die
Leont’ev (2001) untersucht in seiner Monogra- Verwendung von ›Zwischen-Stimuli‹, das sind
phie zur Entwicklung des Gedächtnisses von Hilfsmittel wie Knoten oder Kerben. Zu Beginn
1932 dessen – wie er es nennt – spezifisch mensch- sind diese ›Zwischen-Stimuli‹ noch wenig diffe-
liche Formen. Seine bahnbrechende Arbeit ist in renziert und haben nur für denjenigen Bedeu-
ihrer Stoßrichtung in vielerlei Hinsicht mit den tung, der sie verwendet. Das ändert sich erst mit
Studien Bartletts verwandt. Die spezifisch dem späteren Auftauchen hochspezifischer Sys-
menschlichen Formen des Gedächtnisses sind teme, vor allem von Schriftzeichen. Die Transfor-
für Leont’ev die »höheren« Formen. Diese »höhe- mation des ›äußerlich‹ vermittelten Einprägens
ren« Formen seien sozio-kulturell bedingt und mit Hilfe von ›Zwischen-Stimuli‹ in ein ›inner-
werden von den »niederen« Formen unterschie- lich‹ vermitteltes Einprägen ohne äußere Hilfen
den, die biologisch bedingt seien. Damit möchte bildet den Schlusspunkt der Entwicklung. Es ist
er »zu einer Psychologie des modernen Men- hier auch die Rede von einem ›Hineinwachsen‹
schen unter realen Lebensumständen« beitragen, der Hilfsmittel in die psychische Konstitution des
statt einfach nur den bereits ausgetretenen »Weg Menschen. Das unwillkürliche, unvermittelte,
zu einer ›Psychologie‹ der Laboratoriums-Ver- biologische oder mechanische Gedächtnis wird
suchsperson« mitzugehen (ebd., S. 91). Letzteres in der Menschheitsgeschichte sukzessive in ein
wirft er allen psychologischen Strömungen vor, vermitteltes, signifikatives oder logisches Ge-
die sich auf das ›mechanische‹ Gedächtnis ver- dächtnis umgewandelt.
steift haben. Seine Kritik richtet sich in der Diesen Entwicklungsverlauf nimmt Leont’ev
Hauptsache gegen Ebbinghaus. Die Verwendung auch in ontogenetischer Perspektive an und führt
bloß vermeintlich sinnloser Silben (s. o.) er- dazu Experimente mit über tausend Versuchs-
scheint ihm als inadäquat. personen durch. Zu seinen Probanden gehören
Leont’ev beginnt seine Analysen mit einer Vorschul-, Grundschul-, Hilfsschulkinder, geistig
Skizze der Kulturgeschichte des Gedächtnisses. Behinderte, Studenten und (ältere) Erwachsene.
Dabei greift er auf bereits vorhandene Arbeiten Leont’ev führte auch Experimente durch, um die
zurück, vor allem auf diejenigen von Lucien postulierte Entwicklung des Gedächtnisses ›in
Lévy-Bruhl, Richard Thurnwald und Pierre Ja- vivo‹ beobachten zu können. Er spricht diesbe-
net. Sein zentrales Ergebnis lautet: Das Gedächt- züglich vom Typ des ›genetischen Experiments‹.
nis ist prinzipiell abhängig von den sozialen For- Es soll die Normalentwicklung simulieren. Inner-
men menschlichen Lebens. Es variiert mit dem halb von etwa zwei Monaten sollen entwicklungs-
historischen Wandel von Kultur und Gesellschaft. fähige Probanden im Unterricht den Übergang
Die das Gedächtnis strukturell, inhaltlich und von einem mechanischen zu einem logischen Ge-
funktional prägenden sozialen Formen haben dächtnis trainieren. Der angestrebte Schritt ge-
insbesondere mit den jeweils dominierenden Ar- lingt nahezu ausnahmslos. Dadurch sieht Leont’ev
beitstätigkeiten und deren Organisationsformen seine generelle Entwicklungstheorie des Ge-
zu tun. Mit ihrer Ausdifferenzierung geht auch dächtnisses gestützt.
die Entwicklung des Gedächtnisses einher.
Im Einzelnen stellt Leont’ev diese Entwicklung
26 I. Grundlagen des Erinnerns

Methoden der Gedächtnispsychologie Eine besondere methodische Herausforderung


stellen ganze Texte als Lernmaterial dar (im Un-
Die Methoden der Gedächtnispsychologie um- terschied zu einzelnen Wörtern). Hierauf bezo-
fassen laborexperimentelle und nicht-experi- gene Prüfungen der Reproduktion können sich
mentelle Verfahren, wobei innerhalb der experi- einerseits an der Auszählung von Inhaltswörtern
mentellen Verfahrensklasse bei der Auswertung des Textes orientieren. Andererseits kann auch
statistische Analysemethoden, bei der anderen die Anzahl an Propositionen (s. u.), die sich im
Verfahrensklasse ebenfalls statistische, aber auch Reproduktionsprotokoll finden, erfasst werden.
– wenngleich vergleichsweise selten – qualitative Allgemein kann festgehalten werden, dass Wie-
Methoden eingesetzt werden. Die nicht-laborex- dererkennungsleistungen oftmals noch dann er-
perimentellen Verfahren sind insbesondere im folgen, wenn den Versuchspersonen Reprodukti-
Rahmen der ›ökologischen‹ Gedächtnis- und Er- onen nicht mehr möglich sind. Rekognitionen
innerungsforschung entwickelt worden, die sich erweisen sich also meistens als die sensibleren
als Alternative oder – je nach Radikalität der pro- Gedächtnisindikatoren. Die bis jetzt angespro-
grammatischen Verlautbarungen – zumindest als chenen Methoden erbringen direkte Gedächtnis-
Ergänzung zur ›traditionellen‹ Gedächtnispsy- maße. Ebbinghaus’ Ersparnismethode gehört
chologie zu etablieren suchte. ebenfalls zu den direkten Gedächtnismaßen. In-
Im experimentellen Paradigma gibt es eine direkte Gedächtnismaße werden etwa über die
Vielzahl an Methoden zur Prüfung der Gedächt- Identifikation sogenannter ›priming‹-Effekte ge-
nisleistung. Getestet werden üblicherweise die wonnen. Weitere ausgefeilte methodische Ver-
Rekognitions- oder Wiedererkennungs- sowie fahren beziehen sich auf die Messung von Ant-
die Reproduktionsleistungen von Versuchsperso- wortzeiten sowie die Variation von Parametern
nen. Rekognitionsleistungen werden etwa mittels des Lernmaterials und der Bestimmung ihrer
›erzwungener Wahl‹ bzw. ›Mehrfachwahlauf- Auswirkungen auf Gedächtnisleistungen. In
gabe‹ untersucht. Dazu werden einem Probanden jüngster Zeit hat schließlich noch eine bestimmte
in der Phase des Abrufs mindestens zwei Stimuli Spielart der laborexperimentellen Methodik in
vorgelegt, von denen aber nur einer in der Dar- der Gedächtnispsychologie einen besonderen
bietungs- und Enkodierungsphase präsentiert Aufschwung erfahren, nämlich die sogenannten
worden ist. Der andere Stimulus stellt einen Dis- bildgebenden Verfahren, die insgesamt im Zuge
traktor, einen Störreiz, dar. Die Versuchsperso- der Erstarkung neuro- bzw. biopsychologischer
nen sollen entscheiden, welcher der Stimuli be- Erkenntnisinteressen eingesetzt, stetig modifi-
reits in der Enkodierungsphase dargeboten wor- ziert und weiterentwickelt werden (s. Kap. I.1).
den ist. Mit Hilfe der Signalentdeckungstheorie Zu den nicht-laborexperimentellen Methoden
bemüht man sich erfolgreich, die Möglichkeit zu- gehören etwa Tagebuchaufzeichnungen, Nacher-
treffender Antworten aufgrund von Raten me- zählungen, Analysen von Archivmaterial, mehr
thodisch zu kontrollieren. Reproduktionen un- oder weniger offene Interview- bzw. Gruppendis-
terscheiden sich insofern von den Rekognitionen, kussionsverfahren oder Kasuistiken. Tagebuch-
als sie die aktive Wiedergabe von Gedächtnisin- aufzeichnungen werden in Forschungen zum
halten erfordern. Zumeist wird eine mündliche autobiographischen Gedächtnis verwendet, bei-
Wiedergabeform gewählt. Varianten der Prüfung spielsweise dergestalt, dass sie als Vergleichsma-
von Rekognitionsleistungen stellen etwa die Me- terial dienen für spätere Abrufversuche, die etwa
thode der geförderten Reproduktion und die freie entlang der ›cues‹ Was, Wer, Wo und Wann erfol-
Reproduktion dar. Bei der Methode der geförder- gen. Nacherzählungen waren z. B. für die Bart-
ten Reproduktion werden den Versuchspersonen lettschen Studien zur schemabasierten (Re-)Kon-
Abrufhilfen zur Verfügung gestellt. Die Methode struktivität des Gedächtnisses von herausragen-
der freien Reproduktion sieht dagegen keine Ab- der methodischer Bedeutung. Analysen von
rufhilfen vor. Archivmaterial finden sich oftmals in Untersu-
2. Zur Psychologie des Erinnerns 27

chungen zum episodischen oder zum autobio- tisch-professionell bedingten) Begegnungen mit
graphischen Gedächtnis. Sie ermöglichen Ver- ihm. In dem anderen Fallporträt – Kleines Porträt
gleiche zwischen archivierten Informationen und eines großen Gedächtnisses (russ. 1968) – leuchtet
in anderen Medien protokollierten Erinnerun- Lurija das neuropsychologisch hypertrophe
gen, und dies wiederum bringt Aufschlüsse über mnestische Funktionieren des Gedächtniskünst-
die Veridikalität, also die ›Realitätshaltigkeit‹ von lers Shereshevskij aus, ohne dass er sich isolie-
Erinnerungen. Im Zuge von Untersuchungen rend bloß auf dessen Gedächtnis konzentriert
zum autobiographischen Gedächtnis werden in hätte. Vielmehr geht es ihm auch in diesem Fall-
ihrer Offenheit variierende biographische Inter- porträt um (allerdings außergewöhnliche) Erin-
views geführt. In Gruppendiskussionen werden nerungs- und Vergessensleistungen im Kontext
bisweilen auch Erzählungen, Berichte und Argu- der gesamten Persönlichkeit.
mentationen zur kollektiven Vergangenheit der
Gruppenmitglieder erhoben, beispielsweise in
Das Gedächtnis als Mehrspeichermodell
Bezug auf ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.
Dieses Verfahren findet ebenfalls Verwendung William James unterschied bereits gegen Ende
bei der Analyse von Tradierungsprozessen im des 19. Jahrhunderts in seinem Werk Principles of
›Familiengedächtnis‹ (Welzer u. a. 2008; s. Kap. Psychology (1890) zwischen einem primären und
IV.6). Biographische Interviews und Gruppendis- einem sekundären Gedächtnis. Er brach also mit
kussionsverfahren werden nicht zuletzt dazu ein- der Vorstellung eines monolithischen, einheitli-
gesetzt, um Aussagen über die Organisation au- chen Gedächtnisses. Das primäre Gedächtnis
tobiographischen Erinnerns treffen zu können, umfasst nach James Informationen, die seit ihrer
wobei dann Fragen nach dessen Veridikalität se- Aufnahme ins Bewusstsein ununterbrochen dort
kundär oder gänzlich uninteressant sein können. präsent sind, wogegen im sekundären Gedächt-
Kasuistiken spielen eine wichtige Rolle in der nis Informationen aufbewahrt werden, die nach
Klasse der nicht-laborexperimentellen Verfahren ihrer Verarbeitung zwar aus dem Bewusstsein
der psychologischen Gedächtnis- und Erinne- treten, aber nach einiger Zeit möglicherweise
rungsforschung. Solche Einzelfallanalysen kön- wieder abgerufen werden können. Donald Broad-
nen recht unterschiedliche Gestalt annehmen. In bent (1957) ebnete mit seinen Untersuchungen in
Neissers Fallstudie zu John Deans Erinnerungen den 50er Jahren zur begrenzten Kapazität des
(1981) werden etwa Tonbandaufzeichnungen menschlichen Sensoriums, die zur Annahme ei-
und Archivmaterialien miteinander verglichen nes vom Langzeitgedächtnis unterschiedenen
(s. u.). Anders nehmen sich demgegenüber die ›Zwischenspeichers‹ führten, den Weg für die
›neurologischen Geschichten‹ Aleksandr Lurijas neueren Mehrspeicher- oder Mehrkomponen-
(1991) aus. In einem von zwei berühmt gewor- tenmodelle. Aber erst mit dem Dreispeicher-Mo-
denen Fallporträts – Der Mann, dessen Welt in dell des Gedächtnisses und der damit verknüpf-
Scherben ging (russ. 1971) – wird die Entwick- ten Zwei-Komponenten Theorie von Richard C.
lung eines Mannes namens Zaseckij (neuro-)psy- Atkinson und Richard M. Shiffrin (1968), brach
chologisch rekonstruiert. Zaseckij hatte im Zwei- sich die Sichtweise, das Gedächtnis als strukturell
ten Weltkrieg eine schwere Schussverletzung er- (und funktional) differenziert und prozessual zu
litten. Ausführungen zu dessen mnestischem betrachten, endgültig Bahn. Dieses Modell sieht
Funktionieren im Kontext anderer psychischer eine Unterscheidung zwischen einem Ultrakurz-
Funktionen, ja seiner gesamten Persönlichkeit, zeit-, einem Kurzzeit- und einem Langzeitspei-
nehmen einen wichtigen Raum in Lurijas Analy- cher bzw. -gedächtnis vor und nutzt auch sonst in
sen ein. Dabei greift er einerseits auf ein umfang- mancherlei Hinsicht den Computer als Quelle
reiches Konvolut aus Tagebuchaufzeichnungen der analogisierenden Theoriebildung (s. Abb. 2,
zurück, die Zaseckij ihm überlassen hatte, sowie S. 28).
auf Erfahrungen aus seinen wiederholten (prak- Der Ansatz unterscheidet insofern zwei Kom-
28 I. Grundlagen des Erinnerns

Abb. 2: Ein typisches


Mehrspeichermodell
(nach Franz Schermer:
Lernen und Gedächtnis.
Stuttgart: W. Kohl-
hammer GmbH 1991,
119)

ponenten des Gedächtnisses, als er von statisch- halbe Sekunde bis zu vier Sekunden. Besondere
strukturellen Merkmalen einerseits, den eben Prominenz bei der Erforschung der Funktions-
genannten Speichern bzw. Gedächtnisbereichen, weise des Ultrakurzzeitgedächtnisses erlangten
sowie prozessualen Merkmalen andererseits – die Experimente George Sperlings (Sperling
das sind gezielt ausgeführte Schritte der Informa- 1960). Sperling bot Versuchspersonen visuelle
tionsverarbeitung – ausgeht. Das Ultrakurzzeit- Reize für wenige Millisekunden mittels eines Ta-
gedächtnis wird auch sensorisches Gedächtnis chistoskops, eines Apparats zur Vorführung opti-
oder sensorisches Register genannt, das Kurzzeit- scher Reize, dar. Als Reizmaterial verwendete er
gedächtnis nach einflussreichen Arbeiten Alan beispielsweise Buchstaben-Matrizen, die aus drei
Baddeleys (1986) bisweilen auch Arbeitsge- Reihen mit je drei Buchstaben bestanden. Wur-
dächtnis. Die in der Sekundärliteratur zumeist den die Versuchspersonen unmittelbar nach der
vorgenommene Gleichsetzung zwischen Kurz- Darbietung darum gebeten, möglichst viele Buch-
zeit- und Arbeitsgedächtnis ist allerdings inso- staben zu erinnern (Ganzberichtmethode), so
fern unpräzise (oder sogar inkorrekt), als das wurden vier bis fünf Buchstaben reproduziert.
ursprüngliche Baddeleysche Konzept auf eine Forderte man die Versuchspersonen dagegen auf,
Ersetzung eines einheitlichen Kurzzeitgedächt- nur eine Buchstabenreihe wiederzugeben, wobei
nisses durch ein Mehrkomponenten-Arbeits- ein bestimmtes akustisches Signal nach Darbie-
gedächtnis-Konzept abzielte. Dieses sieht eine tung des Reizmaterials anzeigte, um welche Reihe
›zentrale Exekutive‹ sowie zwei ›Sklavensysteme‹ es sich handeln solle (Teilberichtmethode), ergab
– die phonologische Schleife und den visuell- sich ein interessantes Bild: Ganz unabhängig da-
räumlichen Notizblock – vor. Die Aufgabe der von, welche Reihe reproduziert werden sollte,
phonologischen Schleife ist es, sprachliche In- war die Erinnerungsleistung der Probanden hier
formationen zu verarbeiten. Die Aufgabe des vi- so gut wie vollkommen. Sperling schloss daraus,
suell-räumlichen Blocks ist es, visuelle bzw. dass die gesamte Buchstaben-Matrix den Ver-
räumliche Informationen zu verarbeiten. suchspersonen für kurze Zeit präsent ist. Je mehr
Das Ultrakurzzeitgedächtnis im Modell von das akustische Signal nach der Darbietung des
Atkinson und Shiffrin stellt die erste Stufe des Reizmaterials verzögert wird, desto schlechter
Dreispeicher-Modells des Gedächtnisses dar. wird die Reproduktionsleistung.
Man nimmt an, dass es für jede Sinnesmodalität Damit Informationen aus dem Ultrakurzzeit-
ein sensorisches Register gibt. Besonders gut un- gedächtnis ins Kurzzeitgedächtnis gelangen,
tersucht sind zwei Register, das visuelle oder iko- muss ihnen Aufmerksamkeit gewidmet werden.
nische und das auditive oder Echogedächtnis. In Die aufgenommenen Informationen können
die sensorischen Register gelangt eine Vielzahl dann bis zu 20, max. 30 Sekunden im Kurzzeitge-
an Informationen – ihre Kapazität ist also sehr dächtnis behalten werden. Innerhalb dieser un-
groß –, die Verweildauer der Informationen ist mittelbaren Gedächtnisspanne, die zu unserer
allerdings sehr gering, sie beträgt lediglich eine psychologischen Gegenwart gehört, können die
2. Zur Psychologie des Erinnerns 29

Informationen bewusst verarbeitet werden. Im ses beinhaltet Wissen, das die symbolische Be-
Kurzzeitgedächtnis wird akustisch-artikulato- schreibung von Fakten, Objekten, Situationen
risch, visuell, olfaktorisch oder semantisch ko- oder Ereignissen umfasst (›knowing that‹), expli-
diert. Bei erhaltender Wiederholung sind Infor- zit, bewusst und leicht verbalisierbar ist. Es wird
mationen in diesem Gedächtnisspeicher nahezu davon ausgegangen, dass das deklarative Ge-
beliebig lange verfügbar, etwa indem man sich dächtnis eine vergleichsweise neue Entwicklung
die fraglichen Informationen immer wieder kon- in der Evolution darstellt und insbesondere an
zentriert vorsagt. Aber erst im Zuge elaborativen den Hippocampus, benachbarte Hirnregionen
Wiederholens wird das Material so bearbeitet, sowie den Neokortex gebunden ist. Für diese An-
dass es in ein größeres – häufig bedeutungsstruk- nahme sprechen neuropsychologische Befunde
turiertes – Netzwerk gestellt wird, womit die an amnestischen Patienten sowie Studien mit un-
Wahrscheinlichkeit, sich zu einem späteren Zeit- terschiedlichen Säugetierarten (s. Kap. I.1).
punkt an das Material zu erinnern, gesteigert Das semantische Gedächtnis umfasst die Be-
wird. Damit sind die Informationen dann aber deutung von Wörtern und anderen Symbolen,
schon im Langzeitgedächtnis ›gelandet‹. Anders Kenntnisse von Regelsystemen und unser allge-
als beim Ultrakurzzeitgedächtnis ist die Kapazität meines faktenbasiertes Weltwissen. Die Inhalte
des Kurzzeitgedächtnisses sehr begrenzt, ein Tat- dieses Systems sollen ohne einen räumlich-zeitli-
bestand, auf den schon Ebbinghaus in seinen Ex- chen Bezug gespeichert sein. Das ist beim episo-
perimenten stieß. Sie umfasst lediglich sieben dischen Gedächtnis anders. Dieses Gedächtnis-
plus/minus zwei Einheiten oder ›chunks‹ (Klum- system soll nämlich für räumlich und zeitlich da-
pen), so George Miller (1956) in einer heute als tierbare Ereignisse zuständig sein. Wie, wo, wann
klassisch geltenden Arbeit. Diese Anzahl soll un- und in welcher Reihenfolge man etwas erlebt hat,
abhängig von der Komplexität der Einheiten sein. wird mit Hilfe des episodischen Gedächtnisses
Durch ›chunking‹ kann die Erinnerungsleistung erinnert. Bisweilen wird das episodische auch als
verbessert werden. Das ›chunking‹ sieht keine Er- autobiographisches Gedächtnis bezeichnet (s.
höhung der Zahl an ›chunks‹ vor, sondern deren Kap. II.1). Das ist allerdings mindestens missver-
Erweiterung durch sinn- und bedeutungsvolle ständlich, da nicht alles, was im tagtäglichen Le-
Verknüpfungen. So lässt sich die Zahlenreihe ben geschieht (und damit möglicherweise im epi-
161816481914191819391945 bedeutend leichter sodischen Gedächtnis gespeichert wird), auch
memorieren, wenn man sich nicht jede Ziffer biographisch relevant ist. Das prozedurale Ge-
einzeln merkt, sondern die Ziffern zu historisch dächtnis, das bereits von Ebbinghaus und Ewald
bedeutungsvollen Daten gruppiert. Hering als habituelles oder als operatives Ge-
Das Langzeitgedächtnis schließlich umfasst dächtnis bezeichnet wird, umfasst Inhalte, die als
die psychologische Vergangenheit. Seine Kapazi- Wissen im Sinne eines ›knowing how‹ Fähigkei-
tät ist prinzipiell unbegrenzt, die Verweildauer ten und Fertigkeiten zugrunde liegen, die vorwie-
des dort Abgelegten soll lebenslang anhalten. gend implizit sind und z. T. nur schwer oder gar
Dieses Gedächtnissystem beinhaltet das gesamte nicht verbalisiert werden können. Die in diesem
Welt- und Selbstwissen eines Menschen. Fol- Gedächtnissystem gespeicherten (motorischen)
gende inhaltsabhängige Binnendifferenzierun- Tätigkeiten werden eher langsam durch Übung
gen des Langzeitgedächtnisses haben sich durch- sowie Lernen am Modell erworben und noch
gesetzt (für die ›Initialzündung‹ im Hinblick auf langsamer oder überhaupt nicht vergessen. Es
solche Differenzierungen vgl. Tulving/Donald- wird davon ausgegangen, dass das prozedurale
son 1972): deklaratives, prozedurales, semanti- Gedächtnis früh in der Evolutionsgeschichte auf-
sches sowie episodisches Gedächtnis und das taucht und an subkortikale Gebiete gebunden ist.
(perzeptuelle und konzeptuelle) ›Priming‹ (Bah- Für diese Annahme soll der Umstand sprechen,
nung). Dabei fallen das semantische und das epi- dass sich sowohl Babys als auch Tierjunge eher an
sodische unter das deklarative Gedächtnis. Die- Fertigkeiten denn an Fakten erinnern. Das ›Pri-
30 I. Grundlagen des Erinnerns

ming‹ (Bahnung) schließlich betrifft die erhöhte Von Interesse sind aber selbstverständlich
Wahrscheinlichkeit, einen zu einem früheren nicht allein einzelne Begriffe und ihre Verknüp-
Zeitpunkt unbewusst wahrgenommenen Reiz fungen, sondern auch größere sprachliche Ein-
(etwa ein Wort, ein Bild oder einen Geruch) wie- heiten. Forschungen in diesem Kontext befassen
derzuerkennen. sich mit propositionalen Repräsentationen, Sche-
Das semantische Gedächtnis sei noch etwas mata und Skripten.
näher dargestellt. Wie werden Gedächtnisinhalte Propositionen sind Behauptungen, die wahr
in diesem System organisiert? Begriffe gelten als oder falsch sein können, beziehen sich auf den
die kleinsten Einheiten des semantischen Ge- inhaltlichen Kern von Informationen und klam-
dächtnisses. In ihnen ist Wissen verdichtet. Man mern alles Unwesentliche aus. Im semantischen
kann zwischen eher allgemeinen und eher spezi- Gedächtnis werden freilich kaum einzelne iso-
fischen Begriffen unterscheiden. Allgemeinbe- lierte Propositionen repräsentiert, sondern kom-
griffe enthalten spezifische Begriffe, so dass Be- plexere Wissensbestände. Diese Wissensbestände
griffshierarchien gebildet werden können. Wie sollen sich allerdings ihrerseits wieder in Propo-
werden Begriffe repräsentiert? Zur Beantwortung sitionen zerlegen lassen. Diese ›Zerlege‹-Prozedur
dieser Frage sind insbesondere drei Modelle ent- soll im semantischen Gedächtnis zum Zweck der
wickelt worden: das Modell der Mengenreprä- Speicherung und anderer Informationsverarbei-
sentation, der Prototypenansatz und das Modell tungsschritte vonstatten gehen.
der Merkmalsrepräsentation. Das Modell der Ein Schema ist – wie dies z. T. bereits Bartlett
Mengenrepräsentation geht davon aus, dass ein in seinen wegweisenden gedächtnispsychologi-
Begriff über eine Menge von zu diesem Begriff schen Untersuchungen vorwegnahm – eine kom-
gehörenden Objekten repräsentiert wird, also plexe und hierarchische kognitive Struktur, die
›Hund‹ etwa durch eine Reihe von Hunderassen. Teil eines semantischen Netzwerks ist. In ihm
Der Prototypenansatz postuliert, dass ein Begriff sind typisierte Sachverhalte über unterschiedli-
über einen exemplarischen Vertreter seiner che Tatbestände sinnhaft organisiert – das kön-
Klasse gespeichert wird und zwar einem beson- nen Menschen, Situationen, Gegenstände, Orte
ders typischen Vertreter. So gilt etwa Sperling als oder Ereignisse sein. Schemata sind dekontextua-
ein typischer Vertreter des Begriffs ›Vogel‹, Pin- lisierte und generalisierte Erwartungsstrukturen,
guin demgegenüber als ein eher untypischer Ver- die aus Leerstellen sowie aus Bedingungen dafür
treter. Im Modell der Merkmalsrepräsentation bestehen, was diese Leerstellen besetzen kann.
wird angenommen, dass Begriffe über ihre Merk- Dies verleiht ihnen eine ökonomische Funktion
malsstrukturen im Gedächtnis gespeichert wer- für das Gedächtnis, da nicht mehr jede kleine
den. So gehören zum Begriff ›Junggeselle‹ die Einzelheit erinnert werden muss. Darin liegt aber
Merkmale ›unverheiratet‹ und ›männlichen Ge- auch die Gefahr, unterschiedliche Tatbestände im
schlechts‹. Sinne bestimmter – etwa milieu- oder allgemei-
Besondere Bedeutung im Hinblick auf die Ver- ner: kulturspezifischer – Schemata zu verzerren
knüpfung oder Relationierung von Begriffen ha- und damit nicht realitätsangemessen zu erinnern.
ben die sogenannten Netzwerkmodelle erlangt. Diese Gefahr wird etwa in der Beschäftigung mit
Diese Modelle stellen Begriffe als Knotenpunkte dem ›false memory syndrome‹ diskutiert. Damit
eines Netzes dar. Die im Laufe der Zeit entwickel- werden Erinnerungen an Ereignisse bezeichnet,
ten einschlägigen Theorien sind durch eine Zu- die, obwohl mit einem Gefühl der Erinnerungs-
nahme an Komplexität gekennzeichnet. Während gewissheit versehen, faktisch nicht stattgefunden
frühe Theorien die Netzwerke als vergleichsweise haben, was etwa im Kontext von Zeugenbefra-
schlichte Begriffshierarchien mit Ober- und Un- gungen in praktischer Hinsicht eminent wichtig
terbegriffen modellierten, erlaubten spätere An- ist. Auch im Kontext von Psychotherapien hat das
sätze, die Organisation komplizierterer Sätze und ›false memory syndrome‹ große Aufmerksamkeit
Ereignisse theoretisch abzubilden. beansprucht, nicht zuletzt deswegen, weil solche
2. Zur Psychologie des Erinnerns 31

falschen Erinnerungen (z. B. an traumatische Er- Gedächtnisses vor. Bei »John Dean’s memory«
fahrungen physischer Gewalt wie etwa sexuellen handelt es sich insgesamt um eine vielschichtige
Missbrauch) nicht selten von Psychotherapeuten gedächtnispsychologische Studie, in der nicht zu-
angeregt oder unterstützt, manchmal regelrecht letzt die Bartlettsche These der Konstruktivität
inszeniert und erzeugt wurden (Loftus/Ketcham des Gedächtnisses eine (weitere) Stützung und
1994). empirische Konkretisierung erfährt.
Skripte sind Ereignisschemata und weisen
ähnlich wie Drehbücher feste Bestandteile und
Kollektives Gedächtnis in der Psychologie
Leerstellen auf. Mit ihnen werden Ereignis- oder
Handlungsabfolgen strukturell organisiert und Mit der Kategorie eines kollektiven Gedächtnis-
mental repräsentiert. Ein in der Gedächtnispsy- ses (s. Kap. II.2) hat die Psychologie Schwierig-
chologie häufig zitiertes Beispiel ist das Skript ei- keiten, die teilweise bereits Bartlett artikuliert
nes Restaurantbesuches. Exemplarische konstitu- hat. Diese Bedenken haben u. a. mit einem bis-
tive Merkmale eines solchen Besuches sind etwa weilen allzu engen Selbstverständnis der Psycho-
das Betreten des Restaurants, die Bestellung von logie als Wissenschaft vom Individuum zu tun
Speisen und Getränken beim Kellner, das Ver- (individuozentrischer Ansatz). Auch mag die
zehren der bestellten Speisen und Getränke so- durchaus begründete Skepsis gegenüber dem Ge-
wie das Zahlen der Rechnung. Dabei können die brauch von Metaphern und metaphorischen Be-
genannten Merkmale je nach Erfahrungs- und griffen manchmal überzogen wirken. Das trifft
Wissenshintergrund des erinnernden Individu- nicht zuletzt auf den Begriff eines Gedächtnisses
ums ihrerseits komplex hierarchisch und sequen- zu, über das auf den ersten Blick allein Indivi-
ziell untergliedert werden. Skripte strukturieren duen zu verfügen scheinen. So ist denn auch der
Erinnerungen ebenso wie Erwartungen sowie be- Ansatz von Maurice Halbwachs eher in der So-
liebig komplexe Handlungs- und Lebensorientie- ziologie (s. Kap. IV.2) als in der (Sozial-)Psycho-
rungen. logie fruchtbar geworden. Analoges gilt für Aby
Die obigen Binnendifferenzierungen sind im- Warburgs kulturwissenschaftliches Gedächtnis-
mer wieder problematisiert worden. Eine beson- konzept und verwandte Ansätze. In Fortführung
ders bekannte Infragestellung stammt von Neis- der oben besprochenen Binnendifferenzierungen
ser (1981). Dieser Autor hat in seiner (oben be- des Langzeitgedächtnisses ist jedoch von William
reits erwähnten) berühmten Fallanalyse der Hirst und David Manier (2002) ein Vorschlag un-
Zeugenaussagen des Präsidentschaftsberaters terbreitet worden, der mit der gängigen Gedächt-
John Dean im Watergate-Prozess – »John Dean’s nispsychologie heutiger Tage kompatibel scheint
Memory: A Case Study« – die klare Unterschei- und gleichzeitig überindividuelle Aspekte von
dung zwischen einem semantischen und einem Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen einbe-
episodischen Gedächtnis in Frage gestellt. Deans zieht. Zunächst einmal gilt es zu fragen: Was ist
Aussagen vor dem Senat seien (zumindest im ein ›kollektives Gedächtnis‹? Die Antwort hierauf
Großen und Ganzen) zutreffend gewesen, aber kann im Rahmen der Psychologie in zweierlei
weder eindeutig dem semantischen noch dem Weise erfolgen. (1) Kollektives Gedächtnis be-
episodischen Gedächtnis zuzuordnen: dem se- zeichnet die soziokulturelle und kommunikative
mantischen Gedächtnis nicht, da Dean spezielle Dimension der Herausbildung des Gedächtnisses
Episoden beschrieb; dem episodischen Gedächt- (insbesondere seines episodisch-autobiographi-
nis nicht, da die berichteten Episoden in ihren schen Teils). (2) Kollektives Gedächtnis bezeich-
Einzelheiten oftmals fehlerhaft waren. Bei Deans net die Repräsentation von Geschichtsversionen
Erinnerungen handle es sich tatsächlich um Re- und kulturellem Wissen im semantischen Ge-
präsentationen nicht einzelner Episoden, son- dächtnis des Individuums. An diesen zweiten
dern wiederholter Serien von Ereignissen. Neis- Punkt knüpft das Modell der überindividuellen
ser schlägt hierfür den Begriff des ›repisodischen‹ Gedächtnisbildung von Hirst und Manier an. Die
32 I. Grundlagen des Erinnerns

Autoren unterscheiden drei Formen der Reprä- Speicher oder Verarbeitungsebenen?


sentation kollektiver Erinnerung im individuel-
len Gedächtnis und sprechen von einem kollek- Der ›levels of processing‹-Ansatz bzw. der Ansatz
tiv-episodischen, einem kollektiv-semantischen der Verarbeitungsebenen oder Verarbeitungstiefe
und einem kollektiv-prozeduralen Gedächtnis. von Fergus Craik und Robert Lockhart (1972)
Zumindest erwähnt sei, dass dieses Modell ge- steht insofern im Gegensatz zum oben beschrie-
wisse Verwandtschaften mit konzeptuellen Über- benen Dreispeicher-Modell, ja zu Mehrspeicher-
legungen zu einer (narrativen) Psychologie des modellen generell, als in ihm das Konstrukt un-
Geschichtsbewusstseins unterhält (vgl. Straub terscheidbarer struktureller Gedächtnisbereiche
1998). abgelehnt, als ›box model‹ polemisch kritisiert,
Kollektiv-episodisches Gedächtnis: Hierunter als zu unflexibel und als zu wenig erklärungskräf-
fallen Erinnerungen, die Mitglieder einer sozia- tig angesehen wird. Im Zentrum der Überlegun-
len Gruppe übereinstimmend an ihre geteilten gen von Craik und Lockhart steht dagegen – wie
Erfahrungen haben (ein gemeinsamer Grillabend der Name schon sagt – das Konzept der Verarbei-
beispielsweise). Alle erinnern den spezifischen tungsebenen, das die Behaltensleistung als Pro-
Kontext, die Zeit und den Ort des Ereignisses. dukt der Verarbeitung des Materials betrachtet
Solche Erinnerungen können auch zu einem kol- und nicht als Eigenschaft des jeweiligen Spei-
lektiv-autobiographischen Gedächtnis werden, chers. Speichermodelle werden in diesem Ansatz
wenn die Erinnerung für alle besonders bedeut- in gewisser Weise ›funktionalisiert‹. Herausge-
sam und kollektiv identitätsstiftend war. strichen wird der Prozess des Sich-Erinnerns ge-
Kollektiv-semantisches Gedächtnis: Hierunter gen eine Konzeption des Gedächtnisses als struk-
fallen Erinnerungen an nicht selbst miterlebte turelles System. Das Konstrukt der Verarbei-
historische Ereignisse (etwa im Kontext der Fran- tungsebenen besagt, dass ein dargebotener Reiz
zösischen Revolution). Außerdem unterscheiden unterschiedliche Analyseebenen durchläuft, die
Hirst und Manier hier zwischen einer ›lived se- durch zunehmende Verarbeitungstiefe gekenn-
mantic memory‹ und einer ›distant semantic me- zeichnet sein sollen. Zunächst erfolgt die Analyse
mory‹. Ein Beispiel für ›lived semantic memory‹ physikalischer und sensorischer Merkmale. Da-
sind etwa Erinnerungen von heute über fünfzig- ran schließt die phonemische Analyse an, am
jährigen Amerikanern an den Vietnamkrieg, an Ende steht die semantische Verarbeitung. Je tiefer
dem sie selbst nicht kämpfend beteiligt waren, an die Verarbeitung des dargebotenen Materials er-
dem sie aber indirekt über die Medien, Gesprä- folgt, desto einfacher kann das Material erinnert
che im Freundeskreis und dergleichen mehr be- werden, desto stärker sind die Spuren im Ge-
teiligt waren. Ein Beispiel für ›distant semantic dächtnis (›Engramme‹). Phonemisch verarbeitete
memory‹ sind etwa Erinnerungen an den Hun- Reize werden nur geringe Zeit behalten, da sie
dertjährigen Krieg – da fehlt die Lebendigkeit nur oberflächlich, in geringer Tiefe verarbeitet
und Unmittelbarkeit der ›lived semantic me- worden sind. Informationen, die semantisch ver-
mory‹. Ein lebensnahes und lebendiges semanti- arbeitet worden sind, werden demgegenüber län-
sches Gedächtnis wird nicht zuletzt zwischen den ger erinnert, da sie auf einer tieferen Ebene ana-
Generationen gebildet, seine abstraktere und lysiert wurden.
weitläufig vermittelte, distante Variante durch In- Im ›levels of processing‹-Ansatz wird zwischen
stitutionen wie die Schule. zwei Typen der Verarbeitung unterschieden –
Kollektiv-prozedurales Gedächtnis: Hierunter Verarbeitungstyp I und II. Beim ersten Verarbei-
fallen Traditionen und Rituale, die von einzelnen tungstyp werden Informationen lediglich auf ei-
Personen häufig nicht-bewusst ausgeführt und ner oberflächlichen Verarbeitungsebene gehal-
weitergegeben werden. ten. Diese Information verfällt, sobald keine
Aufmerksamkeit mehr auf sie gerichtet wird.
Vom zweiten Verarbeitungstyp ist dann die Rede,
2. Zur Psychologie des Erinnerns 33

wenn Informationen auf einer tieferen Ebene ver- lichen kritischen Spielarten der Psychologie einer
arbeitet werden – vorzugsweise durch eine Ver- fundamentaleren Kritik unterzogen worden.
knüpfung mit anderen Wissensstrukturen – und Konnektionistische Auffassungen in der Ge-
damit längerfristig behalten werden können. Die dächtnispsychologie sind ebenfalls kritisiert wor-
Tiefe der Verarbeitung hängt von den Intentio- den, bislang jedoch in geringerem Maße. Solche
nen des lernenden Individuums ab, von der Reiz- Kritik speist sich aus ganz unterschiedlichen
spezifik und der verfügbaren Zeit. Untersuchun- Geistes- und Theorieströmungen, etwa pragma-
gen zu diesem Ansatz erfolgten insbesondere im tistischer, marxistischer, phänomenologischer
Rahmen von Experimenten zum inzidentellen, oder konstruktivistischer Provenienz. Im anglo-
also beiläufigen Lernen. Kritisch wird gegen den amerikanischen Sprachraum haben sich bei-
Ansatz der Verarbeitungstiefe u. a. eingewandt, spielsweise Jérôme Bruner, Rom Harré, Jonathan
dass die Verarbeitungstiefe nicht unabhängig von Potter, Margaret Wetherell oder Kenneth Gergen
der Behaltensleistung definiert werden könne. im Kontext kulturpsychologischer, diskursana-
Ebenfalls gegen diesen Ansatz und für die Über- lytischer bzw. sozialkonstruktionistischer For-
legenheit von Mehrspeichermodellen werden Be- schungen kritisch mit der kognitivistischen und
funde an amnestischen Patienten ins Feld ge- konnektionistischen Gedächtnisforschung ausei-
führt, die die Behauptung unterschiedlicher Spei- nandergesetzt, haben Alternativen vorgeschlagen
cher belegen würden. Darüber hinaus wird auf und empirisch zu realisieren versucht. Einen der
den seriellen Positionseffekt hingewiesen, der ein Brennpunkte der Kritik bildet die in der kogniti-
Mehrspeichermodell mindestens nahe legen vistischen Gedächtnisforschung kultivierte Com-
würde. Dieser Effekt bezeichnet den Umstand, puter-Metaphorik, die Erinnerungs- und Verges-
dass es bei freien Reproduktionen bessere Behal- sensvorgänge als Informationsverarbeitungspro-
tensleistungen für Ereignisse gibt, die am Anfang zesse in Analogie zu Computer-Hardware und
(›primacy‹-Effekt) und am Ende (›recency‹- -Software modelliert. Im deutschsprachigen Be-
Effekt) einer zu merkenden Liste stehen. Wenn reich haben Carl Graumann sowie Klaus Holz-
die Darbietungszeit zu merkender Wörter verlän- kamp besonders profilierte Überlegungen mit
gert wird, verbessert sich die Reproduktionsleis- kritischer Stoßrichtung vorgelegt. Zumindest die
tung für Ereignisse am Anfang und in der Mitte grundlegende Intention im Ansatz des letzteren
der Liste, nicht aber an deren Ende. Der ›recency‹- sei im Folgenden zu exemplarischen Zwecken
Effekt – so die Verfechter von Speichermodellen vorgestellt.
– sei durch den unmittelbaren Abruf aus dem Holzkamp (1993) widmet sich in seinem Buch
Kurzzeitspeicher bedingt. Die anderen Teile der Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung
seriellen Positionskurve würden demgegenüber auch einer Kritik und Reinterpretation promi-
durch den Langzeitspeicher bestimmt. nenter Gedächtnistheorien zum Zwecke der Er-
arbeitung einer eigenständigen subjektwissen-
schaftlichen Lerntheorie. Nach einer kritischen
Kritik an der kognitivistischen und der
Sichtung insbesondere von Mehrspeichermodel-
konnektionistischen Gedächtnispsychologie
len, dem Ansatz der Verarbeitungsebenen und
Kritik am Mehrspeichermodell im Rahmen eines konnektionistischen Modellen des Gedächtnisses
Modells der Verarbeitungsebenen oder die kriti- kreisen Holzkamps Überlegungen zunächst um
schen Einwände Baddeleys gegen Kurzzeitspei- ein von ihm als zentral betrachtetes Problem der
cher im Sinn von Atkinson und Shiffrin tasten kognitivistischen Gedächtnisforschung über-
die Grundlagen der kognitivistischen Gedächt- haupt, nämlich der schon erwähnten weitgehen-
nisforschung nicht an. Die kognitivistische Ge- den Modellierung von Gedächtnisprozessen in
dächtnispsychologie ist aber – einerlei, ob nun im Termini der Computer-Hardware und -Software.
Gewande von Mehrspeichermodellen oder eines Holzkamps diesbezügliche Kritik läuft auf den
Ansatzes der Verarbeitungstiefe – in unterschied- Einwand hinaus, dass im Zuge einer solchen Mo-
34 I. Grundlagen des Erinnerns

dellierung der Computer vom Hilfsmittel zum eine inferentiell-implikative Beziehung. Diese
Modell menschlicher Kognition umgedeutet und Beziehung steht im Kontext eines ›Begründungs-
damit das erinnernde Subjekt in ein informati- diskurses‹, in dem Behaltensaktivitäten darin
onsverarbeitendes System mystifizierend hinein- fundiert sind, dass das Subjekt das Behaltene spä-
verlegt worden sei, mit anhaltender Wirkung bis ter erinnern will – weil und solange es gute
heute. Der Computer werde in gewissermaßen Gründe dafür hat. Von den intendierten Erinne-
animistischer Verkennung zum eigentlichen Sub- rungsleistungen hängt dann auch ab, welche Ar-
jekt des Erinnerns, die Computer-Metapher nicht ten von typischen Behaltens- bzw. Erinnernsstra-
mehr als Metapher verwendet, sondern als Ein- tegien begründetermaßen genutzt werden. Im
fallstor für die ›Homunculuisierung‹ und Ver- Kontext der anvisierten subjektwissenschaftli-
dinglichung bzw. Reifizierung des Gedächtnisses: chen Lerntheorie gelte es gerade auch, die Welt-
Nicht ›ich‹ nehme etwas wahr, speichere es, rufe losigkeit der kognitivistischen Psychologie auch
es wieder ab oder vergesse es, sondern ein ›Com- bei der Modellierung von Gedächtnisstrategien
puter-Subjekt‹ (ganz ähnliche Begriffsverwirrun- zu durchbrechen, ihren Realitätsverlust sowie die
gen finden sich im Übrigen bisweilen in neuro- solipsistische Einkapselung des erinnernden In-
wissenschaftlichen Sprachspielen, in denen eben- dividuums zu überwinden. Dazu gehöre auch die
falls nicht mehr ›wir‹ denken, fühlen, wollen oder Zurückweisung der weitgehenden Beschränkung
handeln, sondern unser Gehirn, neuronale Akti- auf sprachsymbolische Gegebenheiten.
vitäten und ähnliches mehr). Demgegenüber ist
Holzkamps Intention auf den »realen Subjekt-
Möglichkeiten zur Verbesserung von
standpunkt von Individuen außerhalb des ›Sys-
Erinnerungsleistungen
tems‹« gerichtet (ebd., 136). Einen wertvollen
Ansatzpunkt für eine derartige kategoriale Um- Menschen müssen in unterschiedlichen Situatio-
orientierung sieht er im Modell von Craik und nen und allen biographischen Phasen Erinne-
Lockhart (s. o.), das die Aktivität des erinnernden rungsleistungen erbringen, die im Hinblick auf
Subjekts gegenüber einer Hypostasierung unter- den Umfang des zu Erinnernden sowie seine
schiedlicher Speicher als Quasi-Erinnerungssub- Komplexität variieren. Variationen sind darüber
jekten zumindest im Prinzip herausstreicht und hinaus kulturell, gesellschaftlich, sozial und his-
auch neueren konnektionistischen Modellen torisch bedingt. In Abhängigkeit situativer, inter-
überlegen sei, da diese wieder in einen Homun- naler, krankheits- und entwicklungsbedingter
culi-Diskurs zurückfielen. Um eben diesen Pro- Faktoren haben Menschen schließlich mitunter
blemen wirkungsvoll zu begegnen, schlägt Holz- mehr oder weniger große Schwierigkeiten beim
kamp vor, konsequent nicht von Gedächtnis zu Erinnern. Vor diesem Hintergrund sind im Laufe
sprechen, sondern von Behalten und Erinnern der Zeit unterschiedliche Möglichkeiten zur Ver-
als menschlichen Handlungen und damit einher- besserung von Erinnerungsleistungen entwickelt
gehend von Behaltens- und Erinnerungsintentio- worden, manchmal auch ›nur‹ um Aussichten auf
nen. eine Verschlechterung von Erinnerungsleistun-
Als ein weiteres zentrales Problem identifiziert gen entgegenzuwirken. Zu diesen (nicht scharf
Holzkamp die ›traditionelle‹ Fassung des Verhält- gegeneinander abgegrenzten) Optionen gehören
nisses zwischen Behalten und Erinnern als kon- Mnemotechniken, Gedächtnisstützen sowie Ge-
tingenten Zusammenhang zwischen unabhängi- dächtnistrainings.
ger und abhängiger Variable. Wenn man aber Mnemotechniken spielten insbesondere in der
nun Behalten und Erinnern als intendierte antiken Rhetorik zur Unterstützung der Auswen-
menschliche Handlungen bestimmt, handle es digkeit eine herausragende Rolle (s. Kap. III.2).
sich beim Verhältnis zwischen Behalten und Er- Zu ihnen werden etwa die Methode der Orte (Lo-
innern nicht um einen kontingent-empirischen, citechnik), visuelle Techniken sowie die Schlüs-
bloß faktischen Zusammenhang, sondern um selwortmethode gezählt. Generell geht es bei den
2. Zur Psychologie des Erinnerns 35

Mnemotechniken darum, Lernmaterial, das ein- mit dem Merkinhalt in einem anschaulichen Zu-
geprägt werden soll, mit etwas Vertrautem zu ver- sammenhang stehen. Zwei Codierungen werden
binden, um es so leichter erinnern zu können. hier unterschieden: reduktive und elaborative
Bei der Methode der Orte wird neues Lernma- Codierungen. Reduktive Codierungen zielen auf
terial mit einem Ordnungsschema, das aus einer die Ausklammerung, die Wegnahme alles Über-
gut bekannten Folge markanter Orte besteht, in flüssigen, auf die Verdichtung des zu Merkenden
Verbindung gebracht. Das zu lernende Material in Kurzzusammenfassungen. Elaborative Codie-
wird in der Einprägungsphase mit den verschie- rungen dagegen versuchen – scheinbar paradox
denen Orten der Wegstrecke bildhaft verknüpft. – die Komplexität des Merkinhaltes durch Hin-
Wenn das Material später wieder erinnert wer- zufügung von Komplexität zu reduzieren. Diese
den soll, schreitet man mental die Strecke mit ih- Hinzufügung kann visuell, semantisch und/oder
ren jeweiligen Orten ab und ruft sich dabei die verbal erfolgen. Solche Hinzufügungen müssen,
Vorstellungsbilder, die man sich bei der Einprä- um als Gedächtnisstützen wirken zu können, die
gungsphase ausgedacht hat, ins Gedächtnis zu- Merkinhalte in eine einprägsamere Form brin-
rück. Die Anwendung führt zu nachweisbaren gen, aus der sie dann wieder ›rückübersetzt‹ wer-
Erhöhungen der Erinnerungsleistungen auch äl- den müssen.
terer Menschen. Allerdings ist sie für abstraktes Gedächtnistrainings sind insbesondere im ge-
Lernmaterial nicht so gut geeignet. rontologischen Bereich entwickelt, implemen-
Visuelle Techniken allgemein bestehen aus der tiert und evaluiert worden (s. Kap. I.4). Als wirk-
Speicherung von Erinnerungen mit Hilfe bild- sam haben sich etwa zweistufige Trainingsver-
hafter Vorstellungen. Man versucht etwa, seine fahren zur Förderung der Gedächtnisleistung
Erinnerung an Wörter dadurch zu erhöhen, dass älterer Menschen erwiesen. Das eine Teilpro-
man sie mit lebhaften und deutlichen Vorstel- gramm solcher Trainings umfasst üblicherweise
lungsbildern assoziiert. Visuelle Techniken, die ein Reattributionstraining. Dieses dient u. a. der
oftmals einen Teilaspekt komplexerer Mnemo- Revision überzogener Leistungsansprüche, der
techniken ausmachen, gelten als besonders effek- Aufgabe dysfunktionaler Attributionen und der
tiv. Einübung alternativer Erklärungen für Erfolg
Die Schlüsselwortmethode wird beim Voka- bzw. Misserfolg in Gedächtnisaufgaben, wobei
bellernen eingesetzt. Die Methode funktioniert diese Erklärungen gerade auch jenseits des Fak-
so, dass ein Wort aus der Muttersprache, das ähn- tors ›Alter‹ liegen sollen. Das andere Teilpro-
lich klingt wie die zu lernende Vokabel aus der zu gramm besteht zumeist aus einem Strategietrai-
lernenden Fremdsprache, das Schlüsselwort dar- ning, das der Verbesserung von Erwerbs- und Er-
stellt. Aus der Bedeutung der Vokabel und dem innerungsstrategien dienen soll.
Schlüsselwort wird eine bildhafte mentale Reprä-
sentation konstruiert. Die Schlüsselwörter müs-
Ansätze zur Erklärung des Vergessens
sen nicht notwendigerweise aus der Mutterspra-
che, sondern können auch aus einer beliebigen Um überhaupt etwas vergessen zu können, muss
anderen Sprache stammen. es trivialer Weise vorher ins Gedächtnis gelangt
Als Gedächtnisstützen fungieren mehr oder sein. Die Güte der Erinnerbarkeit oder überhaupt
weniger willkürlich ausgewählte Objekte oder die Erinnerbarkeit dessen, was ins Gedächtnis ge-
Hinweisreize, etwa der berühmte Knoten im Ta- langt ist, ist von verschiedenen Faktoren abhän-
schentuch, die anzeigen sollen, dass etwas erin- gig – von einigen war bereits die Rede. Man-
nert werden soll. Über diesen Hinweis, dass et- gelnde Reproduktionsfähigkeit oder Schwierig-
was erinnert werden soll, soll sich dann – so die keiten beim Abruf liefern keinen zwingenden
Annahme – der Inhalt dessen, was erinnert wer- Beleg dafür, dass einstmals ins Gedächtnis ge-
den soll, leichter assoziieren lassen. Darüber hi- langtes Material vollständig vergessen worden
naus kann man Gedächtnisstützen benennen, die wäre. Häufiger kann zu einem späteren Zeit-
36 I. Grundlagen des Erinnerns

punkt, unter veränderten Bedingungen oder mit- schließt die Art der Gedächtnisprüfung ein, ob
tels anderer Methoden das vergessen geglaubte also beispielsweise etwas bloß wiedererkannt
Material doch noch erinnert werden. Der Bedeu- werden oder ob freie Reproduktion stattfinden
tungshof des Begriffs ›Vergessen‹ umfasst sowohl soll (s. o.). Bedeutsam ist auch das Konzept der
den (teilweisen oder vollständigen) Verlust von sogenannten Enkodierspezifität. Damit wird die
Informationen als auch den der (konstruktiven Bedeutung des externen Kontextes beim Lernen
oder rekonstruktiven) Veränderung bzw. Verzer- und beim Abruf bezeichnet. Informationen, die
rung der ursprünglichen Informationen. in einem bestimmten Raum gelernt wurden, so
Bei Fragen zur Klärung von Vergessensprozes- heißt es etwa, könnten auch am besten wieder in
sen haben vier theoretische, teilweise durchaus diesem Raum reproduziert werden. Dies wird da-
heterogene Ansätze besondere Prominenz er- mit erklärt, dass der räumliche Kontext, in dem
langt. Es handelt sich dabei um die Konzepte des das Lernen stattfindet, mit enkodiert wird und
Spurenzerfalls, der Interferenz (Hemmung), der somit als Hilfe beim späteren Abruf dienen kann.
Abrufprobleme sowie des motivierten Verges- Enkodierspezifität soll sich auch auf Stimmungen
sens. und personale Zustände beziehen, also gewisser-
Wie sich eine Spur im Sand im Laufe der Zeit maßen auf interne Kontexte.
verwischt und schließlich wieder verschwindet, Peinliche, schambesetzte, traumatische und
so sollen dem Konzept des Spurenzerfalls zufolge andere unangenehme Erfahrungen können so
auch Gedächtnisspuren kontinuierlich mit der unterdrückt werden, dass sie vergessen werden,
Zeit zerfallen. Einzig die Festigung durch Wie- zumindest aktuell nicht bewusst sind. Dies wird
derholung vermöge diesem Zerfall entgegenzu- motiviertes Vergessen genannt, in der Psycho-
wirken. Die empirische Überprüfung dieser An- analyse ist von Verdrängung die Rede (s. Kap.
nahme ist jedoch problematisch. Es gilt nämlich I.5). Das Verdrängte ist aber nicht ein für alle Mal
sicherzustellen, dass zwischen dem Lernen von weg, sondern kann – in klassischer psychoanaly-
Material und dessen Abruf keine kognitiven Ak- tischer Lesart jedenfalls – wiederkehren. Die
tivitäten ablaufen, die mit dem Lernstoff interfe- Wiederkehr erfolgt typischerweise in Form von
rieren. Darüber hinaus – und dies ist der schwe- Fehlleistungen, Träumen oder Symptombildun-
rer wiegende Punkt – muss nachgewiesen wer- gen. Im analytischen Therapiesetting kann das
den, dass die Informationen tatsächlich nicht Verdrängte bei Einhaltung der Grundregel be-
mehr im Gedächtnis vorhanden und nicht bloß wusst gemacht und bearbeitet werden.
unzugänglich sind. Die oben dargestellten Ansätze werden biswei-
Lernen, das auf ein späteres Wiedererinnern len noch durch das Konzept des prospektiven
abzielt, ist stets störanfällig. Altes Material kann Vergessens ergänzt, dem allerdings (noch) keine
mit neuem Material interferieren und umgekehrt. gleichermaßen große Aufmerksamkeit entgegen-
Üblicherweise wird zwischen proaktiver und re- gebracht wird. Prospektives Vergessen bezeich-
troaktiver Interferenz unterschieden. Proaktive net das Vergessen von in der Zukunft liegenden
Interferenz bedeutet, dass alte Gedächtnisinhalte, Ereignissen. Die Erinnerung an künftige Ereig-
das Einprägen neu zu lernenden Materials stören. nisse, die mit Personen zu tun haben, oder an Er-
Retroaktive Interferenz bewirkt, dass neues Ma- eignisse, an die positive Erwartungen geknüpft
terial alte Gedächtnisinhalte stört. Je größer die sind, soll weniger anfällig für diese Form des Ver-
Ähnlichkeit des Materials, umso störanfälliger ist gessens sein als die Erinnerung an künftige Ter-
der Lernprozess. mine oder Fristen, die mit negativen Erwartun-
Bisweilen ist etwas im Langzeitgedächtnis ge- gen verknüpft sind oder keine offensichtliche so-
speichert, aber es fehlen die nötigen Abrufhilfen, ziale Komponente aufweisen.
um an die Gedächtnisinhalte zu gelangen. Erin-
nern hängt immer auch von situativen Umstän-
den ab, in denen erinnert werden soll. Das
2. Zur Psychologie des Erinnerns 37

Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im nicht nachvollziehbar. Unter einer solchen Per-
Kontext anderer psychischer Funktions- spektive kann dann beispielsweise die Wirksam-
bereiche keit von auf unser Gedächtnis gerichteten und
bestimmten Zielen verpflichteten Handlungen
Erinnerungs- und Vergessensprozesse sind keine untersucht werden. Forscherisches Interesse be-
isolierten psychischen Geschehnisse, sondern anspruchen darüber hinaus Fragestellungen, die
stehen in vielfältiger Verbindung mit anderen sich ergeben, wenn man unterschiedliche Motiv-
psychischen Funktionsbereichen. Üblicherweise klassen betrachtet. Üblicherweise wird hier zwi-
werden in der Allgemeinen Psychologie neben schen dem Affiliations- bzw. Gesellungsmotiv,
dem Gedächtnis noch die folgenden Funktions- dem Macht- und dem Leistungsmotiv differen-
bereiche unterschieden: Wahrnehmung, Motiva- ziert. Gedächtnisrelevante Studien zielen auf den
tion, Handeln, Denken, Lernen, Emotion und Zusammenhang dieser Motivklassen mit unter-
Sprache. Wir widmen uns im Folgenden beispiel- schiedlichen Gedächtnisinhalten und -prozessen.
haften Aspekten solcher interfunktioneller Zu- Die Erinnerung an das Gelingen oder Misslingen
sammenhänge (vgl. Albert/Stapf 1996). motivierter Handlungen ist dann wiederum
Gedächtnis und Wahrnehmung: Wahrneh- selbst von psychologischem Interesse, nicht zu-
mung ist einerseits eine Bedingung der Möglich- letzt deswegen, weil solche Erinnerungen be-
keit von Gedächtnisprozessen. Im Dreispeicher- stimmte Gefühle evozieren können, z. B. des Stol-
Modell des Gedächtnisses (s. o.) wird dies an der zes oder der Scham, und für die künftige Wei-
Funktion der sensorischen Register besonders chenstellung motivierten Handelns bedeutsam
augenfällig. Gedächtnisbildung ist in diesem Mo- sind.
dell wesentlich vom ›Input‹ durch die Umwelt ab- Gedächtnis und Denken: Denkprozesse bedür-
hängig, wobei dieser ›Input‹ via visueller, auditi- fen des Gedächtnisses und sie münden – zumin-
ver, taktiler, olfaktorischer und gustatorischer dest teilweise – in Gedächtnisspuren. Exempla-
sowie auf den Gleichgewichtssinn bezogener risch sei auf den ersten Fall ein wenig näher ein-
Wahrnehmung erfolgt. Andererseits ist das Ge- gegangen: Einen wichtigen Stellenwert nehmen
dächtnis wiederum wesentlich für Wahrneh- in diesem Zusammenhang Untersuchungen zur
mungsprozesse: Ohne entsprechende Gedächt- Integration unterschiedlicher Informationsquel-
nisspuren in Form von Schemata, Skripten, se- len im Gedächtnis während des Problemlösens
mantischen Netzwerken und manchem mehr und anderer Formen des Denkens, wie Beurtei-
wäre die Wahrnehmung von Personen, sozialen len und Entscheiden, ein. Schon in frühen Labor-
Phänomenen oder Sprachereignissen unter- untersuchungen zum Problemlösen, in denen
schiedlicher Art nicht möglich. Gedächtnisprozesse möglichst ausgeschaltet wer-
Gedächtnis, Motivation und Handeln: Motiva- den sollten, ergaben sich aus der Analyse von
tion als der Inbegriff für die Begründetheit und Protokollen lauten Denkens gedächtnispsycholo-
Bewegtheit unseres Handelns ist ebenfalls eine gisch relevante Befunde. Ein zentrales Ergebnis
wichtige Voraussetzung für Gedächtnisbildungs- besagt, dass Problemlöseprozesse durch die ver-
prozesse. Erinnerns- und Vergessensprozesse fügbare Gedächtniskapazität eingeschränkt sind.
können nicht allein als ein gewissermaßen natur- Es sind im weiteren Verlauf aber auch Studien
wüchsig ablaufendes Geschehen betrachtet wer- durchgeführt worden, in denen Problemlösepro-
den, wie etwa in den Ebbinghausschen Selbstver- zesse in vertrauten Aufgabengebieten untersucht
suchen, sondern auch als ein in sinn- und bedeu- wurden, wobei die Probanden problemrelevantes
tungstragenden, ziel-, regel- und normorientierten Wissen mitbrachten. Von zentralem Interesse
Handlungen sowie in Handlungen als und in Ge- sind hier die selektiven Abrufprozesse aus dem
schichten eingebettetes und damit motiviertes Langzeitgedächtnis im Hinblick auf eben dieses
Geschehen. Die Bartlettsche Rede vom ›effort af- problemrelevante Wissen. Dabei erhalten Hilfs-
ter meaning‹ wäre ohne so eine Voraussetzung informationen, etwa bereits erworbene Lösungs-
38 I. Grundlagen des Erinnerns

verfahren, spezielle Aufmerksamkeit. Darüber halten des Beobachters verstärkt wird. Bei all dem
hinaus kreisen die einschlägigen Untersuchun- kommt mnestischen Prozessen insofern eine be-
gen um die unterschiedlichen Mechanismen des deutsame Rolle zu, als sie es gewährleisten, dass
Abrufs relevanter Informationen bei Laien und sich das Beobachtete später einmal auch im Ver-
Experten. Erfahrene Problemlöser in einem be- halten des Beobachters niederschlägt. Würde die-
stimmten Gebiet, Experten eben, können auf eine ser sich das, was er wahrgenommen hat, nicht
Fülle von Lösungsmethoden zurückgreifen, was merken können – etwa, weil entwicklungsbe-
der Schnelligkeit der Aufgabenbearbeitung sehr dingt mnestische Leistungen noch oder wieder
entgegenkommt. eingeschränkt sind – würde Lernen am Modell
Gedächtnis und Lernen: Intentionale und im- nicht funktionieren. Aber auch im Assoziations-
plizite oder inzidentelle Lernprozesse erfolgen lernen des klassischen Konditionierens (Ivan P.
(oftmals) gedächtnisbasiert; ohne den Rekurs auf Pavlov, John B. Watson) und des operanten Kon-
wie auch immer geartete Erinnerungsspuren wä- ditionierens (Burrhus F. Skinner) dürften mnesti-
ren zahllose Lernvorgänge nicht möglich. Darü- sche Prozesse zumindest dergestalt eine Rolle
ber hinaus zielt Lernen auf den kumulativen Auf- spielen, als die Verknüpfung zwischen Reizen
bau von Gedächtnisinhalten und -strukturen ab, bzw. Reiz und Reaktion nur schwer ohne die An-
sind für den Begriff des Lernens doch länger an- nahme von Gedächtnisspuren vorstellbar ist. Da-
haltende Veränderungen des Verhaltens oder rüber hinaus wird im Modell des klassischen
Verhaltensrepertoires konstitutiv. Solche Verän- Konditionierens der Tatbestand der Löschung
derungen sind ohne Behaltensleistungen offen- bzw. Extinktion einer konditionierten Reaktion,
bar nicht möglich. Schließlich können sich Lern- nachdem ein konditionierter Reiz mehrmals al-
vorgänge auch auf den Erwerb von Mnemotech- leine dargeboten worden ist, mitunter als Verges-
niken oder Gedächtnisstützen richten sowie auf sen bezeichnet. Schließlich werden Erfolge klas-
das Metagedächtnis, also Wissen über die Funk- sischen oder operanten Konditionierens auch als
tionsweise unseres Gedächtnisses. Vor diesem Belege für das Vorhandensein eines impliziten
Hintergrund ist es selbstverständlich, dass psy- Gedächtnisses gewertet.
chologische Lerntheorien ganz unterschiedlicher Werfen wir noch einen weiteren Blick auf The-
Provenienz das Verhältnis zwischen Lernen und orien jenseits des behavioristischen Paradigmas.
Gedächtnis modellieren. In den gestaltpsychologischen Arbeiten von Max
Einige wenige Hinweise sollen hier etwas aus- Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka
führlicher als bei den anderen interfunktionellen wird Einsicht als zentrales Lernprinzip angenom-
Zusammenhängen ausfallen, weil der Konnex men und Lernen als Erzeugung von Gedächtnis-
zwischen Lernen und Gedächtnis gemeinhin als spuren verstanden. Diese Arbeiten ebnen den de-
besonders eng angesehen wird: In Albert Bandu- zidiert kognitiven Lerntheorien der 1960er und
ras sozial-kognitiver Theorie des Lernens, die 1970er Jahre (wie der oben angesprochenen The-
u. a. auch als Modelllernen oder als Beobach- orie Banduras) mit den Weg. An die kognitiven
tungslernen bezeichnet wird, wird in Abkehr von Theorien schließen die konstruktivistischen
einem strikt behavioristischen Modell zwischen Lerntheorien der 1990er Jahre an, die die Eigen-
Reiz und Reaktion die kognitive Tätigkeit des ler- aktivität, Selbststeuerung, soziale Interaktion und
nenden Subjekts in den Mittelpunkt gestellt. Ban- Kooperation sowie die Situationsgebundenheit
dura interessiert sich dafür, wie Subjekte von ei- des Lernens herausstellen und die Erfahrungsab-
nem Modell lernen. Förderliche Bedingungen, hängigkeit von Lernprozessen im kulturellen
die zum Gelingen eines solchen Lernens beitra- Kontext besonders akzentuieren. Zentrale Auto-
gen, sind etwa die Attraktivität des beobachteten ren in diesem Zusammenhang sind etwa Jean
Modells oder die Tatsache, dass das Modell für Lave oder Barbara Rogoff, als historische Vorläu-
sein Verhalten verstärkt wird (stellvertretende fer werden etwa Arbeiten des Pragmatisten John
Verstärkung) oder dass das beobachtende Ver- Dewey oder Ansätze aus der Reformpädagogik
2. Zur Psychologie des Erinnerns 39

gezählt, z. B. Georg Kerschensteiners Konzept der grund theoretischer und methodischer Probleme
Arbeitsschule. Gerade die Erfahrungsabhängig- ebenfalls nicht unumstrittener – Befund gilt, dass
keit des Lernens verweist natürlich auf die zen- Personen mit einer Disposition zur Vermeidung
trale Rolle von Erinnerns- und Vergessenspro- negativer Erfahrungen emotionale Lebensereig-
zessen für das Lernen. nisse vergleichsweise schlechter erinnern. Gegen-
Gedächtnis und Emotion: Forschungen zum über einer experimentell fundierten Skepsis an
Verhältnis von Gedächtnis und Emotion kreisen der Verdrängungshypothese wird allerdings im-
mindestens um die folgenden Fragen: (1) Wel- mer wieder (schon von Sigmund Freud selbst)
chen Einfluss haben Stimmungen auf Behaltens- die Fruchtbarkeit und Gültigkeit dieser These vor
leistungen? (2) Welchen Einfluss haben (physio- dem Hintergrund kasuistischen, insbesondere
logische) Erregungszustände – als gewisserma- klinischen Materials ins Feld geführt.
ßen basale Grundlage emotionaler Prozesse – auf 4. Emotion als implizites Gedächtnis: Hier
das Gedächtnis? (3) Wie steht es um die empiri- widmen sich Experimente der Frage, inwiefern
sche Stützung der psychoanalytischen These der sich implizites Gedächtnis in emotionalen Reak-
Verdrängung bedrohlicher Erfahrungen aus dem tionen äußern kann. Unter implizitem Gedächt-
Bewusstsein? (4) Inwieweit können Emotionen nis wird in diesem Kontext das Phänomen ver-
selbst als eine implizite Form des Gedächtnisses standen, dass Erfahrungen Effekte auf späteres
aufgefasst werden? Verhalten haben können, auch dann, wenn die
1. Stimmungen und Gedächtnis: Hier wird un- Erfahrungen selbst nicht bewusst erinnert wer-
tersucht inwiefern Stimmungen – begriffen als den. In den angesprochenen Experimenten wer-
länger andauernde, ›mildere‹ emotionale Zu- den die emotionalen Reaktionen oftmals als au-
stände – Erinnerns- und Vergessensprozesse mit- tonome physiologische Reaktionen operationali-
bestimmen. Einschlägige Forschungen prüfen siert.
etwa die Hypothese der ›Stimmungskongruenz‹. Gedächtnis und Sprache: Sowohl Sprachpro-
Diese besagt, dass im Falle einer Kongruenz zwi- duktion als auch Sprachrezeption sind auf Erin-
schen Stimmung und der emotionalen Valenz des nerungsleistungen angewiesen. Der kompetente
zu lernenden Materials Enkodierungs- und Ab- produktive und rezeptive Umgang mit gramma-
rufleistungen verbessert würden. tischen Strukturen, mit pragmatischen Regeln
2. Erregung und Gedächtnis: Forschungen zu der sprachlichen bzw. sprachlich vermittelten In-
diesem Themenbereich haben etwa erbracht, teraktion, mit der Semantik sowie mit der Pho-
dass mäßig starke Erregung während eines Lern- nologie einer Sprache bedürfen notwendiger-
vorgangs zu vergleichsweise besseren Behaltens- weise entwickelter mnestischer Strukturen und
leistungen führt; dass als emotional erregend ein- Prozesse sowie elaborierter und komplexer Ge-
geschätzte Bilder oder persönliche Lebensereig- dächtnisinhalte. Sprache ist außerdem im Kon-
nisse besser erinnert werden als neutrale; dass text von Mnemotechniken und Gedächtnisstüt-
erhöhte Erregung beim Abruf aus dem semanti- zen von unschätzbarem Wert, sind doch gerade
schen Gedächtnis die Zugreifbarkeit dominanter verbale Techniken einer der zentralen Bestand-
gegenüber weniger dominanten Inhalten erhöht. teile vieler Versuche der Optimierung von Erin-
Diese und andere Befunde werden mittels teil- nerungsleistungen. Einen eigenen thematischen
weise konfligierender Erklärungsansätze inter- Schwerpunkt bilden theoretische Überlegungen
pretiert. und empirische Forschungen zum Verhältnis von
3. Verdrängung: Die experimentelle Befund- Sprache, Gedächtnis, Autobiographie und Identi-
lage zur Verdrängungsthese wird insgesamt als tätsbildung bzw. der Artikulation und (Re-)Prä-
schwach angesehen, da Replikationsversuche in- sentation von Identität. In diesem Zusammen-
konsistente Ergebnisse gezeitigt haben und die hang kommt dem Erzählen und Verstehen von
theoretischen Interpretationen umstritten sind. Geschichten eine besondere Rolle zu, da Auto-
Als verhältnismäßig klarer – wenngleich auf- biographie und Identität gerade auch im Medium
40 I. Grundlagen des Erinnerns

des Narrativen gebildet, artikuliert und (re-)prä- resse für psychologisches Denken und Forschen.
sentiert werden. Aber auch allgemeiner sind im Das Gedächtnis spielt also außer in der Allgemei-
Rahmen der narrativen Psychologie eine Reihe nen Psychologie auch in der Bio-, der Entwick-
gedächtnispsychologischer Studien durchgeführt lungs-, der Differentiellen und Persönlichkeits-,
worden. Diese betreffen nicht zuletzt die empiri- der Sozial-, der Klinischen, der Pädagogischen
sche Validierung von Geschichtenschemata, wo- und der Arbeits- und Organisationspsychologie,
bei sich zeigte, dass Informationen, die zentrale also in allen klassischen psychologischen Teildis-
Stellen in diesen Schemata besetzen, besser erin- ziplinen eine erhebliche Rolle (von spezielleren
nert werden als andere. Dass Erinnerungen ge- Teildisziplinen wie etwa der Kulturvergleichen-
rade auch in Orientierung an narrative Schemata den, der Militär-, der Werbe- oder der Rechtspsy-
gebildet und rekonstruiert werden, gilt in der ko- chologie sehen wir hier aus Gründen der Über-
gnitiven Psychologie als theoretisch begründet sichtlichkeit ab). In exemplarischer Absicht seien
und empirisch als gut bestätigt. Die These einer noch einige (wenige) Fragestellungen, Begriff-
narrativen Form aller Gedächtnisbestände wird lichkeiten, Methoden und empirische Befunde
dagegen kontrovers diskutiert und ruft ein gehö- aus diesen Gebieten erwähnt, wobei Verbin-
riges Maß an Skepsis hervor. dungslinien zu oben behandelten Themen leicht
gezogen werden können.
Differentielle und Persönlichkeitspsychologie:
Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im
Während in der Allgemeinen Psychologie nach
Kontext unterschiedlicher psychologischer
der Universalität des Psychischen gefragt wird,
Teildisziplinen
widmet sich die Differentielle und Persönlich-
Im Kanon der psychologischen Teildisziplinen ist keitspsychologie interindividuellen Unterschie-
die Beschäftigung mit dem Gedächtnis insbeson- den im Hinblick auf Leistungsbereiche (z. B.
dere ein integraler Bestandteil der Grundlagen- Wahrnehmung, Denken oder Gedächtnis) sowie
disziplin Allgemeine Psychologie. Die Allge- auf Persönlichkeitsfaktoren (etwa Extro- und In-
meine Psychologie strebt nach der Beschreibung troversion). In beiden Feldern werden auf das
und Erklärung der grundlegenden psychischen Gedächtnis bezogene Untersuchungen durchge-
Strukturen und Funktionsbereiche, zu denen führt. So interessiert beispielsweise die interindi-
eben auch das mnestische Funktionieren gehört. viduell variable Verteilung von Reproduktions-
In der dominierenden nomologischen Ausrich- leistungen. Eine große Rolle kommt hierbei der
tung der Psychologie orientiert sich gerade auch adäquaten Testung psychischer Funktionsberei-
die Allgemeine Psychologie am Ideal universell che, nicht zuletzt des Gedächtnisses, zu. Dazu
gültiger Aussagen. Das heißt nun aber selbstver- wurden bereits von den Gründungsfiguren die-
ständlich nicht, dass Phänomene des Erinnerns ser Teildisziplin (z. B. Sir Francis Galton, Hugo
und Vergessens in anderen Grundlagen- und An- Münsterberg oder William Stern) gegen Ende des
wendungsdisziplinen der Psychologie keine Rolle neunzehnten Jahrhunderts einschlägige Testska-
spielen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Ge- len entwickelt und erprobt. Einen der zentralen
dächtnis ist auch im Hinblick auf seine biopsy- Forschungsgegenstände der Differentiellen und
chologischen Grundlagen, auf seine Entwick- Persönlichkeitspsychologie stellt die Intelligenz
lung, auf interindividuelle, also persönlichkeits- dar. Auch hier wird dem Gedächtnis Aufmerk-
bedingte Variationen, auf sein Funktionieren in samkeit gewidmet. Das zeigt sich daran, dass be-
und seine (Mit-)Konstitution durch unterschied- reits im Intelligenztest von Alfred Binet und
liche soziokulturelle Kontexte, auf seine klinisch Theodore Simon mnestische Leistungen eigens
relevanten Aspekte, auf sein Funktionieren in überprüft werden. Eine Aufgabe für die Alters-
und seine Beeinflussung durch Schule und an- gruppe der Achtjährigen beinhaltet dazu die Lek-
dere pädagogische Kontexte sowie in und durch türe einer Textpassage und die spätere Reproduk-
Arbeits- und Organisationskontexte von Inte- tion zweier Details aus diesem Text. Aber auch in
2. Zur Psychologie des Erinnerns 41

der nachfolgenden wissenschaftlichen Auseinan- ist für die Auswahl des Erinnerten verantwort-
dersetzung um Erträge und Probleme der Intelli- lich.
genzforschung wird immer wieder nach dem Zu- Klinische Psychologie: In der Klinischen Psy-
sammenhang von Intelligenz und Gedächtnis ge- chologie kommt nicht zuletzt unter Rekurs auf
fragt. Drei Beispiele: In der Intelligenztheorie von biopsychologische Ergebnisse der Beschreibung,
John L. Horn, die als eine Weiterentwicklung der Erklärung, Diagnostik und Prävention von Stö-
zwei Faktoren umfassenden Theorie Raymond B. rungen des Gedächtnisses sowie auf deren Behe-
Cattells gilt, wird ein Faktorenmodell der Intelli- bung oder Linderung ausgerichteten Interventi-
genz postuliert, das u. a. einen Generalfaktor onsmaßnahmen (therapeutischer Art oder in
›Kurzzeitgedächtnis‹ und einen Faktor ›Langzeit- Form von Trainings) eine zentrale Rolle zu. In-
gedächtnis‹ beinhaltet. Im Berliner Intelligenz- tensiv erforscht werden beispielsweise Amnesien.
strukturmodell von Adolf Otto Jäger gehört das Während früher die Amnesie in einem globalen
Gedächtnis zu den sogenannten Operationsfak- Sinne als die allgemeine Unfähigkeit, alte Infor-
toren. Schließlich sieht Joy P. Guilfords Modell mationen wiederzugeben und neue aufzuneh-
der Intelligenz drei ›Cluster‹ vor, die die Vielzahl men, betrachtet wurde, sind mittlerweile eine
an intelligenzrelevanten Faktoren bündeln sollen; ganze Reihe von Differenzierungen vorgenom-
es wird zwischen Inhalten, Operationen und Pro- men worden (vgl. z. B. Markowitsch 1999). Diese
dukten unterschieden. Gedächtnisleistungen ge- Differenzierungen ergeben sich nicht zuletzt
hören zu den Operationen. Im Hinblick auf Per- durch die Unterscheidung verschiedener Ge-
sönlichkeitsfaktoren werden Studien angestellt, dächtnissysteme. An begrifflichen und konzep-
in denen es um Korrelate zu bestimmten Persön- tuellen Differenzierungen finden sich Unter-
lichkeitsfaktoren geht. So ist wiederholt gezeigt scheidungen zwischen domänen-, material- und
worden, dass Extrovertierte schlechtere Leistun- modalitätsspezifischen Amnesien, anterograden
gen bei längerfristigem Behalten zeigten, aber Amnesien – Gedächtnisverlust, der sich auf die
bessere bei sofortigem. Oder: Im Kontext von Zukunft bezieht –, retrograden Amnesien – Ge-
Untersuchungen zu ›lage-‹ vs. ›handlungsorien- dächtnisverlust, der sich auf die Vergangenheit
tierte‹ Personen (Julius Kuhl) ergab sich, dass bei bezieht –, partieller und globaler Amnesie, zeit-
Lageorientierung Absichten im Gedächtnis hö- lich begrenzter und zeitlich unbegrenzter Amne-
her aktiviert blieben als neutrale Inhalte. Man- sie, Amnesien bezüglich des Kurzzeit- oder des
chen ihrer Vertreter gilt die Differentielle und Langzeitgedächtnisses und schließlich zwischen
Persönlichkeitspsychologie auch als diejenige organisch und funktionell bedingter Amnesie.
psychologische Teildisziplin, in der gerade das Ein weiteres Forschungs- und Anwendungsfeld
Zusammenwirken der unterschiedlichen Funkti- stellen Demenzen dar, wobei die Demenz vom
onsbereiche untersucht wird bzw. werden müsse. Alzheimer-Typ die häufigste, aber keineswegs die
Sozialpsychologie: Neben den Ausweitungen einzige ist – Morbus Pick oder die Chorea Hun-
des Langzeitgedächtnisses im Hinblick auf ein tington sind weitere Formen. Demenzen sind da-
kollektives Gedächtnis (s. o.) sind in der Sozial- durch charakterisiert, dass nicht allein das Ge-
psychologie solche Themen wie die Erzeugung dächtnis (wie bei den Amnesien), sondern auch
von Erinnerungen im Rahmen eines ›conversa- weitere Dimensionen der Persönlichkeit betrof-
tional‹ oder ›group remembering‹ von Interesse. fen sind. Gedächtnisstörungen gelten als ein
Im Zuge konversationellen Erinnerns, das auch wichtiges Frühsymptom von Demenzen. Um eine
als ›memory talk‹ bezeichnet wird, wird biswei- Demenz diagnostizieren zu können, muss min-
len mehr, insbesondere aber anders erinnert als destens eines der folgenden Defizite zur Gedächt-
im bloß individuellen Gedächtnis. Die in sol- nisstörung hinzukommen: Aphasie (Verlust des
chem ›memory talk‹ artikulierten Erinnerungen Sprechvermögens und/oder des Sprachverständ-
folgen gruppenspezifischen Relevanzkriterien, nisses), Apraxie (die Unfähigkeit gezielte Bewe-
und eine adressatenorientierte Kommunikation gungen auszuführen), Agnosie (die Unfähigkeit,
42 I. Grundlagen des Erinnerns

Objekte zu erkennen) oder Defizite der Exekutiv- wird in der Arbeits- und Organisationspsycholo-
funktionen (z. B. Planen; s. Kap. I.4). gie, aber auch im Kontext der kulturtheoretisch
Pädagogische Psychologie: Für die Pädagogi- orientierten Organisationsforschung thematisch.
sche Psychologie ist das Thema Gedächtnis ins- Einen prominenten Platz nehmen dort etwa em-
besondere unter der Perspektive seiner Optimier- pirische Studien zur ›corporate identity‹ von Un-
barkeit in schulischen und außerschulischen Bil- ternehmen bzw. – allgemeiner – Organisationen
dungskontexten von Bedeutung und wird zumeist und ihrer Mikropolitik ein. In beiden – miteinan-
im Rahmen der Lehr-Lernforschung abgehan- der teilweise verschränkten – Fällen wird der
delt. Einschlägige Forschungen kreisen etwa um Analyse der in Organisationen kursierenden Ge-
unterschiedliche Arten der Wissensrepräsenta- schichten und Mythen besondere Aufmerksam-
tion (Schemata, semantische Netzwerke, mentale keit gewidmet. Diese Narrative und Mythen be-
Modelle) und Möglichkeiten zu deren Verbesse- ziehen sich auf Aspekte einer in Bezug auf die Or-
rung sowie das Behalten von Textinformationen ganisation kollektiv bedeutsamen Vergangenheit.
mittels elaborativer, reduktiver und metakogniti- Dabei gilt konfligierenden Erzählungen, die mit-
ver Prozesse. Zu den elaborativen Prozessen ge- tels narrativer Interviews, Gruppendiskussionen
hören z. B. vorstrukturierende Lernhilfen (›ad- oder Dokumentenanalysen erhoben werden, ein
vanced organizer‹), zu den reduktiven Prozessen herausgehobenes Interesse. Nicht zuletzt geht es
etwa die selektive Lektüre oder Verdichtungspro- um die Frage, wer warum an welchem ›Gedächt-
zesse und zu den metakognitiven Prozessen das nis der Organisation‹ (strategisches) Interesse hat
Bewusstmachen der Steuerungsprozesse des ei- und wie versucht wird, bestimmte Erinnerungen
genen Lernens. Gerade in Untersuchungen zum als verbindlich, andere als unverbindlich zu kon-
adaptiven und selbstkontrollierten Lernen finden struieren und praktisch durchzusetzen sowie
sich vielfältige gedächtnisrelevante Ausführun- wiederum andere Themen oder Ereignisse zu
gen. So geht es dort um Möglichkeiten der Erwei- vergessen bzw. vergessen zu machen.
terung der Abrufkapazität, das Behalten komple-
xer Informationen (im Unterschied zu einem blo-
Zur Zukunft der Gedächtnispsychologie
ßen Behalten einzelner Items), die Wirkungsweise
des Notizenmachens, generatives Lernen und Es ist sicher nicht allzu gewagt, der Gedächtnis-
›Self-Explanations‹ sowie um Verräumlichungs- psychologie – wie überhaupt allen mit Gedächt-
strategien (›Networking‹, ›Mapping‹, ›Schemati- nis, Erinnerung und Vergessen befassten wissen-
zing‹). schaftlichen Bemühungen – mindestens für die
Arbeits- und Organisationspsychologie: In der nähere Zukunft einen sicheren Platz in der For-
Arbeits- und Organisationspsychologie wird im schungslandschaft vorherzusagen. Zu stark sind
Rahmen von Personalentwicklungsmaßnahmen, nicht zuletzt die lebensweltlichen (Hinter-)
die auf die Verbesserung unterschiedlicher ko- Gründe des nach wie vor ungebrochenen Interes-
gnitiver Leistungen – darunter auch mnestischer ses an Gedächtnisphänomenen. Lediglich einige
Leistungen – von Mitarbeitern unterschiedlicher wenige Stichwörter mögen zur Illustration genü-
Ebenen zielen, das Gedächtnis relevant. Solche gen:
Personalentwicklungsmaßnahmen beziehen ihre • der demographische Wandel und die damit
Grundlagen gerade auch aus den oben angespro- einhergehende Zunahme an alten Menschen
chenen pädagogisch-psychologischen Diskursen. zumindest in Gesellschaften ›unseren‹ Typs;
Im Hinblick auf die Überprüfung der Wirksam- • gesellschaftliche Veränderungen, die mit sol-
keit dieser Maßnahmen kommen – wie in ent- chen Begriffen wie Individualisierung und
sprechenden pädagogisch-psychologischen In- Enttraditionalisierung belegt werden und die
terventionen auch – oftmals experimentelle bzw. verstärkte autobiographische Selbstthematisie-
quasi-experimentelle Prä-Posttest-Kontrollgrup- rungen nach sich ziehen;
pendesigns zur Anwendung. Das Gedächtnis • das Bedürfnis nach kollektiven, gedächtnis-
2. Zur Psychologie des Erinnerns 43

bzw. auf Geschichte basierten Selbstthemati- Literatur


sierungen in der Folge gesellschaftlicher Um- Albert, Dietrich/Stapf, Kurt-Hermann (Hg.): Enzyklo-
bruchsituationen; pädie für Psychologie. Themenbereich C: Theorie und
• die verbreitete Vorstellung, psychisches Leiden Forschung. Serie II: Kognition. Bd. 4: Gedächtnis. Göt-
könne in therapeutischen oder Settings der tingen 1996.
Atkinson, Richard C./Shiffrin, Richard M.: Human Me-
psychosozialen Beratung gerade auch mittels
mory. A Proposed System and its Control Processes.
spezifischer Akte des Erinnerns (und Verges- In: Kenneth W. Spence/Janet T. Spence (Hg.): The
sens) bearbeitet werden. Ppsychology of Learning and Motivation. New York
1968, 89–195.
Speziell das vielfältige gedächtnispsychologische Baddeley, Alan D.: Working Memory. Oxford 1986.
Theoretisieren und (empirische) Forschen dürfte Bartlett, Frederic C.: Remembering. A Study in Experi-
mental and Social Psychology. Cambridge 1932.
seine Potenziale im Hinblick auf diese lebens- Broadbent, Donald: A Mechanical Model for Human
weltlichen Hintergründe noch keineswegs ausge- Attention and Immediate Memory. In: Psychological
spielt haben. Aber auch im Hinblick auf künftige, Review 64 (1957), 205–215.
im engeren Sinne wissenschaftsimmanente Ent- Bruner, Jérôme: Two Modes of Thought. In: Ders. (Hg.):
wicklungen dürfte gedächtnispsychologischen Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge, Mass./
London 1986, 11–43.
Anstrengungen weiterhin eine wichtige Rolle zu-
–: Acts of Meaning. Cambridge, Mass./London 1990.
kommen. Dies betrifft zunächst einmal die Be- Craik, Fergus I. M./Lockhart, Robert S.: Levels of Pro-
deutung der Gedächtnispsychologie innerhalb cessing. A Framework for Memory Research. In:
der Einzelwissenschaft Psychologie. Wie oben Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 11
deutlich wurde, ist die Beschäftigung mit dem (1972), 671–684.
Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Untersu-
Gedächtnis dabei keineswegs auf die Allgemeine
chungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig
Psychologie beschränkt, dem ›angestammten‹ 1885.
produktiven Platz der Gedächtnispsychologie, Hirst, William/Manier, David: The Diverse Forms of
sondern erstreckt sich auf andere Grundlagen- Collective Memory. In: Gerald Echterhoff/Martin
sowie angewandte Disziplinen, was auch neuar- Saar (Hg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns.
tigen Fragestellungen und innovativen Erkennt- Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollekti-
ven Gedächtnisses. Konstanz 2002, 37–58.
nissen den Weg bahnen kann. Die auch künftig Holzkamp, Klaus: Lernen. Subjektwissenschaftliche
wichtige Rolle gedächtnispsychologischer An- Grundlegung. Frankfurt a. M. 1993.
strengungen bezieht sich im Übrigen gerade auch James, William: The Principles of Psychology. 2 Bde.
auf inter-, multi- und transdisziplinäre Arbeits- New York/London 1890.
zusammenhänge, die von genuin psycholo- Leont’ev, Aleksej N.: Die Entwicklung des Gedächtnis-
ses [1932]. In: Georg Rückriem (Hg.): Aleksej N.
gischen Einsichten (theoretischen wie empi-
Leont’ev – Frühschriften. Berlin 2001, 63–288.
rischen), Begrifflichkeiten und methodischen Loftus, Elisabeth F./Ketcham, Katherine: The Myth of
Zugängen in der ein oder anderen Weise profitie- Repressed Memory: False Memories and Allegations of
ren können und dies de facto auch häufig tun. Sexual Abuse. New York 1994.
Neben der ausgiebigen Nutzung der experimen- Lurija, Aleksandr R.: Der Mann, dessen Welt in Scherben
tell verfahrenden nomologischen Gedächtnispsy- ging. Zwei neurologische Geschichten. Reinbek 1991
(russ. 1968/1971).
chologie wäre ein wichtiges Desiderat für weitere Markowitsch, Hans J.: Gedächtnisstörungen. Stuttgart
inter-, multi- und transdisziplinäre Kooperati- 1999.
onen ein stärkerer Einbezug auch der eher sozial- Miller, George A.: The Magical Number Seven Plus or
und kulturwissenschaftlichen Forschungstraditi- Minus Two: Some Limits on our Capacity for Proces-
onen, die es in der Gedächtnispsychologie eben- sing Information. In: Psychological Review 63 (1956),
81–97.
falls gibt.
Neisser, Ulric: John Dean’s Memory. A Case Study. In:
Cognition 9 (1981), 1–22.
44 I. Grundlagen des Erinnerns

– (Hg.): Memory Observed. Remembering in Natural – (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußt-
Contexts. New York 1982. sein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und
Sperling, George: The Information Available in Brief Geschichte. Frankfurt a. M. 1998.
Visual Presentations. In: Psychological Monographs Tulving, Endel/Donaldson, Wayne (Hg.): Organisation
74 (1960), 1–29. of Memory. New York 1972.
Straub, Jürgen: Gedächtnis. In: Ders./Wilhelm Kempf/ Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline:
Hans Werbik (Hg.): Psychologie. Eine Einführung. »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holo-
Grundlagen, Methoden, Perspektiven. München 1997, caust im Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M.
6
249–279. 2008.
Carlos Kölbl/Jürgen Straub
45

3. Die Entwicklung des lauf geordnet, nach ihren Entstehungsbedingun-


autobiographischen gen befragt und mögliche Erklärungen für ihr
jeweiliges Auftreten entwickelt.
Gedächtnisses Während der Bezug auf vergangene Episoden
und Ereignisse allgemein auch anhand von Ob-
Wir alle erzählen immer wieder Geschichten aus jekten und Artefakten vollzogen werden kann, ist
unserem Leben. Wir tun dies mit Freunden und die Darstellung und Mitteilung eines übergrei-
der Familie, nicht selten im Rahmen alltäglicher fenden Sinn- und Erklärungszusammenhangs
Tätigkeiten, etwa beim Essen oder auf Reisen. Er- wie ihn eine Erzählung darstellt allein und nur
zählt wird gerade Geschehenes ebenso wie Ge- innerhalb des Mediums der Sprache möglich.
schichten, die schon länger zurückliegen. Über Durch Sprache wird Vergangenes mitgeteilt,
diese Geschichten konstruieren wir für uns und werden sozial vermittelte Interpretationen und
für andere, wer wir sind. Diese Fähigkeit bildet Bewertungen dieser Vergangenheit konstruiert,
sich parallel zum körperlichen Heranwachsen wird kommuniziert, wie etwas in einen Hand-
aus. Erlernt wird sie im gemeinsamen familialen lungsablauf integriert war und welche Gefühle
Erinnerungsgespräch. Es ist weiterhin so, dass die und Motivationen sich für uns selbst und andere
Art und Weise des gemeinsamen Erinnerns, die damit verbanden.
aufgrund verschiedener Faktoren variiert – Bil- Dabei besteht zwischen der Darstellung ver-
dung, regionale Herkunft, Geschlecht –, die Form gangener Ereignisse und ihrer Bewertung ein dia-
in der die je individuelle Vergangenheit erzählt lektischer Zusammenhang: Die Art und Weise, in
wird und damit verbunden die jeweilige Selbst- der Vergangenes anderen mitgeteilt wird verän-
wahrnehmung der Erzählenden prägt. Diese dert die Art und Weise in der Vergangenes an-
kommunikativen und somit interaktiven Erinne- schließend durch den Erzähler verstanden und
rungsakte stellen selbst einen Entwicklungspro- erinnert wird. In diesem Sinne lässt sich sagen,
zess dar, durch den Kinder die Werte und Fertig- dass auf Sprache basierende Erzählungen eine
keiten erwerben, die zur Entwicklung einer indi- entscheidende Rolle in der Fortentwicklung der
viduellen Lebensgeschichte oder Autobiographie Erinnerungen spielen.
notwendig sind. Dieses Faktum wiederum unterscheidet auto-
biographische Erinnerungen von episodischen
Erinnerungen: Episodische Erinnerungen sind
Gedächtnis, Erzählung und Sprache
Erinnerungen an und Beschreibungen von kon-
Die in dieser Lebensgeschichte enthaltenen Erin- kreten Handlungen, während autobiographische
nerungen unterscheiden sich von anderen Erin- Erinnerungen gerade dadurch definiert werden,
nerungen vor allem durch die Form: Innerhalb dass im sozialen Austausch des Erzählens Ereig-
unseres Gedächtnisses werden Informationen auf nisse und Handlungsabfolgen mit subjektivem,
verschiedenen Ebenen verarbeitet. Sie können aber intersubjektiv kommunizierbarem Sinn aus-
episodisch einzelnen Ereignissen zugeordnet sein gestattet werden. Doch der Bezugspunkt autobio-
oder semantisch Sinn und Bedeutung eines spe- graphischer Erinnerung ist nicht das Ereignis
zifischen Begriffs oder einer Tätigkeit archivie- sondern das Ereignis im Selbstverständnis des
ren. Eine Lebensgeschichte geht nun darüber hi- Erzählenden. Für den Aufbau einer Lebensge-
naus, insofern sie eine sozial und kulturell fest- schichte als »Landschaft des Bewusstseins«
geschriebene und erlernte, sprachliche Form (Jérôme Bruner) geht es nicht einfach darum,
darstellt, die eine übergreifende kognitive Orga- was passiert ist, sondern darum, was mir passiert
nisation von Inhalten, aber auch von Gedanken, ist und wie es mir passiert ist (vgl. insgesamt Bru-
Gefühlen und Motivationen erlaubt: eine Erzäh- ner 1998; Vygotskij 1992; Fivush/Nelson 2004).
lung. Dabei werden die unterschiedlichsten Er-
eignisse und Erlebnisse in ihrem zeitlichen Ab-
46 I. Grundlagen des Erinnerns

Autobiographische Erzählungen und erwartet, dass sie fähig sind, sich in Erzählzusam-
Selbstverständnis menhänge einzubringen, etwa zu beschreiben,
wo und wie sie ein bestimmtes Objekt bekom-
Auf diese Weise ist das autobiographische Ge- men haben und was es bedeutet. Ab dem Kinder-
dächtnis eng mit dem Selbst und dem Selbstver- garten sollen sie erzählen können, was sie am
ständnis des Einzelnen verbunden. Zudem wird Wochenende oder in den Ferien getan haben,
das Verhältnis zwischen den Ereignissen und und ab Mitte der Grundschulzeit wird von ihnen
dem, wie sie durch Erzählung und Bewertung zu erwartet, dass sie die Grundrisse einer eigenen
eigenen Erfahrungen gemacht werden entlang Lebensgeschichte erzählen können. Die Wichtig-
der oben umrissenen Dialektik unter dem Ein- keit einer solchen Erzählung in europäisch-ame-
fluss des jeweiligen sozialen und kulturellen So- rikanischen Kulturen zeigt sich auch daran, dass
zialisationshintergrunds beständig weiterentwi- annähernd alle Eltern in diesen Kulturen fast von
ckelt. Geburt an gemeinsam mit ihren Kindern erin-
Kultur und Autobiographie: Kulturen stellen nern und Geschichten über die familiäre Vergan-
dabei diejenigen Handlungsmuster zur Verfü- genheit erzählen, auch und gerade bevor das
gung, die z. B. Kinder an die in der jeweiligen Kind überhaupt fähig ist, diesen zu folgen oder
Kultur als wichtig und wertvoll erachteten Fähig- sich zu beteiligen.
keiten heranführen und darüber hinaus allge- Diesen kulturellen Mustern wird auf der un-
mein die groben Leitlinien eines angemessenen tersten Ebene in sozialen Interaktionen Hand-
Lebenslaufes definieren. Insofern beeinflusst der lungsmacht verliehen: Die Art und Weise, in der
kulturelle Sozialisationshintergrund auch die Art Erwachsene die Handlungen, Gedanken und Ge-
der Erfahrungen und deren Wahrnehmung und fühle junger Kinder sinnstiftend erzählerisch
Bewertung, die der Einzelne im Laufe seines Le- rahmen, strukturiert deren Erfahrungshorizont
bens wahrscheinlich machen wird. und damit die Fähigkeit, die kulturell als notwen-
Um ein Beispiel zu geben: In industriellen Kul- dig erachteten Fertigkeiten auszubilden. Für das
turen wird etwa Bildung sehr hoch angesehen, autobiographische Gedächtnis gilt dabei, dass das
und die Lebenswege von Kindern werden nicht durch die Eltern strukturierte gemeinsame Erin-
unwesentlich entlang der Vorgaben von formaler nern die Bedeutung des Erinnerns (als einer ge-
Bildung und schulischer Leistung organisiert. In teilten sozialen Handlung) hervorhebt und dabei
nahezu allen industriellen Kulturen (und hier diejenigen Ereignisse markiert, die kulturell als
insbesondere in der Mittelklasse) leben Kinder in selbstverständlich erinnernswert und bedeutsam
Wohnstätten mit magnetischen Buchstaben und betrachtet werden: Warum sonst werden etwa
Zahlen auf dem Kühlschrank und mit im Haus Geschichten vom Weihnachtsfest bei der Groß-
verteilten Lesebüchern, und dies auch und gerade mutter immer wieder erzählt, während andere
in einem Alter, in dem sie noch nicht fähig sind, Ereignisse niemals oder nur sehr selten zur Spra-
die Bedeutung dieser Symbole zu erfassen. Da die che kommen? (vgl. insgesamt Vygotskij 1992;
Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können eine Fivush 2007).
kulturell (und sozial) derart hoch angesehene Autobiographie und Selbst: Autobiographische
Fertigkeit darstellt, werden Kinder buchstäblich Erzählungen und das Selbst erscheinen auf drei-
von Geburt an mit dieser konfrontiert und der erlei Weise verbunden: zunächst im Hinblick auf
selbstverständliche Eigenwert der damit verbun- ein Selbstverständnis und eine Selbstdefinition,
denen Handlungsmuster entgeht nicht einmal sodann unter dem Aspekt des Selbst in sozialen
dem jüngsten Mitglied dieser Kulturen. Beziehungen und schließlich im Sinne der eigen-
Ebenso verhält es sich in europäisch-amerika- ständigen Bewältigung von (emotionalen) Erfah-
nischen Kulturen mit dem Besitz und dem Er- rungen.
zählen einer Lebensgeschichte. Schon vor Errei- Dabei bestimmen die durch den soziokulturel-
chen des Kindergartenalters wird von Kindern len Sozialisationshintergrund des Einzelnen zu
3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 47

Erfahrungen und sinnstiftenden Erzählungen bei als besonders wichtig: die Zeit bis zum Er-
verarbeiteten Ereignisse wesentlich die Art und reichen des Schulalters, in der Grundrisse eines
Weise, in der sich dieser Einzelne selbst versteht autobiographischen Gedächtnisses und eines
und selbst definiert. Durch autobiographische Selbstverständnisses zuerst in Erscheinung tre-
Erzählungen, die jeweils im sozialen Austausch ten, und die Pubertät, in der Individuen begin-
mit anderen durch das Mitteilen von Erfahrun- nen, eine übergreifende Lebensgeschichte und
gen, Gefühlen und Gedanken entstehen, verortet eine durch diese integrierte Identität auszubil-
sich der Einzelne weiter selbst in den sozialen Be- den.
ziehungen, in die er eingebunden ist und schafft Die Entstehung des autobiographischen Ge-
insbesondere im Erinnerungsgespräch mit ande- dächtnisses: Die Entstehung eigener Erzählungen
ren eine geteilte Geschichte, die emotionale Bin- setzt gewöhnlich ein, sobald Kinder zu sprechen
dungen erzeugt und über die Zeit hinweg auf- beginnen, also etwa mit 18 bis 20 Monaten. Aller-
rechterhält. Hier wird zusätzlich deutlich, dass dings beziehen sich Kinder in diesem Alter vor
das Verhältnis des Einzelnen zur sozialen Gruppe allem auf die nahe Vergangenheit, also etwa auf
nicht unwesentlich dadurch bestimmt ist, was je- das, was sie an einem Tag zum Mittagessen hat-
weils erinnert wird, sondern auch dadurch, wie ten oder mit welchem Spielzeug sie gespielt
der Einzelne sich selbst darin verortet: ob als in haben, und das auch nur mit wenigen Worten.
sich geschlossenes, autonomes Selbst oder als Teil Innerhalb der ersten 20 bis 36 Lebensmonate
einer Gruppe. Und schließlich ermöglichen Er- beginnen Kinder, an durch Erwachsene struktu-
zählungen durch die Konstruktion eines schlüssi- rierten Erinnerungsgesprächen über die Vergan-
gen, erklärenden und gefühlsbetonten Hand- genheit mit einigen wenigen Worten, durch Ja/
lungsstrangs die selbständige Bewältigung belas- Nein-Antworten oder durch Wiederholung des
tender Ereignisse. Folglich existiert eine enge durch einen Erwachsenen Gesagten teilzuneh-
Beziehung zwischen dem physischen und dem men. Der Erwachsene mag hier durchaus bereits
psychischen Wohlbefinden und der individuel- Informationen aus einzelnen Teilen zusammen-
len aber kollektiv erlernten Fähigkeit, erzähle- tragen und diese zu einer Erzählung zusammen-
risch Sinn und Bedeutung zu erzeugen. – Im so- setzen, aber an diesem Punkt ihrer Entwicklung
zialen Austausch definieren wir, wer wir sind und können Kinder aus eigenem Vermögen allein
wie wir uns selbst und unsere Erfahrungen ver- noch keine zusammenhängende verbale oder gar
stehen (vgl. insgesamt dazu Fivush/Haden 2003; sinnstiftend verbundene Darstellung der Vergan-
Wang/Ross 2007). genheit geben. Erst im Alter von drei bis sechs
Jahren nehmen Kinder zunehmend an der ge-
meinsamen Konstruktion von Vergangenheit teil.
Erzählungen und Selbst im Kontext
Sie bringen nun Vergangenes selbst als Ge-
der Kindheitsentwicklung
sprächsthema ein und können auf Fragen jeweils
Die eben beschriebenen Beziehungen zwischen schlüssige längere Antworten geben, wenn auch
der autobiographischen Erinnerung und dem die Form der Erzählung immer noch deutlich
Selbst entstehen während das Kind heranwächst. durch Fragen und Hinweise von Erwachsenen
Zumindest in europäisch-amerikanischen Kultu- geprägt ist. Mit Erreichen des Schulalters sind die
ren beginnen Eltern sehr früh, mit ihren Kindern meisten Kinder in der Lage, relativ zusammen-
über die Vergangenheit zu sprechen, und diese hängende Erzählungen von selbsterlebten Ereig-
erzählerische Praxis setzt sich über das ganze nissen zu geben, obwohl die erzählerischen Fä-
weitere Leben hinweg fort. Allerdings verändert higkeiten im Laufe der weiteren Kindheit (und
sich die Struktur dieses Erzählens in dem Maße, vermutlich auch im Erwachsenenalter) noch aus-
in dem Kinder zunehmend Erfahrungen in die- gebaut werden. Dieser Fortschritt in der Entwick-
ser Form des sozialen Austauschs sammeln. Zwei lung des Kindes von einer vollständigen Abhän-
Phasen der Kindheitsentwicklung erscheinen da- gigkeit von den erzählerischen Vorgaben Älterer
48 I. Grundlagen des Erinnerns

bis zum eigenständigen Erzählen weist nochmals entsteht kein Erzählzusammenhang – es wurde
darauf hin, dass Kinder die Formen und Funktio- keine Geschichte einer von Mutter und Kind ge-
nen persönlicher Erzählungen durch die Teil- teilten Erfahrung hervorgebracht.
nahme am durch Ältere strukturierten sozialen Weiterhin bleiben Mütter sowohl bei Ge-
Austausch erlernen. Von daher ist gerade die Art schwistern als auch insgesamt während der Vor-
und Weise, in der Eltern das gemeinsame Erin- schuljahre ihrer Kinder in ihrem Erinnerungsstil
nern in den Jahren vor dem Schulbesuch struktu- konsistent: Diejenigen Mütter, die mit jungen
rieren, entscheidend, und individuelle Unter- Kindern stark elaboriert erinnern, tun dies auch
schiede im Erinnerungsstil der Eltern müssen später. Allerdings bedeutet dies nicht, dass stark
mit den individuellen Unterschieden in der Ent- elaboriert erinnernde Mütter generell kommuni-
wicklung autobiographischer Erzählfähigkeiten kativer im Umgang mit ihren Kindern sind: Sie
der Kinder in Beziehung gesetzt werden (vgl. ins- reden nicht notwendigerweise beim Vorlesen,
gesamt Fivush/Nelson 2004). Spielen oder anderen alltäglichen Beschäftigun-
Mütterlicher Erinnerungsstil: In diesem Zu- gen mehr. Gerade dieser Aspekt weist nochmals
sammenhang konnten die individuellen Unter- darauf hin, dass das gemeinsame Erinnern einen
schiede, wie Mütter gemeinsam mit ihren Kin- einzigartigen Gesprächszusammenhang darstellt,
dern im Vorschulalter erinnern, durch eine große in dem die Mutter versucht, mit ihrem Kind ganz
Anzahl an Studien belegt werden (vgl. dazu: bestimmte Ziele zu erreichen.
Fivush 1998; 2007; Fivush/Haden 2003; Fivush/ Tatsächlich hat sich gezeigt, dass sich Kinder
Nelson 2004). Obwohl die zu diesem Zweck ver- elaboriert erinnernder Mütter auf kürzere als
wendeten Methoden stark differieren, besagt die auch auf längere Sicht lebhafter am gemeinsamen
grundlegende Erkenntnis, dass Mütter vor allem Erinnern beteiligen, wobei Kurzzeitstudien er-
im Hinblick auf die Elaboriertheit ihres Erinne- kennen lassen, dass die Elaboriertheit des müt-
rungsstils variieren. Dabei beziehen stark elabo- terlichen Erinnerungsstils die Beteiligungsfähig-
riert erinnernde Mütter ihre Kinder sehr häufig keit steigert, während entsprechende Langzeit-
in detaillierte Gespräche über die eigene Vergan- studien belegen, dass die Kinder elaboriert
genheit mit ein, während weniger elaboriert erin- erinnernder Mütter insgesamt aktiver am ge-
nernde Mütter Vergangenes nicht so häufig the- meinsamen Erinnerungsgespräch teilnehmen.
matisieren. Zudem tendieren sie dazu, weniger Der mütterliche Erinnerungsstil legt dabei die
und eher wiederholende Fragen zu stellen. Zur späteren Beteiligungsmöglichkeiten des Kindes
Verdeutlichung wurden Gespräche zwischen am gemeinsamen Erinnern frühzeitig fest. Und
stark elaboriert und weniger stark elaboriert er- tatsächlich kreieren Kinder stärker elaboriert er-
innernden Müttern mit ihren jeweils 40 Monate innernder Mütter später detailliertere, schlüssi-
alten Kindern untersucht. Im Verlauf eines Ge- gere und stärker zusammenhängende Erzählun-
sprächs zwischen einer stark elaboriert erinnern- gen ihrer persönlichen Vergangenheit, selbst ge-
den Mutter und ihrem Kind zeigte sich, dass, ob- genüber fremden Erwachsenen (vgl. insgesamt
wohl das Kind insgesamt sehr wenige und durch- Nelson/Fivush 2004; Fivush 2007; Bohanek u. a.
aus auch unzutreffende Informationen erinnerte, 2006).
die Mutter mit jeder weiteren Frage mehr und zu- Gefühlsausdruck im gemeinsamen Erinnern:
nehmend detailliertere Fakten zur Verfügung Wie bereits angesprochen, umfassen autobiogra-
stellte, bis am Ende des Gesprächsausschnitts tat- phische Erzählungen mehr als nur eine Chrono-
sächlich so etwas wie eine ›Geschichte‹ stand, logie vergangener Ereignisse: Autobiographische
eine ausgearbeitete und wertende Erzählung des Erzählungen verflechten Gedanken und Gefühle
Ereignisses. Im Unterschied dazu lieferte eine zu einer schlüssig zusammenhängenden, durch
weniger elaboriert erinnernde Mutter über ihre Interpretationen und Bewertungen ergänzten Er-
Fragen kaum Informationen, sie beschränkte sich klärung, ›wie‹ und ›warum‹ etwas geschehen ist,
vielmehr auf ein repetetives Abfragen. Als Folge wie es geschah. Gerade stark elaboriert erin-
3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 49

nernde Mütter beziehen eine große Anzahl Infor- viel darauf hin, dass diese Charakteristika nur ei-
mationen über genau diese wertenden Aspekte nen kleinen Teil der Varianz erklären. Stattdessen
von Erzählungen in die Gespräche mit ihren Kin- scheint der jeweilige Erinnerungsstil von den
dern ein. Sie nehmen häufig Gefühle und Moti- Grundannahmen der Mutter über Bedeutung
vationen beschreibende Begriffe auf und spre- und Funktion des Erinnerns geprägt zu sein, wo-
chen generell eine Sprache, die eher auf Gefühle bei diese wiederum stark von Kultur und sozia-
und emotionale Reaktionen abzielt. lem Geschlecht abzuhängen scheinen (vgl. insge-
Eine stark elaboriert erinnernde Mutter und samt Fivush 2007; Fivush/Nelson 2004).
ihr Kind erinnern sich zum Beispiel an einen Tag Kultur und soziales Geschlecht im gemeinsa-
am See mit Freunden und diskutieren im Verlauf men Erinnern: Unter Voraussetzung der hier ver-
des Gesprächs, wie das Kind vom Floß ins Wasser tretenen soziokulturellen Perspektive wäre zu er-
fiel. Die Mutter spricht hierbei nicht nur die Ge- warten, dass die zugrunde liegenden Annahmen
fühle des Kindes zu diesem Zeitpunkt an, son- über ein kulturell angemessenes Verständnis des
dern gibt ihm auch eine Hilfestellung bei der Er- Selbst und der Anderen sich in kulturell variie-
forschung und Erklärung seiner emotionalen Re- renden autobiographischen Erzählungen nieder-
aktion. Diese stark elaboriert erinnernde Mutter schlagen. Diese Frage wurde vor allem im Ver-
und ihr Kind besprechen und verhandeln die gleich zwischen europäisch-amerikanischen und
emotionale Reaktion und das Verhalten des Kin- südostasiatischen (in diesem Text sind damit
des als integralen Bestandteil der gemeinsam ver- Zentral-, und Südasien gemeint) Kulturen er-
fertigten Erzählung, während im Gegensatz dazu forscht, wobei europäisch-amerikanische Kultu-
die weniger elaboriert erinnernde Mutter über- ren das Selbst tendenziell eher als autonom und
haupt kaum versucht, die emotionalen Aspekte unabhängig betrachten, während es in südostasi-
des Geschehens in das Gespräch einfließen zu atischen Kulturen als relational und viel stärker
lassen. In ihrer Unterhaltung diskutieren sie und in Abhängigkeit von Anderen erscheint (vgl.
ihr Kind etwa dessen erste Reise mit einem Flug- etwa Han/Leichtman/Wang 1998). Genauer ge-
zeug. Dabei konzentrieren die beiden sich allein sagt, betrachten europäisch-amerikanische Kul-
auf die reinen Tatsachen und lassen die Gefühle turen das Selbst als den autonomen Hauptakteur
und Gedanken des Kindes unberücksichtigt. Ob- einer Lebensgeschichte, wobei diese Lebensge-
wohl dieses Kind einen sehr großen Teil der Fak- schichte wiederum das Selbst als den Ort voraus-
ten erinnert, integriert die Mutter diese Fakten setzt, an dem über den Inhalt und die jeweiligen
nicht in eine Erzählung, die die emotionalen Re- Resultate der Biographie Kontrolle ausgeübt
aktionen des Kindes berücksichtigt. Diese Unter- wird. Südostasiatische Kulturen dagegen sehen
schiede in frühen Erinnerungsgesprächen for- das Selbst als mit anderen verbunden an, als Teil
men die Fähigkeiten der Kinder, über sich selbst einer gemeinsamen Geschichte, die das Selbst
zu sprechen. So hat sich gezeigt, dass Kinder von mit dem Anderen durch ein Beziehungsgeflecht
Müttern, die während des Erinnerns eine ge- verbindet und so die Entwicklungsmöglichkeiten
fühlsbetontere Sprache verwendeten, später so- von Ereignissen stark eingrenzt. Diese Bewer-
wohl in gemeinsam verfertigten als auch in ei- tungen schlagen sich in autobiographischen Er-
genständigen Erzählungen ebenfalls stärker Ge- zählungen z. B. dergestalt nieder, dass Erwach-
danken und Gefühle thematisieren. sene aus asiatischen Kulturen insgesamt weniger
Der Erinnerungsstil der Mutter beeinflusst und weniger detaillierte persönliche Lebensge-
also die Entwicklung autobiographischer Fähig- schichten erzählen. Zudem haben sie weniger
keiten des Kindes. Warum aber erinnern einige stark ausgeprägte Kindheitserinnerungen und
Mütter elaborierter als andere? Möglicherweise beziehen sich beim Erzählen von Vergangenem
sind beispielsweise das Temperament des Kindes nicht so sehr auf sich selbst als einen aktiven
und seine Sprachbegabung für den Erinnerungs- Handlungsträger. Diese Verhaltensmuster deu-
stil der Mutter von Bedeutung. Allerdings deutet ten darauf hin, dass eine Autobiographie als eine
50 I. Grundlagen des Erinnerns

verinnerlichte persönliche und subjektive Le- Erzählungen und emotionalen Verständnisses


bensgeschichte in asiatischen Kulturen nicht so durch das Kind verbunden ist.
hoch bewertet wird wie in europäisch-amerika- Allerdings ist hervorzuheben, dass Kulturen
nischen Kulturen. keineswegs monolithisch strukturiert sind und
Parallel dazu gibt es signifikante kulturell be- dass in dem Maße wie Unterschiede im Verständ-
dingte Unterschiede in der Struktur des gemein- nis des Selbst und in der Struktur autobiographi-
samen Erinnerns zwischen Mutter und Kind. scher Erinnerungen zwischen verschiedenen
Mütter in unterschiedlichen asiatischen Kulturen Kulturen bestehen, auch individuelle Differenzen
erinnern vor dem Erreichen des Schulalters sehr innerhalb der Kulturen auftreten. Insbesondere
wenig gemeinsam mit ihren Kindern. Sie erin- das (soziale) Geschlecht ist eine Kategorie, an der
nern dabei auf weniger elaborierte Art und bezie- sich buchstäblich in allen Kulturen das jeweilige
hen sich dabei nicht so sehr auf das Kind und Verständnis des Selbst exemplarisch abbildet. Im
mehr auf ihre jeweilige soziale Gruppe als Mütter Gegensatz zu allen kulturellen Unterschieden in
aus europäisch-amerikanischen Kulturen. Das- der Betrachtung des Selbst sehen die meisten
selbe gilt für die Kinder: In ihrer Kindheit kreie- Kulturen Frauen im Vergleich zu Männern als
ren asiatische Kinder insgesamt weit weniger und stärker beziehungsorientiert an, und auch in eu-
weniger detaillierte Erzählungen einer persönli- ropäisch-amerikanischen Kulturen herrscht ein
chen und subjektiven Vergangenheit als europä- Geschlechtsideal vor, das Frauen größere Emo-
isch-amerikanische. Was nun den emotionalen tionalität und Sozialkompetenz zuschreibt. In
Gehalt anbelangt, so konzentrieren sich europä- Übereinstimmung mit diesen kulturellen Vor-
isch-amerikanische Mütter im Vergleich zu asia- stellungen gibt es Hinweise darauf, dass erwach-
tischen stärker auf die möglichen Ursachen emo- sene Frauen glauben, tiefere Emotionen zu erfah-
tionaler Erfahrungen und versuchen, in Erinne- ren und zu berichten als erwachsene Männer,
rung zu rufen, wie und warum das Kind ganz dass sie weiter stärker beziehungsorientiert seien
bestimmte Gefühle hatte. Sie versuchen darüber und dass sie ihre sozialen Beziehungen höher be-
hinaus (wiederum mehr als asiatische Mütter dies werten und intensiver pflegen. Aufgrund dieser
tun), diese emotionalen Erfahrungen mit ihren Selbstbilder schaffen sich erwachsene Frauen tat-
Kindern gemeinsam zu bewältigen und sie in ei- sächlich nachweisbar detailliertere, lebendigere,
nen Austausch über ihre Gefühle einzubinden. emotionalere und beziehungsorientiertere auto-
Diese Verhaltensmuster deuten darauf hin, dass biographische Erzählungen als erwachsene Män-
europäisch-amerikanische Mütter sich stärker ner. Und wie in der Frage der Kultur gibt es auch
mit dem emotionalen Erleben ihrer Kinder be- in der des Geschlechts verblüffende Parallelen
schäftigen und Gefühle insgesamt stärker als ei- zwischen dem jeweiligen elterlichen Erinne-
gene innere Erfahrung betrachten, zu der das rungsstil und der Struktur späterer autobiogra-
Kind privilegierten Zugang hat, während asiati- phischer Erzählungen: Sowohl Mütter als auch
sche Mütter im Gespräch den Fokus stärker auf Väter tendieren dazu, mit Töchtern anders zu er-
Konfliktlösung und moralische Lektionen rich- innern als mit Söhnen, d. h. vor allem Emotio-
ten, wobei sie Gefühle eher als etwas Störendes nen. Insbesondere Traurigkeit thematisieren El-
thematisieren und ihren Kindern beizubringen tern beiderlei Geschlechts eher mit Töchtern als
versuchen, den reibungslosen Ablauf sozialer In- mit Söhnen. Weiter konzentriert sich das gemein-
teraktionen durch diese Emotionen nicht behin- same Erinnern zwischen Vätern und Töchtern
dern zu lassen. Insofern entsprechen die kulturel- stärker auf Menschen und Beziehungen als das
len Muster des autobiographischen Erinnerns Vater-Sohn Erinnern. Und obwohl in den frühen
ebenso den kulturellen Differenzen in der Wahr- Jahren der Kindheitsentwicklung, also vor dem
nehmung des Selbst, wie die Struktur des frühen Eintritt ins Schulalter, keine Geschlechtsunter-
gemeinsamen Erinnerns zwischen Eltern und schiede in der autobiographischen Erinnerung
Kindern mit der Entwicklung autobiographischer nachweisbar sind, schaffen Mädchen etwa ab
3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 51

dem Alter von sechs Jahren deutlich detaillier- ten beschreiben oder eben nicht beschreiben, wer
tere, gefühlsbetontere und beziehungsorientier- sie sind.
tere Erzählungen ihrer persönlichen und somit Im Hinblick auf die Auswirkungen von Kultur
subjektiven Vergangenheit als gleichaltrige Jun- und Geschlecht auf die Struktur von Erzählun-
gen. gen kann festgestellt werden, dass Menschen aus
Diese Beziehungen im Hinblick auf Kultur und asiatischen Kulturen ein anders strukturiertes
Geschlecht zwischen der Struktur des gemeinsa- Selbstbild aufweisen als Euro-Amerikaner: Wäh-
men Erinnerns von Eltern und Kindern, der Ent- rend erstere ihr Selbstbild erzählerisch eher mit
wicklung autobiographischer Fähigkeiten und sozial definierten Rollen und moralischen Ver-
den Selbstbildern der Einzelnen belegen, dass pflichtungen verbinden, definieren Euro-Ameri-
Kinder jeweils dahingehend sozialisiert werden, kaner sich selbst stärker unter dem Aspekt ihrer
ihre Erfahrungen und sich selbst innerhalb kul- spezifischen persönlichen Erfahrungen. Und es
turell vermittelter, geschlechtsspezifischer Kon- existieren ungeachtet der sonstigen Unterschiede
zepte des Selbst zu begreifen, denen wiederum in zwischen Kulturen (auch dies wurde oben bereits
alltäglichen Erinnerungsgesprächen Ausdruck dargestellt) eindeutig geschlechtlich bestimmte
verliehen wird. Die Forschungsergebnisse im Be- Selbstbilder, insofern Frauen emotionale Erfah-
reich von Kultur und Geschlecht heben nochmals rungen deutlich fester in ihr Selbstverständnis
ganz besonders hervor, dass die Unterschiede im einbinden als Männer und sich so ein stärker aus-
gemeinsamen Erinnern und in den autobiogra- geprägtes und kohärentes Selbstbild schaffen.
phischen Erzählungen stark mit diesem jeweili- Dies mag nicht zuletzt auch darin begründet lie-
gen Verständnis des Selbst zusammenhängen gen, dass Eltern allgemein mit Mädchen deutlich
(vgl. insgesamt Fivush 1998; Fivush/Haden elaborierter erinnern (vgl. insgesamt Fivush/
2003; Fivush/Nelson 2004; Han/Leichtman/Wang Haden 2003; Fivush 2007).
1998).
Autobiographische Erzählungen und die Entste-
Die Entstehung der Lebensgeschichte
hung des Selbstbildes: Wie gestalten sich die Be-
ziehungen zwischen dem Erinnerungsstil der Nun entwickeln Kinder erst in der Pubertät die
Eltern (durch den Kinder im gemeinsamen Erin- sozialen und kognitiven Fähigkeiten, die zur
nern lernen, ihre Wahrnehmung der Vergangen- Konstruktion eines übergreifenden Selbstbildes
heit darzustellen und sie zu verstehen) und den und zum Verständnis individueller Erfahrungen
oben bereits erwähnten Ebenen eines Selbstbil- notwendig sind. Denn erst zu diesem Zeitpunkt
des (Selbstdefinition, Selbst im Verhältnis zu an- erwerben sie die Fähigkeit eines abstrakten und
deren, Selbstbewältigung)? Wie sieht der Zusam- komplexen Verständnisses von Zeit und von Be-
menhang aus zwischen einer detailliert und ziehungen innerhalb der Zeit, das ihnen weiter-
zusammenhängend verfassten, subjektiven Er- gehend erlaubt, übergreifende Erzählungen zu
zählung von Vergangenem und einem differen- schaffen, die immer größere Zeitabschnitte ein-
zierten und kohärenten Selbstbild? Einige Unter- beziehen. Dasselbe gilt für das Verständnis
suchungen belegen, dass sich Kinder stärker komplexer logischer und kausaler Beziehungen
elaboriert erinnernder Mütter leichter in Grup- zwischen einzelnen Ereignissen und deren mög-
penzusammenhänge integrieren und insgesamt licher Verbindungen untereinander. Ältere Kin-
ähnliche Aspekte als selbstdefinierend betrach- der verwenden zudem in ihren Erzählungen mit
ten. Und es konnte weiterhin (und das ist ent- psychologischem Erfahrungswissen angerei-
scheidend) durch verschiedene Forschungen cherte Erklärungsmuster, die sich in größerem
nachgewiesen werden, dass diese Kinder ein Ausmaß als bei jüngeren Kindern auf menschli-
deutlich ausgeprägteres Selbstbild aufweisen, in- che Beweggründe und Absichten beziehen. Alle
sofern sie in der Lage sind, klare Entscheidungen diese Bestandteile einer die komplexen Kausalitä-
darüber zu treffen, welche Charaktereigenschaf- ten und zeitlichen Verhältnisse mit einbegreifen-
52 I. Grundlagen des Erinnerns

den Erzählung, die zudem Gefühle, Gedanken vor allem auf seine eigene Perspektive bezieht. So
und Motivationen in sich aufnimmt, werden im ergibt sich nicht notwendigerweise eine gemein-
Laufe des mittleren Kindheitsabschnitts erwor- same Sichtweise mit den anderen Familienmit-
ben und integriert. Auf dieser Basis kann der He- gliedern.
ranwachsende beginnen, eine übergreifende, in- Zusätzlich versuchen einige Familien, ihre ei-
dividuelle und subjektive Lebensgeschichte oder genen und die Emotionen anderer auszudrücken
Autobiographie zu entwickeln, die Vergangen- und zu erklären, während andere dies wiederum
heit, Gegenwart und Zukunft miteinander ver- nicht tun. Um diesen Zusammenhang zu veran-
bindet. schaulichen wurden Gesprächsausschnitte zweier
Ebenso wie zuvor die Bausteine autobiogra- Familien einander gegenübergestellt, die jeweils
phischer Erzählungen aus dem durch die Eltern den Tod eines Großelternteils diskutierten (Bo-
strukturierten gemeinsamen Erinnern hervor- hanek/Marin/Fivush/Duke 2006). Zum einen se-
gingen, wird die nun entstehende Lebensge- hen wir eine hochgradig kooperativ verfahrende,
schichte vom weiteren gemeinsamen Erinnern in Gefühle ausdrückende und erklärende Familie,
der Familie sozial geprägt. Erst kürzlich wurde zum anderen eine Familie, in der nicht in diesem
begonnen, die Beziehungen zwischen der Struk- Ausmaß versucht wird, eigene Gefühle oder die
tur der jeweiligen Erzählung in der Familie und anderer auszudrücken oder gar zu erklären. Alle
dem Selbstbild von Erwachsenen in kleinen, eth- Mitglieder der hochgradig kooperativ verfahren-
nisch unterschiedlich besetzten Gruppen von Fa- den Familie beteiligen sich aus einer gemeinsa-
milien mit jeweils einem heranwachsenden Kind men Perspektive an der Erzählung der Ge-
zu erforschen. Innerhalb dieser Untersuchung schichte. Jeder Einzelne teilt den anderen seine
(Bohanek/Kelly/Fivush/Duke 2006) wurde die Gefühle mit, diese erfahren gegenseitige Aner-
Familie als Ganzes gebeten, gemeinsam sehr po- kennung und werden in das entstehende Ganze
sitive und gleichermaßen negative Ereignisse, die der gemeinsamen Erzählung integriert. Im Ge-
zusammen erlebt wurden, zu erinnern. Erzäh- gensatz dazu nehmen die Mitglieder der wenig
lungen positiv bewerteter Ereignisse konzentrier- kooperativ agierenden Familie keine gemeinsame
ten sich gewöhnlich auf Ausflüge und Ferienrei- Perspektive ein sondern verleihen jeweils ihren
sen, Erzählungen negativ bewerteter Ereignisse individuellen Einschätzungen Ausdruck, wobei
betrafen im Normalfall ernsthafte Erkrankungen emotionale Reaktionen eher hinterfragt als ak-
oder Sterbefälle innerhalb der Familie (meist der zeptiert und anerkannt werden.
Großeltern, gelegentlich auch eines geliebten Untersucht wurden in diesem Zusammenhang
Haustiers). Untersucht wurde dabei sowohl der auch die Beziehungen zwischen verschiedenen
Prozess der gemeinsamen Konstruktion einer Er- Aspekten des Familienerinnerns, den Identitäten
zählung zwischen den Familienmitgliedern als von Heranwachsenden und deren Wohlbefinden.
auch der Inhalt des Gesagten, insbesondere der Heranwachsende Kinder aus stärker kooperativ
emotionale Gehalt. erinnernden, Gefühle ausdrückenden und erklä-
Ähnlich der individuellen Unterschiede in der renden Familien zeigen gewöhnlich ein stärkeres
Struktur des zweipoligen Mutter-Kind Erinnerns Selbstwertgefühl sowie höhere soziale und aka-
zeigen auch ganze Familien unterschiedliche Er- demische Kompetenzen als Heranwachsende aus
innerungsstile: Einige Familien verfahren hoch- weniger kooperativ verfahrenden und kaum
gradig kooperativ, wobei jedes Familienmitglied Emotionen ausdrückenden Familien. Diese Ver-
einen Teil der Geschichte erzählt und sich alle haltensmuster weisen eindeutig darauf hin,
gleichermaßen an der Verfertigung einer geteil- dass das gemeinsame familiäre Erinnern auch
ten Ereigniserzählung beteiligt; andere Familien dann ein wichtiger Prozess bleibt, wenn Heran-
verhalten sich demgegenüber deutlich individu- wachsende tatsächlich beginnen, ein kohärentes
eller, indem jedes Familienmitglied jeweils nur Selbstbild herauszubilden (vgl. insgesamt Boha-
seinen Teil der Geschichte erzählt und sich dabei nek u. a. 2006; Fivush/Haden 2003).
3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses 53

Schlussfolgerungen hinsichtlich seiner Elaboriertheit und der The-


matisierung von Gefühlen, die Schaffung und
Die Konstruktion einer Autobiographie ist ein Aufrechterhaltung einer eigenständigen erzähle-
soziokultureller Entwicklungsprozess. Dabei ent- rischen Deutung von sich selbst und anderen, so
stehen aus familialem Erinnern, in dem Eltern dass die individuelle und subjektive Autobiogra-
und Kinder gemeinsam Bedeutung und Bewer- phie letztlich paradoxerweise eine eindeutig so-
tung der Vergangenheit im Bezug auf die Gegen- ziokulturelle Konstruktion darstellt.
wart verfertigen, individuelle Lebensberichte und
subjektive Selbstdeutungen. Dieser Prozess be- Literatur
ginnt bereits in einem sehr frühen Stadium der Bohanek, Jennifer/Marin, Kelly/Fivush, Robyn/Duke,
Kindheitsentwicklung und schafft die Vorausset- Marshall: Family Narrative Interaction and Adoles-
zungen für die früheste Wahrnehmung der eige- cent Sense of Self. In: Family Processes 45. Jg., 1
nen Vergangenheit und eines Selbstbildes. Inso- (2006), 39–54.
fern Heranwachsende im Übergang zur Identität Bruner, Jérôme: Vergangenheit und Gegenwart als nar-
rative Konstruktionen [1987]. In: Jürgen Straub
des Erwachsenen die Deutung ihrer selbst und
(Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusst-
ihrer Vergangenheit nochmals rekonstruieren, sein. Zur psychologischen Konstruktion von Zeit und
setzt sich dieser Prozess der Bedeutungs- und Be- Geschichte. Frankfurt a. M. 1998, 46–80.
wertungskonstruktion im gemeinsamen Erin- Fivush, Robyn: Gendered Narratives. Elaboration,
nern über die gesamte Kindheit hinweg fort und Structure and Emotion in Parent-Child Reminiscing
findet auch im Erwachsenenalter keinen endgül- across the Preschool Years. In: Charles P. Thompson/
tigen Abschluss, da die Individuen ihre Vergan- Douglas J. Herrmann u. a. (Hg.): Autobiographical
Memory. Theoretical and Applied Perspectives. Mah-
genheit und sich selbst in einer ständigen dialek- wah 1998, 79–104.
tischen Bewegung zwischen Autobiographie und –: Maternal Reminiscing Style and Children’s Develop-
Selbst immer wieder neu gestalten. Sprache und ing Understanding of Self and Emotion. In: Clinical
Erzählung sind hierbei entscheidende Faktoren: Social Work Journal 35. Jg., 1 (2007), 37–46.
Durch die gemeinsame Verfertigung von auf – /Haden, Catherine A. (Hg.): Autobiographical Mem-
Sprache beruhenden Erzählungen der Vergan- ory and the Construction of a Narrative Self. Develop-
mental and Cultural Perspectives. Mahwah 2003.
genheit, die schlüssige, ausgereifte und erklä-
– /Nelson, Katherine: The Emergence of Autobiogra-
rende Deutungsmuster zur Verfügung stellen, phical Memory. A Social Cultural Developmental
schaffen sich Individuen eine Lebensgeschichte. Theory. In: Psychological Review 111. Jg., (2004),
Dieser im gemeinsamen Erinnern erzeugte Deu- 486–511.
tungsrahmen ermöglicht ein individuelles Selbst- Han, Jessica/Leichtman, Michelle/Wang, Qi: Autobio-
bild in Form der Selbstdefinition, im Verhältnis graphical Memory in Korean, Chinese, and Ameri-
can Children. In: Developmental Psychology 34. Jg., 4
zu anderen und in der Selbstbewältigung von Er-
(1998), 701–713.
fahrungen, wobei sich dies als Prozess innerhalb Vygotskij, Lev S.: Geschichte der höheren psychischen
der kulturell jeweils näher bestimmten Vorstel- Funktionen. Münster/Hamburg 1992.
lungen von Geschlecht und Selbst bewegt. Indivi- Wang, Qi/Ross, Michael: Culture and Memory. In:
duelle und subjektive Autobiographien entstehen Shinobu Kitayama/Dov Cohen (Hg.): Handbook of
konstruktiv im sozialen Austausch und werden Cultural Psychology. New York 2007, 645–667.
im Laufe eines Lebens ständig sozial und kul- Welzer, Harald/Markowitsch, Hans J. (Hg.): Warum
Menschen sich erinnern können. Fortschritte der inter-
turell moduliert. Struktur und Stil des gemein- disziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006.
samen Erinnerns bestimmen dabei, vor allem Robyn Fivush/Übers. Florian Hessel
54 I. Grundlagen des Erinnerns

4. Das Gedächtnis im Alter ler Hirnstrukturen angewiesen sind. Dies trifft


in besonderer Weise auch auf die höheren mnes-
Die Analyse kognitiver Leistungen im Alter bzw. tischen Leistungen zu. Gedächtnisdefizite sind
ihrer Entwicklung im Alterungsprozess stellt seit in der Wahrnehmung von Betroffenen eine der
jeher einen Schwerpunkt in der angewandten Al- frühesten Begleiterscheinungen normalen Al-
ternsforschung dar. Das mit psychodiagnosti- terns. Dieses Phänomen erscheint schon deshalb
schen Methoden fassbare Bild gesunden kogniti- plausibel, weil Störungen des Gedächtnisses für
ven Alterns ist oft nur schwer von beginnenden die Betroffenen in der Alltagsbewältigung un-
pathologischen Prozessen – wie z. B. einer Alz- mittelbar fassbar und somit auch beschreibbar
heimer-Demenz – zu unterscheiden. Auch das sind, eine Feststellung, die für andere kognitive
Gehirn gesunder Menschen ist altersbedingten Bereiche – wie etwa die Handlungsplanung
Veränderungen unterworfen, die zu Leistungs- bzw. Handlungskontrolle (›Exekutivfunktionen‹)
minderungen in unterschiedlichen neurokogni- oder die Sprache – nicht oder nur bedingt gilt.
tiven Domänen führen können. Einige neuro- Ältere Menschen neigen oft dazu, das Ausmaß
kognitive Leistungsbereiche entwickeln sich auch altersassoziierter Veränderungen kognitiver bzw.
im hohen Alter noch relativ stabil, in anderen intellektueller Fähigkeiten zu überschätzen. Die-
nimmt die Leistungsfähigkeit kontinuierlich über ser Umstand ist von besonderer Bedeutung, weil
die Lebensspanne hinweg ab, während dritte erst aktuelle Studien zeigen, dass sich insbesondere
im höheren Lebensalter Veränderungen zeigen. negative Altersstereotypien – im Sinne einer
Ein Ansatz zu einer solchen Differenzierung fin- Selffulfilling Prophecy – wesentlich auf die ko-
det sich spätestens bei John L. Horn und Ray- gnitive Leistungsfähigkeit älterer Menschen aus-
mond B. Cattell (1967) in ihren klassischen Ar- wirken können. Aufgrunddessen gilt es immer
beiten zur Zweikomponententheorie der Intelli- wieder darauf hinzuweisen, dass Altern nicht
genz. Sie konnten zeigen, dass die Güte und pauschal mit einer allgemein verminderten Ge-
Schnelligkeit der Informationsverarbeitung (»flu- dächtnisleistung in Verbindung gebracht werden
ide Intelligenz«) im Alter abnimmt, während wis- kann, dass nicht alle Gedächtnisbereiche glei-
sensabhängige Fähigkeiten (»kristalline Intelli- chermaßen von Alterungsprozessen betroffen
genz«) größtenteils erhalten bleiben. In ihrer sind und dass sich mit zunehmendem Alter auch
klassischen Untersuchung von 297 Probanden im verstärkt individuelle Unterschiede zeigen kön-
Alter von 14 bis 61 Jahren beschrieben Horn und nen.
Cattell eine verminderte fluide Leistungsfähig- Zusätzliche Bedeutung gewinnen Gedächtnis-
keit als mögliche wenn nicht wahrscheinliche defizite dadurch, dass diese auch zu den Leitsymp-
Folge der unvermeidlichen und zwangsläufigen tomen der häufigsten Demenzsyndrome gehö-
(Horn/Cattell 1967, 126) physiologischen Alte- ren. Besonders die Alzheimer-Demenz ist schon
rungsprozesse, in deren Verlauf diskrete zerebra- in frühen Stadien durch Beeinträchtigungen de-
le Veränderungen kumulierten. klarativer Gedächtnisleistungen gekennzeichnet.
Die in der Zweikomponententheorie der Intel- Die Erfassung mnestischer Leistungen trägt des-
ligenz postulierten sekundären Faktoren lassen halb Wesentliches zur Früherkennung demen-
sich natürlich schon aus terminologischen Grün- zieller Erkrankungen bei. Als spezialisierte An-
den nur eingeschränkt in die modernen Neuro- sprechpartner für Menschen mit Gedächtnisstö-
wissenschaften überführen. Der heuristische rungen haben sich im deutschsprachigen Raum
Wert dieser Dichotomie kann aber kaum über- in den letzten beiden Jahrzehnten sogenannte
schätzt werden. ›Gedächtnisambulanzen‹ etabliert. Neben der
Als besonders anfällig gegenüber biologisch Hauptaufgabe der Früherkennung demenzieller
bedingten Alterungsprozessen gelten solche neu- Prozesse haben solche interdisziplinär ausgerich-
rokognitiven Leistungsbereiche, die auf die funk- teten Einrichtungen aber auch die Aufgabe, be-
tionelle Integrität frontaler und medio-tempora- sorgte Betroffene in ihrem Alternsprozess zu be-
4. Das Gedächtnis im Alter 55

Abb. 1: Veränderungen in
einzelnen kognitiven
Leistungsbereichen über
die Lebensspanne hinweg
(Schaie u. a. 2004)

gleiten und über das Ausmaß normalen kogniti- schnittstudie dargestellt, nämlich die der bereits
ven Alterns zu informieren. 1956 initiierten Seattle Longitudinal Study (SLS;
Viele Erkenntnisse zu altersassoziierten Ver- Schaie 2004), welche den Verlauf der kognitiven
änderungen in der kognitiven Leistungsfähigkeit Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen Domä-
entstammen Querschnittstudien, die Personen nen an ihren Probanden seit nun schon über
unterschiedlichen Alters zu einem gegeben Zeit- mehr als fünf Jahrzehnte hinweg verfolgt. Wäh-
punkt miteinander vergleichen. Bei einer solchen rend sich der Entwicklungsverlauf der verschie-
methodischen Vorgehensweise muss aber immer denen untersuchten Leistungsbereiche bis ca.
in Betracht gezogen werden, dass auch histori- zum 60. Lebensjahr noch sehr differenziert dar-
sche Veränderungen in leistungsrelevanten Um- stellt, kommt es im letzten Lebensdrittel zu einem
weltbedingungen – wie beispielsweise die Länge raschen Abfall in allen kognitiven Domänen.
der Schulbildung – für die festgestellten Unter-
schiede mitverantwortlich sein können. Ein me-
Gesundes Altern und Gedächtnis
thodisch besser kontrollierbares Bild des Einflus-
ses primär biologisch bedingter Alterungspro- Wie neurokognitive Leistungsbereiche im Allge-
zesse auf die kognitive Leistungsfähigkeit liefern meinen sehr unterschiedlich vom Altern betrof-
Längsschnittstudien, die große Bevölkerungs- fen sein können, so gilt das auch für die Teilsys-
gruppen oder -kohorten über einen längeren teme des Gedächtnisses. Nach Endel Tulving
Zeitraum beobachten und untersucht haben. (2005) können mit dem prozeduralen Gedächt-
Querschnittstudien zeigen für viele kognitive nis, dem Primingsystem, dem perzeptuellen Ge-
Leistungsbereiche eine mehr oder weniger line- dächtnis, dem semantischen Gedächtnis (›Wis-
are Verschlechterung ab dem frühen Erwachse- senssystem‹) und dem episodischen Gedächtnis
nenalter. Längsschnittstudien hingegen beschrei- fünf sich inhaltlich grundlegend unterscheidende
ben in der Regel ein stabiles Leistungsniveau bis Gedächtnissysteme unterschieden werden (s.
zum Beginn des letzten Lebensdrittels mit einem Kap. I.1).
deutlichen Leistungsabfall danach. In Abbildung Das prozedurale Gedächtnissystem dient dem
1 sind die Ergebnisse einer klassischen Längs- Erlernen und der Bereitstellung psychomotori-
56 I. Grundlagen des Erinnerns

scher und kognitiver Fertigkeiten. Die Inhalte des vierung semantischer Informationen gefordert
prozeduralen Gedächtnisses sind uns in der Regel ist. Ein typisches Beispiel ist hier das sogenannte
nicht bewusst zugänglich und somit sind sie auch Tip-of-the-tongue-Phänomen, welches von vielen
nicht verbalisierbar. Die Befunde zu altersassozi- Betroffenen in höherem Lebensalter beklagt wird.
ierten Veränderungen im prozeduralen Gedächt- Dieses Phänomen ist durch die bewusste und –
nissystem zeigen ein sehr uneinheitliches Bild. wie wir alle wissen dürften – frustrierende Erfah-
Hier steht deshalb zur Diskussion, inwieweit es rung für den Betroffenen gekennzeichnet, etwas
überhaupt möglich ist, prozedurale Gedächtnis- zu wissen, aber es in der aktuellen Situation nicht
leistungen zu erfassen, ohne das auch altersasso- aus dem Gedächtnis reproduzieren zu können.
ziierte Veränderungen in anderen kognitiven Bei älteren Probanden konnte dieses Phänomen
Leistungsbereichen in die Testleistungen mit ein- gehäuft besonders für den Abruf von Namen und
fließen. Viele gängige Testverfahren zum proze- Worten nachgewiesen werden.
duralen Gedächtnis stellen u. a. Anforderungen Relativ eindeutige Befunde zu alterskorrelier-
an das Arbeitsgedächtnis, das episodische Ge- ten Veränderungen beim Gedächtnis liegen für
dächtnis, an visuo-räumliche Funktionen und an das episodische Gedächtnis vor. Das episodische
das Problemlösen. Es hat sich auch gezeigt, dass Gedächtnis stellt das phylogenetisch jüngste und
die für das prozedurale Gedächtnissystem wesent- funktionell auch höchst entwickelte Gedächtnis-
lichen primären motorischen Hirnareale noch im system des Menschen dar und dient im Allgemei-
Alter sehr gut erhalten sind und so altersassozi- nen der Speicherung und dem Erinnern von er-
ierte Einbußen im prozeduralen Gedächtnissys- lebten Ereignissen. Es ist besonders vulnerabel
tem aus hirnmorphologischer Sicht nur in einem gegenüber hirnmorphologischen Veränderungen
beschränkten Ausmaß zu erwarten sind. und reagiert von allen Gedächtnissystemen auch
Während das Primingsystem einer erhöhten am sensibelsten auf Alterserscheinungen des Ge-
Erkennungsleistung von bereits Wahrgenomme- hirns.
nem auf unbewusster Ebene dient, so ist das per- Lars-Göran Nilsson und Kollegen (2003) er-
zeptuelle Gedächtnis in erster Linie für das be- fassten in einer 1988 begonnen prospektiven
wusste Erkennen von Reizen aufgrund ihrer Längsschnittstudie mit dem Schwerpunkt Ge-
Wahrnehmungsmerkmale verantwortlich, indem dächtnis und Gesundheit im Alter (»The Betula
ein Gefühl von Vertrautheit und Bekanntheit er- Study«) u. a. auch die altersabhängigen Verände-
zeugt wird. Wie beim prozeduralen Gedächtnis rungen in unterschiedlichen Gedächtnisberei-
stellen sich die Befunde zu altersassoziierten Ver- chen. Die Ergebnisse einer Querschnittsanalyse
änderungen im Primingsystem und beim perzep- zum ersten Messzeitpunkt für die altersabhängi-
tuellen Gedächtnis je nach methodischem Zu- gen Leistungen zum episodischen Gedächtnis,
gang unterschiedlich dar. Tendenziell kann aber zum semantischen Gedächtnis, zum Kurzzeitge-
aus der aktuellen Befundlage geschlossen wer- dächtnis und zum Priming verdeutlicht die Be-
den, dass das Primingsystem und das perzeptu- sonderheit des episodischen Gedächtnisses im
elle Gedächtnis im Vergleich zu anderen Ge- Vergleich zu den anderen Gedächtnissystemen
dächtnissystemen relativ moderat von altersbe- (s. Abb. 2). In die Analyse wurden 928 gesunde
dingten Veränderungen betroffen sind. Probanden zwischen dem 35. und 80. Lebensjahr
Das semantische Gedächtnis dient dem Er- einbezogen, nachdem 72 Probanden aufgrund
werb und der Speicherung von Faktenwissen und der Diagnose einer Demenz zu Messpunktzeit-
baut dabei auf einer streng hierarchischen, kate- punkt 3 (10 Jahre später) aus der ursprünglichen
goriellen Ordnung auf. Seine Grundstruktur Stichprobe ausgeschlossen wurden. Die Ergeb-
scheint trotz des lebenslangen Lernens über die nisse zeigen, dass sich für das episodische Ge-
Lebensspanne relativ stabil zu bleiben. Altersbe- dächtnis ein deutlicher Alterseffekt zeigt, wäh-
dingte Veränderungen im semantischen Ge- rend dieser für das semantische Gedächtnis, das
dächtnis zeigen sich dort, wo eine bewusste Akti- Kurzzeitgedächtnis und das Priming nur in ge-
4. Das Gedächtnis im Alter 57

Abb. 2: Altersassoziierte
Veränderungen in
einzelnen
Gedächtnisbereichen
(Nilsson u. a. 2003)

ringem Ausmaß nachzuweisen ist. Wie in vielen chen Relevanz der Gedächtnisinhalte stellen
anderen Querschnittstudien auch, zeigt sich hier Beeinträchtigungen im autobiographischen Ge-
für das episodische Gedächtnis eine mehr oder dächtnis schwere Störungen des Selbstkonzeptes
weniger lineare Verschlechterung ab dem frühen dar. Um der Individualität autobiographischer
Erwachsenenalter. Erinnerungen methodisch gerecht zu werden,
Neben einer inhaltlichen Unterteilung lässt das genügt es nicht, sich nur auf die Erfassung per-
menschliche Gedächtnis auch eine zeitliche Un- sönlicher semantischer Gedächtnisinhalte zu be-
terteilung zu: nämlich die zwischen Kurz- und schränken, sondern es ist auch notwendig, per-
Langzeitgedächtnis. Das für die kurzfristige Be- sönliche episodische Erlebnisschilderungen zu
reithaltung von Informationen verantwortliche analysieren. Brian Levine und Kollegen (2002)
Kurzzeitgedächtnis kann darüber hinaus auch verglichen die autobiographische Erinnerungs-
noch vom sogenannten Arbeitsgedächtnis abge- leistung älterer und jüngerer Probanden mit ei-
grenzt werden. Während das Kurzzeitgedächtnis nem teilstandardisierten autobiographischen Ge-
vom Alterungsprozess nur sehr gering betroffen dächtnisinterview über fünf unterschiedliche
zu sein scheint (s. Abb. 2), so können für das Ar- Lebensabschnitte hinweg. Die jüngeren Erwach-
beitsgedächtnis in den meisten Studien doch senen produzierten dabei signifikant mehr episo-
deutliche alterskorrelierte Leistungsminderun- dische Details in ihren Erinnerungen als die älte-
gen nachgewiesen werden. ren Erwachsenen und die älteren Erwachsenen
Eine Sonderstellung innerhalb der Gedächt- tendierten in ihren Erzählungen zu mehr persön-
nissysteme nimmt das autobiographische Ge- lichen semantischen Details als die jüngere Pro-
dächtnis ein (s. Kap. II.1). Aufgrund der persönli- bandengruppe.
58 I. Grundlagen des Erinnerns

Die Abnahme bestimmter Gedächtnisleistun- Cortex beim Abruf verbaler Gedächtnisinhalte


gen im Alter steht in direktem Zusammenhang ein weniger asymmetrisches Aktivierungsmuster
mit hirnmorphologischen Veränderungen, die zeigen als jüngere Vergleichspersonen. Cabeza
auch wesentliches Merkmal neurodegenerativer und Kollegen (2002) verglichen in der Folge auch
und vieler psychiatrischer Erkrankungen darstel- die Aktivierungsmuster im präfrontalen Cortex
len. Bildgebende Verfahren ermöglichen es, von jungen Probanden, älteren Probanden mit
strukturelle Veränderungen im Gehirn in vivo zu schlechteren Gedächtnisleistungen (low-perfor-
untersuchen und die Zusammenhänge zwischen ming) und älteren Probanden mit besseren Ge-
morphologischen Veränderungen im Alter und dächtnisleistungen (high-performing) bei der Be-
neurokognitiven Einbußen besser zu verstehen. arbeitung einer verbalen Gedächtnisaufgabe. Die
Wesentlich bei diesen Veränderungen im Alter älteren low-performing-Probanden zeigten dabei
ist, dass diese die verschiedenen Hirnregionen in während der Abrufbedingung ein ähnliches uni-
unterschiedlichem Maße betreffen. So konnten laterales Aktivierungsmuster (rechter präfronta-
Naftali Raz und Kollegen (2005) mittels struktu- ler Cortex) wie die jüngeren Probanden, während
reller Bildgebung stellvertretend zeigen, dass über bei älteren high-performing-Probanden die ent-
die Lebensspanne hinweg der Nucleus Caudatus, sprechenden Strukturen bilateral aktiviert wur-
das Cerebellum, der Hippocampus und präfron- den. Eine solche Asymmetriereduktion konnte
tale Hirnareale am stärksten von einer Volumen- auch für einige andere kognitive Funktionsberei-
minderung betroffen sind. Für die größtenteils che, wie z. B. das Arbeitsgedächtnis, den Abruf
aus Nervenfasern bestehende weiße Substanz zei- semantischer Gedächtnisinhalte und der Inhibi-
gen sich mit zunehmendem Alter Veränderun- tionskontrolle repliziert werden. Unser Gehirn
gen schwerpunktmäßig in frontalen Hirnberei- ist demnach durch eine funktionelle Umstruktu-
chen. Dies betrifft sowohl die Dichte, als auch die rierung grundsätzlich in der Lage auf sich durch
funktionelle Integrität dieser Strukturen. Als das Altern verändernde physiologische Bedin-
Marker für Altersveränderungen auf biochemi- gungen zu reagieren. Wieso dies bei manchen
scher Ebene wird oft die Anzahl von dopaminer- Probandengruppen besser gelingt als bei anderen
gen Rezeptoren herangezogen. Ein Zusammen- und inwiefern solche Umstrukturierungspro-
hang zwischen einer verminderten Rezeptoren- zesse durch therapeutische Maßnahmen angeregt
anzahl und kognitivem Altern gilt mittlerweile werden können sind zentrale Themen der aktuel-
als wissenschaftlich gesichert. len neurokognitiven Alternsforschung.

Exkurs: Funktionelle Bildgebung und Von der »benignen Vergesslichkeit« zur


Gedächtnis im Alter leichten kognitiven Beeinträchtigung
Funktionelle Bildgebungsstudien haben sich in Normale durch das Altern bedingte Leistungs-
den letzten Jahren u. a. mit der Frage beschäftigt, minderungen von einem möglichen beginnen-
inwieweit das menschliche Gehirn durch funkti- den dementiellen Geschehen zu unterscheiden,
onelle Umstrukturierung in der Lage ist, auf al- stellt in der klinischen Praxis der Gerontopsychi-
tersbedingte anatomische und physiologische atrie seit jeher eine der größten Herausforderun-
Veränderungen zu reagieren. Ein Beispiel einer gen dar. An diesem Übergang haben sich unter
solchen möglichen funktionellen Umstrukturie- dem Sammelbegriff der leichten kognitiven Be-
rung stellt die im HAROLD-Modell (Hemisphe- einträchtigung unterschiedliche konzeptuelle
ric Asymmetry Reduction in Older Adults; Ca- Ansätze entwickelt, um den Übergang zwischen
beza 2002) beschriebene Asymmetriereduktion normalem und pathologischem kognitiven Al-
dar: Die Arbeitsgruppe um Roberto Cabeza tern möglichst gut zu beschreiben. Viele ältere
konnte im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten zei- Studien zu altersassoziierten Veränderungen
gen, dass ältere Probanden für den präfrontalen kognitiver Funktionen konnten auf ein solches
4. Das Gedächtnis im Alter 59

Abb. 3a und 3b: unmittelbare verbale Merkfähigkeit (3a) und verzögerte Wiedererkennensleistung (3b) von
Gesunden (Kontrollen), Patienten mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (AACD, »ageing-associated
cognitive decline«) und Patienten mit einer Alzheimer-Demenz (AD) im Verlauf.

Konzept noch nicht zurückgreifen, und Patienten zeichnet nach heutigem Verständnis neurokogni-
mit einer solchen Beeinträchtigung wurden so- tive Defizite, die zwar die innerhalb der Alters-
mit auch nicht von gesunden Probanden unter- norm zu erwartenden Leistungsminderungen
schieden. Bei älteren Studien ist eine Überzeich- übertreffen, aber in ihrem Ausmaß die Diagnose-
nung der altersassoziierten Veränderungen wahr- kriterien einer Demenz noch nicht erfüllen. Ent-
scheinlich. Die Notwendigkeit einer Differenzie- sprechend werden betroffene Personen als eigen-
rung zwischen gesundem Altern und einer leich- ständige Diagnosegruppe geführt.
ten kognitiven Beeinträchtigung soll mit den Ab- Einer der ersten phänomenologischen Be-
bildungen 3a und 3b (Pantel/Schröder, in Vorb.) schreibungsversuche einer solchen Beeinträchti-
anhand von Ergebnissen aus der in Deutschland gung wurde bereits in den frühen 1960er Jahren
durchgeführten Interdisziplinären Längsschnitt- von Viktor A. Kral unternommen. Aufgrund sei-
studie des Erwachsenenalters (ILSE) veranschau- ner wissenschaftlichen Beobachtungen versuchte
licht werden. Die Abbildungen 3a bzw. 3b geben er eine benigne (engl. benign senescent forgetful-
die unmittelbare verbale Merkfähigkeit und die ness) von einer malignen Altersvergesslichkeit
verzögerte Wiedererkennungsleistung von Ge- (engl. malign senescent forgetfulness) zu unter-
sunden, von Probanden mit einer leichten kogni- scheiden. Als »benigne Altersvergesslichkeit«
tiven Beeinträchtigung und von Patienten mit ei- bezeichnete Kral die sich im Alter oft zeigenden
ner Alzheimer-Demenz zu unterschiedlichen alltäglichen Schwierigkeiten, sich an relativ Un-
Messzeitpunkten mit einem 4-Jahres-Intervall wichtiges zu erinnern, wobei das Gedächtnisde-
wieder. Die Untersuchungsgruppen wurden nach fizit bewusst wahrgenommen wird und eine Um-
den zum dritten Messzeitpunkt erhobenen Dia- schreibung der fehlenden Gedächtnisinhalte im-
gnosen definiert. Demnach bestanden zu Beginn mer noch möglich ist. Das Entfallene kann dabei
der Studie bei den damals noch Anfang 60-Jähri- auch durchaus zu einem anderen Zeitpunkt wie-
gen nur geringe Unterschiede zwischen den Dia- der erinnert werden. Die Gutartigkeit dieser Al-
gnosegruppen. Vier Jahre später erreichten diese tersvergesslichkeit bezog sich darüber hinaus
Unterschiede bereits Signifikanzniveau, ein Be- auch auf eine sehr langsame Progression dieser
fund, der sich bis zum dritten Messzeitpunkt bei Defizite. Die »maligne Altersvergesslichkeit« be-
den dann Mitte 70-Jährigen deutlich verstärkt schrieb er als einen fortschreitenden Gedächtnis-
hatte. Ein ähnliches Bild lässt sich anhand der verlust, der sich inhaltlich auf das Vergessen gan-
ILSE-Daten auch für andere neurokognitive Leis- zer erlebter Ereignisse ausweitet und neben ei-
tungsbereiche zeigen. nem zunehmenden Verlust der zeitlichen und
Die leichte kognitive Beeinträchtigung be- örtlichen Orientierung schlussendlich auch in ei-
60 I. Grundlagen des Erinnerns

ner persönlichen Orientierungslosigkeit mündet. Im Verlauf nahm die Häufigkeit dieses Phäno-
Kral ging in seinen Analysen auch schon so weit, mens zu, um nach vier Jahren mit 23,6 % fast ein
dass er den Gedächtnistypus als möglichen Mar- Viertel der untersuchten Stichprobe zu erfassen.
ker für den generellen Gesundheitsstatus im Al- Aufgrund dieser Verbreitung kann nicht davon
ter bezeichnete. Er sah dabei die »benigne Alters- ausgegangen werden, dass bei all diesen Betrof-
vergesslichkeit« als Ausdruck normalen Alterns fen eine Vorstufe eines beginnenden dementiel-
(»senium naturale«) und die »maligne Altersver- len Geschehens vorliegt. Im Vergleich zur gesun-
gesslichkeit« als Ausdruck krankhaften Alterns den Normalbevölkerung ist aber das Risiko an
(»senium ex morbo«) an. einer Demenz zu erkranken bei einer diagnosti-
Zur operationalisierten Diagnose einer leich- zierten leichten kognitiven Beeinträchtigung bis
ten kognitiven Beeinträchtigung sind inzwischen um das 10-fache erhöht. Im Vergleich zu gesun-
eine Vielfalt weiterer Konzepte, Skalen und dia- den Probanden lassen sich bei solchen Patienten
gnostischer Klassifikationssysteme entwickelt darüber hinaus auch bereits Veränderungen auf
worden (vgl. Übersicht in Pantel/Schröder, in hirnstruktureller Ebene nachweisen.
Vorb.). Wie auch bei den Diagnosekriterien der Neuropsychologische Testverfahren erlauben
Demenz stellen bei diesen Konzepten zur leich- es heute über die Erstellung von differenzierten
ten kognitiven Beeinträchtigung Gedächtnisdefi- neuropsychologischen Leistungsprofilen sehr gut
zite eine der wesentlichen Leitsymptome dar. zwischen normwertigem kognitiven Leistungsni-
Während dabei aber einige »enge« Konzepte in veau, einer leichten kognitiven Beeinträchtigung
ihrer Konzeptualisierung allein auf die Erfassung und einer Demenzerkrankung zu trennen. Die
von Gedächtnisdefiziten ausgerichtet sind, sehen höchste Unterscheidungsfähigkeit zeigen hier,
neuere »breite« Ansätze das Gedächtnis gleichbe- neben der kognitiven Umstellfähigkeit, insbeson-
rechtigt zwischen anderen neurokognitiven Leis- dere Leistungen zum episodischen Gedächtnis
tungsbereichen. Enge Konzepte einer leichten als Teil expliziter Gedächtnisfunktionen. Die Er-
kognitiven Beeinträchtigung sind mit der Vor- fassung mnestischer Funktionen stellt also eine
stellung verbunden, die Alzheimer-Demenz vor- der wesentlichen Säulen in der Früherkennung
wiegend als hippokampale Demenz anzusehen; dementieller Erkrankung dar.
die leichte kognitive Beeinträchtigung als mögli-
ches vorklinisches Stadium einer Alzheimer-De-
Alzheimer-Demenz und Gedächtnis
menz ist in diesem Sinne somit vordergründig
durch Gedächtnisdefizite gekennzeichnet. Breite Die Alzheimer-Demenz ist eine progressive, neu-
Konzepte dagegen gehen von einem Subgrup- rodegenerative Erkrankung mit einem kontinu-
penmodell der Alzheimer-Demenz aus, in deren ierlichen Abbau kognitiver und mnestischer
Sinne sich die Alzheimer-Demenz auch schon in Funktionen. Sie ist mit einem Anteil von 60–70 %
frühen bzw. vorklinischen Stadien durch unter- die häufigste aller Demenzformen. Das ihr ent-
schiedliche kognitive Einbußen äußern kann. sprechende Krankheitsbild wurde erstmals von
Unabhängig vom zugrunde liegenden Konzept Alois Alzheimer zu Beginn des 20. Jahrhunderts
der leichten kognitiven Beeinträchtigung ist von beschrieben und später auch nach ihm benannt.
einer großen Anzahl von Betroffenen auszuge- Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt die
hen, die sich in diesem schwer definierbaren Anzahl der Demenzkranken gegenwärtig auf fast
Überlappungsbereich vom normalen zum patho- eine Million; zwei Drittel davon sind von einer
logischen Altern befinden. Im Rahmen der be- Alzheimer-Demenz betroffen. Jährlich treten laut
reits oben genannten Interdisziplinären Längs- selbiger Quelle 200.000 Neuerkrankungen auf,
schnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) und nach Vorausberechnung der Bevölkerungs-
konnte schon in der Gruppe der »jungen Alten« entwicklung wird die Zahl der Demenzkranken
(Durchschnittsalter 62,4 Jahre) bei 13,4 % eine Jahr für Jahr um etwa 20.000 zunehmen und sich
solche Beeinträchtigung nachgewiesen werden. bis zum Jahr 2050 auf mehr als zwei Millionen er-
4. Das Gedächtnis im Alter 61

höhen, sofern kein Durchbruch in Prävention Problemen im Abruf von bereits gespeicherter
und Therapie gelingt. Information.
Pathologisch ist die Alzheimer-Demenz durch Zur Überprüfung der Leistungsfähigkeit zum
einen Nervenzellverlust vorwiegend kortikaler episodischen Gedächtnis werden in der neuro-
Neurone, einer ebenfalls vorwiegend kortikalen psychologischen Diagnostik in der Regel Tests
extrazellularen Ablagerung von sogenannten verwendet, bei denen der Patient in mehreren
neuritischen Plaques und den intrazellular lokali- Durchgängen eine Liste von Wörtern (verbal)
sierten Neurofibrillenbündeln gekennzeichnet. oder eine Reihe von Bildern (non-verbal) lernt,
Der für das Gedächtnis besonders relevante me- das Gelernte (je nach Test) kurz-, mittel- und/
diale Temporallappen und seine Substrukturen oder längerfristig behalten und dann abrufen soll.
(Hippocampus, Amygdala, entorhinaler Kortex) Die sich durch die einzelnen Durchgänge ableit-
werden dabei von der Alzheimer-Erkrankung am bare Lernkurve zeigt sich bei Alzheimer-Patien-
frühesten erfasst. ten in der Regel sehr flach. Die wenigen erinner-
Die ersten kognitiven Veränderungen bei ei- ten Informationen kommen dabei mehr aus dem
ner Alzheimer-Demenz betreffen somit in der Arbeitsgedächtnis und stellen weniger oft voll-
Regel das Gedächtnis und äußern sich meistens ständig enkodierte Inhalte dar. Bis zu einem ge-
als leichte Merkschwäche für neue Informationen wissen Grade spielen hier auch der Primacy- und
und in einer leichten Wortfindungsstörung. Oft der Recency-Effekt eine Rolle. Der Primacy-Ef-
werden diese ersten Anzeichen als altersassozi- fekt zeigt sich aber schon im frühen Krankheits-
ierte Leistungseinbußen interpretiert. Zu einer stadium dadurch minimiert, dass nur wenige In-
ersten demenzdiagnostischen Abklärung kommt formationen in das Langzeitgedächtnis über-
es meist erst, wenn sich die Symptomatik deut- nommen werden können und die Anfälligkeit für
lich verschlechtert, ein Umstand der bei einer Interferenzeffekte damit steigt. Das heißt, dass
Alzheimer-Demenz unausweichlich ist. Die Fä- sich Patienten mit einer Alzheimer-Demenz zwar
higkeit, neue Informationen zu lernen und sich oft an die zuletzt präsentierten Begriffe oder Bil-
wieder daran zu erinnern, ist daher ein hoch sen- der einer Liste erinnern können, sich die ersten
sitiver Marker einer Alzheimer-Demenz. Von Begriffe bzw. Wörter aber im Vergleich zu gesun-
den einzelnen Gedächtnissystemen ist das episo- den Patienten deutlich schlechter merken kön-
dische Gedächtnis in der Regel bei Alzheimer- nen. Mit weiterem Fortschritt der Erkrankung
Patienten als erstes betroffen. Der typische Pati- verschwindet der Primacy-Effekt dann ganz, und
ent mit einer Alzheimer-Demenz ist nur mehr auch der Recency-Effekt vermindert sich deut-
schwer in der Lage neue Informationen zu enko- lich. Die Defizite im episodischen Gedächtnis
dieren und zu speichern. Nach Amy Overman sind von Anfang an (d. h. schon im präklinischen
und James T. Becker (2004) zeigen sich die Defi- Stadium) schon sehr umfassend. Entsprechend
zite hierzu qualitativ ähnlich wie bei anderen zeigen sich sowohl für verbale als auch für non-
neurodegenerativen Erkrankungen die den Tem- verbale Materialien unter verschiedenen Abruf-
porallappen erfassen (z. B. Herpes simplex Ence- bedingungen, wie dem freien Abruf, dem Abruf
phalitis), unterscheiden sich aber grundlegend mit Hilfen und dem Wiedererkennen massive
von amnestischen oder dementiellen Syndromen Defizite.
mit pathologischem Ursprung in subkortikalen Auch in einem frühen Krankheitsstadium,
Regionen (Chorea Huntington, Morbus Parkin- aber in zeitlicher Folge meist nach dem episodi-
son, Progressive supranukleäre Parese, Demenz schen Gedächtnis, wird dann auch das semanti-
mit Lewy-Körperchen). Bei den subkortikalen sche Gedächtnis von der Alzheimer-Demenz er-
degenerativen Erkrankungen sind die Gedächt- fasst. Erste Anzeichen im Alltag sind hierzu
nisdefizite auch nicht primär auf Probleme bei Wortfindungsstörungen, wie sie von vielen Pati-
der Enkodierung und Speicherung zurückzufüh- enten beklagt werden. Typisch ist hier auch das
ren, sondern haben ihren Ursprung mehr in Vergessen von Namen von Angehörigen oder Be-
62 I. Grundlagen des Erinnerns

kannten. Diagnostisch nachweisen lassen sich Gedächtnisdefizite schon in sehr frühen Krank-
solche Defizit mittels Benennaufgaben, Aufgaben heitsphasen der Alzheimer-Demenz einstellen.
zur Wortflüssigkeit, sowie Bild-Bild- oder Wort- Bereits Patienten mit einer leichten kognitiven
Bild-Matching Aufgaben. Die semantischen De- Beeinträchtigung wiesen ausgeprägte Defizite des
fizite im Krankheitsverlauf betrachtet scheinen autobiographischen Gedächtnisses auf, die bei
Patienten mit einer Alzheimer-Demenz (aber mittelgradiger oder schwerer Alzheimer-Demenz
auch Patienten mit einer semantischen Demenz) fortbestanden. Demgegenüber gingen semanti-
zuerst nur Probleme zu haben, individuelle Mit- sche autobiographische Gedächtnisinhalte gra-
glieder einer Kategorie zu unterscheiden, wobei duell verloren, so dass weitreichende Defizite erst
die allgemeinen Informationen zur Kategorie er- bei stark eingeschränkten Patienten entstanden.
halten bleibt (z. B. ›Pferd‹ oder ›Tier‹ für ›Zebra‹); Neben dem Gedächtnis werden von der Alz-
erst im weiteren Verlauf geht dann auch teilweise heimer-Demenz im Verlauf der Erkrankung auch
kategoriales Wissen verloren (z. B. ›Katze‹ für andere neurokognitive Leistungsbereiche erfasst.
›Hahn‹), wobei es dann aber in Folge nur selten Vor allem in exekutiven Leistungsbereichen und
zu noch elementareren Verwechslungen (z. B. zu bei komplexeren Aufmerksamkeitsleistungen
Verwechslungen zwischen lebenden und nicht le- können sich schon sehr früh Beeinträchtigungen
benden Kategorien) kommt (Gerrard u. a. 2004). zeigen. Sprachfähigkeiten, visuell-räumliche Fä-
Im Gegensatz zum deklarativen Gedächtnis higkeiten und einfache Aufmerksamkeitsleistun-
bleiben die nicht-deklarativen Gedächtnissys- gen bleiben in der Regel relativ lange erhalten.
teme auch in fortgeschritteneren Stadien der Alz- Wie beim gesunden Altern und der leichten ko-
heimer-Demenz verschont. Auch die Kapazität gnitiven Beeinträchtigung können sich in der kli-
des Primär- bzw. Arbeitsgedächtnisses bleibt bis nischen Beobachtung aber auch hier sehr unter-
zu einem moderaten Stadium der Erkrankung re- schiedliche Störungsmuster zeigen.
lativ stabil.
Recht eindeutig gestaltet sich die Befundlage
Zusammenfassung
zum autobiographischen Gedächtnis. Martin D.
Kopelman (1989) verglich in einer der ersten Stu- Subjektiv wahrgenommene Gedächtnisdefizite
dien hierzu autobiographische Gedächtnisleis- gehören zu den ersten Anzeichen kognitiven Al-
tungen von älteren gesunden Probanden u. a. mit terns. Nicht alle Gedächtnissysteme sind davon
der von Patienten mit einer Alzheimer-Demenz. aber im gleichen Ausmaß betroffen. Entspre-
Neben allgemeinen und persönlichen semanti- chend der sich durch Alterungsprozesse verän-
schen Gedächtnisinhalten wurden auch lebens- dernden hirnmorphologischen Bedingungen vor
geschichtliche Ereignisse abgefragt. Es zeigte sich, allem in frontalen und medio-temporalen Ge-
dass die Patienten mit einer Alzheimer-Demenz hirnstrukturen sind höhere mnestische Leistun-
in allen untersuchten Leistungsbereichen deut- gen wie das episodische Gedächtnis und das Ar-
lich beeinträchtigt waren. Die Defizite folgten da- beitsgedächtnis in besonderer Weise vom gesun-
bei dem Ribotschen Gradienten, d. h. jüngere Ge- den Altern betroffen. Klinische Bedeutung
dächtnisinhalte gingen früher verloren als ältere, erlangen Gedächtnisdefizite im Alter dadurch,
und betrafen sowohl den freien Abruf als auch dass diese auch zu den Leitsymptomen der häu-
das Wiedererkennen von autobiographischen figsten Demenzsyndrome gehören. Der Über-
Gedächtnisinhalten. Ulrich Seidl und Kollegen gang vom gesunden zum pathologischen kogniti-
(2007) untersuchten in einer umfassenden Studie ven Altern stellt sich dabei in der Regel als flie-
autobiographische Gedächtnisleistungen bei de- ßend dar. An diesem Übergang haben sich
menzkranken Heimbewohnern in verschiedenen verschiedene Konzepte der leichten kognitiven
Krankheitsstadien und bei Probanden mit leich- Beeinträchtigung entwickelt, um auch neuroko-
ten kognitiven Beeinträchtigungen. Sie konnten gnitive Defizite erfassen zu können, welche zwar
zeigen, dass sich nachhaltige autobiographische die innerhalb der Altersnorm zu erwartenden
4. Das Gedächtnis im Alter 63

Leistungsminderungen übertreffen, aber in ih- Kral, Viktor A.: Senescent Forgetfulness: Benign and
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ropsychologia 27 (1989), 437–460. 5 (1983), 337–344.
Marc M. Lässer/Johannes Schröder
64 I. Grundlagen des Erinnerns

5. Psychoanalyse als gegebenenfalls verdrängt bzw. transformiert –


Erinnerungsforschung Freuds Zensur bzw. Abwehr des Ichs.

Freuds Vorstellungen davon, was verdrängt wird,


veränderten sich mit der Entwicklung seines
Verdrängte Erinnerungen drängen
Werkes. In dem anfänglichen Modell einer trau-
auf Wiederkehr
matischen Genese der Hysterie sind es Erinne-
Für die Psychoanalyse ist das Gedächtnis von rungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit,
zentraler Bedeutung, da es einen dynamischen die verdrängt werden und als Symptom wieder-
Begriff des Unbewussten erlauben muss. Es war kehren. Allerdings trifft Freud hier auf einige
die zentrale Idee Sigmund Freuds, dass psychi- Schwierigkeiten, denn er musste erklären, wes-
sche Symptome in einer motivierten Unkenntnis halb nicht sofort nach dem Missbrauch Symp-
über uns selbst wurzeln. Symptome verstand tome entstanden, sondern erst im Erwachsenen-
Freud (1896) als Erinnerungssymbole, die ver- alter. Dazu führte Freud (1896) den Begriff der
schlüsselt auf vergangene Erlebnisse verweisen so Nachträglichkeit ein, der nachträglichen Wirk-
wie antike Ruinen auf historische Gebäude und samkeit von erinnerten Erlebnissen, wenn sie
Lebensweisen. Im Unterschied zum Archäolo- durch rezentere Ereignisse eine neue Bedeutung
gen, der allein die Schichten der Zeit abzutragen erhalten. Im Falle der Hysterie, so Freuds frühes
und Verstümmelungen des Verfalls zu entschlüs- Modell, könne das Mädchen erst ab der Pubertät
seln hat, sehe der Psychoanalytiker sich jedoch die sexuelle Bedeutung der Missbrauchshand-
einer weiteren Kraft gegenüber, der der Verdrän- lungen und deren Unzulässigkeit verstehen. Um
gung. Denn Symptome entstünden erst durch die schlummernden Erinnerungen zu wecken,
den aktiven und motivierten Ausschluss von Er- bedarf es allerdings eines daran erinnernden Er-
lebnissen aus der Erinnerung, der nur mehr ver- lebnisses im Erwachsenenalter. Erst dann setzen
zerrte Erinnerungssymbole zulasse. Motiviert die Verdrängung und damit zugleich die Symp-
werde die Verdrängung durch den seelischen tombildung ein.
Schmerz, den traumatische oder konflikthafte Auch bei anderen Neurosen vermutet Freud
Erinnerungen hervorrufen. Diese Idee impliziert als pathogenetische Kraft die Verdrängung von
ein Modell des Gedächtnisses, Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse.
• das wichtige Erlebnisse nicht vergisst: »Alles Bei der Zwangsneurose beispielsweise handele es
Wesentliche ist erhalten, und selbst was voll- sich allerdings neben der Erinnerung an sexuel-
kommen vergessen scheint, ist noch irgendwie len Missbrauch auch um die Erinnerung an ei-
und irgendwo vorhanden, nur verschüttet, der gene sexuell getönte aggressive Handlungen. Bei
Verfügung des Individuums unzugänglich ge- der Zwangsneurose führt Freud ein weiteres
macht« (Freud 1937, 46); Verzerrungen und mögliches Schicksal verdrängter Erinnerungen
Verluste treten demnach weder bei der Auf- ein. Denn in der Pubertät beginne die Erinne-
nahme noch während des Behaltens von Infor- rung Selbstvorwürfe auszulösen, die zu Verdrän-
mationen auf, sondern beim Erinnern; gung der Erinnerung führe und zur Entwicklung
• das eine Form der Speicherung erlaubt, die von Charaktereigenschaften, die ebenfalls der
nicht intentional zugänglich ist – das dyna- Abwehr dienten, wie Gewissenhaftigkeit, Scham-
misch Unbewusste; haftigkeit und Selbstmisstrauen. Erst bei einer
• in dem verdrängte Erinnerungen aktiv bleiben Wiederkehr des Verdrängten im Erwachsenen-
und auf Äußerung drängen, im Falle der Hys- alter, ausgelöst durch innere oder äußere Um-
terie durch ein Symptom – die Wiederkehr des stände, entstehe die Notwendigkeit einer zweiten
Verdrängten; Abwehraktion, die diesmal zu Zwangssympto-
• in dem eine psychische Funktion über die Er- men führen könne.
träglichkeit von Erinnerungen wacht und sie Ein drittes Schicksal der verdrängten Erinne-
5. Psychoanalyse als Erinnerungsforschung 65

rungen führt Freud mit dem Begriff der Übertra- sen sich dann neu zusammensetzen und zu Hin-
gung ein, nämlich das Schicksal, in sich wieder- weisen auf aktuelle Konflikte und vergangene
holende Handlungsmuster umgesetzt zu werden. Episoden ergänzen. Dies geschieht durch Deu-
Bei sich bietenden Gelegenheiten werden trau- tungen von Abwehrmechanismen, mittels derer
matische oder konflikthafte verdrängte Erleb- die Zensur Erinnerungen und Wünsche verzerrt,
nisse unbewusst reinszeniert. Auch hier wieder und durch Deutungen von Ängsten und abge-
bietet die Hysterie das Modell, nämlich die Ten- wehrten Wünschen. Deutungen können dann zu
denz, Andere in Inszenierungen und in starke, weiteren Erinnerungen führen.
aus der Entfernung als übertrieben oder unange- 2. Eine besondere Form, wenn man so möchte,
messen erlebte Gefühle zu verwickeln. Eigentlich des freien Assoziierens sah Freud im Traum.
in eine historische Situation gehörende Gefühle Diese ungelenkten Träume, ähnlich auch die et-
und Handlungen werden auf aktuelle signifikante was stärker gelenkten Tagträume und überhaupt
Andere übertragen, ohne dass die Person dessen Phantasie sind nach Freuds Vorstellung wenig
gewahr würde – sie hält ihre Gefühle und Hand- zensiert, da der Realität und Umsetzung entho-
lungen für einzig und allein in der gegenwärtigen ben, und damit besonders wunschnah. Wilfred
Situation begründet. Bion sollte später den erstrebenswerten Zustand
des Analytikers, den Freud gleichschwebende
Aufmerksamkeit genannt hat, als rèverie, als
Wege zur Erinnerung
Wachträumen bezeichnen, in dem er offen für die
Es finden sich bei Freud fünf Wege zum Ver- unbewusste Kommunikation des Patienten ist.
drängten, die zugleich ein Licht auf sein Ver- 3. Ein dritter Weg, Erinnerungen wachzuru-
ständnis des Erinnerns werfen. fen, sind Konstruktionen oder Rekonstruktionen
1. Seine erste Methode war die Hypnose, mit des Analytikers. Dieser konstruiert aufgrund ver-
der er die Verdrängung meinte zu umgehen und schiedener Hinweise ein Modell davon, wie er
direkten Zugriff auf die Wissensbestände der Pa- sich bestimmte Kindheitserfahrungen des Pati-
tientinnen zu erlangen. Da posthypnotisch die enten so vorstellen kann, dass sie zu den neuroti-
Verdrängung nicht nachhaltend aufgehoben wer- schen Symptomen, Handlungs- und Erlebniswei-
den konnte, sondern wieder in ihr Recht gesetzt sen sowie den freien Einfällen passt. Konstruk-
wurde, entwickelt er die Methode der freien As- tionen erklären Symptome, insofern sie einen
soziation. In dieser wird der Patient durch eine plausiblen kindlichen Erfahrungshintergrund
liegende Position und minimale Stimulierung in und Konflikte darlegen, die die im erwachsenen
eine entspannte, meditative Stimmung versetzt, Leben des Patienten unpassend erscheinenden
so dass er sich möglichst ungelenkten Einfällen Symptome motivieren könnten. Freud aner-
überlassen kann. Denn erfahrungsgemäß wirkt kannte 1937 den hypothetischen Charakter von
die Zensur stärker bei gerichtetem Erinnern als Konstruktionen, die aber gleichwohl indirekte
beim ungelenkten Gedankenfluss. Nach Martin Bestätigung durch den Patienten erfahren kön-
Conways Modell vom autobiographischen Ge- nen. In der Fallgeschichte des Wolfsmannes spielt
dächtnis (s. Kap. II.1) wird beim Bewusstseins- die Konstruktion der sogenannten Urszene, also
strom oder freiem Assoziieren nicht top-down, des kindlichen Erlebens des elterlichen Bei-
schemageleitet erinnert, sondern reizgesteuert schlafs, die zentrale Rolle. Gerade in dieser Fall-
direkt auf konkrete Erinnerungen oder Teile da- geschichte meinte Freud, eine tatsächliche Bege-
von zugegriffen. Die Reize des unwillkürlichen benheit rekonstruiert zu haben, auch wenn er
Erinnerns sind beim freien Assoziieren nicht konzidiert, dass man sich des Anteils an phanta-
Wahrnehmungen der Umwelt, sondern der Ge- sierten Elementen nie sicher sein könne. Gerade
dankenfluss, bei dem ein Einfall zum nächsten die nach Meinung Freuds ubiquitären Szenen wie
führt. Die so entstehenden Bruchstücke und Se- die Urszene, die Verführung durch ein Elternteil
quenzen scheinbar unverbundener Einfälle las- und die Kastrationsdrohung enthalten aber häu-
66 I. Grundlagen des Erinnerns

fig einen erheblichen Phantasieanteil, der sich wendet werden können. Wie einzelne Deckerin-
meist nicht vom Erinnerungsanteil scheiden nerungen, aber wesentlich umfassender, dient er
ließe. Aber an der Wirksamkeit dieser Urphanta- der Abwehr der Erinnerung an schmerzliche Er-
sien ändere deren lebensgeschichtlicher Reali- innerungen. Der persönliche Mythos ist eine aus-
tätsgehalt wenig – sie strukturierten ohnehin das gearbeitete, aber starre und wesentlich verzerrte
psychische Innenleben und könnten pathogen Version des eigenen Lebens, die wesentliche
wirken. Hier zeigt sich in verschiedenen Schrif- Dinge auslässt. Diese Patienten vermeiden es,
ten Freuds eine gewisse Bandbreite seiner Auffas- ihre Lebensgeschichte anderen darzulegen. Sie
sungen davon, ob Konstruktionen die historische halten mit aller Macht an ihrer Version ihres Le-
Realität in Form von Erinnerungen und Bestäti- bens fest. Otto Kernberg erweitert die Definition
gungen durch Dritte erreichen können. des persönlichen Mythos als Lebenserzählung ei-
4. Ein weiterer Weg zu verschütteten Erinne- ner phantasierten vergangenen Beziehung zu ei-
rungen führt für Freud (1899) über die bewuss- nem geliebten Anderen, die eine wesentliche Ab-
ten Kindheitserinnerungen. Allerdings seien wehrfunktion für das Selbstbild beispielsweise als
diese in der Regel entstellt und verdichtet. Freud unschuldiges Opfer hat. Nach Kernberg tendie-
entlarvt eine eigene Kindheitserinnerung auf- ren insbesondere Patienten mit einer narzissti-
grund historischer Inkompatibilitäten als Fäl- schen Persönlichkeitsstörung zu derart rigide
schung und Verdichtung von entstellten Erinne- verteidigten Auffassungen ihrer persönlichen
rungen aus verschiedenen Lebensphasen. Freud Vergangenheit. Zur Verleugnung und Idealisie-
beschreibt eine Kindheitsamnesie, also Unfähig- rung neigende Menschen, also beispielsweise
keit, sich an die ersten 2 bis 3 Lebensjahre zu er- Menschen mit einer unsicher-vermeidenden Bin-
innern, sowie eine verminderte Fähigkeit, sich an dung oder sogenannte Repressor, die bedrohliche
die folgenden Jahre bis ungefähr zum 6. bis 8. Le- Wahrnehmung vermeiden, erinnern weniger und
bensjahr zu erinnern. Er erklärt dies mit dem weniger frühe spezifische Kindheitserlebnisse,
späten Wirksamwerden der Verdrängung (durch was insofern zu Kernbergs Beobachtung passt, als
die Errichtung des Über-Ichs, wie er später sagen spezifische Erinnerungen glatte, einseitige Deu-
würde), weshalb die noch ungefilterten Triebäu- tungen der Vergangenheit in der Regel erschwe-
ßerungen aus den ersten Lebensjahren der Ver- ren.
drängung bzw. der systematischen Verzerrung 5. Ein letzter, und aus heutiger Sicht der we-
anheim fielen. Daraus entstünden Deckerinne- sentliche Weg, um verdrängte Erinnerungen zu
rungen, also harmlos wirkende Kindheitserinne- reaktivieren, ist die Übertragung konflikthafter
rungen, die Erinnerungen an trieb- und damit Beziehungsmuster und dazugehörender Wahr-
konflikthaftere Erinnerungen sozusagen ver- nehmungen, Gefühle und Handlungstendenzen
deckten. Damit sind zwar Kindheitserinnerun- durch den Patienten von einem historischen Lie-
gen in der Regel nicht als bare Münze zu nehmen, besobjekt auf den Analytiker. Die durch die in-
können aber Hinweise auf die verdrängten Erin- time Behandlungssituation – hohe Behandlungs-
nerungen an Kindheitserlebnisse geben. frequenz, Liegeposition, relative Anonymität des
Alfred Adler hat Kindheitserinnerungen noch Analytikers, Einseitigkeit der intimen Selbstof-
deutlichere Aufschlüsse zugestanden, insofern sie fenbarung, verständnisvolle und nicht urteilende
zentrale Lebensthemen enthielten. In Ahnleh- Anteilnahme – begünstigte Entwicklung heftiger
nung an den Emotionspsychologen Sylvan Tom- erotischer Gefühle von Patientinnen und auch
kins wurden früheste Kindheitserinnerungen Behandlern, die die Behandlung insgesamt ge-
später als Kernepisoden gedeutet, in denen sich fährdeten, verwandelte Freud in ein Behand-
zentrale, in der Kindheit verwurzelte Konflikte lungsmittel, ja in das zentrale Mittel, Patienten zu
und Beziehungsmuster spiegeln. Ernst Kris verstehen, indem er diese Gefühle als nicht auf
(1956) beschreibt, wie Teile oder gar die gesamte die aktuelle, sondern eine historische Situation
Lebensgeschichte als ein persönlicher Mythos ver- bezogen verstand. Damit verrät sich in den der
5. Psychoanalyse als Erinnerungsforschung 67

aktuellen Behandlungssituation nicht angemes- rapeutische Setting verlassen kann, dass er in den
senen Erlebnis- und Handlungsweisen des Pati- Sitzungen emotional in eine starke Abhängigkeit
enten ein neurotisches Persistieren einer unbe- vom Analytiker gerät. Das ermöglicht es, archai-
wältigten Vergangenheit. Die emotional abhän- sche Ängste der psychischen Desintegration und
gige Position des Patienten gegenüber dem des Verrücktwerdens zu erleben, gegen die eine
Therapeuten erleichtert es, Erinnerungen an ana- Charakterabwehr etabliert worden war. Diese
loge Situationen hervorzurufen, also vorzugs- Ängste gehören ursprünglich in das erste Lebens-
weise an Situationen aus der eigenen Kindheit jahr und werden mithin wieder erlebt, können
mit den Eltern. Denn über die aktuellen situati- aber kaum bewusst erinnert werden. In der Vari-
ven und emotionalen Reize gelingt es am ehesten, ante der Objektbeziehungstheorie von Melanie
verschüttete Erinnerungen zu reaktivieren, und Klein löst sich der historische Bezug neurotischer
zwar erst einmal als Einfärbung der Wahrneh- Muster ganz auf und wird ersetzt durch ein zwar
mung der gegenwärtigen Situation, also als Über- aus dem ersten Lebensjahr stammendes, aber im-
tragung. mer präsentes Innenleben unbewusster Phanta-
Gelingt es, den Patienten davon zu überzeu- sien.
gen, dass sein Erleben und Handeln nicht ganz
realitätsangemessen ist, kann mit ihm nach le-
Freuds Gedächtnismodelle
bensgeschichtlichen Situationen gesucht werden,
in die es besser passt: Aus einem Wiederholen in Bei Freud lassen sich zwei Modellvorstellungen
der Übertragung wird ein Erinnern. Die Vergan- vom Gedächtnis unterscheiden. Freuds erstes
genheit verliert ihre Macht über die Gegenwart Gedächtnismodell war ein neuronales Netzwerk-
dadurch, dass sie erinnert und damit in der Ver- modell mit zwei wesentlichen Ebenen, einer mor-
gangenheit platziert wird. Umgekehrt, so Freud, phologischen Ebene der Nervenarchitektur und
kann der Einfluss der Vergangenheit nur in der einer dynamischen Ebene der entlang der Ner-
Gegenwart gelöst werden – historische Konflikte venbahnen verschiebbaren Energie. In dem Mo-
können nur soweit sie aktuell sind, im Kontext dell vertreten die Nerven Vorstellungen. Die Ver-
der Übertragung gelöst werden. Wenn Übertra- knüpfung von Nerven bildet Assoziationen von
gungskonflikte verstanden und gelöst werden, er- Vorstellungen ab. Assoziation bedeutet hier, dass
laubt dies, zwischen Gegenwärtigem und Vergan- beim freien Gedankenfluss ein Gedanke zum
genem zu unterscheiden – eine wesentliche Kom- nächsten, eben assoziierten Gedanken führen
ponente des Erinnerns. kann. Die Energie oder Libido ist im Grunde se-
Die durch Sandor Ferenczi vorbereitete Ent- xueller und motivationaler Natur, bildet doch das
wicklung in den sogenannten Objektbeziehungs- Besetzen eines Nervs mit Libido ab, dass die ent-
theorien der 1940er Jahren (Ronald Fairbairn, sprechende Vorstellung erwünscht wird. Entspre-
Melanie Klein, Michael und Alice Balint, Donald chend bedeutet die Besetzung einer Vorstellung
Winnicott, John Bowlby), die Behandlungsdauer mit Libido zugleich, dass eine vorbewusste, prä-
von psychoanalytischen Behandlungen zu ver- reflektiv gegebene Erinnerung oder Wissen mit
längern und die entscheidenden Entwicklungs- der Besetzung mit Energie bewusst wird, so dass
konflikte vom Vorschulalter in das erste Lebens- der Wunsch bewusst verfolgt und realisiert wer-
jahr zu verlegen, an das man sich in der Regel den kann. Vergessene Erlebnisse sind, sofern sie
nicht mehr erinnert, erschwerte es wesentlich, halbwegs wichtig waren, als Nerv gespeichert, je-
Freuds Maxime vom Verwandeln des in der doch nicht aktiviert. Normale, vorbewusste Er-
Übertragung Wiederholten in Erinnern zu reali- lebnisse können durch Suchen und gezielte Erin-
sieren. Der Begriff der Übertragung wurde insbe- nerungsversuche gefunden und erinnert werden.
sondere bei Balint und Winnicott durch den der Verdrängte Erlebnisse hingegen, die ihre Bedeu-
therapeutischen Regression überlagert, in der der tung und Bedrohlichkeit durch ihre Wunsch-
Patient sich so auf den Therapeuten und das the- komponente erhalten, sind durch sogenannte Ge-
68 I. Grundlagen des Erinnerns

genbesetzungen gegen das Bewusstwerden ge- abgestufte Sicherheit des Wissens, wie sie durch
schützt. epistemische Modalworte ausgedrückt werden.
Freuds Zugang zu verdrängten Erinnerungen Motive für das Verdrängen oder Verzerren von
mittels freier Assoziationen wird in dem Modell Erinnerungen sind bei Freud primär die Pein-
abgebildet als ein Gleitenlassen der Libido (Auf- lichkeit sexueller Wünsche, die sich in Erinne-
merksamkeit, Bewusstsein) über die Nervenbah- rungen offenbaren, aber auch aggressiver Wün-
nen. Abbildbar sind in dem Modell Abwehrme- sche und Handlungen, die beide gegen eigene
chanismen wie das Verschieben eines Wunsches Moralvorstellungen verstoßen. Ein weiteres Mo-
oder einer Emotion von einer Person auf eine tiv sind Erinnerungen, die gegen die Idealvorstel-
andere als Verschieben der Libido von einem lungen von einem selbst verstoßen und eventuell
Nerv auf einen assoziierten, wobei hier die ei- Scham hervorrufen könnten. Man erinnert sich
gentlich qualitätslose Libido doch die Qualität also als moralischer und idealer als man tatsäch-
bestimmter Wünsche oder Emotionen annimmt. lich ist und war. Ein weiteres Motiv, das bei Freud
Wenn eine Vorstellung nach Verschiebung durch weitgehend implizit bleibt, ist das Vermeiden ne-
eine assoziierte Vorstellung vertreten wird, han- gativer, schmerzlicher Emotionen.
delt es sich um eine Metonymie, die mit der ur- Motive für Abwehr, die sich auf andere Perso-
sprünglichen Vorstellung durch raumzeitliche nen beziehen, wie der Wunsch, andere beispiels-
Kontiguität verknüpft ist, also durch ein gemein- weise als nur gut oder schlecht zu sehen, um Am-
sames Auftreten zum selben Zeitpunkt am sel- bivalenzkonflikten zu entgehen, wurden erst von
ben Ort. Ein weiteres Kriterium für eine Assozi- den Objektbeziehungstheoretikern formuliert.
ation kann Ähnlichkeit sein, so dass durch den Diese formulierten auch weitere Formen der Ab-
Mechanismus der Verdichtung mehrere Vorstel- wehr und Verzerrung von Erinnerungen, die sich
lungen durch eine einzige, je ähnliche Vorstel- auf die Erinnerung von Personen beziehen, wie
lung vertreten werden können, also durch eine das Idealisieren und Entwerten oder das Spalten
Metapher. Andere Abwehrmechanismen, die in Gut und Böse. Die Objektbeziehungstheorien
eine Vorstellung oder Erinnerung verzerren, postulieren auch ein neues Format der Speiche-
können jedoch nicht in dem Modell abgebildet rung von Erfahrungen im Gedächtnis, nämlich
werden. Beziehungsmuster, in denen sich wiederholte Er-
In seinen metapsychologischen Schriften von fahrungen, verzerrt durch Wünsche und Ab-
1915 modifiziert Freud diese Vorstellung, indem wehrmechanismen, kondensieren.
er unbewusste von vorbewussten, also bewusst- Soweit Freuds Vorstellungen und die seiner
seinsfähigen und bewussten Erinnerungen und unmittelbaren Nachfolger. In einem Sprung in
Vorstellungen dadurch unterscheidet, dass letz- die rezente Vergangenheit werden im Folgenden
tere sprachlich gefasst seien, jene aber lediglich neuere psychoanalytische Vorstellungen vom
Dingvorstellungen enthielten, also in einem Erinnern und Gedächtnis anhand dreier Kon-
Wahrnehmungsmodus, vor allem dem visuellen, troversen entfaltet, die die letzten beiden Jahr-
gespeichert seien. In seinem späteren Vergleich zehnte beherrscht haben: Die Frage, ob trauma-
des menschlichen Gedächtnisses mit dem Wun- tische Erfahrungen historisch getreu zu rekon-
der- oder Zauberblock jedoch nutzt Freud die struieren und erinnern seien, dann die Frage, ob
Metapher der Inschrift für das Gedächtnis, und überhaupt eine zumindest subjektiv plausible
unterscheidet ein bewusstes Kurzzeit- von einem Lebensgeschichte in der Therapie zu rekonstru-
unbewussten Langzeitgedächtnis, das ebenfalls ieren sei, oder ob es ausreicht, unformulierte Re-
eine Niederschrift aufbewahre. Das Unbewusste gungen in Einfälle und Geschichten zu überset-
kenne weder Zeit noch Widerspruch oder logi- zen, ungeachtet ihrer Fiktionalität bzw. Veridi-
sche Verknüpfungen, wie sie durch Konjunktio- kalität. Abschließend kommt der Trend zur
nen ausgedrückt werden, weder Negation noch Sprache, aus der Literatur zu bildgebenden Ver-
eine Prüfung auf Plausibilität und mithin keine fahren des Gehirns experimentalpsychologische
5. Psychoanalyse als Erinnerungsforschung 69

Gedächtniskonzepte unreflektiert zu überneh- öffentlich beschäftigen, eine Neubewertung der


men. Rolle traumatischer Erfahrungen für die Entste-
hung psychischer Symptome.
Das ist für die Gedächtniskonzeption der Psy-
Müssen und können traumatische Vorfälle
choanalyse insofern von Belang, als es heute viele
historisch zutreffend rekonstruiert werden?
Psychoanalytiker für wesentlich erachten, die his-
Die Kontroverse begann in der akademischen torischen Realitäten der Opfer- und Täterschaft
Psychologie und der US-amerikanischen Öffent- anzuerkennen, und nicht Schuld zu verleugnen
lichkeit in den späten 1980er Jahren. Sie spitzte bzw. erlebte Ohnmacht, Lebensbedrohung und
zwei Positionen Freuds zu einander ausschlie- Traumatisierung zu einer Phantasie und Retro-
ßenden Thesen zu, nämlich ob sexueller Miss- jektion zu verniedlichen, die, so etwa Keilson
brauch in der Kindheit überhaupt verdrängt und oder Grubrich-Simitis, zu einer Sekundärtrau-
dann erst im Erwachsenenalter wieder erinnert matisierung führen können. Die Anerkennung
werden kann, oder ob Erinnerungen an sexuellen der historischen Realität sei wesentlich, um nicht
Missbrauch in der Kindheit, die im Erwachse- psychotische Verzerrungen in der Realitätswahr-
nenalter in einer Psychotherapie erstmals auftau- nehmung zu induzieren.
chen, ein Produkt suggestiven Nachforschens Neben der Debatte über die richtige Behand-
bzw. ödipaler Phantasien sei. lungstechnik, also ob historische Begebenheiten
Die Kontroverse wurde heftig und im Einzel- richtig zu rekonstruieren seien, ob es sich nun
fall auch juristisch geführt. Die Dichotomie war um selbsterlebte oder von den Eltern erlebte und
schon etwas merkwürdig, da Freud zwar seine an die nächste Generation unbewusst weiterge-
Traumatheorie der Entstehung der Hysterie reichte traumatische Erlebnisse handelt, spielt die
durch sexuellen Missbrauch aufgegeben, nicht derart erfolgte Wiedereinführung traumatischer
aber jeglicher traumatischen Ätiologie abge- Verursachung in die Psychoanalyse eine Rolle für
schworen hatte, sondern sowohl die Färbung von die Gedächtniskonzeption. Im Extrem wird ver-
Erinnerungen durch Wünsche, in diesem Fall in- treten, dass in der Übertragung sehr, sehr frühe
zestuöse Wünsche, wie aber auch tatsächlich Erlebnisse erinnerbar seien, sofern es sich um
traumatische Erinnerungen anerkannte. traumatische Erlebnisse handelt. Dies wird damit
Eine traumatische Verursachung neurotischer begründet, dass traumatische Erfahrungen, wie
Symptome war einige Jahre nach dem Ersten schon Freud bezüglich der traumatischen Kriegs-
Weltkrieg in Misskredit geraten, und in der Psy- neurosen meinte, sich durch einen Wiederho-
choanalyse überwog die Überzeugung, dass Neu- lungszwang auszeichnen, also eine unkontrollier-
rosen durch intrapsychische Konflikte verursacht bare Wiederkehr traumatischer Szenen im Traum
seien. Die Rolle der kindlichen Umwelt wurde wie im Wachleben, wenn es erinnerungsauslö-
dann durch Figuren wie Donald Winnicott und sende Reize gibt. Traumatische Wiederholungen
John Bowlby wieder in ihr Recht gesetzt. Der Be- hatte Freud als den Versuch gedeutet, Unerledig-
deutung traumatischer Erlebnisse allerdings tes später doch noch psychisch zu verarbeiten.
wurde erst durch die Veteranen des Vietnam- Traumatische Flashbacks, wie sie der vormalige
kriegs und deren psychoanalytisches Sprachrohr, LSD-Forscher Mardi Horowitz 1976 nannte,
Mardi Horowitz, zu ihrem Recht verholfen. In- zeichnen sich durch ihre Unkontrollierbarkeit
nerhalb der Psychoanalyse bewirkte eher die Er- und auffallende Unpassendheit aus. Sie können
forschung und Anerkennung der langfristigen partiell sein, also lediglich isolierte Aspekte der
psychischen Folgen der Shoah – z. B. in der Lang- traumatischen Situation wieder aufblitzen lassen.
zeitstudie von Keilson – sowie die in den 1980er Doch soweit traumatische Erfahrungen im Er-
Jahren zunehmende Bereitschaft der Opfer und wachsenenalter erlebt wurden, werden sie in der
ihrer Kinder, unter ihnen viele Psychoanalytiker, Regel erinnert und unterliegen keiner vollständi-
sich mit der Shoah und ihren Auswirkungen zu gen Amnesie. Leonore Terr, die mit traumatisier-
70 I. Grundlagen des Erinnerns

ten Kindern arbeitete und über unabhängige bestimmter Geräusche über persistierende Ver-
Berichte über die Traumatisierungen durch sexu- leugnungen und eine distanzlose Erzählweise, in
ellen Missbrauch und Entführung verfügte, be- der der Erzähler sich wie in die Vergangenheit
stätigte 1990 auch für Kinder, dass sie sich an zurückversetzt erlebt, bis hin zu einer Erzähl-
traumatische Erfahrungen erinnern. Nur Kinder, weise, in der der Erzähler zwischen damaligem
die jünger als 2 bis 3 Jahre zum Zeitpunkt der Erleben und heutiger Erzählperspektive unter-
Traumatisierung gewesen waren konnten sich scheidet und sich zwischen beiden hin und her
nicht bewusst erinnern. Dennoch verfügten auch bewegen kann. Laub und Auerhahn verknüpfen
sie über eine nichtverbale Erinnerung an das die Schwierigkeiten des Versprachlichens und Er-
Traumageschehen, wie sich in repetitiven Hand- zählens insbesondere bei Holocaust-Überleben-
lungen, Zeichnungen und spezifischen körperli- den und ihren Kindern mit der zerstörerischen
chen Sensibilitäten zeigte, die in Einzelfällen ver- Erfahrung des Verlusts jeglichen menschlichen
ständlich wurden, wenn sie aufgrund von Akten- Gegenübers. Der innere Ansprechpartner, das in-
unterlagen, Fotos oder Zeugenaussagen Dritter nere Gegenüber, dem man beim Erinnern erzählt
historisch kontextualisiert werden konnten. Bei und das für das Erinnern notwendig ist, ist nicht
anhaltenden Situationen der wiederholten Trau- mehr verfügbar bzw. zerstört, so dass Erinnern
matisierung, wie sie bei häuslichem Missbrauch unmöglich geworden ist. Aufgabe des Analyti-
und bei Internierung typisch ist, können einzelne kers sei es, einen sicheren, empathischen Ande-
Erinnerungen verblassen. Das führt Terr auf das ren zu ermöglichen, der mit dem Patienten auch
Erlernen dissoziativer Techniken zurück, mit de- aufgrund eigener historischer Kenntnisse ge-
nen Opfer sich davor schützen, die Traumatisie- meinsam eine Vergangenheit konstruiert, die der
rung jedes Mal hautnah miterleben zu müssen. Patient so noch nie repräsentiert hat. Hier wird
Die Nichtverarbeitung von traumatischen Er- nicht eine bereits versprachlichte und dann ver-
fahrungen wird seit Freud und Janet daran ge- drängte Erfahrung erinnert, sondern eine Ver-
knüpft, dass diese nicht vergehen wollen und so- gangenheit aufgrund von nichtsprachlichen Er-
mit nicht zur Vergangenheit werden. In einer innerungen und Erinnerungsfragmenten sowie
gängigen Interpretation heißt das, dass sie nicht zusätzlichen Kenntnissen aus anderen Quellen
als auf die Vergangenheit verweisende Geschichte erstmals sprachfähig gemacht.
erzählbar, sondern nur wiedererlebbar sind. Janet In einem sehr unterschiedlichen historischen
hatte 1929 auf die nicht erfolgte Integration des Kontext, nämlich dem Alltag einer weitgehend
Erlebnisses in die Lebensgeschichte verwiesen, zivilisierten Gesellschaft bezweifeln viele analyti-
also ein Nichtakzeptieren der Ursachen und Fol- sche Autoren die Möglichkeit, sich plötzlich wie-
gen des Ereignisses und der Implikationen be- der an traumatische Erfahrungen aus der Kind-
züglich der eigenen Person. Das veranschaulichte heit zu erinnern, nämlich sexuellen Missbrauch,
er an einer Patientin, die Szenen vom Tag vor der zuvor jahrzehntelang vergessen war. Hierfür
dem Tod ihrer Mutter immer wieder neu erleben werden klinische Erfahrungen und systematische
musste, da sie den Tod verleugnete. In einer an- empirische Studien angeführt. Damit begründen
deren Variante wird der traumatische Charakter sie ihre grundlegende Skepsis, ob das Aufdecken
eines Erlebnisses daran festgemacht, dass es nicht von historisch zutreffenden, völlig neuen Erinne-
als integrale Geschichte, sondern nur fragmen- rungen überhaupt möglich sei. Der Widerspruch
tiert erzählbar sei. Laub und Auerhahn stellten zu Dori Laubs Position ist ein relativer, wenn man
1993 die These auf, dass das Ausmaß der trauma- bedenkt, dass es Laub nicht um die völlige Rück-
tischen Wirkung von Erlebnissen an den Grad kehr der Erinnerung geht, sondern die Rekon-
ihrer Darstellbarkeit und Erzählbarkeit gebunden struktion wahrscheinlicher traumatischer Kon-
sei, und erstellten eine Rangfolge von acht Gra- texte für Erinnerungsfragmente in extrem trau-
den der Symbolisierung traumatischer Erfahrun- matisierenden historischen Umständen.
gen. Diese gehen von der bedrohlichen Wirkung An diesem Punkt wird der mögliche Einfluss
5. Psychoanalyse als Erinnerungsforschung 71

von Schuldgefühlen auf das Erinnern deutlich. Psychoanalyse sei es mithin, dem Patienten zu er-
Denn das tatsächliche oder auch nur imaginäre möglichen, sein Leben so zu erinnern und zu er-
Erinnern von Situationen, in denen man Opfer zählen, dass er die eigenen Motive und Handlun-
einer Aggression war, kann auch dazu dienen, gen als eigene anerkennt, statt sie Umständen
Schuldgefühle abzuwehren, um nicht eigene und traumatischen Erlebnissen zuzuschreiben.
Anteile am Zustandekommen von Situationen Das schließt nicht aus, omnipotente Verzerrun-
anerkennen zu müssen. Andererseits kann das gen der Erinnerung, in denen die eigene Ohn-
Ausblenden oder eigene bzw. fremde Nichtan- macht verleugnet wird, um die Schmach und De-
erkennen von traumatischen Erfahrungen bei- mütigung nicht erleben zu müssen, ebenfalls zu
spielsweise von Inzestopfern durch Schuldge- korrigieren. Der insgesamt erweiterte Hand-
fühle motiviert sein und seinerseits depressive lungsspielraum, den der Patient sich so retro-
Gefühle verstärken. spektiv zugesteht, lasse ihn zugleich eines auch
prospektiv erweiterten Handlungsspielraums ge-
wahr werden.
Eine Lebensgeschichte verantworten, oder
Die Arbeit in der psychoanalytischen Therapie
nur passende Geschichten erzählen?
erfordere mithin weniger das Erinnern neuer his-
Gegenüber dem Unterfangen, in der Analyse ein torischer Fakten oder Begebenheiten als vielmehr
Erlebnis historisch getreu zu rekonstruieren, lässt die erneute Bewertung, Verknüpfung und Deu-
sich einmal einwenden, dass dies therapeutisch tung der persönlichen Vergangenheit, also weni-
gar nicht nötig sei, da in der Regel nicht einma- ger eine Revision dessen, was erinnert wird, als
lige Ereignisse, sondern wiederholte Erlebnisse vielmehr, wie es erinnert wird. Dies erfordert eine
bzw. die Qualität der Beziehungen zu den Eltern deutende Tätigkeit des autobiographischen Ur-
und darin enthaltende Konflikte die strukturbil- teilens in Auseinandersetzung mit den erinner-
denden und pathogenetisch relevanten Faktoren ten Episoden.
sind. Weiterhin lässt sich einwenden, dass in der Als weiteres Argument gegen den primären
Regel Patient und Therapeut die Veridikalität von Anspruch auf historische Rekonstruktion zu-
Erinnerungen nicht überprüfen können. Deshalb gunsten des moderateren Anspruchs auf die Kon-
komme es vielmehr auf eine nicht allzu lücken- struktion einer verantworteten Lebensgeschichte
hafte und plausible Rekonstruktion der Vergan- führt Schafer an, dass diese Lebenserzählung im
genheit des Patienten an, die helfe, seine gegen- Grund ko-konstruiert werde von Patient und
wärtigen Konflikte und Probleme zu verstehen. Analytiker, und folglich bei jedem Patient-Analy-
Roy Schafer (1983) legt bei der Rekonstruktion tiker-Paar etwas anders ausfallen würde. Das psy-
der Vergangenheit weniger Wert auf die Veridi- choanalytische Gedächtnismodell hat sich so un-
kalität der Rekonstruktion denn darauf, dass sie ter der Hand gewandelt. Denn erinnert werden
die gegenwärtigen unflexiblen, erstarrten Erle- nach Schafer nicht mehr Sachvorstellungen, son-
bens- und Handlungsweisen des Patienten ver- dern interpretierte und bewertete Episoden und
ständlich machen, indem sie sie in eine nachvoll- Sachverhalte. Erinnern erweitert sich hier zu ei-
ziehbare Geschichte einbetten. Sie muss auch die ner situativ und in einer Beziehung verankerten
Motive dafür erklären können, dass die bisherige Tätigkeit, die auf Kooperation angewiesen ist. Die
Geschichte unvollständig, verzerrt oder wider- Auswahl und Relevanzsetzungen der Erinne-
sprüchlich war. Vor allem aber, so Schafer, zeich- rungserzählungen werden durch die aktuellen
nen sich neurotisch verzerrte Lebensgeschichten Übertragungskonflikte und Reaktionen und
dadurch aus, dass ihr Autor sein Leben nicht ver- Deutungen des Analytikers maßgeblich beein-
antwortet, sondern sich als Opfer fremder Schick- flusst. Gleiches gilt für das Zulassen und Offen-
salsmächte ausweist, da der Kern neurotischer baren von Erinnerungen und der durch sie aus-
Symptomatik ja die Verleugnung eigener Motive gelösten Emotionen, deren Berichten wiederum
sei, die anzuerkennen zu schmerzlich sei. Ziel der den weiteren Verlauf des Erinnerns beeinflusst.
72 I. Grundlagen des Erinnerns

Die Deutungen des Analytikers und der Prozess damit in die Intersubjektivität des Paares einzu-
des gemeinsamen Ringens um ein Verständnis binden. Erst dies erlaube auch, die Regungen dem
gehen verdichtet in das zukünftig erinnerte Le- Erleben des Patienten zugänglich zu machen.
ben ein. Vielleicht ist diese Art der Psychoanalyse ja die
Noch weiter radikalisiert haben diese Position analytischste in dem Sinne, dass sie eine neue Er-
manche Analytiker, die den interpersonalen Cha- fahrung mit sich selbst und anderen ermöglicht,
rakter des analytischen Prozess zum Angelpunkt während die Arbeit an Erinnerungen und der Le-
ihres Verständnisses erheben. Wenn erstens die bensgeschichte droht, kognitiv einseitig zu blei-
Aufgabe der Analyse darin besteht, aktuelle nicht- ben, wenn sie nicht in der Offenheit für neue Er-
verbale Regungen in Worte zu fassen, und wenn fahrungen im Hier und Jetzt gründet. Doch selbst
zweitens diese Regungen von Patienten und, hof- Patienten einer solchen Therapie werden, wenn
fentlich zu geringerem Anteil, vom Analytiker auch nicht notwendigerweise in der Therapie, so
stammen, dann sind alle Einfälle und Deutun- doch in anderen Kontexten im Lichte ihres durch
gen, die das Feld beeinflussen und motivieren, die Therapie veränderten Selbstverständnisses
nur innerhalb der aktuellen Beziehung zu verste- auch ihre Vergangenheit anders erinnern und ihr
hen und notwendig eine Koproduktion. Ferro Leben anders erzählen.
fasst das mit der gelungenen Metapher vom bi-
personalen Feld. In dieser überraschenden Auf-
Das Unbewusste als implizites Wissen?
nahme von Kurt Lewins Kritik an der histori-
schen Orientierung der Psychoanalyse – dieser Es gibt eine Reihe von Versuchen, am Anspruch
verlangte, dass alle beteiligten Kräfte im aktuellen der Psychoanalyse als allgemeine Psychologie
Feld wirksame Kräfte zu sein hätten – radikali- festzuhalten, und dies mit einem Brückenschlag
siert Antonino Ferro (2009) Schafers Position, in- zur Experimentalpsychologie zu belegen. So
dem er darauf besteht, dass alle Einfälle und Er- übersetzte Erdelyi (2006) die klassische Verdrän-
zählungen immer dem aktuellen bipersonalen gungs- und Abwehrlehre in die Termini der klas-
Feld entspringen. Deshalb sei es letztlich unwich- sischen Gedächtnispsychologie. Allerdings ist die
tig, ob die Einfälle und Erzählungen sich auf die klassische Gedächtnispsychologie so eng an ex-
persönliche Vergangenheit des Patienten bezie- perimentelle Paradigmata des Lernens geknüpft,
hen, auf seinen Alltag, einen Nacht- oder Tag- dass dieser Versuch nur schwerlich einen sub-
traum, oder auf die therapeutische Beziehung. stantiellen Brückenschlag schaffen kann. Ab-
Für die therapeutische Wirksamkeit sei allein be- schließend gilt es, einen Versuch, die aktuelle the-
deutsam, dass die aktuellen nichtverbalen Regun- rapeutische Psychoanalyse mit der moderneren
gen des bipersonalen Feldes zur Sprache finden, Gedächtnispsychologie ins Gespräch zu bringen,
durch Einfälle und Bilder, die zu einer Geschichte kritisch zu erörtern. In einem einflussreichen
zusammengefügt werden. Erinnerung spielt in Editorial schlägt Peter Fonagy (1999) vor, die Be-
dieser radikal interpersonalen Psychoanalyse griffe der Verdrängung und des dynamischen
keine Rolle mehr. Was in der Vergangenheit pro- Unbewussten aufzugeben. Gearbeitet werde in
blematisch und konfliktreich war, ist nur von Be- der Psychoanalyse an der Modifikation von in-
deutung, sofern es sich in der therapeutischen terpersonellen Wahrnehmungsmustern, die im
Beziehung abbildet und im bipersonalen Feld ei- ersten Lebensjahr erworben und deshalb gar
nen Resonanzraum findet. Nicht mehr die le- nicht erst verdrängt sein könnten, sondern ledig-
bensgeschichtliche Erklärung, sondern das Ein- lich zum impliziten (versus bewusst-expliziten)
betten in jegliche Art von nachvollziehbarer und Gedächtnis gehörten, oder auch zum prozedura-
zum aktuellen Feld passenden Geschichte helfe, len (versus sprachlich-deklarativem) Gedächtnis.
die Regungen, die auf eine an bewusster Entschei- Fonagy sucht so den Anschluss an die Neuropsy-
dung vorbei sich realisierende Handlung drän- chologie, die diese gedächtnispsychologischen
gen, zu symbolisieren und kommunizieren und Begriffe aufgegriffen hat und Aktivitäten den ver-
5. Psychoanalyse als Erinnerungsforschung 73

schiedenen Hirnarealen zuweist. Auch Fonagy der Interaktion – darin ist sich die psychoanalyti-
hält im Grunde die psychoanalytische Gedächt- sche Literatur heute weitgehend einig. Und wahr-
nistheorie für obsolet. scheinlich ist sie sich ebenso darin einig, dass eine
Nun ist der Prototyp des impliziten Gedächt- erfolgreiche Therapie primär neurotische Bezie-
nisses in der Gedächtnispsychologie dasjenige hungsmuster ändert. Doch das wird, würde Ferro
implizite Wissen, das durch das Erlernen und einwenden, nicht ohne Beteiligung des In-Worte-
wieder Vergessen von Material zustande kommt Fassens und Erzählens von Beziehungsschicksa-
und ein erneutes Lernen des Materials erleich- len erreicht. Und über Ferro hinausgehend lässt
tert, obwohl es selbst nicht zugänglich ist. Des- sich argumentieren, dass ein wichtiger, wenn
halb ist implizites Gedächtnis nicht identisch mit nicht gar unerlässlicher Weg doch über das Ver-
dem noch nie Gewussten, auf das Fonagy abzielt. knüpfen von neu erzielten Einsichten in aktuelle
Der Vergleich mit dem prozeduralen Gedächtnis Gefühle, Wünsche und Ängste mit Erinnerungen
ist zutreffender, denn dieses umfasst habituali- und der eigenen Lebensgeschichte geht. Denn oft
sierte Bewegungsabläufe wie Fahrradfahren, die geben erst der Vergleich von aktuellen Anmutun-
nie zur Gänze in Worte gefasst werden können. gen, Gefühlen und Einfällen mit Informationen
Auch dem prozeduralen Gedächtnis mag das aus dem Leben des Patienten Aufschluss oder zu-
Sich-Einschwingen auf andere zuzuordnen sein, mindest die Bestätigung für Vermutungen, was
wie es der Säugling mit der Bezugsperson lernt, die im Moment noch nicht verstandenen Regun-
und wie es der Erwachsene weiter unbemerkt tut, gen bedeuten könnten. An der therapeutischen
nicht zuletzt in der Beziehung zum Analytiker. Beziehung gewonnene Einsichten können erst
Colwyn Trevarthen spricht in einer geglückten dann eingefleischte Weisen des Miteinander-
Formulierung von der Choreographie der Bezie- Seins erschüttern, wenn sie das Selbstverständnis
hung. Auch Daniel Stern und Kollegen (Boston in Frage stellen und weitere Teile des Lebens bes-
Change Process Group 2007) betonen nicht wie ser verstehen lassen.
Fonagy Wahrnehmungsmuster, sondern eben Wenn man mit Freud an einem über die thera-
jene Weisen des Miteinander-Seins als die grund- peutische Situation hinausreichenden Erkennt-
legende Matrix für Objektbeziehungen, die ver- nisanspruch festhält, dann muss man psychoana-
innerlicht dann spätere Weisen des Miteinander- lytische Einsichten zumindest mit Teilen der
Seins strukturieren. modernen Psychologie verträglich formulieren
Doch die Rede vom prozeduralen Wissen er- können. Dafür muss man an andere Begriffe der
laubt es nicht, zwischen mehr und weniger neu- experimentellen Gedächtnispsychologie sowie
rotischen Weisen des Miteinander-Seins zu un- stärker an die Säuglingsforschung, an die Ent-
terscheiden, obwohl dies auf der Ebene von vor- wicklungspsychologie des Erinnerns und der
sprachlichen Interaktionen durchaus möglich ist, Emotionen sowie an Modellen spezifisch auto-
wie die Arbeiten zur Bindungssicherheit zeigen. biographischen Erinnerns anknüpfen. So bietet
Defensive bzw. unsichere Bindungsmuster sind es sich an, mit Stefan Granzow (1994) an Model-
denn auch mit Beeinträchtigungen des autobio- len anzuschließen, die zwischen einem wahrneh-
graphischen Gedächtnisses insofern verbunden, mungs- und handlungsnahen sowie einem refle-
als Menschen mit unsicher-vermeidenden Bin- xiv-sprachlichen Gedächtnissystem unterschei-
dungsmustern sich überhaupt schlechter an die den, um den Prozess des Bewusstwerdens von
Kindheit erinnern, und beide unsicher gebunde- Handlungsimpulsen abzubilden. Es bietet sich in
nen Typen mehr Schwierigkeiten haben, autobio- der soeben angedeuteten Weise an, auf der Hand-
graphisches Wissen mit konkreten autobiogra- lungs- und Interaktionsebene Konflikte und Ab-
phischen Erinnerungen zu verknüpfen. wehrprozesse zu identifizieren, beginnend bei
Als das primäre Resultat von Konflikten sind Säuglingen. In der weiteren Entwicklung sind
heute nicht mehr Gedächtnisverzerrungen anzu- dann deren Internalisierung und Reaktualisie-
sehen, sondern vielmehr Abwehrphänomene in rung zu modellieren und studieren – dazu gibt es
74 I. Grundlagen des Erinnerns

auch Anknüpfungspunkte in der Entwicklungs- Literatur


psychologie der Emotionen bspw. bei Manfred Boston Change Process Study Group: The Foundational
Holodynski. Robyn Fivush (s. Kap. I.3) hat vorge- Level of Psychodynamic Meaning: Implicit Processes
macht, wie man die Internalisierung interperso- in Relation to Conflict, Defense and the Dynamic
neller Praktiken am Beispiel des Erinnerns stu- Unconscious. In: International Journal of Psychoanal-
dieren kann. Wenn man sich die gemeinsamen ysis 88 (2007), 843–860.
Erinnerungserzählungen von Müttern und Kin- Erdelyi, Mathew Hugh: The Unified Theory of Repres-
sion. In: Behavioral and Brain Sciences 29 (2006)
dern genauer anschaut, kann man entdecken, 499–551.
dass die nicht-elaborierten Erinnerungsgesprä- Ferro, Antonino: Psychoanalyse als Erzählkunst und
che sich häufig durch defensive Prozesse insbe- Therapie. Gießen 2009.
sondere der Mutter auszeichnen, die sich gegen Fonagy, Peter: Memory and Therapeutic Action. In: In-
ein kooperatives Erinnern zu richten scheinen. ternational Journal of Psychoanalysis 80 (1999), 215–
Deren Internaliserung erschwert es Kindern, 223.
Freud, Sigmund: Die Ätiologie der Hysterie. In: Ders.
dann später selbständig zu erinnern. In der Inter-
Gesammelte Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1896, 423–
aktion gründende defensive Prozesse verzerren 460.
dann ab der Adoleszenz systematisch die Lebens- –: Über Deckerinnerungen. In: Ders. Gesammelte
erzählungen, wie dies Otto Kernberg und Marga- Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1899, 529–554.
ret Main gezeigt haben. Schließlich eignet sich –: Konstruktionen in der Analyse. In: Ders. Gesammelte
Martin Conways Modell des Aufbaus autobiogra- Werke. Bd. 16, 41–56. Frankfurt a. M. 1937.
Granzow, Stephan: Das autobiographische Gedächtnis:
phischen Wissens als Anknüpfungspunkt, um
Psychoanalytische und kognitionswissenschaftliche
den geringeren Einfluss von Abwehrprozessen Aspekte. München 1994.
bei nicht-intentionalem Erinnern zu modellie- Kris, Ernst: The Personal Myth – a Problem in Psycho-
ren. analytic Technique. In: Journal of the American Psy-
choanalytic Association 4 (1956), 653–681.
Schafer, Roy: The Analytic Attitude. New York 1983.
Tilmann Habermas
75

II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

1. Das autobiographische aufgenommen, bilden also episodische Inhalte.


Gedächtnis Mit wiederholten Erfahrungen können aus die-
sen Einzelerlebnissen zeitlich abstrahierte Wis-
sensstrukturen im Gedächtnis gebildet werden
(wie z. B. Einstellungen oder Persönlichkeits-
Theoretische Abgrenzung
merkmale), die dann dem semantischen Ge-
Das Gedächtnis ist der Aufbewahrungsort aller dächtnis zugerechnet werden können. Entspre-
Erinnerungen. Seine wesentliche Funktion be- chend enthält, metaphorisch gesprochen, das au-
steht darin, Erinnerungen so aufzuarbeiten und tobiographische Gedächtnis den größten Teil des
zu speichern, dass sie für zukünftige Situationen episodischen Gedächtnisses, aber auch einen
nutzbar sind. Alle Erfahrungen, die jemand kleinen Teil des semantischen Gedächtnisses.
macht, können zu einem Bestandteil des eigenen
Gedächtnisses werden. Die einzelnen Erinnerun-
Inhalte und Struktur des autobiographischen
gen können verschiedene Informationen bein-
Gedächtnisses
halten. Kognitive Psychologen unterscheiden ei-
nen prozeduralen Anteil des Gedächtnisses, der Auf inhaltlicher Ebene kann man sagen, dass alle
nicht-verbalisierbare Informationen enthält, wie Erfahrungen, die einen Selbstbezug aufweisen
z. B. automatisierte motorische Abläufe, und ei- (d. h. alle Erfahrungen, die ich selbst erlebt habe),
nen deklarativen (verbalisierbaren) Anteil. Das Teil des autobiographischen Gedächtnisses sind.
deklarative Gedächtnis wird weiter in einen se- Das bedeutet, dass diese Erfahrungen (wie z. B.
mantischen und einen episodischen Teil unter- der oben genannte Paris-Urlaub) für die betref-
teilt (s. Kap. I.1). Das semantische (bedeutungs- fende Person von persönlicher Bedeutung sind.
haltige) Gedächtnis enthält Faktenwissen, wie Für die episodischen autobiographischen Erin-
beispielsweise, dass Paris die Hauptstadt von nerungen gilt zudem, dass sie zeitlich und räum-
Frankreich ist, während das episodische (erfah- lich zugeordnet werden können und dass sie in
rungshaltige) aus zeitlich datierbaren Erlebnissen der Regel von Emotionen begleitet sind, die beim
besteht, wie beispielsweise, dass ich 1994 mit mei- Abruf der Erinnerung wieder aktiv werden und
ner Frau einen romantischen Urlaub in Paris ver- so in gewisser Weise ein Wieder-Erleben (re-ex-
bracht habe. Manche Autoren setzen das episodi- periencing) des vergangenen Geschehens ermög-
sche Gedächtnis der Einfachheit halber mit dem lichen. Neben der Emotionalität ist die bildhafte
autobiographischen gleich, während andere nur Vorstellung das wichtigste Merkmal solcher Er-
diejenigen Teile des episodischen Gedächtnisses innerungen. Andere Sinnesmodalitäten – wie
als autobiographisch ansehen, die einen deutli- etwa olfaktorische oder taktile Merkmale – sind
chen Selbstbezug aufweisen. Zusätzlich kann demgegenüber meist zweitrangig, aber nicht un-
man auch Teile des semantischen Gedächtnisses wichtig. Den Erinnerungsprozess kann man sich
(wie z. B. demographische Fakten über die eigene am besten so vorstellen, dass ausgehend von akti-
Person und Selbstkonzepte) als autobiographisch vierten Hinweisreizen (wie Wörtern, Bildern, Ge-
einstufen. Die Übergänge sind fließend zu den- rüchen, Emotionen etc.), die von außen oder aus
ken. Alle Informationen und Erlebnisse werden dem eigenen Gedächtnis stammen können, zu-
zu einem bestimmten Zeitpunkt im Laufe der ei- nächst ein ›Suchset‹ im Arbeitsgedächtnis gebil-
genen Entwicklung erstmalig in das Gedächtnis det wird (Pohl 2007). Bei autobiographischen
76 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Abrufprozessen sind der oben erwähnte Selbst- bensgeschichte verwendet werden. Diese Ab-
bezug sowie die aktuellen Ziele der Person Teile schnitte oder Perioden sind in der westlichen
dieses Suchsets (Conway/Pleydell-Pearce 2000). Kultur vorrangig geprägt durch Beziehungsthe-
Mit diesen Informationen wird nach Entspre- men (z. B. die Zeit mit X), Arbeitsthemen (z. B.
chungen im Gedächtnis gesucht, d. h. es werden die Arbeit in Firma Y) oder Ortsthemen (z. B. die
analoge Aktivierungsmuster geprüft. In diesem Wohnung in Z). Auf diese Weise lassen sich auto-
Sinne kann die Gedächtnissuche als ein kon- biographische Erinnerungen zeitlich und hierar-
struktiver Prozess verstanden werden. Es ist un- chisch in flexibler Weise ordnen.
mittelbar einleuchtend, dass die Konstruktion Durch Abstraktion über mehrere ähnliche epi-
des Suchsets Einfluss auf das Suchergebnis hat. Je sodische Erfahrungen können auf übergeordne-
nach Güte dieses Sets werden die gesuchten Erin- ter Ebene prozedurale Skripte oder semantische
nerungen mit höherer oder geringerer Wahr- Schemata entstehen. Prozedurale Skripte bein-
scheinlichkeit gefunden. Werden entsprechend halten die kanonischen Abläufe bestimmter
Muster gefunden, gilt etwas als erinnert. Oft wer- Handlungen, wie beispielsweise der Besuch in ei-
den aber nur solche Muster gefunden, die dem nem Restaurant (Hineingehen, Hinsetzen, Essen
Suchset zwar ähnlich sind, aber nicht vollständig Aussuchen und Bestellen, Essen, Bezahlen, Ge-
entsprechen. In diesen Fällen bestimmt das Aus- hen). Semantische Schemata beinhalten abstra-
maß der Übereinstimmung die subjektive Sicher- hierte Konzepte, wie beispielsweise persönliche
heit, etwas zu erinnern. Lücken in den so akti- Einstellungen oder Hobbys. Letztere können
vierten Gedächtnismustern werden dann anhand dann wiederum zu Teilen des Selbstkonzepts
diverser Informationsquellen (wie Selbstkonzept, werden, das aus einer Sammlung von subjektiven
subjektive Wissensschemata, kanonische Lebens- Selbstbeschreibungen besteht (z. B. dass jemand
ereignisse etc.) gefüllt. Diese Ergänzungen einer sich als »italophil« sieht, wenn er häufig in Italien
Erinnerung sind somit rekonstruktiv und kön- Urlaub macht). Diese autobiographischen Inhalte
nen wahr oder falsch sein (s. u. Abschnitt zu würde man dann dem semantischen Gedächtnis
»Verfälschungen«). zurechnen. Mit der oben geschilderten hierar-
Episodische Erinnerungen können auf ver- chischen Anordnung ist eine unterschiedliche
schiedenen Abstraktionsebenen angesiedelt sein, Anfälligkeit für Vergessensprozesse verbunden.
wobei mit zunehmender Abstraktion die Visuali- Während spezifische Ereignisse meist schnell
tät verlorengeht und aus den episodischen Erin- wieder vergessen werden, trifft das weniger für
nerungen semantische Fakten werden (Conway/ die übergeordneten Episoden und in der Regel
Pleydell-Pearce 2000). Beispielsweise kann ich gar nicht für die eigenen, abstrahierten Lebens-
mich daran erinnern, bei einem Italien-Urlaub abschnitte zu. Spezifische Ereignisse werden
vor vielen Jahren in einen Seeigel getreten zu sein. meist nur dann gut erinnert, wenn sie überra-
Das sehe ich noch konkret vor mir und erinnere schend oder erstmalig waren, wenn sie von star-
mich an die damit verbundenen Schmerzen. ken Emotionen begleitet waren, wenn sie folgen-
Diese Episode war ein spezifisches Erlebnis aus reich waren, oder wenn sie oft abgerufen und an-
der Menge der Erlebnisse während des mehrwö- deren erzählt wurden.
chigen Italien-Urlaubs, der wiederum ein Teil Bei der Organisation des autobiographischen
meines damaligen Lebensabschnitts (Studium Gedächtnisses ist die Chronologie sicher ein hilf-
der Psychologie) war. Somit sind spezifische Er- reiches Merkmal, gleichwohl sollte man sich das
fahrungen in der Regel Teile von kürzer oder län- autobiographische Gedächtnis nicht als eine Art
ger währenden Episoden, die wiederum Teil grö- Tagebuch vorstellen, in dem alle Ereignisse wie
ßerer Lebensabschnitte (life-time periods) sind. Je Perlen auf einer Kette linear geordnet sind. Die
nach Kultur lassen sich verschiedene normative oben genannten inhaltlichen Kategorien (wie Le-
Lebensereignisse und -veränderungen benennen, bensabschnitte und Themen) können sich durch-
die vorrangig zur Organisation der eigenen Le- aus zeitlich überlappen. Neben der linearen Zeit
1. Das autobiographische Gedächtnis 77

spielen auch zyklische Muster, wie Wochentage, werden. Auf diese Weise können soziale Funktio-
Monate oder Jahreszeiten, eine Rolle. Andere nen (wie z. B. die Beziehungsarbeit) besser bewäl-
Orientierungspunkte im Gedächtnis sind die be- tigt werden (s. u.).
sonders bedeutsamen persönlichen Erfahrungen,
die wie Leuchttürme aus dem Rest der Erinne-
Kognitive und klinische Untersuchungs-
rungen herausragen. Manche Autoren sprechen
methoden
hier von den Meilensteinen oder Wendepunkten
im Lebenslauf. Diese beinhalten zum einen die Bei der Untersuchung des autobiographischen
für die jeweilige Kultur kanonischen Ereignisse Gedächtnisses werden, wie in der übrigen Ge-
(wie Einschulung, Berufseintritt, Heirat etc.), dächtnispsychologie auch, quantitative und qua-
können aber auch individuelle, nicht-vorherseh- litative Merkmale erhoben. Zu den quantitativen
bare Ereignisse (wie Unfall, Verlust des Arbeits- Merkmalen zählt die Menge der erinnerten Er-
platzes, Lottogewinn etc.) beinhalten. Beide Er- lebnisse, zu den qualitativen deren Korrektheit
eignisklassen zusammen machen einen typischen (d. h. inwieweit die Erinnerung mit dem damali-
Lebenslauf aus und stellen somit eine kulturell gen Ereignis übereinstimmt), Detailliertheit, An-
verankerte narrative Struktur dar (life script), die schaulichkeit, Emotionalität, etc. Als Methoden
zur Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte werden offene Wiedergabe (free recall), gezielte
(life story) benutzt werden kann. Die Erinnerung Wiedergabe (targeted recall) oder Wiedererken-
an diese Ereignisse spielt demzufolge auch eine nen (recognition) benutzt. Bei der freien Wieder-
wichtige Rolle für das Selbstverständnis der sich gabe werden Personen in einer relativ offenen
erinnernden Person. Weise gebeten, Erinnerungen an spezifische Le-
Bei der subjektiven Datierung von Ereignissen bensabschnitte (z. B. die Schulzeit) zu nennen.
treten typischerweise zwei Verzerrungen auf: Bei Bei der gezielten Wiedergabe wird nach einem
weiter zurück liegenden Ereignissen wird die seit- spezifischen Ereignis gefragt (z. B. den Tag der
dem vergangene Zeit im Mittel eher unterschätzt, Einschulung), oder nach einem persönlichen Er-
d. h. das Ereignis wird weniger weit in der Ver- eignis, das mit einem vorgegeben Stichwort asso-
gangenheit datiert (forward telescoping). Bei Er- ziiert ist (s. u.). Beim Wiedererkennen werden
eignissen, die erst kürzlich stattgefunden haben, (nacheinander oder gleichzeitig) verschiedene
wird dagegen die seitdem vergangene Zeit eher Antwortmöglichkeiten vorgegeben und die be-
überschätzt, d. h. das Ereignis wird weiter in der fragte Person soll jeweils entscheiden (bzw. aus-
Vergangenheit datiert (backward telescoping). Die wählen), welche dieser Antworten korrekt ist
oben genannten Orientierungspunkte erleichtern (z. B. der Name meines ersten Klassenlehrers war
dabei die Datierung. Die Orientierungspunkte Müller, Meier, Schmidt oder Schulze). Die Ge-
selber und Ereignisse in ihrer zeitlichen Nähe dächtnisleistungen sind beim Wiedererkennen in
werden genauer datiert als Ereignisse, die weiter der Regel besser als beim Wiedergeben. Ein
entfernt liegen. Ansonsten fällt bei der Untersu- Grund dafür ist, dass beim Wiedererkennen ja
chung der Datierungsleistung auf, dass Frauen explizite Informationen vorgegeben sind, die di-
im Vergleich zu Männern die Zeitpunkte von rekt als Hinweisreize für die Gedächtnissuche be-
persönlichen Ereignissen häufiger korrekt bzw. nutzt werden können, so dass eine Entsprechung
weniger verzerrt erinnern. Der eher von Män- mit Gedächtnisinhalten leichter geprüft werden
nern vergessene Hochzeitstag ist demnach ver- kann. Bei der Wiedergabe müssen diese Suchsets
mutlich kein falsches Stereotyp, sondern alltägli- dagegen erst subjektiv gebildet werden. Sie sind
che Realität. Eine mögliche Erklärung für diesen deshalb in der Regel qualitativ schlechter und so-
Geschlechtsunterschied könnte sein, dass Frauen mit weniger geeignet, die gesuchten Inhalte im
sozialen Ereignissen mehr Gewicht beimessen als Gedächtnis zu finden. Im Umkehrschluss bedeu-
Männer dies tun, so dass entsprechende Informa- tet das, dass Informationen, die bei der freien
tionen besser enkodiert und häufiger abgerufen oder gezielten Wiedergabe nicht abgerufen wer-
78 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

den konnten, deshalb nicht unbedingt vergessen folgreich, traurig, einsam) vorgegeben, oder die
sein müssen, denn oft werden solche Informatio- Personen werden aufgefordert, nur die wichtigs-
nen beim Wiedererkennen dann doch noch kor- ten Ereignisse aus ihrem Leben zu nennen. Mit
rekt erinnert. Beim Wiedererkennen kann auch dieser Methode können auch geschlechts-, alters-
die gemessene Reaktionszeit (d. h. die Zeit zwi- und kulturspezifische Formen persönlicher Le-
schen Darbietung der Frage und Abgabe der Ant- bensskripte (life scripts) erfasst werden. Diese
wort) Aufschluss über die zugrunde liegende Ge- Skripte dienen dabei als Abruf- und Rekonstruk-
dächtnisrepräsentation und deren Nutzung ge- tionshilfen für die eigene Lebensgeschichte (life
ben. Seit den 1990er Jahren werden hier auch Bild story).
gebende Verfahren eingesetzt (Markowitsch/ Für die klinische Diagnostik, etwa bei Hirn-
Welzer 2005; Schacter 2001). schäden, werden spezifische Verfahren einge-
Ein grundlegendes Problem all dieser Verfah- setzt, die Art und Umfang der betroffenen Ge-
ren besteht darin, dass oft nicht entschieden dächtnisstörung ermitteln. Eine häufig ange-
werden kann, ob die Erinnerung an ein Erlebnis wandte Methode ist das Autobiographische
korrekt ist, es sich also um eine Erinnerung Gedächtnisinterview (autobiographical memory
handelt, die den damaligen Tatsachen entspricht, interview, AMI), bei dem in einer semi-struktu-
oder nicht. Deshalb werden häufig Materialien rierten Befragung quantitative und qualitative
untersucht, zu denen unabhängige Aufzeichnun- Merkmale zu Erlebnissen aus verschiedenen zeit-
gen vorliegen (wie z. B. Tagebücher, Zeugnis- lichen und inhaltlichen Lebensabschnitten abge-
noten, Krankenhausaufenthalte, Gerichtsproto- fragt werden. Das sind im europäischen Raum
kolle). Diese Fokussierung der kognitionspsy- die frühe Kindheit, die Grundschuljahre, die wei-
chologischen Forschung auf objektive Fakten teren Schuljahre, der berufliche Werdegang, die
begründet sich in einer starken Orientierung an eigene Hochzeit (oder die einer anderen Person),
der anwendungspraktischen Frage nach der Güte die eigenen Kinder (oder die einer anderen Per-
von Zeugenaussagen. Hierbei stehen die objek- son), der gegenwärtige Zustand (im Kranken-
tive Wahrheit einer Erinnerung und damit deren haus), frühere Aufenthalte in Krankenhäusern,
forensische Verwertbarkeit im Vordergrund. An- das letzte Weihnachtsfest, sowie ein Urlaub. Zu
dere Forschungsrichtungen (wie z. B. die Psycho- jedem dieser Themen werden sowohl semanti-
analyse und die Sozialpsychologie) interessierten sche als auch episodische Fragen gestellt. Bei-
sich demgegenüber mehr für die subjektive spielsweise sollen im semantischen Teil Namen
Wahrheit, die einen Hinweis darauf erlaubt, wie von Klassenkameraden oder Schullehrern erin-
die jeweilige Person ihr Leben und die Welt deu- nert werden, im episodischen Teil persönliche
tet und erinnert. Ob diese Erinnerungen der Erlebnisse aus der Schulzeit. Für die Menge und
Wahrheit entsprechen, ist dabei sekundär. Güte der Antworten gibt es Punkte, deren Ge-
Ein häufig verwendetes Verfahren zur Erhe- samtsumme dann mit Normwerten verglichen
bung von autobiographischen Erinnerungen ist werden kann. Untersuchungen zur Güte des au-
die Galton-Crovitz-Stichworttechnik (cue-word tobiographical memory interview haben ergeben,
method). Dabei werden einige Wörter (wie Apfel, dass die Zuverlässigkeit der Messung (Reliabili-
Buch, Flasche etc.) vorgegeben, zu denen die be- tät), die Übereinstimmung der Punktevergabe
fragte Person spontan Erinnerungen aus ihrem bei zwei Beurteilern (und damit die Auswer-
Leben generieren soll, die sie dann in Stichwor- tungsobjektivität) und auch die Gültigkeit der Er-
ten notiert und später datiert. Als Ergebnis erhält gebnisse (Validität) als zufriedenstellend anzuse-
man Häufigkeitsverteilungen von Erinnerungen hen sind. Lediglich bei Patienten mit Schädigun-
über die Lebensspanne, die auch inhaltlich analy- gen des Frontallappens (z. B. Korsakow- oder
siert werden können. In Varianten dieses Verfah- Alzheimer-Patienten) ist das autobiographical
rens werden beispielsweise (positiv oder negativ memory interview ungeeignet, da diese Patienten
besetzte) emotionale Wörter (z. B. glücklich, er- zu Konfabulationen neigen, d. h. sie produzieren
1. Das autobiographische Gedächtnis 79

spontan erfundene ›Erinnerungen‹, an die sie schaften und Fähigkeiten und deren Genese be-
sich nach kurzer Zeit auch selber nicht mehr er- treffen, aber auch solche, die als Lebensziele for-
innern können. muliert werden. Ein Resultat dieser Prozesse ist
die erstmalige Formulierung einer kohärenten
Lebensgeschichte (life story), die für viele Auto-
Verteilung autobiographischer Erinnerungen
ren als Meilenstein in der Entwicklung des auto-
über die Lebensspanne
biographischen Gedächtnisses gilt. Gleichzeitig
Befragt man ältere Personen (ab etwa 50 Jahren) wird auch die je eigene Identität geformt, die hier
mit der erwähnten Stichworttechnik (oder auch verstanden wird als die Herausbildung des eige-
mit der freien Wiedergabe) und trägt dann die nen sozialen Netzwerks und die Positionierung
Menge der Erinnerungen als Funktion des Le- innerhalb der sozialen Gefüge. Selbstkonzept und
bensalters ab, erhält man eine spezifische Erinne- Identität können dann als effiziente Abrufstruk-
rungsverteilung über die Lebensspanne. Dabei turen für persönliche Erlebnisse aus dieser Zeit
fällt zunächst auf, dass die meisten Erinnerungen dienen.
kürzliche Erlebnisse betreffen, d. h. in der Regel Ein weiterer Grund für die Erinnerungshäu-
aus den letzten zwölf Monaten stammen. Je wei- fung könnte darin liegen, dass in diesem Lebens-
ter man in der Zeit zurückgeht, desto geringer abschnitt besonders viele Ereignisse stattfinden,
wird die Zahl von Erinnerungen, wie dies auch die als kanonisch für den Lebenslauf gelten (s. o.).
nach der typischen Vergessenskurve zu erwarten Diese Ereignisse werden in der Regel häufiger ab-
ist. Allerdings gibt es davon zwei Abweichungen. gerufen und erzählt als andere Ereignisse, die
Zum einen findet sich ein Zuviel an Erinnerun- keine zentralen Bestandteile der Lebensge-
gen für die Zeit von etwa 15 bis 30 Jahren, zum schichte sind. Und schließlich könnte die be-
anderen finden sich überhaupt keine Erinnerun- obachtete Erinnerungshäufung auch einfach
gen für die ersten 3 bis 4 Lebensjahre. Das erste darin begründet liegen, dass das Gedächtnis
Phänomen wird Erinnerungshäufung (reminis- nachgewiesenermaßen in diesem Alter besser
cence bump) genannt, das zweite infantile oder funktioniert als zu anderen Zeiten, so dass diese
Kindheitsamnesie (childhood amnesia). Für beide Erlebnisse besonders gut enkodiert worden sind.
werden verschiedene Erklärungen diskutiert. Für die Kindheitsamnesie mag verantwortlich
Die Erinnerungshäufung fällt in die Über- sein, dass das Gehirn in den ersten Lebensjahren
gangszeit von der Adoleszenz zum Erwachsenen- noch starken Reifungsprozessen unterworfen ist,
alter, mithin in die Zeit des Selbständigwerdens. die eine dauerhafte Speicherung verhindern
Je nach kulturellen Gegebenheiten können der (Markowitsch/Welzer 2005). Ein anderer Grund
Zeitraum des Erwachsenwerdens und damit auch mag sein, dass kleine Kinder erst die abstrahier-
das Maximum der Erinnerungshäufung früher ten Invarianten der Welt in Form kognitiver
oder später liegen. In dieser Zeit finden viele erst- Schemata kennenlernen müssen, bevor sie in Ab-
malige und auch folgenreiche Entscheidungen grenzung dazu spezifische Episoden speichern
und Ereignisse statt, die den weiteren Lebensweg können. Die Idee dahinter ist, dass es für Säug-
determinieren und somit in Erinnerung bleiben. linge zunächst wichtiger ist, die Regelhaftigkeiten
Einige dieser Entscheidungen und Ereignisse und Strukturen ihrer Umwelt zu erfassen (und
können vermutlich erst im Rückblick die Bedeu- damit entsprechende Gedächtnisstrukturen he-
tung gewinnen, die sie zu einer wichtigen Erinne- rauszubilden), anstatt einzelne Ereignisse zu spei-
rung für die eigene Lebensgeschichte machen chern. Letzteres dürfte im Übrigen auch schwer-
(z. B. das Kennenlernen der späteren Ehefrau und fallen, solange keine adäquaten Gedächtnisstruk-
Mutter der Kinder). Zum anderen wird in dieser turen vorhanden sind. Eine andere, von vielen
Zeit auch erstmals ein komplettes Selbstkonzept Autoren favorisierte Erklärung betrifft die zu-
entwickelt. Dazu gehören verschiedene Selbst- nehmende Sprach- und Kommunikationskom-
Schemata, die die aktuellen (subjektiven) Eigen- petenz der Kinder, die für eine Umorganisation
80 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

des Gedächtnisses in einen dominanten verbalen volle Erlebnisse. Somit basiert das aktuelle Selbst
Code sorgt, so dass frühere, anders kodierte Er- auf früheren Erlebnissen, stellt aber gleichzeitig
innerungen verloren gehen. Mit dem Erlernen auch eine bestimmte Sicht dar, unter der Erinne-
von Erzählstrukturen (narrative structures) wer- rungen ausgewählt oder umgedeutet werden.
den Gedächtnisinhalte anders und dauerhafter Dies gilt auch für die psychodynamischen Funk-
gespeichert. Der Erwerb dieser Fähigkeiten ge- tionen autobiographischer Erinnerungen (Kotre
schieht im sozialen Austausch, vor allem in soge- 1998). Hier ist es das Ziel, eine kohärente Lebens-
nannten Erinnerungsgesprächen (memory talks). geschichte (life story) zu schreiben, die uns das
Die Art und Häufigkeit dieser elterlich-kindli- Gefühl von Identität (im Sinne persönlicher Kon-
chen Interaktionen hat direkten Einfluss auf die sistenz) und Wachstum vermittelt. Und auch die
Entwicklung (und die Güte) des autobiographi- Lebensrückschau (life review; oft angesichts
schen Gedächtnisses. Und schließlich dürfte auch schwerer Krankheiten oder des nahen Todes)
die Entwicklung eines ersten kognitiven Selbst- nutzt autobiographische Erinnerungen, um zu
konzepts in diesem Alter von Bedeutung sein. einer umfassenden Evaluation des eigenen Le-
Dieses Selbst schafft den Anker, an den persönli- bens zu gelangen. Bei der Stimmungsregulation
che Erlebnisse angedockt und später auch wieder geht es dagegen um profanere Situationen im All-
gefunden werden können. So werden aus unper- tag, in denen wir emotionale (positive) Erinne-
sönlichen episodischen Erinnerungen autobio- rungen bewusst einsetzen, um die aktuelle Stim-
graphische (Conway/Pleydell-Pearce 2000). In mungslage zu verändern.
Reflexion dieser verschiedenen Einflussfaktoren Viele Autoren halten die sozial-kommunikati-
schlugen Markowitsch und Welzer (2005) ein in- ven (interpersonalen) Funktionen für die wich-
teraktives bio-sozial-kognitives Entwicklungs- tigsten (Bluck 2003). Das betrifft die Herstellung
modell des autobiographischen Gedächtnisses und Aufrechterhaltung sozialer Bezüge, wie auch
vor. Akte der Selbstoffenbarung oder das Zeigen von
Empathie. Manche sehen in dieser Verwendung
autobiographischer Erinnerungen gar den größ-
Funktionen autobiographischer Erinnerungen
ten evolutionären Sprung, der uns erst zu Men-
In Untersuchungen zur alltäglichen Nutzung au- schen gemacht hat. Beim »Mit-teilen«, dem mit-
tobiographischer Erinnerungen haben sich drei einander Teilen persönlicher Erlebnisse (memory
funktionale Bereiche herauskristallisiert (Bluck sharing), geben wir etwas von uns preis und hof-
2003): selbstbezogene, sozial-kommunikative fen auf entsprechende Reaktionen. Beim Ken-
und direktive Funktionen. nenlernen erzählen wir uns gewöhnlich, wer wir
Zu den selbstbezogenen (intrapersonalen) sind und was wir machen (z. B. demographische
Funktionen zählen die Bildung und Aktualisie- Fakten, berufliche Aktivitäten, private Umstände
rung des Selbstkonzepts, diverse psychodynami- und Erlebnisse). Je nach kulturellen Wertungen
sche Funktionen und die Möglichkeit der Stim- und Gepflogenheiten können Inhalte und Zeit-
mungsregulation. Wir sind Erinnerung heißt der punkt der kommunizierten Aspekte natürlich va-
ins deutsche übersetzte Titel des Buches von Da- riieren. Für all das bedarf es des individuellen au-
niel L. Schacter (2001). Man könnte auch sagen: tobiographischen Gedächtnisses. Für eine beste-
»Wir sind, was wir erinnern.« Die Summe der in- hende Beziehung schließlich gilt, dass sich die
dividuellen Erlebnisse, Motive und Ziele deter- Güte dieser Beziehung u. a. auch über die Menge
miniert das eigene Selbstkonzept. Das (kognitive, und Qualität gemeinsam erworbener und ge-
motivationale und affektive) Selbst kann dabei als pflegter Erinnerungen bestimmt.
eine Menge schematischer Selbstzuschreibungen Unter den direktiven Funktionen versteht man
verstanden werden, die aus einzelnen Erfahrun- die Bereitstellung von Wissen, Einstellungen und
gen abstrahiert wurden. Zum Selbst gehören aber Meinungen, die Fähigkeit zur Enkulturation, die
auch Erinnerungen an typische oder bedeutungs- Hilfe beim Problemlösen und bei der Planung
1. Das autobiographische Gedächtnis 81

zukünftiger Handlungen sowie die Erfahrungs- tersuchen und zu bewerten, kann man prinzipiell
weitergabe an andere. Für all diese Aufgaben stellt – wie auch schon oben bei den Untersuchungs-
das autobiographische Gedächtnis ein umfang- methoden diskutiert – zwei Perspektiven einneh-
reiches Reservoir an persönlichen Erfahrungen men. Die eine fokussiert auf die objektiven Ereig-
bereit, aus denen zielgerichtet spezifische Infor- nisse, wertet jede Abweichung der Erinnerung als
mationen abgerufen werden können. Diese Nut- Verfälschung und sucht dann nach den kogniti-
zung kann sowohl bewusst als auch unbewusst ven Ursachen dafür. Wie bei allen Erinnerungen
(z. B. in Form von Einstellungen oder Routinen) können schon bei der Enkodierung, während der
erfolgen. Die abgerufenen Erinnerungen können Speicherphase und erst recht beim späteren Ab-
als Handlungsmodelle verstanden werden, deren ruf Fehler entstehen. Dafür verantwortlich sind
Anwendbarkeit auf die aktuelle Situation geprüft in erster Linie grundlegende Prozesse menschli-
werden muss. Damit ist auch klar, dass autobio- cher Informationsverarbeitung wie Selektion,
graphische Erinnerungen nicht immer hilfreich Abstraktion, Interpretation, Integration und vor
sein müssen. Gelegentlich verstellen sie auch den allem Rekonstruktion. Dabei werden Teile des
Blick auf neue und bessere Lösungen. Ein wichti- Erlebnisses ausgewählt, verallgemeinert, gedeu-
ger Aspekt der persönlichen Handlungsmodelle tet und in den eigenen Wissensstand eingepasst.
ist aber, dass sie Erwartungen beinhalten und da- Bei der Rekonstruktion werden dann fehlende
mit eine Antizipation zukünftiger Ereignisse er- Teile ersetzt oder Ungereimtheiten begradigt, so
lauben. So kann zwischen verschiedenen Alter- dass aus einer fragmentarischen Erinnerung am
nativen abgewogen und entschieden werden. Da Ende eine kohärente Erzählung wird. Diese wird
sich Personen in der Menge der relevanten Er- im Kern in der Regel mit dem Original überein-
fahrungen und auch in der Güte des autobiogra- stimmen, kann in vielen Details aber auch falsch
phischen Gedächtnisses unterscheiden, ist zu er- sein.
warten, dass sie sich auch in ihrer Handlungs- Dieser Ansatz wurde insbesondere im Rah-
kompetenz bzw. in ihren sozialen Fertigkeiten men der Verfälschung von Zeugenaussagen un-
unterscheiden. Untersuchungen zu diesen Zu- tersucht. So kann beispielsweise das Gedächtnis
sammenhängen sind bislang nur selten zu finden, eines Zeugen durch suggestive Befragungen, in
unterstützen aber die angenommene direktive denen bewusst falsche Informationen (misinfor-
Funktion. Die Menge und adäquate Nutzbarma- mation) eingeschleust werden, systematisch ma-
chung der persönlichen Erfahrungen trägt nipuliert werden. Besonders eindrucksvoll sind
schließlich auch zur Entwicklung von Weisheit hier jüngste Experimente, bei denen Personen
bei. Hier wird Weisheit als die Problemlösefähig- eine komplett falsche (erfundene) Erinnerung
keit in sozialen Dilemmata verstanden und ge- ›eingepflanzt‹ bekamen. Beispielsweise wurde
messen. Ein überraschender Befund aus diesen Studierenden von ihren Angehörigen erzählt,
Studien ist, dass Weisheit nicht ans Alter gekop- dass sie als Kind in einer Einkaufshalle verloren-
pelt ist, d. h. dass auch junge Menschen schon äu- gegangen waren. Diese (falsche) Geschichte
ßerst weise sein können. wurde in den folgenden Tagen immer wieder an-
gesprochen. Im Laufe der Zeit begannen immer
mehr der Versuchspersonen sich zu erinnern und
Verfälschungen und Ergänzungen des
diese Erinnerung weiter zu elaborieren, bis sie
autobiographischen Gedächtnisses
schließlich selber an deren Echtheit glaubten. In
Erinnerungen an die eigene Vergangenheit sind anderen Experimenten wurde den Studierenden
nicht immer korrekt. Damit ist hier nicht ge- ein (manipuliertes) Foto gezeigt, in denen sie als
meint, dass jemand lügt, sondern dass eine Er- Kind zusammen mit ihrem Vater in einem Heiß-
innerung trotz bester Absichten nicht den objek- luftballon zu sehen sind. Auch hier entwickelten
tiven Merkmalen des erinnerten Ereignisses die Versuchspersonen im Laufe der Zeit eine ›Er-
entspricht. Um derartige Abweichungen zu un- innerung‹ an dieses nie stattgefundene Ereignis.
82 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

In Experimenten dieser Art fanden sich Schein- Geschichte ihrem Kulturverständnis anzupassen.
Erinnerungen (Kryptomnesie) im Mittel bei etwa In diesem Sinne scheint ein gewisses Maß an
30 % der Versuchspersonen. Besonders anfällig ›funktionalisierten‹ Erinnerungen durchaus le-
für solche Suggestionen sind Personen, die unter benspraktisch.
Hypnose stehen und/oder die eine große Vorstel- Bei der Einschätzung früherer persönlicher
lungskraft besitzen. Verantwortlich ist in diesen Merkmale und Zustände (Einstellungen, Persön-
Fällen vermutlich eine herabgesetzte exekutive lichkeitseigenschaften, etc.) gehen wir in der Re-
Kontrolle (im präfrontalen Kortex). Eine sugges- gel vom aktuellen Zustand aus und rekonstruie-
tionsfreie Hypnose kann im Übrigen auch dazu ren mit Hilfe einer subjektiven Entwicklungsthe-
eingesetzt werden, mehr sogenannte korrekte Er- orie den damaligen Zustand. Hier können zwei
innerungen abzurufen. Gleichzeitig werden un- Fehlerquellen die Rekonstruktion beeinflussen:
ter Hypnose aber auch mehr falsche Erinnerun- Die aktuelle Einschätzung kann falsch sein (z. B.
gen produziert (durch Konfabulation), so dass zu positiv oder auch zu negativ) und/oder die
letztendlich nicht viel gewonnen ist. subjektive Entwicklungstheorie kann falsch sein.
Die zweite der oben angesprochenen Perspek- Wenn wir beispielsweise glauben, dass unsere In-
tiven bezüglich Erinnerungsverfälschungen fo- telligenz im Laufe des Lebens angestiegen ist, sie
kussiert auf den funktionalen Prozessen, denen in Wirklichkeit aber konstant geblieben ist, könn-
eine Erinnerung unterworfen ist. Die beschriebe- ten wir unseren gegenwärtigen Intelligenzgrad
nen kognitiven Prozesse der Informationsverar- überschätzen und/oder wir könnten unseren frü-
beitung können demzufolge auch als zweckmä- heren als zu niedrig erinnern. Ein anderes Bei-
ßige und zielgerichtete Anpassungsleistungen des spiel ist, dass Personen oft glauben, schon immer
Individuums gesehen werden. Die beobachtete dieselbe politische Meinung gehabt zu haben
Abweichung einer Erinnerung von den objekti- (z. B. schon seit langem immer dieselbe Partei ge-
ven Tatsachen ist dann nicht als Fehler zu werten, wählt zu haben), sich bei näherer Untersuchung
sondern es ist zu fragen, zu welchem Zweck diese aber zeigt, dass sie früher doch eine andere politi-
Abweichung erfolgte. So können veränderte Er- sche Einstellung hatten.
innerungen unseren persönlichen und sozialen Dass wir in der Erinnerung Ereignisse meist
Zielen und damit unserem Wohlbefinden mitun- positiver ansehen, als sie waren, wir also typi-
ter höchst dienlich sein, beispielsweise indem wir scherweise eine ›rosarote Brille‹ bei der Rekon-
unser Verhalten in einer spezifischen Situation struktion autobiographischer Erinnerungen auf-
als positiver erinnern als es war oder indem wir haben, wird als Positivitätsbias bezeichnet. Ne-
Erinnerungen an unangenehme Erlebnisse ver- ben der zu positiven Erinnerung findet auch eine
meiden und sie somit eher vergessen (oder falsch Selektion statt, die dazu führt, dass positive Er-
erinnern). Ebenso können die oben beschriebe- lebnisse besser erinnert werden als negative (au-
nen ›eingepflanzten‹ Erinnerungen funktional ßer extrem negative). Fragt man beispielsweise
gesehen werden: Wenn offensichtlich meine An- nach den Schulnoten im Abschlusszeugnis, wer-
gehörigen das fragliche Ereignis erinnern (nur den Fächer mit schlechten Noten eher vergessen
ich nicht), dann wird es wohl schon wahr sein! und die übrigen Noten im Mittel zu gut erinnert
Auch können Erinnerungen an jeweils geltende (Pohl 2007). Der Positivitätsbias nimmt mit dem
Konventionen angepasst werden, so dass die er- Alter zu, so dass beispielsweise der Prozentsatz
zählten Erlebnisse für den jeweiligen Zuhörer- von Personen, die ihre Kindheit als ›glücklich‹
kreis plausibler bzw. verständlicher erscheinen. bezeichnen, mit zunehmendem Alter der Perso-
Das hat schon Bartlett mit seinen klassischen nen anwächst. (Ein weiterer Grund mag hier na-
Versuchen gezeigt, bei denen britische Studie- türlich sein, dass aus Perspektive eines älteren
rende bei der Erinnerung an ein ihnen fremdes, Menschen die Kindheit und ihre Freiheiten und
indianisches Märchen systematisch Dinge weg- Möglichkeiten gänzlich neu bewertet werden. Sie
ließen, umdeuteten oder ergänzten, um so die ist vielleicht damals nicht als so glücklich emp-
1. Das autobiographische Gedächtnis 83

funden worden, stellt sich aber aus heutiger Sicht die zudem für ein insgesamt positives Gesamt-
so dar.) Als Erklärung für den Positivitätsbias bild sorgen. Bei Angriffen auf das Selbst und auch
werden selbstwertdienliche Prozesse diskutiert. im Rahmen der Lebensrückschau dienen sie
Uns geht es einfach besser, je positiver wir uns se- als Verteidigungslinien, die das Selbstkonzept ge-
hen bzw. unser Leben erinnern. Somit erfüllt gen unliebsame Veränderungen immunisieren.
diese Gedächtnisverzerrung offenbar eine wich- Gleichzeitig ermöglichen sie aber auch ›Repara-
tige psychodynamische Funktion. turen‹ der eigenen Lebensgeschichte und stellen
Generell kann man das Selbstkonzept als eine so psychotherapeutische Ansatzpunkte bereit.
mächtige Instanz im psychischen Geschehen an-
sehen, die sich nicht nur aus autobiographischen
Perspektiven zukünftiger Forschung
Erinnerungen speist, sondern auch determiniert,
was wann wie erinnert wird. Manche Autoren Zur Untersuchung der Abrufprozesse von Erin-
sprechen hier von einem ›totalitären Ego‹, das nerungen aus dem autobiographischen Gedächt-
unsere Erinnerungsprozesse in seinem Sinne nis wurden bislang hauptsächlich Wörter und
steuert. Als wesentliche Leitmotive des Egos wer- Bilder verwendet. In neueren Studien werden da-
den hier Konstanz und Wachstum genannt. Selbst gegen auch die Effekte von Gerüchen und Musik
angesichts der vielen normalen Veränderungen auf die Erinnerungsleistung geprüft. Diese Sti-
im Laufe eines Lebens bzw. sogar nach widrigen muli stellen oft äußerst effektive Abrufhilfen dar.
oder gar traumatischen Erlebnissen empfinden Insgesamt muss man aber kritisch anmerken,
wir uns als eine konstante Einheit mit einer kon- dass die bisherigen Methoden zur Erforschung
tinuierlichen Entwicklung. Auch wenn wir mehr des autobiographischen Gedächtnisses in der Re-
oder minder plötzlich pubertär, erwachsen, Ehe- gel keine experimentelle Kontrolle erlauben und
frau, Vater oder Witwer werden (um nur ein paar viele Fragebögen nicht die üblichen Kriterien ei-
Beispiele zu nennen), verlieren wir in der Regel nes psychometrischen Testverfahrens erfüllen, so
nicht das subjektive Gefühl der Identität. dass die Gültigkeit der Befunde oft eingeschränkt
Und wenn wir uns ändern, dann nur zum Bes- ist. Von daher zielen neuere Arbeiten u. a. auf die
seren. Andere Autoren ordnen diese Funktionen Entwicklung spezifischer Tests ab, deren Gütekri-
einem ›Mythenmacher‹ in uns zu, dem allerdings terien überprüft werden können, so dass die Be-
ein akribischer und um historische Genauigkeit funde als objektiver, reliabler und valider gelten
bemühter ›Archivar‹ gegenüberstehe, der auch können. Außerdem wird eine Vielzahl von Test-
dafür sorge, dass die Realität nicht völlig aus den verfahren für die unterschiedlichsten Anwen-
Augen verlorengehe (Kotre 1998). Die Metapher dungsbereiche entwickelt. Auch experimentelle
des Mythenmachers entspricht somit der oben Methoden werden zunehmend eingesetzt.
diskutierten funktionalen Perspektive auf verän- Bezüglich der Entwicklung und Veränderbar-
derte Gedächtnisinhalte, während der Archivar keit des autobiographischen Gedächtnisses wird
für die Perspektive des wahrheitsgemäßen Ge- derzeit vor allem an drei Stellen geforscht. Zum
dächtnisses steht. Diese Metaphern scheinen gute einen geht es darum, die Ursachen der Kindheits-
und plausible Beschreibungen der für funktio- amnesie zu ergründen. Dazu werden insbeson-
nale Veränderungen bzw. korrekte Erinnerungen dere auch jüngere Kinder – mithilfe geeigneter
verantwortlichen kognitiven Prozesse zu sein. Fragebögen und Testverfahren – zu ihren auto-
Auch hier lassen sich natürlich kulturelle Spezi- biographischen Erinnerungen befragt. Ein zwei-
fika denken, die den einen oder anderen Prozess ter Schwerpunkt liegt in dem Zusammenhang
stärker betonen. zwischen autobiographischem Gedächtnis und
Die dargestellten Mechanismen des Selbstkon- der Entwicklung eines Selbstkonzeptes. Hier sind
zepts können auch als Coping-Strategien angese- insbesondere die sogenannten selbst-definieren-
hen werden, die es ermöglichen, trotz fortlaufen- den Erinnerungen (self-defining memories) in den
der Änderungen Kontinuität zu empfinden, und Blickpunkt gerückt. Diese Erinnerungen beinhal-
84 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

ten besonders relevante Lebensereignisse, die für dass Erinnerungen oft eher generell und wenig
eine Person wegweisend und charakteristisch spezifisch sind. Auch die relativen Anteile an po-
sind. Sie sind gewissermaßen Herzstücke der ei- sitiven und negativen Erinnerungen scheinen
genen Lebensgeschichte (life story) und erfüllen verändert zu sein. Im Rahmen klinischer Studien
somit zentrale Funktionen für die Organisation wird darüber hinaus nach neurophysiologischen
des autobiographischen Gedächtnisses und für Korrelaten der beobachteten Störungen des auto-
das Selbstverständnis einer Person. Ein dritter biographischen Gedächtnisses gesucht (vgl. Mar-
Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Be- kowitsch/Welzer 2005; Schacter 2001), wobei
einflussbarkeit und damit der Verfälschbarkeit derartige Untersuchungen natürlich auch bei ge-
persönlicher Erinnerungen. Die Frage lautet: Wer sunden Probanden durchgeführt werden, um
ist wann und unter welchen Bedingungen für mehr über die Prozesse zu erfahren, die an der
welche Einflüsse empfänglich? Diese Frage hat Speicherung und dem Abruf autobiographischer
Relevanz nicht nur im Rahmen der forensischen Erinnerungen beteiligt sind.
Psychologie, sondern beispielsweise auch in der
psychotherapeutischen Anamnese. Inwieweit Literatur
kann hier die Rekonstruktion der eigenen Le- Bluck, Susan: Autobiographical Memory. Exploring its
bensgeschichte durch äußere Suggestionen ver- Functions in Everyday Life. In: Memory 11. Jg., 2
fälscht werden? Umgekehrt kann man sich dann (2003), 113–124.
auch die Frage stellen, was denn die Mehrzahl der Conway, Martin A./Pleydell-Pearce, Christopher W.:
Probanden in den beschriebenen Experimenten The Construction of Autobiographical Memories in
the Self-memory System. In: Psychological Review
kennzeichnet, die schließlich nicht beeinflusst
107. Jg., 2 (2000), 261–288.
wurden. Hinkeldey, Sabine von/Fischer, Gottfried: Psychotrau-
In zunehmendem Maße finden sich auch Ar- matologie der Gedächtnisleistung. München 2002.
beiten, die nach Verbindungen zwischen Merk- Kotre, John: Der Strom der Erinnerung. Wie das Ge-
malen des autobiographischen Gedächtnisses dächtnis Lebensgeschichte schreibt. München 1998.
und psychopathologischen Erscheinungen su- Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiogra-
chen. So werden beispielsweise emotionale Stö- phische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005.
rungen, Depressionen und posttraumatische Be- Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis. Die
lastungsstörungen (PTSD) auf ihre Wechselwir- Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart 2007.
kungen mit persönlichen Erinnerungsleistungen Rubin, David C. (Hg.): Remembering our Past. Studies
untersucht (Hinkeldey/Fischer 2002). Als wichti- in Autobiographical Memory. New York 1996.
ges Charakteristikum gilt in diesen Fällen z. B., Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Reinbek 2001.
Rüdiger Pohl
85

2. Das kollektive Gedächtnis Das Gedächtnis und seine sozialen


Bedingungen
Die Beschäftigung mit Formen kollektiver Erin-
nerung bzw. kollektivem Gedächtnis hat zwei Die Frage nach der sozialen Geprägtheit von Er-
zentrale Ausgangspunkte: Sie geht der sozialen innerungsvorgängen wurde zu Beginn des letzten
Geprägtheit von (individuellen) Erinnerungspro- Jahrhunderts in mehreren Disziplinen gleichzei-
zessen nach und sie untersucht die Erinnerung tig aufgeworfen. Während der Psychologe Fre-
von bzw. in Gruppen. Beiden Herangehenswei- deric Bartlett (s. Kap. I.2) in experimentellen Un-
sen liegt die Annahme zugrunde, dass Erinne- tersuchungen die kulturelle Geprägtheit des Ge-
rungen geteilt werden: Erinnerbar ist nur das, dächtnisses bei der seriellen Reproduktion von
was im (persönlichen, medialen oder gedankli- kurzen Geschichten aufzeigen konnte, versuchte
chen) Austausch mit anderen mitteilbar ist. Die der Kunsthistoriker Aby Warburg, ein »soziales
Beschäftigung mit kollektiven Erinnerungen ist Gedächtnis« über die Erforschung der europäi-
ein transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich schen Kultur bzw. ihres »Bildgedächtnisses« zu
auf einen mehrdeutigen, leicht missverständli- konzeptionalisieren. Für Maurice Halbwachs bil-
chen Begriff gründet. Für das kollektive Gedächt- dete die soziologische Empirie den Ausgangs-
nis gibt es keine allgemeinverbindliche Defini- punkt seiner Überlegungen: Seine Grundidee
tion. Dementsprechend ist auch seine Erfor- fußt nicht zuletzt auf einer eingehenden Ausei-
schung unklar und umstritten. Ein breiter Strom nandersetzung mit Statistiken zum Lebensstan-
der Forschung konzentriert sich primär auf ma- dard der Arbeiterklasse. Mit seinen nachfolgen-
terielle Artefakte, auf das, was aus der Vergangen- den gedächtnistheoretischen Erwägungen verla-
heit als objektivierte Kultur ›in der Welt‹ greifbar gerte sich der Schwerpunkt seiner Arbeit. Indem
ist, während ein weiterer Zweig das Kollektive er die Frage aufgreift, welche konkrete Rolle ver-
vorzugsweise in der individuellen Erinnerung schiedene Gruppen und Gemeinschaften für das
bzw. in der Interaktion in Gruppen lokalisiert. individuelle Erinnerungsvermögen spielen, folgt
Die Grenzen beider Forschungsansätze wurden er, wie er selber schreibt, den Psychologen auf ihr
bisher erst in wenigen Studien überschritten. Die Gebiet (1985, 361). Es ist daher eine genuin so-
Forderung nach integrativen Ansätzen, die das zialpsychologische Frage, die im Zentrum der
kollektive Gedächtnis so konzipieren und erfor- Arbeiten von Halbwachs steht, der aus gegenwär-
schen, dass seine jeweiligen empirischen Träger tiger Perspektive als der Gründungsvater der
sichtbar bleiben oder die soziale Rezeption von sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächt-
Medien kollektiver Erinnerung offen gelegt wird, nisforschung gelten kann.
ist seit den späten 1990er Jahren zunehmend Halbwachs unterscheidet nicht zwischen Ge-
lauter geworden. Dennoch vereint die interdis- dächtnis und Erinnerung. Zentraler Ausgangs-
ziplinäre Gedächtnisforschung mehr als die An- punkt für sein Konzept kollektiver Erinnerung
nahme, dass zur Erinnerung immer mindestens sind die cadres sociaux: die durch die kommuni-
zwei gehören. In der Gesamtschau stellen die Ar- kative Teilhabe in unterschiedlichen sozialen
beiten des französischen Soziologen Maurice Gruppen erworbenen ›Rahmen‹ der Erinnerung.
Halbwachs (s. Kap. IV.3) einen zentralen theore- Nach Halbwachs sind individuelle Erinnerungen
tischen Bezugspunkt dar. Der Gegenstandsbe- Rekonstruktionen, die sich auf diese sozialen Be-
reich soll hier daher zunächst ausgehend von zugsrahmen der Gegenwart stützen. Bezugsrah-
Halbwachs’ Theorie erschlossen werden. Danach men sind dabei als »Worte und Vorstellungen« zu
werden Dimensionen kollektiver Erinnerung verstehen, die der Einzelne »nicht erfunden«,
(vom Individuum bis zur Nation) an konkreten sondern »seinem Milieu entliehen hat« (1991, 35)
Beispielen vorgestellt sowie weitere Differenzie- und mit deren Hilfe sein Gedächtnis ein Bild von
rungen und schließlich Desiderate der Forschung der Vergangenheit erstellt, das vor dem aktuellen
diskutiert. Erfahrungshintergrund zum Zeitpunkt der Erin-
86 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

nerung sozial bedeutsam ist. Die Annahme, dass wenn sie auch im sozialen Nahbereich einen An-
Erinnerungen stärker von der Gegenwart als von knüpfungspunkt finden bzw. über Familienange-
der Vergangenheit bestimmt werden, unterschei- hörige, Arbeitskollegen oder andere Gruppen-
det Halbwachs von anderen zeitgenössischen Er- mitglieder vermittelt werden.
innerungstheorien (Freud, Warburg), und rückt Halbwachs bezieht auch kulturelle Objektivati-
ihn in die Nähe von Erkenntnissen der jünge- onen in seine Überlegungen mit ein. In dem be-
ren neuropsychologischen Gedächtnisforschung kannten Beispiel eines imaginären Stadtspazier-
(Schacter). gangs durch London beschreibt er, wie er die
Nach Halbwachs vermitteln sich die Rahmen Stadt niemals allein, sondern immer aus der Per-
der Erinnerung im Umgang mit Anderen. Damit spektive ganz unterschiedlicher Gruppenmitglie-
sind die Mitglieder jener Gruppen bzw. Milieus der wahrnimmt. Halbwachs spaziert durch Lon-
gemeint, in die jeder Mensch im Laufe seines Le- don in der Gesellschaft von Romanciers, Archi-
bens eingebunden ist, wie z. B. Familien, Religio- tekten und Malern, die ihm nicht nur persönlich,
nen oder gesellschaftliche Klassen. Über diese sondern vor allem aus der Literatur vertraut sind
Wir-Gruppen bildet und festigt sich die Identität und die ihm die Stadt nun als Interpreten ganz
des Einzelnen. Halbwachs nennt das individuelle spezifischer Gruppenerinnerungen erschließen.
Gedächtnis einen »Ausblickspunkt« auf das Ge- Indem Halbwachs als Spaziergänger nachdenkt,
dächtnis der Gruppe (1991, 31). Will man den kommuniziert er, und er tut dies vor dem Hinter-
einzelnen Menschen in seinem individuellen grund von Erinnerungsgemeinschaften, deren
Denken und seiner individuellen Erinnerung soziale und kulturelle Schemata seine eigene
verstehen, muss man ihn in Beziehung zu den Wahrnehmung und Erinnerung prägen: »Andere
verschiedenen Gruppen setzen, denen er gleich- Menschen haben diese Erinnerungen mit mir
zeitig angehört, und seine Position innerhalb der gemeinsam gehabt« (1991, 3). Das kulturelle, me-
jeweiligen Gruppe lokalisieren. Das kollektive Ge- diengestützte Fundament von kollektivem Ge-
dächtnis ist bei Halbwachs also weder als eine dächtnis wird bei Halbwachs somit zwar mit-
Metapher noch als eine Art von Kollektivpsyche gedacht. Der Vorgang der mediengestützten Tra-
zu verstehen. Subjekt von Gedächtnis und Erin- dierung bzw. die Frage, wie Medien kultureller
nerung ist immer das Individuum, ebenso wie Erinnerung durch Individuen und Gruppen kon-
das individuelle Gedächtnis immer ein soziales kret angeeignet werden, bleibt jedoch unerschlos-
Phänomen ist. Einzigartig ist jedes individuelle sen.
Gedächtnis schon aufgrund der Tatsache, dass es In Fortführungen von Halbwachs’ Theorie ist
niemals zwei Menschen geben wird, die identi- daher auch die Gedächtnisfunktion der Kultur –
sche Positionen in den gleichen Gruppen einneh- als ein Ensemble von materiellen wie immateriel-
men. Die Gruppen (Familien, religiöse Gemein- len Symbolen einer Gesellschaft – in der Interak-
schaften, soziale Schichten, Berufsgruppen), die tion zwischen Individuum und Gruppe stärker
Halbwachs studiert, sind durch das gleiche sozi- akzentuiert worden. So geht der Ägyptologe Jan
ale Umfeld und damit durch Formen von Alltags- Assmann von »zwei Modi« bzw. von »zwei Ge-
kommunikation miteinander verbunden. In diese dächtnis-Rahmen« kollektiver Erinnerung aus:
Gruppen wird man hineingeboren (Familie), sie jenes auf alltäglichen und informellen Formen
sind verpflichtend (Militär) oder man tritt ihnen der Erinnerung und Überlieferung basierende
bei (Parteien). Es sind auch flüchtige, temporäre Gedächtnis, das bei Halbwachs im Vordergrund
Erinnerungsgemeinschaften, wie eine Zugbe- steht, bezeichnet er als kommunikatives Gedächt-
kannschaft denkbar. Erinnerungsmilieus entste- nis. Das Kollektive ist auf dem Wege der Kom-
hen allerdings erst auf der Grundlage eines relativ munikation, d. h. durch kulturelle und soziale
konstanten sozialen Umfeldes. Rahmen der Erin- Teilhabe in das individuelle Bewusstsein bzw. Ge-
nerung auf staatlicher bzw. nationaler Ebene wer- dächtnis gelangt. Gedächtnis auf dieser Ebene
den erst dann für den Einzelnen bedeutsam, meint das Organ leibhaftiger Menschen. Vom
2. Das kollektive Gedächtnis 87

kommunikativen Gedächtnis unterscheidet Jan gen eine Gleichsetzung von Geschichte und Ge-
Assmann das kulturelle Gedächtnis als den Be- dächtnis.
reich der objektivierten Kultur und organisierten Darüber hinaus ist es insbesondere der von
Kommunikation (Assmann 2007, 50 f.). Hier Halbwachs geprägte Begriff des ›kollektiven Ge-
wird der Gedächtnisbegriff metaphorisch, indem dächtnisses‹, der bis heute Kritik entfacht. Halb-
er auf die Gedächtnisfunktion von Kultur gerich- wachs selbst hat zwar wiederholt betont, dass es
tet ist. Für beide Gedächtnisbegriffe gilt dabei, das Individuum ist, das sich erinnert, gleichwohl
dass sie sich nicht unabhängig voneinander den- finden sich in seiner Phänomenlogie immer wie-
ken lassen: Ebenso wenig wie man sich ohne der Ausführungen, die Assoziationen zu einer
Sprache und kommunikativen Austausch erin- Kollektivpsyche zumindest nahelegen. Dieses
nern kann, so wenig lässt sich Kultur als Gedächt- Problem hat sich dadurch verstärkt, dass es in-
nis losgelöst von Individuen beschreiben. Diese folge des publizistischen wie akademischen »Ge-
Ausdifferenzierung des kollektiven Gedächtnis- dächtnis-Booms« der letzten drei Jahrzehnte (zu
ses in einen Bereich kommunikativer Erinne- den Gründen Erll 2005, 2 ff.) zu einem enormen
rung, der das Kollektive am Individuellen betont, Anstieg von empirischen Studien gekommen ist,
sowie einen Bereich, der Gruppenerinnerungen die sich dieses Konzepts bedient haben, eine wei-
auf der Ebene von Kultur fokussiert, hat sich im tere theoretische und methodologische Fundie-
deutschsprachigen Raum weitgehend durchge- rung (mit Ausnahme der Assmannschen Erwei-
setzt. Die Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll terung) allerdings erst in den letzten Jahren in
hat jüngst versucht, beide Bereiche – unter Be- Angriff genommen wurde. In diesem Zusam-
rücksichtigung ihrer Interdependenz – unter dem menhang hat der Historiker Alon Confino bereits
Begriff der ›Cultural Memory Studies‹ zu verei- 1997 angemerkt, dass es nicht ausreicht, die Be-
nen. ›Cultural Memory Studies‹ umfasst dabei deutsamkeit einer symbolischen Repräsentation
nach einer vorläufigen und bewusst auf ein im Bereich des Politischen herauszustellen, wenn
breites Verständnis abzielenden Definition, »das nicht gleichzeitig die Weitergabe, Verbreitung
Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit und Bedeutungszuschreibung in anderen sozia-
in sozio-kulturellen Kontexten« (Erll/Nünning len Kontexten in Erwägung gezogen und unter-
2008, 2, Übers. S. M.). sucht werden. Rezeptionsforschung ist in diesem
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt an Halb- Sinne keine interessante Zusatzerwägung, son-
wachs’ Theorie betrifft den Stellenwert der Histo- dern eine notwendige Grundlage jeder Studie,
riographie. Bei Halbwachs gibt es zwar eine Viel- die darauf abzielt, Aussagen über Formen kollek-
zahl kollektiver Gedächtnisse, der aber nur die tiver Erinnerung zu treffen.
eine durch die Fachwissenschaft verbürgte Ge- »Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl
schichte gegenübersteht. Halbwachs’ Auffassung aber kollektive Bedingungen möglicher Erinne-
von der Geschichte ist vielfach als objektivistisch rungen.« In dieser Formulierung des Historikers
kritisiert worden. Der Historiker Peter Burke Reinhart Koselleck spiegeln sich Ablehnung und
etwa bezeichnet Geschichte als ›soziales Gedächt- Akzeptanz von Halbwachs Überlegungen gera-
nis‹, die den gleichen bewussten und unbewuss- dezu paradigmatisch wider (Koselleck 2001, 20).
ten Auswahlmechanismen unterliege wie jedes Halbwachs hat einen äußerst komplexen sozialen
andere Gruppengedächtnis. Andere Autoren hin- Sachverhalt wegweisend erfasst und auf eine ein-
gegen übernehmen Halbwachs’ Unterscheidung gängige Formel gebracht. Mit dieser Formel wird
von Geschichte und Gedächtnis, sehen jedoch das eigentlich Gemeinte allerdings nur unzurei-
seine positivistische Auffassung von der Historie chend erfasst. Ebenso wie die abstrakte Rede von
als korrekturbedürftig an. Jan Assmann (2007, kollektiver Identität verschleiert auch jene vom
77) etwa betont, dass jede Geschichtsschreibung kollektiven Gedächtnis die Vielfalt von Zugehö-
zeit- und interessenbedingten Abhängigkeiten rigkeiten und suggeriert eine Homogenität, die
unterworfen sei, wendet sich allerdings strikt ge- jene soziale Sinnstiftung initiiert, die der Begriff
88 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

eigentlich analytisch aufschließen soll. Eine kriti- von Institutionen, Denkmalen und Riten stützen
sche Analyse kollektiver Erinnerungsformen konnte. Gerade hier zeigte sich, dass der gesamt-
setzt daher eine differenzierte Konkretion vor- gesellschaftliche wie erinnerungskulturelle Rah-
aus, die die tendenziell irreführende Funktion men insofern präsent war, als man sich zustim-
des Begriffs ebenso in Rechnung stellt wie seine mend oder ablehnend auf ihn bezog. Diese Allge-
potentielle politische Inanspruchnahme. genwart führte aber nicht zwangsläufig zu einer
Durchdringung von Alltagskontexten im Sinne
der Staatsführung. Nach dem Ende der Diktatur
Oral History, Familien- und Generationen-
ist es schwer, Aussagen über Formen kollektiver
gedächtnis
Erinnerung in der DDR zu treffen, die über das
Oral History: Nicht selten wird kollektives Ge- kulturelle Gedächtnis bzw. die staatsoffizielle Les-
dächtnis als Populärgeschichte gehandelt und mit art der Geschichte hinausgehen. Der Umbau der
Oral History gleichgesetzt (s. Kap. IV.5). Diese öffentlichen Erinnerungskultur wie die Umge-
Gleichsetzung ist irreführend. Das Verhältnis von staltung und Demontage von Denkmalen nach
Oral History und kollektivem Gedächtnis ist je- 1989 lässt sich in den meisten Fällen, etwa über
doch aufschlussreich. Oral History, wie sie sich Fotografien aus DDR-Zeiten, rekonstruieren. Für
seit Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik das subjektive Geschichtsbewusstsein ist dieser
Deutschland zu etablieren begann, geht der Vorgang ungleich schwerer nachzuvollziehen
mündlich erfragten Geschichte ganz spezifi- (vgl. Moller 2003). Dies liegt zum einen daran,
scher Erinnerungsmilieus nach. Eine der ersten dass Studien wie die hier zitierte in der DDR vor
deutschsprachigen Publikationen aus diesem 1989 strikt reglementiert und zensiert wurden. Es
Forschungsfeld trägt den Titel Lebenserfahrung hat hat aber auch etwas damit zu tun, dass der
und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral staatliche Rahmen der Erinnerung so um-
History (Niethammer 1985) und schließt nicht bruchartig verschwunden ist, dass die sozialisti-
nur theoretisch an die Studien von Halbwachs (s. sche Realität schon 1991 wie eine Fiktion er-
Kap. IV.3) an. schien (Niethammer u. a. 1991, 68).
In Deutschland ist die Oral History eng mit Der Umgang mit Zeugnissen lebensgeschicht-
dem Namen Lutz Niethammer und seinen mehr- licher Erinnerung ist im Bereich der Oral History
bändigen Studien zur Arbeiterkultur im 20. Jahr- seit der Jahrtausendwende methodologisch ein-
hundert verknüpft. Niethammers Studien gehen gehender erschlossen worden. Ein Beispiel hier-
der lebensgeschichtlichen Verarbeitung histori- für stellt die Studie von Ulrike Jureit zu »kollek-
scher Erfahrung nach und reflektieren in ihren tiven Erinnerungsmustern« (Jureit 1999) von
Beschreibungen insbesondere die Zugehörigkeit Überlebenden der Konzentrations- und Vernich-
zu Gruppen (Schichten, Familien, politischen tungslager dar. Sie erschließt die über das Indivi-
Milieus etc.), sofern diesen in der Selbstbeschrei- duum hinausweisenden Phänomene, indem sie
bung eine spezifische Relevanz zugewiesen wird. zunächst individuelle Sinnkonstruktionen he-
Die von Niethammer u. a. Ende der 1980er Jahre rausarbeitet und typisiert, um diese dann durch
in der DDR durchgeführten Interviews sind da- ein diskursanalytisches Verfahren in ihrer histo-
bei in mehrerer Hinsicht besonders aufschluss- rischen und gesellschaftlichen Kontextgebun-
reich (Niethammer u. a. 1991). Sie zeugen von ei- denheit zu verorten. Jureit kann durch den Ver-
ner Kluft zwischen kommunikativem und kultu- gleich von zu unterschiedlichen Zeitpunkten ent-
rellem Gedächtnis innerhalb einer diktatorischen standenen lebensgeschichtlichen Interviews und
Gesellschaft. Viele der befragten DDR-Bürger Aufzeichnungen zeigen, wie etwa Filmprodukti-
waren von einer antifaschistischen Lesart der onen zum Holocaust sich in autobiographischen
Geschichte weit entfernt, und dies obwohl die Erzählungen niederschlagen können.
Staatsführung ihre Geschichtsvermittlung fast Familiengedächtnis: Die Analyse des Familien-
vier Jahrzehnte lang auf ein dicht gewebtes Netz gedächtnisses gibt Aufschluss sowohl über die
2. Das kollektive Gedächtnis 89

Konstitution von Erinnerungsgemeinschaften als intendierten familienbiographischen Sinnkon-


auch über die Interaktion verschiedener Ge- struktionen.
dächtnisformen. Die Soziologin Angela Keppler Welzer hat die Gedächtnisformen in diesem
(1994) hat die kommunikative Vergemeinschaf- Zusammenhang weiter aufdifferenziert, da sich
tung in Familien am Beispiel von Tischgesprä- sowohl im kommunikativen wie im kulturellen
chen empirisch erforscht. Sie kommt dabei zu Gedächtnis Interaktionen und Medien danach
dem Schluss, dass die Einheit einer Familienge- unterscheiden lassen, ob sie die Vergangenheit
schichte nicht in einer einheitlichen bzw. in einer absichtsvoll oder en passant vermitteln. Den Be-
in einem Stück erzählten Familiengeschichte be- reich, in dem Vergangenheit nicht-intentional
steht, sondern in der Beständigkeit der Anlässe vermittelt wird, ordnet Welzer – in Anlehnung an
und Gelegenheiten, die ein gemeinsames Sich- die Begriffsprägung von Burke – dem ›sozialen
Erinnern der Familienmitglieder möglich macht. Gedächtnis‹ zu (s. Kap. II.5). Dementsprechend
Das Zusammenspiel von kultureller und kom- sind etwa persönliche Erzählungen über die Ver-
munikativer Erinnerung im Kontext intergenera- gangenheit auf Familienfeiern ebenso dem sozia-
tioneller Tradierung in Familien zeigt die Studie len Gedächtnis zuzurechnen wie eine Komödie
des Sozialpsychologen Harald Welzer u. a., die aus den 1930er Jahren, die absichtslos den ent-
der Erinnerung an den Nationalsozialismus sprechenden historischen Assoziationsraum mit-
nachgeht (Welzer u. a. 2008). Die Studie illus- transportiert. Beiden Beispielen kann aber jeder-
triert, dass Geschichten und Erlebnisse aus der zeit eine Vermittlungsabsicht zugeordnet werden:
Vergangenheit nicht in fixierter Form weiterge- So wie sich die Familienerzählung in einer kon-
geben, sondern bereits beim Hören wie beim troversen Diskussion in eine Aussage darüber
Kommentieren und Nacherzählen mit eigenem verwandeln kann, »wie es wirklich gewesen ist«,
Sinn versehen und so verändert werden. In Hin- so kann auch die Komödie zu einer Quelle im
blick auf die NS-Vergangenheit ist es dabei nicht Geschichtsunterricht werden, durch die der his-
selten ein generalisiertes Bild der Großeltern bzw. torisch-politische Kontext zum Entstehungszeit-
der eigenen Familie, über das etwa eine spezifi- punkt des Filmes erschlossen wird.
sche Geschichte von der eigenen ›Oma‹ in dieser Soziale Bezugsrahmen wie die kollektiven Be-
Zeit konstruiert wird. In diesem Sinne ist dann zugsrahmen der Familie müssen den einzelnen
z. B. die Vorstellung, »in unserer Familie hilft Familienangehörigen nicht bewusst sein, wenn
man anderen«, der soziale Rahmen, der die Erin- diese versuchen, sich an bestimmte Episoden aus
nerung anleitet. Damit wird ein Bild von den ei- der gemeinsamen Geschichte zu erinnern. Vor-
genen Familienangehörigen gezeichnet, das diese stellungen wie jene von der »Wesensart« der Fa-
von einer Beteiligung bzw. Mitschuld an den Ver- milie (Halbwachs) lassen sich auch als implizite
brechen des NS-Regimes von vornherein aus- Erinnerungen begreifen. Aus neurowissenschaft-
nimmt. Dieses Phänomen verweist indes nicht licher Perspektive beschreibt das implizite Ge-
auf eine ›Unwirksamkeit‹ des kulturellen Ge- dächtnis Formen nicht bewusster Erinnerung:
dächtnisses. Erst dadurch, dass der primär auf Menschen werden von vergangenen Erfahrungen
der Ebene der öffentlichen Erinnerungskultur beeinflusst, ohne dass ihnen dabei bewusst ist,
thematisierte verbrecherische Charakter des NS- dass sie sich erinnern.
Regimes anerkannt wird, entsteht die Notwen- Generationengedächtnis: Auch Formen von
digkeit, Familienloyalität und historisches Wis- Generationengedächtnis (s. Kap. IV.8) sind als
sen miteinander in Einklang zu bringen. In der ›implizites Gedächtnis‹ zu verstehen. Geht man
Interaktion zwischen kommunikativem und kul- von dem von Karl Mannheim in den 1920er Jah-
turellem Gedächtnis wird allerdings nicht ein ren geprägten Generationenbegriff aus, so be-
Narrativ von einer Ebene auf die nächste über- zieht sich das Generationengedächtnis nicht in
setzt bzw. gesendet, sondern die Resonanz des erster Linie auf die Erfahrungen, die eine Gruppe
kulturellen Gedächtnisses zeigt sich hier in nicht- von Menschen in einem bestimmten zeitlichen
90 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Kontext gemacht hat, sondern vor allem auf die relles Gedächtnis wider, die sich allerdings man-
Form der Erfahrungsverarbeitung. Der Erfah- gels einer Übersetzung von Jan Assmanns zentra-
rungshintergrund der Generation bestimmt in lem Werk bisher nicht gleichermaßen im anglo-
diesem Sinne die individuelle Wahrnehmung amerikanischen Sprachraum durchgesetzt hat.
und Einordnung von Ereignissen – subjektive Er- Begibt man sich in Hinblick auf Fragen nach
innerungen werden durch ein implizites Genera- kollektiver Erinnerung und kollektivem Gedächt-
tionengedächtnis gerahmt. nis auf die Ebene der Nation, so lässt sich festhal-
Diese Form von generationeller Erinnerung ten, dass dieses Feld vor allem von Studien be-
spiegelt sich in der Studie von Howard Schuman stellt wird, die die Gedächtnisfunktion von kultu-
und Jacqueline Scott (1989) wider. In breit an- rellen Symbolen und Praktiken in den Blick
gelegten Repräsentativbefragungen konnten sie nehmen. Das ist insofern sinnvoll, als für derart
zeigen, wie zentralen Ereignissen der amerika- große Gruppen wie Nationen, Staaten oder Reli-
nischen Zeitgeschichte unterschiedliche generati- gionen die Frage, »was dürfen wir nicht verges-
onelle Bedeutsamkeit zugemessen wird. 1985 sen?«, so zentral für Identität und Selbstverständ-
wurden Amerikaner gebeten, maximal zwei der nis ist, dass die kollektiven Vergangenheitsbezüge
wichtigsten Ereignisse in der amerikanischen Ge- stärker kulturell geformt und damit gefestigt wer-
schichte zu benennen. Dabei zeigte sich, dass die den müssen, um die (politische) Handlungsfä-
Befragten vor allem jene Ereignisse benannten, higkeit der Gruppe sicherzustellen (Assmann
die in die Übergangszeit von der Adoleszenz zum 2007). Damit eine Gruppe ihre Erinnerungen auf
Erwachsenenalter (hier 18. bis 30. Lebensjahr) fal- der Ebene des kulturellen Gedächtnisses dauer-
len, die in der psychologischen Forschung auch als haft aufrechterhalten und weitergeben kann,
reminiscence bump bezeichnet wird (s. Kap. II.1). muss sie sich auf Träger stützen können, die so-
wohl über die Kompetenz als auch über die Mög-
lichkeit verfügen, den »flüssigen« Strom zerstreu-
Kollektive Erinnerung auf der Ebene
ter, ganz verschiedener Gruppenerinnerungen in
von Nationen
eine »feste«, organisierte und gemeinsam geteilte
Der Soziologe Jeffrey Olick (1999) hat die ver- Gruppenerinnerung zu transformieren (ebd.,
schiedenen Auffassungen von Kultur, die den 59). Auf diesem Feld sind seit den 1990er Jahren
beiden Hauptströmungen der Forschung zum beeindruckende Studien entstanden, die öffentli-
kollektiven Gedächtnis zugrunde liegen, aufge- che Erinnerungskulturen als Wechselspiel von
griffen, und in eine weitere Differenzierung über- Gegenwart und Vergangenheit, Politik und Ge-
führt. Kultur als Rahmen gesellschaftlicher Erin- schichte in ganz spezifischen sozio-kulturellen
nerung, wie er in öffentlichen Praktiken, Symbo- Kontexten dechiffrieren (s. Kap. II.6).
len und Objekten zum Ausdruck kommt, zählt Nationale, öffentliche Erinnerungskulturen
Olick zum Kernbereich kollektiver Erinnerung lassen sich in diesem Sinne als ein Kampf par-
(collective memory). Studien, die Kultur als Kate- tikularer Erinnerungsgemeinschaften beschrei-
gorie subjektiver Bedeutungszuschreibung fokus- ben. An der öffentlichen Erinnerungskultur ist
sieren, deren Ausgangspunkt oder Analyseein- ablesbar, welche Erinnerung auf dieser Ebene
heit die individuelle Erinnerung ist, rechnet er durchgesetzt wurde. Über die öffentliche Erinne-
dem Bereich collected memory zu (s. Kap. II.5). rungskultur allein lässt sich aber im Umkehr-
Collected memory meint individuelle Erinnerung, schluss nicht das kollektive Gedächtnis einer
die gesammelt und aggregiert wurde – sei es im Nation beschreiben. Es gibt inoffizielle, wider-
Rahmen einer Oral History-Befragung oder ei- streitende Erinnerungsgemeinschaften, die sich
ner Repräsentativerhebung auf nationaler Ebene. politisch nicht durchsetzen konnten oder denen
Letztlich spiegelt diese Entgegensetzung von col- aus kulturellen oder politischen Gründen der
lected und collective memory die terminologische Zugang zu Archiven oder die Archivierung der
Unterscheidung in kommunikatives und kultu- eigenen Geschichte bis dato verwehrt geblieben
2. Das kollektive Gedächtnis 91

ist. Auch die Reichweite der öffentlichen Erinne- existieren werden, ist gegenwärtig nicht ausge-
rungskultur ist unbestimmt. Es lassen sich zwar, macht. Gewiss ist allerdings, dass der Begriff des
wie Pierre Nora dies für Frankreich und Etienne ›Kollektiven Gedächtnisses‹ diese Funktion nicht
François und Hagen Schulze für Deutschland übernehmen kann. So faszinierend Sprache und
getan haben, nationale Erinnerungsorte, soge- Konkretion der Halbwachsschen Phänomenolo-
nannte lieux de mémoire, bestimmen (s. Kap. gie auch sein mögen, Halbwachs’ Konzept schärft
III.9). Diese beschreiben jedoch primär die zwar die Aufmerksamkeit für einen sozialen
Gedächtnisförmigkeit der Kultur und lassen nur Problembereich, konkret anwendbar wird es aber
bedingt Rückschlüsse über die Kulturgeprägtheit erst über Fortentwicklungen, die zum Teil noch
des individuellen Gedächtnisses bzw. der lokalen im Entstehen begriffen sind.
Alltagskommunikation zu. In Zukunft wird es dabei darauf ankommen,
Auf nationaler Ebene sind Erinnerungsorte, beide hier skizzierten Forschungsströmungen,
wie etwa Denkmale, in der Regel dem Bereich der die sich mit der Entgegensetzung von kulturwis-
staatlichen Erinnerungs- bzw. Geschichtspolitik senschaftlich versus psychologisch nur unzurei-
zuzurechnen. ›Geschichtspolitik‹ meint den öf- chend beschreiben lassen, stärker zusammenzu-
fentlichen Gebrauch der Geschichte durch Deu- denken. Hierfür gibt es wenige, aber dennoch
tungseliten. Sie ist kein Signum autoritärer oder aufschlussreiche Ansätze, die aufgegriffen und
diktatorischer Systeme, sondern Geschichtspoli- weiterentwickelt werden können. Ein Beispiel für
tik wird auch in pluralistisch verfassten Gesell- eine solche Kooperation stellt der Beitrag von
schaften als notwendige ›politisch-pädagogische‹ Barry Schwartz und Howard Schuman (2005)
Aufgabe erachtet und wahrgenommen. Ein be- dar. Schwartz gilt als einer der einflussreichsten
vorzugtes Feld findet die staatliche Geschichts- Adepten von Halbwachs im anglo-amerikani-
politik neben der Einrichtung und Gestaltung schen Sprachraum, der sich eingehend mit For-
von Gedächtnisorten (wie Gedenktagen, Mu- men nationaler Erinnerung auf der Ebene des
seen, Gedenkstätten, Denkmale etc.) beispiels- kulturellen Gedächtnisses beschäftigt hat. Zen-
weise im Bereich der schulischen Bildung als traler Untersuchungsgegenstand für Schwartz ist
politische Bildung. Diese politisch-kulturelle Di- die Erinnerung an den amerikanischen Präsiden-
mension staatlicher Erinnerung ist zu unterschei- ten Abraham Lincoln. Für seine diesbezügliche
den von der Vergangenheitspolitik, die sich stär- Analyse hält Schwartz fest, dass die Zahl der Iko-
ker auf die politisch-rechtlicher Ebene im Um- nen, Denkmale, Plätze, die in Erinnerung an den
gang mit der Vergangenheit und deren legislative Bürgerkriegspräsidenten geschaffen wurden, seit
Voraussetzungen bezieht. In dieses Handlungs- 1950 relativ konstant geblieben ist, während sich
feld fallen z. B. Akte der Bestrafung, Amnestie- Vorstellungen und Überzeugungen von der Rolle
rung und Entschädigung, die insofern gewichtige Lincolns in der amerikanischen Geschichte dra-
Bestandteile der Erinnerungskultur einer Gesell- matisch verändert haben. Schwartz und Schu-
schaft darstellen, als durch diese immer be- man haben versucht, diese Erkenntnisse für Fra-
stimmte Deutungen der Vergangenheit sanktio- gebogenerhebungen zu operationalisieren, um
niert bzw. negiert werden. auf diesem Wege erinnerungskulturelle Objekti-
vationen stärker an gegenwärtige, individuelle
Aneignungsweisen anzukoppeln.
Desiderate und Ausblick
Es gilt aber nicht nur die Ergebnisse aus beiden
Dieses Handbuch selbst ist Ausdruck einer ge- Forschungsrichtungen zusammenzudenken, son-
genwärtigen Bestandsaufnahme und Neuformie- dern auch kulturelle Praktiken und Medien in
rung des Forschungsfeldes kollektiver Erinne- Hinblick auf ihre (sozial-)psychologische Wirk-
rung. Ob dieses Feld zukünftig den Oberbegriff samkeit zu untersuchen. Dabei geht es nicht um
›Cultural Memory Studies‹ oder ›Social Memory die unzulässige Psychologisierung kollektiver
Studies‹ tragen wird, oder ob beide Begriffe ko- Phänomene, sondern etwa um die psycholgische
92 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Analyse von Emotionen im Film bzw. die emoti- Kommunikation nicht nur gefordert, sondern
onale Aneignung von Filmen. Dieses lange Zeit praktiziert wird: »Man kann sich nur unter der
von psychoanalytischen Ansätzen dominierte Bedingung erinnern, daß man den Platz der uns
Feld bietet gegenwärtig durch eine Neuausrich- interessierenden Ereignisse in den Bezugsrah-
tung auf Erkenntnisse der neurowissenschaftli- men des Kollektivgedächtnisses findet« (Halb-
chen Gedächtnisforschung neue Perspektiven wachs 1985, 361).
und Anknüpfungspunkte.
Für die Auseinandersetzung mit dem kommu- Literatur
nikativen Gedächtnis ist sicherlich eine neue Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erin-
Ebene der Tradierungsforschung notwendig (s. nerung und politische Identität in frühen Hochkultu-
ren [1992]. München 62007.
Kap. IV.6). Bisherige Studien waren stark auf
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskul-
identitätskonkrete Kommunikationen ausgerich- turen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005.
tet (wie lebensgeschichtliche Erzählungen oder – /Nünning, Ansgar (Hg.): Cultural Memory Studies.
Familiengespräche). Hier gilt es Verfahren zu An International and Interdisciplinary Handbook.
entwickeln, die die Aneignung von Medien des Berlin/New York 2008.
alltagsweltlichen Gedächtnisses (Talkshows, Zei- Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen
tungsberichte, Internet etc.) stärker transparent Bedingungen. Frankfurt a. M. 1985 (frz. 1925).
–: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1991 (frz.
machen, ohne dabei gleichzeitig die kollektiven 1950).
Bezugsrahmen wieder aus den Augen zu verlie- Jureit, Ulrike: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebens-
ren. Die interpersonale Ebene bezieht sich dabei geschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Kon-
nicht allein auf die imaginierten Gesprächspart- zentrations- und Vernichtungslager. Hamburg 1999.
ner bzw. ›imagined communities‹, die die indivi- Keppler, Angela: Tischgespräche. Über Formen kommu-
duelle Aneignung und Rekonstruktion so nach- nikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konver-
sation in Familien. Frankfurt a. M. 1994.
haltig prägen. Forscher und Forschungskontexte
Koselleck, Reinhart: Gebrochene Erinnerung? Deut-
bilden einen bedeutsamen, in der Regel nicht ex- sche und polnische Vergangenheit. In: Deutsche Aka-
plizierten Rahmen, der für die Analyse und das demie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2000. Göt-
Verständnis der Rekonstruktionsprozesse er- tingen 2001, 19–32.
schlossen werden sollte. Moller, Sabine: Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Er-
Die für die interdisziplinäre Gedächtnisfor- innerungskulturen und Familienerinnerungen an die
NS-Zeit in Ostdeutschland. Tübingen 2003.
schung zunehmend als Hauptherausforderung
Niethammer, Lutz (Hg.). Lebenserfahrung und kollekti-
apostrophierte Wirkungs- und Rezeptionsfor- ves Gedächtnis. Die Praxis der Oral History. Frankfurt
schung lässt sich vermutlich erst dann erfolgreich a. M. 1985.
bewältigen, wenn nicht allein diejenigen zusam- – /von Plato, Alexander/Wierling, Dorothee: Die volks-
mengebracht werden, die sich der Schlüsselkate- eigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der
gorie der Gedächtnisforschung verpflichtet füh- Industrieprovinz der DDR. Berlin 1991.
len, sondern auch der Austausch mit jenen Dis- Olick, Jeffrey K.: Collective Memory. The Two Cultures.
In: Sociological Theory 17 (1999), 333–348.
ziplinen intensiviert wird, die sich traditionell Schuman, Howard/Scott, Jacqueline: Generations and
mit Medien und Lernprozessen beschäftigen, die Collective Memory. In: American Sociological Review
sich aber nicht als Erinnerungsforscher definie- 54. Jg. (1989), 359–381.
ren. Die Frage etwa, wie Filme angeeignet und er- Schwartz, Barry/Schuman, Howard: History, Comme-
innert werden, ist so alt wie der Film selbst und moration, and Belief: Abraham Lincoln in American
wurde bereits zu Zeiten des Stummfilms in Hin- Memory 1945–2001. In: American Sociological Re-
view 70. Jg., 2 (2005), 183–203.
blick auf dessen Nutzbarkeit für organisierte Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline:
Lernprozesse empirisch erforscht. Diese For- »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holo-
schungsansätze werden nur dann nicht in Ver- caust im Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M.
gessenheit geraten und für die Erinnerungsfor- 6
2002.
schung nutzbar sein, wenn interdisziplinäre Sabine Moller
93

3. Das kulturelle Gedächtnis chen archivarischen Medien, symbolischen For-


men und Praktiken externalisiert sind und so
Nur wenige Themen haben während der letzten selbst objektivierte Formen der Kultur werden.
zwei Jahrzehnte in Wissenschaft, Öffentlichkeit Diese Arbeitsdefinition beruht weitgehend auf
und den Medien gleichermaßen Aufmerksamkeit den Beiträgen von Jan und Aleida Assmann, die
auf sich gezogen wie der Begriff des kulturellen als Begründer des Begriffs des kulturellen Ge-
Gedächtnisses. Bemerkenswert an der gegenwär- dächtnisses angesehen werden können. Zu Be-
tigen Popularisierung des Gedächtnisses ist, dass ginn der frühen 1980er Jahre erweiterten sie die
der Gedächtnis-Boom selbst zum Teil des kultu- einflussreichen Beiträge von Maurice Halbwachs,
rellen Gedächtnisses des späten 20. und frühen indem sie das kulturelle Gedächtnis als eine Me-
21. Jahrhunderts wird. Ungeachtet der Populari- takategorie bezeichneten, welche sowohl das
tät, oder vielleicht gerade deshalb, bleibt der Be- kommunikative wie das kollektive Gedächtnis
griff des kulturellen Gedächtnisses eher ungenau. umfasst. In einem grundlegenden Beitrag von
Wie aber der akademische Imperativ der Pro- 1988 definierte Jan Assmann das kulturelle Ge-
duktdifferenzierung verlangt, ist es genau diese dächtnis als »Sammelbegriff für alles Wissen, das
Unbestimmtheit des Begriffes des kulturellen Ge- im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesell-
dächtnisses, die eine Vielzahl von Disziplinen aus schaft Handeln und Erleben steuert und von Ge-
Sozialwissenschaft, den Geisteswissenschaften neration zu Generation zur wiederholten Ein-
und Neurowissenschaften angelockt hat. In eini- übung und Einweisung ansteht« (Assmann 1988,
gen Fällen bezieht sich das kulturelle Gedächtnis 9). Ein entscheidendes Merkmal des kulturellen
auf einen spezifischen Aspekt des Gedächtnisses Gedächtnisses ist, anders als bei anderen Formen
oder dient als eine übergreifende Kategorie, wäh- des Gedächtnisses (wie das kommunikative Ge-
rend er in den meisten anderen Fällen synonym dächtnis in Gruppen oder Familien), dass es des-
mit dem gleichermaßen mehrdeutigen Begriff sen Träger überlebt, da es in externalisierten Er-
des kollektiven Gedächtnisses gebraucht wird innerungen verankert ist. Im Gegensatz zum
(s. Kap. II.2). Ungeachtet der Unterschiede und ›kommunikativen Gedächtnis‹ (s. Kap. II.4), wel-
Kontroversen ist den meisten dieser Definitionen ches alltagsnah verfasst ist, zeichnet sich das kul-
die Neuordnung von Zeitlichkeiten gemeinsam. turelle Gedächtnis durch seine Alltagsferne aus.
Diese drehen sich häufig um eine präsentische Basierend auf Ritualen, materieller Kultur und
Bestimmung der Vergangenheit, die einem kol- wiederholten Bildern dient das kulturelle Ge-
lektiven Selbstverständnis dient. Dabei bevorzu- dächtnis als Grundlage für kollektives Selbstver-
gen sie typischerweise die Nation, schenken ihre ständnis. Übertragen auf institutionalisierte For-
Aufmerksamkeit aber auch zunehmend subnati- men der Sozialisation ist das kulturelle Gedächt-
onalen Analysekategorien wie beispielsweise eth- nis eng verbunden mit bestimmten Identitäten
nischen Minderheiten, dem Geschlecht oder an- und bedarf ideologischer Arbeit, um die wider-
deren Gruppen mit entgegengesetzten Erinne- sprüchliche und willkürliche Natur von Erinne-
rungsagenden. Trotz der fortdauernden kleinen rungen in eine stabile Form zu transformieren.
Unterschiede (oder des Narzissmus hinsichtlich Mit anderen Worten, das kulturelle Gedächtnis
dieser Unterschiede) stimmen die meisten Stu- wird in der Kultur objektiviert. Als solches ist es
dien den allgemeinen Merkmalen des kulturellen verkörpert, teilnehmend und im Wesentlichen
Gedächtnisses, wie sie in diesem Handbuch dar- eine Realisierung von Zugehörigkeit.
gestellt werden, zu: Es wird üblicherweise als in- Die Dauerhaftigkeit des kulturellen Gedächt-
tentionale, äußerst organisierte und größtenteils nisses beruht auf externen Medien und Instituti-
institutionalisierte mnemonische Manifestation onen, in die Erinnerungen und Wissen einge-
angesehen. Des weiteren dient es als eine Res- schrieben werden (z. B. Archive, Museen, Biblio-
source bzw. Quelle für die Gruppenidentität, die theken, s. Kap. III.6 und 7). Um diese Art der
auf Erinnerungen vertraut, die in unterschiedli- Erinnerung, welche einzelne Erfahrungen über-
94 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

schreitet, als generationsübergreifende langzei- punkt im größten Erinnerungsspeicher aller Zei-


tige Erinnerung aufrecht zu erhalten, bedarf es ten, dem Internet. Wohl ist das Medium die Mit-
äußerst institutionalisierter Aufbewahrungsorte. teilung selbst, aber mit der Verbreitung von
Nach Jan Assmann existiert das kulturelle Ge- Erinnerungstechniken und Websites gibt es nicht
dächtnis in zwei Modi: »einmal im Modus der nur eine Pluralisierung der Mitteilungen, son-
Potentialität als Archiv, als Totalhorizont ange- dern auch eine allumfassende Beschleunigung
sammelter Texte, Bilder, Handlungsmuster, und der Erinnerung was eine Differenzierung des kul-
zum zweiten im Modus der Aktualität, als der turellen Gedächtnisses nahelegt (s. Kap. III.15).
von einer jeweiligen Gegenwart aus aktualisierte Mit anderen Worten, Veränderungen in der
und perspektivierte Bestand an objektiviertem Kommunikation haben sowohl kognitive als auch
Sinn« (Assmann 1988, 13). Aleida Assmann politische Auswirkungen für die Fassungskraft
(2009) hat die Modalitäten, mit denen das Spei- des kulturellen Gedächtnisses. Schon Walter Ben-
chergedächtnis operiert, adressiert, indem sie die jamin beklagte, dass Erinnerungen, die durch die
eng verschlungene Beziehung zum Funktionsge- Kunst des Geschichtenerzählens übermittelt wur-
dächtnis für den Gruppenzusammenhang ausge- den, mit einer neuen Form der Kommunikation
arbeitet hat. Das archivarische Gedächtnis verän- ersetzt wurden – nämlich der Information. Diese
dert sich ständig, indem einige Objekte aktiv zir- Entwicklung hallt auch in den jüngsten Beiträgen
kuliert werden, so dass ein Kanon hergestellt über den Einfluss des digitalen Zeitalters auf das
wird, im Gegensatz zu denjenigen Erinnerungen, kulturelle Gedächtnis wider, wenn nämlich die
die im Archiv abgespeichert werden. Metaphern Erweiterung der externen Speicherkapazitäten,
wie ›Spuren‹ und ›Mitteilungen‹ komplementie- das heißt die Gedächtnisarchive, die menschli-
ren diese Unterscheidung. Der wesentliche Punkt chen Kapazitäten des Erinnerns übersteigen. Es
dieser Typologie ist, dass ihre sich ändernde Be- ist jedoch nicht nur die McLuhansche Qualität
ziehung, abhängig vom Zusammenspiel histori- dieser formalen Veränderungen, die Aufschluss
scher Zufälligkeiten und kommunikativen Mus- über die Wechselfälle des kulturellen Gedächtnis-
tern, die Konturen des kulturellen Gedächtnisses ses gibt. Noch sind die Probleme, die entschei-
umschreibt. denden Merkmale des kulturellen Gedächtnisses
Angesichts der Verbreitung von Gedächtnis- zu spezifizieren, lediglich eine Funktion der ana-
speichern und der begrenzten Kapazität des lytischen Trennung von anderen Formen des Ge-
menschlichen Gedächtnisses beobachten wir eine dächtnisses, insbesondere die veränderte Bezie-
zunehmende Externalisierung des Gedächtnisses hung zum kommunikativen Gedächtnis.
und somit einen Trend hin zu der Notwendigkeit
eines vergessenden und selektiven Gebrauchs
Die Historisierung des
von archivierten Erinnerungen. Infolgedessen ist
kulturellen Gedächtnisses und
es wichtig zu erkennen, ohne einem gewissen
seine charakteristischen Träger
technologischen Determinismus zu unterliegen,
dass das Medium selbst die Formen, die das kul- Es ist eher so, dass Komplexität und Multivalenz
turelle Gedächtnis annehmen kann, prägt. Die des kulturellen Gedächtnisses mit unterschiedli-
Entstehung mnemonischer Medien deutet auf chen epochalen Manifestationen (z. B. imperial,
eine grundsätzliche Veränderung von mündli- national, global) verbunden sind, welche durch
cher zu schriftlicher Übertragung hin. Letztere verschiedene historische Erfahrungen (z. B. die
bewegt sich schrittweise von einfachen Formen Nähe einer Generation zu einem bestimmten Er-
der Aufnahme zu komplexeren Indices, welche eignis) vermittelt werden, durch uneinheitliche
Skripte, Karteikarten und mechanische Graphen historische Entwicklungen (z. B. mehrfache,
sowie elektronische Methoden der Übermittlung gleichzeitige Modernen) und gleichzeitig pfadab-
umfassen. Neuere Entwicklungen von Erinne- hängige Zweckmäßigkeiten (z. B. landesspezifi-
rungstechniken finden ihren bisherigen Höhe- sche und kulturell bedingte Positionen gegenüber
3. Das kulturelle Gedächtnis 95

bestimmten Vergangenheiten). Um zu verstehen, Gruppenspezifisches Gedächtnis


wie die Balance dieser Faktoren die Transforma-
tion des kulturellen Gedächtnisses durchdringt, Die erste betrifft die spezifischen Merkmale der
tritt ein methodologischer Gestaltwechsel ein. mnemonischen Bezugsgruppe. »Religiöse, politi-
Sowohl die Salienz als auch die Geschmeidigkeit sche, wirtschaftliche Gesellschaften, Familien,
des kulturellen Gedächtnisses werden am besten Freundes- und Bekanntengruppen und selbst
mit dem mnemo-historischen Ansatz bemessen. ephemere Versammlungen in einem Salon, in ei-
In Übereinstimmung mit Jan Assmann (1998) nem Zuschauerraum, auf der Straße lassen die
geht es in der Erinnerungsforschung nicht um Zeit auf ihre Weise stillstehen oder ihre Mitglie-
eine Erforschung der Vergangenheit per se, son- der der Illusion erliegen, dass zumindest wäh-
dern eher darum, wie eine bestimmte Vergangen- rend einer bestimmten Zeitspanne in einer Welt,
heit erinnert wird. Die Vergangenheit ist hier die sich unaufhörlich wandelt, bestimmte Zonen
nicht nur abhängig von der Art der je gegenwär- eine relative Stabilität und ein relatives Gleichge-
tigen Instrumentalisierung – Geschichte dient wicht erworben haben, und dass sich in ihnen
den Zweckmäßigkeiten der Tagespolitik –, son- während einer mehr oder minder langen Periode
dern die Vergangenheit als solche wird durch die nichts grundlegendes geändert hat« (Halbwachs
Gegenwart erfunden, geformt und rekonstruiert. 1991, 125). Ein offensichtlicher, jedoch manch-
Wie Geschichte erinnert wird (und infolgedessen mal vernachlässigter Aspekt ist, dass Erinne-
mit der Zeit verzerrt wird) tritt als wichtigster Fo- rungspraktiken durch spezielle Gruppenmerk-
kus unseres analytischen Vorhabens hervor. Jan male und charakteristische Dispositionen gegen-
Assmann betont, dass das Wichtige nicht so sehr über bestimmten Vergangenheiten und Vergan-
die Faktizität der Erinnerung ist, sondern die Ak- genem im Allgemeinen vermittelt wird. Die
tualität. Aufmerksamkeit für diese Art der kulturellen Va-
Indem die Manifestationen des kulturellen Ge- lidierung, die bestimmte Gruppen temporären
dächtnisses als ein zufälliges Phänomen histori- Phänomenen selbst zuschreiben, wie beispiels-
siert werden, können wir gleichzeitig die Gründe weise dem Fortschritt, Wandel, der Innovation
für bestimmte Erinnerungskulturen verdeutli- oder Erinnerung ist demzufolge unverzichtbar.
chen und die Spezifität des kulturellen Gedächt- Die Frage nach der Größe der mnemonischen
nisses begreifen. Dieser prozessorientierte Ansatz Bezugsgruppe (z. B. generationell, familiär, eth-
zum kulturellen Gedächtnis legt nahe, dass »Ge- nisch, religiös, national etc.) bleibt. Claude Lévi-
dächtnis nicht einfach die Speicherung vergange- Strauss beispielsweise unterscheidet zwischen
ner Fakten [ist], sondern die fortlaufende Arbeit heißen und kalten Gesellschaften. Kalte Gesell-
rekonstruktiver Imagination. Die Vergangenheit, schaften sind durch ihr Verlangen gekennzeich-
mit anderen Worten, lässt sich nicht speichern, net »auf gleichsam automatische Weise die Wir-
sondern muss immerfort angeeignet und vermit- kung zu annulieren, die die historischen Faktoren
telt werden. Diese Vermittlung hängt ab von den auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben
Sinnbedürfnissen und Sinnrahmen eines gegebe- könnten« (Lévi-Strauss 2008, 270). Im Gegensatz
nen Individuums oder einer Gruppe innerhalb dazu interiorisieren heiße Gesellschaften »das
einer gegebenen Gegenwart« (Assmann 1998, historische Werden, um es zum Motor ihrer Ent-
34). Die Geschmeidigkeit und Zufälligkeit sind wicklung zu machen« (ebd.). Patrick Hutton
so zwei entscheidende Dimensionen des oben er- (1993) schlägt eine ähnliche konzeptionelle Paa-
wähnten Zusammenhangs von epochalen und rung vor, die sich darauf bezieht, wie sich die
technologischen Entwicklungen und den dazu- mnemonische Gemeinschaft etabliert, und argu-
gehörigen kulturellen Pfadabhängigkeiten. Im mentiert, dass die Geschichte selbst das Aufein-
Folgenden werden drei konzeptionelle Überle- andertreffen von zwei Momenten der Erinnerung
gungen, die ein mnemo-historischer Ansatz in durch Wiederholung und Rückbesinnung ver-
Betracht ziehen muss, kurz vorgestellt. mittelt: Ersteres bezieht sich auf tiefe, kulturelle
96 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Strukturen der Vergangenheit, welche unser ge- tion nach ein gewisses Maß an Abstraktion benö-
genwärtiges Verständnis fortlaufend unreflektiert tigt. Man kann von vermitteltem Vergessen spre-
informieren, letzteres bezieht sich auf unsere be- chen. Darüber hinaus ist die Immanenz dieser
wussten Versuche, die Vergangenheit in Verbin- Dynamik und die Signifikanz, die die Vergangen-
dung mit gegenwärtigen Bedürfnissen abzurufen. heit für eine Gruppe hat, nicht nur das Produkt
Mit dem Emporkommen des Nationalstaats und der historischen Relevanz und der geographi-
dessen globaler Diffusion werden heiße Gesell- schen Nähe, sondern auch das Ergebnis der tem-
schaften, die Wiederholung und Rückbesinnung porären Distanz zu den Ereignissen, die erinnert
miteinander verschmelzen, zu einem weit ver- werden. Dieser notwendige Übergang entspricht
breiteten Phänomen. dem Argument des unvermeidlichen Wandels
Die intensive Beschäftigung mit der Vergan- vom Konkreten zum Abstrakten. Das kulturelle
genheit selbst zeigt jedoch nicht, wie sich Gesell- Gedächtnis wandelt Geschichte in Narrative und
schaften ihrer Geschichte annähern. Man könnte verlagert die Aufmerksamkeit von empirischer
zum Beispiel argumentieren, dass Gesellschaften, (das heißt spezifischer) Geschichte hin zu erin-
die heiße Erinnerungen entfalten, nicht weniger nerter Geschichte (das heißt diejenige, die durch
geneigt sind, die Vergangenheit zu annullieren, Ritualisierung und andere Formen der Repräsen-
um Ausgleiche und Kontinuitäten zu errichten, tation produziert wird).
als diejenigen, die dazu neigen, den Bezug zum
Vergangenen zu minimieren. Dieser Ansicht fol-
Ungleichzeitigkeit
gend dient das kulturelle Gedächtnis dem Zweck
der Institutionalisierung von Erinnerungen einer Von Bedeutung für die Gedächtnisforschung ist
bestimmten historischen Vergangenheit, um kon- ein zweiter Aspekt, der sich mit der Frage be-
kurrierende Erzählungen zusammenzufassen. Es schäftigt, wie verschiedene Kulturen die Vergan-
geht hier nicht darum, diese Versuche der Nicht- genheit auf bestimmte Art und Weise verstehen,
beachtung als ein Gegenmittel für Erinnerung zu und bezieht sich auf Fragen der Ungleichzeitig-
betrachten. Das kulturelle Gedächtnis beinhaltet keit. In der akademischen Debatte ist zu be-
eher das Vergessen, da seine Fähigkeit, Massen- obachten, dass die zumeist westliche Konzeption
identifikation zu mobilisieren und konstituieren, des kulturellen Gedächtnisses bevorzugt wird.
größtenteils auf einem Prozess der Entkontextua- Wohl ist die Beschäftigung mit dem Gedächtnis
lisierung basiert, was wiederum einen Wechsel ein europäisches Phänomen, welches in den
von konkreten Erinnerungen hin zu abstrakter 1980er Jahren expandiert, und weitgehend durch
Erinnerung erfordert. Das heißt einen Schritt die verzögerte Reaktion auf die Gräueltaten des
weg von der konkreten (und spezifischen) Erfah- Zweiten Weltkrieges im Allgemeinen und des
rung hin zu einer abstrakteren (und universellen) Holocausts im Besonderen angetrieben wurde
Mitteilung. Dementsprechend können wir einen (Levy/Sznaider 2001). Nichtsdestoweniger be-
Wandel beobachten, der aus der Institutionalisie- steht die Notwendigkeit, den Begriff des kulturel-
rung des Gedächtnisses auf Kosten der Erinne- len Gedächtnisses zu entprovinzialisieren, da die-
rung besteht. Diese Unterscheidung zwischen ser regelmäßig in einer idealisierten Sequenz der
Gedächtnis und Erinnerung ist kein Zufall. Noch Moderne seinen Platz findet, welche unter ande-
kann dies auf die sogenannte Instrumentalisie- rem durch die Beziehung zur Vergangenheit und
rung von Erinnerungen reduziert werden. Das zur Tradition charakterisiert ist: sei es Ferdinand
kulturelle Gedächtnis schwankt zwischen dem Tönnies’ berühmte Unterscheidung von Gemein-
Konkreten und dem Abstrakten, und die ange- schaft und Gesellschaft oder eher konstruktivis-
deutete Entkontextualisierung wohnt dem Hand- tisch wie die »erfundene Tradition« von Eric
lungsablauf inne, von dem Erinnerungen ihre ri- Hobsbawm und Terrence Ranger. Ganz zu
tualisierte Stärke ableiten. Die Ritualisierung Schweigen von den linearen Annahmen, welche
hängt von der Vermittlung ab, welche der Defini- die sozialen und politischen Modernisierungs-
3. Das kulturelle Gedächtnis 97

theorien schon lange beeinflusst haben. Mit an- den gegenwärtigen Verhaltenspraktiken verein-
deren Worten, der Großteil der Literatur zum bar sind.
Gedächtnis arbeitet mit einer Konzeption der
Moderne, die eine bestimmte Universalität fest-
Zeitdiagnose und epochales Gedächtnis
schreibt und damit die partikularen Bedingun-
gen, durch die Erinnerungskulturen geformt Demgemäß betrifft die dritte konzeptionelle
werden, aus den Augen verliert. Sie teilen eine Überlegung eines mnemo-historischen Ansatzes
Neigung hin zu einer Moderne, die wenig empi- die epochalen Merkmale des kulturellen Ge-
rischen, geschweige denn, konzeptionellen Spiel- dächtnisses, die sich zwischen lokalen Bedingun-
raum für die Existenz von Ungleichzeitigkeiten gen und globalen Strömungen befinden. Welche
lässt. Statt eine Sicht des kulturellen Gedächtnis- mnemonischen Praktiken und die dazugehöri-
ses abzubilden, welche eine bestimmte Sequenz gen kulturellen Gedächtnisse überwiegen und
von Zeitlichkeiten voraussetzt, müssen wir un- kennzeichnen eine bestimmte Epoche und/oder
sere Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Kultur? Das kulturelle Gedächtnis ist kein zeitlo-
Beziehungen, in denen sich die zeitliche Triade ses Phänomen, sondern eines, das eng mit den
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmten kulturellen Merkmalen einer jeweili-
selbst manifestiert, lenken. gen Periode verknüpft ist. Die Renaissance und
Sich der Aufmerksamkeit für asynchronische insbesondere das 18. Jahrhundert werden weitge-
Merkmale der Ungleichzeitigkeit zu verpflichten, hend als der bewusste Anfangspunkt des kultu-
ist keine Frage von Kulturrelativismus sondern rellen Gedächtnisses angesehen. Während des
analytischer Pragmatismus. »What engenders größten Teils des 20. Jahrhunderts wurde das kul-
noncontemporeaneity is the advance of moder- turelle Gedächtnis als hegemoniales Streben des
nity itself, and the more rapidly the modern Nationalstaates nach dem Schmieden eines verei-
replaces the pre-modern, or the late modern re- nigten und vereinigenden Narrativs von der und
places the early modern, the more sizable für die Vergangenheit angesehen. Was passiert
amounts of noncontemporaneity get produced« mit der Zentralität des nationalen kulturellen Ge-
(Gross 2000, 142). Der enge Zusammenhang von dächtnisses, wenn ›periphere‹ oder ›marginale‹
verschiedenen historischen Erfahrungen und spe- Vergangenheiten das Zentrum durchdringen und
ziellen Gruppenorientierungen umschreibt Art legitime Aufmerksamkeit fordern? Während das
und Weise des kulturellen Gedächtnisses. David nationalstaatliche Gedächtnis ein bewusstes top-
Gross (ebd., 142 ff.) beschreibt drei Arten der down Bemühen darstellt, signalisieren das späte
zeitlichen Neuausrichtung: Zunächst die absolute 20. und frühe 21. Jahrhundert einen selbst-refle-
Ungleichzeitigkeit, die sich auf eine Vergangen- xiven Wendepunkt für die Artikulation des kul-
heit bezieht, die ausgelöscht worden ist. Diese turellen Gedächtnisses.
stellt eine verlorene Vergangenheit dar, von der Nichtsdestoweniger bleibt die Literatur zum
wir Fragmente besitzen, die in Museen aufbe- kulturellen Gedächtnis weitgehend dem Modell
wahrt werden und archäologischen Spekulatio- des Nationalstaats verschrieben. Die meisten so-
nen unterliegen, die jedoch keinen Einfluss auf ziologischen Ansätze sind beispielsweise weiter-
die gegenwärtige Erfahrung hat. Dann gibt es die hin von einem festgelegten Verständnis des Nati-
relative Ungleichzeitigkeit, welches eine Zeit ist, onalstaates durchdrungen, eine Konzeption, die
die ebenfalls vergangen ist, jedoch einige Spuren auf die Geburtsstunde der Soziologie inmitten
zurückgelassen hat, die noch immer hervorgeru- der Formierung der Nationalstaaten im 19. Jahr-
fen werden können (z. B. altmodische Benimm- hundert zurückgeht. Die territoriale Konzeption
regeln oder Ehrvorstellungen). Zuletzt spricht er einer nationalen Kultur – die Idee einer Kultur als
von der andauernden Ungleichzeitigkeit, die ab- ›verwurzelt‹ – war ironischerweise selbst eine Re-
solute Gedanken und Handlungsweisen aus der aktion auf die enormen Veränderungen im Zuge
Vergangenheit adressiert, die eindeutig nicht mit der Jahrhundertwende. Es war der bewusste Ver-
98 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

such, eine Lösung für das ›Entwurzeln‹ der lo- Ergebnis ist dabei immer unterschiedlich. Glo-
kalen Kulturen zu finden, das die Formierung bale und lokale (das heißt spezifisch kulturelle)
von Nationalstaaten notwendigerweise mit sich Werte konstituieren sich wechselseitig. Es kann
brachte. Die Soziologie verstand diese neuen nur durch historische Analysen gezeigt werden,
Symbole und gemeinsamen Werte, die vor allem wo genau wir die konzeptionellen und empiri-
durch die Konsolidierung des kulturellen Ge- schen Grenzen des Lokalen (z. B. des Nationalen,
dächtnisses vermittelt wurden, indem Verbin- Regionalen) ziehen können.
dungen zu grundlegenden Vergangenheiten eta-
bliert wurden, als ein Mittel zur Integration in
Fragmentierung und Pluralisierung des
eine neue Einheit. Der Erfolg dieser Perspektive
kulturellen Gedächtnisses
kann darin gesehen werden, dass man den Natio-
nalstaat nicht länger als Projekt und Konstrukt Die Formation des kosmopolitischen Gedächt-
ansieht, sondern als etwas Natürliches. nisses schließt die nationale Perspektive nicht
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, aus, sondern übersetzt die nationale Identität in
dass globale Interdependenzen mnemonische eine von mehreren Optionen einer kollektiven
Praktiken transformieren, indem sie ›nationale Identifikation. In diesem Sinne sollte eine verall-
Zeit/Vergangenheit‹ als affirmative und umstrit- gemeinernde Kritik eines methodologischen Na-
tene Ressourcen umgestalten. Zu Beginn des 21. tionalismus nicht als Widerspruch zu der oben
Jahrhunderts wird das flächendeckende Ver- genannten Verpflichtung, sich den kulturell-spe-
ständnis von Kultur durch die Entkopplung von zifischen Dimensionen der Praktiken des kultu-
Nation und Staat im Rahmen des entstehenden rellen Gedächtnisses zu widmen, verstanden wer-
kosmopolitischen Gedächtnisses herausgefordert den. Die kosmopolitische Wende regt eher dazu
(Levy/Sznaider 2001). Kosmopolitische Gedächt- an, bestimmte Orientierungen gegenüber der
nisse beziehen sich auf einen Prozess, der die Vergangenheit vor dem Hintergrund der globa-
Aufmerksamkeit vom Rahmenwerk des territori- len Gedächtnislandschaft neu zu bewerten. Das
alen Nationalstaates, welches üblicherweise mit bedeutet nicht, dass das kulturelle Gedächtnis
dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses asso- nicht mehr innerhalb des Nationalstaates artiku-
ziiert wird, in eine andere Richtung lenkt. Statt liert werden kann, jedoch verfehlen die Fix-
eine Kongruenz von Nation, Territorium und punkte, die die politisch-kulturellen Bestrebun-
Staatsorganisation vorauszusetzen, basieren kos- gen des europäischen Nationalstaates reflek-
mopolitische Gedächtnisse auf nationenübergrei- tieren, genau die Art der formenden und
fenden Ausdrucksweisen, tragen auch zu diesen hegemonialen Macht, die diese während des 19.
bei und überschreiten dabei territoriale und lin- Jahrhunderts der Nationalstaatsformierung und
guistische Grenzen. Der ›nationale Container‹ ihrer Konsolidierung während der ersten Hälfte
wird langsam geknackt, was nicht das Auslöschen des 20. Jahrhunderts genossen haben. Stattdessen
von nationalen oder ethnischen Gedächtnissen beobachten wir eine Pluralisierung des kulturel-
impliziert, sondern eher deren Transformation. len Gedächtnisses, sowohl in empirischer Hin-
Sie existieren weiterhin, aber Globalisierungspro- sicht als auch mit Blick auf dessen normative Va-
zesse bedeuten auch, dass unterschiedliche natio- lidierung, was den Weg für eine Fragmentierung
nale Gedächtnisse einer gemeinsamen Struktu- des kulturellen Gedächtnisses, welches nicht län-
rierung unterworfen sind. Das kulturelle Ge- ger dem Nationalstaat exklusiv vorbehalten ist,
dächtnis beginnt sich gemäß der gemeinsamen geebnet hat. Die interpretative Schlüsselfrage ist
Rhythmen und Periodisierungen zu entwickeln hier die Transition vom heroischen Nationalstaat
und kombiniert dabei bereits vorhandene Ele- zu einer Form von Staatlichkeit, die interne und
mente zu einer neuen Form. Das neue, globale externe Legitimität durch die Unterstützung von
Narrativ muss jeweils mit den alten, nationalen skeptischen Narrativen etabliert und dabei die
Narrativen zusammengeführt werden und das Art der grundlegenden, quasi-mythischen Ver-
3. Das kulturelle Gedächtnis 99

gangenheiten herausfordert, die zuvor als genera- hin zu einem ungleichzeitigen und fragmentier-
tionsübergreifende Fixpunkte gewirkt haben. ten kulturellen Gedächtnis.
Diese post-heroischen Manifestationen der Staat-
lichkeit basieren auf einem kritischen Umgang
Private und öffentliche Vermittlungsebenen
mit vergangenen Ungerechtigkeiten, die sich un-
ter anderem in der Verbreitung von historischen Die Analyse des kulturellen Gedächtnisses ver-
Kommissionen und der aktiven Rolle, die Men- bleibt in synchronen und diachronen Imperati-
schenrechtsorganisationen in der öffentlichen ven, die die wandelnden Vermittlungsebenen von
Debatte einnehmen, zeigt. privater und öffentlicher Erinnerung begrenzen,
Diese Transformation des kulturellen Ge- was größtenteils ein unzureichend analysiertes
dächtnisses bezieht sich auf die Fragmentierung Verhältnis darstellt. Es muss an dieser Stelle wie-
von Erinnerungen und deren jeweilige Privatisie- derholt werden, dass die Trennung des öffentlich-
rung, ein Prozess, der sich selbst in der wandeln- kulturellen und privat-kommunikativen Ge-
den Beziehung von Gedächtnis und Geschichte dächtnisses vor allem eine Trennung analytischer
manifestiert. Während der letzten zwei Dekaden Natur ist. Während die analytische Trennung of-
konnten wir die Entstehung der Erinnerungsge- fensichtlich ein notwendiges Instrument ist, um
schichte beobachten (Diner 2003). Der Unter- zwischen spezifischen Erinnerungspraktiken un-
schied zu konventionellen historischen Narrati- terscheiden zu können, werfen die Unterschei-
ven ist durchaus aufschlussreich. Geschichte ist dungen selbst eine Reihe von kritischen Fragen
eine detaillierte Idee einer zeitlichen Sequenz, die auf. Statt einen spezifischen Verbindungsmodus
eine gewisse Form der (nationalen) Entwicklung zwischen dem kommunikativen und dem kultu-
bildet. Erinnerung, auf der anderen Seite, stellt rellen Gedächtnis vorauszusetzen, müssen wir
die Koexistenz der gleichzeitig zeitüberschreiten- das Verhältnis selbst untersuchen. Welche Aus-
den Vielzahl von Vergangenheiten dar. (Natio- wirkung auf die Vermittlungsebenen dieser zwei
nale) Geschichte entspricht dem Telos der Mo- Modalitäten haben Veränderungen in Form und
dernität (als eine Art der säkularisierten bür- Inhalt von öffentlichen und privaten Erinnerun-
gerlichen Religion). Die Erinnerung löst diese gen? Und welche Implikationen haben diese ver-
Sequenz auf, was einen konstitutiven Teil der Ge- änderten Vermittlungsebenen für das Verstehen
schichte darstellt. ›Erinnerungsgeschichte‹ impli- des kulturellen Gedächtnisses?
ziert die Gleichzeitigkeit des Phänomens und ei- Harald Welzer und seine Mitarbeiterinnen
ner Vielzahl von Vergangenheiten. ›Erinnerungs- (2002) bieten einige aufschlussreiche Beobach-
geschichte‹ ist eine spezielle Form des kulturellen tungen zu diesem Verhältnis, indem sie das kul-
Gedächtnisses, welches sich von der durch den turelle Gedächtnis und dessen private Eignung
Staat unterstützten und den Staat unterstützen- als zwei voneinander abhängige Facetten begrei-
den nationalen Geschichte wegbewegt. Das zuvor fen. Sie bewerten diese Punkte der Vermittlungs-
angestrebte Monopol des Staates, kollektive Ver- ebene als kommunikative Situationen, in denen
gangenheit zu formen, ist der Fragmentierung politisch und kulturell auffällige Wahrnehmun-
der Erinnerung durch private, individuelle, wis- gen der Vergangenheit verhandelt werden. Das
senschaftliche, ethnische und religiöse Akteure kulturelle Gedächtnis wird verstanden als einer-
gewichen. Der Staat spielt selbstverständlich wei- seits ein wissensbasiertes öffentliches Lexikon
terhin eine wichtige Rolle im Hinblick darauf, (bestehend aus offizieller Geschichte, Archiven
wie wir Geschichte erinnern, aber er teilt dieses und habituell ritualisierten Erinnerungsprakti-
Feld der Sinnbildung nun mit einer Menge ande- ken) und andererseits der emotionalen Salienz
rer Spieler. Das zentrale Ergebnis, das von dieser des privaten Albums (bestehend aus emotionalen
kurzen Darstellung abgeleitet werden kann, ist und identitätsbezogenen Dimensionen). Dem-
der Wandel der Annahme homogener Zeiten und entsprechend gibt es einen Unterschied zwischen
eines hegemonialen kulturellen Gedächtnisses dem kognitiven Wissen über Geschichte und der
100 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

emotionalen Perzeption der Vergangenheit. Diese nicht nur berücksichtigen, dass es möglicherweise
Unterscheidung unterliegt dem Anspruch, dass umstrittene und sogar oppositionelle Lesarten
private Kommunikation (in Familien und klei- gibt, sondern dass eben dieser Kontext der Rezep-
nen, signifikanten Gruppen) sowohl ein Rah- tion (z. B. Familie, Schule, Peergroup) sowohl für
menwerk dafür darstellt, wie ein bestimmtes öf- Inhalt und Modus der Aneignung entscheidend
fentliches Lexikon angeeignet wird, als auch ist (vgl. Welzer u. a. 2008). Es gibt einen bemer-
gleichzeitig dafür, wie ein privates Album zusam- kenswerten Hinweis darauf, dass oftmals das, von
mengesetzt und erzählt wird. Während das Lexi- dem Eliten glauben, es sei Bestandteil der öffentli-
kon einen Wissensfundus darstellt, ist das Album chen Konversation, in der Tat großen Teilen der
Quelle für Identität und Sicherheit. Familien als Bevölkerung unbekannt ist. Dieser mnemonische
mnemonische Bezugsgruppe haben ein anderes ›Analphabetismus‹ setzt sich aus den bereits er-
historisches Bewusstsein, verschiedene Bilder der wähnten unterschiedlichen Arten zusammen, wie
Vergangenheit und andere Interpretationsmus- Erinnerungen aufgenommen werden, vor allem
ter, als wir von der vorherrschenden Symbolik hinsichtlich der Geschwindigkeit und Vergäng-
des dominanten kulturellen Gedächtnisses er- lichkeit des kulturellen Gedächtnisses im digita-
warten würden. Sogar dort, wo das Inventar des len Informationszeitalter.
Lexikons weitgehend bekannt ist, bleibt dessen Was größtenteils im Bereich der Memory Stu-
Rezeption größtenteils eine Funktion dafür, wie dies im Allgemeinen und in der Untersuchung
es seinen Nachhall in den narrativen Anforde- des kulturellen Gedächtnisses im Besonderen
rungen der Familiengeschichten und ihrer Not- fehlt, sind genaue methodologische Werkzeuge,
wendigkeit, kognitive Dissonanzen zu vermei- die die Aspekte der Rezeption untersuchen. An-
den, findet. Der Schlüsselmoment ist hier, dass gesichts der oben erwähnten semiotischen Über-
sich nicht nur ›öffentlich‹ und ›privat‹ wechsel- legenheit gibt es eine Trennung zwischen der ge-
seitig konstituieren, sondern dass die Punkte der setzten Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses
Vermittlung selbst die Formation des kulturellen und dem historischen Bewusstsein derzeitiger
Gedächtnisses prägen. Kurz gesagt, die typologi- Kollektive. »This methodological problem is even
sche Unterscheidung zwischen ›öffentlich‹ und enhanced by the metaphorical use of psychologi-
›privat‹ hat analytische Vorzüge, aber der Grad cal and neurological terminology, which misrep-
der Vermittlungsebene muss historisch korrekt resents the social dynamics of collective memory
sein: insbesondere angesichts der Transformation as an effect and extension of individual, autobio-
von Öffentlichkeit und des Entstehens von indi- graphical memory« (Kansteiner 2002, 179). Mit
vidualisierteren Identitätspolitiken. Genauer ge- anderen Worten, die Strategien der Repräsenta-
sprochen können wir eine Pluralisierung be- tion sind nicht identisch mit den Fakten der Re-
obachten, die unter anderem von der Medialisie- zeption. Dies hat konzeptionelle und methodolo-
rung und Privatisierung angetrieben wird. gische Konsequenzen für die empirische Erfor-
schung des kulturellen Gedächtnisses. Kansteiner
z. B. schlägt vor, die Repräsentation und Rezep-
Ausblick und Desiderata
tion zu verbinden, indem der Komplexität der
Eine wesentliche methodologische Lücke in der kulturellen Produktion und des Konsums mehr
Analyse des kulturellen Gedächtnisses bezieht Aufmerksamkeit geschenkt wird, da diese von
sich auf die implizite Idee, dass es eine Dominanz den pfadabhängigen Zufälligkeiten von Traditio-
bestimmter Repräsentationen gibt, während es nen und eigennützigen Konsummustern um-
aber tatsächlich so ist, dass was, wie und von wem schrieben werden. Um dies zu erreichen, schlägt
erinnert wird, eine Frage der Verhandlung ist. Im er die Übernahme von Methoden aus den Kom-
Gegensatz zu vielen Studien, die dazu neigen, die munikationswissenschaften vor, die die Medien-
dominante Lesart des offiziellen kulturellen Ge- rezeption schon lange untersuchen. Es handelt
dächtnisses als gegeben anzusehen, sollten wir sich dabei nicht nur um eine Forschungslücke,
3. Das kulturelle Gedächtnis 101

sondern es ist auch aufgrund der oben erwähnten dächtnis der zeitgenössischen west-europäischen
Transformationen im kulturellen Gedächtnis – Staaten durch die Auseinandersetzung um solche
und hier vor allem Fragmentierung und Plurali- Fixpunkte gekennzeichnet. Was wäre der Fix-
sierung, welche durch technologische Verände- punkt des Gedächtnisses in Deutschland? Kön-
rungen aufrechterhalten werden – notwendig, nen wir von einem Fixpunkt des deutschen kul-
diese Studien in den Vordergrund zu stellen. turellen Gedächtnisses sprechen? Gibt es so etwas
Das kulturelle Gedächtnis mit einem mnemo- wie ein deutsches kulturelles Gedächtnis, in dem
historischen Ansatz zu untersuchen, hat außer- Sinne, dass politische Kulturen bestimmte Wege
dem den Vorteil, diese Entwicklungen aufzugrei- haben, sich mit der Vergangenheit zu beschäfti-
fen und die konzeptionellen Instrumente für die gen? Das kulturelle Gedächtnis kann so als analy-
epochalen und gruppenspezifischen Dynamiken tisches Prisma dienen, wie Kollektive ihre Ver-
des kulturellen Gedächtnisses anzupassen. Dies gangenheit organisieren und erfahren. Darüber
ist insbesondere für die Neubewertung von Fix- hinaus ist das kulturelle Gedächtnis eine Mani-
punkten zentral, die so essentiell für das kultu- festation, wie Erinnerung nicht nur die Vergan-
relle Gedächtnis und ihre schnelle Veränderung genheit mit einbezieht, sondern gerade die Be-
im Kontext von äußerst reflexiven und fragmen- dingungen für das Entstehen von Vergangenem
tierten Erinnerungskulturen sind. Angesichts produziert. Außerdem gibt es keinen einzelnen
dieser Überlegungen ist es fraglich, ob moderne Referenzpunkt, da singuläre Erinnerungen und
Gesellschaften die gleiche Art von Fixpunkten Erinnerungen an Singularität einer Erinnerungs-
haben, an die Jan Assmann dachte, als er das an- kultur unterworfen ist, in der das kulturelle Ge-
tike Ägypten fokussierte. Dieser Ansicht nach hat dächtnis äußerst reflexiv ist.
das kulturelle Gedächtnis »seine Fixpunkte, sein
Horizont wandert nicht mit dem fortschreiten- Literatur
den Gegenwartspunkt mit. Diese Fixpunkte sind Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wan-
schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, de- del des kulturellen Gedächtnisses. München 42009.
ren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle
Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kom- Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und
munikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19.
wachgehalten wird« (Assmann 1988, 12). Den- –: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur.
München 1998.
noch ist Assmann sich der Komplexität von un-
Diner, Dan: Gedächtniszeiten. Über Jüdische und andere
terschiedlichen Zeitlichkeiten und der interakti- Geschichten. München 2003.
ven Dimensionen, denen sie untergeordnet sind, Gross, David: Lost Time: On Remembering and For-
durchaus bewusst. »Ereignisse leben im kollekti- getting in Late Modern Culture. Amherst 2000.
ven Gedächtnis fort, oder sie werden vergessen. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frank-
[...] Der Grund für dieses ›Fortleben‹ in der Erin- furt a. M. 1991 (frz. 1950).
Hutton, Patrick H.: History as an Art of Memory. Han-
nerung liegt in der fortdauernden Relevanz die-
nover (USA) 1993.
ser Ereignisse und Unterscheidungen. Diese Re- Kansteiner, Wulf: Finding Meaning in Memory: A Me-
levanz kommt ihnen jedoch nicht von ihrer his- thodological Critique of Collective Memory Studies.
torischen Vergangenheit zu, sondern von einer In: History and Theory 41,2 (2002), 179–197.
fortschreitenden und sich stetig wandelnden Ge- Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt a. M.
genwart, die an der Erinnerung dieser Ereignisse 2008 (frz. 1962).
und Unterscheidungen als wichtigen Fakten fest- Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im Globalen
Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2001.
hält« (Assmann 1998, 28). Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline:
Angesichts der bereits erwähnten unklaren »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holo-
Grenzen des privaten und öffentlichen Gedächt- caust im Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M.
6
nisses und dem Niedergang eines vereinigenden 2008.
heroischen Hauptnarrativs, ist das kulturelle Ge- Daniel Levy/Übers. Corinne Heaven
102 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

4. Das kommunikative Diese eminente Rolle von Kommunikation in


Gedächtnis der Erfahrungsbildung zeigt, dass Gedächtnis
und Erinnerungen vielfältig und nachhaltig kom-
munikativ geprägt sind. So hängt die Entwick-
Wenn sich Menschen erinnern, konstruieren sie lung eines kohärenten autobiographischen Ge-
ihre Erinnerungen aus mehr oder weniger frag- dächtnisses bei Kindern wesentlich davon ab, in
mentarischen Eindrücken und Informationen. welcher Art und wie häufig Eltern mit ihren Kin-
Wenn wir uns beispielsweise an den letzten Urlaub dern gemeinsam erinnern (s. Kap. I.3). Grundle-
oder das erste Gespräch mit einer neuen Mitarbei- gende menschliche Gedächtnisleistungen werden
terin erinnern, so rufen wir nicht einfach zum von Beginn an durch Kommunikation gefördert
Zeitpunkt der Ereignisse aufgezeichnete und un- oder gar ermöglicht. Die Betonung des kommu-
verändert aufbewahrte Informationen ab. Erinne- nikativen Charakters des menschlichen Gedächt-
rungen sind temporäre Konstruktionen, die er- nisses (z. B. Welzer 2002) ist vor dem Hinter-
heblich vom Kontext ihres Abrufs geprägt sind. Sie grund dieser und weiterer Befunde zu verstehen,
entstehen aus der Interaktion zwischen einem von denen einige im Folgenden skizziert werden.
konstruktiv erinnernden Individuum und dessen Ansätze zur Analyse der kommunikativen Di-
Umwelt. Erinnerungen können daher mehr oder mension von Gedächtnis und Erinnerung stam-
weniger große Abweichungen von dem zu erin- men aus verschiedenen Disziplinen, so etwa der
nernden Ereignis aufweisen. Neben Prozessen des Kultur- und Frühgeschichte (Assmann 2007), der
Informationsverlusts (Vergessen) können ver- Soziologie (s. Kap. IV.3), der Literaturwissen-
schiedene qualitative Abweichungen zwischen ur- schaft (Neumann 2005; s. Kap. IV.4) – der Kultur-
sprünglicher Erfahrung und dem späteren Abruf psychologie sowie der Sozial- und Kogni-
auftreten, z. B. Vereinfachungen, Akzentuierun- tionspsychologie (s. Kap. I.2). Die Bildung und
gen oder gar Verzerrungen und Anreicherungen Veränderung von Erinnerungen in der Kommu-
mit neuen Informationen (s. Kap. II.1). nikation stellt ein Untersuchungsfeld dar, das sich
Diese Eigenschaften von Erinnerungen tragen auf ausgezeichnete Weise für eine Integration von
dazu bei, dass sie in Kommunikation ge- und ver- Ansätzen aus der Gedächtnis- und der Sozialpsy-
formt, geprägt und verändert werden können. chologie eignet. Die Gedächtnispsychologie be-
Kommunikation ist in der Lebenswelt und Ent- schäftigt sich mit kognitiven Prozessen, die der
wicklung von Menschen, einer oft als ›ultrasozial‹ Veränderung und Verzerrung von Gedächtnis
bezeichneten Spezies, allgegenwärtig. So verbrin- und Erinnerungen zugrunde liegen, z. B. der feh-
gen Menschen einen Großteil ihrer wachen Le- lerhaften Attribution (Zuordnung) von abgerufe-
benszeit damit, aktiv oder passiv, als Sprecher nen Informationen zu ihren Quellen (s. Kap. I.2).
oder Rezipienten, an Kommunikation beteiligt Einflüsse auf individuelles Erleben und Verhal-
zu sein. Eine Tagebuchstudie, in denen die Teil- ten, die auf den Kontakt und Austausch mit an-
nehmerinnen zeitnah bemerkenswerte Ereignisse deren Menschen, auf interpersonelle Kommuni-
notierten, zeigte beispielsweise, dass 62 % dieser kation zurückgehen, sind ein klassisches Thema
Ereignisse bereits bis zum Ende desselben Tages der Sozialpsychologie. Nach Allports oft zitier-
in irgendeiner Form kommuniziert wurden (Pa- tem Diktum ist der Einfluss der tatsächlichen
supathi u. a. 2009). Der Anteil der Kommuni- oder imaginierten Anwesenheit Anderer auf
kation steigt offenbar mit zunehmender Bedeu- Denken, Fühlen und Verhalten von Individuen
tung vergangener Erfahrungen. Etwa 90 % der der Gegenstand der Sozialpsychologie.
Erfahrungen, die Menschen (Frauen ebenso wie Der vorliegende Gegenstandsbereich stellt so-
Männer) als besonders emotional erleben, ver- mit eine Schnittstelle par excellence zwischen
trauen sie innerhalb weniger Tage anderen an – der Gedächtnis- und der Sozialpsychologie dar.
und das gleichermaßen in verschiedenen Kultu- Eine Integration der Ansätze ist jedoch, zum Teil
ren (Rimé u. a. 1991). aufgrund spezifischer Forschungstraditionen
4. Das kommunikative Gedächtnis 103

und wissenschaftshistorischer Entwicklungen, mationsfluss primär von der sozialen Umwelt hin
lange Zeit nicht geleistet worden. Die vereinzel- zum beeinflussten Individuum.
ten Arbeiten aus den 1980er Jahren zu sozio- Wie so oft in der psychologischen Forschung
kommunikativen Aspekten von Gedächtnisver- spielte auch bei der Untersuchung dieser Ein-
fälschung, z. B. zu Personenmerkmalen (v. a. flüsse die Methodenentwicklung eine wichtige
Glaubwürdigkeit) von Falschinformationsquel- Rolle. Besonders einflussreich war das soge-
len oder zum Einfluss von Gruppen auf die Erin- nannte Paradigma nachträglicher Falschinforma-
nerungsqualität von Gruppenmitgliedern, fan- tion (Loftus 1979), das entwickelt wurde, um die
den zunächst keine breitere Resonanz in der Beeinflussbarkeit von Erinnerungen durch sub-
gedächtnispsychologischen Community. So kon- tile Unterstellungen oder verbale Berichte un-
statierten noch vor wenigen Jahren Henry Roe- wahrer Begebenheiten zu untersuchen. In einer
diger und Kathleen McDermott (2000, 157) in ersten Phase wird Versuchspersonen ein Ereig-
ihrem Beitrag zu einem der neueren Standard- nis, beispielsweise ein Autounfall oder ein Ver-
werke zur Gedächtnispsychologie: »Ein For- brechen, dargeboten (häufig per Videofilm oder
schungsbereich, dem bisher wenig Aufmerksam- einer Bildsequenz); in einer zweiten Phase erhal-
keit gewidmet wurde, ist der Einfluss sozialer ten die Versuchspersonen nachträgliche Infor-
Faktoren auf das individuelle Gedächtnis« mationen zu dem Ereignis (z. B. in Form eines
(Übers. G. E.). Berichts), die einige fälschliche, also nicht im
Ausgehend von der gängigen Unterscheidung Zielereignis enthaltene, Details oder Objekte um-
zwischen Produzenten- und Rezipientenrolle in fasst; schließlich erfolgt nach einem mehr oder
vielen Kommunikationsmodellen setzt der Bei- weniger langen Behaltensintervall in der dritten
trag zwei Schwerpunkte. Im ersten Hauptteil geht Phase ein Test für Erinnerungen an das Zielereig-
es um Kommunikationseinflüsse auf das Ge- nis. Der Falschinformationseffekt zeigt sich da-
dächtnis von Rezipienten, d. h. Einflüsse, bei de- rin, dass nachträgliche Informationen, die nicht
nen der Informationsfluss primär von der sozia- im Zielereignis zu sehen waren, signifikant häufi-
len Umwelt hin zum beeinflussten Individuum ger berichtet werden als Informationen in einer
verläuft. Im zweiten Hauptteil stehen Einflüsse geeigneten Kontrollbedingung.
des Kommunikationskontexts auf die Produzen- Daran zeigt sich, dass die Vertrauenswürdigkeit
ten bzw. Sprecher im Mittelpunkt. der Quellen nachträglicher Falschinformation
eine wichtige Rolle bei der Beeinflussung von Er-
innerungen spielt: Wenn die Quelle unglaubwür-
Klassische Kommunikationseffekte:
dig erscheint oder diskreditiert ist, sind Versuchs-
Einflüsse auf das Gedächtnis von
personen in der Lage, sich in einem gewissen
Rezipienten
Ausmaß gegen eine Beeinflussung zu wehren. Ein
Seit etwa Mitte der 1990er Jahre ist im Bereich kognitiver Prozess, der einen erfolgreichen Wi-
der Gedächtnispsychologie eine nennenswerte derstand gegen Falschinformationseinflüsse er-
Zunahme der Untersuchung sozialer und kom- laubt, ist offenbar strenges Source Monitoring
munikativer Faktoren von Gedächtnisbildung (Johnson u. a. 1993), d. h. eine sorgfältige Prü-
und -verfälschung zu verzeichnen (für einen fung möglicher Erinnerungen auf quellendia-
Überblick vgl. Weldon 2001). Bei der in diesen gnostische Merkmale (Zielereignis vs. nachträg-
Arbeiten untersuchten Form des Einflusses stam- liche Informationen) zum Zeitpunkt des Abrufs
men die beeinflussenden Informationen aus der (Echterhoff u. a. 2005).
sozialen Umwelt, also – mehr oder weniger un- Aus vielfältigen Alltagserfahrungen wissen
mittelbar – von anderen Personen. Wie in der wir, dass gerade das Nichtgesagte besondere Be-
klassischen sozialpsychologischen Forschung zu deutung oder Einfluss haben kann. D.h. Erinne-
Konformität oder Persuasion (Überredung) ver- rungen von Rezipienten können nicht nur durch
läuft in diesen Untersuchungsansätzen der Infor- Informationen anderer beeinflusst werden, son-
104 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

dern auch durch deren Schweigen und Auslas- Einflüsse auf Erinnerungen von Sprechern
sungen. Dass nicht geübtes (vs. geübtes) Material während und nach der Kommunikation
unter sonst gleichen Bedingungen weniger gut
abgerufen wird, ist wohlbekannt. William Hirst Natürlich unterliegen nicht nur Erinnerungen
und Kollegen (Cuc u. a. 2007) gingen über diese von Rezipienten den gerade skizzierten »klassi-
wenig überraschende Einsicht hinaus, indem sie schen« Einflüssen von Kommunikation. Auch
Belege für die folgende These fanden: Informati- die Erinnerungen von Produzenten bzw. Spre-
onen zu einem Aspekt A innerhalb einer Episode, chern können durch die Kommunikationssitua-
die ein Sprecher bei einer ersten Erinnerungs- tion, in der sie auf vergangene Erfahrungen Be-
runde selektiv ausgelassen hat, werden später von zug nehmen, geprägt und verändert werden. Ein-
Zuhörern noch weniger erinnert als Informatio- flüsse können während der Kommunikation
nen zu einem Aspekt B, über den sich der Spre- auftreten, z. B. durch die Anpassung von Erinne-
cher gar nicht geäußert hat. Der Erinnerungsver- rungen an die Merkmale eines bestimmten Ge-
lust (die Vergessensquote) der Zuhörer ist größer, sprächspartners (z. B. Pasupathi u. a. 1998). Aber
wenn die zuvor vom Sprecher ausgesparten (nicht auch Nachwirkungen von Kommunikation auf
berichteten) Informationen mit den berichteten Gedächtnis und Erinnerung sind möglich: So
Informationen in Beziehung stehen bzw. assozi- können kommunizierte Informationen nachfol-
iert werden (z. B. durch Zugehörigkeit zum sel- gende sprecherseitige Erinnerungen und Ge-
ben Thema oder zur selben Erfahrungsepisode) dächtnisrepräsentationen zum Kommunikations-
als wenn kein solcher Bezug bestand. gegenstand beeinflussen (z. B. Echterhoff u. a.
Für das skizzierte gemeinsame Vergessen von 2009).
Sprechern und Zuhörern spielt es keine Rolle, ob Diese letztere Form von kommunikativen Ein-
die Sprecher Informationen absichtlich oder un- flüssen, also die Nachwirkungen der Kommuni-
absichtlich (z. B. aufgrund mangelnden eigenen kation von vergangenen Erfahrungen auf die Er-
Erinnerungsvermögens) weglassen. Gleichwohl innerung an diese Erfahrungen, kann theoriege-
lassen sich Implikationen für eine gezielte Beein- schichtlich verortet werden. Die Beschäftigung
flussung der Gedächtnisbestände von Rezipien- mit solchen Einflüssen hat eine lange Tradition,
ten ableiten: Nehmen wir an, eine Gruppe von die bis in die antike Philosophie zurückreicht
Freunden auf Urlaubsreise nimmt aufgrund einer (z. B. Platons Phaidon-Dialog, s. Kap. IV.2). Einen
fehlerhaften Routenplanung eines Gruppenmit- Meilenstein der neueren Forschung zu Sprach-
glieds einen längeren Umweg, bei dem sie auf- effekten auf Kognition bilden die populären Ar-
grund der Verzögerung von einem Gewitterregen beiten von Edward Sapir und seinem Schüler
durchnässt wird; neben anderen unerfreulichen Benjamin Whorf aus den 1950er Jahren, denen
Details während dieser Episode zerreißt derje- zufolge die Struktur einer Muttersprache (z. B.
nige, der den Fehler gemacht hatte, nach Be- Englisch, Mandarin oder Navajo) die kognitiven
kanntwerden des Umwegs verärgert die Straßen- Prozesse der Sprecher, z. B. die Farbdiskrimina-
karte. Um die Freunde seine peinliche Überreak- tion in der visuellen Wahrnehmung, prägt. Doch
tion vergessen zu lassen, ist es ratsam, bei späteren Denken, Wissen und Gedächtnis können auch
Gesprächen über den Urlaub nicht einfach die durch eine unterschiedliche Sprachbenutzung in-
ganze Episode des unwetterbegleiteten Umwegs nerhalb ein- und derselben natürlichen Sprache
auszusparen, sondern diese Episode direkt anzu- beeinflusst werden. Dabei können die Einflüsse
sprechen, ohne jedoch seine Überreaktion zu er- lexikalischer, semantischer Art sein, oder auf den
wähnen. pragmatischen Kontext sprachlicher Kommuni-
kation zurückgeführt werden. Das heißt, dass ei-
nerseits verbale Beschreibungen von komplexen,
schwer zu beschreibenden Stimuli (wie Gesich-
tern oder Geschmackseindrücken) die Erinne-
4. Das kommunikative Gedächtnis 105

rungsleistung beeinträchtigen (Schooler u. a. formationen mitteilen, die der Adressat bereits


1997), andererseits Gedächtnis und Erinnerung kennt, und keine auslassen, die der Adressat zum
durch sprachliche Kommunikation als zielorien- Verstehen benötigt (Quantität). Die Selektion der
tierte, kontextabhängige (auch adressatenbezo- Form einer Mitteilung wird u. a. durch Regeln
gene) und regelgeleitete Handlung beeinflusst wie die der Modalität (z. B. Klarheit), Höflichkeit
werden. So kann schon die adressatenorientierte oder der Würdigung der Adressateneinstellung
Anpassung der Beschreibung von Erfahrungen geprägt. In dieser Hinsicht bedingt die Kommu-
spätere Erinnerungen in Richtung der kommuni- nikationssituation, welche Form die Erinnerung
zierten Sichtweise verändern. Nachdem sich bei- an Inhalte, Themen oder Ereignisse annimmt,
spielsweise eine Professorin gegenüber einer Kol- d. h. wie bestimmte Informationen erinnert wer-
legin mit vermutlich positiver Einstellung zu ei- den (vgl. Grice 1975; Higgins 1981).
nem Studenten positiv über dessen Verhalten bei Zu einem der wichtigsten Faktoren, die sich
einer Studienreise geäußert hat, würden in die- auf die Form von kommunizierten Informatio-
sem Fall ihre späteren Erinnerungen an das Ver- nen auswirken, gehört die Anpassung von Mit-
halten des Studenten auch eher positive und we- teilungen an die Sichtweise, Einstellungen oder
niger negative Aspekte beinhalten. Präferenzen des Adressaten. Das Resultat dieses
Erinnerungen werden beim Abruf durch die Anpassungsprozesses ist die sogenannte adressa-
Kommunikationssituation, insbesondere durch tenorientierte Kommunikation (engl. audience
eine Orientierung an pragmatischen Konversa- tuning). Wenn Menschen über vergangene Erfah-
tionsregeln und an dem Gesprächspartner, beein- rungen berichten, formulieren sie diese bis zu ei-
flusst. Wenn etwa eine Person nach ihren Erinne- nem gewissen Grad adressatenorientiert. Wenn
rungen an ein Ereignis befragt wird, dann wird ein Sprecher beispielsweise annimmt, sein Dia-
sie versuchen, solche Erinnerungen zu berichten, logpartner habe eine positive Einstellung zu einer
die für den Gesprächspartner vermutlich infor- Person, dann sind ihre Erinnerungen an die Ver-
mativ, relevant und interessant sind, und sie in ei- haltensweisen dieser Person oft auch positiv ge-
ner Weise zu berichten, die auf den Gesprächs- färbt. Die Adressatenorientierung prägt in die-
partner abgestimmt ist. Zum einen wählen Spre- sem Fall die aktuell kommunizierten Erinnerun-
cher aus, was sie einem Adressaten berichten, also gen. Sie kann aber auch entsprechend ihrem Dia-
Inhalte und Informationen, die sie im Hinblick logpartner Nachwirkungen haben: Wenn Spre-
auf die Kommunikationssituation für angemes- cher die Erfahrungen, die sie zuvor entsprechend
sen und sinnvoll halten. Zum anderen wählen sie formuliert haben, noch einmal in der Abwesen-
aus, wie sie Inhalte kommunizieren, passen also heit des anderen abrufen, dann sind diese oft wei-
die Form der Darstellung an die Kommunikations- terhin von der Art der vorherigen Kommunika-
situation an. Hierzu zählt beispielsweise die Be- tion geprägt. Der Informationsfluss verläuft also
wertung (Valenzierung) von Ereignissen und nicht, wie bei klassisch kommunikativen Ein-
Handlungen (vgl. Higgins 1981). flüssen, primär von der sozialen Umwelt hin zum
Für beide Aspekte, Anpassung der Inhalte und beeinflussten Individuum; vielmehr lassen sich
Anpassung der Form, gibt es einige Regeln und diese Einflüsse als eine Art Rückwirkung der
Maximen der Kommunikation. Was die Selektion adressatenorientiert kommunizierten Informati-
der Inhalte und Themen angeht, spielen insbe- onen auf das kommunizierende Individuum auf-
sondere die Maximen der Qualität, Relevanz und fassen.
Quantität eine wichtige Rolle. Diesen Maximen Effekte der adressatenorientierten Kommuni-
zufolge sollen Sprecher nur solche Inhalte kom- kation auf nachfolgende Erinnerungen (und
munizieren, die einen hinreichenden Wahrheits- auch Urteile) wurden vor allem im ›Saying-is-
gehalt (Qualität) aufweisen und im Hinblick auf Believing-Paradigma‹ erforscht (Higgins/Rholes
das Gesprächsthema die Aufmerksamkeit des 1978). Der typische Versuchsablauf ist in Abbil-
Adressaten verdienen (Relevanz), sowie keine In- dung 1 (s. S. 106) schematisch dargestellt.
106 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Erinnerung an Z
(Valenz )
Adressaten- Original- Beschreibung
einstellung zu Z info zu Z von Z (aoK)
Valenzurteil zu Z

Abb. 1: Schematischer Ablauf einer Saying-is-Believing-Studie zum Nachweis des Effekts von
adressatenorientierter Kommunikation (aoK) auf Erinnerungen und Urteile.

In diesem Paradigma werden die Versuchsper- terpretation bzw. Enkodierung der Informatio-
sonen, die späteren Sender, dem Adressaten nen zur Zielperson nicht hinreichend für das
vorgestellt, der angeblich einer Gruppe von Stu- Auftreten adressatenorientiert verzerrter Erinne-
dierenden angehört, deren Sozialverhalten seit rungen im Saying-is-Believing-Paradigma.
längerem untersucht werde. Sie werden infor- Diese kommunikative Prägung des Gedächt-
miert, dass sie ein weiteres Mitglied der Gruppe nisses lässt sich auf eine soziale Realitätsbildung
(die Zielperson) aufgrund einer kurzen Verhal- (shared reality) der Kommunikationspartner zu-
tensbeschreibung ohne Namensnennung ihrem rückführen (Echterhoff u. a. 2009). Es ist ein Pro-
Adressaten so schildern sollen, dass dieser die zess, durch den Menschen sich gemeinsam mit
Zielperson identifizieren kann. In der Bedingung anderen eine subjektiv zuverlässige und valide
»positive Adressateneinstellung« erfahren die Repräsentation von der Welt verschaffen. Auf
Versuchspersonen beiläufig, dass der Adressat diese Weise werden Unsicherheiten hinsichtlich
der Zielperson gegenüber positiv eingestellt sei der Interpretation und Bewertung von Erfahrun-
(vice versa in der Bedingung »negative Adres- gen gemeinsam (sozial) kommunikativ überwun-
sateneinstellung«). Die Versuchspersonen lesen den. Eine wichtige Voraussetzung solcher Pro-
nun die ambivalenten Originalinformationen zesse ist Vertrauen und damit verbunden die Ein-
über die Person (Z). Diese sind ambivalent, da sie schätzung der Information als nützlich und
mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit auf positive zuverlässig. Entsprechend sind die gemeinsam
oder negative Eigenschaften schließen lassen verfertigten Gedächtnisrepräsentationen Versio-
(z. B. sparsam vs. geizig). nen der Vergangenheit, die in anderen kommu-
Adressatenorientierte Kommunikation zeigt nikativen Settings zu anderen Formen und Inhal-
sich darin, dass die Versuchspersonen die Ziel- ten zusammengesetzt werden. Das Ausmaß der
person für einen positiv eingestellten Adressaten sozialen Realitätsbildung wurde in bisherigen ex-
eher positiv darstellen und für einen negativ ein- perimentellen Studien durch folgende Faktoren
gestellten Adressaten eher negativ (Beschreibung variiert (Echterhoff u. a. 2008; 2009):
von Z). a) das Motiv für die adressatenorientierte
Dass es sich um einen Effekt der Kommuni- Kommunikation, z. B. Unsicherheitsreduktion
kation und nicht um Einflüsse allein durch die bzw. Erkenntnisgewinnung (epistemisches Motiv
Adressateneinstellung handelt, zeigt der Befund, der Realitätsbildung) und alternative Motive wie
dass der Effekt ausbleibt, wenn die Senderinnen höfliche Anpassung an Fremdgruppenangehö-
zwar die Adressateneinstellung kennen und sich rige oder Erlangung einer Belohnung;
auf die Kommunikation einer Mitteilung vorbe- b) die Eignung der Adressaten als vertrauens-
reiten, aber kurzfristig – wegen einer angeblichen würdige Partner der sozialen Realitätsbildung aus
Fehlers in der Versuchsdurchführung – an der Sprechersicht, operationalisiert z. B. durch die
Verbalisierung einer Mitteilung gehindert wer- Zugehörigkeit des Adressaten zur Eigen- vs.
den (Higgins/Rholes 1978). Offensichtlich ist Fremdgruppe der Sprecher;
also allein eine adressatenorientiert verzerrte In- c) den Erfolg einer angestrebten sozialen Rea-
4. Das kommunikative Gedächtnis 107

litätsbildung, operationalisiert durch das Adres- wie sie im Alltag die Regel sind, mit beiden Arten
satenfeedback (gelungene vs. misslungene Identi- der kommunikativen Gedächtnisbeeinflussung
fikation der Zielperson). zu rechnen. Je mehr eine Person die Rolle des
Diese Manipulationen hatten folgenden Effekt: Sprechers einnimmt und damit die gemeinsamen
Eine Beeinflussung in Richtung der adressaten- Erinnerungsversuche dominiert, desto eher kann
orientierten Kommunikation war dann geringer, sie die Erinnerungen anderer Gesprächsteilneh-
wenn die Versuchspersonen keine soziale Reali- mer beeinflussen (Cuc u. a. 2006).
tätsbildung anstrebten (entweder bei einem alter- Ob die Erinnerungen eines dominanten Spre-
nativen Kommunikationsmotiv oder bei Kom- chers in einer Gruppensituation auch durch de-
munikation mit einem Fremdgruppenadressaten) ren eigene Kommunikationsbeiträge geformt und
oder sie keinen Erfolg der sozialen Realitätsbil- beeinflusst werden, ergibt sich aus den oben
dung erlebten (bei misslungener Identifikation dargelegten Bedingungen für Prägung sprecher-
der Zielperson durch den Adressaten). Unter Be- seitiger Repräsentationen von Erfahrungen durch
dingungen, in denen eine soziale Realitätsbildung adressatenorientierte Kommunikation: Mit die-
angestrebt wurde und erfolgreich verlief, wurde ser »Selbstbeeinflussung« durch Gruppenkom-
hingegen der bekannte Effekt auf die Valenz der munikation ist zu rechnen, wenn der/die Spre-
Erinnerungen repliziert. cher/in (a) über noch keine subjektiv hinreichend
sicheren Erinnerungen verfügt und (b) dazu be-
reit und motiviert ist, mit den anderen Gruppen-
Fazit und Ausblick
mitgliedern eine gemeinsame Realität zu bilden.
Erinnerungen an vergangene Erfahrungen sind, Aus (a) folgt, dass es bei dieser Art einer kommu-
so die neuere Gedächtnisforschung, konstruktiv nikativen Gedächtnisbildung weniger um eine
und interaktiv. Sie sind zum einen Produkte indi- Bestätigung der eigenen Erinnerung geht als
vidueller Prozesse der Konstruktion, Assoziation vielmehr um die zuvor erforderliche Konstruk-
und Elaboration. Zum anderen resultieren sie aus tion der Erinnerung an und Interpretation von
der Interaktion des erinnernden Individuums mit Vergangenheit. Da Menschen zu einer akkuraten
seiner Umwelt; sie sind abhängig von dem Kom- Weltsicht motiviert sind und Täuschungen ver-
munikationskontext, in dem Individuen Erinne- meiden wollen, ist sicherlich auszuschließen, dass
rungen produzieren. Interne kognitive Mechanis- diese Form der kommunikativen Selbstbeeinflus-
men spielen bei der Konstruktion von Erinne- sung absichtlich bzw. mit Vorsatz erfolgt. Aus (b)
rungen natürlich eine wesentliche Rolle, denn sie folgt, dass das Auftreten dieses Einflusses davon
schränken ein, welche Informationen eine Person abhängt, inwieweit der/die Sprecher/in die ande-
potentiell abrufen kann. Jedoch bedingen Fakto- ren Gruppenmitglieder potentiell als vertrauens-
ren der Kommunikationssituation, darunter ak- würdige Ko-Konstrukteure ihrer Realitätssicht
tuell wirksame Konversationsmaximen, wie Per- anerkennt.
sonen dieses Potential nutzen. Nicht nur Erinne- In einem allgemeinen Sinn ist aus den gerade
rungen und Gedächtnisbestände der Rezipienten genannten Gründen auch zu vermuten, dass die
werden durch interpersonelle Kommunikation Selbstbeeinflussung des Gedächtnisses der Spre-
geprägt und beeinflusst. Die Anpassung an Kom- cher subtiler und unmerklicher ist als die Kom-
munikationssituationen kann auch Nachwirkun- munikationseinflüsse auf Erinnerungen von Re-
gen auf die späteren Erinnerungen der Sprecher zipienten. Die Annahme, dass eine unerwünschte
an die Kommunikationsinhalte haben. Beeinflussung von anderen Menschen ausgehen
Bei einem dialogischen Austausch über ge- kann, ist eher ein Bestandteil von Alltagswissen
meinsame vergangene Erfahrungen in Dyaden oder naiven Theorien als die Vermutung, dass
und Kleingruppen nehmen die Beteiligten wech- man selbst die Quelle einer Beeinflussung ist. Da-
selnd die Rolle von Sprecher und Rezipient ein. her sollte ein gezielter Widerstand gegen mögli-
Daher ist in dialogischen Gesprächssituationen, che Beeinflussung bei sozialen Einflüssen wahr-
108 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

scheinlicher sein als bei Effekten der eigenen Higgins/C. Peter Herman/Mark P. Zanna (Hg.): So-
Kommunikation. Eine Untersuchung dieser Fra- cial Cognition: The Ontario Symposium Bd. 1: Hills-
gen ist ein lohnenswertes Ziel zukünftiger For- dale, NJ 1981, 343–392.
– /Rholes, William S.: »Saying-is-Believing«: Effects of
schung – auch weil die Untersuchung dieser Ein- Message Modification on Memory and Liking for the
flüsse eine hohe praktische Relevanz besitzt, bei- Person Described. In: Journal of Experimental Social
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Gerald Echterhoff
109

5. Das soziale Gedächtnis abgesetzte, so doch eigenständige Aspekte des


kollektiven Gedächtnisses ausmachen: Erstens
Die Bedeutungsspanne des Begriffes ›soziales verweist er auf den sozialen Bezugsrahmen des
Gedächtnis‹ ist ebenso groß wie die des ›kollekti- individuellen Gedächtnisses und zeigt, dass wir
ven Gedächtnisses‹ (s. Kap. II.2). Sie ist abhängig uns als soziale Wesen immer im Kontext be-
von der Perspektive des jeweiligen Autors. Der stimmter, sozialer Umstände und Identitäten er-
Begriff ›kollektives Gedächtnis‹ hat jedoch den innern. Zweitens verweist er auf die kollektive
Vorteil, auf eine, wenn auch unvollständige, Tra- Repräsentation und zeigt, dass die Mittel (Dar-
dition zurückgeführt werden zu können. Hier ist stellungen, Konzepte, Prozeduren) mit deren
insbesondere Maurice Halbwachs zu nennen, der Hilfe Individuen erinnern, grundsätzlich sozialer
in den 1920er bis 1940er Jahren Theorien zum Natur sind und uns über die Gruppen, zu denen
kollektiven Gedächtnis entwarf und der sich da- wir gehören, vermittelt werden. Drittens verweist
bei explizit auf den von ihm befürworteten theo- er auf die mnemonischen Praktiken der Gruppen
retischen Ansatz seines berühmten Mentors selbst und zeigt, dass weder nur Individuen al-
Émile Durkheim bezog. In dessen Theorie der leine erinnern, noch lediglich Individuen ge-
sozialen Solidarität stellten die Konzepte des meinsam, sondern dass Gruppen als solche oft-
›kollektiven Bewusstseins‹ und der ›kollektiven mals, zum Beispiel anlässlich politischer Jahres-
Repräsentation‹ zentrale Merkmale dar (s. Kap. tage oder im Rahmen öffentlicher Gedenkanlässe
IV.3). Seit Halbwachs verwenden und elaborieren und Ereignisse, die Vergangenheit erinnern; und
die Anhänger Durkheims und ihre intellektuelle schließlich weist Halbwachs auf das kollektive
Nachkommenschaft das Konzept des kollektiven Gedächtnis auch als eine Art körperlosen Besitz-
Gedächtnisses, mit dessen Hilfe sich Darstellun- tums der Gruppe hin und zeigt, dass bestimmte
gen der Vergangenheit ebenso sehr als Eigentum kulturelle Symbole und Verstehensweisen – in
von Gruppen wie von Individuen verstehen las- der Sprache seines Mentors Durkheim formuliert
sen und als Schlüsselstellen der Produktion von – ›gewachsen‹ sind, also auf einer Ebene existie-
Gruppenidentitäten fungieren. ren, die theoretisch unverbunden mit dem Geist
Halbwachs vertritt in seinen Theorien einen einzelner Individuen ist (diese Version des kol-
Ansatz, der, so einige Kritiker, die Frage vernach- lektiven Gedächtnisses ähnelt den alltagssprach-
lässige, warum bestimmte Darstellungen den lichen Konzepten des Erbes oder Erbguts viel-
Wandel sozialer Umstände zu überdauern schei- leicht noch am meisten).
nen; anders formuliert werfen Kritiker Halb- Der wichtigste Beitrag, den Halbwachs – übri-
wachs – wie zuvor Durkheim – vor, er vertrete ei- gens ganz im Einklang mit Durkheims Gering-
nen statischen Funktionalismus, der zwar die schätzung der Individualpsychologie – für die ge-
Funktion jedes Elements in einem Gesamtsystem genwärtige Gedächtnisforschung leistet, besteht
von Bedeutungen erklären, aber nicht den Wand- in dem schlagkräftigen und den modernen, ge-
lungsprozessen innerhalb eines solchen Systems sunden Menschenverstand herausfordernden Ar-
Rechnung tragen könne. gument, dass Erinnerung weder hauptsächlich,
Überdies werden die konkreten Bedeutungen, geschweige denn vollständig, ein individueller
die dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses Prozess sei. In gewisser Weise können Wissen-
zugeschrieben werden können, selbst in Halb- schaftler, die diesen grundsätzlichen Punkt ak-
wachs’ Schriften nur unzureichend präzisiert, zeptieren, argumentieren, dass die bloßen Be-
auch wenn diese erheblich konsistenter sind, als griffe des kollektiven oder sozialen Gedächtnis-
das von den verschiedenartigen Verwendungen ses redundant sind, weil es nach Halbwachs
seines Namens und seiner Konzepte nach seinem schwierig sein dürfte, darzulegen, wie das Erin-
Tod behauptet werden kann. Tatsächlich kann nern überhaupt nicht sozial oder kollektiv sein
man in Halbwachs’ Werk mindestens vier, wenn kann. So betrachtet sind es die Psychologen, die
auch nicht theoretisch deutlich gegeneinander ihr Studienobjekt als ein der genaueren Bezeich-
110 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

nung bedürfendes, individuelles Gedächtnis aus- heim Bezug nehmen, oder ob sie den belasteten
zeichnen müssten. Begriff des kollektiven Gedächtnisses verwen-
Halbwachs war natürlich weder der erste den. Die Social Memory Studies dienen somit als
noch der einzige Wissenschaftler, der die Rele- umfassende Bezeichnung für ein in der Entwick-
vanz des Konzepts des geteilten Gedächtnisses lung begriffenes Forschungsfeld und setzen die-
einerseits hervorhob (vor Halbwachs wurde zum ses Feld gleichermaßen von den allgemeineren
Beispiel von einem ›öffentlichen Gedächtnis‹ und Gedächtnisstudien ab, gewährleisten aber außer-
einem ›Rassengedächtnis‹ gesprochen), bzw. der dem, dass verschiedene Disziplinen und Ansätze
für eine radikal soziale Sicht des Gedächtnisses ins Blickfeld gerückt werden können. Im Fall der
plädierte. So formulierte zum Beispiel der briti- Gedächtnisstudien besteht das Problem, dass sie
sche Psychologe Frederic C. Bartlett in den spä- diejenigen psychologischen und neurowissen-
ten 1920er und frühen 30er Jahren eine soziale schaftlichen Verstehensweisen des Gedächtnisses
Theorie des Gedächtnisses (s. Kap. I.2). Gleiches einbeziehen, die entweder noch nicht jene An-
tat der sowjetische Psychologe Lev Vygotsky. Um sätze akzeptiert haben, die von der Sozialität des
dieselbe Zeit entwickelte der deutsch-jüdische Gedächtnisses ausgehen, oder die sich von diesen
Kunsthistoriker Aby Warburg eine überzeugende Ansätzen unterscheiden wollen. Anders als Un-
Ikonologie, die den Symbolismus der Malerei als tersuchungen zum kollektiven Gedächtnis, stif-
eine Art soziales Gedächtnis interpretiert und ten die Social Memory Studies keine Verwirrung
darin dem Ansatz des Literaturkritikers Walter im Hinblick auf ihre Untersuchungsobjekte. Und
Benjamin ähnelt, der zwischen verschiedenen anders als ein weiterer Kandidat, die ›sozialen
Bedeutungsebenen urbaner Landschaften unter- Studien zum Gedächtnis‹, die von der Namens-
scheidet, obwohl Benjamin nicht explizit von ei- gebung her vermuten lassen, dass die soziale
nem sozialen oder kollektiven Gedächtnis spricht. Komponente außerhalb des Gedächtnisses, also
In den Vereinigten Staaten entwarfen George in seiner Untersuchung existiere, sind sie grund-
Herbert Mead und Charles Horton Cooley sozio- sätzlich offen für eine Vielzahl von Phänomenen,
logische Annäherungen an die Gedächtnisthe- wie sie von Halbwachs skizziert wurden, wäh-
matik, Mead in seiner Philosophie der Sozialität rend sie gleichzeitig darauf verweisen, dass jede
(1932/1981) und Cooley (1918) in seiner soziolo- Form des Erinnerns in gewisser Weise sozial be-
gischen Studie zum Ruhm. stimmt ist.
Das wichtigste Argument für die Bezeichnung
›Social Memory Studies‹ besteht jedoch einfach
Social Memory Studies
darin, dass das soziale oder kollektive Gedächt-
In der gegenwärtigen Debatte, d. h. etwa seit den nis ein eher weit gefasster, für die Thematik sen-
1980er Jahren, haben diese und weitere Quellen sibilisierender Begriff als ein rigoroses Konzept
(und eine überraschend große Anzahl von Wer- ist, das von einer homogenen wissenschaftlichen
ken, die im Zeitraum zwischen Halbwachs und Gemeinschaft einvernehmlich verwendet und
der Gegenwart in Vergessenheit geraten waren) zum Zweck der präzisen Messung und Überprü-
zu der Etablierung dessen beigetragen, was Jef- fung operationalisiert werden könnte. Tatsäch-
frey Olick und Joyce Robbins in einem 1998 er- lich wurde das soziale Gedächtnis entweder in
schienenen Bericht ›Social Memory Studies‹ nen- diesem Sinne, als – vielleicht sogar im Sinne der
nen (Olick/Robbins 1998). Der Zweck dieser Be- von Halbwachs implizierten Ansätze – sensibili-
griffsschöpfung besteht darin, eine Vielzahl sierend für die verschiedenen Prozesse der sozia-
wissenschaftlicher Beiträge, die für ein soziales len Erinnerung verwendet, oder es diente dazu,
Verständnis des Gedächtnisses relevant sind, un- den vermeintlichen Makeln von Halbwachs’ oder
ter einen Nenner zu bringen, unabhängig davon, Durkheims Kollektivismus zu entgehen. In die-
ob diese Beiträge implizit oder explizit auf die so- sem Sinne figuriert der Begriff ›soziales Gedächt-
ziologische Traditionslinie von Halbwachs/Durk- nis‹ auch als Titel des 1992 erschienenen, weg-
5. Das soziale Gedächtnis 111

weisenden Buch von Fentress und Wickham, die Will man nun Welzers konzeptuelle Innovatio-
den Titel wählten, um seinen Gegenstand von nen verstehen, so muss man den Hintergrund
Arbeiten zur Erinnerung durch Individuen abzu- seiner Argumentation berücksichtigen, d. h. die
grenzen (Fentress/Wickham1992). Während sie Schriften Jan Assmanns, dessen Theorie des kul-
einerseits argumentieren, dass es Individuen sind, turellen Gedächtnisses sicherlich eine der ertrag-
die sich erinnern, folgen sie andererseits Halb- reichsten Entwicklungen in der neueren Sozial-
wachs indem sie feststellen, dass die Erinnerung theorie darstellt (obwohl sie in der englischspra-
des Individuums nur existiert, insofern dieses das chigen Welt größtenteils unbekannt ist, da die
wahrscheinlich einzigartige Produkt eines be- Hauptwerke noch nicht in englischer Sprache er-
stimmten Schnittfelds von Gruppen ist. hältlich sind). Da Assmanns Œuvre an einer an-
Auf einer generativen theoretischen Ebene un- deren Stelle dieses Bandes ausführlich erläutert
terscheiden sie weiterhin zwischen zwei Aspek- wird (s. Kap. II.3), genügt hier eine knappe Zu-
ten des sozialen Gedächtnisses, einem objektiven sammenfassung.
Teil, der sich auf externe, überprüfbare Fakten Wie Halbwachs und die meisten anderen Wis-
bezieht und einem subjektiven, der unsere Emo- senschaftler, die sich mit dem sozialen Gedächt-
tionen und die Art unserer Beziehungen zu die- nis auseinandersetzen, beginnt auch Assmann
sen Fakten umfasst. Am wichtigsten ist jedoch mit dem Hinweis, dass die Erweiterung des Kon-
ihre Betrachtung der Ordnungs- und Übermitt- zepts des Gedächtnisses vom Bereich der Psyche
lungsmethoden des sozialen Gedächtnisses, die auf den Bereich der sozialen und kulturellen Tra-
oral poetry, Erinnerung, das Geschichtenerzäh- ditionen nicht rein metaphorisch zu verstehen
len, Märchen und schließlich die schriftliche ist. Vielmehr geht es, so seine Argumentation,
Überlieferung umfassen. Ähnlich wie Halbwachs nicht um die Übertragung eines individualpsy-
nehmen sie auch eine Analyse der Klassen- und chologischen Konzepts auf soziale und kulturelle
Gruppenerinnerung in westlichen Gesellschaften Phänomene, sondern darum, die Interaktion zwi-
vor. Tatsächlich wird selten anerkannt, wie Halb- schen Psyche, Bewusstsein, Gesellschaft und Kul-
wachs’ Interesse am Gedächtnis der Arbeiter- tur zu untersuchen. Aus Assmanns Sicht beschäf-
klasse Teil seiner Suche nach einem nicht-mar- tigt sich aber Halbwachs’ Theorie des kollektiven
xistischen Verständnis dessen darstellt, was Gedächtnisses nur mit einem – und zwar dem
Marxisten im Rahmen des Konzepts als ›Klassen- weniger interessanten – Teil dieser Interaktion.
bewusstsein‹ verstehen. Assmann zufolge dient Halbwachs’ hauptsächli-
ches Interesse an der Funktionsweise sozialer Be-
zugsrahmen des individuellen Gedächtnisses
Jan Assmanns Theorie des
vornehmlich dazu, die Frage beantworten zu
kulturellen Gedächtnisses
können, wie das Gedächtnis Gruppen zusam-
In der einschlägigen Literatur lassen sich viele menhält. Eine solche, verbindliche Erinnerung,
weitere solcher allgemeinen und sensibilisieren- die Assmann in ›kommunikatives Gedächtnis‹ (s.
den Verwendungen des sozialen Gedächtnisses Kap. II.4) umbenennt, meint die explizit mündli-
finden, die manchmal fast mit dem kollektiven che, etwa drei Generationen umfassende, Über-
Gedächtnis austauschbar sind und manchmal lieferung der Vergangenheit. Sie lasse sich des-
dazu dienen, die Tücken, die mit der Soziologie halb, so Assmann, instrumentalisieren und sei
Durkheims assoziiert werden, zu meiden. Wich- hochgradig wandelbar.
tiger und interessanter ist in diesem Kontext je- Von diesem Grundgedanken ausgehend
doch das gegenwärtige Bemühen der Forschung, kommt Assmann zu dem Schluss, Halbwachs sei
den Begriff ›soziales Gedächtnis‹ genauer zu de- im Grunde ein Sozialpsychologe, der die wichtige
finieren und anzuwenden, ein Unternehmen, das Rolle der schriftlichen und anderer Formen der
insbesondere in den Schriften des deutschen So- fixierten Überlieferung, die der ungehinderten
zialpsychologen Harald Welzer verfolgt wird. Entwicklung des kommunikativen Gedächtnisses
112 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

von Gruppen entgegenwirken, vernachlässige. im Deutschland der Nachkriegszeit zu nennen,


Assmann setzt deshalb Halbwachs’ kollektives mit ihrem Fokus auf den seltsamen Lücken und
Gedächtnis gegen die Schriften Warburgs ab, Missverständnissen, die in Gesprächen über die
den er als Quelle seiner Theorie des kulturellen Nazivergangenheit zwischen den Generationen
Gedächtnisses ausweist. Laut Assmann beschäf- auftauchen. Wichtiger noch ist jedoch auf der
tigte sich Warburg mehr als Halbwachs mit Ge- Theorieebene sein Umgang mit Assmanns Un-
schichte und Überlieferung bzw. damit, wie das terscheidung zwischen dem kommunikativen
Alte im Neuen bestehen bleibt. Laut Assmann Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis bzw.
(2007, 201) war »die Präsenz des Alten im Neuen die Unterscheidung zwischen diesen und dem in-
[…] für Warburg nicht Sache schierer materialer dividuellen Gedächtnis, die Welzer ganz richtig
Persistenz, sondern geistiger Aneignungen und als ›etwas überpointiert‹ bezeichnet, sowie seine
Übertragungen. In der Kultur objektivieren sich Wahl des sozialen Gedächtnisses als Alternative.
menschheitliche Erfahrungen, die als Impulse Für Welzer teilen jedoch beide, das kommuni-
auch nach Jahrtausenden wieder wirksam wer- kative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis,
den können.« Im Gegensatz dazu, so Assmann, die Eigenschaft, dass es bei ihnen um die be-
zeigte Halbwachs »dass Vergangenheit niemals wusste oder intentionale Überlieferung der Ver-
als solche zu überdauern vermag, sondern im- gangenheit geht. Welzer stimmt hingegen mit
mer nur in den Rahmenbedingungen einer kul- dem britischen Sozialhistoriker Peter Burke da-
turellen Gegenwart rekonstruiert werden kann« rin überein, dass die Gesamtheit dessen, was aus
(ebd.). Aus der Sicht Assmanns kommt Halb- der Vergangenheit überliefert wird, bei weitem
wachs folglich der Verdienst zu, den Schritt aus sowohl die Grenzen des kulturellen als auch des
der »Innenwelt des Subjekts heraus in die so- sozialen Gedächtnisses, die explizit die Vergan-
zialen und affektiven Rahmenbedingungen des genheit thematisieren, überschreitet. Im Gegen-
Gedächtnisses« vollzogen zu haben. Aber Halb- satz dazu betont Welzer, dass ein Großteil des aus
wachs »weigerte sich […] auch zu den symbo- der Vergangenheit Überlieferten, von dem vieles
lischen und kulturellen Gedächtnisrahmen vor- für das soziale Gedächtnis relevant sei, in keiner
zudringen. Für ihn war das eine unüberschreit- ausdrücklichen Weise mnemonischer Natur sei,
bare Grenze« (ebd., 19). Folglich unterschied oder offensichtlich die Vergangenheit betreffe.
Assmann scharf zwischen kommunikativem Ge- Die Haupteigenschaften des kulturellen Gedächt-
dächtnis – dem Sachverhalt, den er auf Halb- nisses in Assmanns Begrifflichkeit seien seine
wachs und die mündliche Überlieferung zu- Geformtheit, z. B. in schriftlichen Zeugnissen,
rückführt – und kulturellem Gedächtnis – dessen Bildnissen oder Riten, seine Organisiertheit, z. B.
konzeptuelle Ursprünge er unter anderem auf in der Ritualisierung und Ausgeformtheit, und
Warburg zurückführte. Ein wesentlicher An- seine Verbindlichkeit. Welzer hingegen spricht
spruch seiner Theorie des kulturellen Gedächt- im Sinne Burkes von der »Gesamtheit der sozia-
nisses besteht in der Anerkennung des Uralten, len Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-
Abgelegten und Verworfenen sowie der Einbe- Gruppe« (Welzer 2001, 15).
ziehung des nicht-Instrumentalisierbaren, Häre- Welzers Betrachtungsschwerpunkt des sozia-
tischen, Subversiven und Verleugneten. len Gedächtnisses liegt auf den Medien, »die im
Unterschied zu ihrem Auftreten im kulturellen
und kommunikativen Gedächtnis nicht zu Zwe-
Harald Welzers Studien zum
cken der Traditionsbildung verfertigt wurden,
sozialen Gedächtnis
gleichwohl aber Geschichte transportieren und
Im Rahmen dieses Diskurses trugen Welzers Bei- im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden«
träge viel zu der Entwicklung der Studien zum (Welzer 2001, 16). Burke identifizierte besonders
sozialen Gedächtnis bei. Zunächst sei hier Wel- fünf Medien dieser Art von Überlieferung: die
zers empirische Arbeit zur Familienerinnerung mündliche Überlieferung, die konventionelle his-
5. Das soziale Gedächtnis 113

torische Dokumentation – wie z. B. Memoiren Unbewusste, d. h. die verschiedenen körperge-


und Tagebücher, gemalte oder fotografische Bil- bundenen Praktiken, wie sie in den Schriften
der, kollektive Gedenkfeiern/-rituale und geogra- Paul Connertons untersucht werden, dessen
phische oder soziale Räume. Indem er die sich Werk Theorien des Gedächtnisses mit den Arbei-
mit Assmanns Definition des kulturellen Ge- ten von Theoretikern wie Pierre Bourdieu ver-
dächtnisses überschneidenden Elemente wegfal- bindet, für den die ›körperliche Hexis‹ ein we-
len lässt, rekombiniert Welzer diese fünf Medien sentlicher Bestandteil einer Theorie der Praxis
zu vier: Interaktion, Dokumente, Bilder und darstellt (Connerton 1989). Insgesamt schaffen
Räume/Orte und hebt hervor, dass die Praktiken jedoch die Arbeiten von Assmann und Welzer,
des kommunikativen Gedächtnisses nur eine – insbesondere die Theorien der Mündlichkeit und
vielleicht sogar den geringsten Teil – der Prakti- Schriftlichkeit sowie Langzeitstudien zum Ent-
ken des sozialen Gedächtnisses ausmachten. Wel- stehen neuer Formen des historischen Bewusst-
zer erkennt in diesen impliziten und nicht-inten- seins im Zeitalter der Massenmedien, einen sta-
tionalen Praktiken des Gedächtnisses eher als in bilen Zusammenhang zwischen Studien des so-
dem expliziten Verweis auf und die Erhaltung zialen Gedächtnisses und den Media Studies.
von Erinnerungssymbolen unsere tiefgründigs- Darüber hinaus erschließen sie die Möglichkeit
te Historizität. Tatsächlich erlaubt die Schwer- des Dialogs zwischen Theoretikern des sozialen
punktsetzung auf nicht-intentionalen Praktiken Gedächtnisses und Theoretikern des Raums, ei-
des Gedächtnisses eine bessere Würdigung von nes der wichtigsten Konzepte der Sozialtheorie
Anachronismen, die Arten und Weisen in denen der letzten Jahre insgesamt.
Restbestände verschiedener Epochen gleichzeitig Abschließend sei hier nochmals festgehalten,
wirken können. Darüber hinaus ermöglicht ein dass nicht jeder, der den Begriff ›soziales Ge-
solcher Ansatz, auch wenn dies weder von Ass- dächtnis‹ verwendet, ihn auch auf die hier be-
mann noch Welzer explizit angesprochen wird, schriebenen Arten und Weisen, im Rückbezug
ein besseres Verständnis dessen, was als Problem auf die Theorietradition von Halbwachs bis Wel-
des ›ring-around-the-rosie‹ (dt.: ›Ringelringelrei- zer, verwendet. Dies liegt zum Großteil daran,
hen‹), einem Kinderreim aus der Zeit der Pest, dass, wie es Olick und Robbins in ihrem nun
bezeichnet werden kann. Sehr viele Kinder in der schon recht weit zurückliegenden Überblick von
englischsprachigen Welt können diesen Reim 1998 formulierten, die Studien des sozialen Ge-
rezitieren, ohne dass ihnen sein historischer dächtnisses ein »non-paradigmatic, transdiscipli-
Bezug bewusst wäre. Solche Fälle sind jedoch nary, centerless enterprise« (1998, 105) darstel-
nicht die Ausnahme sondern die Regel in einer len. Wie immer in solchen Fällen stehen die Of-
Gesellschaft, in der, lange nachdem elektronische fenheit des Untersuchungsansatzes und der
Signaltöne eingeführt wurden, immer noch das Terminologie in enger Wechselwirkung mit dem
›Telefon klingelt‹. auf konventionalisierten Begriffen und Konzep-
Indem er dieserart die nicht-intentionalen Ge- ten beruhenden Aufbau von Wissen. In dieser
dächtnispraktiken als Kernstück menschlicher Hinsicht haben die Studien des sozialen Gedächt-
Historizität fasst, stellt Welzers Theorie des so- nisses tatsächlich einen kritischen Punkt erreicht.
zialen Gedächtnisses eine wichtige Bereicherung Werden sie weiterhin mit einem Durcheinander
der Traditionslinie von Halbwachs bis Assmann der Begriffswahl und -verwendung ohne Kon-
bzw. der in ihr skizzierten Prozesse und Prakti- sens zum Quellenbezug existieren, oder werden
ken dar, womit freilich nicht gesagt sein soll, dass sie zu einem kohärenten Paradigma zusammen-
sie den Katalog der Methoden der Überlieferung finden? Einige der Barrieren sind institutioneller
und Historizität vervollständigen würden. Ein in Natur – z. B. die Unzugänglichkeit der Schriften
diesen Interaktions- und Symboltheorien ver- von Jan und Aleida Assmann und Harald Welzer
nachlässigter Aspekt ist nicht nur das Ungesagte, sowie ihren Nachfolgern, die nicht ins Englische
Ungewollte und Ungesehene, sondern auch das übersetzt wurden – während andere auf die na-
114 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

turgegebene Erreichbarkeit und das Interesse am Cooley, Charles Horton: Social Process. New York 1918.
Gedächtnis in den verschiedenen Disziplinen zu- Fentress, James/Wickham Chris: Social Memory. Ox-
ford/Blackwell 1992.
rückgeführt werden können. Diese augenschein- Mead, George Herbert: The Philosophy of the Present
liche Anziehungskraft muss nicht notwendiger- [1932]. Chicago 1981.
weise von Vorteil sein. Olick, Jeffrey K./Robbins, Joyce: Social Memory Stu-
dies: From »Collective Memory« to the Historical
Literatur Sociology of Mnemonic Practices. In: Annual Review
of Sociology 24 (1998), 105–140.
Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Welzer, Harald (Hg.): Das Soziale Gedächtnis: Ge-
Studien. München 32007. schichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001.
Connerton, Paul: How Societies Remember. Cambridge Jeffrey K. Olick/Übers. Jessica Rodemann
1989.
115

6. Das Politische des aus aufwendiger und schwieriger, auszuwandern


Gedächtnisses und Bürger eines anderen Staates zu werden als
beispielsweise aus der Kirche auszutreten, den
Sportverein oder eine Partei zu verlassen.
Die beiden Elemente zusammengenommen
Gedächtnispolitik
lassen es geraten erscheinen, die Entscheidungen,
Die Behauptung, dass das Gedächtnis in politi- die das politische System trifft, besonderen
schen Zusammenhängen von Bedeutung ist, be- Grundsätzen, Regeln und Bedingungen zu unter-
ruht zunächst auf zwei Annahmen. Erstens auf werfen. Weil die Entscheidungen des politischen
der Annahme, dass die Errichtung einer be- Systems für alle Bürger der jeweiligen Staaten
stimmten Erinnerungskultur zu den Möglichkei- verbindlich gelten und sie, wenn es sein muss,
ten und Aufgaben des politischen Systems gehört, mit physischem Zwang gegen Widerstreben
zweitens auf der Annahme, dass die Erinnerungs- durchgesetzt werden und weil man sich den Ent-
kultur einer Gesellschaft politische Konsequen- scheidungen nicht so leicht durch die ›exit-
zen und Funktionen hat. Option‹ entziehen kann, sollten alle Bürger prin-
Mit diesen Angaben ist freilich das politische zipiell die Möglichkeit haben, an diesen Ent-
Gedächtnis noch nicht zureichend bestimmt. scheidungen unter Beachtung der Grundsätze ei-
Worin genau bestehen die Qualitäten, die es er- nes öffentlichen Vernunftgebrauchs mitzuwirken.
lauben, von einem spezifisch politischen Ge- Ferner sollten gewisse Grenzen gelten, die in po-
dächtnis zu sprechen? Wie kann man das politi- litischen Entscheidungen nicht zur Disposition
sche Gedächtnis vom sozialen, vom kommunika- stehen, z. B. die Menschenrechte. Das jedenfalls
tiven und kulturellen Gedächtnis abgrenzen, und sind die Grundprinzipien liberaler, demokrati-
wie verhält sich das politische Gedächtnis zum scher Verfassungsstaaten, die sich in jahrhunder-
Familiengedächtnis, dem Gedächtnis der Religi- telangen politischen Kämpfen und Konflikten
onen oder der Berufsverbände? (vgl. die Typolo- herausgebildet haben.
gien und Unterscheidungen bei J. Assmann 1988; Für die Bestimmung der spezifischen Qualität
2007, 56) des politischen Gedächtnisses ist das Prinzip der
Die Eigenschaften des politischen Gedächtnis- Öffentlichkeit besonders wichtig. Im Unter-
ses, die es von allen anderen Gedächtnistypen schied zum Familiengedächtnis, zum Gedächt-
abheben, ergeben sich aus den spezifischen nis der Religionen und Kirchen, des Bildungssys-
Qualitäten des Politischen und der politischen tems, der Berufsvereinigungen, der Sportclubs
Ordnungen. Generell gilt, dass sich politische und der anderen Teilsysteme und Organisatio-
Ordnungen durch zwei Elemente von anderen nen der Gesellschaft ist das politische Gedächt-
Teilsystemen der Gesellschaft unterscheiden. nis in einem nachdrücklichen Sinn der Gegen-
Zum einen sind die Entscheidungen, die das poli- stand und das Ergebnis öffentlicher Aushandlun-
tische System trifft, kollektiv verbindliche Ent- gen. Der Ort des politischen Gedächtnisses ist in
scheidungen, sie gelten also auch für die anderen pluralistischen Gesellschaften grundsätzlich der
Teilsysteme der Gesellschaft, und sie können im öffentliche Raum. Weitere Unterscheidungen
Zweifelsfall mit den Mitteln des Zwangs, die nur und Abgrenzungen kommen hinzu: Im Unter-
dem Staat als dem Inhaber des Monopols der le- schied zum kommunikativen Gedächtnis ist das
gitimen Gewalt zur Verfügung stehen, durchge- politische Gedächtnis mediengestützt. Das poli-
setzt werden. Zum anderen werden die Men- tische Gedächtnis manifestiert sich in Denkma-
schen in den allermeisten Fällen in eine politi- len, Jahrestagen, Feiern, Ritualen, Symbolen. Die
sche Ordnung hineingeboren, der sie dann ihr Angewiesenheit auf Medien und Objektiva-
Leben lang angehören. In den Zeiten der Globali- tionen verbindet das politische mit dem kulturel-
sierung häufen sich zwar die Wechsel von einem len Gedächtnis. Das politische Gedächtnis ent-
Land in ein anderes, aber immer noch ist es weit- steht nicht aus den mehr oder weniger inten-
116 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

tionslosen Alltagskommunikationen. Auch das sich zeigt, zu welchen Erkenntnissen die Definiti-
verbindet das politische Gedächtnis mit dem onen und Typologien beitragen.
kulturellen Gedächtnis. Im Unterschied zum kul- Die realen Sachverhalte, um die es im politi-
turellen Gedächtnis aber, das auch die nicht-öf- schen Gedächtnis geht, gehören zu den elemen-
fentlichen Gedächtnisformen der Religionen taren Bestandteilen der Logik politischen Han-
umfasst, ist die Topographie des politischen Ge- delns und politischer Ordnungen. Im Main-
dächtnisses öffentlich, und es unterliegt, wie ein- stream der Politikwissenschaft spielte das
gangs betont, der zielgerichteten politischen Gedächtnisthema allerdings über lange Zeit keine
Steuerung. Das Ziel und die Funktion des politi- große Rolle. Das hat mit dem in ihr vorherr-
schen Gedächtnisses besteht nicht in der Ver- schenden Politikbegriff zu tun, der sich funktio-
ständigung über die allgemeinen Grundlagen der nalistisch auf die Herstellung kollektiv verbindli-
Zivilisation und darüber, wie wir leben wollen, cher Entscheidungen bezieht und deswegen die
was eine umfassende Wahrheit ist, worin das sogenannten Politikfeld-Studien favorisiert. Das
Glück und der Sinn des Lebens besteht, sondern Gedächtnisthema fällt durch die Maschen des
im engeren Sinn in der Frage, wie die gegenwär- Policy-Netzes hindurch. Die Gedächtnisland-
tige politische Ordnung ihre Vorgänger bewer- schaft einer Gesellschaft und eines politischen
tet, auf welche politischen Entscheidungen und Systems gehört zu den eher weichen Fragen, die
Ereignisse der Vergangenheit sie sich positiv-zu- sich den Koordinaten der Policy-Forschung nicht
stimmend oder negativ-ablehnend bezieht. Das fügen und aus ihrer Perspektive betrachtet eher
politische Gedächtnis drückt im Blick auf die vor- bzw. subpolitischer Natur sind. Sie werden
Vergangenheit das Ideal einer Bürgerschaft aus, dem Bereich der traditionellen Staatsaufgaben
die sich selbst in einer Weise regiert, von der sie zugeordnet, deren Behandlung in der Politikwis-
glaubt, dass sie aus guten Gründen von anderen senschaft über lange Jahre hinweg eher vernach-
akzeptiert werden kann und die durch die Erfah- lässigt worden ist.
rungen der Vergangenheit zusätzliche Plausibili- Das ändert sich nach der Verschiebung der
tät erfährt. weltpolitischen Koordinaten durch den Unter-
Im politischen Gedächtnis nehmen die Grund- gang des realen Sozialismus und die Anschläge
lagen der politischen Ordnung erfahrbare Gestalt des 11. September 2001. Beide Ereignisse haben
an: Welche Ereignisse der Vergangenheit erfüllen intensive Debatten über die Grundlagen politi-
uns mit Schaudern und welche Ereignisse erken- scher Ordnungen in Gang gesetzt, über National-
nen wir als Leitfiguren an, und aus welchen staaten, Reiche, Imperien, über hegemoniale und
Gründen ist das so? In demokratisch-pluralisti- multipolare Weltordnung, über die Grundlagen
schen Staaten wird über diese Frage öffentlich und den Status des Völkerrechts und der Verein-
und fair und mit Angabe von Gründen gestritten, ten Nationen, über die Prinzipien und die Recht-
und jede Antwort ist immer nur vorläufiger Na- fertigung staatlicher und überstaatlicher Ord-
tur. In autoritären Staaten dagegen versuchen die nungen zwischen Vertrag und Verfassung. Es
Inhaber des politisch-administrativen Apparats wird deutlicher, dass Staatlichkeit nicht in der
diese Frage auf dem Wege willkürlicher Setzung Funktionalität ihrer Teilbereiche aufgeht. Die so-
und Anordnung und unter Ausschaltung einer zialintegrativen Aufgaben der Aufrechterhaltung
freien öffentlichen Diskussion mit den Mitteln von Ordnung, der Umverteilung und sozialen Si-
des Zwangs zu entscheiden. cherung, der Konstruktion kollektiver Identitä-
Man sollte freilich die Bedeutung von Typolo- ten und gemeinsamer Überlieferungen, der Her-
gien für die wissenschaftliche Arbeit nicht über- stellung und Bewahrung von Gemeinsamkeiten
bewerten. Wenn sie der groben Orientierung und Verpflichtungen verstehen sich keineswegs
dienlich sind, haben sie ihren Zweck erfüllt. von selbst und bedürfen auch in funktional hoch-
Wichtiger als Definitionen und Unterscheidun- differenzierten Gesellschaften eigener Aufmerk-
gen von Typen sind materiale Analysen, in denen samkeit und Pflege. In diesem Zusammenhang
6. Das Politische des Gedächtnisses 117

werden Gedächtnisfragen relevant. Sie stehen im einanderfolgende, wechselnde und doppelte


Hintergrund politischer Entscheidungsprozesse Besatzungen. Gleichzeitig war die Ukraine ein
und nehmen indirekt Einfluss auf das politische Hauptschauplatz der Vernichtung der europäi-
System. Sie gehören in den Kontext von Hand- schen Juden, und nationalistische Organisatio-
lungsorientierung und Identitätsstiftung, in den nen der Ukrainer und viele Bewohner kolla-
Kontext von Begriffen, Bildern und Mustern, die borierten mit den Deutschen oder waren in die
politische Ordnungen von sich selbst entwerfen. Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht ver-
Die erste der eingangs genannten Annahmen strickt (vgl. osteuropa 6/2008). In Russland ver-
zieht die politische Folgerung aus der soziologi- sucht die politische Klasse, die Erfahrung des
schen Gedächtnisforschung von Maurice Halb- Terror- und Lagersystems unter einer Decke des
wachs, nach der das, was die Menschen ins Ge- Schweigens zu begraben. Ob ihr das gelingen
dächtnis aufnehmen, kein natürliches, biologisch wird, ist fraglich. Die privaten Erinnerungen an
gegebenes Faktum ist, sondern von sozialen und den Archipel Gulag und den Terror sind in Russ-
kulturellen Bedingungen abhängt. land allgegenwärtig. In der Zeit zwischen 1930
Diese Behauptung ist bis heute plausibel und und 1953 waren ca. 20 Millionen Menschen Op-
durch viele kulturwissenschaftliche und sozial- fer der Repression, kaum eine Familie, die nicht
psychologische Untersuchungen bestätigt wor- davon betroffen war (vgl. osteuropa 6/2007).
den. Was in einer Gesellschaft an vergangenen Eine zentrale Frage der Gedächtnispolitik ist,
Ereignissen erinnert und was vergessen wird, ist ob die Tatsache der sozialen Abhängigkeit der Er-
abhängig von dem Bezugsrahmen, den sie in ih- innerungskultur zugleich bedeutet, dass es eine
rer jeweiligen Gegenwart bereitstellt, von den Be- gezielte Steuerung der Prozesse des Erinnerns
dürfnissen, Problemlagen und Wünschen, die sie und Vergessens in einer Gesellschaft geben kann.
ausbildet. Daraus folgt, dass Veränderungen des Gedächtnispolitik im strengen Sinn geht von die-
Bezugsrahmens unvermeidlich einen Wandel im ser Möglichkeit der Steuerung tatsächlich aus.
Gedächtnishaushalt der Gesellschaften bewirken. Das gilt von der Politik der damnatio memoriae
Es ist deswegen alles andere als verwunderlich, (›Verurteilung des Andenkens‹), die im antiken
dass zum Beispiel die Umbrüche des Jahres 1989 Rom der Kaiserzeit praktiziert wurde, über die
das kollektive Gedächtnis der betroffenen Länder Formel oblivio et amnestia (›Vergessen und Ver-
in große Unruhe versetzt haben. Die geographi- geben‹), die über Jahrhunderte hinweg zum Ka-
schen und politischen Räume, die seitdem wie- non der Friedensschlüsse gehörte, bis zur Stock-
der frei zugänglich sind, öffnen auch die Türen zu holmer Holocaust-Konferenz, die im Januar 2000
neuen Gedächtnisräumen und führen zu hefti- gleichsam per Dekret die Erinnerung an die Ver-
gen Eruptionen. Der Streit um die Verlagerung nichtung der europäischen Juden ins Zentrum ei-
des sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Zen- ner global ausgerichteten Gedächtnispolitik rü-
trum Tallinns auf einen Friedhof im Frühjahr cken wollte.
2007 bewirkte Ausschreitungen in Estland, Agi- Extreme Formen der Gedächtnismanipulatio-
tation in Russland und diplomatische Spannun- nen praktizierten die totalitären Regime des 20.
gen zwischen den Nachbarn. Die Ukraine sucht Jahrhunderts. Den Absichten der stalinistischen
nach einem Weg, ihre entsetzliche Vergangenheit und nationalsozialistischen Machthaber zufolge
totalitärer Vernichtungserfahrung zu verarbei- sollte weder von den ermordeten Juden noch von
ten. Und das ist keineswegs ein Elitenphänomen: den der Vernichtung preisgegebenen angeblichen
Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer war Feinden des Kommunismus eine Spur im Ge-
Opfer von Krieg und unterschiedlichen Besat- dächtnis der Zeitgenossen und der nachfolgen-
zungsregimen. Schon vor dem Krieg wurde die den Generationen erhalten bleiben. Diese bar-
Ukraine zum Opfer sowjetischen Terrors, beson- barischen Versuche einer vollkommenen Ge-
ders brutal in der Großen Hungersnot (›Holodo- dächtnisauslöschung und -manipulation sind
mor‹) 1932/1933, und sie erlebte im Krieg auf- misslungen: Immer überlebt einer, der von den
118 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Untaten Zeugnis ablegt, sie im Gedächtnis be- Erinnerungskultur und ihre politischen
wahrt und seine Erinnerungen an die nachfol- Funktionen
genden Generationen weiterreicht.
In modernen Gesellschaften und demokrati- Die zweite der eingangs genannten Annahmen,
schen politischen Systemen ist die Gestalt der Er- also die Annahme, dass mit der Erinnerungskul-
innerungskultur normalerweise das Resultat bzw. tur immer politische Funktionen und Konse-
das Nebenprodukt öffentlicher und für alle zu- quenzen verbunden sind, nimmt vor allem die
gänglicher Debatten und Diskurse. Gleichwohl Frage nach der Legitimität, Stabilität und Dauer-
konnten und können auch hier nicht alle Staaten haftigkeit politischer Ordnungen in den Blick. Im
der Versuchung widerstehen, per Gesetz be- Kern geht es darum, dass durch den positiven Be-
stimmte Gedächtnisinhalte gleichsam zu kanoni- zug auf große Ereignisse und Epochen der Ge-
sieren und andere zu verbieten. In Frankreich schichte oder durch die Distanzierung von einer
gibt es die loi Gayssot, die die Leugnung der Gas- negativ bewerteten Vergangenheit die jeweils ei-
kammern unter Strafe stellt, ferner wurde der Ge- gene politische Ordnung stabilisiert, aufgewertet
nozid an den Armeniern parlamentarisch bestä- und abgesichert wird.
tigt, und die ehemaligen Algerienfranzosen setz- Für die Frage nach den spezifisch politischen
ten ein Gesetz durch, in dem die »positive Rolle« Funktionen und Konsequenzen der Erinnerungs-
des Kolonialismus festgehalten wurde. In der kultur lassen sich vier Ebenen unterscheiden: Auf
Bundesrepublik Deutschland wird nach § 130 der ersten, sehr grundsätzlichen Ebene geht es
StGB strafrechtlich verfolgt, wer »die nationalso- um die Rolle des Gedächtnisses für den Begriff
zialistische Gewalt- und Willkürherrschaft bil- des Politischen. Die zweite Ebene betrifft die
ligt, verherrlicht oder rechtfertigt«. In Russland Rolle der Erinnerungskultur bei der Konstitution
gibt es Pläne, diejenigen strafrechtlich zu verfol- und Legitimation konkreter politischer Ordnun-
gen, die die Verdienste der Sowjetunion beim gen. Die dritte Ebene zielt auf einzelne individu-
Sieg über Deutschland und die Verbrechen der elle oder kollektive Akteure in den politischen
Nazis leugnen; diese Strafandrohung soll auch Auseinandersetzungen, die sich durch den Re-
gegenüber Ausländern gelten. kurs auf gedächtnispolitische Optionen die He-
Wenn man Gedächtnispolitik prinzipiell zu gemonie im politischen Diskurs sichern wollen.
den Möglichkeiten und Aufgaben politischen Die vierte Ebene schließlich fragt nach der Rolle
Handelns rechnet, dann gehört zur Analyse poli- der Erinnerungskultur in politischen Brüchen
tischer Systeme und politischen Handelns die und Umbrüchen, vor allem im Prozess der Neu-
Gedächtnisdimension unverzichtbar hinzu. Die gründung von Demokratien (vgl. Kohlstruck
Analysen stellen dann die Frage, wer über die 2004; König 2008).
Auswahl der Gedächtnisinhalte entscheidet, wel- 1. Begriff des Politischen: Die Bürger einer poli-
che Interessen dahinter stehen, mit welchen Mit- tischen Ordnung schulden einander besondere
teln die Verbreitung bestimmter Gedächtnis- Loyalität und Verlässlichkeit. Politische Ordnun-
inhalte betrieben wird, welche Ressourcen in gen beruhen gleichsam auf einem Versprechen,
Anspruch genommen werden, welche Deutungs- das die Bürger einander geben und dessen Ein-
angebote gemacht und wie sie rezipiert werden. haltung sie sich wechselseitig schuldig sind. Da-
Kurz: Zu fragen ist nach spezifischen gedächtnis- durch entstehen besondere Bindungen, die die
politischen Interessen, Möglichkeiten und Strate- Mitglieder eines politischen Gemeinwesens mit-
gien und nach den Bedingungen für ihren Erfolg einander eingehen. Die Einhaltung der Verspre-
und Misserfolg (vgl. Kohlstruck 2004, 176). chen ist an ein gutes Gedächtnis gebunden, also
daran, dass sich jeder morgen noch an das erin-
nert und gebunden fühlt, was er gestern verspro-
chen hat.
Wer so argumentiert und damit die Rolle von
6. Das Politische des Gedächtnisses 119

Versprechen, Vertrag und Gedächtnis im Kern das kulturelle Gedächtnis nicht zureichend ge-
des Politischen ansiedelt, gehört zur kontraktua- stiftet werden kann. Möglicherweise ist die kultu-
listischen und republikanischen Fraktion des po- relle Einheit eine notwendige und unverzichtbare
litischen Denkens, die nicht die Ordnung der In- Voraussetzung für die gesellschaftliche Integra-
stitutionen und des Systems ins Zentrum des Po- tion und Stabilität, aber sie ist nicht hinreichend.
litikbegriffs stellt, sondern das politische Handeln Andernfalls wäre nicht zu erklären, dass es im
freier und gleicher Bürger, die immer wieder vor Laufe der historischen Entwicklung zur Ausdiffe-
der Aufgabe stehen, geregelte, gerechte und zu- renzierung und Ausbildung einer eigenen politi-
stimmungsfähige Formen einer gemeinsamen schen Handlungssphäre gekommen ist, auf die
Ordnung zu entwickeln und auf Dauer zu stellen. die Gesellschaften offenbar bis heute nicht ver-
Die Bedeutung des guten Gedächtnisses für zichten können. Die politische Sphäre hat die
die Herstellung von sozialer Verbindlichkeit ist Funktion, jene Aufgabe zu erledigen, für die alle
von Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Zur Ge- Gesellschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt
nealogie der Moral aus dem Jahre 1887 mit gro- ihrer Entwicklung dringend eine Lösung brau-
ßem Nachdruck herausgestellt worden. Nietzsche chen: die Notwendigkeit, einen Bereich kollekti-
betont zugleich das Unwahrscheinliche, Unna- ver Verbindlichkeiten festzulegen, in dem die Be-
türliche und Mühselige dieses Versuchs, über die troffenen auch angesichts von Meinungsdifferen-
Ausbildung des Gedächtnisses einen zuverlässi- zen oder Meinungsschwankungen zu akzeptierten
gen Menschen zu erzeugen. »›Wie macht man Entscheidungen kommen, die eingegangenen
dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt Verpflichtungen durchgehalten und, wenn es sein
man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augen- muss, mit dem Einsatz von physischem Zwang
blicks-Verstande, dieser leibhaften Vergeßlich- durchgesetzt werden. Diese Leistungen und
keit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?‹« Die Merkmale der politischen Ordnung sind an Insti-
»ungeheure Arbeit«, die hier gefordert ist, geht tutionen und an die Ausbildung eines adminis-
nach Nietzsche mit viel Grausamkeit und Leid trativen Apparats gebunden. Deren Funktion be-
einher: »›Man brennt etwas ein, damit es im Ge- steht dann darin, diejenigen, die ein schlechtes
dächtnis bleibt: nur was nicht aufhört wehzutun, Gedächtnis haben, an die eingegangenen Ver-
bleibt im Gedächtnis‹ – das ist ein Hauptsatz aus pflichtungen zu erinnern und für deren Einhal-
der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psy- tung zu sorgen.
chologie auf Erden« (Nietzsche 1972, 800 ff.). 2. Konstitution und Legitimation politischer
Die zivilisatorischen Leistungen, die Nietzsche Ordnungen: Für die Konstitution und Legitima-
beschreibt, werden von der Gedächtnisforschung tion konkreter politischer Ordnungen kommt
der Gegenwart für die Bestimmung des kulturel- dem Bezug auf die Vergangenheit ein großes Ge-
len Gedächtnisses in Anspruch genommen. »Das wicht zu. Die kollektive Identität eines Gemein-
Gedächtnis braucht, wer sich verpflichten muß, wesens, die auf Zugehörigkeitsbewusstsein, Zu-
wer sich bindet. Kultur heißt Bindung und daher stimmungsbereitschaft und Loyalität ihrer Bür-
Gedächtnis« (J. Assmann 1995, 112). Allerdings ger beruht, kann durch die Erinnerung an die
ist das zentrale Medium dafür nach Jan Assmann großen Ereignisse der Vergangenheit gefördert,
nicht, wie bei Nietzsche, die körperliche Gewalt, gestärkt und stabilisiert werden. Das gilt für un-
sondern die Sprache bzw. die Schrift. tergeordnete politische Bezugsgrößen, aber vor
Die spezifisch politische Dimension der Ge- allem für die übergeordneten politischen Ord-
sellschaft ist mit diesen Bestimmungen des kultu- nungen, z. B. für Reiche oder Nationen. Allge-
rellen Gedächtnisses aber noch gar nicht erreicht, mein gesagt: Politische Ordnungen sind nie nur
weder bei Nietzsche noch bei Assmann. Die poli- Willensgemeinschaften, sondern stets auch Erin-
tische Dimension kommt erst dann in den Blick, nerungsgemeinschaften.
wenn man sieht, dass der Zusammenhalt von Ge- Das zentrale Beispiel für diese Ebene der Ge-
sellschaften allein durch ihre Kultur und durch dächtnispolitik in der jüngeren Geschichte ist der
120 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

Nationalstaat. Die nationale Legitimation, die in zurückreicht, zu untermauern und zu legitimie-


Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die ren.
dynastische Legitimation politischer Ordnungen Zur Logik des auf der Einheit der Nation auf-
ablöste, hat einen besonders großen Bedarf an bauenden Staates gehört, dass die kulturelle und
Gemeinsamkeitsglauben, der wiederum durch die politische Dimension deckungsgleich sind,
die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangen- weil nur auf dieser Basis die angestrebte vollkom-
heit eine starke Unterstützung erfährt. Deswegen mene Identifikation des Einzelnen mit der Na-
sind Nationen von Max Weber als »Erinnerungs- tion für möglich und glaubwürdig gehalten wird.
gemeinschaften« bezeichnet worden (Weber Die Einheit von Territorium, Staatsgewalt und
1985, 515). Der französische Religionsphilosoph Bevölkerung, die den modernen Staat charakteri-
Ernest Renan formulierte im gleichen Sinn: »Eine siert, bedarf zu ihrer Vollendung gleichsam der
Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. […] Beseelung durch das nationale Gedächtnis. Die
Wie der einzelne, so ist die Nation der Endpunkt Zugehörigkeit zur Nation hat über allem anderen
einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, zu stehen, nationale Loyalitätsanforderungen
Opfern und Hingabe. […] Eine heroische Ver- schließen andere Loyalitäten strikt aus. Das ist
gangenheit, große Männer, Ruhm […] das ist das der Grund für den Hass der nationalen Protago-
soziale Kapital, auf dem man eine nationale Idee nisten auf alle Kosmopoliten und Partikularisten,
gründet« (Renan 1995, 56). die eine Erinnerungskultur oberhalb oder unter-
Es ist in der jüngeren historischen Forschung halb der Nation für sich reklamieren und ihnen
vielfach gezeigt worden, wie die nationalen Be- mindestens den gleichen, wenn nicht einen hö-
wegungen es verstanden haben, mit den Mitteln heren Rang einräumen als dem nationalen Ge-
der »invention of tradition« die Einheit der Na- dächtnis. Da Juden und Sozialisten im 19. Jahr-
tion herzustellen. Die Herstellung der Erinne- hundert sowohl als Kosmopoliten wie als parti-
rungskultur dient hier dem Bemühen, die Gegen- kulare Gruppe, als Staat im Staat galten, traf sie
wart durch die Bindung an eine große Vergan- der Hass der nationalen Protagonisten immer mit
genheit aufzuwerten und damit die Zukunft zu besonderer Intensität.
gewinnen. Das gilt im Kern für alle politischen Nicht nur im Innern der Nationalstaaten, bei
Ordnungen, die auf der Idee der Nation auf- der Stellung der Minderheiten, führt die Forde-
bauen, gleichermaßen. rung der Deckungsgleichheit zwischen nationa-
Die drei großen Pioniere der Idee der Nation ler Kultur und politischer Ordnung zu gewaltrei-
und des nationalen preußisch-deutschen Staates chen Konsequenzen, sondern auch in den Kon-
zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der Publizist flikten zwischen den Staaten. Der Streit um
Ernst Moritz Arndt, der Turnvater Friedrich Lud- Territorien wird im nationalen Zeitalter regelmä-
wig Jahn und der Philosoph Johann Gottlieb ßig zum Streit um die Nationalität dieser Gebiete.
Fichte, waren in diesem Sinne entschiedene Ge- Es genügt nicht mehr, ein Territorium zu erobern
dächtnispolitiker (vgl. König 2008, 364 ff.). Sie und dem siegreichen Staat zu unterwerfen, viel-
haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Weg mehr muss nun die Bevölkerung der eroberten
vorgegeben, der dann vom nationalen Denken Gebiete in den Körper und das Gedächtnis der
und von der nationalen Geschichtsschreibung in Siegernation eingegliedert, d. h. zum Bestandteil
Deutschland mit großem Erfolg und großer Re- ihrer ›Seele‹ werden. Das geschieht auf zwei We-
sonanz beschritten worden ist. Sie waren eifrig gen: Zum einen auf dem Weg der nationalpoliti-
damit beschäftigt, eine große nationale Vergan- schen Umerziehung – in Elsass und Lothringen
genheit zu etablieren und die politische Ordnung z. B. versuchten dies 1871 zunächst die Deutschen
des deutschen Vaterlands mit dem Aufbau einer und ab 1919 wieder die Franzosen. Zum anderen,
nationalen Gedächtnislandschaft, die bis zur in den Fällen, wo Assimilation von vornherein
Schlacht von Hermann dem Cherusker gegen die für aussichtslos oder zu mühsam erachtet wird,
römischen Truppen unter Varus im Jahre 9 n. Chr. durch ethnische Säuberungen, also durch Ver-
6. Das Politische des Gedächtnisses 121

treibung und Umsiedlung. Ethnische Säuberun- timierende Rolle. Nach allgemeiner Auffassung
gen begleiten das nationale Zeitalter wie ein handelt es sich bei dem aufgefundenen Buch um
Schatten und offenbaren das riesige Gewaltpo- das Deuteronomium, das fünfte Buch Mose, das
tential, das in der nationalen Legitimation politi- detaillierte Erinnerungsanweisungen für das Volk
scher Ordnungen von Anfang an enthalten ist. der Juden enthält (vgl. J. Assmann 2007, 212 ff.;
Aber Erinnerungskultur ist nicht nur für die König 2008, 240 ff.).
Nationalstaaten von Bedeutung, sondern auch Auch in der römischen Republik erinnern die
für politische Ordnungen, die auf anderen Kon- politischen Akteure immer wieder an den Ruhm
zepten der Legitimation aufbauen. Es wäre eine und den Auftrag der Vorfahren und leiten von ih-
notwendige Aufgabe, systematisch zu untersu- nen die Legitimität ihrer Rolle her. Cicero bei-
chen, ob man unterschiedlichen politischen Ord- spielsweise ist darin ein wahrer Meister (vgl. Kö-
nungen, also z. B. Imperien, Reichen, National- nig 2007). Generell gilt, dass überall dort, wo wir
staaten und heute den postnationalen Ordnun- es mit traditionaler Herrschaft zu tun haben, d. h.
gen jeweils ein anderes »Gedächtnisregime« mit der Legitimation der Herrschaftsausübung
zuordnen kann. Die Aufgabe einer historischen über die Herkunft, die Inhaber der entsprechen-
Erforschung von Gedächtnisregimes ist noch den Herrschaftspositionen vor der gedächtnispo-
nicht in Angriff genommen worden. Unter »Re- litischen Daueraufgabe stehen, dafür zu sorgen,
gime« sollen hier, in Anlehnung an die Termino- dass ihr Status anerkannt und nicht vergessen
logie in der politikwissenschaftlichen Lehre von wird.
den Internationalen Beziehungen, politik-, norm- 4. Umbruch und Neubeginn: Gedächtnispolitik
und regelgeleitete Formen der kollektiven Erin- und die Errichtung von Erinnerungskulturen
nerung verstanden werden, die zwar nicht recht- spielen eine große Rolle bei Umbrüchen und po-
lich fixiert, aber doch für längere Zeit stabil und litischem Neubeginn, vor allem nach Revolutio-
maßgeblich sind. nen, Kriegen, Bürgerkriegen, Aufständen und
3. Diskurshegemonie: Die Erinnerung ist eines Regime- bzw. Systemwechseln. Die jeweilige neue
der Felder, auf dem die politischen Akteure ihre politische Ordnung steht vor der Notwendigkeit,
Konkurrenzen und Rivalitäten austragen. Politi- ihre Existenz zu legitimieren, und ein wesentli-
sche Akteure konkurrieren um politische Ämter ches Mittel dafür ist, sich von ihrem Vorgänger-
und Positionen. Sie stehen immer vor der Auf- Regime abzugrenzen, also das vergangene, abge-
gabe, Aufmerksamkeit, Zustimmung, Reputation löste System und seine Anhänger zu delegitimie-
für die eigene Person oder Partei zu erringen und ren. Das kann gedächtnispolitisch durch ganz
den Einfluss der Konkurrenten zu verringern. Es entgegengesetzte Strategien bewirkt werden: ent-
geht auf dieser Ebene der Gedächtnispolitik um weder durch Vergessen und Vergeben oder durch
die Erringung bzw. Erhaltung politischer Domi- Erinnern und Bestrafen.
nanz, um den Versuch, Diskurshegemonie zu er- In der Geschichte der Friedensschlüsse be-
reichen und auf Dauer zu stellen. stimmte über Jahrhunderte hinweg das Vergeben
Bemühungen um die Erringung und Stabili- und Vergessen das politische Handeln. Erst mit
sierung von Diskurshegemonie mit den Mitteln dem Versailler Vertrag und dann vor allem seit
der Gedächtnispolitik spielen überall dort eine dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die
Rolle, wo die gemeinsamen Dinge als öffentliche Auffassungen über die ›Kunst‹, einen Krieg zu
verstanden und verhandelt werden – und das beenden und einen politischen Neubeginn zu un-
heißt, solange es überhaupt Politik gibt. Von ei- ternehmen, fundamental geändert. Von nun an
nem spektakulären Fall der Gedächtnispolitik be- setzte sich die Forderung nach Erinnern, Aufar-
richtet bereits das Alte Testament: In der Reform- beiten und Bestrafen durch. Das sogenannte Lon-
politik des Königs Josia im letzten Drittel des 7. doner Statut mit seinen drei Straftatbeständen
Jahrhunderts v. Chr. spielte das angebliche Wie- des Kriegsverbrechens, des Verbrechens gegen
derauffinden eines alten Buches eine große, legi- die Menschheit und der Vorbereitung eines An-
122 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

griffskriegs, die den Nürnberger Prozessen zu- Freuds, die im Dreischritt von Erinnern, Wieder-
grunde lagen, schuf die entsprechenden völker- holen und Durcharbeiten die Möglichkeit er-
rechtlichen Voraussetzungen, und mit der Grün- kennt, die belastende, krankmachende und über-
dung des International Criminal Court haben die wältigende Last vergangener Ereignisse zu über-
Vereinten Nationen diesen Weg fortgesetzt. Nun winden.
gilt der Krieg nicht mehr nur als das Übel, unter Ein zentrales Beispiel für diese vierte Ebene
dem die Menschheit leidet und das man beim der Gedächtnispolitik ist die Geschichte der Bun-
Ende der Kämpfe schnell vergessen soll, sondern desrepublik und ihr Verhältnis zur NS-Vergan-
als Unrecht, das man erinnern und bestrafen genheit. Aber auch in den jüngeren Demokrati-
muss. sierungswellen, etwa in Südamerika oder in den
Die Alternative, um die es hier geht, ist aber postsozialistischen Ländern in der Mitte und im
mit Erinnern oder Vergessen nur unzureichend Osten Europas, überall dort also, wo der Wechsel
benannt. Ein gutes Gedächtnis kann nachtragend von der Diktatur zur Demokratie vollzogen
sein, bestehende Unversöhnlichkeiten und Feind- wurde, spielte und spielt das Thema eine große
schaften verlängern und neue entstehen lassen. Rolle. Eine wichtige Besonderheit an diesem
Deswegen wurde über die Jahrhunderte hinweg Punkt besteht darin, dass sich die Erinnerungs-
die Beendigung von Bürgerkriegen und zwi- kultur nicht in symbolischem und kulturellem
schenstaatlichen Kriegen fast immer an oblivio et Handeln erschöpft, sondern mit darüber hinaus-
amnestia gebunden, an Vergessen und Vergeben. gehenden Konsequenzen verbunden ist, vor al-
Das verordnete Vergessen und Vergeben, so zeigt lem mit der Frage, ob es Strafverfahren gegen be-
die Erfahrung, führte dann aber doch immer nur lastete Personen und Amtsinhaber des abgelösten
zu einem mehr oder weniger schnell wieder auf- Regimes oder eine Amnestie geben soll.
gekündigten Stillhalteabkommen. Im Versailler Dass die schreckliche Vergangenheit nicht ver-
Vertrag am Ende des Ersten Weltkriegs wurde gehen will, wird heute von den maßgeblichen po-
dann zum ersten Mal in einem bedeutenden Frie- litischen Kräften Europas nicht mehr für eine be-
densschluss nicht das Vergeben und Vergessen klagenswerte Tatsache gehalten. In den ersten
angekündigt und verlangt, sondern das Gegen- Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
teil. Dem Deutschen Reich wurde die Schuld am war das zunächst noch völlig anders. Es herrschte
Ausbruch des Krieges zugeschrieben, die Deut- damals das unausgesprochene Einverständnis,
schen wurden moralisch geächtet, und statt Am- dass das Ziel der europäischen Integration, näm-
nestie wurde die Durchführung von Strafprozes- lich die Überwindung der wirtschaftlichen und
sen wegen Kriegsverbrechen angekündigt. Dieses politischen Ursachen der beiden Weltkriege, am
erzwungene Gedächtnis traf die Weimarer Repu- besten zu erreichen ist, wenn man – jedenfalls auf
blik ganz unvorbereitet. Es führte nicht zum Ab- der politischen Ebene – von den Gewaltexzessen
bau der Feindschaften, sondern trug zu ihrer Es- und von der Vernichtung der europäischen Juden
kalation bei und gehört deswegen zur Vorge- durch die Nationalsozialisten nicht allzu viel Auf-
schichte des Zweiten Weltkriegs. hebens macht, weder in den drei Nachfolgestaa-
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ten des Dritten Reiches, also in der Bundesrepu-
setzte sich dann aber mehr und mehr das postna- blik, der DDR und Österreich, noch in den Bezie-
tionale Gedächtnisregime durch. Ihm liegt die hungen zwischen den Staaten. Churchill forderte
Auffassung zugrunde, dass der fortwirkende in seiner berühmten Rede von 1946 über die Not-
Bann der Vergangenheit am besten aufgelöst wer- wendigkeit eines vereinten Europa, Gladstone zi-
den kann, indem die belastenden Vergangenhei- tierend, einen »segensreichen Akt des Verges-
ten erinnert, ungeschönt wahrgenommen und sens«, und er fügte hinzu: »Wenn Europa vor
damit der Bearbeitung zugänglich gemacht wer- endlosem Elend und schließlich vor seinem Un-
den. Im Hintergrund dieses Erinnerungsmodells tergang bewahrt werden soll, dann muß die euro-
stehen Überlegungen aus der Psychoanalyse päische Völkerfamilie diesen Akt des Vertrauens
6. Das Politische des Gedächtnisses 123

und diesen Akt des Vergessens gegenüber den und dem Auffrischen von Rechnungen, von de-
Verbrechen und Wahnsinnstaten der Vergangen- ren Existenz kaum noch jemand überhaupt eine
heit vollziehen« (Churchill 1989, 312). Dieser Ahnung hatte. Aggressive und autistische natio-
Haltung korrespondiert, dass im Existentialismus nale Mythen erfuhren eine Wiederauferstehung,
Sartres und im Vitalismus von Ortega y Gasset, und das nationale Gedächtnisregime gewann, als
zwei wichtigen intellektuellen Strömungen nach sei es das natürlichste der Welt, die Oberhand.
1945, das Vergessen zum Modell erhoben und im Das ist der vorherrschende Trend in so gut wie al-
strikten Blick nach vorn die einzige Möglichkeit len osteuropäischen Ländern, in Polen nicht an-
des Neuanfangs gesehen wurde. ders als in Ungarn oder in Tschechien, zu schwei-
Allgemein gesagt: Für nationale Gedächtnisre- gen von Russland. Überall dominiert die Neigung,
gimes ist typisch, dass sie die eigene Gegenwart nationale Mythen wieder hervorzuholen, belas-
und Vergangenheit für sakrosankt erklären und tende Geschehnisse auszublenden, weit in der Ge-
nur das aufnehmen, was die Wunschphantasie ei- schichte zurückliegende heroische oder krän-
gener Stärke, Größe und Reinheit bestätigt. Nie- kende Ereignisse zu Bezugspunkten der Gegen-
derlagen, Enttäuschungen und Erniedrigungen, wart zu machen und alte Helden zu revitalisieren.
die man eingestehen muss, dienen hier nur als Aber der Zusammenbruch der sozialistischen
Anlauf und Treibstoff für die Stunde der Rache Staaten tangiert nicht nur die Gedächtnisland-
und die Fortsetzung des Kampfes. Das Gedächt- schaften der mittel- und osteuropäischen Länder,
nisregime, das der postnationalen Konstellation das Ende der europäischen Spaltung ist in seinen
korrespondiert, ist dagegen zu einem komplexe- Wirkungen nicht auf das Territorium, die Institu-
ren Blick in der Lage. Es akzeptiert auch die be- tionen, das Bewusstsein und die Erinnerungen
lastenden Seiten der eigenen Geschichte und dieser Gebiete eingrenzbar. Mit der Öffnung von
wendet sich ihnen sogar mit größerer Intensität Grenzen und Räumen und dem Ziehen neuer
zu, weil daraus für die Zukunft besonders viel ge- Grenzen kommt ganz unvermeidlich und auf al-
lernt werden kann. Ihre Thematisierung dient len Seiten eine neue Bewegung in die Selbstbilder
nicht der Vorbereitung auf den nächsten Waffen- und die Erinnerungslandschaften, es entstehen
gang, sondern umgekehrt dem Ausstieg aus der neue Beschreibungen und Zuordnungen, die in
törichten und todbringenden Eskalation von Ag- die Erinnerung an die Gewaltgeschichte des 20.
gression, Niederlage und Revanche. Jahrhunderts neue Koordinaten einzeichnen.
Auch die Erinnerung an die Geschichte der zwei-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt sich zu
Postkommunistische Gedächtnisregime
verschieben. Sie erscheint nun nicht mehr nur als
Dass das postnationale Gedächtnisregime noch eine einzigartige Erfolgsgeschichte friedlicher
keineswegs überall die Vorherrschaft angetreten Beziehungen und stabiler demokratischer politi-
hat, zeigt der Blick auf die mittel- und osteuropäi- scher Systeme, sondern zugleich als eine Ge-
schen Länder. Der Zusammenbruch des realen schichte, in der der Gesamtzusammenhang Eu-
Sozialismus seit 1989 hat eine Umwälzung der ropas zerstört worden ist.
europäischen Gedächtnislandschaft bewirkt, die
vorerst nur in Ansätzen sichtbar geworden und
Gedächtnisreligion
noch längst nicht an ihr Ende gekommen ist. Er-
innerungen, die lange auf Eis gelegt waren, sind in Angesichts der vielfältigen weltpolitischen Ver-
Aufruhr geraten, wurden freigesetzt, und eine werfungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der
neue Dynamik des Erinnerns und Vergessens ist Versuch gemacht worden, über die Erinnerung
in Gang gekommen. Das Auftauchen der unter an die Shoah eine vereinheitlichende und die
autoritärem Verschluss gehaltenen Erinnerungen Konflikte überwölbende Erinnerungskultur zu
ging oft mit der Neuauflage vergessener Abgren- etablieren. Das »International Forum on the Ho-
zungen einher, mit mörderischen Feindbildern locaust« in Stockholm im Januar 2000, an dem
124 II. Was ist Gedächtnis/Erinnerung?

viele Staaten mit offiziellen Delegationen betei- schichte, sie ist verbunden mit Orten, die man
ligt waren, verabschiedete eine Erklärung, in der aufsuchen kann, mit Räumen, die die Nazis für
es im letzten Artikel heißt: »Es ist durchaus ange- ihr Vernichtungswerk aussuchten und herrichte-
messen, daß diese erste große internationale Kon- ten, mit Spuren, die zwar zum Teil durch die Zeit
ferenz des neuen Jahrtausends sich dazu bekennt, verwischt wurden, aber immer noch sichtbar ge-
die Saat einer besseren Zukunft in den Boden ei- blieben sind. Es ist nicht schwer, eine Karte des
ner bitteren Vergangenheit zu streuen. Wir füh- Terrors anzufertigen, mit dem die Deutschen und
len mit den Opfern, und ihr Kampf ist uns An- ihre Verbündeten die Länder Europas überzogen
sporn. Wir wollen uns verpflichten, der Opfer zu haben. Es sind immer ganz spezifische, unver-
gedenken, die ihr Leben gelassen haben, die noch wechselbare Erinnerungen, die sich in den euro-
unter uns weilenden Überlebenden zu achten päischen Ländern, den Orten des Krieges und
und das gemeinsame menschliche Streben nach der Vernichtungspolitik, mit der Zeit des Natio-
gegenseitigem Verstehen und nach Gerechtigkeit nalsozialismus verbinden. Sie sind in Deutsch-
zu bekräftigen« (www.holocausttaskforce.org). land natürlich ganz anders als bei den Kriegsgeg-
Auf Initiative des schwedischen Premierminis- nern und den von den Deutschen okkupierten
ters Göran Persson war schon 1998 die »Task Ländern. Aber auch innerhalb dieser Gruppe
Force for International Cooperation on Holo- sind sie wiederum sehr unterschiedlich, in Frank-
caust Education, Remembrance, and Research« reich anders als in den Niederlanden oder in Ita-
eingerichtet worden, an der nunmehr 24 Staaten lien oder in den skandinavischen Ländern oder
beteiligt sind. Ihr Ziel ist es, die Erinnerung an in Österreich. Und noch einmal ganz anderer Na-
die Shoah zu einer universalen Angelegenheit zu tur sind sie in den osteuropäischen Ländern, bei
machen. Dem gleichen Ziel verpflichteten sich denen zur Erinnerung an die Leiden unter den
die Vereinten Nationen, die am 24. Januar 2005 Deutschen die Erinnerungen an die zweite Ter-
zum ersten Mal in ihrer Geschichte in einer Son- rorherrschaft unter dem Diktat der Sowjetunion
dersitzung des Holocaust gedacht haben. UN- hinzukommen, die man im Westen nur aus der
Generalsekretär Kofi Annan sagte in seiner An- Beobachterposition kennt.
sprache: »Das Böse, das sechs Millionen Juden Die Unterschiedlichkeit und Mannigfaltigkeit
und andere in diesen Lagern vernichtet hat, be- der Erinnerungen, ihre Kollisionen und ihr Ant-
droht uns alle auch heute noch.« Die Verbrechen agonismus, ihre Radikalität und Unversöhnlich-
Deutschlands seien »nichts, das wir einer fernen keit, ihre Gegenwärtigkeit und Macht – all das
Vergangenheit zuschreiben dürfen, um es zu ver- wird im Versuch der Europäisierung und Univer-
gessen.« salisierung der Holocaust-Erinnerung mit einer
Gedenktage, Arbeitsgruppen und Konferen- großen pathetischen Geste übersprungen und ni-
zen sollen die Erinnerung an das Verbrechen der velliert. Der Versuch, den Kosmos der je spezifi-
Shoah zum Ausgangspunkt und Rückhalt einer schen Erinnerungen auf ein vereinheitlichendes
an den Menschenrechten orientierten Weltpoli- Zentrum hin auszurichten, führt zu Moralisie-
tik machen. Der Preis für diese Universalisierung rung, Entwirklichung und Mythisierung des Ver-
der Erinnerung an die Shoah ist jedoch hoch (vgl. nichtungsterrors der Deutschen. Am Ende wird
A. Assmann 2006, 255 ff.). Sie geht auf Kosten die Shoah zum Teil des ewigen Kampfes, in dem
von Präzision und Konkretion. Die verschiede- die Kräfte des Bösen und des Guten miteinander
nen Gedächtnisebenen mit ihren unterschiedli- ringen. Das hat mehr mit religiösem Bewusstsein
chen Perspektiven, Inhalten und Akzenten wer- als mit politischer Urteilskraft zu tun. Die Erin-
den zugunsten eines einheitlichen Fixpunktes der nerung an die Shoah verwandelt sich damit in
Erinnerung nivelliert. In den Ländern Europas ›Gedächtnisreligion‹. Rituale treten an die Stelle
knüpft die Erinnerung an die Shoah an konkrete von Erinnerungen an konkrete, benennbare, in
Erfahrungen an. Sie ist, bei Tätern wie Opfern, Raum und Zeit lokalisierbare Geschehnisse. Zum
zentraler Bestandteil so gut wie jeder Familienge- Wesen religiöser Rituale und Zeremonien gehört,
6. Das Politische des Gedächtnisses 125

dass sie Zeit und Geschichte ausschalten und ver- –: Kulturelles Gedächtnis als normative Erinnerung.
gangene Ereignisse in die Gegenwart hineinzie- Das Prinzip ›Kanon‹ in der Erinnerungskultur Ägyp-
tens und Israels. In: Otto Gerhard Oexle (Hg): Me-
hen. Dadurch aber wird die Erinnerung abstrakt, moria als Kultur. Göttingen 1995, 95–115.
sie löst sich von den realen Koordinaten der ver- Churchill, Winston: European Unity. ›Something That
gangenen Ereignisse, von lokalen Gegebenheiten Will Astonish You‹. In: David Cannadine (Hg):
und der Beziehung zu Personen, Situationen, Blood, Toil, Tears and Sweat: Winston Churchill’s Fa-
Umständen, Räumen und Orten. Zurück bleibt mous Speeches. London 1989, 309–319.
ein entleertes, inhaltsloses Konstrukt, auf das sich Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur
Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
vielleicht alle als gemeinsamem Bezugspunkt be-
Rechtsstaats [1992]. Frankfurt a. M. 2006.
ziehen und verständigen können, das aber alles Kohlstruck, Michael: Erinnerungspolitik: Kollektive
Herausfordernde verloren hat, weil es der Härte Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie. In: Bir-
der realen Erfahrungen und antagonistischen Er- git Schwelling (Hg): Politikwissenschaft als Kultur-
innerungen gar nicht mehr angemessen ist. Ritu- wissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen.
alisierungen dienen der Bändigung der Erinne- Wiesbaden 2004, 173–193.
König, Helmut: Cicero – Politik und Gedächtnis. In:
rungen, sie wissen immer schon und viel zu gut,
Emanuel Richter/Rüdiger Voigt/Ders. (Hg): Res Pu-
wohin die Erinnerungen führen sollen. Es ist bes- blica und Demokratie. Die Bedeutung von Cicero für
ser und auch realistischer, vom Gegenteil auszu- das heutige Staatsverständnis. Baden-Baden 2007,
gehen. Was eine lebendige Erinnerungskultur 35–61.
braucht, ist nicht die Integration der Erinnerun- –: Politik und Gedächtnis. Weilerswist 2008.
gen in eine Gedächtnisreligion, in der sie rituell Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral [1887].
gezähmt werden, sondern umgekehrt die Bewah- In: Ders.: Werke Bd. II. Hg. von Karl Schlechta.
Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972, 761–900.
rung und Öffnung von Räumen und Foren für osteuropa: Das Lager schreiben. Varlam Salamov und die
konkrete Erzählungen und Erfahrungen. Und es Aufarbeitung des Gulag 6 (2007).
ist die wichtigste Aufgabe der Gedächtnispolitik osteuropa: Geschichtspolitik und Gegenerinnerung. Krieg,
in der Ära des postnationalen Gedächtnisre- Gewalt und Trauma im Osten Europas 6 (2008).
gimes, diese Räume und Foren bereitzustellen Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt
und zu sichern. a. M. 1998 (engl. 1971).
–: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 2003 (engl.
1993).
Literatur Renan, Ernest: Was ist eine Nation? [1882]. In: Ders.:
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften.
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München Mit einem einleitenden Essay von Walter Euchner
2006. und einem Nachwort von Silvio Lanaro. Wien/Bozen
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle 1995, 41–58.
Identität. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg): Kul- Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1922]. 5., re-
tur und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19. vidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckel-
–: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und po- mann. Tübingen 1985.
litische Identität in frühen Hochkulturen [1992]. Mün- Helmut König
chen 62007.
127

III. Medien des Erinnerns

Einleitung schichte, so lassen sich verschiedene Stufen me-


dialer Repräsentationen feststellen, die zu unter-
Wie in den vorangehenden Kapiteln gezeigt, voll- schiedlichen Zeiten dominierten. Das Handbuch
zieht sich Gedächtnisbildung immer in der Inter- versucht durch Auswahl einschlägiger Medien,
aktion und Kommunikation mit der Umwelt – im die menschliche Gedächtniskultur möglichst um-
sogenannten ›memory talk‹ zwischen Eltern und fassend darzustellen. In schriftlosen Kulturen
Kind strukturieren sich die neuronalen Verbin- übernehmen neben der Sprache und ihren my-
dungen; die unterschiedlichen Gedächtnissys- thischen Ursprungserzählungen vor allem Ritu-
teme werden aktiviert und entsprechend geformt. ale und Bräuche die Funktion, die Vergangenheit
Sprache, Gestik, Mimik sind die natürlichen Aus- zu vergegenwärtigen, die Identität der Gemein-
drucksformen, die ersten und ursprünglichen schaft zu stiften und Orientierung für die Zu-
Medien, die die Entwicklung von Gedächtnis und kunft zu geben. Gleichzeitig treten hier in einigen
Erinnerung vorantreiben und bestimmen. Kulturen schon die Bilder in Form von ersten
Medien sind Vermittlungssysteme zwischen Skulpturen bzw. Felszeichnungen als Erinne-
Innen- und Außenwelt, zwischen der individuel- rungsträger auf. Während Rituale und Bräuche in
len und kollektiven Dimension von Gedächtnis immer weniger Kulturen als alleiniges Medium
und Erinnerung. Sie sind ihre Schnittstelle. Ohne des Gedächtnisses fungieren, nimmt das Bild bis
Medien kann das Individuum nicht teilhaben heute eine zentrale Stellung ein. Auch die Ge-
an kulturell-gesellschaftlichen Erfahrungen und dächtnismedien Denkmale und Gedenkstätten
Wissensordnungen, wie umgekehrt persönliche ließen sich in dieser Frühzeit verorten, sind aber
Erfahrungen und Ereignisse nur durch ihre me- zugleich von entscheidender Bedeutung für die
diale Repräsentation in die gesellschaftlichen Identität einer Gesellschaft, wie man an den
Ordnungen eingespeist und für die entspre- Debatten um das Mahnmal für die ermordeten
chende Gemeinschaft Bedeutung erlangen kön- Juden in Berlin sehen kann. Sie haben eine retro-
nen. Allein auf Grundlage bestimmter Medien – spektive und prospektive Funktion, indem sie re-
seien es Riten und Rituale, mythische Erzählun- levant erachtete Vergangenheit im öffentlichen
gen, Schriften oder Gesetzestexte – können sich Raum einer Gesellschaft installieren. Ein weiterer
Stämme, Gruppen, Gemeinschaften und Natio- Schritt in der kulturellen Entwicklung ergibt sich
nen ihrer Selbst vergewissern. durch die Architektur und ihre Bauten. Hier wird
Medien sind allerdings nicht nur als reine Ver- Gedächtnis bis in das Äußere manifest. Die Ar-
mittlungssysteme zu betrachten, sondern auch chitektur lässt Zeit gleichsam sichtbar werden,
als Transformatoren. Sie bilden und prägen den indem sie in einem Stadtbild, in Sakralbauten
Inhalt, den sie transportieren, entscheidend mit. Gleichzeitigkeiten von ungleichzeitigen Vergan-
Sie sind nicht Abbild der Wirklichkeit, sondern genheiten vor Augen zu stellen vermag. Mit der
sie strukturieren durch ihre spezifischen und un- Entwicklung der Schrift kann Gedächtnis erst-
terschiedlichen Repräsentations- und Narrati- mals ausgelagert werden, die enormen Speicher-
onsverfahren unser Denken, Fühlen und Han- möglichkeiten dieses Mediums werden entdeckt.
deln und damit das Erinnern. So schreibt das je- Literatur als eines der zentralen Gedächtnisme-
weilige Gedächtnismedium sich durch seine dien entwickelt sich und trägt bis heute zur Iden-
Form den Gedächtnisinhalten ein. tität von Gesellschaften bei. In der Antike kom-
Überblicken wir die menschliche Kulturge- men noch die Gedächtniskünste als besondere
128 III. Medien des Erinnerns

Form des Erinnerns hinzu. Zwar werden diese ger und Projektionsflächen von Erinnerungen.
mit der Entwicklung des Buchdrucks immer Das Kapitel schließt mit dem Blick auf den Kör-
mehr zurückgedrängt, doch gibt es selbst heute per, der zwar schon in den ältesten Kulturen als
noch Gedächtniskünstler, die sich dieser antiken Medium des Erinnerns benutzt, aber erst im 20.
Techniken auf geradezu legendäre Weise bedie- Jahrhundert als Erinnerungsträger literarisch
nen. Der Buchdruck zeitigt dann noch eine für und wissenschaftlich entdeckt wurde.
die Gedächtnismedien weitere wichtige Entwick- Besonders zu erwähnen sind noch die Erinne-
lung. Archive, Bibliotheken und dann ab dem 18. rungsorte, da sie gewissermaßen aus der Reihe
Jahrhundert Museen entstehen, um die Flut der der Gedächtnismedien herausfallen: Nach Pierre
Schriften und Gegenstände zu archivieren, kon- Nora sollen diese zwar als Medien des Gedächt-
servieren und auch zu kanonisieren. Mit der nisses fungieren, bei genauerer Untersuchung
Fotografie kommt dann im 19. Jahrhundert ein zeigt sich allerdings, dass sie, vor allem zu nor-
weiteres Medium hinzu, das lange Zeit die Wirk- mativen Identitätsstiftung genutzt, zu einer Me-
lichkeit abzubilden schien und erst im letzten tapher werden. Erinnerungsorte fungieren als
Jahrhundert seines Beweis- und Authentizitäts- Oberbegriff für verschiedene, schon länger in der
charakters beraubt wurde. Weitere neue Medien kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung
entstehen in rascher Folge: Radio, Film und Fern- diskutierte Medien des Gedächtnisses wie etwa
sehen und schließlich mit der Erfindung des Archive, Literatur, Denkmale, Museen oder Ritu-
Computers das Internet. Gerade letzteres kann ob ale.
seiner bald nahezu unendlichen Speicherkapazi- In allen Beiträgen wird ein Überblick über die
tät, sowie seiner potenziell partizipativen Struk- geschichtliche Entwicklung des jeweiligen Medi-
tur massive Auswirkungen auf Erinnerungsfähig- ums gegeben, seine besonderen Leistungen in
keit und Gedächtnisbildung haben. Noch wenig Bezug auf Erinnerung und Gedächtnis hervorge-
beachtet ist die Rolle von Produkten, die in diesen hoben sowie die besonderen und spezifischen
und anderen Medien beworben werden als Trä- Techniken erläutert.
129

1. Schrift 1989, der etwa für Griechenland im 5. Jh. v. Chr.


von einem 10–15 %igen Anteil von Lese- und
›Wenn sich diese neue Technik durchsetzt, wird Schreibkundigen ausgeht).
das für unser Gedächtnis und unsere geistige Ent- Bei dem Versuch, im Folgenden einen Über-
wicklung sehr schädlich sein.‹ Solche Kritik am blick über die unterschiedlichen Wahrnehmun-
Medienwandel, wie sie in diesem fiktiven Zitat gen und Bewertungen dieses Medienwandels in
anklingt, ist nicht erst ein Phänomen unserer der Antike zu vermitteln, werden, abhängig von
Zeit, sondern war bereits in der griechischen und der jeweiligen Kultur, nur diejenigen Epochen
römischen Antike eine weit verbreitete Haltung. ausführlicher behandelt, in denen sich dieser
Dort galt sie allerdings nicht der Etablierung des Übergang vor allem vollzogen hat. Dies ist des-
Buchdrucks, des Fernsehens oder des Internets, wegen möglich und notwendig, weil der Fokus
sondern bezog sich auf die Schrift und das Schrei- im Weiteren nicht auf der eigentlichen Erfindung
ben selbst. Denn auch das Aufkommen und die der Schrift liegen wird, sondern auf der Über-
zunehmende Verbreitung dieser Kulturtechnik nahme in den jeweiligen Kulturen und um die
im Laufe der Antike ging mit Veränderungen des Frage ihrer gesellschaftlichen Relevanz und
Umgangs mit Wissen und der Art seiner Memo- Reichweite sowie ihrem Bezug zum Gedächtnis.
rierung einher, die von den Zeitgenossen be- Die Schrift wurde wahrscheinlich ab 3500
obachtet und teils ausgenommen kritisch, teils v. Chr. gleichzeitig in Mesopotamien und Ägyp-
aber auch sehr positiv bewertet wurde. Diese De- ten erfunden. Eventuell sogar schon um 5300
batte wurde mit umso größerer Intensität geführt, v. Chr. im Donauraum, wenn man die sogenann-
als sich die Schriftlichkeit im antiken Kontext nie ten Vinca-Symbole als frühste Form der Schrift
vollständig durchgesetzt hat, sondern konkurrie- versteht (Haarmann 2007, 16–29). Ziel war vor
rende Formen der Mündlichkeit stets eine wich- allem die dauerhafte Tradierung von religiösem,
tige, in vielen gesellschaftlichen Bereichen sogar politischem und wirtschaftlichem Wissen.
die dominierende Rolle gespielt haben (Thomas
1992; Benz 2001). Sinnfälliger Ausdruck hierfür
Griechenland
ist die in der Antike weit verbreitete – wenn auch
nicht ausschließlich praktizierte – Form der lau- In Griechenland ist die Schrift offenkundig zwei-
ten und häufig nicht allein, sondern in verschie- mal übernommen worden, ohne dass zwischen
denen sozialen Kontexten stattfindenden Lek- der im Kontext der minoischen Kultur entwickel-
türe, die daher immer das Potenzial zur Re-Ora- ten Linear B-Schrift (15. Jh.–12. Jh. v. Chr.) und
lisierung des geschriebenen Wortes beinhaltet den späteren, vor allem am phönizischen Alpha-
(Johnson 2000). Im Zuge der Überwindung der bet orientierten Formen der Schriftlichkeit (nach-
traditionellen Vorurteile gegenüber oralen Struk- weisbar ab dem 8. Jh. v. Chr.) eine Kontinuität
turen als Ausweis gesellschaftlicher Primitivität bestanden zu haben scheint. Für unsere Frage-
(Stein 2006, 9–28) wurde das Nebeneinander von stellung ist jedoch nur die zweite Phase von Be-
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den antiken deutung, da erst mit dem Ende des 6. Jahrhun-
Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten inten- derts v. Chr. davon ausgegangen werden kann,
siv diskutiert und differenziert erfasst (u. a. im dass die Schrift als Kulturtechnik im griechischen
von 1985–1996 in Freiburg angesiedelten SFB Sprachraum für einen größeren Teil der Bevölke-
321 »Übergänge und Spannungsfelder zwischen rung verfügbar war, wie sich vor allem an der
Mündlichkeit und Schriftlichkeit«). Eine allge- Verwendung von Inschriften zu vielfältigen Zwe-
meine Schwierigkeit besteht allerdings darin, cken ablesen lässt. Dies dürfte unter anderem im
dass sich der Alphabetisierungsgrad für die ein- Zusammenhang damit stehen, dass mit der Ent-
zelnen Epochen nur schätzungsweise bestimmen wicklung des strikt am Einzellaut orientierten Al-
lässt. In Teilen der neueren Forschung werden phabetes im Vergleich zu den älteren Systemen
daher eher niedrige Zahlen angesetzt (von Harris der logographischen und silbenbasierten Schrif-
130 III. Medien des Erinnerns

ten eine erhebliche Reduzierung der zu erlernen- neuen Medium keine vergleichbare inhaltliche
den Zeichen einhergegangen ist. Kanonisierung des Gedächtnisses stattgefunden
Auffällig ist dabei, dass die Verwendung der hat (z. B. Assmann 2007, 259–292).
Schrift schon in dieser frühen Phase nicht auf Die kritische Reflexion des Medienwandels
eine enge politische oder religiöse Führungs- von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit hat ih-
schicht beschränkt ist, sondern sich mit Hilfe des ren locus classicus in einer berühmten Stelle des
öffentlichen Schulunterrichts auf weite Teile der platonischen Dialogs Phaidros gefunden (1. Hälf-
– insbesondere der freien und männlichen – Be- te 4. Jh. v. Chr.; s. Kap. IV.2). Dort lässt Platon So-
völkerung erstreckte. In der Partizipation ver- krates gegenüber Phaidros die Frage aufwerfen,
gleichsweise breiter Teile der Gesellschaft liegt welche Vorteile und welche Nachteile mit der
eine charakteristische Besonderheit der griechi- Verwendung der Schrift verbunden sind. Zur Be-
schen (wie später auch der römischen) Schrift- antwortung seiner eigenen Frage erzählt Sokrates
kultur, insbesondere im Vergleich mit den stärker zunächst die Geschichte vom ägyptischen Gott
autokratisch geprägten Verhältnissen in Ägypten, Theuth, der neben anderen Dingen auch die
Mesopotamien oder Israel (Assmann 2007, 264– Schrift erfunden und sie mit diesen Worten dem
272). König Thamus zur Prüfung vorlegt haben soll:
Ob die Gründe für die Übernahme und rasche
Verbreitung dieser neuen Technik eher in der »›Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weise machen
und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für den Ver-
Nützlichkeit der Schrift zur Speicherung wirt-
stand und das Gedächtnis ist sie erfunden.‹ Jener aber
schaftlicher und administrativer Daten oder zur habe erwidert: ›O kunstreichster Theuth, einer versteht,
Tradierung kultureller Hervorbringungen zu su- was zu den Künsten gehört, an Licht zu gebären; ein an-
chen sind, lässt sich heute nicht mehr mit letzter derer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie de-
Sicherheit rekonstruieren, jedenfalls trat das neue nen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast du jetzt
Medium nun auf all diesen Gebieten neben die als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen
gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird
Memorierung von Daten und Worten mithilfe
der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflö-
des menschlichen Gedächtnisses. Ebenso um- ßen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie
stritten wie die genauen Gründe sind in der For- im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermit-
schung die Auswirkungen dieses Vorganges: Ins- tels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst
besondere Eric A. Havelock hat der ›kulturellen und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das
Revolution‹ des griechischen Alphabetes weitrei- Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein
chende Folgen für die Entwicklung der europäi- Mittel erfunden‹« (Platon, Phaidros, 274b–277a, v. a.
274e–275b, Übers. Friedrich Schleiermacher und Diet-
schen Mentalität und Geistesgeschichte zuge- rich Kurz).
schrieben (Havelock 1990, v. a. 71–75) und damit
eine lebhafte Debatte ausgelöst, deren Ergebnisse Im Anschluss an diese Erzählung werden von den
zu einer starken Relativierung dieser in ihrer Ab- beiden Dialogpartnern weitere Nachteile der
solutheit überzogenen Position geführt hat. Je- schriftlichen Kommunikation gegenüber der
denfalls wiederholt sich durch die Übernahme mündlichen Wissensvermittlung diskutiert, vor
der Schrift in Griechenland der Wandel von einer allem die Inflexibilität in Hinblick auf die Interes-
primär an inhaltlicher und ritueller Kohärenz in- sen des Rezipienten, die stete Gefahr von Miss-
teressierten Erinnerungskultur zu einer stärkeren verständnissen und die fehlende Kontrolle über
Betonung der textuellen Wiedergabe, wie er von den tatsächlichen Adressatenkreis (zur Rolle der
Jan Assmann für die frühen Hochkulturen be- Schrift bei Platons Vermittlung seiner Philoso-
schrieben wurde (Assmann 2007, 163–258). Ein phie und der Annahme einer ungeschriebenen
wichtiger Unterschied besteht allerdings darin, Lehre vgl. z. B. Erler 1987, 21–37). Entscheidend
dass sich in Griechenland – und später in Rom – für unsere Fragestellung ist vor allem die Diffe-
aufgrund des weitgehenden Fehlens gesellschaft- renzierung zwischen dem nur im mündlichen
licher Reglementierungen des Zugangs zu dem Dialog zu stiftenden Gedächtnis (mnéme) und
1. Schrift 131

der Hilfe zur Erinnerung (hypómnemis/hypó- die homerischen Epen und ist in der Folgezeit zu
mnema), zu der die Schrift durchaus einen Bei- einem wichtigen Merkmal antiker Dichtung ge-
trag leisten kann (zum zeitgenössischen Kontext worden (vgl. z. B. Thomas 1992, 29–51und 101–
dieser Unterscheidung vgl. Erler 1987, 38–59). 127).
Da davon ausgegangen werden kann, dass Als in höherem Maße von der Schriftlichkeit
diese Geschichte in der hier erzählten Form trotz geprägt erweist sich demgegenüber die Prosa, die
ihrer Lokalisierung in Ägypten eine ad hoc-Er- als sprachliches Speichermedium erst mit der
findung Platons darstellt, kann wohl auch die in Möglichkeit zur materiellen Fixierung eine grö-
ihr artikulierte Beobachtung, dass die Gedächt- ßere Rolle spielt. Hier ist es vor allem die philoso-
nisleistung durch die Verwendung von Schrift phische, rhetorische, medizinische und naturwis-
verändert wird und in gewisser Weise abnimmt, senschaftliche Fachliteratur, die die Möglichkei-
auf ihn als Zeitzeugen dieses Medienwandels zu- ten der Tradierung von Wissen in Form des
rückgeführt werden. Gleichwohl ist damit noch Prosabuchs rasch und entschieden für sich zu
nichts darüber ausgesagt, inwieweit diese Beur- nutzen verstanden hat (Rösler 1994, 514). Beson-
teilung aus unserer Perspektive zutreffend ist, da ders prononciert wird der mit dem neuen Me-
sich die modernen Vorstellungen vom Auswen- dium verbundene Anspruch jedoch in der Histo-
diglernen gerade eines literarischen Werkes von riographie formuliert: Bereits im 5. Jahrhundert
denen der Antike erheblich unterscheiden dürf- v. Chr. betonen Herodot und Thukydides, dass
ten: Schließt man von der für unsere Vorstellun- die Geschichtsschreibung dank der schriftlichen
gen häufig erstaunlich freien Zitierpraxis in an- Fixierung die Zeiten überdauern und auch noch
deren antiken Texten auf die mündliche Wieder- zukünftigen Generationen als immerwährendes
gabe zurück, dann liegt die Vermutung nahe, dass Besitztum (ktêma es aeí: Thukydides 1,22,4) zur
wörtliche Genauigkeit hier eine vergleichsweise Verfügung stehen wird. Damit wird die wortge-
geringe Rolle gespielt hat (Harris 1989, 30–33). naue Fixierung einer individuellen – und in den
Dennoch dürfte in der Zunahme der Bedeutung Augen des Verfassers richtigen – Darstellung der
der wortgenauen gegenüber der inhaltsorientier- Vergangenheit gegen die Störanfälligkeit der ora-
ten Wiedergabe eine wichtige Veränderung in der len Tradierung ausgespielt.
Arbeitsweise des Gedächtnisses durch die Eta- Der Antike war auch die hiermit einherge-
blierung der Schriftlichkeit liegen, zumindest ist hende Erfahrung geläufig, dass ein schriftlich fi-
eine derartige qualitative Veränderung erheblich xierter Text, der nicht mehr bei jedem Vortrag
wahrscheinlicher als eine rein quantitative Ver- den Aktualisierungen der mündlichen Erinne-
ringerung (Small 1997, 3–10). rungskultur unterliegt, im Laufe der Zeit unver-
Was sich hingegen auch heute noch gut nach- meidlich veraltet und daher in der jeweiligen Ge-
vollziehen lässt, sind die mit der Möglichkeit zur genwart interpretations- und auslegungsbedürf-
schriftlichen Fixierung einhergehenden Verän- tig wird. Dies zeigt sich etwa an der Reflexion
derungen in der Struktur literarischer Texte. Ins- über die angesichts des ständigen Sprachwandels
besondere in der epischen Dichtung, der bereits notwendigerweise partiell als altmodisch emp-
vor der Etablierung der Schrift eine zentrale Rolle fundene sprachliche Form der tradierten Texte,
im kulturellen Gedächtnis zukam, hat die Kom- die beim Leser eine Erfahrung von Fremdheit
bination der Elemente, die auf die weiterhin pri- und ein ›historistisches‹ Gefühl auslösten und
mär mündliche Vortragspraxis einerseits und auf nicht zuletzt dazu führten, dass schon früh unter
die nun in der Regel schriftliche Abfassung ande- anderem für die homerischen Epen entspre-
rerseits zurückgehen, deutliche Spuren hinterlas- chende Kommentare als Lesehilfe angefertigt
sen (z. B. sogenannte epitheta constantia, Formel- wurden.
verse und typische Szenen). Das auf diese Weise Darüber hinaus beinhaltet die schriftliche Tra-
entstandene Nebeneinander von mündlichen dierung immer auch die Möglichkeit, dass meh-
und schriftlichen Charakteristika prägt bereits rere und sich widersprechende Versionen eines
132 III. Medien des Erinnerns

Ereignisses überliefert werden, da der Zwang rührt. Am deutlichsten wird das auf dem Gebiet
zum direkten Vergleich und damit zur Syntheti- der im antiken Alltag breiten Raum einnehmen-
sierung in der jeweiligen Kommunikationssitua- den Rhetorik. Zwar gibt es auch in Rom seit dem
tion entfällt. Dieses Nebeneinander von aus ver- 1. Jahrhundert v. Chr. Rhetoriklehrbücher, doch
schiedenen Zeiten stammenden und von keiner in der Praxis ist der Redner für seinen Vortrag al-
übergreifenden Instanz vereinheitlichten schrift- lein auf sein Gedächtnis angewiesen, da die Zu-
lichen Darlegungen derselben Sachverhalte oder hilfenahme schriftlicher Notizen in der Regel
Anschauungen wird von einigen Forschern als nicht toleriert wurde. Dementsprechend gilt die
entscheidender Faktor für das geschärfte Be- memoria als eine der zentralen Aufgaben des
wusstsein für die Verwendung und die Akzep- Redners, dem hierfür elaborierte Methoden der
tanz fiktionaler Elemente in der späteren antiken Mnemotechik zur Verfügung standen (Small
Literatur angesehen (Rösler 1983, v. a. 112–120). 1997, 79–137). Auch wenn diese ihrerseits wiede-
Die rasante Zunahme der literarischen Pro- rum in schriftlicher Form gelehrt werden und
duktion im Laufe des 4. Jahrhundert v. Chr. (bei- deren Funktionsweise in der rhetorischen Fach-
spielsweise durch den von Aristoteles und seiner literatur sogar explizit mit derjenigen eines
Schule initiierten Wissenschaftsbetrieb) führte schriftlichen Speichermediums verglichen wird
zu einem frühen Höhepunkt der Speicherung, (z. B. Anonymus, Rhetorica ad Herennium, 3,30
Verarbeitung und Weiterentwicklung der schrift- und Cicero, De partitione oratoria 26), bleibt die
lichen Hervorbringungen in hellenistischer Zeit, mündliche Präsentation das eigentliche Ziel – die
vor allem im Kontext der berühmten Bibliothek schriftlichen Erinnerungshilfen waren diesen
von Alexandria (ab 284 v. Chr.), die mit dem Ziel klar untergeordnet.
gegründet wurde, die gesamte griechische Litera- Wie schon in Griechenland bleibt auch in Rom
tur zu sammeln, und rund eine halbe Million für weite Teile der poetischen Produktion eine
Buchrollen umfasst haben soll. mündliche Rezeptionssituation (z. B. Symposion,
Theater, Rezitation) nicht nur eine reale Möglich-
keit, sondern auch eine imaginäre Norm, die das
Rom
Fortleben mündlicher Strukturen in den Dich-
In Rom wurde die griechische Adaptation des tungstexten zur Folge hatte (Vogt-Spira 1994,
phönizischen Alphabets über den Umweg der 519–522).
etruskischen Schrift zwar bereits im 7. Jahrhun- Gleichwohl bezieht sich der von einigen Dich-
dert v. Chr. übernommen, ihre Verwendung be- tern mit großem Selbstbewusstsein formulierte
schränkte sich aber lange Zeit auf den engen Per- Anspruch auf literarische Unsterblichkeit schon
sonenkreis im Umfeld der Aristokratie und auf früh gerade auch auf die schriftliche Fixierung
vorwiegend vergleichsweise kurze Inschriften. ihrer Werke, die in ihrer gedächtnisstiftenden
Erst ab der Mitte des 3. Jahrhundert v. Chr. im und die Zeiten überdauernden Wirkung als der
Zusammenhang mit dem Ausgreifen Roms über mündlichen Tradierung überlegen empfunden
das Gebiet des heutigen Italiens hinaus und den wurde (z. B. Horaz, Carmina 3,30). Mit der Eta-
verstärkten Kontakten zur hellenistischen Staa- blierung eines florierenden Buchmarktes ab der
tenwelt lässt sich eine nun allerdings sehr rasch Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. und vor allem
erfolgende Verbreitung der Schrift in der römi- während des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr.
schen Gesellschaft beobachten, die mit der Ent- nimmt die Bedeutung der schriftlichen Form in
wicklung vielfältiger, häufig an griechischen Vor- der Dichtung noch einmal stark zu, zudem wird
bildern orientierten literarischen Aktivitäten ein- dieser Prozess nun auch in den Texten vielfach
hergeht (Vogt-Spira 1994, 517 f.). reflektiert.
Und doch bleiben vom Siegeszug der Ver- Entschiedener als die Dichtung hat sich aber
schriftlichung auch in Rom – wie bereits in Grie- auch in Rom die Prosa der schriftlichen Form als
chenland – einige Bereiche weitgehend unbe- geeignetes Medium zur Speicherung unterschied-
1. Schrift 133

licher Wissensbestände zugewandt und eine um- nerung an das historische Geschehen zu bewah-
fangreiche Tradition der Fachschriftstellerei her- ren« (una custodia fidelis memoriae rerum gesta-
vorgebracht (z. B. Ackerbau, Militärwesen, Geo- rum) preist und sie scharf von der oralen Überlie-
graphie, Architektur, Medizin). Diese schriftliche ferung abgrenzt.
Form der Tradierung trat dabei in ein nicht im- Über die Risiken der Speicherung von Wissen
mer spannungsfreies Verhältnis zu der mündli- in dem neuen Medium ist allerdings auch in Rom
chen Weitergabe von Erfahrungswissen in den reflektiert worden. Dabei spielt neben der bereits
einzelnen Tätigkeitsbereichen. Insbesondere im von Platon thematisierten Gefahr für die Leis-
Falle der militärischen Ausbildung wird diese Di- tungsfähigkeit des Gedächtnisses vor allem die
chotomie bereits von den Zeitgenossen dadurch fehlende Möglichkeit der Kontrolle des Adressa-
mit einer sozialen Dimension verbunden, dass tenkreises eine zentrale Rolle. Den klassischen
ein der etablierten Führungsschicht zur Verfü- Fall des Verzichts auf schriftliche Fixierung von
gung stehendes Buchwissen gegen die praktische Wissensbeständen aus Furcht vor unerwünsch-
Erfahrung der gesellschaftlichen Aufsteiger aus- ten Lesern beschreibt Caesar in seinen Commen-
gespielt wird (vgl. z. B. die – freilich fiktive – Rede tarii de bello Gallico (ca. 50 v. Chr.). Die Kelten
des Marius bei Sallust, Bellum Iugurthinum 85). seien zwar mit der Schrift prinzipiell vertraut,
Erneut spielt in diesem Zusammenhang die verzichteten aber beispielsweise bei der Ausbil-
schriftliche Fixierung historischer Informationen dung der Druiden auf ihre Verwendung: »Dies
in Form der Geschichtsschreibung eine zentrale scheinen sie mir aus zwei Gründen so zu halten:
Rolle, die sich unter dem Einfluss griechischer Sie wollen ihre Lehre nicht in der Masse verbrei-
Vorbilder bereits seit dem späten 3. Jahrhundert tet sehen und zudem verhindern, dass die Zög-
v. Chr. gerade von den Angehörigen der politi- linge im Vertrauen auf die Schrift ihr Gedächtnis
schen Führungsschicht als literarische Betätigung zu wenig üben. Es kommt ja häufig vor, dass man
aufgegriffen wurde. Dass in Rom einerseits meh- sich auf Geschriebenes verlässt, nicht mehr so
rere Personen aus miteinander um den politi- gründlich auswendig lernt und die Übung des
schen Einfluss konkurrierenden Adelsfamilien Gedächtnisses nachlässt« (Buch 6,14,3–4, Übers.
als Historiker tätig geworden sind, es jedoch an- Otto Schönberger).
dererseits nur sehr schwach ausgeprägte Formen Ein weiteres Problemfeld rückt verstärkt ab
einer übergeordneten ›staatlichen‹ Speicherung dem 1. Jahrhundert n. Chr. in das Blickfeld des
von Daten gab, stellt eine wichtige Besonderheit antiken Diskurses zur Speicherung von Wissen
der römischen (und griechischen) Erinnerungs- im Medium der Schrift: Die prosperierende Wirt-
kultur dar (Walter 2004), gerade gegenüber den schaft im Imperium Romanum führt zu einem
stärker von der Monarchie geprägten Gesell- rasanten Anstieg der im Buchhandel oder öffent-
schaften in Ägypten, Mesopotamien oder Israel lichen Bibliotheken verfügbaren Werke, mit de-
(Assmann 2007, 264–272). ren großer Zahl die Aufnahmefähigkeit des ein-
Diese ›Sonderentwicklung‹ des geschichtli- zelnen Lesers nun so deutlich überfordert war,
chen Gedächtnisses in Rom wurde bereits von dass dieser Umstand in der zeitgenössischen Li-
den Zeitgenossen am Ende des 1. Jahrhunderts teratur vielfach thematisiert wird. Die Klage, dass
v. Chr. erkannt, wobei man einerseits die ver- mehr Wissen in schriftlicher Form gespeichert
gleichsweise große Zuverlässigkeit der einzelnen ist, als von dem einzelnen Menschen selbst im
Überlieferung zu schätzen gewusst, andererseits Laufe eines Lebens gelesen werden kann, führt
aber die Uneinheitlichkeit des Geschichtsbildes einerseits zur Etablierung eines strikten Litera-
in seiner Gesamtheit beklagt hat. Dieses Span- turkanons und anderseits zur Blüte einer Ratge-
nungsverhältnis wird beispielsweise von Titus Li- ber- und Dienstleistungsliteratur, die dem Leser
vius thematisiert, wenn er im Proömium zum 6. eine schnellere Aneignung der relevanten Wis-
Buch seines Geschichtswerkes (ca. 20 v. Chr.) die sensbestände verspricht. Aber auch in dieser
Schrift als »die einzig zuverlässige Art, die Erin- Phase einer intensiven und vergleichsweise weite
134 III. Medien des Erinnerns

gesellschaftliche Kreise einschließenden Schrift- wohl lässt sich auch in der christlichen Kultur der
kultur bleibt das für die antike Gesellschaften Antike wie des Mittelalters ein ausgeprägtes Ne-
charakteristische Nebeneinander von Mündlich- beneinander von mündlichen und schriftlichen
keit und Schriftlichkeit erhalten, wie sich etwa an Formen der Stiftung von Gedächtnis sowie der
der nach wie vor großen Bedeutung der Rhetorik Diskussion differierender Auslegungen von im
verdeutlichen lässt: Der Reiz des Auftritts dieser Medium der Schrift tradierten Erinnerungen
gefeierten ›Virtuosen‹ bestand gerade in der per- (z. B. in der Lesung oder der Predigt) beobachten
formativen Präsentation und Aktualisierung der (Sellin/Vouga 1997).
ansonsten in Büchern tradierten Bildung. Das Mittelalter übernahm die Schrift einerseits
aus der heidnischen Antike als Medium zur Tra-
dierung von administrativen, technischen und li-
Ausblick: Von der Spätantike bis
terarischen Wissensbeständen, andererseits aus
zum Buchdruck
der christlichen Kultur. Da in diesem Kontext die
Das 2. Jahrhundert n. Chr. markiert mit seiner Bibel als heilige Schrift und damit als idealer Aus-
Buch- und Bildungskultur einen deutlichen Hö- gangspunkt aller Schriftlichkeit verstanden wird
hepunkt in der Verwendung der Schrift in den (so beispielsweise von Isidor von Sevilla, der auch
antiken Gesellschaften. Mit den politischen und die Erfindung der Schrift auf die Hebräer zurück-
wirtschaftlichen Schwierigkeiten des römischen führt: Etymologiae 1,3,4–5 u. 5,39,9), lässt sich
Reiches in den folgenden Jahrhunderten nahm hier auch keine explizite Form der Schriftkritik
auch die Verbreitung von Schriftlichkeit aufs beobachten. Gleichwohl bleibt die Verwendung
Ganze gesehen wieder ab, konzentrierte sich zu- der Schrift für lange Zeit auf wenige Personen vor
gleich aber auch auf bestimmte Bereiche (z. B. allem im klerikalen Umfeld beschränkt. Erst ab
Kodifizierung von Gesetzestexten, Sammlung dem 11. Jahrhundert kommt es zunächst im Um-
der literarischen Überlieferung). Ein anderer fol- feld des Adels und in den aufblühenden Städten,
genreicher Unterschied besteht in der spezifi- dann auch an den neu entstehenden Universitä-
schen Verwendung der Schrift durch das Chris- ten wieder zu einer breiteren Verwendung der
tentum, das sich im Gegensatz zu den paganen Schrift, die nun zudem nicht mehr ausschließlich
Religionen der Antike als Buchreligion versteht auf die lateinische Sprache beschränkt bleibt,
und zu diesem Zweck auf einen Kanon ›heiliger sondern verstärkt auch für die Aufzeichnung und
Schriften‹ rekurriert, der ältere jüdische Formen Tradierung der Volkssprachen verwendet wird.
der schriftlichen Erinnerung ebenso umfasst wie Dennoch bleibt das Mittelalter insgesamt von
vergleichsweise junge Texte aus dem 1. und 2. dem Nebeneinander von schriftlicher und münd-
Jahrhundert n. Chr. Indem diese Schriften als au- licher memoria geprägt, wenn sich auch ab dem
toritativ und emphatisch zum Zwecke der Stif- 14. Jahrhundert eine zunehmende Tendenz zur
tung von Gedächtnis verstanden werden, ergibt Schriftkultur beobachten lässt, die schließlich mit
sich hier ein wichtiger Unterschied zur Rolle von der Erfindung und raschen Verbreitung des
Literatur im Kontext der paganen Religionen. Buchdrucks ab dem 15. Jahrhundert deutlich die
Während in den antiken Gesellschaften die Se- Oberhand gewinnt (Stein 2006, 159–184).
lektion der Literatur im Laufe der Überlieferung Die mit dem Buchdruck einhergehende
vorwiegend durch die Bekanntheit des Autors enorme Vervielfältigung der Schrifterzeugnisse
und das Interesse der Leser gesteuert wurde, gibt sowie ihre sich auf immer weitere gesellschaftli-
es innerhalb der Führungsschicht der neuen Reli- che Kreise erstreckende Verfügbarkeit und ihre
gionsgemeinschaft schon früh Bestrebungen, auf durch die Standarisierung gegenüber den indivi-
den Prozess der Kanonbildung direkt einzuwir- duellen Handschriften deutlich erleichterte Re-
ken. Die daraus resultierende Unterteilung des zeption haben dazu geführt, dass es im Laufe der
frühchristlichen Schrifttums in kanonische und frühen Neuzeit zu einer kontinuierlich fortschrei-
apokryphe Werke ist bis heute wirksam. Gleich- tenden Marginalisierung der mündlichen Kom-
1. Schrift 135

munikations- und Erinnerungsformen kam. Rösler, Wolfgang: Schriftkultur und Fiktionalität. Zum
Diese Entwicklung wird durch den Siegeszug der Funktionswandel der griechischen Literatur von Ho-
elektronischen, aber gleichwohl in großen Teilen mer bis Aristoteles. In: Aleida Assmann/Jan Ass-
mann/Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Ge-
weiterhin schriftbasierten Speichermedien seit dächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen
dem späten 20. Jahrhundert weiter vorangetrie- Kommunikation [1983]. München 21993, 109–122.
ben. –: Die griechische Schriftkultur der Antike. In: Hart-
mut Günther/Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schrift-
Literatur lichkeit: ein interdisziplinäres Handbuch internationa-
ler Forschung. Bd. 1. Berlin 1994, 511–517.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erin- Small, Jocelyn Penny: Wax Tablets of the Mind: Cogni-
nerung und politische Identität in frühen Hochkultu- tive Studies of Memory and Literacy in Classical Anti-
ren [1992]. München 62007. quity. New York 1997.
Benz, Lore (Hg.): Scriptoralia Romana: Die römische Li- Sellin, Gerhard/Vouga, François (Hg.): Logos und Buch-
teratur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tü- stabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum
bingen 2001. und Christentum der Antike. Tübingen 1997.
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136 III. Medien des Erinnerns

2. Gedächtniskünste ner Gründungslegende überliefert (Blum 1969).


Simonides von Keos, der Erfinder dieser Kunst,
stellt nach einer Erdbebenkatastrophe, die einen
Klassische Antike
Bankettsaal zerstört und die darin Speisenden
Die Gedächtniskunst, die ars memoriae oder me- zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat, durch die
moria artificialis, die als erlernbare Fertigkeit mit Erinnerung des vorherigen Zustandes die alte
dem Begriff ›Mnemotechnik‹ bezeichnet wird, Ordnung wieder her. Er, der Augenzeuge, erin-
steht dem Gedächtnis, der memoria naturalis, zur nert den Ort, an dem jeder Teilnehmer gelagert
Seite, um das Vergessen des Vergangenen und hat, gibt den Unkenntlichgewordenen ihre Na-
dessen abzuwenden, was für eine Kultur als erin- men zurück, womit sie wieder zu Personen wer-
nerungswürdig gilt. Während die Gedächtnis- den, deren Bilder nun im Gedächtnis der Ange-
kunst, entweder als Teil der Rhetorik oder als ei- hörigen erstehen können. Die Katastrophe des
gene Disziplin, in unterschiedlichen Medien und Vergessens ist damit abgewendet. Die Legende
mit variierenden Funktionen seit der Antike verdeckt einen archaischen Mythos, der von der
Instruktionen für das Merken liefert, ist das Entstehung der Gedächtniskunst aus dem Ah-
Gedächtnis ein prominenter Gegenstand der nen- und Trauerkult erzählt (Goldmann 1989,
Philosophie, insbesondere der philosophischen 43–66) und aus dem auch deren fundamentale
Anthropologie: Platons Anamnesis-Theorie (vgl. Konzepte, Ort (locus) und Bild (imago), herzulei-
Phaidon) und Aristoteles’ De memoria et reminis- ten sind. Die ›Ur-Szene‹ des Gedächtnisses um-
centia, das memoria-Kapitel in Augustinus’ Con- schließt sowohl den indexikalischen Akt des Zei-
fessiones ebenso wie die scholastischen Interpre- gens auf die Toten (Ahnen) wie den ikonischen,
tationen der mnemonischen Schriften des Aris- auf Ähnlichkeit beruhenden Akt, der die Toten in
toteles von Albertus Magnus und Thomas von eine Vorstellung von ihnen zu transformieren
Aquin sind zentrale Punkte der Reflexion, die bis vermag. Aus der Rekonstruktion der zerstörten
in die Gegenwart theorieproduktiv geblieben Ordnung, so könnte man schließen, ist die Ge-
sind (s. Kap. IV. 2). dächtniskunst mit ihren beiden Funktionen ent-
Vor allem die Bildbezogenheit verbindet die standen: Gedenken als Vergegenwärtigung des
Mnemotechnik mit der memoria-Philosophie Vergangenen und Merken von Wissen. Der Ge-
der Antike. Bei Aristoteles ist das phantasma, ein genstand dieser Legende, die Mnemotechnik,
aufgrund von Wahrnehmung (aisthesis) erfahre- tritt allerdings erst in nachmythischer Gestalt auf:
nes Bild, Grundlage jeden Denkens (De memoria einmal in ihrer rhetorisierten, für pragmatische
et reminiscentia, 449 b–451a) und gehört mit Zwecke dienlichen Form als einzuübende Erin-
dem Gedächtnis (mneme) in dasselbe Seelenver- nerungsrezeptur, zum anderen als ein Instrument
mögen. Die Wahrnehmung erscheint mithin als zur Strukturierung und (offenen oder verschlüs-
sinnliche und als intellektuelle Tätigkeit, die selten) Darstellung von Wissen. Die fundamen-
Spuren hinterlässt. Nicht nur der Vorgang des tale Operation des Findens von Orten, an denen
sich Einprägens mithilfe von bildlichen Vorstel- Bilder für zu Erinnerndes niedergelegt werden,
lungen, sondern auch das Vergessen des Wahr- die Verfahren der Transposition des Erinne-
genommenen werden in den memoria-relevan- rungsgegenstandes in seinen Bildvertreter, der
ten Schriften diskutiert: Memoria erscheint als die Sequenzbildung im Raum, dessen erneutes
Thesaurus, als Ort, an dem das Wahrgenom- imaginiertes Abschreiten das zu Erinnernde ab-
mene deponiert ist, während Erinnerung (remi- rufbar macht, sind durch Regeln präzisiert. Diese
niscentia) als Wiederfinden (recollectio) dem regulieren die semantischen Relationen zwischen
Vergessen entgegenarbeitet. dem zu Erinnernden und dem Bild, geben Modi
Die auf dem Marmor von Paros neben ande- ihrer Eindrücklichmachung an (z. B. durch soge-
ren Ereignissen als besondere Errungenschaft der nannte imagines agentes, ›bewegte Bilder‹, d. h.
Griechen verzeichnete Gedächtniskunst ist in ei- Bilder von hoher Intensität, wie eine grell bemalte
2. Gedächtniskünste 137

Statue), und lenken die Wahl des Gedächtnis- Orientierung an der Tropenlehre der Rhetorik
raums selbst, der eine imaginierte Architektur hervor. Man bedient sich Bildern, die durch
mit Räumen und Nischen (ein Haus, ein Tempel, Ähnlichkeit (Metaphern), Verwandtschaft mit
ein Palast, später eine Kirche) oder ein geglieder- den zu erinnernden Redeelementen (Metony-
ter Garten, ein Labyrinth sein kann. Als spezielle mien) in Beziehung stehen oder wählt Bilder,
Technik und als traditionsbildende Disziplin, die die ein Teil des zu Erinnernden darstellen (Syn-
einen didaktisch verwertbaren Modus des Mer- ekdoche, oder pars pro toto), wie in dem von
kens herausgebildet hat, wird die Gedächtnis- Quintilian genannten Beispiel: Um sich an die
kunst zum Kernstück kultureller Arbeit, eine Art Schiffskunst zu erinnern, stellt man sich ein Ru-
Universalschlüssel zum Weltwissen (P. Rossi der vor, oder um sich den Begriff ›Krieg‹ zu
1983). merken, stellt man sich eine Waffe vor (Quinti-
Drei prominente antike Texte, Rhetorica ad lian, XI,II, 17–22) etc.
Herennium (Lib III), Ciceros De oratore (II, 351– Die Pragmatisierung der mnemonischen
358) und Quintilians De institutione oratoria (XI, Prozedur verbindet die Mnemotechnik auch
II), erzählen die Legende und stellen die zentra- mit der Argumententopik der Rhetorik. ›Topos‹
len, die Merkkunst konstituierenden Aspekte he- ist der Begriff, in dem diese beiden Bereiche zu-
raus. In der Rhetorica ad Herennium heißt es, das sammentreffen, der Topos bezeichnet den Ge-
künstliche Gedächtnis operiere mit loci und ima- dächtnisort und die sedes argumentorum (den
gines; letztere seien notae (Zeichen) und simula- Sitz der Argumente). Er ist ein als ›sichtbar‹
cra (Abbilder) der zu erinnernden Sache. Die imaginierter Ort: ein Gesichtspunkt also. Er
Analogie zwischen Gedächtnisorten und der funktioniert als mnemotechnisches Hilfsmittel
Wachstafel (cera) einerseits und zwischen Bildern und gleichzeitig als allgemeine Formel zum
und Buchstaben (litterae) andererseits, die auch Auffinden geeigneter Gedanken. In der diskur-
in Ciceros De oratore und Partitiones oratoriae, siven Verknüpfung der Topoi vollzieht sich das
und bei Quintilian auftaucht, wird hier vorfor- Erinnern wie eine Art Schlussfolgern. Die Ana-
muliert und damit auch das Medium Schrift he- logie zwischen Memorieren und Argumentie-
rausgestellt: »Denn die Orte sind einer Wachsta- ren besteht darin, dass die Reden, als öffentli-
fel und einem Blatt Papier sehr ähnlich, die Bilder che, mit dem Gemeinwissen (den endoxa) des
den Buchstaben, die Einteilung und Anordnung Publikums operieren. Eine öffentliche Rede
der Bilder der Schrift, der Vortrag dem Lesen« kann durch kurze Hinweise, Anspielungen oder
(Rhetorica ad Herennium, Lib III, 17, 30). die Nennung von Namen dem Publikum be-
Bei Cicero tritt die Mnemotechnik in den kannte Umstände und Personen in Erinnerung
Dienst der praktischen Rhetorik: Es geht um das rufen und damit den Kontext herstellen, der für
Memorieren von Redeinhalten und deren An- die Entfaltung eines Arguments für den Redner
ordnung. Die von den antiken Rhetoren ausge- von Bedeutung ist.
übte Merkkunst wendet Vergessen durch Imagi-
nation ab, indem Bilder für die Gegenstände
Spätes Mittelalter
(res) und Worte (verba) der Rede an markierten
Stellen eines gegliederten und betretbaren Die in den spätmittelalterlichen Universitäten
Raums deponiert werden. Das von der Imagina- reaktivierte Mnemotechnik verband sich mit ei-
tion in Gang gesetzte Wechselspiel von Innen ner monastischen Tradition, in der das Lesen
und Außen wird durch die ›Äußerung‹ der Rede, (lectio), das durch Wiederkäuen (ruminatio) das
abgelöst. Dieser Vorgang lässt sich als Weg vom Gelesene memoriert, und Meditation aufeinan-
›Ein-Bilden‹ zum ›Aus-Drücken‹, von einer der bezogen sind. Die Mnemonik entwickelte
Merktechnik zu einer rhetorischen Praxis be- sich im Mittelalter aus der Rhetorik heraus und
stimmen. In der Umsetzung des eigentlichen gewann Nähe zur ars praedicandi (Predigtkunst)
Ausdrucks in einen mnemonischen tritt die und ars dictaminis (Schreibkunst). Bildungsun-
138 III. Medien des Erinnerns

terschiede führten dabei zu Unterschieden in Passionsgeschichte) dennoch durch das Bild ver-
der Mnemonik. Nunmehr wurden in Abwand- körpern zu lassen. Das Bild darf jedoch kein Ar-
lung der antiken Mnemotechnik für didaktische tefakt, sondern soll Zeichen des Natürlichen sein.
Zwecke präparierte Datenträger eingesetzt, die Paracelsus, von der reformatorischen Bildkritik
als allgemein zugängliche Speicher auch für des berührt, gelangt in Buch über die Bildnisse (ca.
Lesens Unkundige verfügbar sind. Die inneren 1530) zu einer Interpretation der mnemonischen
Bilder werden damit nach außen verlagert. Alle- Bilder, in der Gott als ihr Schöpfer erscheint, der
gorisch zu lesenden Figuren oder bereits als Em- sie den Menschen, als »Signaturen« zu dechiffrie-
bleme oder Symbole etablierten Bildern werden ren aufgibt (Berns 1993, 58 ff.).
Informationen eingeprägt, die der Merktätigkeit Während die Andachtsbilder (in der katholi-
zugute kommen. Die Fünffingrigkeit der Hand schen Tradition) Beherzigung (recordatio) be-
eignet sich als gegliederte Fläche für Einzeich- wirken sollten, waren die Datenträger des Wis-
nungen, ebenso wie das Gehirn, das man sich als senswerten auf Einprägen und Erinnern ausge-
in Kammern aufgeteilten Raum vorstellte; der richtet: Für alle Wissensbereiche (die freien
menschliche Körper bietet Platz für die Eintra- Künste, die Jurisprudenz, das Bibelwissen) wur-
gung verschiedener Disziplinen, Räder können den Merkverse, Merkhilfen für die Daten der
auf ihren Speichen Wissenswertes aufnehmen; Heiligenfeste und kalendarische Memorialverse
Bäume stellen ihre Äste für Einzeldaten zur Ver- in Umlauf gebracht. So wurde z. B. das Alphabet
fügung (der Baum der Tugenden, der Laster). Im im Genre des Abecedariums (Merkenswertes
Dienst der Glaubenslehre können solche Sche- wird durch Begriffe in alphabetischer Reihen-
mabilder Glaubensartikel einprägsam machen folge vorgestellt) mnemonisch eingesetzt,
oder Kapitel der Evangelien erinnern, die, in ebenso wie durch ein Buchstabenspiel geprägte
Bilder verkürzt, den ›Figuren‹ der Evangelisten Verse oder Bild und Text verbindende Figuren-
(Adler, Engel, Löwe, Stier) eingezeichnet wer- gedichte (Zeilenanordnung in Form eines Flü-
den (M. Rossi 1991, 178 ff.). gels, eines Herzens u.Ä.) als mnemonische Me-
dien fungierten (vgl. Ernst 1993, 79). In diesen
Formen, bei denen die ars memorativa auf Tro-
Frühe Neuzeit
pen und Figuren als Verfahren des Einprägens
Das Kirchenbild trat dann als mnemonisches zurückgreift und poetische Techniken der Per-
Medium in Erscheinung, in dem das öffentlich mutation (Vertauschung der Buchstaben) an-
gewordene Bild das innere abgelöst hat. Der vor- wendet, berührt sie sich mit der ars poetica
gestellte Raum ist nunmehr zur gemalten Bildflä- (ebd., 77). Bei Merkstrukturen der genannten
che geworden, auf der Christus oder ein Heiliger Art dominiert die Schrift als Medium, einzelne
wie eine imago agens, ein bewegtes Bild, auf den Buchstaben und ihre jeweilige Anordnung wer-
Gläubigen wirkt. Diese Bildfunktion entspricht den zu Datenträgern.
nicht der ikonoklastischen (bilderstürmenden) Die Ordnung des Alphabets ist auch für die
Orientierung der Reformation. Die Reformato- Kabbala wesentlich, die nach ihrer ›christlichen
ren, Zwingli, Bucer, Calvin, Luther, nahmen un- Entdeckung‹ durch Pico della Mirandola die
terschiedlich rigorose Positionen dazu ein. Lu- Mnemotechnik durch eine Merklehre stark be-
ther, der das Andachtsbild neben Predigt und einflusst hat, in der Buchstaben und Gottesna-
scriptura (Schrift) duldet, empfiehlt die Reini- men in einem mystischen ›Kalkül‹ kombinato-
gung der inneren Bilder, um der falschen Wir- risch aufeinander bezogen werden (vgl. Kilcher
kung der äußeren Bilder zu entgehen (vgl. Berns 2000, 199–248). Die Rezeption der Kabbala
1993, 35–72). Die aus der Imagination in die öf- spielt auch für die Mnemonik der Wissenstheo-
fentliche Sichtbarkeit verkehrte Mnemotechnik logie eine wesentliche Rolle: Raimundus Lullus
erfährt hier ihre stärkste Kritik, gibt zugleich aber entwickelte im 13. Jahrhundert in seinem
zu der Idee Anlass, zentrale Glaubensinhalte (die Opus Ars Magna ein mnemonisches System,
2. Gedächtniskünste 139

das die ars memorativa mit der ars combinato- ren und unsichtbaren. Über Zahlenmagie und
ria verbindet (vgl. Yates 1991, 173–198). Alle deren Manipulierbarkeit können alle Korres-
artes, im Sinne von Wissensbranchen, basieren pondenzen zwischen Mikro- und Makrokos-
auf den Namen Gottes. Ein neunstelliges Alpha- mos, zwischen der Konstitution des Menschen
bet von B bis K stellt eine universale Formel dar, und jener der Welt für den Eingeweihten auf-
die auf gegeneinander verschiebbare Scheiben gedeckt werden. Neben dem Aufdecken gibt es
aufgetragen wird und durch Rotierung nicht nur das planvolle Verdecken des Wissens: die kryp-
eine memoria artificialis darstellt, sondern mit- tographische Mnemonik, die eine Verrätselung
hilfe eines kombinatorischen Verfahrens uner- des Wissens mit Geheimschrift, Bildern und
wartete, wenn auch kalkulierbare Wissensele- Zeichen, die anderes bedeuten, als sie zeigen,
mente generieren kann, die das Wirken der uni- betreibt und deren Dechiffrierung als (pädago-
versalen göttlichen Logik offenbaren. gisches) Ziel der Merktätigkeit ausgegeben
Mit Lullus beginnt eine Tradition, in der die wird (Samsonow 2001, 73–90). In Giordano
Generierung von Wissen und dessen Speiche- Brunos an der Lullistik orientiertem memoria-
rung einander ergänzen. Der Konzeptualismus System, De umbris idearum von 1582, ist das
der ars combinatoria zeigt den Übergang von Weltwissen als eine von magischen Techniken
den Bilddeponien zu den Systematiken an, die beförderte, kreativ-generative Kombinatorik ein-
auf Korrespondenz- und Hierarchievorstellun- getragen. Als Leitmedium fungiert auch hier die
gen basieren. Von Vorstellungen dieser Art wer- Schrift, die eine doppelte mnemonische Ausle-
den insbesondere schon bestehende, Wissen gung erfährt: als äußere Schrift ist sie Speicher-
(und Geheimwissen) transportierende Diszipli- medium des Wissens, als innere Schrift (scrip-
nen berührt, deren Begriffskonstellationen in tura interna) ist sie der Abdruck dessen, was
komplexe Beziehungsnetze gestellt werden. durch den Lesevorgang aufgenommen worden
Vorformulierte Systematiken wie die der aristo- ist.
telischen Kategorienlehre, des astrologisch in-
terpretierten Planetensystems werden mit kom-
Barock
binatorischen Techniken bearbeitet. Das akku-
mulierte Wissen wird damit nicht nur bewahrt, Neben der Verinnerlichung steht das Nach-Au-
sondern als Matrix für die Generierung neuen ßen-Tragen von gesammelten Wissensdaten.
Wissens eingesetzt. Freilich bedarf auch das Ein Beispiel dafür ist das Gedächtnistheater:
kombinatorisch gewonnene Wissen der Abbil- Giulio Camillos betretbares (nicht erhaltenes)
dung (Darstellung). Es ist das Diagramm, das Theatro della memoria, über dessen Funktio-
dieses leistet, indem es sich nicht ikonischer, nieren sein Traktat L’Idea del Theatro von 1550
d. h. auf Ähnlichkeit beruhender, sondern sym- Auskunft gibt, handelt von der Lesbarkeit der
bolischer Zeichen bedient: Geometrische Figu- Tierkreiszeichen, der Planetensymbole, der my-
ren, Buchstaben-, Zahlenkombinationen oder thologischen Namen, der Sefirot (Namen der
Schemabilder werden zum Gedächtnisträger Manifestationen Gottes) und des Aufbaus eines
und Merkort. siebenstufigen, in Sektionen eingeteilten Amphi-
Der Weg zur Abstraktion wird möglich durch theaters, in dessen schubfächerartigen beschrifte-
die Intensivierung der Repräsentationsleistung ten Stufen die wichtigsten Texte archiviert sind.
der konzeptuellen Chiffren, d. h. die Darstellung Der das Theatro betretende Besucher wird von
von Begriffen und begrifflichen Zusammenhän- einer magischen Strahlung erfasst, wodurch ihm
gen erfolgt durch Abkürzung und Verdichtung das versammelte Wissen vermittelt wird (Bolzoni
in einem Zeichen. Das Konzept der Wissens- 1991, 9–34).
summen, die sich einem kombinatorischen Kal- Bei Systembildung, Klassifikation und Wie-
kül verdanken, vertraut auf die Zählbarkeit der derholbarkeit des Wissens überwiegt die Raum-
die Welt konstituierenden Dinge, der sichtba- konzeption die der Bilder; die rein räumliche Re-
140 III. Medien des Erinnerns

Abb. 1: Comenius,
Orbis pictus

präsentation im Diagramm löst die imaginative neues Alphabet konstruiert, das ein Netzwerk
ab. Der Gedächtnisraum (gleich, ob er actualiter von Entsprechungen zu etablieren ermöglicht,
beschreitbar oder vorgestellt ist) entwickelt sich das auf jede Ordnung des Wissens anwendbar
zum ›Schema‹ und das Bild von der Repräsenta- ist.
tion zum ›Konzept‹. Aus der Verknüpfung von Bei Comenius werden die Bilder zu didakti-
einer auf Schema und Diagramm basierenden schen Zwecken rehabilitiert: In Orbis pictus von
Mnemotechnik mit einem radikalisierten enzy- 1658 über die 150 Wissensdinge dieser Welt (eine
klopädischen Anspruch entstehen im 17. Jahr- noch für den jungen Goethe verbindliche Bilder-
hundert die gigantischen Wissenskompendien fibel) setzt er die darzustellende Sache (res) deren
der in der Tradition des Lullismus stehenden Ge- bildliche Darstellung (pictura) und Bezeichnung
lehrten: Johann Heinrich Alsteds Systema mne- (nomenclatura) in Beziehung und listet Sätze in
monicum duplex von 1610 und seine Encyclopae- Latein (und in einer Volkssprache) auf, die über
dia, Robert Fludds Utriusque Cosmi Historia von die Sache gebildet werden können (s. Abb. 1).
1617 (vgl. Schmidt-Biggemann 1993, 154–169), Das Vorstellungsvermögen überschreitet da-
die Pansophia von 1643 des Johannes Amos gegen Johann Bunos Bilder-Bibel von 1680, in der
Comenius, die alles Wissen für alle bereithält, die Kombinatorik unterschiedlicher Datenträger
Athanasius Kirchers Ars Magna Sciendi et Com- (Bilder, Merkwörter, Anweisungen) eine mnemo-
binatoria von 1669 (vgl. Leinkauf 1993). Kirchers nische Aufgabenvielfalt fordert, die pädagogisch
Diagramme beruhen auf numerischen und al- kaum einlösbar ist (Rieger 1997, 235 ff.).
phabetischen Verfahren. Tafeln, Schemata und
Taxonomien werden als konstitutive Bestandteile
Mnemonik in anderen Genres und Medien
der Wissensrepräsentation aufgenommen, den
neun Prinzipien des Lullschen Systems wird ein Obgleich einige literarische Genres lediglich die
Komplex analoger Begriffe zugeordnet und ein Rolle von Merkhilfen spielen (wie das oben schon
2. Gedächtniskünste 141

erwähnte Figurengedicht), ist die Literatur als tierter Gedächtnisphilosophie, in der die jeweils
solche ein mnemonisches Medium: Sie ist Daten- kulturell relevanten Zeitkonzepte reflektiert
trägerin für Wissen aus unterschiedlichen Diszi- werden. Im zeitbezogenen psychologisch orien-
plinen und ist von mnemonischen Bildern ge- tierten Gedächtniskonzept von Henri Bergson
prägt. Ein mnemonischer Bezug besteht auch (1906) wird die Mnemotechnik durch ein sich
zwischen literarischen Texten der Vergangenheit automatisch vollziehendes Geschehen abgelöst,
und der jeweiligen Gegenwart: Ein aktueller, das die ständig fortschreitende Vergangenheit
neuer Text kann einen vorangegangenen Text als Dauer konserviert und das für den Augen-
(oder Texte) durch Zitat, Anspielung, Parodie, blick Unnötige ins Unbewusste verschiebt, ohne
Travestie und Nachahmung in Erinnerung rufen es zu löschen, und die das Erfinden von Neuem
oder einen bereits erprobten Stil oder eine Gat- als kreative Evolution bestimmt (évolution créa-
tung aufgreifen. Für jeden literarischen Text ist trice). Im kultursemiotischen Gedächtnismo-
die literarische Tradition Voraussetzung, auch dell von Jurij Lotman (1985) wird zwischen dem
dann, wenn sie durch innovative Verfahren ver- informativen Gedächtnis, das linear funktioniert
neint wird (Lachmann 1990). Das den Text be- und über eine Zeitdimension verfügt, und dem
stimmende Gedächtnis des Autors umschließt kreativen Gedächtnis, das zeitresistent ist, unter-
seine emotionale, natürliche und intellektuelle schieden. Es wird von einem Mechanismus von
Biographie, insbesondere sein Formwissen, über- Aufbewahren und Vergessen ausgegangen, für
schreitet aber in seiner mnemonischen Dimen- den jede Kultur einen spezifischen Mechanismus
sion das Individuelle. herausbildet. Das kreative Gedächtnis speichert
Von jeher ist auch das Erzählen in seiner ora- auch das Vergessene, das kulturell reaktiviert
len Phase eine Kulturtechnik des Memorierens. werden kann.
Die mnemonischen Verfahren bestehen dabei in In Konzepten der Psychologie und Gehirnfor-
der Wiederholung metrischer Schemata, be- schung, die den Vorgängen des Merkens und
stimmter epitheta ornantia (schmückender Bei- Speicherns gelten, tauchen Begriffe auf, die die
wörter) und einprägsamer syntaktischer Paralle- Raum- und Bildvorstellungen der Simonides-Le-
lismen, d. h. sie sind in der Organisation der gende keineswegs als obsolet erscheinen lassen.
mündlichen ›Texte‹ selbst gegeben. Erzählt wer- In der kulturellen Praxis hat die Mnemotechnik
den Handlungen, Ereignisse und Erfahrungen, eine gewisse Beharrlichkeit bewiesen. Die Me-
die das kollektive Gedächtnis (s. Kap. II.2) einer thode, sich Elemente (z. B. Begriffe), an die man
Kultur ausmachen. Mnemonisch funktionieren sich erinnern will, durch deren Verwandlung in
auch schriftliche, filmische und piktorale Genres ein (ausgedachtes) Bild und dessen Niederlegung
wie Epos, Memorabile, Memoiren, Hagiographie, an einer (markierten) Stelle in einem (ebenfalls
der historische Roman, der historische Film, His- ausgedachten) Raum zu merken, wird bei Ge-
torienmalerei, die Geschichtsschreibung. Diese dächtnistrainings der Gegenwart angewandt, wo-
Genres greifen auf ein für die Kultur geltendes bei die antike Tradition mitreflektiert wird. Es
Gedächtniskonzept zurück oder kritisieren und gibt spektakuläre Fälle mnemotechnischer Bega-
verwerfen es. In den Gedächtnisritualen (Denk- bung, wie sie die sogenannten Gedächtniskünst-
malkult, Gedenktage, Jahrhundertfeiern), die an ler aufweisen, die keineswegs wissentlich an die
Orte gebunden sind (Friedhöfe, Nationalmuseen, antike Tradition anknüpfen, aber exakt ihre Me-
Kirchen, Universitätsaulen) tritt eine der anfangs thoden anwenden. Ein solcher, psychologisch un-
genannten Funktionen der Mnemotechnik, das tersuchter Fall ist z. B. der des Solomon Shere-
Gedenken, hervor, womit die ins Räumliche ver- shevskij, dessen Gedächtniskunst darin bestand,
lagerte Technik das zeitliche Moment zurückge- dass er auf einem imaginären Spaziergang auf der
winnt. Hauptstraße Moskaus an Toreinfahrten und
Die Dimension der Zeit ist seit der Antike Schaufenstern seine Bilder für das zu Merkende
konstitutives Element anthropologisch orien- niederlegte, um sie bei Befragung wieder aufzu-
142 III. Medien des Erinnerns

sammeln und zusammenzustellen. Das Bilder- Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur
machen beschrieb er so: »Wenn man mir das Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von
Wort ›Reiter‹ aufgab, reichte es, wenn ich mir ei- Keos. In: Poetica 21, 1–2 (1989), 43–66.
Kilcher, Andreas: Ars memorativa und ars cabalistica.
nen Fuß mit Sporen vorstellte« (Lurija 1987, 42). Die Kabbala in der Mnemotechnik der Frühen Neu-
Zahlenreihen merkte er sich, indem er die Zah- zeit. In: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neubert (Hg.):
len und ihre Kombination in Bilder von Personen Seelenmenschen. Gattungstraditionen, Funktionen und
und Gegenständen übersetzte und die Reihen als Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten
bebilderte Erzählung in seiner Vorstellung be- Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Wien/Köln/
wahrte, um sie bei Bedarf zu reproduzieren (s. Weimar 2000, 199–248.
Kircher, Athanasius: Ars magna et combinatoria.
Kap. I. 2).
Amstelodami 1669.
Auch die äußeren, in anderen Medien sich Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertex-
realisierenden Datenträger und die Methoden tualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.
des Merkens und Wiederaufrufens haben ihre 1990.
Traditionen bewahrt. Mit Zahlen- und Schrift- –: Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische
systemen, Bildprogrammen, Merkwörtern, ›Esels- Unglück des Mnemonisten. In: Anselm Haverkamp/
Dies. (Hg.): Gedächtniskunst. Raum-Bild Schrift.
brücken‹, Aufzeichnungen, Fotoalben, mit vor-
Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a. M. 1991,
gefertigten Speichern wie Enzyklopädien, Wiki- 111–141.
pedia u. Ä. bestreiten wir unseren mnemonischen Leinkauf, Thomas: Mundus combinatus. Studien zur
Alltag, wobei es um gerade Vergangenes ebenso Struktur der barocken Universalwissenschaft am Bei-
gehen kann wie um Zurückliegendes, um priva- spiel Athanasius Kirchers S.J. Berlin 1993.
tes Wissen ebenso wie um allgemeines (z. B. his- Lotman, Jurij: Pamjat’ v kulturologičeskom osveščenii
torisches, wissenschaftliches, technisches). Und (Das Gedächtnis unter kulturologischem Gesichts-
punkt). In: Wiener Slawistischer Almanach 16 (1985),
nicht zuletzt haben Schreiben und Lesen eine 5–9.
mnemonische Funktion. Lurija, Aleksandr: The Mind of a Mnemonist. New York
1987 (russ. 1968).
Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Hg. von
Literatur Theodor Nüßlein. Zürich 1994.
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Rieger, Stefan: Merken/Speichern. Die künstlichen Intel-
Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und ligenzen des Barock. München 1997.
Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19. Rossi, Massimiliano: Gedächtnis und Andacht. Über
Bergson, Henri: Evolution créatrice. Paris 1906. die Mnemonik biblischer Texte im 15. Jahrhundert.
Berns, Jörg Jochen: Umrüstung der Mnemotechnik im In: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemo-
Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfin- syne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinne-
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Berns/Wolfgang Neuber (Hg.): Ars memorativa. Tü-
bingen 1993, 73–100.
143

3. Rituale gesagt oder getan wird, eng verbunden mit der


Art und Weise, wie es ausgeführt wird.
Wir stellen uns Erinnerungen einerseits als voll- Die Formalisierung des Verhaltens verbindet
ständig interne ›gedankliche Repräsentationen‹ – Gewohnheiten und Routinen zu Ritualen. Ge-
als Inhalte – vor, die dem Gedächtnis neuronal wohnheiten sind erlerntes Verhalten, das wieder-
eingeschrieben sind. Andererseits begreifen wir holt wird und relativ automatische (d. h. nicht be-
Erinnerungen als externe Objekte – etwa als Bil- wusste) Reaktionen auslöst. Sie haben oftmals
der – die für vergangene Ereignisse oder Bezie- einen modularen Charakter und fallen in zuneh-
hungen stehen. Rituale als Medien der Erinne- mend komplexere Verhaltenseinheiten zusam-
rung entstehen und erhalten Bedeutung in der men. Routinen sind dagegen Reihen von Ge-
Verbindung von Innen und Außen. Einige Ritu- wohnheiten, die sich in wiederholbaren Sequen-
ale, die persönlichen beispielsweise, entstehen zen mit pragmatischen Funktionen aneinander-
aus uns selbst und werden als wiederholte Akte in reihen (z. B. die Fahrt zur Arbeit, das Anziehen,
die Welt hinausgetragen. So besteht etwa der Ab- das Spielen eines bekannten Videospiels oder das
lauf eines Morgens bei vielen Menschen aus einer Kochen). Wenn sie sich zu einem hohen Grad an
regelrechten Kette von Ritualen, die von Anderen symbolischer Bedeutung verfestigen, werden
wahrgenommen wird und wiederum deren Ver- Routinen zu Ritualen.
halten beeinflusst. Andere Rituale werden uns
dagegen von außen, über Institutionen unter-
Soziale Rituale
schiedlichster Ordnung wie der Religion oder der
Arbeitswelt, zugetragen. Solche sozialen Rituale Die einfachen sozialen Rituale wie gegenseitiger
können als kollektive Gewohnheiten internali- Augenkontakt oder Gesten der Verteidigung oder
siert und möglicherweise auf eine Art und Weise das Begrüßungsverhalten werden recht früh im
erfahren werden, als wären sie schon immer Be- Leben erlernt. Ausgehend von der Annahme ei-
standteil unserer selbst gewesen. Diese Dualität ner erfolgreichen Sozialisation, werden sie schnell
macht sie zu überaus wirksamen Gedächtnisme- zu automatischen Antwortmustern. Wenn sie als
dien, da Rituale es den menschlichen Erinnerun- komplex gelten und eine bewusste Aufmerksam-
gen erlauben, zutiefst persönlich und zugleich keit erfordern, nennen wir sie ›Manieren‹. Die
sozial geteilt zu sein. Ritualisierung solcher Manieren ist für die Ver-
haltensintegration des Individuums in ein gesell-
schaftliches System entscheidend. In seinem Bei-
Zum Ritual
trag zur Sozialisation und Scham bei Tahitianern
Das Ritual ist eine spezielle Form des formalisier- schlägt der Anthropologe Robert Levy vor, dass
ten oder eingeschriebenen Verhaltens. Seine Verletzungen des Verhaltens auf dieser sehr fun-
Kraft gründet sich auf die Fähigkeit des Men- damentalen Ebene der Sozialisierung die »Level-
schen, Verhalten durch Wiederholung in Ge- 0-Integration« verletzen (nämlich die wesentli-
wohnheiten und Routinen zu transformieren. che Akzeptanz des eigenen Verhaltens in einer
Menschliche Rituale umfassen sowohl biologi- Gruppe). Daher rufen derartige Verhaltensver-
sche als auch sozio-kulturelle Faktoren (D’Aquili stöße oftmals eine starke Schamreaktion seitens
u. a. 1979). Rituale sind eine gezielte Einschrän- der Individuen hervor (Levy 1974, 296 ff.).
kung der Freiheit menschlichen Handelns. Men- Soziale Rituale sind hierarchisch geordnet, je
schen können das Gleiche auf unterschiedliche nachdem wie grundlegend das Verhalten für die
Art und Weise sagen oder tun – Ritualisierung je- soziale Integration ist. Im Vergleich zum Level-0-
doch, der Prozess des Standardisierens des Ver- Verhalten gibt es wenige Rituale, die Menschen
haltens durch Wiederholung, ist eine starke Ein- viel später im Leben erlernen. Diejenigen, die re-
schränkung der Freiheit, Verhaltensmuster zu va- lativ sporadisch auftreten (beispielsweise eine
riieren. Durch Ritualisierung wird dasjenige, was Hochzeit oder eine Krönung) sind selten völlig
144 III. Medien des Erinnerns

automatisch und unbewusst und sind in diesem Ritualen befinden sich viele, die spezifisch für lo-
Sinne weniger ritualisiert. Obwohl wir dazu nei- kale Gemeinschaften sind. Lokale Rituale können
gen, diese ›big-R‹-Rituale als solche zu erkennen, von einer kleinen Gruppe geteilt werden (z. B. der
sind sie aus der Perspektive der primären Soziali- geheime Handschlag einer Studentenvereinigung
sation tatsächlich weniger stark ritualisiert als die oder die regelmäßige Essensverabredung einer
relativ unbewussten ›small-r‹-Rituale, die wir all- Gruppe von Freunden), sie können regional ge-
gemein nicht als Rituale begreifen. teilt werden, wie beispielsweise das schnelle Kopf-
nicken als Zeichen der gegenseitigen Begrüßung
und Anerkennung wie es bei Japanern üblich ist,
Universale und persönliche Rituale
oder sie können das funktional äquivalente He-
Eine andere Dimension entlang derer menschli- ben der Augenbrauen sein, das von vielen Grup-
che Rituale variieren, ist der Grad der sozialen pen der pazifischen Inselbewohner geteilt wird.
Konventionalität. Nicht alle Rituale fußen auf lo- Trotz der großen Unterschiede hinsichtlich der
kalen sozialen Konventionen. Einige sind nahezu demographischen und geographischen Band-
universal. Am äußeren Ende finden wir rein per- breite dieser Rituale, gleichen sie sich im Hinblick
sönliche Rituale, die dem Individuum heilig sind auf ihre Struktur. Sie sind an lokale Konventio-
und nicht notwendigerweise mit jemandem ge- nen gebunden, die sozial überliefert und von ei-
teilt werden. Sportler, wie beispielsweise der Pit- ner Gruppe geteilt werden, für die sie oftmals die
cher beim Baseball, sind bekannt dafür, dass sie gemeinsame Mitgliedschaft symbolisieren bzw.
eigentümliche persönliche Rituale entwickeln deren Identität sie stiften.
(z. B. das Tragen eines bestimmten Sockenpaars
oder das Berühren der Baseballkappe auf eine be-
Die Herstellung von Ordnung
stimmte, eben ritualisierte Weise).
Am anderen Ende des Spektrums befinden Die Anerkennung eines routinierten Ereignisses
sich die universellen rituellen Formen, die von als ›Ritual‹ unterliegt erheblicher Variation.
den meisten Menschen geteilt und erkannt wer- Freuds frühem Gebrauch folgend, benutzen Psy-
den, unabhängig von ihrem kulturellen oder his- chiater den Begriff des Rituals, um zwanghaftes
torischen Kontext. Solche universellen rituellen Verhalten zu beschreiben, ein Verhalten, das in
Formen sind ein wichtiger Aspekt der menschli- Extremfällen als ein Symptom einer Zwangsstö-
chen Natur. Einige Mimiken und Gesten sind Teil rung gelten kann. Soziologen und Anthropolo-
eines universellen Repertoires an Ritualen. Unter gen gebrauchen den Begriff, um vorhersehbare,
ihnen lassen sich auch die Gesten finden, die jedoch selbstverständliche Verhaltenssequenzen
grundlegende Emotionen ausdrücken, die, wie zu beschreiben, welche die tägliche soziale Inter-
von Paul Ekman gezeigt worden ist, von Indivi- aktion sorgfältig organisieren. Der Soziologe Er-
duen universell produziert und erkannt werden, ving Goffman zeigte, dass das Alltagsleben selbst
unabhängig von ihrer jeweiligen Kultur. Ekman eine ›rituelle Ordnung‹ darstellt. Nach Goffmans
weist jedoch darauf hin, dass sogar diese grund- Ansicht ist die soziale Kompetenz ein bedeuten-
legenden emotionalen Ausdrucksformen (wie der Teil der Fähigkeit, ein großes Repertoire an
Hunger oder Freude) bestimmten Regeln unter- sozialen Ritualen zu gebrauchen, von denen viele
liegen, welche die Ausdrucksweise dieser Emoti- mehr oder weniger automatisch sind und nicht
onen bis zu einem gewissen Grad durch Kultur bewusst ausgeführt werden (1996).
einschränken (Ekman/Davidson 1994). Die meisten Menschen empfinden die alltägli-
chen Rituale nicht auf eine Art und Weise, als
hätten sie herausragende symbolische und be-
Lokale Rituale
deutende Tiefe. Auf der anderen Seite haben
Zwischen den vollständig idiosynkratischen per- weithin anerkannte soziale und religiöse Zere-
sönlichen Ritualen und den vollständig geteilten monien (›big-R‹-Rituale) oftmals einen sehr
3. Rituale 145

symbolischen Charakter und weisen über sich Ein Großteil unseres numerischen Wissens ba-
selbst hinaus auf transzendente Orte der Bedeu- siert auf sprachspezifischen mnemotechnischen
tung: Tradition, Nation, Gesellschaft, das Heilige. Routinen, die wir während der frühen Schulzeit
Dieses offensichtliche symbolische Gewicht gibt erlernt haben. Wenn diese mathematischen Be-
diesen Ereignissen eine Bedeutung mit explizit rechnungen durchgeführt werden, gebrauchen
rituellem Charakter. Aber auch privatere oder all- multilinguale Personen oftmals ihre erste Mut-
täglichere Aktivitäten, also die ›small-r‹-Rituale, tersprache, in der sie Zahlen und Berechnungen
können einen unerkannten symbolischen Wert als erstes erlernt haben, was darauf hinweist, dass
besitzen. dieses Wissen, das in Ritualen wurzelt, nicht ein-
Gerade an ihnen lässt sich erkennen, dass fach zu paraphrasieren ist. Mnemotechnische
Menschen selbst in ihren gewöhnlichsten Begeg- Routinen werden für das Lernen und den Abruf
nungen damit beschäftigt sind, eine transzen- grundlegender Information, wie die Zahl der
dente soziale Ordnung herzustellen oder wieder- Tage im Monat, gebraucht.
herzustellen und mittels der sozialen Ordnung Im Gegensatz zu ›wissen, dass‹ bezieht sich das
ein sozial konstituiertes Ich zu erschaffen. ›kennen, wie‹ auf das, was von Psychologen als
prozessuales Gedächtnis bezeichnet wird. Das
prozessuale Gedächtnis unterscheidet sich vom
Rituale und die verschiedenen
deklarativen Gedächtnis, da es eher auf eine qua-
Gedächtnissysteme
lifizierte physische Leistung abzielt als auf verbale
Die Erforschung des individuellen Gedächtnisses Formulierungen. Prozessuales Wissen entwickelt
liegt im Kompetenzbereich der kognitiven Psy- sich über die Zeit durch die zunehmend effekti-
chologie. Psychologen bilden das individuelle vere Koordination von bestimmten motorischen
Gedächtnis ab, indem sie eine Reihe von Unter- Fähigkeiten. Das gilt sowohl für die Entwicklung
scheidungen zwischen verschiedenen Arten des von feinmotorischen Fähigkeiten, wie beispiels-
Gedächtnisses machen. Der Begriff des deklarati- weise das Schreiben oder das Essen mit Stäbchen,
ven Gedächtnisses steht für eine explizite Erinne- aber auch grobmotorischen Fähigkeiten, wie das
rung an Fakten, die verbalisiert oder ›deklariert‹ kindliche Lernen des Stehens oder Gehens, oder
werden können (s. Kap. I.1 und I.2). Das deklara- das spätere Erlernen richtigen Gehens auf einem
tive Gedächtnis ist die am häufigsten hervorgeru- Laufsteg.
fene Form der Erinnerung im Bereich des schuli- Das prozessuale Gedächtnis entwickelt sich
schen Lernens. Es unterstreicht bereits vorhande- durch die Wiederholung von Handlungen. Psy-
nes Wissen, das mit ›wissen, dass‹ im Gegensatz chologen konzeptualisieren den Lernprozess für
zu ›kennen, wie‹ bezeichnet werden kann. prozessuale Fähigkeiten allgemein als eine Hier-
Das deklarative Gedächtnis wird durch Wie- archie von Stadien unterschiedlicher Kompetenz.
derholung und auch durch assoziative Ketten ver- Hinsichtlich des Wissens entwickelt sich das pro-
stärkt, die auf dessen Erhaltung abzielen. Das zessuale Gedächtnis von einem anfänglichen Un-
Auswendiglernen in der Schule beispielsweise bewussten, d. h. wenn die Fähigkeit einfach noch
kann solche kollektiven Routinen, die die Erinne- nicht gekannt wird, über zunehmendes Bewusst-
rung verstärken, beinhalten. Musikalische Ele- sein, bei der die Fähigkeit einer internen Beherr-
mente wie Rhythmus, Verse und Melodie schei- schung unterliegt, bis hin zu einer Rückkehr in
nen dabei die Erinnerungsfähigkeit deklarativer das Unbewusste, bei der die Fähigkeit derart per-
Information erheblich zu verstärken. Kinder, die fektioniert ist, dass sie automatisch ausgeübt
etwa Multiplikationstafeln erlernen, tun dies oft wird.
durch rituelles Singen in der Gruppe. Die Entwicklung von Fähigkeiten ist daher
Erwachsene sprechen durchaus relevante Teile eine deutliche und zugleich extreme Form der
dieses Multiplikations-Gesangs, den sie als Kin- Ritualisierung. Wir alle bewegen uns durch das
der gelernt haben, immer noch leise vor sich hin. Leben während wir Tausende von rituellen Akten
146 III. Medien des Erinnerns

durch unsere Tätigkeiten produzieren. Diese all- Rituale des Lebensübergangs sind üblicher-
täglichen Rituale entstehen an unterschiedlichen weise als ›Reisen‹ strukturiert, Ereignisse, die für
Punkten der formalen Ausarbeitung und des Be- Bewegung, Wachstum und Transformation ste-
wusstseins. Routinen und Rituale haben immer hen (Turner 1969). Die kognitive Effektivität die-
einen modularen Charakter, insofern Sub-Routi- ser Lebensübergangsrituale hängt von der Art
nen in unterschiedlicher Art und Weise mitein- und Weise ab, wie sie prozessuales, semantisches
ander kombiniert werden können, um aus ihnen und episodisches Wissen ausschöpfen. Bestimmte
scheinbar neue Rituale zu machen. Sie sind fer- Bräuche sind Teil ausgefeilter Rituale, Ereignisse
ner auch hierarchisch, da die relativ bewussten wie das Beten, das Zungenreden oder Tanzen
und effektiven Darbietungen auf einem Funda- werden als tief verkörperte Darbietungen ver-
ment basieren, das aus primitiveren und weniger standen, die zwar die Sprache benutzen, aber de-
bewussten Fähigkeiten besteht, deren Beherr- ren Bedeutung und Erfahrung, wie jede interna-
schung jedoch Improvisation ermöglicht. lisierte Fähigkeit, über Sprache und sogar über
Das deklarative Gedächtnis besteht aus zwei das volle Bewusstsein hinausgeht.
verschiedenen Gedächtnissystemen: dem episo- Die Nutzung des prozessualen Gedächtnisses
dischen und dem semantischen Gedächtnis. Das lässt Menschen eine Art agency reversal erfahren,
episodische Gedächtnis basiert auf Ereignissen bei der das Ritual, jenseits der bewussten Kon-
(Tulving 1986). Das semantische Gedächtnis trolle, sie selbst zu bewegen scheint. Agency rever-
speichert unseren Bestand an generellen Konzep- sal ist eine Form, bei der Menschen spirituelle
ten, die unser Gedächtnis von Ereignissen bevöl- Transzendenz erfahren. Auf der anderen Seite
kern. Obwohl unser elementares Wissen der formen die rituellen Sequenzen das wiederkeh-
Dinge (Objekte, Wesen, Arten der Erfahrung) im rende Ereignisschema der transformativen Reise.
semantischen Gedächtnis verschlüsselt ist, neigt Auf dieser Ebene bezieht sich die Kraft des Ritu-
das abstrakte Wissen dazu, Dinge über den als auf das episodische Gedächtnis und liefert ei-
Zugang des ereignisbasierten Wissens zu verste- nen wortgewandten Geschichtsrahmen, der für
hen. Generelle semantische Einheiten werden die Transformation selbst sinnstiftend ist. Das
also erfahrungsbasiert und situativ, also in rele- episodische Gedächtnis ist die grundlegende An-
vanten Handlungskontexten erinnert. Das epi- triebskraft des autobiographischen Wissens, es
sodische Gedächtnis gründet zentral auf Erfah- stellt die Muster bereit, mit deren Hilfe wir unse-
rung und nimmt starken Einfluss auf semantisch rem Leben einen Sinn geben (s. Kap. II.1).
konstituierte Erinnerungen. Zusammengefasst vereinigen Rituale des Le-
Im Übergang vom prozessualen, semantischen bensübergangs in einem einzigen Rahmen (1)
und episodischem Gedächtnis finden wir kom- implizites, verkörpertes Wissen, das experimen-
plexe und konventionelle Rituale des Lebenswan- tell sehr wirkungsvoll, aber nahezu unmöglich,
dels, wie Hochzeiten, Beerdigungen oder Initia- über Sprache zu vermitteln ist, und (2) konven-
tionen. Diese komplizierten Rituale bestehen aus tionelle Muster der Reise, die das geschichtsba-
Ketten kleinerer Ritual-Einheiten. Diese Einhei- sierte Medium darstellen, um die rein persönli-
ten (z. B. das Auspusten der Geburtstagskerzen che Transformation von Individuen mit den ge-
als Teil eines Geburtstagsrituals oder der Kuss des teilten Geschichtsformaten der Gemeinschaft zu
frisch verheirateten Paares) werden von Anthro- verbinden. Nur durch diese Anordnung der ver-
pologen manchmal als ›Bräuche‹ bezeichnet, um schiedenen Gedächtnissysteme ist die rituelle
sie von anderen, höher gestellten Ritualen zu un- Vermittlung von persönlichen und sozialen Er-
terscheiden. Durch den Zuwachs an neuen Ritu- fahrungen möglich.
alen sowie durch die Wiederholung und Varia- Obwohl die Erinnerung im wörtlichen Sinne
tion ihrer konstituierenden Teile, sind Rituale ei- immer individuell ist, führt die Analyse von Ritu-
nem nahezu endlosen Prozess der Ausarbeitung alen unausweichlich zu der Überlegung, wie das
unterworfen. Gedächtnis ein gemeinsames Eigentum von Ge-
3. Rituale 147

meinschaften werden kann. Das Konzept des so- und außen nach innen, ist für die menschliche
zialen Gedächtnisses (s. Kap. II.5) war eine natür- Erfahrung schwer zu unterscheiden. Wenn jede
liche Erweiterung des Durkheimschen Projekts Erinnerung bis zu einem gewissen Grad indivi-
einer Vision von sozialen Fakten, die nicht ein- duell ist, dann ist es schlicht nicht möglich, zwi-
fach auf die individuelle Psychologie zu reduzie- schen dem sozialen und individuellen Gedächt-
ren sind. nis zu unterscheiden. Es ist vielmehr von einer
Art der dialektischen Beziehung zwischen indivi-
duellem und kollektivem Erinnern auszugehen.
Ritual und kollektives Gedächtnis
Verstanden als Erinnerungsmedium sind soziale
In seiner klassischen Abhandlung Remembering Rituale geteilte Ereignisse, die individuelle Erfah-
argumentiert Frederic C. Bartlett, dass Erinnern rung in einer Weise verdichten, dass es zu einer
auf konventionellen Mustern basiert und daher Überschneidung vieler individueller Erinnerun-
vor allem sozialer Natur ist (1932). Obwohl das gen an die jeweilige rituelle Erfahrung und somit
Ritual also als ein interner mentaler Zustand er- zu kollektiver Erinnerung kommt.
fahren wird, mithin als etwas zutiefst individuel- Mächtige religiöse und soziale Rituale können
les, ist es über intersubjektiv und somit kommu- ferner geteilte Muster herstellen, mit deren Hilfe
nikativ hergestellte Bedeutungen, aber auch sozi- Mitglieder einer Gemeinschaft ihre Erinnerun-
alisierte Wahrnehmungs- und Deutungsweisen gen filtern und dabei auch die Art und Weise
gerahmt. Genau in dieser Verbindung wird das verzerren, in der zukünftige Ereignisse gedeutet
individuelle Erinnern kollektiv. Möglich, aller- werden. – Menschliche Sinngebung verläuft im-
dings im Sinn geteilter Erinnerung, wird es erst mer gleichzeitig individuell und kollektiv, ent-
durch ebensolche ›geteilten‹ Erinnerungsobjekte. sprechend ist auch Erinnerung nie rein kollekti-
Signifikante Erinnerungsgegenstände, die das ver Natur. Ungeachtet Durkheims Thesen ist das
kollektive Gedächtnis formen, umfassen vielfäl- soziale Gedächtnis nicht einfach eine andere
tige Phänomene. Einige, wie beispielsweise Mo- Form des individuellen Gedächtnisses. Erinne-
numente, Werbung, Museumssammlungen, Fa- rungen sind immer ein zufälliges, gemeinsames
milienerbstücke oder Fotografien werden bewusst Produkt der Interaktion individueller und kollek-
hergestellt, um das kollektive Gedächtnis zu for- tiver Faktoren.
men. Andere, wie zum Beispiel ›Blitzlichterinne- Es gibt Hinweise darauf, dass sich viele Rituale
rungen‹, die von den Medien als traumatische öf- entwickelt haben, um eine Art des Erinnerungs-
fentliche Ereignisse produziert werden (z. B. der prozesses zu ermöglichen, der gleichzeitig indivi-
Tod von John F. Kennedy, die Zerstörung des duell und kollektiv ist. Frances Yates’ Buch The
World Trade Centers, die Tsunami-Katastrophe Art of Memory (1966) stellt im Detail die Wege
im Jahr 2004) sind stark an individuelle Erinne- dar, wie Schriftsteller der Renaissance ihre Kunst
rungen gebunden – die aber zugleich medial ge- mit dem Ziel geformt haben, Erinnerung zu kul-
teilte Erinnerungen sind (s. auch Kap. II.2). tivieren. Dabei war insbesondere die Ausnutzung
des Orts der Erinnerung, die Verbindung zwi-
schen Gedächtnis und der mentalen Vorstellung
Zur Vermittlung von individueller und
eines räumlichen Ortes, von Bedeutung. Solch
kollektiver Erinnerung
rhetorische Symbolik wurde zur Kultivierung der
Obwohl das soziale Erinnern und Vergessen Erinnerung, die sowohl geteilter als auch persön-
Merkmale tragen, die sie vom rein persönlichen licher Natur war, entworfen, in dem die Rhetorik
Gedächtnis unterscheiden, ist es wichtig, auf die den Leser durch ›Erinnerungsräume‹ leitete, die
komplexen Beziehungen zwischen dem kollekti- gleichzeitig allgemein und persönlich waren.
ven und dem individuellen Gedächtnis hinzu- Der Historiker Michael Baxandall, ein Student
weisen. Der duale Charakter von Ritualen, die Yates’, übertrug diesen kognitiven Ansatz auf die
wechselseitige Perspektive von innen nach außen Untersuchung der Kunst im Italien des 15. Jahr-
148 III. Medien des Erinnerns

hunderts (Baxandall 1972). Die Ästhetik, die die Die von Yates und Baxandall diskutierte Lite-
religiöse Kunst dieser Zeit formte könne nicht ratur und Kunst schien den Zweck zu haben, die
vollständig interpretiert werden, wenn nicht be- Betrachtenden zu imaginierten rituellen Reisen
achtet wird, wie Künstler lokale Theorien der zu veranlassen. Konventionelle kulturelle For-
menschlichen Wahrnehmung und des Erinnerns men werden somit eingesetzt, um die idiosynkra-
für kirchliche Zwecke nutzten (ebd., 40). tische Re-Imagination der Landschaft zu verstär-
Baxandall zitiert den Catholicon, ein einfluss- ken. So wird diese Landschaft zugleich Objekt
reiches Wörterbuch kirchlicher Konzepte von persönlicher und kollektiver Erfahrung. Alle ela-
John of Genoa des späten 13. Jahrhunderts, um borierten Rituale zeichnen sich durch diesen du-
das kirchliche Verständnis der Rolle von Religion alen Charakter aus, sie beziehen sich gleichzeitig
für Symbolik zu verstehen: »Es gab drei Gründe auf die kognitiven Ressourcen des individuellen
für die Einführung von Bildern in der Kirche: Gedächtnisses und auf diejenigen sozialen Res-
Erstens, für einfache Leute, da diese durch sie in- sourcen, die gemeinsame Erfahrung ermöglichen.
struiert werden wie durch Bücher. Zweitens, um Entsprechend ist für ein umfassendes Verständ-
das Geheimnis der Inkarnation und der Heiligen nis der Beziehung von Ritualen und Erinnerung
in unserer Erinnerung lebendig zu erhalten. Und eine Perspektive vonnöten, die psychologische
drittens, um Gefühle der Hingebung hervorzuru- (auf das Individuum gerichtete) und soziologi-
fen, da diese effektiver durch Dinge, die man sieht sche (auf die Gemeinschaft gerichtete) Konzepte
als durch Dinge, die man hört, ausgelöst werden« vereint.
(ebd., Übers. C. H.).
Es scheint, dass das Verstehen der Rolle der Literatur
Bildsprache in der Förderung religiöser Hingabe Bartlett, Frederic C.: Remembering. Cambridge 1932.
während des 15. Jahrhunderts recht verbreitet Baxandall, Michael: Painting and Experience in Fifteenth
war. So lässt sich auch die Unterstützung der Kir- Century Italy. New York/Oxford 1972.
che für religiöse Kunst erklären. D’Aquili, Eugene G./Laughlin, Charles D./McManus,
Interessant sind in Bezug auf das Ritual die John: The Spectrum of Ritual: A Biogenetic Structural
Analysis. New York 1979.
Beiträge zur Beziehung von konventionellen
Ekman, Paul/Davidson, Richard J. (Hg.): The Nature of
Repräsentationen wichtiger Szenen des Lebens Emotions: Basic Questions. New York 1994.
Christi und des privaten religiösen Lebens. Im Dücker, Burkhard: Rituale. Formen – Funktionen – Ge-
15. Jahrhundert bevorzugte die Kirche insbeson- schichte. Stuttgart 2007.
dere Bilder, die biblische Szenen in einem höchst Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in
alltäglichen Format umsetzten. Sowohl die Sze- direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1996.
nerie als auch die Gesichter der Figuren waren Levy, Robert: Personality and Socio-Cultural Integra-
tion: Tahiti and Sin. In: Robert A. LeVine (Hg.): Rea-
eher »allgemein, unspezifisch, austauschbare Ty- dings in Culture and Personality. New Brunswick,
pen« (Baxandall 1972, 47, Übers. C. H.), als dass N. J. 1974, 297–307.
sie bestimmte Personen und Orte wachriefen. Tulving, Endel: Episodic and Semantic Memory: Where
»Sie stellten eine Basis bereit«, so Baxandall, Should We Go from Here? In: Behavioral and Brain
»eine, die konkret und sehr evokativ in ihrem Sciences 9 (1986), 573–577.
Muster ist […] [eine], der der fromme Betrachter Turner, Victor: The Ritual Process. Ithaca 1969.
Yates, Frances A.: The Art of Memory. Chicago 1966.
seine persönlichen Vorstellungen auferlegen
Bradd Shore/Übers. Corinne Heaven
konnte« (ebd., Übers. C. H.).
149

4. Produkte sich darüber hinaus in jeder Hinsicht unverän-


derte Güte und unverminderte Bonität: Das be-
Im Jahr 1949 feierte die Nivea-Creme ihre Wie- liebte Attribut »in Friedensqualität« rief Erinne-
dergeburt nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch rungen an die ›gute Vergangenheit‹, eben an die
nicht nur die 1911 geborene blau-weiße Univer- Zeit vor dem Krieg, wach. Die wieder gewonne-
salcreme verkündete ihr Comeback. Die meisten nen Marken vermeldeten ihrem Publikum, dass
deutschen Markenprodukte waren während des die altbekannte und altbewährte Produktland-
Krieges und während der unmittelbaren Nach- schaft abermals hergestellt sei. Damit boten diese
kriegszeit für viele Jahre nicht käuflich zu erwer- zeitgenössischen Werbungen eine sozial er-
ben gewesen. Nivea hatte seit 1943 namenlos und wünschte Interpretation der Gegenwart an: Die
damit seelenlos bloß als »Hautcreme, fetthaltig« Jahre des Nationalsozialismus avancierten so
firmiert. Sechs Jahre lang mussten ihre Verwen- schon bald zu einer ›vergangenen‹ und ›bewäl-
der die Creme entbehren. Erst im Jahr der Grün- tigten‹ Vergangenheit. Das ›Dritte Reich‹ und der
dung der beiden deutschen Staaten erlebte das Zweite Weltkrieg schienen Ende der 1940er Jahre
Gros der Markenprodukte in Westdeutschland abgelegt und abgeschlossen, denn die neuen al-
seine Wiederkehr am Markt. Allenthalben war- ten Waren versprachen die Wiederkunft der Pro-
ben altbekannte Erzeugnisse nun mit der frohen duktverfassung des Friedens und der Normali-
Botschaft: »Wieder da!« tät.
In einer Flut von Briefen an die »liebe Nivea«
wurden seit 1949 Erinnerungen und Erfahrun-
Produkte markieren Zeiten und Zäsuren
gen erzählt und Erwartungen formuliert. Die
»Endlich wieder Nivea Zahnpasta – und dazu in Kund/innen verknüpften die aktuellen Empfin-
Friedensqualität: stark aromatisch, mikrofein, dungen einer wieder gewonnenen Sinnlichkeit
nachhaltig erfrischend«. Die »Wieder da!«-Pro- mit einem prägnanten Geschichtsverständnis.
dukte markierten in ihren Anzeigen, durch ihre Das Ende der Zeit ohne die Creme avancierte für
physische Präsenz und durch ihren Gebrauch das sie zum Ende einer Zeit, in der die Zeiten ungere-
Zeitgefühl und das Geschichtsverständnis der gelt waren. Das Ende der Zeit ohne Nivea wurde
späten 1940er Jahre. Sie offerierten und sie offen- als das Ende einer Zeitspanne ohne Raum für Ri-
barten die Hoffnung, dass der Krieg und seine tuale erzählt, die Behaglichkeit, Geborgenheit
Folgen bald überwunden sein mögen, dass so und Sicherheit schenkten (vgl. Gries 2008, 216–
schnell wie möglich das Gefühl eines Lebens in 222).
Frieden und Normalität aufkomme. Mit den Auf diese Weise, mit diesen Bildern und Nar-
Kriegsverhältnissen, repräsentiert durch Ersatz- rativen und mit der blauen Cremedose in ihren
stoffe und Kriegsprodukte, wollte das entschlos- Händen, erzählten die Frauen in feinsinniger
sene »Wieder da!« aufräumen. – Zukunft, Gegen- Weise vom Krieg, von ihren weiblichen Erfah-
wart und Vergangenheit – Produkte vermögen rungen und von ihren psychischen Kompensati-
alle drei Zeitdimensionen präzise zu markieren onen: Während des ›totalen Krieges‹ hatten die
und zu thematisieren. Frauen ihre historisch angestammten Rollen ver-
In den Trümmerruinen der Städte und in der loren und Räume verlassen. Sie hatten an Stelle
politisch wie wirtschaftlich zersplitterten Ratio- der Männer öffentliche Aufgaben und Funktio-
nen-Gesellschaft sehnten sich die Menschen nen wahrgenommen. Der ›totale Krieg‹ hatte
nach den ›guten Zeiten‹ vor dem Krieg zurück. Frauen zu Objekten und zu Subjekten des militä-
Die »Wieder da!«-Werbung kam diesem Bedürf- rischen Großkonfliktes gemacht, er hatte die
nis entgegen. Die Markenartikel annoncierten Frauen vom ›Drinnen‹, dem tradierten Innen-
nämlich mit ihrer Wiederkunft nicht nur das raum des Privaten, ins ›Draußen‹, auf das öffent-
Ende des Produktmangels und das Ende der Pro- liche Schlachtfeld und in die Trümmerwüsten
duktprovisorien, sondern sie reklamierten für der Städte, katapultiert (vgl. Maubach/Satjukow
150 III. Medien des Erinnerns

2009). Dabei war den Frauen keine Zeit für sich, verbal und visuell. Solch produktkommunikative
keine Zeit für Sinnlichkeit geblieben. Überdies Austauschprozesse finden über lange Zeiträume
hatten sich auch die Frauen ›schmutzig‹ gemacht hinweg statt, was bestimmte Marken und Pro-
– real wie im übertragenen, moralischen Sinne. dukte sogar als besonders nachhaltige und wir-
Auch die Frauen waren von den Verbrechen des kungsvolle Medien des sozialen Gedächtnisses
Nationalsozialismus und des Krieges betroffen – ausweist.
als Opfer wie als Täter. Auch sie waren befleckt.
Die schneeweiße Nivea und die mit ihr verbun-
Produkte sind Medien
denen Narrative vermochten die Erfahrungen
der Vergangenheit zu glätten und diese realen Menschen kommunizieren über Produkte. Ins-
und moralischen Beflecktheiten symbolisch aus- besondere Markenprodukte entwickelten sich
zugleichen. Nivea versprach ihren Nutzern, die seit dem 19. Jahrhundert zu regelrechten Medien
Lebensfreude zurückzugeben – und ein altes Ge- – zu Medien des sozialen Austausches und damit
fühl für das Draußen neu zu beleben. auch zu Medien des sozialen Gedächtnisses (s.
Anzeigen unterstützten dieses psychophysi- Kap. II.5). Unter dem Begriff ›Produktkommuni-
sche wie temporale Hygieneversprechen: »Ist das kation‹ seien hier all diejenigen Kommunikati-
nicht schöner als vor fünfzig Jahren? Man freut onsakte verstanden, die über Waren laufen und
sich unbekümmert an Luft und Sonne, man liebt über Marken und Produkte vermittelt werden.
gesunde, natürliche Schönheit, man legt Wert da- Solche Interaktionen sind nicht mit Wirt-
rauf, immer gepflegt und frisch zu sein.« All das schaftswerbung zu verwechseln oder gar gleich-
war seit einigen Jahren nicht mehr möglich gewe- zusetzen. Kommerzielle Werbung repräsentiert
sen. Nivea zu benutzen, bedeutete, ›die Mitte‹, nur jenen prominenten Teil des über Erzeugnisse
›Norm‹ und ›Normalität‹ wiederzugewinnen. laufenden Austausches, dem große mediale Auf-
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard kommen- merksamkeit zuteil wird. Werbung konstruiert
tierte die spektakuläre Wiedergeburt all dieser soziale Wirklichkeit, indem sie den Versuch un-
Artikel denn auch mit den Worten: »Wir haben ternimmt, das beworbene Produkt oder die
es erlebt, als Persil […] sowie die Namen anderer Marke zu idealisieren. Werbung verfolgt das Ziel,
berühmter Marken wieder in den Verkehr ge- positive Images anzubieten, um eine günstige
langten, daß im Volke das Vertrauen erwuchs, Disposition zum Kauf eines Produktes zu schaf-
daß nun wieder Friede eingekehrt sei.« fen. Werbung offeriert Botschaften, von denen
Produkte vermögen historische Einschnitte zu der Hersteller annimmt oder annehmen darf,
postulieren, sie können soziale Zeiten begrenzen dass sie den Abverkauf eines Erzeugnisses beför-
und Zäsuren begründen. Das gilt keineswegs nur dern.
für die bekannte Crememarke oder für die Waren Mit dem Paradigma ›Produktkommunikation‹
der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Marken und wird ein ausgedehnter Kommunikationsraum er-
Produkte sind vielmehr im Lauf des 20. Jahrhun- schlossen. Zu den Botschaften gesellen sich näm-
derts zu integralen und integrierenden Organen lich Bedeutungen, die von weiteren Akteuren
des kommunikativen wie des kulturellen Ge- eingebracht werden, vor allem von potentiellen
dächtnisses avanciert. Die damit verbundenen Käufern und von Verbrauchern und Verwendern.
Kommunikationsprozesse greifen weit über die Damit nicht genug. Ein produktkommunikativ
Sphäre der Werbung hinaus; sie sind daher kei- orientiertes Modell bezieht darüber hinaus auch
neswegs monologisch zu fassen: Die produkt- die Kommunikationsleistungen von anderen Ak-
kommunikativen Ausgestaltungen und Ausfor- teursgruppen ein und setzt sie miteinander in Be-
mulierungen von sozialen Gedächtnisinhalten ziehung. Über Produkte kommunizieren deren
werden sowohl von der kommerziellen Wirt- Produzenten wie deren Hersteller, deren Käufer
schaftswerbung als auch von den Produktver- und professionelle Dritte wie Marktforscher und
wendern selbst generiert – explizit und implizit, Journalisten. Vor allem aber sind die potentiellen
4. Produkte 151

Abb. 1: Das
dreidimensionale
Kommunikationsmodell

und tatsächlichen Kunden, die stolzen oder ent- tion lässt viele Wege, auch Umwege, für einen
täuschten Zeitgenossen des Produktes, Akteure Rückfluss zu. ›Getragen‹ werden die zahlreichen
der Produktkommunikation. kommunikativen Vorgänge von der Anziehungs-
Die Prozesse dieser Form sozialen Austausches und Bündelungskraft des ›Produktkerns‹ in der
lassen sich am Beispiel eines dreidimensionalen Mitte. Um diesen Kern herum und von ihm gera-
Modells veranschaulichen (s. Abb. 1). In der Mitte dezu physisch gestützt, legen sich die zeichenhaf-
des produktkommunikativen Geschehens steht ten Produktzuschreibungen. Zunächst der dünne
das Produkt selbst, das sich durch eine mehr- Ring der eher beständigen und unspektakulären
schichtige Kugel veranschaulichen lässt. Satelli- denotativen Anteile. Darauf folgt eine breite kon-
tengleich gruppieren sich in deren Umfeld alle notative Aura, die Gegenstand und Ergebnis der
denkbaren Gruppen von Partnern, deren Inten- Austauschprozesse zwischen den Akteursgrup-
tionen unterschiedlich sind und deren reale An- pen und Akteuren ist. Hier verdichten sich die
zahl unüberschaubar ist. Ein solches Modell lässt einzelnen Zuschreibungen zu kohärenten Pro-
Kommunikationen nicht eindimensional blei- dukt- und Markenimages. Aus Zuschreibungs-
ben, sondern sie werden reflexiv denkbar. Wobei partikeln kristallisieren sich komplexe Produkt-
reflexive Informationen nicht notwendig auf der- bilder.
selben Achse zurückfließen müssen: Ein drei- Das Image eines Produktes beschränkt sich
dimensionales Modell der Produktkommunika- also keinesfalls auf die Bildofferten, die von der
152 III. Medien des Erinnerns

Werbung verbreitet werden. Am Aufbau und an Markenprofile sind Ergebnisse von fortgesetzten
der Modifikation solcher Images waren und sind und nachhaltigen Verständigungs- und Aushand-
zahlreiche Akteursgruppen beteiligt – Tag für lungsprozessen.
Tag, Jahr um Jahr. Die zu inneren oder Gedächt- Produkte repräsentieren spätestens seit den
nisbildern komprimierten Zuschreibungen ha- 1960er Jahren zugleich Formate des Konsums
ben sich über lange Zeit aus Botschaften der Wer- und Formate sozialer Kommunikation. Seither
bung einerseits und aus Bedeutungszuschreibun- erbringen Markenprodukte all die kulturellen
gen der Konsumenten andererseits heraus und sozialen Leistungen, die Medien beigemes-
entwickelt. Solche Produktimages sind somit sen werden:
Botschafts- und Bedeutungskomplexe, über die • Medienangebote werden eingesetzt, um unter-
sich die verschiedenen Akteure der Produktkom- schiedliche Systeme miteinander zu koppeln.
munikation über lange Zeiträume hinweg ver- Medien, heißt das, verbinden Menschen
ständigt haben. ebenso wie soziale Systeme.
Marken stellen im Rahmen dieses Konzeptes • Der Begriff Kopplung bezeichnet hier nicht
prägnante Images dar, die durch ihren universel- jede beliebige Art von Kopplung, sondern be-
len Anspruch und durch ihre umfassende Prä- sagt, dass Medienangebote genutzt werden,
senz gekennzeichnet sind. Diese Produkt-Profile um Sinn zu machen.
sind in definierbaren Kulturkreisen territorial • Diese Sinnbildung erfolgt nicht willkürlich,
wie temporal ubiquitär. Nicht nur in Bezug auf sondern orientiert sich an den Regeln des Ge-
die Performanz des Produktes am Markt – son- brauchs spezifischer Medien und Medienan-
dern auch in Bezug auf die Genese des Produkt- gebote, die die meisten Menschen im Verlauf
bildes. Solche Images sind nämlich vor allem ein ihrer Mediensozialisation erlernt und verin-
Gemeinschaftswerk. Für die Erforschung der Me- nerlicht haben (Siegfried J. Schmidt, zit. n.
dien des kollektiven und des sozialen Gedächt- Zurstiege 2007, 12).
nisses einer Gesellschaft scheint unter den Auspi-
zien der Produktkommunikation zweierlei von Wenn wir davon ausgehen, dass Produkte in mo-
besonderer Relevanz: dernen Gesellschaften als Medien funktionieren,
Erstens sind die Käufer und die Verwender an dann hebt ein solches Verständnis darauf ab,
der Produktion des Markenprofils beteiligt. dass sie als reale, gelebte oder gedachte »Platt-
Schon die Entscheidung zum Kauf eines Produk- formen der sozialen Praxis« modelliert werden
tes stellt ein ›Ja‹ zum Image dieses Produktes dar. können, als »Zeichen- und Bezeichnungszusam-
Akzeptierte Bilder von Produkten verweisen da- menhänge« […], »die in der Lage sind, Deu-
her auf nachhaltige Aneignungsprozesse durch tungen aufzunehmen und auch solche wieder ab-
die genannten Akteursgruppen. Für die historio- rufbar zu machen. Medien sind in diesem Ver-
graphische Forschung stellen Produktimages da- ständnis Referenzrahmen für die allgemeine
her Quellen dar, die gewisse Rückschlüsse auf die Unterstellung der Wichtigkeit, Gültigkeit und Re-
Produzenten und auf die Werbeleute, vor allem levanz von Themen. Sie maximieren daher mög-
aber auf die potenziellen Käufer und Konsumen- liche individuelle Bedeutungen zu kollektiven
ten von Produkten zulassen. Deutungsangeboten – nicht selten in direkter
Zweitens: Marken verfügen über Geschichte. Verbindung mit der Minimierung eines differen-
Markenprofile weisen über lange Zeiträume hin- zierten Verständnisses des Inhalts selbst« (Bauer
weg überraschende Konstanzen auf. Images von 2006, 35). Markenprodukte entwickelten sich im
Marken werden von Generation zu Generation Laufe des 20. Jahrhunderts zu ›neuen‹ Medien ei-
weitergegeben; sie können sich daher als sehr ner so verstandenen Kommunikationskultur: Via
langlebig erweisen. Genaugenommen stellen sie Produktkommunikation verständigen sich spätes-
ein Gemeinschaftswerk von Vielen über Jahr- tens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ganze Gesell-
zehnte, zuweilen sogar über Jahrhunderte, dar. schaften, Gruppen und Generationen. Die Refle-
4. Produkte 153

xivität wird allerdings gewöhnlich nicht über blizistischen Erfolg das produktkommunikative
massenmediale Vermittlung hergestellt, sondern Credo seiner Altersgenossen.
durch andere Formen sozialen Austauschs, zum
Beispiel durch interpersonale Kommunikation.
Produkte verkörpern Konstanz
Auf diesem Wege vermochte und vermag ein ›ak-
und Kontinuität
tives Publikum‹ zum Akteur in Regelkreisen zu
avancieren, die über Jahre, über Jahrzehnte oder Wenn also bestimmte Produkte zu Plattformen
gar Jahrhunderte ›laufen‹ können! gesellschaftlichen Austauschs und zu Kristallisa-
Mehr noch: Auch die Produktmedien können tionskernen gemeinschaftlicher Selbstverständi-
Vergemeinschaftungen bewirken, auch Produkt- gung geworden sind, stellt sich die Frage, auf wel-
medien inkludieren und exkludieren, sie segre- che Weise Marken und Produkte als Medien des
gieren, segmentieren und fragmentieren zu- sozialen und kollektiven Gedächtnisses wirken.
gleich. Medien in diesem Sinne sind es, die Einerseits vermitteln sie explizit Gedächtnisin-
Wir-Gruppen Bedeutungs- und Sinn-Angebote halte, indem Akteure der Produktkommunika-
machen, Identifikationserwartungen befördern tion sich über Produkte erinnern und sich über
sowie Distinktionsverlangen und Gefühlslagen gemeinschaftliche Zuschreibungen zu ›Vergan-
vermitteln können. Kollektive können zu ›sich genheiten‹ vergewissern. Andererseits vermitteln
selbst finden‹, indem sich ihre potentiellen Ange- sie implizite Gedächtnisgehalte, insofern als die
hörigen und ›Mitglieder‹ über eine lange Zeit- Produktimages lang am Markt befindlicher Pro-
spanne hinweg auf gemeingültige Narrative, dukte als Archiv von vergangenen Aushandlungs-
Selbst- und Fremdbilder sowie Symbole ›eini- prozessen der Bedeutungs- und Sinnzuschrei-
gen‹: Waren und Produkte werden so zu Medien bung betrachtet werden können.
und Markern, die Gruppen, Generationen und Zahlreiche Marken operieren seit dem 19.
Gesellschaften binden. Markenprodukte sind in Jahrhundert bis auf den heutigen Tag; ihre Le-
der Lage, solche kommunikativen und zugleich benszyklen können sich über lange Zeitspannen
sozialen Kopplungen herzustellen. ausdehnen. Die Nivea-Creme wird im Jahr 2011
Produktkommunikationen laden dann zum ein Jahrhundert lang am Markt und im Gedächt-
Abgleich von Erinnerungen und damit zur Ge- nis der Menschen präsent sein. Eine grundle-
nese von Wir-Gefühlen ein. Die »Generation gende Voraussetzung produktkommunikativer
Golf« ist dafür ein sinnfälliges Beispiel. Florian Gedächtniskultur ist daher die Tatsache, dass sich
Illies erzählt in seinem gleichnamigen Buch, ei- bereits vorherige Generationen desselben Pro-
ner »Inspektion« der um 1970 in Westdeutsch- duktes bedienten, dass sich schon die Eltern,
land Geborenen, die ersten dreißig Lebensjahre Großeltern und Urgroßeltern auf Markenerzeug-
»seiner Generation« – und zwar anhand von un- nisse verlassen haben, mit denen auch wir uns
zähligen Produkten und Marken, entlang von heutzutage ausstatten und umgeben.
Anzeigen, Werbesprüchen und Produkterfah- Der überzeitliche und intergenerationelle Aus-
rungen (Illies 2001). Im Laufe dieser knapp tausch und Transfer von Gedächtnisinhalten ist
200-seitigen Darstellung werden fast 150 Mar- daher ein zentrales Strukturelement langfristig
kennamen in ihrer Bedeutung als Wegmarkie- erfolgreicher Produktkommunikation. Die Pro-
rungen für diese Generation vorgeführt. Im Mit- duktmeinungen, mithin die Erfahrungen und
telpunkt dieser Selbstnarration stand ein Auto, die mutmaßlichen Erfahrungen der Vorfahren,
»der Golf«, der 1974 bei Volkswagen erstmals strukturieren die Erwartungen nachfolgender
vom Band lief und der, folgt man der Darstellung Käufer- und Verwendergenerationen. Solche
des Autors, weit mehr als »den kleinsten gemein- Kontinuitäten ›über alle Zeiten‹ und über Gene-
samen Nenner« dieser Generation repräsentierte. rationen hinweg machen langlebige Markenpro-
Durchaus ironisierend und distanzierend postu- dukte zu wichtigen Generatoren des kollektiven
liert der Autor mit großem und nachhaltigem pu- Gedächtnisses in modernen Gesellschaften. In
154 III. Medien des Erinnerns

niskultur zuweilen in ihren werblichen Äußerun-


gen und erheben sie zugleich zu einem zusätzli-
chen Verkaufsargument. Insbesondere die Insze-
nierung von Jubiläen von Unternehmen und
Erzeugnissen sind Ausdruck dieser Gedächtnis-
kultur.
Das aus der Sozialpsychologie bekannte »Prin-
zip der sozialen Bewährtheit« modelliert die Tat-
sache, dass sich Menschen, die vor Entschei-
dungsalternativen gestellt sind, vergewissern, wie
andere in derselben Situation handeln oder eben
handelten. Diese Vorbilder ahmen sie dann nach.
Man entscheidet sich demnach gewöhnlich für
ein Produkt respektive für eine Produktmeinung,
für die sich andere bereits mit Erfolg entschieden
haben. So werden die Produkterfahrungen der
Vorgänger im Interesse einer sozialen Bewährt-
heit im kollektiven Gedächtnis aufgehoben und
tradiert – und sie gerinnen auf diese Weise zu
Produkterwartungen der Nachfahren.
Das Produktgedächtnis, mithin solch kom-
plexe Aufschichtungen von Erwartungen und
von Erfahrungen, wird medial und manifest so-
wie latent und subkutan von Generation zu
Generation weitergegeben. Eine explizite und
Abb. 2: Anzeige von 1981 – 70 Jahre Nivea (1911–1981) öffentliche Darstellung dieses Modus von Histo-
rizität der Markenprodukte in werblichen Äuße-
rungen bildet aber die Ausnahme. Die massen-
die Markenbilder von heute sind die Gedächtnis- hafte Übertragung von Erfahrungen mit Produk-
gehalte vergangener Generationen aufgeschichtet ten findet im Verborgenen und individuell statt:
und kumuliert eingeschrieben. Daher dürfen die Aufschichtungen vergangener Produktzuschrei-
Produktimages von heute auch als Archive von in bungen werden vor allem frühzeitig, im Kindes-
Vergangenheit und Gegenwart laufenden Prozes- und Jugendalter, in die Horizonte nachwachsen-
sen des kollektiven Aushandelns von Zuschrei- der Generationen eingeschrieben. Erfolgreiche
bungen gelten. Produkt- und Markenimages repräsentieren
Mehr noch: Diese in die Produkte und ihre Konstanten des sozialen Gedächtnisses, denn
Performanz eingeschriebene Gedächtniskultur ihre Wandlungsgeschwindigkeit und -intensität
repräsentiert eine geschichtlich begründete und ist vergleichsweise gering. Sie stellen Erwartungs-
geradezu akkumulierte ›soziale Bewährtheit‹: Ein und Erfahrungsaufschichtungen dar, auf deren
Produkt wie Nivea, das nicht nur die Elterngene- Grundzuschreibungen sich unterschiedliche
ration, sondern bereits die Generationen der Wir-Gruppen im Laufe der Zeit ›einigen‹. Um
Groß- und Urgroßeltern zufrieden gekauft und diese kollektiven Aufschichtungen zu modellie-
verwendet hat, kann im Sinne einer diachron be- ren, bietet sich die Theorie der »präsentativen
ziehungsweise historisch aufgefassten sozialen Symbole« an (vgl. Langer 1965). Unter »präsenta-
Bewährtheit nur gut für heutige Konsumenten tiver Symbolik« lässt sich eine »Ganzheit der Er-
sein! Produzenten solcher Artikel verbalisieren lebens- und Gefühlsvielfalt« verstehen, die ein
und visualisieren diese Ausprägung von Gedächt- bestimmtes Objekt abbildet und bei seinen Rezi-
4. Produkte 155

pienten aufzurufen in der Lage ist. Jedweder letztlich immer der Evaluierung am Markt. Pro-
Gegenstand vermag ein solches Symbol von his- dukte mit ›falschen‹ Offerten werden nicht mehr
torisch gewachsenen Aufschichtungen auszu- gekauft – und bleiben doch noch lange im Ge-
bilden, »wobei es gilt, Nicht-Verbalisierbares dächtnis der Menschen. Auch das musste unser
sinnlich zugänglich zu gestalten« (Jüngst 1995, Protagonist, die Nivea, schmerzlich erfahren. In
11). Marken- und Produktbilder können nicht den 1970er Jahren entstand ihr eine harte Kon-
nur aufgrund ihrer rationalen und verbalen, son- kurrenz: ›Creme 21‹ – die freche Lotion der Zu-
dern vor allem aufgrund ihrer nonverbalen, emo- kunft, namentlich des 21. Jahrhunderts, in oran-
tionalen und sinnlich vermittelten Muster mit gefarbener Aufmachung!
Erfolg langfristig als memoriale Medien wirken.
Und sie entfalten ihre Wirkung weniger aufgrund Literatur
der Wahrnehmung einzelner Zuschreibungsele- Bauer, Thomas A.: Geschichte verstehen. Eine kommu-
mente, sondern aufgrund der Ganzheitlichkeit nikationstheoretische Intervention. In: medien & zeit
ihrer Anmutung, in die in erheblichem Maße 21 Jg., 1 (2006), 26–39.
erinnerungskulturelle Elemente eingegangen, ja Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der
eingeschmolzen sind: »Jene ›präsentative‹ Abbil- Produktkommunikation in der Bundesrepublik und
der DDR. Leipzig 2003.
dung von Situationen in der sinnlichen Unmittel-
–: Waren und Produkte als Generationenmarker. Die
barkeit ihrer unzerlegten Ganzheit führt an emo- Generationen der DDR im Spiegel ihrer Konsum-
tionale ›Tiefenschichten‹ heran […]. Präsentative horizonte. In: Thomas Ahbe/Ders./Annegret Schüle
Symbole sind demnach Ausdruck von grundle- (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Per-
genden Beziehungen gleichwohl wie sie auch auf spektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, 271–300.
unsere Beziehungen in ihrer Bedeutung wirken, –: Produktimages und Gesellschaftsgeschichte im 20.
als solche in unser existentielles Sein eingreifen« Jahrhundert. In: Daniela Münkel/Lu Seegers (Hg.):
Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutsch-
(ebd.). Mit der Aufklärung von solchen über land, Europa, USA. Frankfurt a. M. 2008, 117–139.
Jahrzehnte und zuweilen über Jahrhunderte ge- –: Produktkommunikation. Geschichte und Theorie.
wachsenen Produktimages vermögen wir auf- Wien 2008.
geschichtete und verdichtete Erwartungen und lllies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. Frank-
Erfahrungen zu entdecken, Selbst- und Fremd- furt a. M. 2001.
zuschreibungen durch Gruppen, durch Generati- Jüngst, Peter: Psychodynamik und Stadtgestaltung. Zum
Wandel präsentativer Symbolik und Territorialität.
onen und ganze Gesellschaften.
Von der Moderne zur Postmoderne. Stuttgart 1995.
Produkte und Marken als Medien des sozialen Langer, Susanne K.: Philosophie auf neuem Wege. Das
Gedächtnisses verfügen unter methodischen Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frank-
Vorzeichen über einen großen Vorteil. Für die furt a. M. 1965.
Akzeptanz und damit auch für die Relevanz his- Maubach, Franka/Satjukow, Silke: Zwischen Emanzipa-
torischer beziehungsweise historisierender Pro- tion und Trauma: Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg
(Deutschland, Sowjetunion, USA). Ein Vergleich. In:
duktbilder gibt es à la longue ein untrügliches In-
Historische Zeitschrift 288, 2 (2009), 347–384.
diz: Ihre explizit-akzidentiellen wie ihre implizit- Zurstiege, Guido: Werbeforschung. Konstanz 2007.
strukturellen Gedächtnisangebote unterliegen Rainer Gries
156 III. Medien des Erinnerns

5. Architektur beschreiben, das sich der Historizität des Wan-


dels der Ordnungssysteme des menschlichen
Architektur ist für die Frage nach dem Gedächt- Wissens entzieht. – Koeppens Roman, der von
nis schon deswegen wichtig, weil sie Gleichzeitig- derselben Grundeinsicht der Betrachterbezogen-
keiten von ungleichzeitigen Vergangenheiten vor heit und Historizität aller Architektur ausgeht,
Augen zu stellen vermag. Sie lässt Zeit gleichsam führt hingegen vor, wie das als Raum aus sich
sichtbar werden. Dieser Eigenschaft kommt in überlagernden Sedimentierungen vorstellbare
historischer Hinsicht jedoch unterschiedliche Be- Gedächtnis und die weitaus stärker auf die Ima-
deutung zu, je nachdem, welches Zeitverständnis gination verwiesene, Beziehungen zwischen Dis-
und welche Raumvorstellungen dominieren. kontinuierlichem herstellende und schnell kom-
In seinem Roman Die Mauer schwankt (1935) binierende Assoziation eines aus politischen
hat Wolfgang Koeppen den Palast des Diokletian Gründen Verfolgten, der sich im immer schon
in Split als einen Bau bezeichnet, der romanische, von sozialen Beziehungen besetzten Raum der
griechische, ägyptische und Renaissanceelemente Stadt ebenso wie in seinen Erinnerungen zu ori-
nebeneinander treten lasse. Freilich konfrontiert entieren sucht, notgedrungen divergieren. Koep-
Koeppen das Beruhigende, das im Allgemeinen pens Bild hierfür ist der Basar um den Diokle-
von den hier auf übersichtliche Weise verräum- tianspalast, in dessen Straßen er den Architekten
lichten Zeitschichten auf den Betrachter ausgeht, von Süde sich verlieren und sich wieder finden
sogleich mit der besonderen Unruhe des moder- lässt: Ein Basar, der sich sowohl innerhalb als
nen Baumeisters Johannes von Süde, dem dieses auch außerhalb der Grenzen des antiken, immer
Bauwerk assoziativ in den Sinn kommt, als er un- wieder an die Bedürfnisse der Gegenwart ange-
mittelbar nach dem Erwachen sichtbar aus der passten Bauwerks niedergelassen hat. Sowohl für
Fassung und innerlich zutiefst irritiert aus einer das Gedächtnis, das mit Blick auf das Älteste
politisch motivierten Inhaftnahme entlassen räumlich aufbewahrend verfährt, als auch für
wird. In dieser Konfrontation kommen zwei ab- eine von ihm zu unterscheidende Erinnerung,
weichende, doch miteinander in Verbindung ste- die mit Blick auf eine im Zeichen der Krise ste-
hende Auffassungen des Bezugs von Architektur hende Gegenwart assoziativ zwischen Diskonti-
und Gedächtnis auf mustergültige Weise zur nuierlichem springt, indem sie das scheinbare
Sprache. – In einer Sammlung seiner einflussrei- Starre des Bauwerks zum Leben erweckt, kann
chen Studien zur Historik namens Zeitschichten Architektur mithin Paradigma sein.
(2000) hat Reinhart Koselleck den Gedanken ent-
wickelt, dass Zeit schon aufgrund anthropologi-
Architektur und Memoria
scher Grundgegebenheiten stets nur als Raum
denk- und metaphorisierbar sei. Architektoni- Schon in der Antike gab es enge Beziehungen
sche Schichtungen, wie die des Diokletianspalas- zwischen dem, was man über das Gedächtnis,
tes, veranschaulichen diese Auffassung paradig- und dem, was man über Architektur wusste. Ein
matisch. Architektur ist so gesehen selbst eine Teilbereich der antiken Rhetoriklehren galt der
Schriftform des Gedächtnisses, deren Anschau- Mnemotechnik, also dem Einprägen einer Rede.
lichkeit unter den modernen Bedingungen einer Für dieses Einprägen empfahl z. B. die anonyme
Beschleunigung der Erfahrung von Zeit nur Rhetorica ad Herennium dem sich auf die Rede
umso dringlicher als Kompensationsmittel benö- vorbereitenden Redner, die vorzubringenden Ar-
tigt wird. Architektur ist demzufolge jedoch im- gumente mit affektiv wirksamen Bildern – soge-
mer auch Diskurs, da sie sich erst in der Vorstel- nannten imagines agentes – assoziativ zu koppeln
lung des Betrachters zu einem ästhetischen Gan- und diese in einem vertrauten, möglichst klar ge-
zen zusammensetzt und in den Begriffen des gliederten Raum imaginär zu deponieren, so dass
Betrachters historisch fassbar wird – so sehr ihre sie im Vollzug der Rede leicht wieder in der vor-
Materialität auch dazu verführt, sie als etwas zu gesehenen Reihenfolge aufgerufen werden konn-
5. Architektur 157

ten (s. Kap. III.2). Besonders die Architektur eig- Labyrinthe und andere topische Orte der Antike
nete sich für dieses künstliche Training des Ge- beschaffen waren, ansatzweise begriffsgeschicht-
dächtnisses als Rahmen. Quintilian empfiehlt lich nachgewiesen werden kann. Memoria wurde
z. B., solche Bild-Argument-Verknüpfungen ima- als Totengedächtnis fortgesetzt und nach christli-
ginär in den um einen Innenhof gelegenen Räu- chen Vorstellungen ausgestaltet, der Benedikti-
men und dem Atrium eines vorgestellten römi- nerorden und die auf ihn folgende Kultur der
schen Hauses zu verteilen (Institutionis oratoriae späteren Orden und Klöster – bis hin zu Cluny –
libri XII, 11 2,20). nahmen sich ihrer an, z. B., indem der Kreuzgang
Das von mehreren antiken Autoren überlie- zu einem Ort verinnerlichender Meditation
ferte Beispiel des griechischen Lyrikers Simoni- durch ruminatio, eine Technik der wiederkäuen-
des von Keos, der sich angesichts einer verschüt- den Wiederholung des Worts, wurde. Aber auch
teten, von ihm kurz zuvor verlassenen Festgesell- an die präskriptive Mnemotechnik suchte man
schaft zu erinnern vermochte, an welcher Stelle anzuknüpfen. Bezeichnend ist allerdings, dass es
sich welcher Gast befand, ergänzt diesen prä- nicht mehr die Architektur eines Wohnhauses,
skriptiven Architekturbezug der rhetorischen sondern fast ausschließlich der Aufbau der Buch-
Mnemotechnik um die Nachträglichkeit eines seite war, der als mnemotechnischer Behelf ein-
Totengedächtnisses, das an die Stelle der rituellen zuspringen hatte. Ihm zur Seite trat die Erzäh-
Totenklage zu treten begann, verweist jedoch lung der figürlich gestalteten Bibelfenster. Erst
grundsätzlich ebenfalls auf ein geregeltes, wenn- gegen Ende des Mittelalters verselbständigten
gleich bereits nicht mehr unproblematisches Zu- sich christlich umgedeutete imagines agentes
sammenspiel von architektonisch gegliedertem gleichsam gegen die rahmende Architektur der
Raum und Memoria. In diesem Sinn verstand der Kirche. Das handelnde Bildwerk der Gotik – z. B.
Rhetor Quintilian dieses bereits von Cicero über- auffahrende Kruzifixe mit beweglichen Armen –
lieferte Beispiel, nämlich, »daß das Gedächtnis verlebendigte die einzuprägende Heilsgeschichte
dadurch gestützt wird, daß man feste Plätze be- in simulatorischen Praktiken, die den Rahmen
zeichnet, an denen die Vorstellungen haften« des architektonisch Absicherbaren beinahe schon
(Inst. orat., 11 2,17). überschritten. In der beginnenden volkssprachli-
Schwieriger stellt dieses Zusammenspiel sich chen Erzählliteratur fanden sich mit gegenläufi-
dann dar, wenn die gebauten Architekturen der ger Tendenz einerseits noch immer Architektur-
Antike – z. B. das Pantheon oder die Villa des Ha- allegorien, die an das Himmlische Jerusalem er-
drian – einbezogen und in das Spannungsfeld innerten, andererseits erstmals abweichende
von Erinnerungspolitik und Architekturrezep- Erzählmodelle und Textwege, die sich reflexiv auf
tion gestellt werden. Eine Grenze bezeichnet das das Einprägen von Topiken beziehen.
bei C. Plinius Secundus nachweisliche Wissen
von der Unentwirrbarkeit eines Labyrinths, näm-
Dynamisierung des Architektur-Bild-Bezugs
lich demjenigen in der Basis des Grabmals des
in der Frühen Neuzeit
Etruskers Porsina. Diese möglicherweise nie aus-
geführte Architektur wurde den von Plinius an- In Spätmittelalter und Früher Neuzeit konfligier-
geführten Schriftquellen zufolge ersonnen, selbst ten Architektur und Bild zunehmend. Spannun-
ein künstlich geschultes Gedächtnis zu überfor- gen im konfessionellen, politischen und sozialen
dern, sie war nämlich »inextricabile« (unentwirr- Bereich ließen das modellhafte Miteinander ei-
bar) (Naturalis historiae lib. 36,19). ner sozialen Rahmung kollektiver imagines agen-
Es sind eher die ersteren, schriftlich kodifizier- tes durch wahrnehmungsleitende Architekturen
ten Aspekte der Memoria und der ars memora- zunehmend als problematisch erscheinen. So-
tiva, die in die lateinische Gelehrsamkeit des Mit- wohl dort, wo man sich um die Harmonie und
telalters hineinwirkten, wiewohl eine Beunruhi- Lesbarkeit der Architektur-Bild-Bezüge sorgte
gung über das Nicht-Wissen, wie jene antiken und diese zu kodifizieren suchte (z. B. Fassade
158 III. Medien des Erinnerns

und Bildprogramm der 1597 eingeweihten Jesui- dendem Architekturtraktat sich empirisch erwei-
tenkirche St. Michael in München, die bestimmte ternde Wissen über die als überlegen betrachtete
Vorgaben des unmittelbar auf Beschlüssen des antike Architektur in die Memoria eines aufwen-
Konzils von Trient beruhenden Bildtraktats Über dig illustrierten Buches einspeist, um es dem Le-
heilige und profane Bilder, ital. 1582 nur Bd. 1 und ser in Wort und Bild einzuprägen, beinhaltet der
2; lat. De Imaginibus sacris et profanis, 1594, des Text doch eine Fülle von schwer entschlüsselba-
Bischofs von Bologna Gabriele Paleotti umzu- ren, teils in Akrostichen verborgenen (Verschlüs-
setzen suchte), als auch dort, wo man eine selungstechnik, bei der die Anfangsbuchstaben
wissensorientierte Dynamisierung dieser Bezüge aufeinanderfolgender Verse, Strophen oder Zei-
anstrebte, kann von einem schlichten Fortbe- len ein Wort, einen Namen oder einen Satz erge-
stand des rhetorischen Modells keine Rede sein ben), teils auf die pseudoägyptische Überliefe-
(z. B. in Emblemen alchemistischer Traktate, wie rung einer eher frei erfundenen Hieroglyphen-
Michael Maiers Atalanta Fugiens von 1617, in de- sprache rekurrierenden Hinweisen auf esoterische
nen die Architektur für den Versuchsaufbau im Gehalte. Einerseits galt dieses Buch noch den
alchemistischen Labor, die überlieferten mytho- maßgeblichen Theoretikern unter Ludwig XIV.
logischen Bilder für die Elemente, die Embleme als dasjenige, das in Frankreich erstmals ein be-
als Ganzes hingegen für die von dem eingeweih- grifflich gesichertes Wissen über Architektur ein-
ten Adepten in Gang zu setzenden, auf eine dyna- geführt hätte, so z. B. 1685 für François Blondel.
misierende Verschmelzung der gegebenen Ele- Andererseits finden sich in ihm Rätsel, die den
mente abzielenden Naturprozesse stehen). Leser des Buches wie die Bilder von den Rängen
Die konfessionell motivierte Bilderstürmerei eines Gedächtnistheaters deutungsheischend ›an-
der Frühen Neuzeit war eine der spektakulären sehen‹. Diese gerieten alsbald in das Einflussfeld
Ausdrucksformen einer neuen Aufmerksamkeit sowohl der gebauten als auch der literarisch er-
auf die Medialität der Bilder und ihrer materiel- sonnenen Architektur: Ein gleichsam fernab der
len Träger – die Suche nach einer zunächst nur Welt gebauter Renaissancegarten wie das Bo-
den Eingeweihten verständlichen, ›kleinen‹ Bild- marzo des Vicino Orsini bediente sich dieses Bu-
sprache der Architekturemblematik jedoch auf ches als Ideenfundus für eine gegen die Bildpoli-
ihre Weise nicht minder. Architektur wurde einer tik des päpstlichen Rom gerichtete, epikureisch
These Aleida Assmanns zufolge in dieser Zeit von ausgerichtete Gegenerinnerung. Der Alchemist
einem Medium des Gedächtnisses zu dessen als- Béroalde de Verville deutete die von den Ge-
bald pluralisierten Symbol. Entsprechende Erin- dächtnisarchitekturen der Hypnerotomachia Poli-
nerungskonkurrenzen zeichneten sich auch in phili aufgegebenen Rätsel in seiner Übertragung
der gebauten Architektur ab – wiewohl das, was ins Französische (1600) auf dynamisierende
gebaut wurde, an Kühnheit oft hinter dem, was Weise als bildliche Darstellungen alchemischer,
gedacht und entworfen wurde, zurückzustehen tendenziell ergebnisoffener Prozesse aus und er-
hatte. öffnete damit eine subversive Lesart, der noch
Für die Konflikte der Frühen Neuzeit gibt der Jean de La Fontaine und der Kreis in Vaux-le-Vi-
sowohl Francesco Colonna als auch dem bedeu- comte verpflichtet war.
tenden Architekturtheoretiker Leon Battista Al- Es ist also nur bedingt richtig, wenn die ältere
berti als Autor zugeschriebene Architekturroman metapherngeschichtliche Forschung meinte, klar
Hypnerotomachia Poliphili (1499) ein gutes Bei- trennen zu können zwischen einem Primat des
spiel ab. Auf den ersten Blick ein Text, der haupt- Räumlichen und des Architekturalen in der Frü-
sächlich durch seine einprägsamen Bilder eine hen Neuzeit und einer Dynamisierung der Erin-
Vorstellung von der Pracht und der Hinfälligkeit nerung im Übergang zur Moderne. Blickt man
antiker Bauwerke im Sinne der Gelehrsamkeit nur auf die Leitmetaphern der Epochen, dann
der Renaissance geben möchte, also das seit der stellt es sich zwar nach wie vor so dar, dass in der
Wiederentdeckung von Vitruvs kanonisch wer- Frühen Neuzeit räumlich klar begrenzte Räume
5. Architektur 159

Bildspender für das Gedächtnis waren, man in Zentralperspektive, Erinnerungs-


ihm also auch alle hier deponierten Bilder wieder konkurrenz und Gegenerinnerung
aufzurufen hoffen konnte. Der »Thesaurus« (die im 17. und 18. Jahrhundert
Schatzkammer oder -truhe) ist neben dem »Hor-
tus« (dem umgrenzten Garten) das zentrale und Das Verhältnis von Architektur und Erinne-
dominante Paradigma bis in die Buchtitel hinein rungsbild sollte gleichwohl im 17. Jahrhundert
– eine Vorstellung, die noch lange in der Vorstel- auf neuartige Weise reglementiert werden. Über-
lung vom Gedächtnis als einem Speicher, aus dem haupt lässt sich in der Architekturzeichnung des
man Inhalte beliebig wieder hervorholen kann, späteren 17. Jahrhunderts verfolgen, wie die Ar-
nachwirken sollte. Noch John Locke sollte sich chitektur ihrerseits hier erstmals als Bild aufge-
mit der aus seiner Sicht veralteten Annahme aus- fasst wurde. Es ist der von den Akademien des
einandersetzen, das Gedächtnis sei ein »Store- Absolutismus unterstützte Versuch, dem zentral-
House«. Doch wie bereits die Beispiele des gebau- perspektivischen Weltbild zur alleinigen Gültig-
ten Gartens von Bomarzo und der erdichteten keit zu verhelfen, der hier insbesondere in der
Kythera-Gärten der Hypnerotomachia Poliphili gebauten Architektur zum Tragen kommt: Die
nahelegen, droht die scheinbare Stabilität dieser Triumpharchitekturen, die unter Ludwig XIV. er-
Containerräume von Anfang an durch Gegen- richtet wurden, sehen von der mehrdimensiona-
erinnerungen widerrufen zu werden, die an die len Räumlichkeit der Architektur ab bzw. inter-
Assoziation appellieren, auf heterodoxe oder so- pretieren diese im Hinblick auf einen zentral-
gar häretische Wissens- und Bildwelten zugreifen perspektivisch auf den Betrachter hin berech-
und insgesamt die Identitätsgarantien destabili- neten Blickpunkt, wodurch das beim Betrachter
sieren, die die als ›stabil‹ geltende Architektur auf zu evozierende Gedächtnisbild genau kalkuliert
den ersten Blick zu liefern scheint. wird.
Dieses Ineinander stabilisierender und desta- In dem ehemaligen städtischen Zentrum des
bilisierender Aspekte – man könnte auch von ei- südfranzösischen Protestantismus Montpellier
nem Gegeneinander von einem vorrangig raum- beispielsweise – das zwar bereits 1622 von Riche-
bezogenen Gedächtnis und einer vorrangig zeit- lieu für die katholische Partei erobert worden
bezogenen Erinnerung sprechen – lässt sich war, in dessen gebirgiger fernerer Umgebung hin-
vielleicht nirgends so klar studieren, wie in dem gegen der illegitime Versuch der sogenannten
von Frances Yates in die kulturwissenschaftliche Camisarden (so nach ihrer hemdartigen Beklei-
Diskussion eingebrachten Modell des Gedächt- dung benannte, protestantische Bewohner der
nistheaters, das Yates und andere an demjenigen Cevennen), noch nach der Aufhebung des Edik-
des Giulio Camillo untersuchten. Denn das The- tes von Nantes im Jahre 1685 eine selbstbe-
ater als Raum scheint nur zu ordnen; zugleich je- stimmte und auf der Erinnerung an das neue Tes-
doch führt es den Perspektivismus fast schon als tament basierende Religiosität im Alltag zu leben,
solchen in die beginnende Diskussion um das erst zwischen 1702 und 1706 blutig niederge-
ein, was Öffentlichkeit sein könnte, da das Thea- schlagen werden konnte – wurde gleichsam im
ter nicht nur darstellt, sondern idealerweise auch kritischen historischen Augenblick ein als Stadt-
die in ihm sich versammelnden Rezipienten in tor dienender Triumphbogen nach römischen
einen Streit über ihre mitgebrachten Perspekti- Vorbildern errichtet, der sich mit seinem bau-
ven und die über dem Sehen sich einstellenden plastischen, an Richelieus Sieg über den Protes-
Korrekturen an diesen Perspektiven verstrickt. tantismus erinnernden Schmuck drohend nach
innen an die Stadtbewohner wendete, die diesen
auf dem Weg nach draußen passieren mussten.
Weitere wahrnehmungsschulende Machtarchi-
tekturen folgten räumlich und zeitlich an diesen
Triumphbogen anschließend – und zwar noch
160 III. Medien des Erinnerns

nach 1706 – im Parc Peyrou außerhalb der Stadt- spielerisch Kleinarchitekturen entwerfen, in Be-
mauer Montpelliers, der sich perspektivisch an ziehung zueinander setzen und mit einer Bedeu-
die aus der Stadt kommenden Betrachter wen- tung befrachten lassen, deren Erschließbarkeit
dete, indem er einen bildhaft gerahmten Blick in durch das System der Wege individuell zwar je
die umgebende Landschaft erst nach dem Passie- verschieden, doch hinsichtlich der erwünschten
ren eines monumentalen, abermals drohend Wirkung gleichwohl recht genau kalkulierbar
gegen die Stadt gerichteten Reiterstandbildes frei- war. Schon seit der Renaissance sind es insbeson-
gab und noch heute freigibt. Der Parc Peyrou dere Grotten und Labyrinthe in den von den
verhilft der zentralperspektivischen Wahrneh- vitruvianischen Prinzipien der Festigkeit und
mungsschulung paradoxerweise sogar dadurch Stabilität entlasteten Gärten, die als geheimnis-
zur Geltung, dass er die Nähe zu seinem besieg- umwitterte Orte der Inszenierung von Gegen-
ten Konkurrenten sucht: Er ist auf dem triumphal erinnerungen dienen konnten. Neben sie traten
erhöhten Niveau einer erhabenen Aussichtster- später künstliche Ruinen, Porträtgalerien, Denk-
rasse unmittelbar neben jenem alten, sich gleich- steine, Einsiedeleien, Gräber und dergleichen
sam nach unten wegduckenden botanischen Gar- denkmalartige Gartenarchitekturen mehr, deren
ten errichtet, der seinerseits nach seiner Einrich- alleiniger Daseinsgrund im Erinnern an etwas
tung 1593 in vielfältigen Beziehungen zur liegt. Sozietäten und Geheimbünde, die zu auf-
Universität, zu dem Wissen der hier gepflegten klärerischen oder gegenaufklärerischen Zwecken
Wissenschaften und zu den heterodoxen Kreisen sowohl die zeichensetzende Kraft der Architektur
Montpelliers gestanden hatte. als auch ihre schutzbietende Funktion benötig-
Im England des frühen 18. Jahrhunderts hin- ten, bedienten sich solcher dezentrierten Klein-
gegen versammelten sich hofferne oppositionelle architekturen sowohl in der Baupraxis als auch in
Kreise in Landschaftsgärten wie Stowe, die ein andeutenden Darstellungen in Wort und Bild.
neues Naturverständnis unter Einbezug der Nach bestimmten Sprachgesellschaften des Ba-
Architektur erprobten. Die Gegenerinnerung rockzeitalters ist hier insbesondere die Freimau-
konnte hier z. B. die Gestalt einer Porträtgalerie rerei als Trägersozietät zu nennen, die ab 1717 ei-
›tugendhafter‹ Männer annehmen, in gezielt se- nen esoterischen Kanon von Symbolen für die
lektiver Erinnerung an bestimmte antike Vorbil- ephemeren Architekturen der Logen ersann, die
der in die nach dem Muster von Gemälden ver- als Logen meist nicht kenntlich sein durften.
schönernd umgestaltete Landschaft eingefügt. Einer gängigen Deutung zufolge wurde Archi-
Doch auch hier wurde Architektur als bildhafter tektur im Kontext des englischen Landschafts-
Träger für eine Erinnerung aufgefasst, die nur – gartens Assoziationsträger, indem die fürstlich
anders als beim vorgenannten Beispiel Montpel- dominierte Zentralperspektive ihrer Macht ent-
lier – nicht perspektivisch festgelegt war, sondern kleidet, Erinnerung also individualisiert wurde.
eine ganze Reihe von Blickpunkten gleichsam in Der Diskurs der frühen Assoziationsästhetik, die
ergebnisoffenerer Konkurrenz vorführen wollte. die Funktionsweise raumzeitlich zufällig syn-
Die künstliche Ruine z. B. mutierte in solchen chroner Perzeptionen untersuchte, begleitete
Kontexten von einem retrospektiv gedachten Bild diese scheinbare Individualisierung von Erinne-
der Vergänglichkeit zu einer prospektiv gedach- rung, die sich zunehmend auf die Sinne des Men-
ten Mahnung, das in ihr Angelegte, doch noch schen bis hin zu den ›niederen‹, z. B. den Ge-
Unausgeführte zu vollenden. ruchssinn, stützte. Gleichwohl kann die Ver-
Überhaupt ist der Garten ein zentraler Ort, an räumlichung einer abschreitbaren Folge von
dem Gedächtnis und Erinnerung in der Frühen Orten, an denen Inschriften nach wie vor eine
Neuzeit konfligierten. Ein Grund, warum dem teils nur verdeckte Rolle spielten, auch als kollek-
Garten auch in der zeitgenössischen Architektur- tive Schulung in einem neuartigen und erweiter-
theorie seit der Renaissance große Aufmerksam- ten Identitätsverständnis begriffen werden, das
keit zuteil wird, mag darin liegen, dass sich in ihm sich nicht mehr nur auf das Überkommene, klar
5. Architektur 161

Einsichtige und Repetierbare stützen wollte. Die rung an. Denn während sich die erstere Architek-
Aufklärung verhielt sich daher ambivalent gegen- tur gleichsam als eine Sprache der Macht ver-
über den Experimenten, die im 18. Jahrhundert stand, die hier nur nicht mehr primär von einem
von verschiedener Seite mit identitätsrelevanten einzigen Auftraggeber her zu begründen war, ge-
Architekturen wie dem Labyrinth betrieben wur- hen in zweitere weitaus stärker naturrechtliche
den. Identitätsrelevant ist das Labyrinth an sich Vorstellungen eines integrativen Ausgleichs von
schon seit unvordenklichen Zeiten; als Denkbild Natur und Kultur ein: ein Ausgleich, an den z. B.
diente es nunmehr der Verständigung über Fra- bestimmte Gartenarchitekturen erinnern wollen,
gen der Anthropologie, die sich gerade auch auf die neu zu definieren suchen, was ›Natur‹ sei. Als
die Erinnerung und auf ihre Grenzen erstrecken: paradigmatisches Bauwerk sei der Entwurf von
Was, wenn ich nur bin, was ich erinnere – was, Claude Nicolas Ledoux für einen »Temple de mé-
wenn ich mich nicht erinnere? Die konfligieren- moire« genannt, in dem begraben zu werden der
den Formen von Labyrinth und Irrgarten – letz- Architekt sich erträumte – geplant angeblich be-
terer die historisch jüngere Architektur, die in reits vor der Revolution für die königlichen Sali-
den Überlegungen der frühneuzeitlichen Archi- nen von Arc-et-Senans, veröffentlicht erst nach
tekturtraktatistik eine große Rolle spielte – konn- der Revolution im Rahmen seines Architektur-
ten hierfür sowie für den Imperativ, sich bei der werks L’Architecture considérée sous le rapport de
Suche nach den in den Überlieferungen ver- l’art, des mœurs et da la législation (1804), das zu-
streuten, nicht mehr schlicht vorgegebenen mindest auf dem Papier an die ursprünglichen,
Wahrheiten des eigenen Verstandes zu bedienen, utopischen, Natur und Architektur versöhnen-
Verständigungsmodelle abgeben. Die Aufklärung den Intentionen für die bei ihm auf den Namen
überantwortete die Frage nach möglichen Zu- »Chaux« hörende Salinenstadt erinnern sollte,
sammenhängen zwischen Architektur und Erin- die sich in Ledoux’ Erinnerung fast wie ein Frei-
nerung daher einer erzählenden Literatur, die als lichtmuseum für Architekturmodelle ausnimmt.
Experimentallabor für anthropologische Frage- Als ein solches begehbares Museum hat man
stellungen dienen konnte. auch Ledoux’ in wenigen Exemplaren bis heute
überlieferten Gürtel von Zollhäusern für Paris –
die Barrières – verstanden, die freilich auf den
Sprechende Architektur und Sattelzeit
ambivalenten, Ein- und Ausschlussmechanismen
der Moderne
durchaus neuer Art ersinnenden Charakter die-
Bereits im Vorfeld der Französischen Revolution ser frühen Spielart der modernen Architektur
erprobten Architekten eine neuartige Architek- hinweisen.
tursprache, die als Architecture parlante bekannt Aus der älteren Architekturtraktatistik heraus
wurde: Architektur sollte sich gleichsam ohne entstand im späteren 18. Jahrhundert durch die
Vorverständnis selbst aussprechen, charakteris- Öffnung auf Fragestellungen wie der soeben skiz-
tisch sein für das, was ihr als Gedanke zugrunde zierten eine neuartige Architekturästhetik, die in
liegt, sinnlich unmittelbar einleuchtend. Im Zu- die verschiedensten Diskursfelder hinein aus-
sammenhang mit dieser Abkehr von der tradi- strahlte. Naturrechtliche, pädagogische und psy-
tionsorientierten Memoria entstand schon vor chomedizinische Reformansätze bezogen das
1789 nicht nur eine ›Revolutionsarchitektur‹, die Wissen der Architekturästhetik ein, um im Bezug
das ästhetische Prinzip des Erhabenen integrie- auf die neuen Vorstellungen von personaler Iden-
ren wollte, sondern auch die Gartenstadtidee, die tität erinnerungsrelevante, -schulende und -hei-
auf eine harmonische Durchdringung von Stadt lende Architekturen zu schaffen. Die neuen Bau-
und Garten setzte. Die Architektur des Erhabe- aufgaben des 19. Jahrhunderts kündigten sich auf
nen setzte hierbei tendenziell auf der Seite des diese Weise an.
kollektiven Gedächtnisses, die Gartenstadtidee Nach 1800 entstanden dann gedächtnisstabili-
hingegen tendenziell auf der Seite der Erinne- sierende und wahrnehmungsleitende Architek-
162 III. Medien des Erinnerns

turen wie das Panorama, der Aussichtsturm in historistische Prinzip des Zugriffs auf Stilvorbil-
der Landschaft und das Geschichtsdenkmal (z. B. der, die gleichwertig nebeneinander stehen, die
die bereits um 1810 von Entwürfen Carl Haller fundamentale Verzeitlichung aller epistemischen
von Hallersteins angeregte, 1815 zum Wettbe- Ordnungen im mittleren und späten 18. Jahrhun-
werb ausgeschriebene, 1830 bis 43 von Leo von dert zur Voraussetzung hatte. Während die Auf-
Klenze errichtete Walhalla oberhalb der Donau klärung dieses ›erinnernde‹ Zugreifen jedoch
unweit Regensburgs). Der im 18. Jahrhundert eklektisch begründete – nämlich in der Über-
vorbereitete Gedanke der Denkmalpflege begann zeugung von der Berechtigung einer selbstbe-
nunmehr, sich flächendeckend auf die Schaffung wussten Auswahl des Zweckdienlichsten und
einer von Erinnerungszeichen besetzten Land- Besten in einer bestimmten historischen Situa-
schaft auszuwirken. Die zunächst in Frankreich tion –, wehrte der Historismus sich gerade gegen
polytechnisch-wissenschaftlich ausgebildeten Ar- dieses eklektische Erinnern. Die historistische
chitekten griffen den Gedanken der Architecture Architektur ordnete vielmehr bestimmte Stilvor-
parlante auf, bezogen diesen nunmehr jedoch bilder bestimmten Bauaufgaben zu – oder ver-
vorrangig auf soziale Architektur wie Schulen, suchte dies –, geriet jedoch im Interessenkonflikt
Krankenhäuser und Gefängnisse. Für Gedächtnis der neuartigen Öffentlichkeitsdebatten des natio-
und Erinnerung hatte all dies unmittelbar Konse- nal denkenden 19. Jahrhunderts in unauflösliche
quenzen, wie das Beispiel der Auflassung und Streitigkeiten darüber, welche Vorbilder für wel-
Umgestaltung alter Friedhöfe zeigt, für deren che Bauaufgabe zu wählen seien. Die Frage, ob
kühnste Entwürfe die Architektursprache der Ar- die Reform- und Revivalbewegungen des späten
chitecture parlante adaptiert wurde (z. B. Gustav 19. Jahrhunderts aus dem Historismus hervor-
Vorherrs Entwurf für den Südfriedhof in Mün- gingen oder mit ihm gerade brachen, ist daher
chen von 1818, dessen Grundriss in der Form ei- nicht eindeutig zu beantworten. Die Notwendig-
nes antiken Sarkophags gehalten war). Über die- keit des erinnernden Rückgangs auf je unter-
ser von der Sache her erzwungenen, politisch zu- schiedliche Vorbilder liegt hierfür auf der Hand
dem immer umstrittenen Öffnung auf neue – klar ist aber auch, dass der Stellenwert des
Bauaufgaben hin löste sich der Klassizismus, den Rückgriffs als solcher mit unterschiedlichen Wer-
man auch als monostiligen Historismus beschrie- tigkeiten für die jeweiligen Projekte versehen war,
ben hat, diskursiv betrachtet allmählich in den die von der ›Oberfläche‹ der Fassade her nur be-
pluralistischer ›erinnernden‹ Historismus des dingt verstanden werden können. Von einer pau-
19. Jahrhunderts auf, wie die sich vielfältig auf- schalen invention of tradition kann daher mit
fächernde, disziplinär ausdifferenzierende und Blick auf das 19. Jahrhundert nicht gesprochen
modernisierende Architekturtheorie zeigt, die werden, wiewohl vielerorts und manchergestalt
von der älteren Architekturtraktatistik zu unter- ›Traditionen‹ neu ersonnen wurden, die so mit
scheiden ist. Zugleich kann die erzählende Lite- Sicherheit nie bestanden (wenn man zugibt, dass
ratur seit dem späten 18. Jahrhundert als Wis- Traditionen im Sinne des Diktums von Leopold
sensspeicher für die Rezeption dieser Prozesse von Ranke ›eigentlich‹ so oder so beschaffen ge-
gelten, da hier gerade auch die Schattenseiten wesen sein können).
dieses Wegs in die Moderne am Einzelfall beob- Der im Bereich der Architektur besonders
achtet und reflektiert werden. ›sichtbare‹, mehr als in Malerei oder Bildhauer-
kunst Probleme aufgebende Historismus stellte
zugleich wesentliche Voraussetzungen für die
Historismus und öffentliche Architektur-
wissenschaftliche Erforschung der Frage nach
debatte im 19. und 20. Jahrhundert
Gedächtnis und Erinnerung bereit. Für Maurice
Der Historismus der Architekturtheoretiker hat Halbwachs’ Theorie der sozialen Rahmungen ei-
sich selbst nie als Relativismus verstanden. nes von ihm angenommenen kollektiven Ge-
Gleichwohl dürfte unbestreitbar sein, dass das dächtnisses einer Gesellschaft spielte die Vorstel-
5. Architektur 163

lung, was Architektur sei, eine zentrale Rolle (s. gebaute Architektur ausdrücklich an das Ge-
Kap. IV.3). Nur verkürzt kann hier darauf hinge- dächtnis appellieren (wie z. B. das israelische Ho-
wiesen werden, dass diese Vorannahme in der an locaust-Mahnmal Yad Vashem oder das von Pe-
Halbwachs anschließenden Forschung weiter- ter Eisenman für Berlin entworfene Holocaust-
wirkt. Noch das monumentale, vielbändige Pro- Mahnmal in Berlin bzw. Peter Zumthors Projekt
jekt von Pierre Nora, Les lieux de mémoire, sich »Topographie des Terrors« für das sogenannte
dem von ihm diagnostizierten Schwund des ›Gestapo-Gelände‹, also das Prinz-Albrecht-Ge-
Geschichtsbewusstseins durch eine Sammlung lände in Berlin), beachtet die neuere kulturwis-
der Erinnerungsorte des nationalen Gedächtnis- senschaftliche Forschung daher die Vielzahl eher
ses Frankreichs entgegenzustellen, ist dem histo- unscheinbarer Heterotopien, die als Hybridisie-
ristischen Verständnis der Architektur als Über- rungen zwischen einem eher raumorientierten
rest verpflichtet (s. Kap. III.9.). Gedächtnis und einer eher zeitverwiesenen Erin-
Anders, doch nicht minder bedeutend, fiel die nerung vermitteln. Das zwischen Sichtbarkeit
Rolle der Architektur im Denken Walter Benja- und Unsichtbarkeit vermittelnde Werk z. B. von
mins, Siegfried Kracauers und Frances A. Yates’ Jochen Gerz, das Anlass und Anreiz für offenere
aus. Benjamins im Pariser Exil vor 1940 entstan- Formen der Erinnerung bieten will, steht diesem
denes Passagenwerk widmet sich einer Archäolo- Gedanken konzeptionell nahe (beispielsweise das
gie des 19. Jahrhunderts, die den Orten des Über- Projekt »2146 Steine«, 1990–1993, durch das der
gangs, der Schwellen, des Dazwischen – wie den Schlossplatz von Saarbrücken zu einem »Platz
Passagen des 19. Jahrhunderts – eine Aufmerk- des unsichtbaren Mahnmals« wurde, indem auf
samkeit schenkt, die auch seine gleichfalls erst den unsichtbaren Kehrseiten von 2146 Pflaster-
posthum veröffentlichte Berliner Kindheit um steinen dieses öffentlich begehbaren Platzes die
neunzehnhundert kennzeichnet, wobei letztere Namen jüdischer Friedhöfe in Deutschland ein-
die paradoxe Erinnerungsform des Déjà-vu zu graviert wurden). Michel Foucaults Begriff der
einem zentrierenden Textprinzip erhebt. Yates Heterotopien – der sein weitgespanntes wissen-
verschiebt den zunächst auf das Nachleben der schaftshistorisches Werk zu sozialdisziplinieren-
Antike konzentrierten Forschungsansatz der den Architekturen wie dem Gefängnis, der Kli-
Warburg-Schule zunehmend auf nachantike his- nik, den Irrenanstalten begrifflich bündelt und
torische Zusammenhänge zwischen Architektur, zugleich auf stärker hybridisierende Orte wie den
Gedächtnis und Erinnerung. Garten hin öffnet – stellt für die in der Sache be-
Gegenwärtig findet eine lebhafte Diskussion gründete Interdisziplinarität der neueren kultur-
über die Zusammenhänge zwischen Architektur wissenschaftlichen Forschung einen wichtigen
und Gedächtnis statt, die auch, aber nicht nur im Ausgangspunkt dar.
Interesse zahlreicher akademischer Disziplinen
an der Architektur begründet ist. Wie der in jün- Literatur
gerer Zeit stark rezipierte Essay von Marc Augé
Arburg, Hans-Georg von: Alles Fassade. ›Oberfläche‹ in
Non-lieux (1992; dt.: Orte und Nicht-Orte, 1994)
der deutschsprachigen Architektur- und Literaturäs-
zeigt, rührt das Interesse an diesen Zusammen- thetik 1770–1870. München 2008.
hängen nicht nur von den omnipräsenten Dis- Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und
kussionen über Denkmalsetzungen mittels ›gro- Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses [1999].
ßer Architektur‹, sondern auch von der Verunsi- München 42009.
cherung, die von jenen hybriden Zwischenorten Geiger, Annette/Hennecke, Stefanie/Kempf, Christin
im öffentlichen Raum ausgeht, die architekto- (Hg.): Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als
Vorstellung. Berlin 2006.
nisch gestaltbar scheinen, jedoch immer schon Harth, Dietrich: Das Gedächtnis der Kulturwissenschaf-
gestaltet sind und gerade dadurch zu Fehlaneig- ten. Dresden 1998.
nungen im Sinne Michel de Certeaus herausfor- Martini, Wolfram (Hg.): Architektur und Erinnerung.
dern. Neben jenen spektakulären Orten, die als Göttingen 2000.
164 III. Medien des Erinnerns

Meier, Hans-Rudolf/Wohlleben, Marion (Hg.): Bauten Tausch, Harald (Hg.): Gehäuse der Mnemosyne. Archi-
und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungs- tektur als Schriftform der Erinnerung. Göttingen 2003.
debatte und die Denkmalpflege. Zürich 2000. –: »Die Architektur ist die Nachtseite der Kunst«. Erdich-
Mosser, Monique/Nys, Philippe (Hg.): Le jardin, art et tete Architekturen und Gärten in der deutschsprachi-
lieu de mémoire. Besançon 1995. gen Literatur zwischen Frühaufklärung und Roman-
Oesterle, Günter/Tausch, Harald (Hg.): Der imaginierte tik. Würzburg 2006.
Garten. Göttingen 2001. Yates, Frances A.: Architecture and the Art of Memory.
Reinink, Wessel/Stumpel, Jeroen (Hg.): Memory & Ob- In: Architectural Association Quarterly 12. Jg., H. 4
livion. Proceedings of the XXIXth International Con- (1980), 4–13.
gress of the History of Art held in Amsterdam, 1–7 Sep- Young, James E.: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten
tember 1996. Dordrecht 1999. des Holocaust. Wien 1997.
Harald Tausch
165

6. Archive und Bibliotheken genheit‹. Dieses Spannungsverhältnis von prä-


sent gehaltener und vergangener Vergangenheit
Wenn wir über das Gedächtnis sprechen, müssen ist in der spezifischen Dynamik des kulturellen
wir mit dem Vergessen beginnen. Der kontinu- Gedächtnisses begründet. Es besteht zum einen
ierliche Prozess des Vergessens ist Teil der gesell- aus einer engen Auswahl von Bildern, Texten, Er-
schaftlichen Normalität. Wie im Kopf des Einzel- zählungen und Daten, die aktiv im Bewusstsein
nen muss auch in der Gesellschaft ständig verges- und Gedächtnis der Bürgerinnen und Bürger ei-
sen werden, um Neuem Platz zu machen und um ner Gesellschaft verankert werden, und zum an-
sich auf die Aufgaben der Gegenwart einstellen deren in einem großen, unüberschaubaren Vor-
zu können. Die individuellen lebendigen Erinne- rat an Kunst- und Kulturzeugnissen, der allen-
rungen gehen mit dem Tod derer, denen sie ge- falls für Spezialisten von einer Bedeutung ist, die
hörten, ständig unwiederbringlich verloren, ihre diese aber erst selber produzieren müssen. Beides
materielle Hinterlassenschaft in Form von Mö- sind wichtige Funktionen des kulturellen Ge-
beln und Kleidern, Fotoalben, Briefen, Büchern, dächtnisses: die Auswahl und wiederholte öffent-
CDs und Geschirr wird entsorgt oder verstreut liche Präsentation eines werthaften, überzeitli-
und geht ein in den Kreislauf neuer Nutzung chen, geschmacksorientierten und geschmack-
ohne das Andenken der Person zu stützen. Mit orientierenden Kanons einerseits und das Archiv,
dem Ableben einer Generation ist ein fortwäh- d. h. die Sammlung bzw. Ansammlung von Mate-
rendes und unaufhaltsames Löschen von Erinne- rialien ohne unmittelbaren Relevanzbezug, die
rungen verbunden. gleichwohl interessant und wichtig sind als
Eine große Ausnahme hiervon bilden die In- Schlüssel für das Verständnis historischer Epo-
stitutionen des kulturellen Speichergedächtnisses chen andererseits. Das kulturelle Gedächtnis
wie Museen, Bibliotheken und Archive, in denen existiert also nicht nur in der Spannung zwischen
materielle Überreste wie Bücher, Bilder, Briefe, Erinnern und Vergessen, sondern obendrein in
Fotografien und andere Dokumente die Chance der Spannung zwischen lebendiger Aneignung
eines zweiten Lebens jenseits des ursprünglichen und bloßer Speicherung, zwischen Identität und
Gebrauchskontextes erhalten. Was seinen Platz Alterität, zwischen einem engen, ausgeleuchteten
in den Institutionen des kulturellen Speicherge- Bereich und unübersehbaren Datendepots, zwi-
dächtnisses gefunden hat und dort gesammelt, schen einer Kontraktion des Gedächtnisses und
konserviert, katalogisiert und erschlossen wird, seiner Dehnung. Was in den Kanon bzw. das
kann seine Existenz verlängern. Die Objekte, die Funktionsgedächtnis gelangt, ist von emphati-
aus ihren Gebrauchskontexten herausgefallen scher Wertschätzung getragen, was sich im Ar-
sind, büßen ihren primären Mitteilungscharakter chiv bzw. Speichergedächtnis befindet, ist Gegen-
ein; sie werden zu stummen Zeugen einer Ver- stand historischer Neugier. Emphatische Wert-
gangenheit, die von Spezialisten neu gedeutet schätzung und historische Neugier sind die
werden müssen. beiden Pole, zwischen denen sich die Dynamik
Durch materielle Konservierung, Katalogisie- des kulturellen Gedächtnisses vollzieht.
rung und Speicherung, wie sie in Bibliotheken
und Archiven betrieben wird, wächst der Gesell-
Bibliotheken
schaft ein zeitüberdauernder Bestand an Texten,
Dokumenten und Objekten zu, die unabhängig Büchersammlungen größeren Umfangs sind in
von ihrer Aussage oder Gestalt gemeinsam ha- den alten Schriftkulturen, Ägypten und Mesopo-
ben, dass sie Vergangenheit repräsentieren. Die tamien, in drei Funktionskontexten entstanden,
Vergangenheit wird in diesen Objekten auf zwei die man ›Vorrat‹, ›Archiv‹ und ›Repräsentation‹
sehr unterschiedliche Arten repräsentiert, zum nennen kann. Im Büchervorrat ist alles Schrift-
einen als eine ›vergangene Vergangenheit‹ und tum bereitgestellt, das für spezielle Aktivitäten
zum anderen als eine ›präsent gehaltene Vergan- gebraucht wird: Rituale und Rezitationen für den
166 III. Medien des Erinnerns

Kult, Rezepte und Beschwörungen für die Me- Wissen stehen, wenn Schrift und Druck nicht
dizin, Erzählungen und Lieder für die Unter- wären. Daher sind die Bibliotheken allein das si-
haltung, Lehrbücher und kulturelle Texte aller chere und bleibende Gedächtnis des menschli-
Art für die Schreiberausbildung. Von solchen chen Geschlechts, dessen einzelne Mitglieder alle
›Hand‹-‚ oder ›Arbeitsbibliotheken‹ haben sich nur ein sehr beschränktes und unvollkommenes
einige aus Ägypten erhalten, in Tempelinschrif- haben« (Schopenhauer 1965, 570). Man kann
ten gibt es Kataloge von Tempelbibliotheken und den Topos vom Gedächtnis der Menschheit aber
Clemens Alexandrinus überliefert die Zusam- auch anders verstehen, dann bezieht man sich da-
mensetzung einer solchen Tempelbibliothek von bei auf einen externen Wissensspeicher, um nicht
42 hochverbindlichen Büchern, die einem Kanon zu sagen: eine Datenbank, die von individuellen
gleichkommt. Auf eine derartige Kernbibliothek menschlichen Gehirnen angezapft werden kann
gehen auch die 36 Schriften zurück, die in der he- und diesen jeweils zu einer überwältigenden Aus-
bräischen Bibel zusammengefasst sind. In Archi- dehnung (nicht ihres Gedächtnisses, aber) ihres
ven wird das Schrifttum abgelegt, das zu Zwecken Wissens- und Denkhorizonts verhilft.
der Beurkundung, Referenz und Beglaubigung Die Bibliothek zeigt mit aller Deutlichkeit, dass
von Bedeutung ist. Solche Archive, die es auch in kein Buch für sich allein existieren kann, weil je-
Ägypten gegeben hat, sind vor allem aus Meso- des von ihnen aus anderen hervorgegangen ist
potamien überliefert, weil sich der Beschreibstoff und in andere übergeht. Bücher stützen sich ge-
›Tontafel‹ im feuchten Siedlungskontext besser genseitig auf den Regalen von Einband zu Ein-
erhielt als der ägyptische Beschreibstoff ›Papy- band; sie sind keine Monaden, sondern öffnen
rus‹. Der Typus der Palastbibliothek, der die re- auf jeder Seite ihre Fenster in Richtung anderer
präsentative Funktion des Schatzhauses auf das Bücher. Die Bibliothek zeigt Bücher als Elemente
Büchersammeln ausdehnte, stammt aus Assy- von Diskurszusammenhängen und bildet selbst
rien. In der Palastbibliothek von Ninive wurde die äußerste Grenze um die vielen verschiedenen
nicht mehr im Hinblick auf bestimmte Ge- Diskursuniversen, die sie sich einverleibt.
brauchskontexte, sondern schlechthin alles ge- Ihre Funktion eines Wissensspeichers kann die
sammelt, was die assyrische, babylonische und Bibliothek aber nur erfüllen, weil sie die Bestände
sumerische Schriftkultur an Bedeutsamen her- nicht einfach sammelt und bewahrt, sondern da-
vorgebracht hat. Auf diesen Bibliothekstyp, der rüber hinaus auswählt, sortiert, ordnet und nicht
sich dann auch den Wissensvorrat anderer Spra- zuletzt: zugänglich macht. Die elitären Zugangs-
chen und Kulturen einverleibt hat, geht die be- beschränkungen zu Büchern wurden erst im
rühmte hellenistische Bibliothek von Alexandria Laufe des 19. Jahrhunderts gelockert. Das Bild
zurück. Sie ist das Urbild aller Sammelbibliothe- von der Bibliothek als eines universalen Wissens-
ken der Moderne. Im Musaion von Alexandria oder Gedächtnisspeichers verstellt die wichtige
verbanden sich mit dem Sammeln von Büchern Einsicht, dass die in ihr gesammelten Bücher le-
auch das Studium der Texte und ihre philologi- diglich Buchstaben festhalten, aber keine Bedeu-
sche Bearbeitung. tungen. Da ausschließlich Sprache und niemals
Die Bibliothek ist immer wieder als ›Gedächt- der Sinn durch Schrift fixiert werden kann, muss
nis einer Kultur‹, wo nicht gar ›Gedächtnis der dieser in Akten des Lesens und Verstehens im-
Menschheit‹ bezeichnet worden. Die wenigsten, mer wieder neu rekonstruiert und in Kommuni-
die diesen Topos im Munde führen, haben dabei kation übersetzt werden. In diesen Akten der
eine Unterscheidung gemacht, auf die es Scho- Lektüre und Aneignung ergeben sich unweiger-
penhauer besonders ankam. Er wies nämlich auf lich Verschiebungen und Verzerrungen, aber
die wachsende Diskrepanz hin von gespeicher- eben diese sind es, die dieses Gedächtnis lebendig
tem Wissen einerseits und dem, was in menschli- erhalten.
chen Gedächtnissen tatsächlich verfügbar ist: Wenn wir von ›Gedächtnis‹ sprechen, muss
»Wie schlecht würde es also um das menschliche der Begriff der Speicherung deshalb aus seinen
6. Archive und Bibliotheken 167

technischen Bezügen gelöst und ganz neu gefasst mentar zeigt sich überhaupt der kanonische Sta-
werden. Speicherung im Gedächtniskontext stellt tus des heiligen normativen Textes, erst durch die
eine hoch spezifische Seinsform zwischen einem Produktion von Sekundärliteratur bildet sich ein
›Nicht mehr‹ und einem ›Noch nicht‹ dar. Sie hält produktiver Bestand von ›Klassikern‹ im Sinne
etwas fest, was nur im Stand der reinen Latenz von ›Primärliteratur‹ heraus. Es ist genau dieser
und Potentialität besteht. In diesem Sinne sind Rekurs auf bereits Bestehendes, die Geste der
Bibliotheken und Archive keine reinen Vergan- Wiederaufnahme selbst, die die emphatische Ar-
genheitsinstitutionen, sondern Wartesäle, die die beit am kulturellen Gedächtnis ausmacht und
Samen neuen Verstehens und Wissens für die auszeichnet. Solche beständige Pflege und Ausei-
Zukunft bergen. Hier wartet etwas auf uns, bis nandersetzung führt dazu, dass bestimmte Texte,
wir bereit sind, es abzuholen und zu reaktivieren. Bilder und andere Kunstwerke nicht fremd wer-
Innerhalb der Institution der Bibliothek spie- den und gänzlich verstummen, sondern über Ge-
gelt sich noch einmal das Spannungsverhältnis nerationen hinweg revitalisiert werden durch im-
zwischen Funktionsgedächtnis (oder ›Kanon‹) mer neuen Austausch mit der Gegenwart.
und dem Speichergedächtnis (oder dem ›Archiv‹) Von diesen Kernen und seinen Ringen aus ver-
wider. Sie enthält als ihren ältesten Kern den Ka- zweigt sich das Schrifttum in die labyrinthischen
non normativer und formativer kultureller Texte Fluchten seiner Länge. Gleichzeitig mit der
von der Bibel bis zum Kanon der literarischen Druckerpresse wurde die Gattung des Fach-
oder philosophischen Klassiker und damit Be- schrifttums erfunden, die neue Sachbereiche the-
stände, die durch rigorose Verfahren der Auswahl matisierte und damit in die Bibliothek neue Teil-
hindurchgegangen sind. Dieses Verfahren, das Universen einführte. Die Einheit des Wissens ist
wir ›Kanonisierung‹ nennen, sichert ihnen einen in der Bibliothek freilich von Anfang an gebro-
Platz im aktiven und nicht nur passiven kulturel- chen. Vervielfältigung, Verzweigung, Verzette-
len Gedächtnis einer Gesellschaft. Was in den re- lung, Spezialisierung sind die Vektoren ihres zen-
ligiösen oder literarischen Kanon gelangt, ist tripetalen Systems. Ebenso lebt die Bibliothek
durch drei Merkmale ausgezeichnet: Auswahl, von ihrem stetigen Wachstum. Eine Bibliothek,
Wert und Dauer. Auswahl setzt Entscheidungen die sich nicht ständig selbst erneut und überholt,
voraus, die immer auch mit Machtkämpfen ver- erstarrt zu einem Museum.
bunden sind. Das zweite Merkmal ist die Wertzu- Als Wissensspeicher kann die Bibliothek nur
schreibung: Kanonisierung bedeutet ›Heiligung‹, dienen durch ihre ausgeklügelten Ordnungsver-
ob es dabei um religiöse Texte, Personen oder fahren.Über das Titelblatt wurde dem Verfasser
Kunstwerke geht. Kanon bedeutet drittens: dau- seit dem Druckzeitalter ein prominenter Ort zu-
erhafter Bestand, denn die Persistenz des Kano- geschrieben, und er konnte über die leicht zu
nisierten ist das angestrebte Ziel des Prozesses. handhabende alphabetische Sortierung erfasst
Der Kanon ist keine Hitliste, die sich von heute werden. Rationalisierung und Reduktion auf die
auf morgen mit den Konjunkturen des Ge- ›Rückruf‹-Funktion ist der Schlüssel der Biblio-
schmackswandels ändert. Man baut ihn nicht in theksordnung, die sich von der anschaulichen
jeder Generation nach den herrschenden Ge- Wissenspräsentation im barocken ›Gedächtnis-
schmackskriterien auf, sondern findet ihn immer theater‹ maximal entfernt hat.
schon in Form einer (Vor-)Auswahl verbindli-
cher Texte vor und arbeitet sich an ihm ab. In der
Archive
hierarchischen Architektur einer Bibliothek bil-
det sich Kanonizität in der Struktur von Kernen Wir können uns keine Kulturen ohne Funktions-
aus, um die sich immer weitere Ringe ablagern. gedächtnis, wohl aber solche ohne Speicherge-
Kanonische Texte manifestieren sich nicht zuletzt dächtnis vorstellen. In mündlich tradierenden
dadurch, dass sie ein Schrifttum kommentieren- Gesellschaften zum Beispiel, wo sich keine
der Meta-Texte hervorbringen. Erst am Kom- schriftlichen Relikte ansammeln, wo der Umfang
168 III. Medien des Erinnerns

des Wissens dem entspricht, was Individuen im und andere Dokumente einsammeln, konservie-
Gedächtnis zu speichern vermögen, gibt es kein ren, ordnen, erschließen, katalogisieren und ih-
Speichergedächtnis. Dort muss das für die Identi- nen damit zu einer außergewöhnlichen Existenz-
tät und Reproduktion der Gruppe und Kultur re- verlängerung verhelfen.
levante Wissen von Mal zu Mal in wiederholten Nach einer berühmten Formulierung von Fou-
Anlässen festlich aufgeführt und dabei neu be- cault ist das Archiv »das Gesetz dessen, was ge-
kräftigt und versichert werden. Auch in totalitä- sagt werden kann« (Foucault 1990, 186 f.). Mit
ren Staaten, die die Deutungshoheit über die Ver- Blick auf die real existierende Institution des Ar-
gangenheit mit den Mitteln der staatlichen Mani- chivs kann man diesen Satz folgendermaßen um-
pulation und Zensur ausüben, gibt es, wie Orwell formulieren: ›das Archiv ist die Basis dessen, was
anschaulich vorgeführt hat, kein Speicherge- in der Zukunft über die Gegenwart gesagt wer-
dächtnis. den kann, wenn sie zur Vergangenheit geworden
Seit wann gibt es diese Institution des histori- sein wird‹. Da mindestens 95 Prozent dessen, was
schen Speichergedächtnisses überhaupt, warum unser Leben und unsere Kultur ausmachen, un-
leisten sich Gesellschaften den Luxus eines histo- wiederbringlich verlorengeht, kommt es natür-
rischen Wissensvorrats, der nicht unmittelbar lich auf die Qualität dieses Restes an. Die Fragen,
zur Legitimierung und Deutung der Gegenwart die die Historiker der Zukunft stellen werden,
beiträgt? Wir müssen hier unterscheiden zwi- werden heute bereits durch Art und Umfang des
schen ›politischen‹ und ›historischen‹ Archiven. Archivierten vorgeschrieben. Genau das ist der
Das Wort ›Archiv‹ ist von dem griechischen Verb kanadischen Autorin Margaret Atwood zu Be-
für ›herrschen‹ abgeleitet. Dazu passt, dass Ar- wusstsein gekommen, als sie einen historischen
chive ursprünglich als ein bürokratisches Ge- Roman schrieb, für den sie in Archiven recher-
dächtnis für die Ausübung von Herrschaft ange- chierte. Die Vergangenheit, so schreibt sie, »ist
legt wurden. Das gilt ebenso für die altägyptische aus Papier gemacht. Heutzutage ist sie auch aus
Verteilungswirtschaft wie für die Akten der In- Mikrofilmen und CD-ROMs gemacht, aber auch
quisition oder der Stasibehörde. Wenn diese Ar- die münden schließlich ins Papier. Daneben gibt
beitsspeicher der Macht ihre Aktualität und es auch noch Gebäude, Bilder oder Gräber, aber
Funktion verlieren, besteht in der Regel kein Be- im großen Ganzen ist es Papier. Papier muß sorg-
dürfnis, sie für die Nachwelt aufzuheben; im Ge- fältig bewahrt werden; Archivare und Bibliothe-
genteil wird nach politischen Systemwechseln oft kare sind die Schutzengel des Papiers; ohne sie
eine gezielte Aktenvernichtung betrieben, um die gäbe es sehr viel weniger Vergangenheit, und ich
Spuren eigener Schuld zusammen mit den Doku- wie viele andere Schriftsteller auch sind ihnen zu
menten auszulöschen. großem Dank verpflichtet« (Atwood 1997, 31–
Das Interesse an Daten, die keinen Gebrauchs- 32).
oder Legitimationswert mehr haben, ist eine Genauer besehen sind nicht nur die Künstler,
späte und ebenso unwahrscheinliche wie zentrale sondern die gesamte Zunft der Geisteswissen-
Errungenschaft moderner Gesellschaften, die mit schaftler die Nutznießer dieser ungeheuren und
dem Prinzip der Gewaltenteilung zusammen- uneigennützigen Dienstleistung. Archivare und
hängt. Historische Archive, die Dokumente auf- Geisteswissenschaftler entstammen demselben
heben, die ihre Aktualität und Relevanz verloren Spross des historischen Bewusstseins. Ihre Tätig-
haben, gibt es in institutioneller Form überhaupt keiten setzen einander voraus und greifen inein-
erst seit der Französischen Revolution. Traditi- ander; mithilfe der Archivare können Geisteswis-
onskritik und Traditionsbruch ist die eine Seite senschaftler in den Beständen des kulturellen
der Modernisierung, deren andere Seite der His- Speichergedächtnisses graben, Entdeckungen
torismus ist. Seither gibt es Institutionen eines machen, Verlorenes rekonstruieren, Getrenntes
kulturellen Speichergedächtnisses, die materielle zusammenfügen. Durch Akte des Deutens und
Überreste wie Akten, Bilder, Briefe, Fotografien Interpretierens beleben sie tote Materie und ver-
6. Archive und Bibliotheken 169

wandeln latente d. h. im Verborgenen wartende fach gespeichert ist, sondern gerade im Zwi-
Information in aktuelles Wissen. schenraum der Texte entsteht. Jorge Luis Borges,
Historische Archive bewahren das Vergessene der ebenfalls von der Dynamik des intertextuel-
und bilden dadurch ein Gedächtnis zweiter Ord- len Spiels ausging, hob an der Bibliothek vor al-
nung: Sie sind eine Art Fundbüro für Vieles von lem ihren Labyrinthcharakter hervor und destru-
dem, wovon sich die Gesellschaft laufend trennt. ierte die Utopie eines übermenschlichen Wis-
Sie bewahren das Fremdgewordene, das Bezie- sensgebäudes ironisch durch Hervorhebung der
hungslose, das Überholte, das Abgelegte auf und Erfahrung von Schwindel, Abgründen und Ein-
halten es für neue Verwendungen vor. Sie leisten brüchen.
einen zentralen Beitrag zum Verständnis der Ge- Bibliotheken und Archive als Speicher des kul-
genwart, indem sie uns helfen, die Distanz zur turellen Gedächtnisses sind seit den 1980er Jah-
Vergangenheit immer wieder neu zu vermessen. ren verstärkt zum Thema der Literatur und Bil-
Ohne dieses historische Gedächtnis hätten wir denden Kunst geworden, die sich sowohl mit den
keine Vergleichs- und Reflexionsmöglichkeiten, materialen Grundlagen von Kultur als auch mit
die im Zentrum des historischen Bewusstseins den an sie gehefteten Aspirationen und Mythen
stehen. Archive sichern das historische Gedächt- kritisch auseinandersetzt. Das kann hier nur an-
nis einer Gesellschaft. hand weniger Beispiele angedeutet werden. An-
selm Kiefer hat die ›Bibliothek von Babel‹ als Ur-
sprung und Fundament der Kultur in Form eines
Bibliothek und Archiv als literarisches Motiv
Regals mit schweren verschlossenen Bleibänden
und künstlerisches Format
visualisiert; Christian Boltanski hat mit seinen
Die Bibliothek ist nicht nur eine tragende Institu- massenhaften Fotoinstallationen und Archivkon-
tion des kulturellen Gedächtnisses, sie ist auch struktionen den individuellen menschlichen
immer wieder als die zentrale Metapher des kul- Wunsch nach Unsterblichkeit und zugleich das
turellen Gedächtnisses angesprochen worden. universale Schicksal des Vergessens und Verges-
Sehr oft wird sie als ein stabiler Wissensspeicher sen-Werdens vor Augen gestellt. Boltanski und
konzipiert, in dem – analog zu einer Erfolgsge- Horst Hoheisel haben ferner gerade auch die Au-
schichte des wissenschaftlichen Fortschritts – ßenseite des Sammelns und Archivierens, näm-
nichts verlorengeht und ein dauerhafter Kumula- lich den Müll thematisiert, der in ihren Werken
tionsprozess stattfindet. Dass das in den Biblio- paradoxerweise in die Domäne der Kunst und
theken bereitgestellte Wissen in sich weitgehend damit des kulturellen Gedächtnisses zurückge-
beziehungslos oder widersprüchlich ist, gerät da- holt wird. Sigrid Sigurdsson hat in verschiedenen
bei aus dem Blick. Virginia Woolf hat den runden polnischen und deutschen Städten sogenannte
Leesesaal der Bibliothek des Britischen Museums ›offene Archive‹ eingerichtet, in denen Bürgerin-
aus einer Gender-Perspektive betrachtet und als nen und Bürger verschiedener Generationen ihr
ein großes, umfassendes, männliches Gehirn eigenes dezentrales Erfahrungsgedächtnis in die
imaginiert. Für E.M. Forster, ihren Zeitgenossen Obhut von Museen legen.
und Kollegen aus dem Bloomsbury Künstler-Zir- Normativer Kanon und historisches Archiv
kel, ist derselbe Bibliotheks-Lesesaal zum Inbe- sind zwei Pole des kulturellen Gedächtnisses, die
griff eines synchronen Resonanz-Raumes gewor- in den Institutionen der Museen und Archive zu-
den, in dem das historische Nacheinander litera- sammengefasst werden. Grundsätzlich sind diese
rischer Werke in ein synchrones Geistergespräch Pole nicht gegeneinander abgeschlossen, sondern
der Texte überführt wird. Eine ähnliche Vision stehen in einem ständigen Austausch-Verhältnis
hatte auch Osip Mandelstam, der von einer miteinander, weshalb die Bestände des kulturel-
›Sehnsucht nach Weltkultur‹ beseelt war und sich len Gedächtnisses wandelbar und auch immer
die Literaturgeschichte als ein intertextuelles Ge- wieder neu verhandelbar sind. Bibliotheken und
samtgefüge vorstellte, in dem Wissen nicht ein- Archive als Institutionen des Speichergedächtnis-
170 III. Medien des Erinnerns

ses vertiefen den historischen Sinn und verbrei- Literatur


tern damit das Imaginationspotential einer Ge- Atwood, Margaret: In Search of Alias Grace. On Writing
sellschaft. Durch Dehnung des Zeithorizonts Canadian Historical Fiction. Ottawa 1997.
steuern sie gegen die permanente Tendenz zur Canfora, Luciano: Die verschwundene Bibliothek. Das
Reduktion auf die Gegenwart an und leisten ei- Wissen der Welt und der Brand von Alexandria. Ber-
nen unverzichtbaren Beitrag zur Orientierung in lin 1990 (ital. 1986).
Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt
der Zeit. Sie sind Anwälte der Alterität und
a. M. 41990.
Fremdheit der Vergangenheit ebenso wie Anima- Garber, Klaus: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spu-
toren einer tot geglaubten Vergangenheit. Die Ar- rensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents.
beit am Archiv schließt Wiederbelebungen, die München 2006.
Arbeit am Kanon schließt Historisierung und Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart
2
kritische Distanz ein; Vertrautes kann auf diese 1999.
Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena
Weise immer wieder fremd gemacht und Frem-
[1851]. In: Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. von Wolfgang
des kann angeeignet und ins historische Bewusst- Freiherr von Löhneysen. Stuttgart/Frankfurt a. M.
sein aufgenommen werden. 1965.
Stocker, Günther: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das
Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im
20. Jahrhundert. Würzburg 1997.
Aleida Assmann
171

7. Museen rin noch nicht reflektiert werden. Die breite The-


orie- und Methodendiskussion in zahlreichen
Das Museum, wenn man der Kürze halber diesen geisteswissenschaftlichen Fächern steht im Mu-
generalisierenden, der Komplexität der Muse- seumsbereich noch aus. Gerade zu den funda-
umslandschaft eigentlich nicht adäquaten Begriff mentalen Wechselbeziehungen zwischen Sam-
verwenden will, ist neben dem Archiv und neben meln, Bewahren, Forschen und Präsentieren so-
der Bibliothek (s. Kap. III.6) der Ort par excel- wie – um zwei weitere wichtige Kategorien
lence, in dem sich das Gedächtnis einer Gesell- einzuführen – Systematisieren und Interpretie-
schaft materialisiert. Zur Abgrenzung von den ren fehlen im deutschsprachigen Raum systema-
beiden anderen, primär schriftlichen Zeugnissen tische Untersuchungen. Dies ist jedoch nicht zu
gewidmeten ›Speicherstätten‹ kann man das Mu- verallgemeinern: in Frankreich, den USA und
seum auch als ›Archiv des Gegenständlichen‹ be- Kanada gab und gibt es (unter Stichworten wie
zeichnen. Allerdings wird dies der vielfältigen »New Museology« oder »Nouvelle Muséologie«)
Aufgabenzuschreibung an Museen nicht voll- durchaus Debatten über Gegenwart und Zukunft
kommen gerecht. Entsprechend der weltweit ak- des Museums.
zeptierten Definition des »International Com- Das öffentliche Museum ist, gemäß obiger De-
mission of Museums« ICOM (niedergelegt u. a. finition, also eine hybride Einrichtung: Es ist ein
in den 1986 verabschiedeten »Ethischen Richtli- Ort des Sammelns und Bewahrens, ein Archiv
nien für Museen«) sind Sammeln, Bewahren, der Gegenstände. Es beschränkt sich aber nicht
Forschen und Präsentieren die vier ›Säulen‹ oder darauf, sondern ist auch und darüber hinaus ein
Grundlagen jeder Museumsarbeit. Die Defini- Ort des Erforschens und Vermittelns der Ver-
tion dieser vier ›Säulen‹ grenzt die Institution des gangenheit und der Gegenwart – wobei For-
Publikumsmuseums in öffentlicher Trägerschaft schung und Vermittlung im Unterschied zur uni-
deutlich ab von privaten, mitunter museums- versitären Forschung oder zur schulischen Bil-
ähnlichen Sammlungen, von Galerien und von dung immer von den Exponaten ausgeht und sie
Kunstvereinen. zum Gegenstand hat.

Grundlagen der Museumsarbeit Historische Entwicklung der Museen


Die vier ›Säulen‹ als theoretische Fundierung der Die ersten Vorläufer der heutigen Museen sind
Museumsarbeit sind zwar unumstritten, doch die meist fürstlichen Kunst- und Wunderkam-
gab es in den letzten Jahren – über zahlreiche ver- mern des 16. bis 18. Jahrhunderts mit ihrem brei-
dienstvolle Einzelstudien hinaus – kaum Grund- ten, Artificalia, Naturalia und Exotica umfassen-
lagenforschung und Theoriebildung zur Rolle des den Sammlungsspektrum; die Kunstkammer-
Museums – und somit auch nicht zu seiner Funk- Sammlungen von Schloss Ambras bei Innsbruck,
tion als Ort des Gedächtnisses. Die meisten Dresden und Prag stehen exemplarisch dafür.
grundlegenden museumskundlichen Forschun- Man kann diese Traditionslinie nicht nur bis zu
gen im deutschsprachigen Raum stammen aus heutigen kunst- und kulturgeschichtlichen Mu-
den 1970er und 1980er Jahren und befassen sich seen, sondern ebenso zu ethnologischen Samm-
vor allem mit der Musealisierung unserer Gesell- lungen, Technik- und Wissenschaftsmuseen ver-
schaft, also mit der damaligen Tendenz, immer folgen.
mehr Lebensbereiche für ›museumswürdig‹ zu Während die fürstlichen Kunstkammern vie-
erachten und in neu eingerichteten Spezialmu- lerorts bis ins 19. Jahrhundert weiter existierten,
seen (z. B. Industrie-, Technik-, ländliche Frei- entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 18.
luftmuseen) zu bewahren; die gesellschaftlichen Jahrhunderts ein neuer Museumstyp: die poli-
und politischen Veränderungen seit 1989 und tisch begründete und genutzte Universalsamm-
ihre Auswirkungen auf das Museum konnten da- lung, die nicht zuletzt dazu diente, Artefakte
172 III. Medien des Erinnerns

fremder Völker, die kriegerische wie friedliche Kunstmuseum hat heute wohl den geringsten
Expeditionen erbeutet hatten, triumphal zu prä- Anspruch, Geschichte zu deuten – im Unter-
sentieren. Das British Museum in London (ge- schied zum 19. Jahrhundert, als mit der Systema-
gründet 1753) und der Louvre in Paris (seit 1793 tisierung und der Präsentation von Kunstwerken
Musée français, 1804–15 Musée Napoléon) sind nach nationalen Schulen nicht nur wissenschaft-
herausragende Beispiele. Im Laufe des 19. Jahr- lich, sondern auch national-politisch Position be-
hunderts bekam das Museum im Prozess der For- zogen wurde. Die Qualität des Kunstmuseums als
mierung moderner Nationalstaaten eine tragende Ort des Gedächtnisses erwächst heute vor allem
identitätsstiftende Rolle zugeschrieben; für die aus der materiellen Präsenz der originalen Kunst-
nicht mehr nur obrigkeitlichen, sondern zuneh- werke und der ihnen – aufgrund eben dieser Prä-
mend auch bürgerlichen Initiativen zur Muse- senz – zugesprochenen, oftmals als zeitlos über-
umsgründung kann beispielhaft das 1854 einge- höhten ›Aura‹, weniger aus kunsthistorisch un-
richtete Germanische Nationalmuseum in Nürn- termauerten Interpretationen. Heimatmuseen,
berg stehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts regionale und nationale Geschichtsmuseen hin-
konnte sich das Museum dann aus der Fixierung gegen versuchen, einen bestimmten Ausschnitt
auf die nationalstaatliche Erziehung der Unterta- der Geschichte zu dokumentieren, zu illustrieren
nen lösen und sich (wie es der Direktor der Ham- und zu interpretieren. Geschichtsmuseen ohne
burger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, exempla- diesen Deutungsanspruch wären nur schwer vor-
risch betrieb) als Bildungsstätte profilieren: Das stellbar. Auch diese Museen setzen in der Regel
Museum wurde nun von bürgerlichen wie von auf die ›Aura‹ des Original-Exponats, die aber
Arbeiterparteien (und später auch von nationa- nicht ästhetisch, sondern aus der Zeitzeugen-
listischen Parteien) als Erziehungsinstrument er- schaft abgeleitet wird.
kannt. Das Museum der Gegenwart hat, im Unter-
In Deutschland – West wie Ost – kam den Mu- schied zum Museum des 19. und frühen 20. Jahr-
seen dann später zumindest potenziell (und im hunderts, in der Regel keinen universalen An-
tatsächlichen Ausmaß noch nicht ausreichend er- spruch mehr, es kann sich nicht mehr anmaßen,
forscht) eine wichtige Rolle in der nationalen das gesamte Wissen der Welt oder auch nur eines
Selbstfindung und dem Aufbau einer neuen Iden- definierten Teilbereiches (wie z. B. der Kunst oder
tität nach dem Zweiten Weltkrieg zu, kulminie- auch nur der Malerei) zu repräsentieren. Sam-
rend im ›Geschichtsboom‹ der 1970er und 1980er meln ist also eine – entweder wissenschaftlich,
Jahre (der sich z. B. in der Bundesrepublik im Er- ästhetisch oder ideologisch – begründete Aus-
folg von Ausstellungen wie »Die Staufer«, 1975 in wahl. Dies unterscheidet das Museum, selbst
Stuttgart, manifestierte), als Museen und Ausstel- wenn es sich als Archiv des Gegenständlichen
lungen als zentrale Medien der Aneignung der versteht, in der Regel vom Archiv im eigentlichen
Vergangenheit entdeckt wurden. Sinne. Das Sammlungskonzept ist einer der
Schlüssel zum Verständnis eines Museums und
zur Rezeption seiner Dauer- und Wechselausstel-
Sammlungs- und Erinnerungskonzepte
lungen. Dazu sei ein markantes Beispiel ange-
Das Museum als Ort des Erforschens und Begrei- führt: Die Diskussion um Sinn und Funktion ei-
fens hat einen größeren Anspruch als nur den, nes Deutschen Historischen Museums in West-
die Zeugnisse der Vergangenheit zu archivieren Berlin hatte in den 1980er Jahren, in Verbindung
und zu verwahren. Die meisten Museen sind – mit dem etwa gleichzeitigen Historikerstreit, eine
aufgrund ihrer institutionellen Geschichte und heftige Debatte darüber ausgelöst, ob im späten
der daraus hervorgegangenen Sammlungs-, Aus- 20. Jahrhundert überhaupt der Neuaufbau einer
stellungs- und Vermittlungskonzepte – auch Orte Sammlung für ein deutsches Nationalmuseum
der mehr oder weniger aktiven Geschichtsdeu- möglich und angemessen wäre. Besonders inten-
tung. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Das siv wurde die Frage diskutiert, ob sich das Samm-
7. Museen 173

lungskonzept nach den wenigen bereits zur Ver- schmacksurteil des Direktors/der Direktorin und
fügung stehenden Exponaten richten müsse, oder der Konservatoren/Kuratoren essentiell – und
ob man auf Originale verzichten und stattdessen zwangsläufig höchst subjektiv. Dagegen ist bei-
extra angefertigte Replikate und Inszenierungen spielsweise für die Malerei der Renaissance die
zur Verdeutlichung der historischen Umstände kunsthistorische Kanonbildung schon so weit
heranziehen solle. Die Frage von Original oder fortgeschritten, dass für persönliche Präferenzen
Replik ist bis heute eine der zentralen Fragen in weniger Raum bleibt. Ein objektiver kollektiver
der Museumsdiskussion und wird hinsichtlich Erinnerungsspeicher war und ist das Kunstmu-
der virtuellen Präsenz von Museen im Internet seum jedoch nicht. Im Kunstmuseum fand, par-
zunehmend auch auf anderer Ebene gestellt. Ist allel zur Entstehung und Entwicklung der Kunst-
die Repräsentation der Vergangenheit und damit geschichte als eigenständiger wissenschaftlicher
letztendlich die Erinnerung, so der Kern dieser Disziplin im Laufe des 19. Jahrhunderts, die im-
Frage, an die materielle Existenz eines Exponats mer stärker differenzierte Zuordnung zu Meis-
und an dessen – wissenschaftlich-rational kaum tern, Schulen, Stilen und Epochen statt; bisweilen
fassbare – ›Aura‹ gebunden oder ist seine Funk- wurde sie für politische und ideologische Zwecke
tion als Erinnerungsstück von dieser materiellen instrumentalisiert. Museumstätigkeit im Allge-
Authentizität ablösbar? Die meisten Museen ge- meinen und Sammlungskonzeptionen im Beson-
ben darauf (noch) eine eindeutige Antwort, die deren wurden verwissenschaftlicht und systema-
keine Substitute, keine Replikate zulässt; doch ist tisiert. Diese Ordnung des Kunstmuseums als
von Fall zu Fall auch eine Tendenz erkennbar, Lü- Versuch der Ordnung der Welt im kleinen Maß-
cken eben dadurch zu schließen. Im Falle des ge- stab ist seither – trotz mancher gattungs- oder
planten (west-)deutschen Historischen Museums epochenübergreifender Ausbruchsversuche (z. B.
wurden Beweisführung und Realisierung be- Hängungen, bei denen Gemälde Alter Meister
zeichnenderweise obsolet, weil die deutsche Wie- mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert werden)
dervereinigung 1990 dem neu gegründeten Deut- – bestimmend: bis heute sind beispielsweise die
schen Historischen Museum, das seinen Ort nun Werke in einer Gemäldegalerie nach nationalen
nicht mehr im Westen, sondern in der Mitte Ber- Schulen (Italienische Abteilung, Niederländische
lins fand, die reichen Bestände des Museums für Abteilung etc.) und innerhalb dieser wiederum
Deutsche Geschichte im Zeughaus Unter den nach Epochen (Renaissance, Barock etc.) geglie-
Linden zur Auswertung zuführte – um den Preis, dert.
dass dieses Museum nun die Erinnerung an die Die Frage der Kanonbildung spielt in der aktu-
deutsche Geschichte primär aus westdeutscher ellen kunsthistorischen Fachdiskussion eine we-
Sicht hütet. sentliche Rolle, allerdings nur unter wissenschaft-
lich-fachimmanenten Aspekten. Noch weitge-
hend unreflektiert ist die Frage, inwiefern diese
Kunstmuseen
Kanonisierung prägend nicht nur für Samm-
In welche Richtung die von einem Museum aus- lungs- und Präsentationskonzepte ist, sondern
gehenden Erinnerungswege führen können, auch für die dadurch geleiteten Erinnerungskon-
hängt maßgeblich vom Sammlungsprofil ab. Dass zepte der Besucher. Durch die Auswahl seiner
dieses Sammlungsprofil zeit- und geschmacksbe- Exponate betreibt das Museum nolens volens
dingt ist, von politischen und gesellschaftlichen auch eine Steuerung der Vergangenheitsvorstel-
Umständen, von Moden und sogar von persönli- lung der Rezipienten; so wird beispielsweise das
chen Konstellationen abhängt, ist bestimmend Bild der italienischen Renaissance wesentlich
für seine Ausgestaltung. So ist im Kunstmuseum, durch die in den Gemäldegalerien ausgestellten
vor allem wenn dort auch Gegenwartskunst ge- Bilder geprägt.
sammelt wird, nicht nur die wissenschaftliche
Expertise, sondern auch das Wert- und Ge-
174 III. Medien des Erinnerns

Museum und Besucher – Probleme und ses elitär wissenschaftliche Verständnis hat die
Perspektiven Museumsarbeit, oft uneingestanden, seit dem 19.
Jahrhundert geprägt; seit den 1970er Jahren ist
Das Museum ist konservativ. Eine grundsätzliche allerdings eine stärkere Orientierung am Laien-
Veränderung ist kaum vorstellbar, sie würde dem Besucher erkennbar. Der Ausgleich zwischen
Charakter und der Aufgabenstellung widerspre- Wissenschaftlichkeit und Publikumsfreundlich-
chen. Doch das reine Beharren auf der überkom- keit ist seither eine wichtige Museumsaufgabe.
menen Ordnung bringt die Gefahr mit sich, ver- Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Besucher-
änderten Erwartungen, Bedürfnissen und Rezep- struktur sich verändert, und zwar mit direkten
tionsgewohnheiten der Museumsbesucher nicht Auswirkungen auf den Erinnerungs- und Erfah-
mehr gerecht zu werden. Zunehmend dürfte es rungshorizont der Besucher: Dies betrifft den de-
wichtig für Museen werden, die ›Aura‹ der Ob- mographischen Wandel; dies betrifft Bürger mit
jekte, sei sie ästhetisch oder aus ihrer Zeitzeugen- ›Migrationshintergrund‹, deren Wissen und Er-
schaft begründet, mit der persönlichen Ge- innerung sich nicht mit der ›christlich-abendlän-
schichte und dem persönlichen Horizont des Be- dischen Tradition‹ deckt; dies betrifft potentielle
suchers zu verknüpfen, ihm differenzierte, auch Besuchergruppen ohne den Bildungshinter-
emotionale Anknüpfungspunkte zu bieten, um grund, der zum Verständnis eines Großteils der
die traditionelle Distanz zwischen Exponat und musealen Exponate unverzichtbar erscheint. Die
Betrachter graduell zu verringern. Als Beispiel ersten Museen haben dies in Angriff genommen:
kann Raffaels Sixtinische Madonna (gemalt um Das British Museum in London lädt Immigran-
1513) dienen, die – für verschiedene Besucher- ten und Asylanten ein, um gemeinsam an Kon-
gruppen aus verschiedenen Gründen – den zeptionen für jene Abteilungen zu arbeiten, de-
Hauptanziehungspunkt der Dresdner Gemälde- ren Bestände aus kolonialistischer Zeit als kultu-
galerie Alte Meister darstellt: Weil sie ein Haupt- relle Beute nach London gekommen sind und die
werk Raffaels, eines der hervorragenden Künstler bei Europäern andere Assoziationen auslösen als
der italienischen Renaissance ist; weil sie durch bei denjenigen, aus deren Heimat sie stammen.
die unzähligen, omnipräsenten Reproduktionen Dass Objekte im Museum ohne das Wissen
der beiden Engelchen am Fuß der Madonna un- um ihren einstmaligen Gebrauch und ihre
gemein populär ist; weil sie zum festen Bildungs- Geschichte(n) gleichsam sprachlos sein können,
kanon des Bildungsbürgertums zählt – und weil haben wohl als erste ethnologisch-anthropologi-
sie für russische Galeriebesucher zu dem auch in sche Museen in Kanada, insbesondere in Van-
der Sowjetunion tradierten humanistischen Bil- couver, konstatiert. Schon in den 1980er Jahren
dungskanon gehört und zudem durch die Reisen begann man dort, Exponate nicht isoliert vom
russischer Künstler und Intellektueller des 19. Ritus und den Zeremonien der indigenen Völker,
Jahrhunderts unlösbar mit dem russischen an die sie vor ihrer Musealisierung gebunden ge-
Deutschland-Bild verbunden ist. Der Besuch der wesen waren, zu behandeln. Erst die Erinnerung
Sixtinischen Madonna bekräftigt also in erster Li- der Stammesältesten an diese Riten und Zeremo-
nie bereits vorhandene Vorstellungen und Kli- nien sowie die daraus erworbenen Kenntnisse
schees, er knüpft an vorhandene Erinnerungen der Museumskonservatoren ermöglichten in der
an – und nicht zuletzt deshalb ist dieses Gemälde Synthese einen anderen, möglicherweise adäqua-
so beliebt und erfolgreich. teren Umgang mit den musealisierten Objekten.
Es stellt eine Herausforderung für das Museum Heute ist dieser Umgang einem genauen Regel-
dar, sich nicht nur als wissenschaftliches Archiv werk unterworfen, das eine Verbindung zwischen
des Gegenständlichen und als Forschungsanstalt musealer Präsentation und den Gesetzen der
zu verstehen, die für eine kleine Zahl von Exper- ›Stämme‹ (first nations) regelt (und damit auch
ten arbeitet – und die Laien-Besucher mehr oder Tendenzen der Political Correctness reflektiert).
weniger nur als notwendiges Übel versteht. Die- Die Exponate werden also an ihre ursprüngliche
7. Museen 175

Funktion rückgebunden, ihrer ästhetischen mu- Präsenz und Vergegenwärtigung stellen drän-
sealen ›Aura‹ zugunsten der Authentizität ein gende Fragen, beispielsweise nach der Bedeutung
Stück weit entkleidet. Dieses Beispiel wirft die für des originalen Exponats, nach Zugangsmöglich-
die Idee des Museums generell, wie für seine Er- keiten zu den im Depot verwahrten Stücken, nach
innerung bewahrende Rolle im Besonderen zen- der Rechenschaft über den Bestand und dessen
trale Frage auf, ob die ›Aura‹ eines Exponats von Provenienzen, nach der Notwendigkeit interakti-
dessen ursprünglichem Kontext isoliert und al- ver Angebote. Das Museum wird dabei einerseits
leine ästhetisch begründet werden kann. Die tra- Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Medien
ditionelle Antwort des (Kunst-)Museums, die auf zeigen müssen. Richtig verstanden und eingesetzt
dieser Trennung bestand, steht jedenfalls zur Dis- können diese Medien ihren Beitrag zum Museum
kussion. der Zukunft leisten, dessen Bedeutung über die
Diese Form der Vergangenheitsvergegenwär- Rolle eines Speichers hinaus gehen muss, denn
tigung ist nicht auf alle Museen übertragbar, die Speicherrolle wird – die Frage der Authentizi-
doch sie kann ein Ansatz sein. Möglicherweise tät außer Acht gelassen – zunehmend von elek-
wird in absehbarer Zukunft auch das Expo- tronischen Medien übernommen, sie kann nicht
natspektrum der ›klassischen‹ kunst- und kultur- einzige Funktion des Museums sein bzw. bleiben.
historischen Museen von Traditionen, Erinne- Das Museum der Zukunft muss bzw. kann auch
rungen und Erfahrungen ihres Publikums abge- als Wissenschaftszentrum, als diplomatischer Ak-
schnitten sein. Das auf persönlicher Erfahrung teur und als gesellschaftliches Labor agieren. An-
und Erinnerung beruhende Wissen über christli- dererseits muss das Museum aber auf seinen spe-
che Ikonographie beispielsweise ist in rapidem zifischen, durch kein elektronisches Medium er-
Rückgang begriffen. Es wird sich bald und vehe- setzbaren Qualitäten beharren: Das Museum ist
ment die Frage stellen, wie eine Rückkoppelung der Ort, in dem eine direkte Begegnung mit den
an Erfahrungen, Wissen und Interessen der Be- Zeugnissen der Vergangenheit möglich ist, in
sucher hergestellt werden kann und welche Be- Räumen, die in der Regel exklusiv für diesen
deutung ein rein ästhetischer Zugang haben wird. Zweck erbaut wurden, in einer Atmosphäre, die
Es gibt darauf mehrere mögliche, z. T. bereits er- zwar heute nicht mehr als ›heilig‹ bezeichnet wer-
wähnte Antworten (die allerdings in der Muse- den kann, die aber doch deutlich aus der alltägli-
umspraxis kaum in Reinform vorkommen): Eine chen Sphäre herausgehoben ist.
Antwort ist es, die Exponate ›zum Sprechen zu
bringen‹, sie als Bühnenstücke oder als ›Event‹ zu Literatur
inszenieren, um das nicht direkt aus dem persön- Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinen-
lichen Erinnerungsschatz des Besuchers Evozier- glaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zu-
bare doch zu erreichen. Eine andere Antwort kunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993.
setzt ganz auf die Ausstrahlung des frei gestell- Fliedl, Gottfried (Hg.): Museum als soziales Gedächtnis?
ten, auf seinen ästhetischen Gehalt reduzierten Klagenfurt 1985.
Grasskamp, Walter: Museumsgründer und Museums-
Exponats. Eine dritte Antwort wiederum zielt auf stürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums.
das Gegenteil, nämlich auf Kontextualisierung, München 1981.
Erklärung, Pädagogik. Groys, Boris: Logik der Sammlung. München 1992.
Diese ›Antworten‹ versuchen, mit der Gefähr- Historisches Museum der Stadt Frankfurt a. M. (Hg.):
dung des Museums durch den veränderten Bil- Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit. Museums-
dungs- und Erfahrungshorizont umzugehen. geschichte und Geschichtsmuseum. Gießen/Frankfurt
a. M. 1983.
Auch unter anderen Aspekten wird die Stellung
Korff, Gottfried: Museumsdinge. Deponieren – Exponie-
des Museums als exklusiver Gedächtnis- und Er- ren. Köln/Weimar/Wien 2002.
innerungsort grundlegend und möglicherweise – /Roth, Martin: Das historische Museum. Labor,
endgültig in Frage gestellt. Die wachsenden Mög- Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt a. M./New
lichkeiten digitaler Datenspeicherung, virtueller York 1990.
176 III. Medien des Erinnerns

Lübbe, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinte- Roth, Martin: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer
resse. Basel 1977. deutschen Institution. Berlin 1990.
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Savoy, Bénédicte (Hg.): Tempel der Kunst. Die Entste-
Berlin 1990. hung des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–
Plagemann, Volker: Das deutsche Kunstmuseum 1790– 1815. Mainz 2006.
1870. München 1967. Waidacher, Friedrich: Handbuch der allgemeinen Mu-
Pomian, Krzystof: Der Ursprung des Museums: Vom seologie. Wien u. a. 31999.
Sammeln. Berlin 1993. Martin Roth/Gilbert Lupfer
177

8. Denkmale und Gedenkstätten inmitten der Alltagswelt und suggerieren Be-


trachtern und Passanten eine gewisse ›Selbstver-
Denkmale und Gedenkstätten haben eine retro- ständlichkeit‹. Während Denkmale durch ihre
spektive und eine prospektive Funktion. Sie ma- Eingebundenheit in den alltäglichen Raum oft ei-
nifestieren eine von ihren Initiatoren als relevant nen eher ephemeren Charakter haben, sucht man
erachtete Vergangenheit im öffentlichen Raum Gedenkstätten zumeist bewusst auf, um sich mit
einer Gesellschaft. Damit soll die repräsentierte der dort repräsentierten Vergangenheit ausei-
Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft identi- nanderzusetzen. Unter einer Gedenkstätte stellt
tätsstiftend und handlungsleitend sein: Die ange- man sich dabei üblicherweise eine Institution am
sprochene Gesellschaft soll auf diese Weise zu ei- ›authentischen‹ Ort eines vergangenen Gesche-
ner ›Erinnerungsgemeinschaft‹ werden. Zugleich hens vor. Mithilfe arrangierter historischer Re-
soll mithilfe solcher öffentlicher Vergegenständ- likte sollen Besucher einen möglichst ›unmittel-
lichungen von Vergangenheit ein charakteristi- baren‹ Zugang zu einer Vergangenheit finden,
sches Bild über diese ›Erinnerungsgemeinschaft‹ häufig gibt es kontextualisierende Informations-
nach außen kommuniziert werden. möglichkeiten wie Ausstellungen oder pädagogi-
Denkmale und Gedenkstätten können sich sche Angebote (Führungen, Seminare etc.).
unterschiedlichsten Themen widmen: einer vor- Aus denkmalpflegerischer Perspektive wiede-
bildhaften Person, einem denkwürdigen Ereig- rum wird über die beschriebenen Denkmale und
nis, einem historisch bedeutsamen Ort, einer Gedenkstätten hinaus all das als ›Denkmal‹ be-
Gruppe von Helden oder Opfern, einem histori- zeichnet, was im Sinne eines ›kulturellen Erbes‹
schen Zusammenhang oder auch einem von einer Gesellschaft in einer jeweiligen Gegenwart
konkreten historischen Umständen abstrahier- Denkmalwert besitzt: Baudenkmale, Bodendenk-
ten Ideal wie etwa ›Freiheit‹. Die normative In- male, Gartendenkmale oder auch Naturdenk-
terpretation des gewählten Themas und dessen male wie beispielsweise ein alter Baum. So um-
ästhetische Gestaltung in einem Denkmal oder fasst allein die Berliner Denkmalliste knapp 1000
einer Gedenkstätte resultieren dabei nicht aus Seiten.
der intrinsischen Bedeutung der jeweiligen Ver-
gangenheit, sondern aus einer gedächtnispoliti-
Profanes und Sakrales
schen Absicht jeweiliger Denkmalsetzer in ihrer
Gegenwart. Denkmale und Gedenkstätten die- Die neuzeitliche Denkmalkultur ist stark von der
nen also dem öffentlichen gedächtnispolitischen ideellen und ästhetischen Rezeption der europäi-
agenda setting: Partikulare Lesarten von Vergan- schen Antike seit der Renaissance geprägt. Be-
genheit werden nicht nur vergegenständlicht, reits im klassischen Athen hatte man beispiels-
sondern auch verräumlicht, wodurch sie nicht weise um 500 v. Chr. – etwa zehn Jahre nach der
nur allgemein sichtbar, sondern auch physisch gewaltsamen Beendigung der tyrannis – den Ty-
erfahrbar gemacht werden. Die gewählte Per- rannenmördern ein figürliches Denkmal gesetzt.
spektive auf Vergangenheit und Zukunft soll auf Deren Tat wurde damit offiziell als Ursprung ei-
diese Weise gleichsam nach ›innen‹ und ›außen‹ ner besseren Gesellschaftsordnung versinnbild-
universalisiert, die entsprechenden normativen licht, die Bevölkerung sollte auch zukünftig zum
Botschaften als allgemein gültig präsentiert wer- Widerstand gegen jedwede Gewaltherrschaft an-
den. gehalten werden. Im republikanischen Rom bil-
Eine eindeutige begriffliche Trennung zwi- dete sich im Zuge auch der Rezeption griechi-
schen Denkmalen und Gedenkstätten gestaltet scher Kultur ab dem vierten Jahrhundert v. Chr.
sich schwierig: Umgangssprachlich versteht man eine regelrechte Denkmallandschaft heraus: Sta-
unter einem Denkmal eine intentional gesetzte tuen erinnerten Passanten nicht nur an Götter,
und ästhetisch gestaltete Repräsentation von Ver- sondern auch an Tugenden und Ideale, Herrscher
gangenheit. Denkmale befinden sich zumeist und Feldherren. Zeitweise kam es zu einem
178 III. Medien des Erinnerns

»wahren Denkmälerkrieg« (Hölscher 2001, 208) Säkulares Geschichtsbewusstsein


zwischen konkurrierenden Institutionen und und nation building
Personen; dabei wurden immer wieder auch
Denkmale gestürzt. Neben Statuen und Relief- Die zeitgenössische Denkmalkultur greift zwar in
darstellungen konnte im damaligen Rom jedoch vieler Hinsicht auf vormoderne Gedächtnisprak-
auch eine Art früher Gedenkstätten an ›authenti- tiken zurück, ist aber als genuin modernes Phä-
schen‹ Orten besichtigt werden: So etwa die nomen zu verstehen: Historisch ist sie eng mit
Höhle, in der eine Wölfin der Legende nach den der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften und
Stadtgründer Romulus gesäugt hatte, außerdem einem damit einhergehenden intensiven säkula-
eine ärmliche Hütte inmitten von Villen, in der ren Geschichtsbewusstsein verwoben, vor allem
Romulus angeblich gelebt hatte. aber mit der Herausbildung von Nationalismen
Nicht nur im antiken Rom und Griechenland und Nationalstaaten. Das politische Konzept des
waren Denkmale und ›Mnemotope‹ (J. Assmann) Nationalstaats, das sich im Europa des 19. Jahr-
immer auch eng an sakrale Vorstellungen, Sym- hundert durchsetzte und schließlich in alle Welt
boliken und Orte gebunden. Öffentliche Ge- exportiert wurde, ist zunächst einmal eine ab-
dächtniszeichen zur Wertorientierung einer Ge- strakte Idee und somit für die Bewohner eines
sellschaft sind ein historisch und kulturell ver- Territoriums nicht konkret greifbar. Zudem ist
breitetes Phänomen: Ideelle Orientierung lässt der innere Zusammenhalt moderner Gesellschaf-
sich dabei in einer Religion finden, alternativ in ten stets durch divergierende Interessenlagen und
einem normativen Geschichtsverständnis bzw. in soziale Konflikte gefährdet. Zum nation building
der Kombination von Religion und Geschichte. gehört daher – ebenso wie etwa eine gemeinsame
Je nach Gesellschaftsformation sind sakrale und Hochsprache oder ein alle Bürger erfassendes
profane Bedeutungen der entsprechenden Reprä- Bildungssystem – auch die Produktion eines in-
sentationen unterschiedlich gewichtet, dabei je- stitutionalisierten ›kulturellen Erbes‹, das kultu-
doch sehr häufig miteinander verknüpft. Sakrales relle Homogenisierung und identitäre Verge-
und Profanes mischt sich auch in Traditionen der meinschaftung unterstützt (vgl. Graham u. a.
Grabbaukunst und Totenehrung, die ebenfalls in 2000, 11 ff.). Analog können sich Denkmale und
moderne Denkmalkulturen eingeflossen sind. Gedenkstätten auch an regionale oder transnati-
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überra- onale Öffentlichkeiten richten – etwa im Zuge
schend, dass bei der Gestaltung von Denkmalen der Schaffung eines ›europäischen Gedächtnis-
und Gedenkstätten bis in die Gegenwart häufig ses‹, das ein politisches ›Zusammenwachsen‹ der
auf sakrale Formen zurückgegriffen wird. Auch EU-Staaten befördern soll.
die über solche Orte geführten Diskurse (Ausch- Zeitgenössische Denkmale und Gedenkstätten
witz) oder bestimmte Rezeptionspraktiken (z. B. sind also in aller Regel Bestandteil eines instituti-
Pilgerfahrten) weisen nicht selten sakrale bzw. onalisierten oder zu institutionalisierenden ›kol-
sakralisierende Elemente auf. Dabei kommt es bis lektiven Gedächtnisses‹. Sie appellieren an eine
in den akademischen Diskurs hinein häufig zu soziale Einheit, die auf diese Weise entweder erst
einer »Entnennung des Politischen«: »Das Prin- produziert oder aber reproduziert werden soll.
zipielle und fast Zeitlose kann deshalb Gültigkeit Ob es sich nun um eindeutig identitätsstiftend
beanspruchen, weil es von Gegenwartsinteressen gemeinte ›Heldendenkmale‹ oder um sogenannte
scheinbar nicht tangiert ist« (Eschebach 2005, reflexiv-kritische ›Gegendenkmale‹ handelt: In-
59). stitutionell etablierte Denkmale und Gedenkstät-
ten vermitteln qua Existenz eine positive Bot-
schaft bezüglich der Gesellschaft, in der sie sich
befinden. So sind z. B. deutsche KZ-Gedenkstät-
ten nicht nur als Zeichen eines gebrochenen oder
›negativen Gedenkens‹ (Volkhard Knigge) der
8. Denkmale und Gedenkstätten 179

deutschen Nation zu verstehen, sondern auch als ideologiekritische Perspektive: Welche Aussagen
positiv-identitätsstiftendes Symbol gemeint: Ein werden von welchen gedächtnispolitischen Ak-
gegenwärtiges Deutschland bekennt sich zu sei- teuren bezüglich einer Vergangenheit und der ge-
ner negativen Vergangenheit – und ist schon von genwärtigen Gesellschaft gemacht? Oder kon-
daher ein anderes als das überwundene Deutsch- trafaktisch gefragt: Was soll nicht oder – im Fall
land, an dessen Verbrechen gedacht wird. von Denkmalstürzen – nicht mehr ausgesagt wer-
den?
Wie alle anderen Institutionen sollen Denk-
Gedächtnispolitik und kulturelle Hegemonie
male und Gedenkstätten ihre Rezipienten letzt-
Denkmale und Gedenkstätten interagieren mit endlich auf eine bestimmte Art subjektivieren, sie
ihrer sozialen Umgebung, indem sie sie symbo- also zu Subjekten machen, die eine bestimmte
lisch definieren und strukturieren: Durch ihre Sichtweise von Vergangenheit, Gegenwart und
Präsenz behaupten sie, von allgemeiner kulturel- Zukunft teilen und sich entsprechend konform
ler und normativer Bedeutung zu sein und ma- verhalten. Für bedeutsam erachtete Denkmale
chen dadurch jedes auf sie bezogene Verhalten zu und Gedenkstätten werden daher oft noch zu-
einem symbolträchtigen (und potentiell medien- sätzlich institutionell verankert, etwa in Form
wirksamen) Akt. Auch in der Außenrepräsenta- wiederkehrender offizieller Gedenkrituale oder
tion einer Gesellschaft fungieren Denkmale und obligatorischer Besuche z. B. von Schulklassen.
Gedenkstätten als signifikante landmarks. So Insofern dienen Denkmale und Gedenkstätten
spielt die erwartete oder tatsächliche Außenwir- der (Re-)Produktion von Gesellschaft und kön-
kung eines Denkmals oft schon bei dessen Kon- nen daher mit einem Begriff Louis Althussers als
zeption, spätestens aber bei dessen ›Evaluierung‹ ›ideologische Staatsapparate‹ gedacht werden
eine Rolle: So lobte die Berlin Tourismus Marke- (vgl. Althusser 1994). Damit ist jedoch gerade
ting GmbH das Denkmal für die ermordeten Ju- nicht die manipulative Verbreitung ›falschen Be-
den Europas als »neuen Besuchermagnet«: »Ganz wusstseins‹ über eine von ›den Herrschenden‹
besonders freuen wir uns über die umfassende verschleierte Realität gemeint, sondern ein – in-
und positive Medienresonanz, die der Destina- nerhalb jeweiliger politischer Rahmenbedingun-
tion Berlin durch dieses neue Mahnmal zuteil gen – durchaus pluralistischer und häufig kon-
wird.« Denkmale und Gedenkstätten sollen also troverser Kommunikations- und Interaktions-
nicht etwa nur ideelle Werte versinnbildlichen, prozess, mittels dessen sich Gesellschaft ideo-
sondern stellen im Zuge von Tourismus- und logisch (re-)produziert.
Standortmarketing zweifellos auch eine Form
kulturellen und ökonomischen Kapitals dar (vgl.
Konfliktpotential und culture wars
Graham u. a. 2000, 129 ff.).
Mittels eines gedächtnispolitisch markierten Aus einer solchen Perspektive erscheinen Denk-
Ortes im öffentlichen Raum soll eine bestimmte male und Gedenkstätten als ein Bestandteil des
Aussage über Vergangenheit nach innen und au- permanenten diskursiven und praktischen Aus-
ßen als verbindlich für eine Gesellschaft präsen- handlungsprozesses über kulturelle und politi-
tiert werden. Gedächtnispolitisches Handeln zielt sche Leitmotive einer jeweiligen Gesellschaft.
in diesem Sinne auf kulturelle Hegemonie: Auf Dieser Prozess findet allerdings nicht in einem
die Objektivierung, Materialisierung und kom- herrschaftsfreien Raum statt, sondern wird von
munikative Verbreitung ideologischer ›Selbstver- objektiven Machtverhältnissen und Konfliktkon-
ständlichkeiten‹ innerhalb des Alltagsbewusst- stellationen bestimmt. Je nach politischer Ver-
seins einer Bevölkerung (vgl. Gramsci 2000, fasstheit einer Gesellschaft können Denkmalpro-
194 ff., 380 f.). Will man sich analytisch mit Dis- jekte mehr oder weniger öffentlich diskutiert
kursen über Denkmale und Gedenkstätten ausei- werden, kann sich ein mehr oder weniger viel-
nandersetzen, empfiehlt sich daher stets eine stimmiges oder widersprüchliches Spektrum
180 III. Medien des Erinnerns

gedächtnispolitischer Themen im öffentlichen (und oft auch darüber hinaus) widerspiegeln.


Raum etablieren. Hinter den umstrittenen Repräsentationen ver-
Im Vergleich zu anderen Gedächtnismedien bergen sich grundlegende Fragestellungen be-
ist für Denkmale und Gedenkstätten ihre unhin- züglich Inklusion und Exklusion, Macht und
tergehbare Präsenz im öffentlichen Raum einer Ohnmacht, antagonistischer politischer Über-
Gesellschaft charakteristisch. Gerade diese Sicht- zeugungen, und immer wieder geht es auch um
barkeit birgt jedoch auch ein besonderes Kon- Anerkennung oder Leugnung von historischem
fliktpotential: Als alltagsweltlich wahrnehmbare Unrecht und erlittenem Leid.
Objektivationen von Vergangenheit sollen Denk-
male und Gedenkstätten wie gesagt vermitteln,
Intention und Rezeption
dass hinsichtlich der Bewertung und Relevanz
dieser Vergangenheit Konsens herrscht (oder Beim Nachdenken über Denkmale und Gedenk-
herrschen sollte). Da das jedoch meist nicht der stätten muss man deutlich zwischen den Intenti-
Fall ist, werden Denkmale häufig zum Gegen- onen jeweiliger Denkmalsetzer und der Rezep-
stand von Auseinandersetzungen, nicht selten tion dieser Orte unterscheiden: Real existierende
werden sie ›geschändet‹ oder gestürzt. Der Geo- Denkmale und Gedenkstätten lassen zunächst
graph Don Mitchell bezeichnet solche symboli- einmal ausschließlich Rückschlüsse auf die Inten-
schen Kämpfe als culture wars, die darüber ge- tionen derjenigen zu, die an ihrer Entstehung
führt werden, »was in einer Gesellschaft als legi- bzw. einer damit einhergehenden öffentlichen
tim definiert wird, wer dazu gehört und wer Diskussion konkret beteiligt waren. Keinesfalls
nicht. [...] Debatten über ›Kultur‹ sind Debatten jedoch kann man – zumal angesichts der skiz-
über tatsächliche Räume, über Landschaften, zierten Denkmalkonflikte – von hegemonialen
über die sozialen Beziehungen, die die Orte defi- (oder nach Hegemonie strebenden) Diskursen
nieren, an denen wir und andere leben« (Mitchell bzw. deren Resultaten auf ein ›kulturelles Ge-
2000, 5 f., Übers. C. S.). dächtnis‹ ganzer Gesellschaften schließen –
Mitchells bellizistisches Vokabular ist durch- schon gar nicht im Sinne von ›Identitätskonkret-
aus angemessen, wie einige Denkmal-Konflikte heit‹ oder ›Verbindlichkeit‹ (Assmann 1988).
der letzten Jahre zeigen: Ein Denkmal für in der Vielmehr liefe man so Gefahr, genau diejenigen
NS-Zeit verfolgte Homosexuelle in Berlin wird ideologischen Diskurse zu reproduzieren, die ei-
schon kurz nach seiner Einweihung mehrfach gentlich kritisch zu analysieren wären.
massiv beschädigt; einem Che-Guevara-Kopf in Ebenso wenig sollte man allerdings ins andere
Wien wird wenige Monate nach seiner Errich- Extrem verfallen und Denkmale ausschließlich
tung die Nase abgesägt; in Israel werden Informa- im Sinne gezielter Manipulation ›von oben‹ be-
tionstafeln zerstört, die an die im Krieg von 1948 trachten. Selbst wenn eine herrschende Elite ei-
zerstörten palästinensischen Dörfer erinnern sol- ner unterdrückten Bevölkerung Denkmale und
len; eine Genozid-Gedenkstätte in Ruanda wird Gedenkstätten mehr oder weniger aufzwingt, ist
mit Handgranaten angegriffen; in einem spani- damit nichts über den vermutlich eher geringen
schen Dorf wird ein Denkmal für die Opfer des Erfolg solcher Maßnahmen gesagt. In den meis-
faschistischen Franco-Regimes beschossen; bei ten Gesellschaften müssen gedächtnispolitische
Krawallen anlässlich der Entfernung eines sowje- Diskurse und deren Ergebnisse zudem weitaus
tischen Weltkriegsdenkmals in der estnischen komplexer gedacht werden (vgl. Graham u. a.
Hauptstadt Tallinn kommt ein Jugendlicher ums 2000, 24). Während es aber für den Forscher rela-
Leben. tiv einfach ist, (öffentlich geäußerte) Motivlagen
Anhand dieser schlaglichtartigen Aufzählung gedächtnispolitischer Akteure und deren Umset-
wird offensichtlich, dass sich in derartigen Ausei- zung zu rekonstruieren, sollte man sich darüber
nandersetzungen Konflikte und Machtverhält- im Klaren sein, dass die tatsächliche Wirkung
nisse innerhalb der jeweiligen Gesellschaften und Nutzung eines Denkmals im gesellschaftli-
8. Denkmale und Gedenkstätten 181

chen Alltag zunächst einmal eine black box dar- Rezipienten kommt. Dabei sollte nicht vernach-
stellt: »Die Anwesenheit und Zirkulation einer lässigt werden, dass die Agenda für diese Interak-
Repräsentation [...] verrät uns nichts darüber, was tion bereits vorgegeben ist: »Wir alle lesen die
sie für ihre Nutzer bedeutet« (Certeau 1984, xiii, Landschaft, aber wir sind nicht alle gleichberech-
Übers. C.S.). tigt im Prozess ihrer ›Erschaffung‹ – und auch
Denkmale und Gedenkstätten werden subjek- nicht in der Kontrolle ihrer Bedeutungen« (Mit-
tiv äußerst unterschiedlich wahrgenommen, wie chell 2000, 139 f., Übers. C.S.). Insgesamt muss es
etwa die Künstlerin Sophie Calle feststellte, als sie also darum gehen, Denkmale und Gedenkstätten
in den 1990er Jahren Ost-Berliner nach ihren Er- einerseits als hegemoniale Strukturen zu verste-
innerungen an die verschwundenen Denkmale hen, sie aber andererseits als Kommunikations-
der Hauptstadt der DDR befragte: Mit Blick auf und Interaktionsplattformen zu denken, die trotz
ein entferntes Lenindenkmal erinnerten sich die ihrer hegemonialen Strukturierung vielfältige
einen an Lenin als freundlichen Großvatertyp, diskursive und praktische Bezugnahmen ermög-
während die anderen eine autoritär-repressive lichen. Nur in einer solchen Perspektive kann die
Ausstrahlung des Denkmals beschrieben (vgl. tatsächliche gesellschaftliche Dynamik solcher
Calle 1996). Die Rezipienten solcher materiell Orte erfasst werden: Zwar sind ihnen bestimmte
und ideologisch bereits vorstrukturierten Orte Aussagen eingeschrieben, diese werden dann
sollten also zunächst einmal als ›eigensinnig‹ ge- aber konstant neu verhandelt und (re-)produziert
dacht werden: Sie begegnen solchen Orten mit (vgl. Cresswell 2004, 33 ff.).
eigenen ideologischen Dispositionen, Erfah- Das heißt auch, dass Denkmale und Gedenk-
rungs- und Erwartungshorizonten und verhalten stätten hinsichtlich ihrer (potentiellen) sozialen
sich gegenüber der hegemonialen Botschaft eines Bedeutungsgehalte in hohem Maße überdetermi-
Denkmals oder einer Gedenkstätte entsprechend niert sind: Gerade dadurch, dass sie als hegemo-
affirmativ, indifferent, ambivalent, kritisch oder nial objektivierte Deutungen von Vergangenheit
auch subversiv. Entsprechend verwehrt sich auch allgemein sichtbar sind, provozieren sie mögli-
der Judaist James E. Young in seiner wegweisen- cherweise Dissens oder Widerspruch, der sich
den Studie zu Formen der Holocaust-Erinnerung sonst vielleicht gar nicht artikuliert hätte. Für
in verschiedenen Ländern dagegen, Denkmale Andersdenkende ist beispielsweise durchaus
und Gedenkstätten als Repräsentationen eines erkennbar, dass in einem Denkmal oder einer
bereits vorhandenen »kollektiven Gedächtnisses« Gedenkstätte keine konsensuale, sondern eine
zu interpretieren: Sie seien als Orte »gesammelter spezifische Sichtweise auf eine Vergangenheit
Erinnerung« zu begreifen, die in Abhängigkeit kommuniziert wird. Daher verweisen Denkmale
von aktuellen gedächtnispolitischen Diskursen, und Gedenkstätten beispielsweise auch auf alter-
aber auch von Perspektiven jeweiliger Betrachter native, opponierende oder unterdrückte Inter-
ständig in Veränderung begriffen seien. Dabei pretationen von Vergangenheit und Gegenwart.
entwickelten sie ein von den ursprünglich inten- Diese symbolische Überdeterminiertheit macht
dierten Botschaften weitgehend unabhängiges Denkmale und Gedenkstätten zu gesellschaftlich
»Eigenleben« (vgl. Young 1997, 16 ff.). außerordentlich dichten Orten: Denn Gesell-
schaft kann an diesen Orten nicht nur besichtigt
und zustimmend internalisiert werden, sondern
Kommunikation und Interaktion
eben genauso gut auch hinterfragt, kritisiert und
Anstatt jedoch Denkmale und Gedenkstätten zu kontrovers verhandelt werden.
Subjekten mit einem ›Eigenleben‹ zu metaphori-
sieren, sollte man sie als (symbol-)politisch ge-
Diskursanalyse und empirische Forschung
staltete Orte denken, an denen es zu einer über
den Ort vermittelten und damit indirekten Aus- Die wohl am weitesten verbreitete Forschungs-
einandersetzung zwischen Denkmalsetzern und strategie in Bezug auf Denkmale und Gedenk-
182 III. Medien des Erinnerns

stätten ist die Diskursanalyse: Was sagen oder findet und evaluiert das Berliner Holocaust-
schreiben gedächtnispolitische Akteure über ihre Mahnmal anders als der Inhaber eines dort ange-
Motivationen und Ziele? Wie wird zu welchem siedelten Souvenirladens.
Zeitpunkt im öffentlichen Diskurs über Denk- Mit Blick auf die Erforschung von Orten regt
male und Gedenkstätten gesprochen und wa- der Kulturgeograph Tim Cresswell daher zur em-
rum? Eine Untersuchung der Motivlagen ge- pirischen Beobachtung an: »Die Realität an sich
dächtnispolitischer Akteure sowie analytische ist die beste Ressource, um über einen Ort nach-
Rekonstruktionen öffentlicher Debatten sind tat- zudenken« (Cresswell 2004, 125). Leider gibt es
sächlich unabdingbar, wenn man die jeweiligen nur wenige Studien, die sich in diesem Sinne em-
gedächtnispolitischen Rahmenbedingungen er- pirisch mit Denkmalen und Gedenkstätten bzw.
fassen will, innerhalb derer ein Denkmal oder den darauf bezogenen Rezeptionsweisen und so-
eine Gedenkstätte verhandelt und schließlich po- zialen Praktiken auseinandersetzen. Wertvolle
sitioniert wird. Nur so können außerdem histori- Anregungen für eine solche Forschung bietet eine
sche Veränderungen nachvollzogen werden: Wie Studie über organisierte Reisen israelischer Schü-
und warum verändert sich ein öffentlicher Dis- lergruppen zu den Gedenkstätten an ehemalige
kurs über jeweilige gedächtnispolitische The- Vernichtungslager in Polen, die methodisch auf
men? Wie schlägt sich das auf die Gestaltung ethnographischer Feldforschung gründet (vgl.
oder Umgestaltung von Denkmalen, Gedenkstät- Feldman 2008). Um bezüglich Denkmalen und
ten und Gedenklandschaften nieder? Ein Beispiel Gedenkstätten jenseits herkömmlicher Diskurs-
hierfür wäre etwa die sogenannte ›Preußen-Re- analysen auch empirische Fragestellungen zu ge-
naissance‹ in der DDR, in deren Zuge ein 1950 nerieren, empfiehlt sich jedenfalls zweifellos eine
ostentativ gestürztes Reiterstandbild Friedrichs Erkundung vor Ort – ohne allzu konkrete Fragen
II. neu gedeutet und 1980 mitten in Ostberlin und Erwartungen, dafür aber mit offenen Augen
wieder aufgestellt wurde. und Ohren: Wie sieht eigentlich der Alltag an
Beim Nachdenken und Forschen über Denk- diesem Ort aus? Wie wird er organisiert und re-
male und Gedenkstätten sollte man sich aber guliert? Was machen Menschen an diesem Orten
darüber bewusst bleiben, dass es sich nicht nur und warum? Was denken sie angesichts von
um Objektivierungen hegemonialer Botschaften Denkmalen und Gedenkstätten?
handelt, sondern dass an diesen Orten ungleich
vielfältigere gesellschaftliche Diskurse und sozi- Literatur
ale Praktiken stattfinden – die jedoch bisher
Althusser, Louis: Ideology and Ideological State Appa-
kaum erforscht werden. Denkmale und Gedenk- ratuses (Notes towards an Investigation) [1970]. In:
stätten sind vor allem und nicht umsonst real Slavoj Žižek (Hg.): Mapping Ideology. London/New
existierende Orte. ›Vor Ort‹ aber machen Men- York 1994, 100–140.
schen nicht nur kognitive, sondern auch emotio- Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle
nale und physische Erfahrungen (vgl. Tuan Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und
Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19.
1977), was von Denkmalsetzern auch durchaus
Calle, Sophie (Hg.): The Detachment – Die Entfernung.
beabsichtigt, jedoch bisher kaum untersucht Dresden 1996.
wird. Einer 19 Meter hohen Leninstatue aus mas- Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life. Ber-
sivem Granit gegenüber zu stehen ist jedoch eine keley u. a. 1984.
wesentlich andere Erfahrung als eine Foto des Cresswell, Tim: Place – a Short Introduction. Malden
gleichen Denkmals zu betrachten. An Grabungs- u. a. 2004.
arbeiten am Ort eines ehemaligen Konzentra- Eschebach, Insa: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erin-
nerungskulturen seit der Weimarer Republik. Frank-
tionslagers teilzunehmen erzeugt andere Ein- furt a. M./New York 2005.
drücke und Gedanken als eine Radiosendung Feldman, Jackie: Above the Death Pits, beneath the Flag.
über Gedenkstättenarchäologie zu hören. Ein Youth Voyages to Poland and the Performance of Isra-
bayerischer Schüler auf Klassenreise sieht, emp- eli Identity. New York/Oxford 2008.
8. Denkmale und Gedenkstätten 183

Graham, Brian u. a.: A Geography of Heritage. Power, Mitchell, Don: Cultural Geography. A Critical Introduc-
Culture and Economy. London/New York 2000. tion. Malden u. a. 2000.
The Gramsci Reader. Selected Writings 1916–1935. Hg. Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experi-
von David Forgacs. New York 2000. ence. Minneapolis/London 1977.
Hölscher, Tonio: Die Alten vor Augen. Politische Denk- Young, James E.: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten
mäler und öffentliches Gedächtnis im republikani- des Holocaust. Wien 1997.
schen Rom. In: Gert Melville (Hg.): Institutionalität Cornelia Siebeck
und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ord-
nungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln
u. a. 2001, 183–211.
184 III. Medien des Erinnerns

9. Erinnerungsorte voranstellt, werden drei Voraussetzungen aufge-


führt, denen die genannten Orte zu genügen ha-
Den Beginn der steilen Karriere des Begriffs ›Er- ben, um tatsächlich einen Erinnerungsort zu ver-
innerungsort‹ in Wissenschaft und Publizistik körpern. Demnach müssen sie zugleich einen
markiert die Veröffentlichung des ersten von ins- materiellen, einen symbolischen und einen funk-
gesamt sieben Sammelbänden mit dem Titel Les tionalen Sinn besitzen: »[E]ine Schweigeminute,
lieux de mémoire durch den französischen Histo- die das extremste Beispiel einer symbolischen Be-
riker Pierre Nora im Jahr 1984. Das 1992 abge- deutung zu sein scheint, ist materieller Ausschnitt
schlossene editorische Großprojekt gilt nicht nur einer Zeiteinheit und dient gleichzeitig dazu, pe-
als wichtige Etappe auf dem Weg zur Begründung riodisch eine Erinnerung wachzurufen. Stets
einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisfor- existieren die drei Aspekte neben- und miteinan-
schung, sondern auch als einer der entscheiden- der« (Nora 1990, 26). Erinnerungsorte sind da-
den Impulse zur Verankerung eines neuen Para- her selten konkret-dinglich, ihre Bedeutung liegt
digmas innerhalb der Geschichtswissenschaft: vor allem in ihrem referentiellen Charakter.
das des kollektiven Gedächtnisses (s. Kap. II.2). Ergänzt wird die geforderte Simultanität von
Während das ursprüngliche Ziel des mehrheit- Materialität, Symbolkraft und Funktionalität um
lich aus Historikern und Historikerinnen zusam- das ›Prinzip der Vorgängigkeit‹. Laut Nora muss
mengestellten Autorenkollektivs um Nora noch bei der Schaffung eines ›Ortes‹ der Wille vorgele-
darin bestand, die Kristallisationspunkte der öf- gen haben, diesen im kollektiven Gedächtnis zu
fentlichen französischen Erinnerungskultur zu verankern. Seiner Forschungsagenda zufolge in-
inventarisieren, erkannten zahlreiche Wissen- teressieren ihn dabei weniger die Bedeutungen,
schaftlerinnen und Wissenschaftler aus unter- die dem Erinnerungsort zum Zeitpunkt seines
schiedlichen Disziplinen und Nationen schon Ursprungs zugeschrieben wurden, als vielmehr
bald die prinzipielle Anschlussfähigkeit seines dessen Metamorphosen und Adaptionen im
Ansatzes. Die Konsequenz daraus ist eine kaum Laufe der Zeit. Die Wandlungsfähigkeit ergibt
mehr überschaubare Zahl an Folgeprojekten und sich aus dem Doppelcharakter der Erinnerungs-
Veröffentlichungen, denen die Vorstellung im- orte. Sie sind »einfach und vieldeutig, natürlich
manent ist, dass Erinnerungsorte als Medien des und künstlich, der sinnlichsten Erfahrung unmit-
kollektiven Gedächtnisses begriffen werden kön- telbar gegeben und gleichzeitig Produkt eines
nen. Zugleich aber erschweren die darin formu- höchst abstrakten Gedankenwerks« (ebd., 26).
lierten begrifflichen Modifikationen und kon- Verständlicher wird diese Janusköpfigkeit bei
zeptionellen Erweiterungen das Verständnis, was eingehender Auseinandersetzung mit Noras Ein-
einen Erinnerungsort als solchen ausmacht. leitungstext.
Diese Unschärfe resultiert auch aus Noras ei- Zivilisationskritisch beklagt er darin die Fol-
gener Definition, die einen sehr breiten, auf den gen der »Beschleunigung der Geschichte«. Sei-
ersten Blick ungewöhnlichen Katalog an Erinne- nem viel zitierten Diktum nach habe erst die Zer-
rungsorten erlaubt. Das Spektrum umfasst neben störung der ›milieux de mémoire‹ zur Entstehung
vertrauten ›Orten‹ wie Gedenkstätten, Museen der ›lieux de mémoire‹ geführt. Nora führt zur
und Bauwerken auch Ereignisse, Gedenkfeiern, Begründung dieser These exemplarisch den Nie-
Persönlichkeiten und Organisationen. Außerdem dergang des Agrarsektors als verlorenes Erinne-
sind Rituale und Embleme sowie wissenschaftli- rungsmilieu an: Der »Untergang der bäuerlichen
che, literarische und Gesetzestexte potenzielle Welt« bedeute eine »unwiderrufliche Verstüm-
›Gedächtnisorte‹ – wie die anfängliche Überset- melung des Gedächtnisses« (ebd., 11). Das Ende
zung von lieux de mémoire noch lautete. In Noras dieser Gedächtnisgemeinschaft interpretiert er
programmatischer Einführung Zwischen Ge- als Konsequenz von Demokratisierungs- und
schichte und Gedächtnis, die er seiner 133 Bei- Modernisierungsprozessen, die gleichzeitig auch
träge und 5700 Seiten umfassenden Sammlung für die Erosion weiterer Instanzen mit Tradie-
9. Erinnerungsorte 185

rungsfunktion (z. B. Familie, Schule, Kirche, Na- dächtnis anstellt, erscheinen auf den ersten Blick
tionalstaat) verantwortlich zu machen seien. An- evident. Der definitorische Rahmen wird aber im
ders als es Maurice Halbwachs (s. Kap. IV.3) rund Verlauf des Projektes immer konturloser. Dies hat
50 Jahre zuvor für seine Zeit formulierte, bestrei- zur Folge, dass letztlich »alle kulturellen Phäno-
tet Nora daher, dass Ende des 20. Jahrhunderts mene (ob material, sozial oder mental), die auf
noch ein lebendiges und authentisches kollekti- kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in Zu-
ves Gedächtnis existiert. Auf Grundlage einer ra- sammenhang mit Vergangenheit oder nationaler
dikalen Differenzierung zwischen Geschichte Identität gebracht werden« (Erll 2005, 25) zu ei-
und Gedächtnis charakterisiert er seine Erinne- nem Erinnerungsort avancieren können. Gerade
rungsorte vielmehr als Hybride, die beiden Sphä- die mangelnde konzeptionelle Präzision scheint
ren angehören: Sie sind Substitute des kollektiven unterdessen den häufigen Rekurs auf Nora ausge-
Gedächtnisses. löst zu haben. Einerseits legt diese internationale
Der nostalgische Akzent in Noras program- Konjunktur die entscheidende Rolle des französi-
matischer Auseinandersetzung Zwischen Ge- schen Historikers bei der Etablierung der kollek-
schichte und Gedächtnis deutet an, dass hier die tiven Erinnerung als wichtigem interdisziplinä-
Grundlage für ein normatives Gesamtwerk ent- rem Forschungsgegenstand nahe, andererseits ist
wickelt wird. Gleichzeitig enthält seine Einleitung sie durch eine Trivialisierung und Verselbständi-
bereits den Kern für die konzeptuelle Weiterent- gung des Begriffs ›Erinnerungsort‹ gekennzeich-
wicklung der Erinnerungsorte in Richtung einer net.
neuen Form von Geschichtsschreibung, die er in Obwohl der Niedergang der Erinnerungsmi-
zwei weiteren Aufsätzen im fünften und siebten lieus und die Folgen der Demokratisierung den
Band für die lieux de mémoire reklamiert. Im Ge- Ausgangspunkt für sein gesamtes Projekt bilden,
gensatz zu konventionellen Geschichtsdarstel- verzichtet Nora in seinen einleitenden kultur-
lungen wird bei dieser Form der Erinnerungsge- pessimistischen Überlegungen weitgehend auf
schichte das kollektive Gedächtnis als mosaikar- theoretische Referenzen. Daraus resultiert eine
tiges Gebilde dargestellt, in dem sich Inhalte und gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl der Er-
Elemente von Vergangenheitsbezügen in vielfäl- innerungsorte und Erinnerungsträger. Vor dem
tiger Weise überlagern. Demnach haben die Er- Hintergrund des postcolonial turn und angesichts
innerungsorte Modellcharakter für eine »Ge- der von Nora formulierten Zielsetzung, Orte zu
schichte […] zweiten Grades« (Nora 2005, 16). benennen, die »Gewicht für die Herausbildung
Ziel dieser selbstreflexiven Geschichtswissen- der politischen Identität Frankreichs« (Nora
schaft sei es, die Erinnerungsorte über ihre bloße 1990, 7) haben, wirkt die Ausblendung von Erin-
Rekonstruktion hinaus zu dekonstruieren und nerungen beispielsweise der Migrantinnen und
damit eine am Leitbild der Demystifizierung ori- Migranten aus den französischen Kolonien aus
entierte Gedächtnis- und Symbolgeschichte zu heutiger Perspektive unzeitgemäß. Wenngleich
begründen. So erläutert etwa Gérard de Puymège es ein vorgebliches Anliegen von ihm ist, auch
im vierten Band von Les lieux de mémoire, dass vergessene und bislang eher unbeachtete Erinne-
der Soldat Nicolas Chauvin, der im kollektiven rungsorte sichtbar zu machen, schreibt der He-
Gedächtnis Frankreichs lange als Inbegriff des rausgeber Nora mit seiner Auswahl bestehende
Nationalismus galt und dem »Chauvinismus« Differenzen in der Gesellschaft fort.
seinen Namen gab, aller Wahrscheinlichkeit nach Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass
nur eine fiktive Figur gewesen ist. es Nora vorrangig um die Entwicklung eines
normativen, identitätsstiftenden Bildungskanons
geht. Sein Vorhaben, eine Gedächtnisgeschichte
Kritik
zu verfassen, die für alle Französinnen und Fran-
Die konzeptionellen Überlegungen, die Nora in zosen anschlussfähig ist, kann er nur partiell ein-
seiner Einleitung Zwischen Geschichte und Ge- lösen.
186 III. Medien des Erinnerns

Folgeprojekte nalen Erinnerungsorten zutreffenden Tendenz


haben sich Forscherinnen und Forscher in Öster-
Deutsche Erinnerungsorte: Dessen ungeachtet ha- reich zum Ziel gesetzt, die öffentliche Meinung in
ben zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wis- der Alpenrepublik für ihre Auswahl heranzuzie-
senschaftler Noras Les lieux de mémoire zum Vor- hen. Auf Grundlage einer repräsentativen Um-
bild genommen und seinen Ansatz auf weitere frage mit offenen Fragen versuchten sie in
Länder und Regionen übertragen. So sind noch Kooperation mit einem Markt- und Meinungs-
in den 1990er Jahren ähnlich angelegte Untersu- forschungsinstitut zu identifizieren, was nach
chungen zum kollektiven Gedächtnis in Italien, Ansicht der Befragten typisch für Österreich ist
Dänemark und den Niederlanden erschienen. In und für erinnerungswürdig gehalten wird. Die
Deutschland wurde erst zu Beginn des 21. Jahr- daraus hervorgegangene dreibändige Publikation
hunderts ein umfassendes analoges Projekt re- Memoria Austriae (Brix/Bruckmüller/Stekl 2004)
alisiert. Die zeitliche Verzögerung resultierte zeigt, dass sich das Geschichtsbewusstsein von
auch aus den besonderen Merkmalen der Österreicherinnen und Österreichern vorrangig
deutschen Geschichte: Die späte Entwicklung auf die Zeit nach 1945 konzentriert. Verdeutlicht
zum Nationalstaat, die katastrophale Bilanz der dieses empirische Ergebnis nochmals eine Schwä-
nationalsozialistischen Vergangenheit und die che vieler Publikationen – ihre Fokussierung auf
deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte mit der zeitlich weit entfernte ›Orte‹ –, so hat auch diese
Ausformung zweier unterschiedlicher Erinne- Vorgehensweise entscheidende Nachteile: Sie
rungskulturen in Ost und West machte aus ge- suggeriert, dass sich das kollektive Gedächtnis al-
schichtswissenschaftlicher Sicht einen ›deutschen lein durch die Erhebung von Inhalten ermitteln
Sonderweg‹ bei der Auswahl der für die Deut- lässt, die im individuellen Gedächtnis präsent
schen maßgeblichen Erinnerungsorte erforder- sind. Weitestgehend ignoriert wird im Zuge die-
lich. Im Jahr 2001 gaben Etienne François und ser Akkumulationsvorstellung jedoch die Diffe-
Hagen Schulze schließlich in drei Bänden und renz zwischen Individual- und Kollektivgedächt-
rund 120 Essays eine umfassende Sammlung mit nis, ihre unterschiedlichen Grundlagen, Eigen-
dem Titel Deutsche Erinnerungsorte heraus, die schaften und Dynamiken. Darüber hinaus
durch die Beteiligung internationaler Autorinnen werden solche Bestandsaufnahmen stark von au-
und Autoren sowie europäischer Perspektiven, genblicklichen medialen Konjunkturen und dem
auch den transnationalen Einflüssen auf Ver- zum Zeitpunkt der Umfrage unmittelbar gegebe-
gangenheit und Erinnerung gerecht zu werden nen gesellschaftspolitischen Kontext beeinflusst.
versucht. Allerdings hat die Abwesenheit eman- Diese Herangehensweise bildet das kollektive Ge-
zipatorischer Vermächtnisse (wie etwa des dächtnis Österreichs eher situativ und mit gerin-
Grundgesetzes), von Erinnerungsorten der Ar- ger Halbwertszeit ab.
beiterbewegung oder von sogenannten ›Frau- Europäische Erinnerungsorte: Während sich
enthemen‹ (z. B. § 218) zu einer mit dem histori- nationale Erinnerungsorte weitgehend auf eine
schen Bewusstsein der deutschen Bürgerinnen (zumindest territorial) geschlossene Erinne-
und Bürger nur teilweise übereinstimmenden rungsgemeinschaft in Form der Nationalstaaten
Sammlung geführt. Dies mag François und beziehen können, zeichnet sich die Suche nach
Schulze ebenso wie Nora und weitere Herausge- europäischen Erinnerungsorten durch die
berinnen und Herausgeber dazu bewogen haben, Schwierigkeit aus, Europa in seinen Grenzen zu
die Verbindlichkeit ihrer Sammlung zu margina- bestimmen. Lediglich mit der Europäischen
lisieren: Geben sie daher vor, dass jeder Einzelne Union läge ein spezifisches und geographisch
seine Auswahl aus dem Angebot an Erinnerungs- eindeutig – obgleich noch nicht abschließend –
orten selbst treffen könne? definiertes Objekt vor. Entgegen der wachsenden
Österreichische Erinnerungsorte: Vor dem Hin- politischen Zusammenarbeit auf europäischer
tergrund dieser auf viele Publikationen zu natio- Ebene, erfolgt das kollektive Erinnern jedoch im-
9. Erinnerungsorte 187

mer noch weitgehend in nationalhistorischen cherweise nur durch ein neuartiges Konzept der
Rahmen, die sich überdies – insbesondere nach Erinnerungsorte begegnet werden kann.
der Erweiterung um die ost- und mitteleuropäi- Lokale Erinnerungsorte: Angesichts der Schwä-
schen Staaten – erheblich voneinander unter- chen der nationalen Adaptionen und der bisheri-
scheiden. Wie sich Konflikte um verschiedene gen Erfolglosigkeit, europäische Erinnerungsorte
Vergangenheitsdeutungen im europäischen Kon- zu identifizieren, scheint sich die Umsetzung des
text potenzieren, zeigt unter anderem das Bei- Ansatzes von Pierre Nora auf der lokalen Ebene
spiel des 8./9. Mai 1945. Symbolisiert das Datum anzubieten: Der Faktor ›räumliche Nähe‹ ermög-
in Westeuropa überwiegend das Ende von NS- licht Bürgerinnen und Bürgern eine im Vergleich
Regime und Faschismus, so steht es in Mittel- zu Nation und Europa häufigere und intensivere
und Osteuropa für eine neuerliche Okkupation Erfahrbarkeit von Erinnerungsorten. Einerseits
durch die Sowjetunion. Im offiziellen Russland erhöht dies die Wahrscheinlichkeit für ihre Ver-
wiederum sind mit dem 9. Mai uneingeschränkt ankerung im kommunikativen Gedächtnis, doch
positive Heldennarrative verknüpft. Auch der andererseits befinden sich auch örtliche, städti-
Holocaust wird einerseits spezifisch in den Nati- sche und regionale Erinnerungsgemeinschaften
onalstaaten interpretiert und aufgearbeitet, an- durch geographische Mobilität und Arbeitsmi-
derseits aber universell und transnational erin- gration in einem Zustand permanenter Fragilität.
nert – so dass auch dieser kaum als genuin euro-
päischer Erinnerungsort dienen kann (vgl. dazu
Erinnerungsorte als Medien des
auch kritisch Kap. II.6).
Gedächtnisses?
Allein das Spektrum diskrepanter Vergangen-
heitsbezüge, die der Zweite Weltkrieg eröffnet, Wenngleich die ›Erinnerungsorte‹ als wissen-
deutet die Schwierigkeiten bei der Bestimmung schaftliches Konzept aufgrund der skizzierten
kollektiv geteilter Erinnerungsorte für Europa an. Mängel nur eingeschränkt überzeugen können,
In eine vergleichbare Sackgasse münden auch sind sie sowohl an Universitäten und Forschungs-
Versuche, europäische Erinnerungsorte durch instituten als auch von einem breiten Publikum
den Rückgriff auf weitere historische Ereignisse rezipiert worden. Ihre Popularität illustrieren ne-
und Epochen zu identifizieren; Antike, Christen- ben 100.000 verkauften Exemplaren von Noras
tum oder Aufklärung stellen beispielsweise für Les lieux de mémoire auch Projekte aus Politik
manche europäische Gesellschaften keinen kon- und Zivilgesellschaft. Beispiele in Deutschland
stitutiven Erfahrungsraum dar. In solchen Be- sind dafür u. a. die 2007 vom Integrationsbeauf-
trachtungsweisen werden vielmehr Streitfragen tragten der nordrhein-westfälischen Landesre-
berührt, die in der seit Jahren andauernden De- gierung initiierte Webseite Route der Migration
batte um eine kulturelle Identität Europas sowie Nordrhein-Westfalen, worin Erinnerungsorte an
die Bestimmung eines Kerns europäischer Werte Ein- und Auswanderung erfasst werden, oder die
und Geschichte (u. a. im Zusammenhang mit der im gleichen Jahr aus einem Symposium der Saar-
Erweiterung der Europäischen Union) eine Rolle ländischen Gesellschaft für Kulturpolitik hervor-
spielen. Folglich kann sich die Suche nach euro- gegangene Textsammlung Erinnerungsorte – An-
päischen Erinnerungsorten weder in einer Anei- kerpunkte saarländischer Identität.
nanderreihung der europäischen Nationalge- An dieser Erfolgsgeschichte wird ein gesell-
schichten erschöpfen noch in der Abbildung ei- schaftlich bedeutsames Phänomen deutlich: Der
ner universalen Weltgeschichte ausdrücken. Versuch, Gemeinschaftsgefühle und kollektive
Überdies ist ungewiss, ob Konzepte zum nationa- Identität qua Erinnerung an eine gemeinsame
len Gedächtnis überhaupt auf die europäische Vergangenheit zu stiften. Obgleich Erinnerungs-
Ebene übertragen werden können, da es sich bei orte, wie Nora sie definiert hat, niemals vollstän-
Europa beziehungsweise der Europäischen Union dig das Gedächtnis eines Kollektivs repräsentie-
um ein Gebilde sui generis handelt, dem mögli- ren können, stehen sie stellvertretend für das Be-
188 III. Medien des Erinnerns

dürfnis von Gemeinschaften, sich durch die Literatur


Vergegenwärtigung historischer Ereignisse ihrer Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.): Me-
selbst zu vergewissern. Dementsprechend be- moria Austriae. 3 Bde. Wien 2004–2005.
schreiben Pierre Noras Les lieux de mémoire we- Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskul-
der eine bis dato unbekannte Erscheinung noch turen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005.
handelt es sich bei ihnen um eine neue Technik François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erin-
nerungsorte. 3 Bde. München 2001.
des Erinnerns. ›Erinnerungsorte‹ sind eher als
Große-Kracht, Klaus: Gedächtnis und Geschichte:
alternative Begrifflichkeit zur Benennung von Maurice Halbwachs – Pierre Nora. In: Geschichte in
verschiedenen, in der kulturwissenschaftlichen Wissenschaft und Unterricht 47. Jg., 1 (1996), 21–31.
Gedächtnisforschung diskutierten Medien des Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris
Gedächtnisses wie etwa Archive, Literatur, Denk- 1984–1992.
male Museen oder Rituale zu verstehen (s. Kap. –: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990.
–: Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005.
III.6, 10, 8, 7 und 3) – von letzteren heben sie sich
Robbe, Tilmann: Historische Forschung und Geschichts-
vor allem durch die ihnen zugeschriebene Rele- vermittlung: Erinnerungsorte in der deutschsprachi-
vanz für die Identität eines Kollektivs ab. gen Geschichtswissenschaft. Göttingen 2009.
Jens Kroh/Anne-Katrin Lang
189

10. Literatur Epos erinnerten. Dies korrespondiert mit den in


den späteren Rhetoriken ausformulierten Regeln
Man könnte denken, dass das menschliche Erin- zum Auswendiglernen einer Rede. So wird u. a.
nern an und für sich immer gleich bleibt und in Ad Herennium vorgeschlagen, die Inhalte einer
höchstens durch historisch wandelbare Techni- Rede in Bilder (imagines) zu übersetzen, diese an
ken und Medien äußerlich modifiziert werde. besonderen Stellen (loci) eines imaginierten Rau-
Dass man eine solche ›strukturelle‹ Stabilität des mes zu platzieren und beim Vortrag der Rede in
Erinnerns nicht voraussetzen kann, wird deutlich der Vorstellung durch diesen Raum zu gehen und
bei der Betrachtung der Rolle, die dem Erinnern sich von den ›aufgelesenen‹ Bildern an den Fort-
bzw. dem Gedächtnis in verschiedenen Epochen gang der Rede erinnern zu lassen (s. Kap. III.2).
der abendländischen Literatur zugeschrieben Im Boom der Gedächtnisforschung des ausge-
worden ist. henden 20. Jahrhunderts war es vor allem dieses
Modell, mittels dessen die ›Gedächtnishaftigkeit‹
der Literatur erklärt wurde – angeleitet von Fran-
Mnemosyne – Mnemotechnik – Anamnesis
ces Yates’ grundlegendem Buch Gedächtnis und
– Mimesis
Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shake-
Schon in ihrer Frühzeit stand die abendländische speare.
Literatur – zumindest die erzählende – ganz im Während der frühe Platon die Wahrheitsfähig-
Zeichen des Gedächtnisses, wenngleich damals keit der epischen (als göttlicher) Rede noch un-
eines göttlichen. Dies zeigt sich besonders deut- terstrich, erklärte er später solches Sich-Gesagt-
lich, wenn der Erzähler im 2. Gesang von Homers Sein-Lassen der Wahrheit durch die Götter für
Ilias noch einmal wie zu Beginn die Muse(n) an- inadäquat und setzte an eben diese Stelle die Phi-
ruft und seine eigene Unfähigkeit zur Schilde- losophie (als rein menschliche Liebe zur Weis-
rung des Geschehens beteuert. Die Musen aber, heit). Gleichwohl bleibt ihm alles Erkennen ein
Töchter von Zeus und Mnemosyne, der Göttin Erinnern, denn er setzt in seiner Ideenlehre vor-
der Erinnerung, seien zugegen bei allem und aus, dass die Seele in einem vorgeburtlichen Flug
wüssten alles; nur wenn sie es ihm ins Gedächtnis in göttlichen Gefilden die Ideen als ›Inbegriffe‹
riefen, könne er von den unüberschaubaren Er- des zu Erkennenden gesehen habe, zugleich aber,
eignissen vor Troja berichten. Die dahinter ste- dass sie diese bei ihrer ›Einkerkerung‹ in den
hende Vorstellung, wie sie etwa der frühe Platon Körper vergesse. Doch vermag sie sich später an-
im Dichter-Dialog Ion ausformuliert, ist, dass der lässlich ihrer hiesigen Abbilder daran zu erinnern
Rhapsode gar keinen eigenen Anteil am Vorge- (anamnesis) (s. Kap. IV.2). Dies rückt allerdings
tragenen hat, sondern für dessen Dauer von den die Dichter, genauer: alle Künstler, in ein denkbar
Musen besessen wird. So gelangt qua (epischer) schlechtes Licht; ihre Darstellungen können ja
Dichtung göttliches Wissen zu den Menschen. nur ›Bilder‹ der materiellen Gegenstände sein,
Das antike Epos stand aber noch in einem an- die ihrerseits bloße Abbilder der Ideen vorstellen.
deren, eher ›handwerklichen‹ Zusammenhang Eine solche Abbildlichkeit zweiter Ordnung aber
mit dem Gedächtnis. Seine besondere Struktur kann zur Erkenntnis nichts beitragen, weshalb
(Hexameter, das stete Wiederholen von formel- der späte Platon alle Künstler aus seinem Staat
haften Umschreibungen sowie das je sich ent- verbannen will.
sprechende Erzählen von Standardsituationen Sein Schüler Aristoteles wird demgegenüber
wie Ankunft, Abreise, Zweikampf etc.) diente eine Ehrenrettung der Dichtung betreiben. Zu
nach Erkenntnissen der oral poetry-Forschung Beginn seiner Poetik schreibt er aller Dichtung
der Entlastung der Gedächtnisfähigkeiten der zu, Mimesis und zwar Nachahmung von Hand-
Rhapsoden, die ja ungeheuer große Textmengen lungen zu sein. Und da der Mensch ein durch
so vortragen mussten, dass die Zuhörer keine und durch nachahmendes Wesen sei, liege ihm
Differenz zu früheren Vorträgen des gleichen die Dichtung in besonderer Weise nahe. Aller-
190 III. Medien des Erinnerns

dings ist das noch nicht der entscheidende Grund belehrenden Rede). Kommunikativ gelange man
der von Aristoteles (wenngleich zu rein mensch- höchstens im Gespräch zur Wahrheit, weil nur
lichen Bedingungen) reetablierten Erkenntnis- dieses zu den im Inneren verwahrten Ideen zu
kraft der Dichtung. Vielmehr: Anders als die Ge- führen vermöge. Auch damit verlor die Dichtung
schichtsschreibung, die ja nur berichte, was tat- (und in besonderer Weise die schriftlich aufge-
sächlich stattgefunden habe, bringe die Dichtung zeichnete) ihre ursprüngliche Erkenntniskraft
mögliche Welten hervor (die gleichwohl auf die qua Erinnerung. Gleichwohl lässt sich – anders
Wirklichkeit bezogen sind, denn schließlich bil- als es Jacques Derridas Diagnose eines umfassen-
det die Wirklichkeit das Kriterium zur Bestim- den Phonozentrismus nahe legt – keine durch-
mung der [Un-]Möglichkeit eines Geschehens). gängige Hochschätzung der Mündlichkeit und
In der Lockerung des Wirklichkeitsbezugs aber Abwertung der Schriftlichkeit im abendländi-
wird die Dichtung für Aristoteles ›allgemeiner‹ schen Denken voraussetzen. Schon Seneca setzt
und ›philosophischer‹ als die Geschichtsschrei- in seiner Trostschrift für Polybius gegen die verfal-
bung, insofern sie, statt pure Faktographie zu be- lenden steinernen Denkmale solche des Geistes,
treiben, das Wesentliche in Erinnerung zu rufen etwa der Dichtung, die die anderen überdauern
vermag. Für die Fortführung dieser Traditionsli- würden. Francis Bacon führt in The Adavance-
nie ist Horaz’ Diktum, dass die Literatur wie ein ment of Learning in diesem Sinne gerade die Verse
Gemälde sein soll (»ut pictura poiesis«), von be- Homers als Beispiel an – diese hätten schließlich
sonderer Bedeutung, wobei auffallend ist, dass an überlebt, während ganze Städte untergegangen
der entsprechenden Stelle seiner Ars poetica ei- seien.
gentlich von ganz Anderem als von einer angera-
tenen ›Bildlichkeit‹ der Dichtung die Rede ist.
Allegorese und vierfacher Schriftsinn
Wenn die Formel jedoch in der ganzen Ge-
schichte des Abendlandes als eben solche An- Dennoch lässt sich Platons Schriftkritik (dass
weisung tradiert wurde, dann liegt der Grund diese sich selbst eben nicht zu erklären vermöge,
wohl darin, dass die Dichtung auf eine an der vielmehr auf Nachfrage immer nur das Gleiche
Wirklichkeit orientierte Nachahmung verpflich- ›sage‹ und man, um ihre Aussage zu verstehen,
tet werden sollte, wie sie die Malerei auf der den Verfasser befragen müsse) an der Rezeption
Grundlage ihrer motivierten Zeichen notwendig der homerischen Epen ›verifizieren‹. Schon ge-
betrieb. Die weit größeren Möglichkeiten, die der gen Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts
Dichtung als Sprach-Kunst in der Verwendung kam den Griechen das darin geschilderte Verhal-
arbiträrer Zeichen grundsätzlich zur Verfügung ten der Götter nämlich moralisch höchst anstö-
stehen (und wie sie etwa die avantgardistische Li- ßig vor. Dem Dilemma zwischen solchem Unver-
teratur des frühen 20. Jahrhunderts auch in jeder ständnis und der Rettung der homerischen Epen
Hinsicht ausreizen wird), sollten minimiert wer- als Grundbestand der griechischen Kultur begeg-
den. Horaz fasst dies u. a. in die Lehre vom deco- nete Theagenes von Rhegion mit einer allegori-
rum (dem ›Angemessenen‹). Poetische Erfindun- schen Leseanweisung: Immer wenn von den Göt-
gen, die die Realitätsprüfung der Vernunft nicht tern die Rede sei, seien eigentlich Naturphäno-
bestehen, werden als willkürliche und unsinnige mene gemeint (deren Handeln moralisch ja nicht
Phantasien aus dem Reich wahrer Dichtkunst anstößig sein kann). Solche ›Umkodierung‹ des
ausgeschieden. Es gilt, dichtend eben und gerade bei einem Wort oder einer Handlungssequenz in
die Ordnung der menschlichen Welt in Erinne- der Rezeption zu Erinnernden wird dann im
rung zu rufen. Mittelalter weiter ausgebaut – zu einem gleich
Das Postulat einer nur als ›Er-Innerung‹ mög- vierfachen Schriftsinn. Augustinus etwa erläutert
lichen Erkenntnis wendet Platon im Phaidros die Bedeutung einer Erwähnung Jerusalems in
auch in eine Kritik an der Schrift, genauer aber der Heiligen Schrift. Zunächst sei Jerusalem da-
an allem bloß ›Auswendigen‹ (also auch der nur bei historisch zu nehmen: Der Name meint dann
10. Literatur 191

eine Stadt im Heiligen Land (sensus historicus); sevino, dessen Bibliotheca selecta, wie es der
der sensus allegoricus versteht dagegen Jerusalem Name verspricht, aus der schieren Unendlichkeit
heilsgeschichtlich als Vor-Bild der Gesamtheit der Bücher jene auswählt, die einem katholischen
der Kirche. Nach dem sensus moralis verweist Je- Christen ›frommen‹. Jan Assmann verallgemei-
rusalem auf die Seele des Christen und nach dem nert: »Ein Kanon antwortet auf die Frage: ›Wo-
sensus propheticus oder anagogicus auf das himm- nach sollen wir uns richten?‹ Diese Frage wird
lische Jerusalem. Hier wird offensichtlich das an- immer dann dringend, wenn die Antwort nicht
gesichts der Heiligen Schrift zu Erinnernde streng mehr situativ vorgegeben ist und fallweise gefun-
reglementiert, was auch deshalb möglich ist, weil den werden kann, d. h. wenn die Wirklichkeit die
deren Auslegung das Privileg von Experten in der traditionellen und selbstverständlichen
(Mönche, Priester etc.) war. Insofern niemand Realitätskonstruktionen angelegte Typik der Si-
sonst sich im Besitz einer Bibel befand, wurde de- tuationen übersteigt und die überkommenen
ren Sinn rein mündlich kommuniziert (etwa in ›Maßstäbe‹ nicht mehr greifen« (Assmann 2007,
Predigten, die den Kirchgängern nicht nur Bibel- 123). Anders gesagt: Ein Kanon listet auf, was er-
stellen erst zur Kenntnis brachten, sondern diese innernswert ist.
eben gleich auch auslegten und somit keinen Zurück aber zum unter den Bedingungen des
Raum für ein individuelles Verständnis ließen). Buchdrucks ›freigestellten‹ Verstehen literari-
Dies änderte sich allerdings durch den Buch- scher Texte, das sich im Barock gleichwohl noch
druck. Potentiell konnte sich jetzt jeder in den kaum problematisiert findet. Das hat auch damit
Besitz einer eigenen Bibel bringen – und zu ganz zu tun, dass sich die Barockliteratur ganz im Ho-
eigenen Bedingungen lesen. Solche Lektüre aber rizont der Rhetorik (sowie der höfischen Kon-
kennt keine festen Erinnerungsregeln mehr – je- ventionen) abspielte. Ein Gedicht wie Georg Ro-
der Leser kann die Worte nun nach seinem Da- dolf Weckherlins »Ueber den frühen tod Fräulein
fürhalten verstehen. Für Luther war damit jedoch Anna Augusta Marggräfin zu Baden« ist alles an-
noch kein Verständnisproblem verbunden; als dere als ›Betroffenheitslyrik‹, vielmehr bietet das
Wort Gottes legte sich die Bibel den Lesenden Motiv des frühen Todes nur Anlass zu 26 meist
seinen Vorstellungen nach von allein aus, d. h. sie aus der Natur genommenen, höchst kunstvoll
ließ sich immer nur richtig im Sinn der von Gott ausgeführten Vergleichen; in der Schlussstrophe
intendierten Weltordnung verstehen. Dies gilt je- werden dann alle 26 Bilder auf ein Wort gebracht
doch offensichtlich nicht für die weltliche Litera- und so angeordnet, dass sie sich der Metrik des
tur. Gedichtes fügen. Auch dies lässt sich als ›gedächt-
nishaft‹ (nämlich als Erfüllung respektive Über-
bietung einer rhetorischen Tradition) beschrei-
Kanonisierung und Rhetorik
ben, wie auch an einem anderen Beispiel deutlich
Die weltliche Literatur steht zusätzlich vor einem wird, wenn etwa Daniel Casper von Lohenstein
weiteren, durch den Buchdruck hervorgerufenen seinem Trauerspiel Agrippina eine Unzahl von
Problem: dem steten Zuwachs an Büchern, deren Fußnoten anfügt, in denen er minutiös daran er-
Zahl bald unüberschaubar wurde. Die Verände- innert, wo er welches Versatzstück (immer wie-
rungen lassen sich anhand zweier Buchprojekte der verweist er etwa auf die Annalen des Tacitus
resümieren. 1545 erschien in Zürich die Biblio- oder auf Sueton, wo er das von ihm erneut Dar-
theca universalis des Zürcher Polyhistors Konrad gestellte beschrieben gefunden habe), oder gar,
Gesner; sie stellte den ersten Versuch dar, ein Ge- wo er welche übernommene Formulierung sei-
samtverzeichnis aller Schriften anzulegen – und nes Dramas gefunden hat (der Apparat zur histo-
das einzige Ordnungsprinzip dieses Gesamt- risch-kritischen Ausgabe von Lohensteins Dra-
verzeichnisses war deren alphabetische Aufrei- men Agrippina und Epicharis zählt insgesamt
hung nach dem ersten Namen des Verfassers. Ein Verweise auf rund 300 Autoren). Die Selbstver-
Gegenprojekt stammt vom Jesuiten Antonio Pos- ständlichkeit solcher Quellenangabe ist damit zu
192 III. Medien des Erinnerns

begründen, dass die Barockautoren keinesfalls vollkommenen Kenntnis der Sprache bzw. einer
originell sein wollten, sondern die Qualität ihrer vollständigen Kenntnis des Menschen. Da beides
Texte daran maßen, inwiefern ihnen darin etwa niemals gegeben ist, »muß man von einem zum
eine Versammlung der rhetorisch glänzendsten anderen übergehen, und wie dies geschehen soll,
Stellen der bisherigen Literatur gelang. Barock- darüber lassen sich keine Regeln geben« (ebd.,
Literatur war immer auch ausgestellte Erinne- 81). Thomas Wirtz hat daher Schleiermachers
rung an die bisherige Dichtung. Hermeneutik zu Recht einen »›spektakulären
Fall‹ von Dekonstruktion« genannt: »Die unver-
zichtbare Zusammenarbeit von Gedächtnis und
Individuelles Erinnern – Hermeneutik –
Verstehen ist zugleich eine ihres gegenseitigen
Dekonstruktion
Widerrufs« (Wirtz 2001, 75).
Originalität wird erst in der Aufklärung, somit Hermeneutik wie Dekonstruktion lassen sich
im ›Ausgang aus der selbstverschuldeten Un- so als Formen des Erinnerns beschreiben (vgl.
mündigkeit‹ auch einer bloßen Regelpoetik, zum etwa Derridas Diktum: »Deconstruction is a way
Ideal, das der Geniekult der Stürmer und Drän- of remembering what our culture is made of, a
ger ins Einzigartige übersteigert. Damit aber sind way of re-analysing, for instance, what philoso-
wir endgültig an einem Punkt, an dem die Lese- phy is«, in: The Times, 13. Juni 1992). Während
rin den Sinn des Geschriebenen einzig und allein allerdings etwa die Hermeneutik Diltheys wie die
vor dem Hintergrund ihrer individuellen Erfah- Gadamers zuletzt auf Einheit und Ganzheit zie-
rungen (und somit Erinnerungen) zu entschlüs- len, rufen Schleiermacher und Derrida die Un-
seln vermag. Es verwundert kaum, dass dies die endlichkeit als ›Abgrund‹ jeden Gedächtnisakts
Neuauflage der Hermeneutik als Auslegungs- in Erinnerung. Allgemein gesprochen: Jede Erin-
kunst bewirkte, wie sie sich in Deutschland etwa nerung behauptet von sich, die bloße Wiederho-
mit den Schriften Friedrich Schleiermachers eta- lung eines Geschehens zu sein. Tatsächlich ist sie
blierte. Wilhelm Dilthey wird solche Hermeneu- aber erstens nur deren Abbild und zweitens not-
tik später in sein Modell der Literatur als Erleb- wendig die Verendlichung eines schier unendli-
nisdichtung integrieren. Der Autor überhöht chen Kontextes des erinnerten Ereignisses. Nicht
danach in seinen Texten erinnernd seine Erfah- nur in dieser Hinsicht, sondern auch im Versuch,
rungen; der Leser vermag die Bedeutung des so das (nicht bloß dichterische) Erinnern zu ›fas-
zur Wesentlichkeit stilisierten Erinnerns auf- sen‹, zeigen sich Erinnerung und Gedächtnis als
grund seiner eigenen Erinnerungen respektive ›unendliches Thema‹ (dies allerdings eine Formel
›als Mensch‹ zu dekodieren. Gadamers): Jede Rede über das Gedächtnis ist ih-
So einfach aber war die Hermeneutik Schleier- rerseits unhintergehbar gedächtnishaft, womit
machers nicht angelegt. Bei diesem findet sich das Gedächtnis nur auf sich selbst angewandt
vielmehr die dezidierte Aussage, es gelte, den Au- wird, was zwangsläufig zu einem regressus ad infi-
tor besser zu verstehen als dieser sich selbst. nitum führt. Wie das zu Erinnernde (das nur
Schleiermacher hat dabei zunächst jede sprachli- durch seine vereindeutigten ›Abbilder‹ ersetzt
che Äußerung auf die Gesamtheit der Sprache werden kann), ist auch das Erinnern ›an sich‹
bezogen (dem sollte eine grammatische Ausle- nicht zu fassen.
gung des Textes gerecht werden), zugleich aber
auch auf das Denken ihres Urhebers (darauf ist
Intertextualität – Neue Medien
die psychologische Auslegung gerichtet). Den
Vollzug dieser Auslegungen aber beschreibt In diese Unfassbarkeit allen Erinnerns ist die
Schleiermacher als »Konstruktion eines endli- Dichtung aber in besonderer Weise involviert.
chen Bestimmten aus dem unendlichen Unbe- Dies zeigt sich in eklatanter Deutlichkeit nach
stimmten« (Schleiermacher 1993, 80). Vollenden dem sogenannten ›Tod des Autors‹. Allenfalls als
ließen sich beide Auslegungen also nur bei einer ›scripteur‹, der aus einer Fülle von schon existen-
10. Literatur 193

ten Texten Schreibweisen übernimmt und ver- sagte in seiner Individualität zu verdoppeln, son-
mischt, spielt der Autor bei Roland Barthes noch dern eben das Verhältnis »zwischen der verber-
eine Rolle. Bei Julia Kristeva heißt es: »Jeder Text genden Geste des individuellen Textes und der
baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist zirkulierenden memoria, aus der seine Zeichen
Absorption und Transformation eines anderen stammen und auf die sie zurücklenken« (Graeve-
Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjek- nitz 1994, 137), zu rekonstruieren.
tivität tritt der Begriff der Intertextualität, und Medial kann dies aber heute durchaus auf un-
die poetische Sprache lässt sich zumindest als terschiedlichen Wegen geschehen. Stimmt die
eine doppelte lesen« (Kristeva 1972, 348). Renate Diagnose vom »Ende der Gutenberg-Galaxis«
Lachmann hat darauf hingewiesen, dass sich, (Bolz im Rückbezug auf McLuhan), dann wird
wenn auf diese Weise »die Sinnherstellung nicht das Buch als entscheidendes Medium der Litera-
durch den Zeichenvorrat des gegebenen Textes tur bald ausgedient haben. Schon steigen etwa die
programmiert ist, sondern auf den eines anderen Absatzzahlen von Hörbüchern sprunghaft an. Es
verweist« (Lachmann 1990, 59), eine »semanti- wäre dabei der Untersuchung wert, wie sich das
sche Explosion« (ebd., 58) ereignet; kein (eindeu- Erinnerungsgeschehen der Rezeption im Hori-
tiger) Sinn mehr, nirgends. Dagegen beharrt etwa zont einer sekundären Oralität verändert. Doch
Karlheinz Stierle darauf, nur von Intertextualität schon das Supermedium des Computers bringt –
zu sprechen, wenn eine eindeutig diagnostizier- auf der Grundlage der stets gleichen 0–1-Codie-
bare und von daher in ihrer Funktion (nähe- rung – Schrift, Bild und Gesprochenes in einen
rungsweise) beschreibbare Erinnerungsspur als engeren Zusammenhang denn je. Die techni-
Verweis auf andere Texte vorliegt. Renate Lach- schen Bedingungen der Möglichkeit stärken so
mann versucht ihrerseits, beide Dimensionen in vor allem eine dichterische »Geschichte des Au-
der Balance zu halten, wenn sie u. a. formuliert: genblicks«, wie Rainald Goetz die Intention sei-
»Der Raum zwischen den Texten und der Raum nes zunächst in täglichen Portionen im Internet,
in den Texten, der aus der Erfahrung desjenigen später als dickleibiger »Roman« veröffentlichten
zwischen den Texten entsteht, ergibt jene Span- Textes Abfall für alle beschreibt. Im Klappentext
nung zwischen extratextuell-intertextuell, die der heißt es: »Ein Tagebuch also, so erzählt Abfall für
Leser ›auszuhalten‹ hat. Der Gedächtnisraum ist alle vom Leben eines Schreiber-Ichs in Berlin. Er
auf dieselbe Weise in den Text eingeschrieben, sitzt an dieser Arbeit, schreibt und probiert zu
wie sich dieser in den Gedächtnisraum ein- schreiben, er geht einkaufen, schaut Fernsehen
schreibt. Das Gedächtnis des Textes ist seine In- und liest die Zeitungen. Er geht ins Kino, ins The-
tertextualität« (ebd., 35). ater, schaut Ausstellungen an. Und er verreist und
Diesen Befund hat Gerhart von Graevenitz un- trifft Freunde, fast schon fiktiv, und redet ganz
ter medialen und dezidiert ›memorialen‹ Vorzei- echt mit allen Mitbewohnern und Sprechern im
chen dahingehend ausbuchstabiert, dass im »Zir- Raum des Medialen.« Unter den neuen medialen
kulieren der kulturellen Zeichen« das Schreiben Bedingungen werden die aristotelischen Zu-
zu einer Spiegelung des Lesens wird. »Der Dich- schreibungen vorsätzlich durcheinandergebracht:
ter liest die Bilder und Buchstaben der allgemei- Die realen Reisen sind fast schon fiktiv und das
nen memoria. In seinem privaten Schreiben hält virtuelle Chatten erscheint als »ganz echt[es]«
er diese Zirkulation an, um seinen individuellen Reden. Damit lösen sich aber nicht nur jahr-
Text entstehen zu lassen. Über seine Leser aber tausendealte Grenzziehungen (etwa zwischen
wird der individuelle Text zurückfinden in den Möglichkeits- und Wirklichkeitsschreibung) auf,
Kreislauf der memoria«. Ein verstehendes Lesen sondern auch der Vergangenheitsbezug allen Er-
übersetzt somit den individuellen Text des Dich- zählens. Vom raunenden »Beschwörer des Im-
ters zurück in die Sinnbeziehungen der allgemei- perfekts« (Thomas Mann) wird der Erzähler zum
nen memoria, aus denen sie entstanden sind. Stenographen seiner gegenwärtigen Erfahrun-
Deuten heißt dann nicht, das im Text schon Ge- gen. Goetz’ Interesse gilt der Formulierbarkeit
194 III. Medien des Erinnerns

eines JETZT, das aber – dahinter gibt es auch mit wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufste-
dem Computer kein Zurück – nur als erinnertes hen; nur so viel kann ich versichern, daß ich sie
erzählt werden kann. seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren
Anlaß in mir aufs neue belebt wurden, niemals
aus dem Gedächtnis verloren habe.« Die letzte
Erinnern als Thema der Literatur
Formulierung behauptet, dass ihm alles immerzu
Auf den offensichtlichsten Zusammenhang von präsent sein muss. Denn ein Erinnern von etwas
Literatur und Gedächtnis wurde im Vorstehen- ohne Anlass hat dessen jederzeitige Zur- und
den kaum eingegangen: der Darstellung von Er- Vorhandenheit zur Voraussetzung – von der sich
innern in der Dichtung. Denn diese Thematisie- wiederum kein Ereignis ausnehmen lassen wird.
rungen sind unendlich und können nicht verein- Der Erzähler behauptet somit ein Gedächtnis zu
heitlichend erinnert werden. Allerdings finden haben, wie es später Jorge Luis Borges seinem
sich besonders prägnante Beispiele. Ein solches »Funes el memorioso« zuschreibt. Doch während
ist Theodor Storms Der Schimmelreiter – be- Borges’ Erzählung zuletzt gerade die Unmöglich-
kanntlich ein realistischer Text, wenngleich zu ei- keit eines solch unerbittlichen Gedächtnisses auf-
nem wenig realistischen Thema, einem Gespenst weist, lässt es der Realist Storm als Behauptung
(seinerseits als Wiedergänger eine veritable Ge- stehen.
dächtnismetapher). Die Programmatik des Rea- Dass dies möglich ist, hat mit der Erinnerungs-
lismus lässt sich dem Anspruch allen Erinnerns haftigkeit aller Literatur zu tun, dem, um mit Re-
parallelisieren: das Selbe (Wirkliche, Vorhan- nate Lachmann zu reden, »Gedächtnis des Textes«
dene) noch einmal. Im Verzicht auf eine 1 : 1-Wie- (genitivus subiectivus und obiectivus). Literatur er-
dergabe auch des Schmutzigen, Ekelhaften, kurz innert nicht nur je etwas (was sich mit dem alten
Negativen, um mit Fontane zu reden: in der be- Anspruch der Mimesis verbinden lässt), sondern
absichtigten ›Verklärung‹, lässt sich dabei ein Re- versucht dabei auch, an die Abgründe allen Erin-
flex auch der notwendigen Vereindeutigungen nerns zu erinnern. Weil Literatur Erinnern in actu
allen Erinnerns erkennen. Storm aber beginnt wie Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit
seinen Schimmelreiter mit einer vorderhand des Erinnerns ist, ist sie auch die angemessenste
durch und durch unrealistischen Erinnerung. Ein Gedächtnistheorie. Wenn man in der Thematisie-
›Ich‹ meldet sich zu Wort und gibt an, dass ihm rung von Gedächtnis nur gedächtnishaft sprechen
das, was es »zu berichten beabsichtige« vor »ei- kann, dann ist jede Theorie als ›Rede über‹ (auch
nem halben Jahrhundert im Hause [s]einer Ur- jede philosophische) unangemessen, zumindest
großmutter […] kundgeworden« sei, als er es in unterkomplex; angemessen, wenngleich nie ein-
einer der damals höchst erfolgreichen Familien- deutig, ist einzig eine Rede, die mit ausstellt, dass
zeitschriften gelesen habe. Anlässlich der Erinne- das, wovon sie redet, weil sie es zugleich betreiben
rung an die über seinen Kopf streichende Hand muss, unfassbar bleibt. Die besondere Leistung
der Urgroßmutter wird der Gegenwartsindex der der Literatur ist daher, dem unfassbaren Gedächt-
Erinnerungen beschworen: »Noch fühl ich es nis eine Fassung zu geben, die immer präsent hält,
gleich einem Schauer« – ein Schauer, der sich in dass es diese nicht geben kann.
jenem Gefühl widerspiegelt, das den zweiten Er-
zähler (wenngleich dieser mit der Stimme des
Literatur
ersten spricht: »so begann der damalige Erzäh-
ler«) beim Vorüberreiten des gespenstischen Assmann, Aleida/Weinberg, Manfred/Windisch, Mar-
Schimmelreiters befällt. Dann aber heißt es: »Sie tin (Hg.): Medien des Gedächtnisses. Sonderheft der
Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissen-
selbst und jene Zeit sind längst begraben; verge- schaft und Geistesgeschichte. Stuttgart/Weimar 1998.
bens auch habe ich seitdem jenen Blättern nach- Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erin-
geforscht, und ich kann daher um so weniger we- nerung und politische Identität in frühen Hochkultu-
der die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, ren [1992]. München 62007.
10. Literatur 195

Graevenitz, Gerhart von: Das Ornament des Blicks. Weinberg, Manfred: Das »unendliche Thema«. Erinne-
Über die Grundlagen neuzeitlichen Sehens, die Poetik rung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübin-
der Arabeske und Goethes »West-östlichen Divan«. gen 2006.
Stuttgart/Weimar 1994. Wirtz, Thomas: Schleiermacher zum Gedächtnis. Über
Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der geglückte Aporien der romantischen Hermeneutik.
Roman. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnern und Gedächtnis
und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: in der europäischen Romantik. Würzburg 2001, 67–
Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, 2. 96.
Frankfurt a. M. 1972, 345–375. Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik
Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertex- von Aristoteles bis Shakespeare. Weinheim 1990 (engl.
tualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1966).
1990. Manfred Weinberg
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik
und Kritik. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank.
Frankfurt a. M. 1993.
196 III. Medien des Erinnerns

11. Printmedien und Radio Druckverfahren zu erheblich steigenden Verbrei-


tungsmöglichkeiten für aktuelle, periodische
Sowohl die Presse (im Sinne von gedruckten Zei- Druckmedien und zur Etablierung und weiteren
tungen, Zeitschriften, Magazinen usw.) als auch Ausdifferenzierung des modernen Pressesystems
der Hörfunk sind in vielfältiger Weise relevante einschließlich der Etablierung des Berufsbildes
Medien gesellschaftlichen wie individuellen Er- eines professionellen Journalismus. Als ältestes
innerns, deren erinnerungskulturelle Funktionen der modernen Massenmedien sind historische
und Verwendungsweisen in der Ausdifferenzie- Zeitungen – soweit sie archiviert vorhanden sind
rung des modernen Mediensystems einem konti- – eine wichtige Quelle für Erinnerungsprozesse
nuierlichen Wandel unterworfen sind. Wie für in der Gegenwart.
alle Medien gilt auch für Presse und Hörfunk, Während Presseprodukte stets retrospektiv
dass Medienangebote im Kontext von Erinne- und ausschließlich in schriftlicher Form, oft il-
rungsprozessen eine komplexe Doppelrolle zu- lustriert durch Fotografien, Karikaturen, Skizzen
kommt, da sie Ergebnis von Erinnerungsprozes- und zunehmend Grafiken etc., von Ereignissen
sen auf der Produzentenseite sein können und berichten, bietet der Hörfunk als erste elektroni-
zugleich für Mediennutzer einen Erinnerungs- sche Massenmedientechnologie die Möglichkeit,
anlass darstellen können, an den sich ggf. neue gesprochene Sprache und Klänge live oder aufge-
individuelle oder soziale Erinnerungsprozesse zeichnet über weite Distanzen an ein disperses
anschließen. Es ist also zu unterscheiden zwi- Publikum zu verbreiten. Die technische Entwick-
schen der erinnernden Verwendung historischer lung des Hörfunks reicht zurück bis ins ausge-
Medienangebote als ›Quellen‹ und als Erinne- hende 19. Jahrhundert, erste kontinuierlich be-
rungsanlässe – sei es in individuellen, journalisti- triebene Radiosender nahmen in verschiedenen
schen, geschichtswissenschaftlichen, künstleri- Ländern zu Begin der 1920er Jahre den Betrieb
schen oder anderen Kontexten – und der explizit auf. In den 1930er Jahren wurde der Hörfunk in
erinnernden Thematisierung von Vergangenheit Deutschland zu einem der wichtigsten Propagan-
in Medienangeboten der Gegenwart. Letzteres damittel der Nationalsozialisten, mit dem ›Volks-
wird in diesem Artikel behandelt. empfänger‹ als Symbol für die massenhafte Ver-
breitung der neuen Medientechnologie. In der
Nachkriegszeit wurde in Westdeutschland der öf-
Mediengeschichte
fentlich-rechtliche Hörfunk zunächst durch un-
Insbesondere in ihrer Funktion als ›Quellen‹ und terschiedliche Modelle in den Besatzungszonen
Anlässe für Erinnerungsprozesse in der Gegen- etabliert, der Mitte der 1980er Jahre durch pri-
wart kommt sowohl der Presse als auch dem Hör- vate, kommerzielle Sender im sogenannten ›dua-
funk mediengeschichtlich eine besondere Bedeu- len System‹ ergänzt wurde. In der DDR hingegen
tung zu, weil beide in spezifischen Formen auf war der Hörfunk staatlich kontrolliert.
eine neue Art Ereignisse ihrer jeweiligen Gegen- Ebenso wie die Presse kann der Hörfunk eine
wart dokumentieren und archivieren konnten. wichtige und sehr aufschlussreiche historische
Die Geschichte der Presse reicht zurück bis min- Quelle darstellen und vielfältige Erinnerungsan-
destens ins 15. Jahrhundert. Mit der Erfindung lässe für die Gegenwart bereitstellen. Dies reicht
und Verbreitung des Buchdrucks entwickelten von aufgezeichneten politischen Reden über
sich zunächst vor allem Flugblätter und Flug- politische Nachrichten und Berichte bis hin zu
schriften als Vorläufer von späteren periodischen Einblicken in die historische Alltagskultur etwa
Druckmedien (s. Kap. III.1). Im 17. Jahrhundert durch Hörfunkwerbung, Musikbeiträge usw.
entstanden europaweit zahlreiche Zeitungen, ab Auch wenn die Bedeutung des Hörfunks als erin-
Mitte des Jahrhunderts teilweise auch als Tages- nerungskulturelle Quelle mit der zunehmenden
zeitungen. Im 19. Jahrhundert schließlich führ- Verbreitung des Fernsehens seit den 1950er Jah-
ten vor allem technische Innovationen im ren nachlässt, kommt ihm für seine Zeit als elek-
11. Printmedien und Radio 197

tronisches Leitmedium und darüber hinaus eine gebote für künftige Erinnerungsprozesse sind im
wichtige Rolle als Fundus für Erinnerungsanlässe Kontext des Internets und hier insbesondere der
zu. auditiven und visuellen Bereiche weitgehend un-
Die Möglichkeiten, historische Medienange- geklärt, so dass für künftige historische Erinne-
bote für Erinnerungsprozesse in der Gegenwart rungsprozesse unserer Gegenwart mit gravieren-
zu nutzen, sind vor allem durch Probleme der den Leerstellen zu rechnen ist.
Archivierung begrenzt. Sowohl in der Zeitungs-
geschichte als auch beim wesentlich jüngeren
Systematisierung erinnernder
Hörfunk sind keineswegs sämtliche Medienange-
Medienangebote der Gegenwart
bote zuverlässig archiviert, eine Vielzahl der Live-
sendungen des frühen Hörfunks beispielsweise Im Folgenden soll der Fokus von der Funktion
wurde nicht aufgezeichnet. Auch die Dauerhaf- von Presse- und Hörfunkangeboten als Quellen
tigkeit der Trägermaterialien, sei es das Papier bzw. Erinnerungsanlässen auf die erinnernde
der Zeitungen oder die vielfältigen Aufzeich- Thematisierung von Vergangenheit in diesen
nungsmittel für Hörfunkangebote von Schallplat- Medien in der Gegenwart verschoben werden.
ten über Tonbänder bis zu digitalen Speicherme- Hierbei handelt es sich also bereits auf der Produ-
chanismen, ist begrenzt. Um diese Medientech- zentenseite um erinnernde Medienangebote. Da-
nologien als zuverlässige ›Speichermedien‹ für rüber hinaus können alle Formen von Medienan-
künftige Erinnerungen nutzbar zu erhalten ist so- geboten auf der Rezipientenseite als Erinnerungs-
mit eine kontinuierliche Archivpflege notwendig, anlässe genutzt werden, etwa wenn ein Bericht
die in der Vergangenheit nicht immer hinrei- über ein aktuelles Ereignis bei Lesern oder Hö-
chend geleistet worden ist und auch insbesondere rern persönliche oder auch auf sozialer Ebene re-
beim Hörfunk bis heute nicht systematisch und levante Erinnerungen motiviert.
über einzelne Rundfunkanstalten hinaus sicher- Explizit ›erinnernde‹ Medienangebote, die his-
gestellt ist. torische Themen (oft mit einem Bezug zur jewei-
Gegenwärtig ist die Medienentwicklung so- ligen Gegenwart) behandeln, sind in zahlreichen
wohl im Bereich der Presse als auch des Hörfunks unterschiedlichen Formen Bestandteile des An-
durch die Möglichkeiten der Digitalisierung all- gebots von Presse und Hörfunk:
gemein und des Internets insbesondere einem 1. Vor allem im Bereich der Presse gibt es auf
grundlegenden Wandel ausgesetzt. Während die der Ebene von Magazinen und Zeitschriften Pro-
Presse aufbauend auf der physisch-haptischen dukte, die sich ausschließlich oder hauptsächlich
Besonderheit gedruckter Medien zumeist auf dem Themenbereich der ›Geschichte‹ bzw. der
eine grundsätzliche Abgrenzung vom Internet ›Vergangenheit‹ widmen.
setzt und Online-Angebote in der Regel dem 2. Darüber hinaus können einzelne Medien-
Hauptmedium untergeordnet bleiben, ist beim schwerpunkte (Ressorts einer Zeitung oder Zeit-
Hörfunk eine deutlichere Tendenz einer Konver- schrift, Sendungen eines Radiosenders usw.) dau-
genz von klassischem Hörfunk und digitalen erhaft der Produktion und Distribution von erin-
Hörfunkangeboten im Internet zu erkennen. Dies nernden Beiträgen gewidmet sein.
ermöglicht eine massive weitere Ausdifferenzie- 3. Schließlich können einzelne Beiträge (ein-
rung und Pluralisierung von Hörfunkangeboten, zelne Artikel, Radiobeiträge usw.) historisch-er-
die sowohl neue Nutzungsformen bestehender innernde Funktionen übernehmen.
Angebote (durch Podcasts etc.) wie auch die Dabei sind zusätzlich verschiedene Anlässe für
Etablierung neuer Angebote (reine Internet-Sen- die Thematisierung historischer Ereignisse, Pro-
der für spezielle Zielgruppen usw.) ermöglicht, zesse oder Personen zu unterscheiden:
darunter auch spezifische Angebote zu histori- 1. Diese können aktuell sein, etwa bei Todes-
schen Themen. Fragen der Archivierung und so- fällen berühmter Personen, bei dem Vergleich
mit der Bereitstellung gegenwärtiger Medienan- gegenwärtiger außergewöhnlicher Ereignisse mit
198 III. Medien des Erinnerns

ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit oder So melden im Jahr 2008 das monatlich erschei-
auch wenn neue Quellen, wissenschaftliche Er- nende populärwissenschaftliche Magazin P.M.
kenntnisse o. Ä. die Bewertung eines relevanten History eine Druckauflage von über 140.000 Ex-
historischen Themas verändern und dieses so an emplaren, das zweimonatliche, jeweils Schwer-
Aktualität gewinnt. punktthemen gewidmete Geo Epoche eine ver-
2. Ebenso sind ritualisierte Anlässe wie Jahres- kaufte Auflage von über 185.000 und das anlass-
tage oder Jubiläen regelmäßig Anstoß für aus- bezogen erscheinende Magazin ZEIT Geschichte
führliche historische Berichterstattung in Presse eine Druckauflage von 75.000 Exemplaren. Auf-
und Hörfunk. fallend ist bei sämtlichen dieser Titel, dass sie je-
3. Schließlich sind Presseprodukte und Radio- weils Schwesterprodukte einer etablierten Haupt-
sendungen mit einem wiederkehrenden Schwer- marke darstellen, die im weitesten Sinne für Wis-
punkt für historische Themen auf eine kontinu- sen bzw. hochwertige Informationen steht. In
ierliche Generierung erinnernder Medienange- dieser Tradition stehen auch die jüngst gegrün-
bote ausgerichtet und produzieren historische deten Magazine des SPIEGEL Verlags: Anfang
Beiträge auch ohne aktuelle Bezüge, sofern da- 2009 wurde erstmals »SPIEGEL Geschichte« ver-
rauf gehofft werden kann, dass sie ein hinreichen- öffentlicht, das eine direkte Konkurrenz zu Geo
des Publikumsinteresse erreichen werden. Epoche darstellt (vgl. Tieschky 2009); bereits 2008
Im Folgenden soll ein Überblick über klassi- startete testweise das Magazin einestages, das auf
sche erinnernde Medienformate vor allem im Be- der gleichnamigen Onlineplattforum von SPIE-
reich der deutschen Presse und des deutschen GEL Online aufbaut, und auf zeitgeschichtlichen
Hörfunks der Gegenwart gegeben werden. Beiträgen der Leser basiert. Dabei gibt einestages
ausdrücklich als Ziel an, »ein kollektives Ge-
dächtnis unserer Gesellschaft aufbauen« zu wol-
Erinnernde Medienformate in der Presse
len (einestages, 2008, o.S.).
Erinnernde Medienformate waren wohl von Be- Ein besonderes Format stellt das umstrittene
ginn an Bestandteil der Presse. Eines der wohl Projekt Zeitungszeugen des britischen Verlegers
prominentesten und historisch ältesten Formate Peter McGee dar, das im Herbst 2008 startete und
sind Nachrufe, die an das Leben jüngst Verstor- über 50 Ausgaben Nachdrucke deutscher Presse-
bener erinnern. Sie sind mindestens seit dem spä- erzeugnisse aus den Jahren 1933 bis 1945 veröf-
ten 19. Jahrhundert fester Bestandteil von Tages- fentlichen sollte, die in einem durch Historiker
zeitungen, es finden sich aber auch zahlreiche betreuten Mantelteil kommentiert und eingeord-
wesentlich ältere Vorläufer in Form von gedruck- net werden. Das Projekt wurde zwischenzeitlich
ten Leichenreden, Nekrologen usw. Heute sind juristisch gestoppt und hat eine breite journalisti-
erinnernde Medienformate so vielfältig wie die sche Debatte ausgelöst (vgl. Güntner 2009).
sehr weit ausdifferenzierte Presselandschaft Neben solchen special interest Magazinen sind
selbst. Angesichts der Vielzahl von Printproduk- historische Themen auf der Ebene von festen
ten allein auf dem deutschen Pressemarkt und Ressorts oder regelmäßigen Rubriken Element
dessen großer Dynamik mit zahlreichen Neu- einiger Pressepublikationen. Die Wochenzeitung
gründungen wie auch Einstellungen von Zeitun- DIE ZEIT enthält in jeder Ausgabe ein eigens his-
gen, Zeitschriften und Magazinen, ist eine voll- torischen Themen gewidmeten zusammenhän-
ständige Übersicht dabei nicht möglich. Viel- genden Zeitungsteil (neben z. B. Feuilleton, Dos-
mehr soll das Spektrum der vorhandenen sier usw.) mit dem Titel »Zeitläufte«, der sich je-
Angebote exemplarisch verdeutlicht werden. weils einem geschichtlichen Thema widmet.
Schon auf der Ebene ganzer Presseprodukte Ähnlich umfangreich berichten nur wenige aktu-
findet sich eine Vielzahl an Magazinen und Zeit- elle Presseerzeugnisse auf regelmäßiger Basis au-
schriften, die sich dezidiert historischen Themen ßerhalb von Jahrestagen oder Jubiläen. Diese sind
widmen und eine beachtliche Leserschaft finden: jedoch in vielen Fällen Anlässe für Sonderbeila-
11. Printmedien und Radio 199

gen, Artikelserien o. Ä. Schließlich finden sich und legt in seiner Darstellung neben längeren, er-
nahezu täglich in einer Vielzahl von aktuellen zählenden Texten, die sich um eine detaillierte
Publikationen historische Themen – angefangen Rekonstruktion historischer Ereignisse bemü-
von den erwähnten Nachrufen über Beiträge zur hen, auch Wert auf die hochwertige Visualisie-
geschichtlichen Einordnung aktueller Entwick- rung von Geschichte durch fotografische ›Bild-
lungen bis hin zu Einzelbeiträgen anlässlich von essays‹.
Jahrestagen, denen eine marginale Bedeutung zu-
gemessen wird.
Erinnernde Medienformate im Hörfunk
Eine spezielle Form erinnernder Medienange-
bote stellen Jahresrückblicke dar, die von zahlrei- Anders als im Pressebereich spielen erinnernde
chen Tages-, Wochenzeitungen und Magazinen Themen im Hörfunk eine vergleichsweise gerin-
erstellt und vielfach durch Beilagen oder Sonder- gere Rolle. Während populäre Printprodukte wie
publikationen, die es teilweise auch separat zu die BILD-Zeitung oder auch special interest Ma-
kaufen gibt, flankiert werden. Manche Tageszei- gazine wie das an ein breites Publikum gerichtete
tungen, darunter z. B. die Süddeutsche Zeitung, P.M. History historische Themen insbesondere
enthalten auch einen knappen regelmäßigen Wo- im Hinblick auf aktuelle Bezüge behandeln, fehlt
chenrückblick, in dem an die aus Sicht der Re- in den meisten populären Radiosendern ein ver-
daktion wichtigsten Ereignisse der jeweiligen gleichbarer redaktioneller Raum für geschichtli-
Kalenderwoche erinnert wird, über die in der che Themen: Das heute auch in Deutschland do-
Zeitung an den vorherigen Tagen im Detail be- minante Konzept des ›Formatradios‹ verpflichtet
richtet worden ist. Radiosender zu einem über den ganzen Tag
Wenn auch prinzipiell das Thema ›Geschichte‹ durchgängig einheitlichen Auftritt in Musik- und
in Printprodukten sehr populär ist, ist zugleich Wortbeitragsstil. Die meisten Sender verfolgen
die Art der Thematisierung sehr vielfältig und hierbei Konzepte, die das Radioprogramm im
notwendig abhängig von den jeweiligen redakti- Sinne eines ›Begleitmediums‹ dominant durch
onellen Bedingungen. Es ist festzuhalten, dass er- Musik und wenige, kurze, meist unterhaltsame
innernde Beiträge keineswegs auf sogenannte und ›gut verdauliche‹ Wortbeiträge gestalten. Im
›Qualitätsmedien‹ beschränkt sind, sondern eine Programm solcher Sender ist zumeist kein Platz
durchaus signifikante Rolle beispielsweise auch für historische, erinnernde Themen, es sei denn
in Boulevardzeitungen spielen, wobei hier ent- diese sind gesellschaftlich aktuell breit diskutiert.
sprechend der grundsätzlichen Ausrichtung der Eine spezielle Form ›erinnernder‹ Beiträge stel-
Publikation die Berichterstattung erwartbar pla- len in diesem Kontext jedoch regelmäßig die Mu-
kativer und weniger vielstimmig ist. Insbeson- sikprogramme dar, die sich vielfach ›der besten
dere bei der Gestaltung von Magazinen, die sich Musik‹ spezieller Jahrzehnte widmen und somit
ausschließlich historischen Themen widmen, ist je nach Sender auf der Ebene der musikalischen
zu beobachten, dass die Darstellungsformen spe- Gestaltung populärkulturelle ›Erinnerungsfunk-
zifisch auf die jeweiligen marketingrelevanten tionen‹ übernehmen.
Zielgruppen zugeschnitten sind. Marktfor- Neben diesen meist auf große Hörerzahlen
schungsergebnisse zeigen, dass sowohl die Leser und kommerziellen Erfolg zielenden Sendern,
von P. M. History wie von Geo Epoche zu zwei gibt es eine Reihe von Wort- und hier insbeson-
Dritteln männlich sind. Dabei richtet sich das dere von Informationsbeiträgen geprägte Sender,
multithematisch aufgebaute P. M. History an eine die in der Regel von öffentlich-rechtlichen Sen-
vergleichsweise jüngere Zielgruppe, für die die deanstalten unterhalten werden. Deutschland-
Lektüre nicht nur Informations- oder Bildungs-, weit sind dies in erster Linie die Sender Deutsche
sondern auch Unterhaltungsfunktionen erfüllen Welle, Deutschlandfunk und Deutschlandradio
soll. Das monothematisch aufgebaute Geo Epoche Kultur. Diese Sender strahlen gemeinsam eine
richtet sich dagegen an eine ältere Zielgruppe, tägliche, knapp fünf bis maximal sechsminütige
200 III. Medien des Erinnerns

Sendung »Kalenderblatt« aus, die sich anlässlich weiteren Angeboten, die zum Teil explizit als ›Ra-
von Jubiläen oder Jahrestagen einem historischen diosender‹ firmieren oder im Zuge von ›Pod-
Thema des Tages widmet. Darüber hinaus bietet casts‹, also nach Bedarf downloadbaren Au-
der Deutschlandfunk einmal monatlich die Sen- diobeiträgen, radioähnliche Formate anbieten. In
dung »Zeitzeugen im Gespräch«, die in Interview- diesem Kontext bietet beispielsweise der kom-
form Zeitzeugen wichtiger jüngerer geschichtli- merzielle amerikanische Sender Discovery Chan-
cher Ereignisse portraitiert und diese zu ihrer nel Radio eine Sendung »Unsolved History«, die
Rolle in und ihrer Einschätzung von der Ge- mit naturwissenschaftlichen Mitteln historische
schichte befragt. ›Rätsel‹ zu lösen sucht, ferner findet sich eine
Vergleichbare Formate finden sich auch in den kaum überschaubare Vielzahl an Amateurange-
informationsorientierten Sendern zahlreicher re- boten wie einem »History Podcast« der Website
gionaler öffentlich-rechtlicher Sender: Der West- historyonair.com, der in unregelmäßigen Abstän-
deutsche Rundfunk (WDR) bietet beispielsweise den eine Einführung in historische Themen gibt
auf seinem ›Kultursender‹ WDR 3 und seinem und von Amateuren erstellt wird.
›Informationssender‹ WDR 5 die Sendung »Zeit-
zeichen«, die in 15 Minuten jahrestagsbezogene
Thematische Entwicklungstendenzen:
historische Themen vorstellt. Der populärer ge-
Pluralisierung und Demokratisierung
staltete Informations- und Musiksender WDR 2
bietet mit dem täglichen »Stichtag« wiederum ein Angesichts der großen Pluralität von Erinne-
vergleichbares Konzept von ca. vier Minuten rungsangeboten im Bereich von Presse und Hör-
Dauer – beide Sendungen werden innerhalb des funk lassen sich keine linearen oder homogenen
WDR von der gleichen Redaktion produziert. Entwicklungstendenzen beschreiben. Während
Während die Themenauswahl bei allen For- jedoch im Bereich der Qualitätspresse nach wie
maten breit angelegt und neben politischer Ge- vor das Thema ›Geschichte‹ stark durch ein tra-
schichte auch in einem weiten Sinn soziale und ditionelles Geschichtsverständnis geprägt ist, das
kulturelle einschließlich popkultureller Themen sich an Jahrestagen bekannter historischer Ereig-
umfasst, unterscheiden sich zwischen den ver- nisse orientiert und unter dem Label ›Geschichte‹
schiedenen Formaten die Darstellungsformen er- eher an ›klassische‹ Geschichtsthemen wie den
heblich: Das »Kalenderblatt« ist betont nüchtern Fall der Mauer, den RAF-Terror, die Weltkriege
gestaltet und besteht in der Regel ausschließlich usw. erinnern würde, scheint es im Bereich der
aus einer abwechselnden Folge von Sprechertext populären Presse wie auch im Hörfunk eine grö-
und eingebetteten O-Tönen aus Archiven. So ßere Tendenz zur ›Enthierarchisierung‹ der Ver-
wird vergleichsweise linear ein historisches Er- gangenheit zu geben. Formate wie die Hörfunk-
eignis nacherzählt, durch Originaltondokumente sendungen »Zeitzeichen« oder »Stichtag« sind
illustriert und durch beteiligte Zeitzeugen rück- darauf angelegt, eine täglich aufs Neue abwechs-
blickend kommentiert. Beide erinnernde Ange- lungsreiche Auswahl historischer Themen zu
bote des WDR sind dagegen deutlich abwechs- präsentieren und widmen sich regelmäßig auch
lungsreicher gestaltet, binden regelmäßig Musik Themen der Alltagskultur, der Kultur-, Kunst-,
(auch unter gesprochene Texte unterlegt) ein, ar- Technik- oder Wissenschaftsgeschichte und be-
beiten mit atmosphärischen O-Tönen und einer mühen sich vielfach gerade darum, unerwartete
größeren Zahl an Archivmaterial, sprechen his- Themen zu präsentieren.
torische Texte durch Schauspieler nach oder bin- Formate wie das Magazin einestages sind
den auch kabarettistische Kommentare ein, so ebenso Indikatoren für eine Pluralisierung des
dass insgesamt das Format zwischen journalisti- Geschichtsverständnisses, auch im Kontext von
schem Feature und Hörspielelementen changiert. Printmedien, die hier freilich auf Basis einer flo-
Neben diesen öffentlich-rechtlichen Sendern rierenden Internetseite betrieben wird. Doch
finden sich vor allem im Internet eine Reihe von auch umgekehrt können begleitende Internet-
11. Printmedien und Radio 201

angebote zu Print- oder Hörfunkangeboten eine funk als auch Print zu beobachten, die neben
stärkere Einbeziehung der Rezipienten ermögli- begleitenden Internetangeboten vielfach ihre
chen, die die Gelegenheit erhalten, historische Berichte auch online verfügbar machen. Insbe-
Berichte zu kommentieren oder durch eigene sondere im Bereich Hörfunk, in dem viele der
Erlebnisse zu ergänzen – eine Entwicklung, die vorgestellten historischen Beiträge auch als abon-
sich optimistisch als ›Demokratisierung‹ der Er- nierbare Podcasts verfügbar sind, ist mit einer
innerungskultur klassischer Medien bezeichnen zunehmenden Nutzung der Medienangebote
ließe, jedoch zugleich insbesondere für die zu- über Internet und somit außerhalb des ›klassi-
ständigen Redaktionen erhebliche Anforderun- schen‹ Hörfunks zu rechnen.
gen in Bezug auf die Einhaltung qualitativer Stan- Die Digitalisierung der Medienangebote so-
dards stellt. wohl im Print- als auch im Hörfunkbereich führt
dabei aktuell zu zahllosen noch ungeklärten Fra-
gen beispielsweise des Urheberrechts und der
Strukturelle Entwicklungstendenzen:
mittel- und langfristigen Archivierung, die die
Crossmediale Konvergenzen
Nutzungsmöglichkeiten heutiger Medienpro-
Während thematische Tendenzen im Bereich von dukte als Erinnerungsanlässe für künftige Gene-
erinnernden Medienangeboten in Presse und rationen zu einem wichtigen, jedoch noch nicht
Hörfunk nicht einheitlich zu benennen sind, hat hinreichend systematisch diskutierten ›Zukunfts-
sich auf der strukturell-medialen Ebene bereits thema‹ der Gegenwart machen.
mehrfach eine deutliche Tendenz abgezeichnet:
Sowohl im Kontext von Printangeboten wie im Literatur
Bereich des Hörfunks sind crossmediale Bezug- einestages – »Willkommen bei einestages!« (ohne Au-
nahmen und Medienkonvergenzen offenkundig tor). In: http://einestages.spiegel.de/page/home.html
ein dominanter Trend. Dabei können crossmedi- (3.11.2008).
ale Bezüge sowohl innerhalb von ›Medienfami- Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskul-
lien‹ stattfinden, etwa wenn Hörfunkbeiträge auf turen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005.
Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien
die Internetseiten des Senders verweisen oder aus
und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin
Internetangeboten Printprodukte ausgekoppelt 2007.
werden. Zugleich sind aber auch crossmediale Güntner, Joachim: Nazideutschland im Reprint. In:
Bezüge zu externen Angeboten häufig zu be- Neue Zürcher Zeitung, 30. Januar 2009, Nr. 24, 42.
obachten: Populäre Filmproduktionen zu histori- Johnson, Marilyn: The Dead Beat: Lost Souls, Lucky
schen Themen etwa werden regelmäßig durch Stiffs, and the Perverse Pleasures of Obituaries. New
eine aufwendige Berichterstattung sowohl in York 2006.
Reinhardt, Jan D./Jäckel, Michael: Massenmedien als
Presse und Hörfunk als auch in anderen Medien Gedächtnis- und Erinnerungs›generatoren‹ – My-
begleitet – jüngere Beispiele sind die Verfilmung thos und Realität einer ›Mediengesellschaft. In: Pa-
des Hitler-Attentats Operation Walküre (Valky- trick Rössler/Friedrich Krotz (Hg.): Mythen der Me-
rie) mit Tom Cruise in der Rolle des Graf von diengesellschaft. – The Media Society and its Myths.
Stauffenberg (2008/2009) oder Der Baader-Mein- Konstanz 2005, 93–112.
hof-Komplex (2008). Dabei ist in vielen Fällen nur Tieschky, Claudia: Sex, Drogen und Stahl. Historiker-
streit: ›Geo Epoche‹ und ›Spiegel Geschichte‹. In:
schwerlich zwischen strategisch eingesetzter PR
Süddeutsche Zeitung, 12. Februar 2009, Nr. 35, 17.
auch innerhalb von wirtschaftlich beteiligten Me- Zierold, Martin: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine me-
dienunternehmen und redaktioneller Berichter- dienkulturwissenschaftliche Perspektive. Berlin u. a.
stattung zu unterscheiden. Mediale Konvergen- 2006.
zen sind ebenfalls sowohl im Bereich von Hör- Martin Zierold
202 III. Medien des Erinnerns

12. Bilder interdisziplinärer Reflexionen über Kommunika-


tion, Medienwirkung, Sinnerfahrung und Gene-
Die Vergangenheit erscheint in der Erinnerung rierung von Wirklichkeit geworden. Auf dem
als Bild. Sich zu erinnern heißt, bereits gewesene Historikertag von 1982 wurde zum ersten Mal
Wirklichkeit in der Gegenwart anzuschauen. die Frage gestellt: »Wo bleibt die Bildquelle?«,
Darin liegt die Gemeinsamkeit mit dem unsere und kennzeichnend für die dann einsetzende
Existenz fast durchgehend begleitenden ›materi- Wende ist die Tatsache, dass 24 Jahre später das
ellen‹ Bild – ob Gemälde, Buchillustration, Fern- Gesamtthema des Historikertages in Konstanz
sehnachricht oder Urlaubsfoto: Es ist unmittel- »GeschichtsBilder« lautete. Wer die Schulge-
bare Wahrnehmung. Das materielle Bild zeichnet schichtsbücher von den Menschen in ihrer Zeit
sich aus durch seine sinnliche Präsenz: Indem es (Klett, 1972) über ANNO (Westermann, 1995)
der Sinneswahrnehmung zugänglich ist, erregt es bis hin zu Expedition Geschichte (Diesterweg,
Erlebnisse, die dem Wissen, den Vorstellungen 2003) vergleicht, wird sofort die deutliche Verla-
fehlen. Da es sich noch vor die begriffliche Ein- gerung vom Text zum Bild erkennen. Die techni-
ordnung und Verarbeitung stellt, ist es zunächst schen Möglichkeiten des Computers haben au-
›Material‹ und kann so zum Träger des Unbe- ßerdem zu einer starken Tendenz zur Visualisie-
wussten, des Affektes usw. werden. Es hat die Ur- rung historischer Erinnerung in Ausstellungen,
sprünglichkeit, die wir uns von Wirklichkeitser- Animationen in Museen oder in den Film- und
fahrung erwarten und kann insofern als ein »har- Printmedien geführt (exemplarisch hierfür GEO-
ter Kern des Gedächtnisses« aufgefasst werden Epoche, z. B. das mit seinen Computeranimatio-
(Niethammer, in: A. Assmann 2009, 219). Gerade nen und überscharfen Fotos sehr charakteristi-
diese Merkmale des Bildes sind aber auch sein sche Heft Nr. 34 über die Germanen, 2009). Letzt-
Problem: Visuelle Wahrnehmung erfasst den ge- lich ist es aber nicht nur die wissenschaftliche
genwärtigen Moment und nicht Vergangenheit, Entwicklung, sondern vor allem der epochale ge-
durch ihre sinnliche Qualität ist sie geradezu das samtgesellschaftliche iconic turn (auch visual, vi-
Gegenteil von Erinnerung. Bei der Erinnerung sualistic oder pictorial turn) zu einer alle Lebens-
geht es um Zeitprozesse, nicht um Zustände, sie bereiche erfassenden ›Bilderflut‹, der eine grund-
bedarf also der Narration, die das Bild für sich sätzliche, moderne Reflexion auf Wesen und
gar nicht leisten kann, da es nur ›Momentauf- Wirksamkeit des Bildes in seiner Bedeutung für
nahme‹ ist, kein Vorher und Nachher kennt, in- die Erinnerung herausfordert.
sofern »gefrorene Vergangenheit« und »an sich
unhistorisch« ist (Bergmann/Schneider 1999,
Von der Verinnerlichung zum
211). Damit ist die ganze Paradoxie bezeichnet,
Erinnerungsbild
die dem Bild als Erinnerungsmedium eignet.
Es ist erstaunlich, wie spät die historische Bild- Die Erscheinungsformen, in denen Bilder Erin-
forschung auf diese Chancen und zugleich Pro- nerung initiieren, reichen von altsteinzeitlichen
blemstellungen reagiert hat. Angeregt durch die Statuetten, ägyptischen Wandmalereien über
Kunstwissenschaft, die psychologische Gedächt- Kaisermünzen, Totenporträts, Ikonen bis zu His-
nisforschung, zuletzt durch die Neurobiologie, torien- und Genregemälden, Karikaturen oder
zugleich aber auch durch die sprunghafte Aus- Kriegsfotografie. Die ersten erhaltenen Bildwerke
breitung allgegenwärtiger Bebilderung hat sich in der Menschheit sind vor ca. 40.000 Jahren ent-
der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jah- standene geschnitzte Frauen- und Tierdarstellun-
ren, verstärkt dann aber Mitte der 1990er Jahre, gen. Die letzteren weisen auf einen Zusammen-
eine Hinwendung zum Bild als ernstzunehmende hang, der sich durch die nur etwas später (vor ca.
Forschungsgrundlage vollzogen. Bilder werden 35.000 Jahren) einsetzenden Höhlenmalereien
kaum mehr naiv als Mittel zur Illustration ver- bestätigt. Auf den ersten Blick scheinen diese an-
wendet, sondern sind Gegenstand differenzierter, gesichts ihrer ›naturalistischen‹ Darstellung äu-
12. Bilder 203

ßerer Natur (einer bestimmten Gruppe von Tie-


ren, die neben verfremdeten Menschendarstel-
lungen und abstrakter Zeichen der häufigste
Inhalt der Bilder war) das Gegenteil von Erinne-
rungsvorgängen zu bedeuten. Nach ersten sehr
naiven Erklärungsmustern hat sich in der Erfor-
schung der Malereien aber eine Wende vollzo-
gen, die ganz neue Interpretationshorizonte er-
öffnet hat. Hatte man diese Bilder im 19. Jahr-
hundert noch als schmückende Dekoration
gedeutet, erkannte man zunehmend, dass die
Fundorte eben keine Wohnhöhlen, sondern zum
Teil sehr unzugänglich tief im Berg verborgen
waren, also nur in Sondersituationen aufgesucht
wurden. Man erklärte sie nun als Bestandteil ei-
ner rituellen Jagdmagie, bis man später anhand
von Jagdbeuteresten feststellte, dass es keinen Zu-
sammenhang zwischen der Jagd und den Bildern
gab. Eine Reihe von Indizien deutet daraufhin,
dass sich mit den Malereien vielmehr innere, be-
wusstseinsbildende Akte verbanden: Die Bilder
wurden nicht an zufällige, sich gerade als freie
Fläche anbietende Stellen gemalt, sondern diese
Orte wurden regelrecht ausgewählt. Die Inten-
sität und Qualität der Bilder widersprechen einer Abb. 1: Pferdedarstellung aus der Grotte Chauvet
rein abbildhaften Wiedergabe äußerer Wahrneh- (ca. 31.000 v. Chr.)
mungsinhalte, sie entstammen genauesten Be-
obachtungen des charakteristischen ›Ausdrucks‹
eines Tieres, die dann verinnerlicht und abrufbar Schriftgedächtnis vorgedrungen sind. Sowohl in
waren; manche Bilder haben Bewegungsabläufe Ägypten als auch in Mesopotamien entwickelten
von Tieren zur Darstellung gebracht, wie sie auch sich die Schriftzeichen, die der Erinnerung eine
in den technisch komplizierten Analysen des 19. völlig neue Grundlage gaben, aus Bildern, die
Jahrhunderts nicht besser festgehalten werden verdeutlichen, dass deren anschauliche, emoti-
konnten (Bosinski 2009, 36–40 u. 65 f.). onsstiftende Qualitäten die Voraussetzung für
Die Höhlenmalereien vollziehen also den alle späteren Schritte kultureller Gedächtnisbil-
Schritt zu einer anschaulichen Vergegenwärti- dung darstellen. In Ägypten war diese Sinnge-
gung vergangener und verinnerlichter Wahrneh- bung des Bildes mit einem wesentlichen Vorgang
mungen des sonst in unmittelbarer sinnlicher verbunden. Jan Assmann hat darauf hingewiesen,
Nähe erlebten Tieres. Was flüchtige, bewusstlose wie insbesondere die ägyptische Kultur veran-
Gegenwart war, wurde zu einem dauerhaften Be- schaulicht, dass das Entstehen von Bildern einen
wusstseinsinhalt. Dies bedeutet letztlich eine maßgeblichen Ursprung in der Mumifizierung
Emanzipation von der Sinneswahrnehmung und des menschlichen Leichnams hatte. Er knüpft an
die Herstellung eines Zeitkontinuums des eige- den Kunsthistoriker Hans Belting an, der heraus-
nen Inneren – also Identität. gearbeitet hat, dass der Ägypter am Leichnam die
Eine wesentliche Zäsur in der Geschichte der Anwesenheit des Verstorbenen erinnerte. Damit
gedächtnisbezogenen Verbildlichung brachten wird die Ursituation der bildenden Kunst gege-
die ersten Hochkulturen, die über das Bild zum ben: Im Sinnlichen wird etwas abgebildet, was ei-
204 III. Medien des Erinnerns

gentlich darin nicht anwesend sein kann. Be-


zeichnender Weise bezog sich das ägyptische
Wort »djet« sowohl auf das Bild als auch auf den
Körper. Der Begriff des Bildes entstand, indem
ein Körper zum Träger der Erinnerung an den
Verstorbenen wurde. Damit ging allerdings ein-
her, dass dieses Bild nicht als bloßes Zeichen,
sondern selber als realer Körper angesehen
wurde, so dass man in ihm das Vergangene als
faktisch und existent erlebte – ein Zustand, der in
der Ägyptologie als »Einwohnung« bezeichnet
wird. Die Götter und die Verstorbenen existieren
für den Ägypter also in der Statue, und so heißt es
in einer Inschrift: »Statue, du bist vor den Herren
des Heiligen Landes! Stell dich als Erinnerung an
meinen Namen ins Haus der Herren von Ta-wer«
(J. Assmann 2009, 89).

Die Antike und die Entwicklung der


Abb. 2: Mandylion Christus aus Nowgorod
christlichen Ikone (12. Jh. n. Chr.)
In der Antike hat sich in der Plastik, den Vasen-
malereien oder Wandgemälden ein deutlicher artig und fast schon wallfahrtstouristisch ver-
Wandel vollzogen, indem die Götter Menschen- marktenden Epheser (Apostelgeschichte 19, 19–
gestalt angenommen haben. Damit hat sich die 40) deutet auf einen solchen Vorgang genauso
Erinnerung an die geistige Ursprungswelt stärker hin wie die Kritik Tertullians an den Heiden, im
als bisher aus den Inhalten der sinnlichen Gegen- Bildkult der Götter eigentlich die Toten zu vereh-
wart abgeleitet. Trotzdem blieb der Gestus des ren und die angeblichen Statuenwunder nur dazu
auf Erinnerung ausgerichteten Bildes im Prinzip zu benutzen, »Steine für Götter zu halten« (Bel-
erhalten. Platon fasst das antike Bildverständnis ting 2004, 49).
in seiner Ideenlehre begrifflich zusammen (s. Eine Wendung brachte erst das Christentum,
Kap. IV.2), und noch im 2. oder 3. Jahrhundert das mit seinen Ikonen, Fresken, dem Kreuz als
n. Chr. antwortet im griechischen Traktat teleios Skulptur etc. wieder zu einer auratischen Qualität
logos Hermes dem Asklepios: »Ich meine Stand- religiöser Erinnerung fand. Ein zentrales Gestal-
bilder, die beseelt sind, voller Geist und Pneuma, tungsmittel war der Goldhintergrund, der in sei-
die große und gewaltige Taten vollbringen« ner spirituellen Dimension bis nach Ägypten zu-
(J. Assmann 2009, 83). Verschiedene Indizien rückweist, wo das Gold als »Fleisch der Götter«
weisen aber gleichzeitig darauf hin (Belting 2004, aufgefasst wurde. Der malerische Abstand von
49), dass sich mit dem Ende der Antike eine zu- der sinnlichen Welt (die hauptsächlichen Bildin-
nehmende Veräußerlichung der Bildwahrneh- halte waren Christus bzw. die göttliche Dreifaltig-
mung vollzog, bei der schon die Zeitgenossen keit, Maria und das biblische Geschehen mit dem
den Eindruck hatten, dass die Bilder nicht mehr ganzen Universum der geistigen Wesen von den
zu einer realen Erinnerung der geistigen Urbil- Engelhierarchien bis zu den verstorbenen Heili-
der bzw. Götter führten, sondern nur noch (im gen), der kultische Umgang mit den Bildnissen
Sinne des Aberglaubens) illusionäre Vorstel- im Gottesdienst und die Positionen des Neupla-
lungsbilder evozierten. Paulus’ Ermahnung an tonismus belegen den nun über ein ganzes Jahr-
die das Artemis-Bildnis und den Tempel fetisch- tausend sich erstreckenden Habitus platonischer
12. Bilder 205

Weltanschauung, in deren Zentrum die Erinne- 17. Jahrhundert hinein sehr wertvolle, authenti-
rung steht. sche Ikonenmalerei antrifft), im Westen dynami-
Es ist bemerkenswert, wie sich trotz der epo- siert sich die Bildauffassung rasant und entwi-
chalen religiösen Wende die christliche Ikone – ckelt zuletzt einen völlig neuen visuellen Zugang
die hier exemplarisch für die vielfältige Bilder- zur Welt.
welt des Mittelalters behandelt werden soll – aus
einem antiken Vorbild, den römischen Totenpor-
Die Revolution des Sehens und der Wandel
träts, entwickelt hat (Belting 2004, 92–116). Das
der Erinnerung
Totenporträt stützte das Gedächtnis an den ge-
liebten oder verehrten Verstorbenen und gewann Seit dem 11. Jahrhundert verändern sich im west-
insofern eine starke emotionale Bedeutung. Mit lichen Europa die Ikonen. Es entsteht eine ›be-
dem Christentum richtete sich die Verehrung des seelte Malerei‹, die vermehrt erzählerische Ele-
Toten nun vermehrt auf neue Inhalte: auf die Hei- mente bis hin zu ganzen Handlungen beinhaltet
ligen, vor allem aber natürlich auf Christus und und nun auch die inneren Regungen der betref-
Maria. Eintausend Jahre lang – vom 5. bis ins 15. fenden Figuren darstellt. Die Malereien erhalten
Jahrhundert hinein – dauerte die Hochzeit der einen natürlicheren (nicht naturalistischen) Aus-
Ikone, und schon daraus wird ersichtlich, wie druck. Es wird eher beschrieben als symbolisiert,
stark sie von der Tradition lebte. Die kultisch ge- und damit wird die bildnerische Aura der Zeitlo-
pflegte, erinnernde religio bedarf der Wiederho- sigkeit allmählich abgelöst von der Gegenwart
lung, und so war die Ikonenmalerei immer ge- des augenblicklichen, zeitbedingten Ereignisses
prägt von einem »konservativen Dogmatismus« in der äußeren Erscheinungswelt – das Erinnern
(Belting), und zwar nicht nur in den bildneri- wird allmählich zum Anschauen. Dies entspricht
schen Formmerkmalen, sondern auch in den die den geistesgeschichtlichen Vorgängen dieser Zeit
Ikone einbeziehenden rhythmisch wiederkehren- überhaupt. Der Gelehrte Alanus ab Insulis for-
den Festen, den Prozessionen und Wallfahrten, mulierte in der platonisch geprägten Schule von
den regelmäßig repetierten Texten: All dies wa- Chartres am Ende des 12. Jahrhunderts die fast
ren wirksame Mittel strenger Gedächtnisübung. prophetische Zukunftsperspektive: »Es ist über-
Auch das reine Alter der Ikone bewies die Tradi- liefert, daß der Glaube in Zukunft überflüssig
tion und stützte ihre Autorität im Vorgang der sein und seine Nachfolge die Wissenschaft sein
Erinnerung. wird, also die sichere Erkenntnis. So wird das
Im byzantinischen Bilderstreit des 8. Jahrhun- Verständnis ein anderes sein als das heutige rät-
derts brach angesichts des Verbotes der Vereh- selhafte« (Summa Quoniam homines. Hg. von P.
rung von Heiligenbildern unter Kaiser Leo III. Glorieux. AHMA 28, 1953, 137). In der großen
eine grundsätzliche Problematik auf, die den reli- Wende vom Platonismus zum Aristotelismus
giösen Umgang mit dem Bild über lange Zeit (v. a. Thomas von Aquin) erhält auch das Bild
prägte: Vermittelt das Bild die Existenz des Gött- eine neue Ausrichtung: Es bindet – trotz aller
lichen (kann dieses im Bild präsent sein?) oder noch lange nachwirkenden traditionellen bildne-
lenkt es von diesem illusionär ab (weil im Sinnli- rischen Mittel und Motive – das Bewusstsein
chen das Geistige gar nicht anwesend sein kann)? nicht mehr ausschließlich erinnernd zurück an
Die ganze weitere Entwicklung des Verhältnisses die Urbilder, sondern schaut zumindest anfäng-
des Menschen zum Bild ist ohne die zunehmende lich beobachtend nach vorne auf die Tatsachen
Auseinanderentwicklung östlicher und westli- der sinnlichen Welt. Durch den Sieg des Nomi-
cher Weltanschauung nicht mehr zu beschreiben. nalismus im Universalienstreit erhielt diese Ent-
Im Osten wird die erinnerungsbetonte, konser- wicklung eine folgenschwere Vereinseitigung:
vative Verehrung eines der sinnlichen Welt in fer- Die Gedanken wurden nicht mehr als in den Din-
ner Distanz herrschenden Göttlichen kulturbil- gen wirkende Ideen, sondern als vom Subjekt
dend (so dass man hier auch bis mindestens ins hervorgebrachte Vorstellungen aufgefasst, die der
206 III. Medien des Erinnerns

Welt quasi von außen hinzugefügt werden und Die Abschaffung des Bildkultes, die Entfer-
damit Abstraktionen sind. Das Wissen konstitu- nung der Bilder aus den Kirchen, die Hinwen-
ierte sich seitdem aus der Anschauung der Au- dung zu antiken Bildinhalten in der Renaissance
ßenwelt und den sich daran anknüpfenden Refle- waren Mittel zur Befreiung von der kirchlich-tra-
xionen, und dies hatte weitreichende Konsequen- ditionellen Institution. Mit der Infragestellung
zen für den Umgang mit dem Bild. Einerseits des mittelalterlichen kosmologischen Welt- und
richtete sich das bildnerische Interesse nun radi- Menschenbildes hat sich eine Emanzipation des
kal von den religiösen Inhalten auf die sinnliche individuellen Menschen vollzogen, und dazu ge-
Welt. Das Bild war den Gesetzen der natürlichen hört auch, dass das Sehen und die aus ihm entste-
Welt verpflichtet. Es entwickelte sich mit der Zen- henden Bilder diesseitig wurden. Die Kunst ist
tralperspektive eine rationalisierte Malerei, in der damit kein eigentlich religiöses Phänomen mehr:
sich ein mathematisch-logisches Sehen durch- »Das religiöse Thema ließ sich vom Künstler nur
setzte, das sich dem physischen Raum anverwan- noch erfinden. Man konnte es ja nicht wirklich
delte und die erinnernde Dimension aufgab: Das sehen wie die Gegenstände von Stillleben und
»Wissen des toten Raumes reduziert die Zeit zu Landschaft. Die Präsenz des Werks ist etwas an-
einer einzigen Dimension, zu einem Anhang, der deres als die einstige Präsenz des Heiligen im
eine leere Jetzt-Punktfolge zum Zwecke der Bere- Werk« (Belting 2004, 511). Die Kunst tritt damit
chenbarkeit darstellt« (Wettig 2009, 139). Der an die Stelle des Kultes. Die ›Krise des Bildes‹ ist
»kalte Blick« der das Subjekt ausklammernden insofern zugleich die Geburtsstunde einer neuen
räumlichen Beobachtung wurde zuletzt Aus- Bestimmung der Kunst, in der durch den schöp-
druck eines zweckgeleiteten Überwachungsinter- ferischen Akt des individuellen Künstlers die An-
esses. Andererseits erfährt der bildhafte Bezug zu schauung der Welt gestiftet wurde.
den ideellen Inhalten der Religion eine beispiel- Wenn das Bild erinnernde Funktion erhalten
lose Abstraktion. Durch die Erfindung des Buch- sollte, so waren die Gegenstände der Erinnerung
drucks wird der vorher immer noch bildhafte nun irdischer Natur: die Historie, Reise- und Er-
Vorgang des Schreibens mit der Hand, in dem er- oberungserfahrungen (z. B. Cortez’ Unterwer-
innerte Worte und vorgestellte Bilder eine Ge- fung des Aztekenreiches), geographische Ver-
samtwahrnehmung schufen und Partizipation messung, Natur und individuelles Porträt bzw.
statt Distanz erzeugten, abgelöst durch die ex- Familienchronik u. a. Es gilt hierbei zu berück-
trem beschleunigte und technisierte serielle Pro- sichtigen, dass diese Hinwendung zur visuell-ge-
duktion von Schrifterzeugnissen. Zeichen und genständlichen Wirklichkeit sich über einen lan-
visueller Eindruck trennten und verselbständig- gen Zeitraum sukzessive entwickelte. Die großen
ten sich (Wettig 2009, 78–81). Hierzu gehört Renaissancekünstler haben neben ihren neuen
dann auch, dass mit der Reformation – bei allen Themen immer christliche Motive verfolgt und
Unterschieden, die zwischen Luther und vielen damit einige der bedeutendsten Kunstwerke der
radikaleren Mitstreitern auftraten – die Bilder ge- Neuzeit geschaffen (man denke an das Abend-
stürmt wurden und nur noch das Wort als Zeug- mahl von Leonardo da Vinci oder an Michel-
nis des Christus anerkannt war. Bezeichnender- angelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Ka-
weise erschienen auf den Altarbildern an einigen pelle). Oft wurden in diese Bilder Darstellungen
Orten zugleich die in der jeweiligen Gemeinde von Landschaften, Stillleben u. a. integriert, die
lehrenden Reformatoren – ›gegenwärtiger‹ und einen Gegenwartsbezug schufen und indirekt die
damit ›erinnerungsferner‹ konnte im Unter- traditionellen Inhalte kommentierten. Die sinnli-
schied zur Ikone ein Bild nicht mehr sein. Wenn che Welt wiederum erschien in vielen Bildern
von der einen Seite her also die sinnliche An- noch äußerst schematisch, unsicher und redu-
schauung die Erinnerung verdrängte, so geschah ziert. Selbst den perfekten Raumstudien merkt
dies von der anderen durch den rationalen Ge- man immer die Konstruktion an, Personen wa-
danken. ren noch lange Zeit eingebunden in typisierte,
12. Bilder 207

starre Formstrukturen, und nur die herausragen- tion verstanden werden kann. So erschöpft sich
den, ganz großen Künstlerpersönlichkeiten dran- die Bedeutung des Bildes für die gesellschaftli-
gen schon sehr weit zu der von Leonardo gefor- chen Erinnerungsprozesse nicht immer in der
derten Darstellung der ›Wirklichkeit‹ vor. Konstituierung von Macht, die durch die Schaf-
Von Lukas Cranachs Luther-Porträts über fung eines bildgestützten kulturellen Gedächtnis-
Rembrandts Nachtwache bis hin zur russischen ses kollektiv gesichert wird. Natürlich sind Bilder
Genremalerei eines Grigori Grigorjewitsch und schon sehr früh zu diesem Zweck eingesetzt wor-
den realistischen Industriegemälden Menzels den: Wenn auf römischen Münzen der Kaiser ab-
oder Robert Köhlers vollzog sich ein elementarer gebildet war und der Bürger somit auch in alltäg-
Lernprozess der Aneignung des sinnlich-realen lichsten Lebensvorgängen an den Herrscher erin-
Raumes, so dass im strengeren Sinne eigentlich nert wurde, wenn Otto III. und Heinrich II. in
erst seit dem 19. Jahrhundert gesamtgesellschaft- zahlreichen Herrscherminiaturen ihr Kaisertum
lich von einer Malerei gesprochen werden kann, sakral begründeten (Weinfurter 1995, 47–103),
die reale Bilder von der sinnlich-individuellen das Bild des Kreuzes als Kriegsbanner in Paläs-
Erscheinung von Menschen, Geschichte oder tina an die ursprüngliche religiöse und politische
landschaftlichem Charakter schuf. Dies ent- Identität des kämpfenden Heeres erinnerte, oder
spricht dem gesellschaftlichen Wandel der Re- wenn in modernerer Zeit Morel und David im
zeptionsbedingungen von Kunst und der techni- Kupferstich Der Schwur der Horatier auf römi-
schen Entwicklung der Bildvervielfältigung. Eine sche Inhalte zurückgreifen, um zum aktuellen
wesentliche Zäsur markierte zu Beginn der Neu- politischen Kampf im vorrevolutionären Frank-
zeit die Tatsache, dass das Bild aus der Kirche zu- reich aufrufen zu können, durch Kriegsdenk-
nehmend in die Kunstsammlung überging und male des 19. und 20. Jahrhunderts die Einheit der
damit immer mehr dem Rezipienten zur persön- Nation suggeriert wurde oder das ›Führerbild‹ im
lichen Betrachtung zur Verfügung stand (s. Kap. Klassenraum die Identifizierung des Schülers mit
III.7). Die sich kontinuierlich verbessernde Tech- dem Herrscher im emotionalen Gedächtnis un-
nik des Buchdrucks ermöglichte zugleich die auslöschlich verankert werden sollte, so durch-
Reproduzierbarkeit sowie die verstärkte und ziehen immer wieder Bilder die Geschichte, die
schließlich massenhafte Verteilung des Bildes. ein machtgeleitetes Erinnern beförderten. Unter
Dies alles brauchte aber Zeit – die Kunstsamm- diesem Aspekt spielen auch die Historiengemälde
lung war anfänglich nur einer kleinen gesell- eine entscheidende Rolle, die nach dem Zurück-
schaftlichen Elite möglich, die Menge der Druck- treten der religiösen Erinnerung zu einem zen-
erzeugnisse ist nicht mit unseren modernen Ver- tralen Medium des kulturellen Gedächtnisses
hältnissen vergleichbar und beschränkte sich auf wurden (s. Kap. II.3). John Trumbulls Gemälde
einen immer noch überschaubaren Umfang. Das von der Übergabe des Entwurfes der amerikani-
neuzeitliche, gegenständliche Bild als Träger ei- schen Unabhängigkeitserklärung an das Plenum
ner visuellen, jedem Menschen zur Verfügung des Kontinentalkongresses in Philadelphia, der
stehenden Erinnerungsgrundlage ist also eine Ballhausschwur von Jacques-Louis David oder
historische Erscheinung, die erst sehr spät zu ei- die Darstellung der Proklamation des Deutschen
nem Bestandteil des gesellschaftlichen Alltags ge- Reiches 1871 im Spiegelsaal von Versailles von
worden ist. Anton von Werner geben auf den ersten Blick
historische Vorgänge wieder, sind aber komposi-
torisch so inszeniert, dass sie maßgeblich zur Bil-
Exkurs: Die Intentionalität des Bildes
dung der jeweiligen erstrebten kollektiven Iden-
Diese Prozesse machen deutlich, dass die Erinne- tität beitrugen.
rungsfunktion der Bilder nicht ahistorisch be- Dennoch unterscheidet sich ein Herrscherbild
handelt werden darf, sondern nur aus der ge- Ottos III. von der propagandistischen Selbstin-
schichtlichen Verfasstheit der jeweiligen Situa- szenierung eines Wilhelm II. maßgeblich: Das
208 III. Medien des Erinnerns

›Wie‹ der Darstellung, die regelrecht kindlich-na- seits ist mit der revolutionären technischen Ent-
iven Gesichtszüge, Haltungen und überhaupt Li- wicklung nicht nur eine Reproduzierbarkeit und
nien- und Farbgestaltungen bei Otto müssen ge- Verfügbarkeit des Bildes entstanden, sondern vor
nauso berücksichtigt werden wie der bloße iko- allem eine Erfindung, die einen tiefen Einschnitt
nographische Inhalt und zeigen durch eine solche in die zivilisatorische Entwicklung markiert: die
formimmanente Betrachtung eine mentale Ver- Fotografie (s. Kap. III.14). Gerade auch für das
fassung, die nicht mit neuzeitlicher Ratio und Erinnern hat diese Erfindung entscheidende
Machtkalkül den sakralen Hintergrund der eige- Konsequenzen: »Das photographische Bild als
nen Herrschaft suggeriert, sondern diesen sehr Momentaufnahme und unbezweifelbarer Beweis
sicher genauso empfunden hat, wie er im Bilde einer objektiven Welt hat durch das Festhalten
dargestellt war: als eine lenkende, verpflichtende von sichtbar gemachten Vergangenheiten dem
Instanz, die noch höher stand als die eigene Per- Gedächtnis eine andere Funktion zugewiesen.
son. Der Trennung zwischen ›subjektiver‹ und ›objek-
Es gilt zu differenzieren: Ist die erinnernde tiver‹ Betrachtung, individuellem und ›Welt‹-
Darstellung eines Bildes instrumentell zweckge- Gedächtnis, wurde ein weiterer Meilenstein ge-
leitet (dann sollte man streng genommen nicht setzt« (Wettig 2009, 109). Durch die technische
von Erinnerung, sondern von Konstruktion spre- Ermöglichung des Festhaltens eines Momentes
chen) oder ist ihr Interesse auf die gewisserma- ereignete sich eine beispiellose Ausweitung und
ßen selbstlose Anschauung einer Sache gerichtet? Zementierung des kulturellen Gedächtnisses. Die
Es gibt einen ganzen historischen Strang bedeu- mit der naturwissenschaftlichen Beobachtung
tender künstlerischer Arbeiten, die nicht darauf der beginnenden Neuzeit sowie ihren Konse-
abzielen, (im weitesten Sinne) politische Inten- quenzen wie z. B. der Zentralperspektive eingelei-
tionen umzusetzen, sondern – um mit Paul Klee tete Visualisierung der Kultur hat in der Moderne
zu reden – Charakteristisches ›sichtbar zu ma- ihren Höhepunkt erreicht und zeigt in den verän-
chen‹. Wenn viele Historiengemälde mehr über derten Wahrnehmungsprozessen des heutigen
ihren Schöpfer und seinen Schaffenskontext aus- Menschen ihre anthropologischen Folgen. Wir
sagen als über den dargestellten Gegenstand, so leben von der visuellen Wahrnehmung wie nie
gibt es zugleich Bilder, die tatsächlich Erinnerung zuvor und verfügen über ein fast grenzenloses
an die geschichtliche Realität ermöglichen: An Archiv von Gedächtnisbildern.
die Landschaften der Brueghels, die sehr dichte Führen diese optischen Bilder aber zu Erinne-
Bilder einer noch unverletzten, vorindustriellen rungen? Hier wurden oft schon Zweifel angemel-
Kulturlandschaft aufrufen, ist da genauso zu den- det. Von Georges Duhamel stammt der auf den
ken wie an Repins Wolgatreidler, die durchaus Film bezogene Ausspruch: »Ich kann schon nicht
eine dezidierte politisch-symbolische Aussage mehr denken, was ich denken will. Die bewegli-
enthalten und dennoch nicht manipulativ inten- chen Bilder haben sich an den Platz meiner Ge-
diert sind, sondern atmosphärisch sehr konzen- danken gesetzt« (Wettig 2009, 123). Direkt auf
triert und charakteristisch einen historischen Zu- den Erinnerungsvorgang bezogen kritisiert Imre
stand beschreiben. Kertész in seinem Essay »Wem gehört Ausch-
witz?« Steven Spielbergs Film Schindlers Liste: Er
suggeriere mit seinen Bildern eine Authentizität,
Der iconic turn
die es so gar nicht geben könne und insofern in
Die Frage nach den Qualitäten, die ein Bild zu ei- Wirklichkeit ›verfälsche‹ – und damit tatsächli-
ner Grundlage des Erinnerns werden lassen, er- che Erinnerung verstelle. Offensichtlich tritt mit
fährt mit dem 19. Jahrhundert eine völlig neue dem iconic turn und der mit ihm verbundenen
Dimension. Einerseits ist die bildnerische Dar- »Ikonomanie« (Günther Anders in seiner Anti-
stellung nun ganz bei der gegenständlichen Ab- quiertheit des Menschen) eine folgenreiche Pro-
bildung der sinnlichen Welt angelangt, anderer- blematik auf: Der Erinnerungsinhalt gewinnt die
12. Bilder 209

Herrschaft über die Erinnerungstätigkeit. Je stär- Tisch genauer zu betrachten, Reaktionen in da-
ker sich das Bewusstsein auf die – uns massen- für bereitgestellten Folianten zu notieren oder
haft bedrängenden – Bildinhalte fixiert, desto mit Zeitungsausschnitten zu bekleben, um sie
passiver wird seine Kraft, die die eigentliche An- schließlich neu zu ordnen. Dem Rezipienten
strengung des Heraufrufens des mentalen, inne- kann hier also bewusst werden, wie sein eigener
ren Bildes der Vergangenheit unternimmt. »Beitrag das kollektive Gedächtnis beständig ver-
ändert, Aufschluss über die Prozesshaftigkeit des
Erinnerns und die Formation von ›Gedächtnis‹
Gegenwartskunst
selbst gibt« (Grohé 1996, 162).
Wie als eine Antwort darauf bringt die kunstge- Immer wieder gibt es künstlerische Versuche,
schichtliche Entwicklung seit den 1960er Jahren die Zeit selber und mit ihr die erinnernde Tätig-
Bilder hervor, die den Erinnerungsvorgang selbst keit, aus der die Zeiterfahrung erwächst, zum
thematisieren – sie wurden deshalb auch bereits Anschauungsinhalt zu machen. Anne und Pa-
als »Gedächtnis-Kunst« bezeichnet (A. Assmann trick Poirier führen das fiktive ›Spiel‹ einer Aus-
2009, 359) – und dabei bezeichnender Weise den grabung der Gedächtnisstadt »Mnemosyne«
Erinnerungsinhalt bewusst reduzieren oder so- durch, in dem sie metallene, hindeutende Pfeile
gar verbergen. Sehr charakteristisch sind in die- in arrangierte Ruinen setzen oder in eine Gehirn-
ser Hinsicht die Gemälde von Gerhard Richter, schale ein Ruinenmodell implantieren. Naomi
der z. B. in einer 1988 entstandenen Gruppe von Tereza Salmon fotografierte Relikte aus der Habe
15 Bildwerken mit dem Titel 18. Oktober 1977 die von Opfern und Tätern aus NS-Konzentrations-
berühmten Fotos von der Gefangennahme der lagern, vergrößerte sie und zwingt den Betrach-
Baader-Meinhof-Gruppe und dem Selbstmord, ter, sie wahrzunehmen. Sie reißt diese Relikte da-
einem Begräbnis, aber auch ein Jugendbildnis mit aus der Vergessenheit, macht zugleich aber
von Ulrike Meinhof aufgreift, malerisch durch die ihnen anhaftende bedrückende »Leere des
extreme Unschärfe, Dunkelheit oder den Ver- Schweigens« erfahrbar (A. Assmann 2009, 367–
zicht auf ›realistische‹ Farben so in die Ferne 371 u. 378–382). Der Dresdner Maler Olaf Auer
rückt, dass der Betrachter anfängt, mit größter legt Farbschichten und Metalle über- oder ne-
Aktivität sich innerlich auf die Suche zu machen beneinander und führt z. B. in seinem Bild Aion
nach den Spuren dieser Vorgänge und Persön- (9) (2003) mit violetten Farbtönen auf Blei in ein
lichkeiten und dabei in diesem Suchen eine Zeit- Dunkel und in eine Stille hinein, die zusammen
lichkeit erlebt, die dem Prozess des Erinnerns mit den narbenartigen Spuren des Metalls den
entspricht. Hanne Darboven stellte 1978 ihren Bildtitel realisierend wie eine ferne und verbor-
Zyklus Bismarckzeit fertig, in dem sie auf über gene Vergangenheit aufschließt, und weckt in ei-
800 beschriebenen Blättern völlig disparate In- ner anderen Bildgruppe mit Titeln wie Shadow of
halte wie biographische Daten, Ereignisse, Briefe, Nefertiti (1999), Ahknaten (1999), Seth? (2000–
Bildnisse von Personen oder Gebrauchsgegen- 07) oder Part Of Osiris (1999–2007) zusammen
ständen dieser Zeit zusammenstellt. Der Betrach- mit der jeweiligen Bildform Assoziationen alt-
ter beginnt dadurch, jene historische Epoche ak- ägyptischer Kultur, die dann mit der gegenwärti-
tiv zu rekonstruieren und beobachtet damit gen Erfahrung an der Farbe und am Metall ver-
schließlich seine eigene Gedächtnisarbeit. Sigrid bunden werden. Hatten die mittelalterlichen Iko-
Sigurdsson hat 1988 mit ihrer Installation Vor der nen den Betrachter angeschlossen an eine
Stille ein offenes Archiv konstruiert: In einigen überindividuelle Erinnerung der göttlichen Welt,
raumhohen Schränken sind Bücher und Vitrinen und richtete die neuzeitliche Bildlichkeit das Ge-
aufbewahrt, die verschiedenste, mit der Zeit des dächtnis auf die sinnliche Erscheinungswelt und
Nationalsozialismus verbundene Gegenstände damit auf den individuellen Menschen in seiner
aufbewahren, die der Rezipient herausnehmen geschichtlichen Existenz – womit das Geistige ge-
darf, um sie sich auf einem eigens aufgestellten wissermaßen historisch wird und eine Biogra-
210 III. Medien des Erinnerns

phie erhält –, so erfährt sich nun der Betrachter historischen Ereignisse erfährt man dann aber
als Erinnernder selbst, die Erinnerungstätigkeit nichts, sondern wird auf die rein künstlerisch-
wird sich als konstitutionelle Grundlage des Ich sinnliche Gegenwart und Realität des Bildes ge-
ihrer selbst bewusst. worfen. Die Folge davon ist, dass die Qualitäten
Es gibt wohl kaum einen Künstler, für den der Farbe, des Materials, das Format, seine Pro-
diese Motive ein so existentielles Lebensthema portionen usw. innerlich beobachtet und die dar-
sind wie Anselm Kiefer. Sein ganzes Werk durch- aus entstehenden Wahrnehmungen auf den Um-
zieht die Auseinandersetzung mit der Geschichte, gang mit der historischen Vergangenheit bezogen
entscheidend ist dabei aber, dass dies nicht rein werden können – und damit unter Umständen
inhaltlich geschieht, sondern – insbesondere viel mehr über diese Vergangenheit aussagen als
durch die Materialien seiner Kunst – die Tätigkeit eine begriffliche Analyse, denn der durch Sinne,
des Erinnerns selbst wird zu einer sinnlichen Er- Affekte, Leibwahrnehmungen psychisch und
fahrung gebracht. Daniel Arasse schreibt über körperlich realisierte Weg zu dieser Vergangen-
den Künstler: »Kiefer gibt sich weniger dem hin, heit ist mit beobachtet worden und gehört zu ihr
was man gemeinhin als Gedächtnisarbeit be- konstitutiv dazu. Das Gemälde The World Ash
zeichnet, als vielmehr einer Arbeit am Gedächt- (1982) z. B. führt in seiner Dunkelheit, Leere und
nis«, das Wie des Erinnerns sei für ihn eine Kälte in eine Stimmung hinein, die unendlich viel
Schlüsselfrage (Arasse 2001, 70 u. 77). Er bricht von Einsamkeit, Zerstörung, Tod beinhaltet. Der
mit dieser Suchbewegung die Idee des kollektiven auf dem Bild angebrachte tote, angebrannte,
Gedächtnisses geradezu auf, weil er einerseits schwarze Ast verdichtet diesen Eindruck wie zu
permanent durch Bildtitel, in das Bild hineinge- einem zeichenhaften Resultat und stellt die be-
schriebene Sätze bzw. Namen oder durch be- griffliche Verbindung zum Titel her, der bewusst
stimmte inhaltliche Signale (Hitlergruß, Eisen- mit zwei Bedeutungsinhalten spielt: die Asche als
bahnschienen, Kriegsschiffe, Nazi-Architektur Produkt der Zerstörung und Ausdruck des To-
u.v.m.) die gruppenspezifischen (deutschen) Vor- des, die Weltenesche als Bild aus der germani-
stellungsmuster aufruft, in der Mehrdeutigkeit schen Mythologie, der Baum, der die ganze Welt
der Bezüge, dem Verzicht auf tatsächliche inhalt- hält, die Wurzel allen Lebens also. Damit verbin-
liche Ausführung des Themas und den the- den sich schlagartig Gegenwart und ferne Ver-
matisch zunächst ganz fernliegenden darstelleri- gangenheit zu der existentiellen Erfahrung eines
schen Mitteln zugleich aber ins Unsichere, weltgeschichtlichen Zusammenhanges, eines We-
Rätselhafte, also in die Irritation und nicht Be- ges (das Bild stellt auch inhaltlich einen sich zum
kräftigung der gewohnten Begriffe hineinführt. Horizont verlierenden Weg vor), der Verlust und
Man gewinnt den Eindruck, dass Kiefer vielmehr Auftrag zugleich beinhaltet: Der Moment des To-
einen Weg sucht, die von ihm selbst nicht miter- des kann auch die Freiheit und den Impuls des
lebten Inhalte des kulturellen Gedächtnisses zu Neuanfangs, des ersten Schrittes aus der Verlo-
seinen eigenen biographischen Erinnerungen renheit zum Leben, von der Asche zur Esche be-
werden zu lassen, das autobiographische Ge- inhalten.
dächtnis also in die frühere, historische Zeit aus-
zudehnen und damit gedankliche Konstruktion
Bildqualität und Erinnerung
von Geschichte zugunsten einer realen Erinne-
rung zu überwinden. Die zum oder im Bild ange- Mit den Fragestellungen Anselm Kiefers ist der
brachte Schrift stellt den begrifflichen Bezug zu Ausgangspunkt der Darstellung wieder eingeholt.
einer bestimmten Zeit her – ob Nationalsozialis- Welche Bedeutung kommt dem Bild für die Erin-
mus, Bilderstreit oder Mesopotamien. Damit nerung zu? Wie wird eine Zeiterfahrung an ei-
wird eine spannungsvolle Erwartung bestimmter nem Gegenstand möglich, der zunächst reine Ge-
Bedeutungshintergründe provoziert, die nach genwart ist? Es gilt hierbei zwei Themenstellun-
Antworten verlangt. Über die angesprochenen gen zu unterscheiden. Die eine fragt nach der auf
12. Bilder 211

den Erinnerungsvorgang bezogenen Wirkung mengestellt waren, geplant waren mindestens 70


des Bildes im Entstehungsmoment, also seine Be- – zu einer von ihm »Mnemosyne-Atlas« genann-
deutung für den Künstler und seine Zeit. Dieser ten Gesamtüberschau. Diese sollte durch die un-
Aspekt wurde anhand der historischen Entwick- gewöhnlichen Zusammenführungen zu einer
lung des Bildes dargestellt. Eine andere Frage ist, vergleichenden Betrachtung führen, aus der sich
welche Rolle für uns heute aus dem zeitlichen Ab- grundsätzliche, archetypische Ausdrucksformen
stand die Betrachtung eines Bildes spielt, also in- des menschlichen Wesens ablesen ließen. War-
wieweit unser eigenes Erinnern durch ein Bild burg war schon vor der Jahrhundertwende zu der
aus viel älteren Zeiten angeregt wird. Die große Vorstellung eines europäischen Bildgedächtnis-
Chance des Bildes ist seine vorbegriffliche Un- ses gelangt (Zumbusch 2005, 78–88). Er hatte an
mittelbarkeit, seine Eigenschaft als unbearbeite- den Bildwerken der Antike bestimmte Körper-
tes Rohmaterial zu einem intensiven Wahrneh- umrissformen erkannt, die er in der Renaissance,
mungseindruck zu führen, der auch die unbe- aber auch in späteren Bildformen wiederent-
wussten Schichten des Menschen vermittelt und deckte und als »Pathosformeln« bezeichnete, die
damit zum Teil viel tiefer in eine Zeit hineinfüh- wie in einem kollektiven Gedächtnis gespeichert
ren kann als manche rationale Erklärung. Es ist schienen (s. Kap. III.16). Auf Friedrich Theodor
bemerkenswert, dass die Verarbeitung von Bil- und Robert Vischers Symbolbegriff sowie die
dern auch nicht in der Gehirnhälfte geleistet biologistische Mnemo-Theorie des Zoologen Ri-
wird, die für die Sprache zuständig ist – Bilder chard W. Semon zurückgreifend, versuchte er zu
tauchen im Gedächtnis v. a. dort auf, wohin keine zeigen, dass das zum Charakteristischen ›ver-
sprachliche Verarbeitung reicht (A. Assmann dichtete‹ Bild physiologische Prozesse im Or-
2009, 220). Zugleich besteht die Schwierigkeit, ganismus des Menschen auslöst, die ihn in ihrer
dass das Bild durch seine sinnliche Präsenz zu- aktiven bildschaffenden Tätigkeit mit den ur-
nächst keine Zeitlichkeit besitzt. Es bleibt zudem bildhaften Gesetzmäßigkeiten der Lebenswelt
in seiner Zweidimensionalität und Ausschnitt- verbinden. Im Unterschied zum Distanz erzeu-
haftigkeit ein ›Abbild‹ von der Realität, womit genden, rein kognitiven »Denkbild« ermögliche
ein scheinbar unüberbrückbarer Abgrund, eine das »Kunstbild« also »mit Körper und Willen«
Ferne zwischen Bild und Vergangenheit bestehen vorzustellen (Zumbusch 2005, 90).
muss. Wie kann eine Bildwahrnehmung beschaf- Dieses Merkmal gewährleistet dann auch, dass
fen sein, die auf die Vergangenheit gerichtet ist, sich die Erinnerung vergangener Zustände an ei-
die der individuellen Biographie vorangegangen nem Bild vollziehen kann – ein Motiv, mit dem
ist und nicht nur im metaphorischen Sinne Erin- Warburg voraussetzt, dass der heutige Mensch die
nerung auslöst? Spuren früherer Kulturen anthropologisch in sich
Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es mehrfach trage. Im 19. Jahrhundert war diese Verbindung
Versuche, Eigenschaften von Bildern zu beschrei- von innerer, biographischer Konstitution und Ge-
ben, von denen ein solcher realer Erinnerungs- schichte noch ideell aufgefasst worden. Der engli-
vorgang faktisch ausgeht. Eine zentrale Rolle sche Romantiker Charles Lamb hatte – angeregt
spielen hierbei die Arbeiten des Kunstwissen- durch seine Erinnerungen an eine illustrierte Kin-
schaftlers Aby Warburg. Er hatte zwischen 1924 der-Bibel – das Bild mit dem Traum verglichen
und 1929 ein gewaltiges Bildmaterial zur Kunst und an beiden die Sprache des Unbewussten
der Antike und der Renaissance gesammelt, die wahrgenommen. In diesen tieferen, verborgenen
ihn besonders interessierte, darüber hinaus aber Schichten des menschlichen Wesens wirke eine
auch völlig andere Materialen wie zeitgenössische Kraft, welche die Bilder hervorbringe und die er
Briefmarken, Werbegrafik oder Zeitungsbilder. »Archetypen« nennt. »Sie reichen weiter zurück
Er arrangierte über 1000 Abbildungen auf 63 als unser Körper und wurzeln – als Teil der Aus-
»Gestellen« – Tafeln, auf denen die Bilder unter stattung unserer Seele – in der Welt außermunda-
bestimmten Ordnungsgesichtspunkten zusam- ner Präexistenz« (A. Assmann 2009, 228).
212 III. Medien des Erinnerns

Verschiedene Aspekte des Ansatzes von Aby Kunstgeschichte scheinbar allein zuständig ist: in
Warburg fanden vertieft und erweitert ihre Neu- jener formbezogenen Eigenaktivität von Bildern,
formulierung. Christoph Hamann arbeitet in sei- die Geschichte nicht etwa illustriert oder doku-
nen Untersuchungen zur »Visual History« he- mentiert, sondern hervorbringt« (Bredekamp
raus, wie bestimmte Fotos (z. B. der Landeanflug 2007, 309).
auf den Flugplatz Berlin-Tempelhof 1948 von In der Antike wurden Bilder bereits systema-
Henry Ries oder S. Muchas Foto vom Torhaus tisch eingesetzt, um Gedächtnis zu schulen. Die
Auschwitz-Birkenau) durch ihre bildhaften Qua- frühe Mnemotechnik hatte offensichtlich ein
litäten zu kulturellen Gedächtnisträgern wurden, Wissen davon, was durch die moderne Lernpsy-
denen offensichtlich durch ihre Struktur eine – in chologie und die Neurobiologie heute aktuell be-
der Formulierung von Jan Assmann – »mnemi- legt ist, dass nämlich Bilder affektiv und kognitiv
sche Energie« innewohne (Hamann 2007, 49). gedächtnisbildend wirken (Bernhardt 2006, 55;
Hamann betont, dass nicht nur der Bekanntheits- Hamann 2007) Die Römer wussten auch, welcher
grad eines Bildes zu einer solchen Wirkung führe, Art die Bilder sein mussten, um in Erinnerung zu
sondern vor allem auch seine »auffällige Kompo- bleiben: Sie durften nicht gewöhnlich oder blass
sition«. Fotografien – und man kann dies durch- sein, vielmehr waren es schöne oder hässliche,
aus auch auf die Malerei übertragen –, die die markante und ins Dramatisierte gehende, letzt-
Qualität haben, zum signifikanten Ausdruck ei- lich also plastische Bilder, die wirkten. Sie muss-
ner ganzen Zeitsituation und damit Gedächtnis- ten »aktiv wirksam« sein: »imagines agentes« (A.
träger zu werden, nennt er »Schlüsselbilder«. Assmann 2009, 222; s. Kap. III.2). Nun waren
Nicht die bloße visuelle Abbildhaftigkeit ist ver- diese imagines natürlich Bilder, die aktuell vorge-
antwortlich für diese Qualität – in dieser Wen- legt wurden, um sie sich bewusst einzuprägen.
dung liegt die Überwindung der unreflektierten Die Bilder, von denen wir hier sprechen, sind nie
Überschätzung des Bildes als Anschauung von aus einem solchen Grund entstanden und wer-
Vergangenheit –, sondern die Formung des visu- den ja erst im Nachhinein zur Grundlage einer
ellen, sinnlichen Inhaltes, die erst das ›Bild‹ aus- Erinnerung nicht an Lerninhalte, sondern an his-
macht und dieses zum historischen Schlüsselbild torische Wirklichkeiten. Trotzdem bestätigt die
werden lässt. Mnemotechnik die Beobachtung, dass die Mög-
Sehr bedeutend und in unserer Fragestellung lichkeit sich anhand eines Bildes an Vergangenes
vielleicht die innovativste Formulierung ist der zu erinnern, etwas zu tun hat mit der Aktivierung
Abschlussvortrag zu dem eingangs erwähnten des Gefühlslebens sowie des »Körpers und Wil-
Historikerkongress »GeschichtsBilder« (2006) lens« (Warburg) und den Bedingungen einer sol-
von Horst Bredekamp mit dem Titel »Bild-Akt- chen Aktivierung: kompositorisch hervorgerufe-
Geschichte«. Bredekamp spricht hier ganz am ner »Triebkraft der Form« – also durch ästhetisch
Ende von der »Triebkraft der Form«. Er schildert, geleitete Anthropologie.
wie der Architekt Frank Gehry auf einem Fried-
hof in Dijon spätmittelalterliche Skulpturen sieht,
Von der Bildrezeption zur Erinnerungs-
die eine Reihe von Trauernden darstellen. An die-
produktion
sen Figuren entdeckt er eine plastische Form, die
ihn innerlich derartig im Kern seiner eigenen So sehr die zitierten Ansätze auch die Bedeutung
künstlerischen Suche trifft, dass spätere Bauten der Eigenaktivität des Bildes hervorheben, so ei-
(u. a. die DG-Bank in Berlin) davon inspiriert nig sind sie sich in einer für ihre Ergebnisse ent-
wurden. Für Bredekamp ist dieser Vorgang Aus- scheidenden Tatsache: die Beteiligung des pro-
druck eines »bildaktiven Vermögens«, »das aus duktiven Subjekts an der Erinnerung generieren-
dem Eigentrieb der Bilder eine historische Physis den Bildwirkung. Die Frage nach der Bedeutung
gewinnt. [...] Das für die Geschichtswissenschaft der Bilder als Medium der Erinnerung ist ohne
relevante Material ist dort zu lokalisieren, wo die einen Begriff des Rezeptionsvorganges nicht zu
12. Bilder 213

bearbeiten. Wenn man wissen will, inwieweit ein schriebene Rückbindung an die göttliche Welt
Bild Erinnerung auslösen kann, kommt man durch eine subtile Staffelung der Bildebenen, die
nicht umhin, die konkreten geistigen, psychi- ihr Zentrum und Höhepunkt in Maria und Chris-
schen und leiblichen Vorgänge im Prozess der tus sowie ihren unmittelbaren Umkreis finden,
Bildbetrachtung zu untersuchen. Insofern sind zum Betrachter hin aber – durch einen Vorhang
Warburgs Interesse an Wahrnehmungspsycholo- wie abgetrennt – mit historischen Figuren und ei-
gie und physiologischen Prozessen im menschli- ner architektonischen Verräumlichung immer
chen Organismus oder Hamanns aktuelle Kritik ›diesseitiger‹ und damit gegenwärtiger werden
an einem »zu wenig am Subjekt orientierten« Ge- (die Putten im Vordergrund sind dann nur noch
schichtslernen nur konsequent, und es ist symp- ironisches Zitat), so dass der Betrachter im
tomatisch, dass verschiedenste Ansätze der letz- Anschauungsprozess einen zeitlichen Vorgang
ten Jahrzehnte sich immer wieder mit der Ikono- durchläuft. Nicht selten entsteht Zeitlichkeit
graphie Erwin Panofskys auseinandergesetzt und durch Verbergen: Horst Bredekamp weist auf die
sich von ihr programmatisch abgesetzt haben: starke Wirkung der von Häftlingen aufgenom-
Panofsky hatte in seinem dreistufigen Interpreta- men Fotografien aus Auschwitz-Birkenau hin,
tionsmodell explizit auf »Inhaltsdeutung« abge- die gerade durch ihre Unschärfe entsteht (Brede-
zielt und damit Kunstrezeption als einen Akt rein kamp 2007, 304 f.), auf Richters RAF-Zyklus
begrifflich-semantischer Analyse definiert, die wurde bereits hingewiesen. Der so geschichts-
den Rezipienten und die Ganzheit seiner Ge- schwere Berliner Reichstag wurde durch Christos
fühls- und Willensregungen unberücksichtigt Verhüllung von 1995 vor allem in jenem dem
lässt. Rein begrifflich analysierend und argumen- Künstler sehr wichtigen Moment der Enthüllung
tierend bleibt der Rezipient immer in der Gegen- in einer vorher wohl kaum gekannten Intensität
wart, er schließt im besten Falle auf andere Zei- erinnert. Auch die Materialität spielt unter Um-
ten, erlebt sie aber nicht. Es ist insofern heute ständen eine große Rolle: Stroh, Holz, Erde oder
Konsens, dass der ›Gehalt‹ eines Bildes nicht Blei bei Kiefer, die Qualität des Goldauftrages
durch dieses hindurch ohne wirkungsästhetische und das rissige Holz als Untergrund der wirklich
Beobachtung als etwas »hinter ihm Liegendes« alten Ikonen (s. Abb. 2, S. 204), der Marmor einer
aufgesucht werden kann, sondern dass die Mate- griechischen Plastik im Unterschied zum Gips
rialität und Form des Bildes und die sich daran der Kopie – es gibt einen Zustand oder eine Qua-
entzündende Tätigkeit des Betrachters die Wirk- lität von Substanz, die Prozessualität ›atmet‹ und
lichkeit des Bildes ausmachen und diese erst den damit Zeit erleben lässt – viel mehr, als dies durch
Ausgangspunkt für alle pädagogischen, gesell- die oft illusionären Versuche narrativer Inhalte,
schaftlichen, politischen Konsequenzen bildet Parallelstellungen von Handlung auf einem einzi-
(Hamann 2007, 78–81; Bernhardt 2006). Das Bild gen Bild etc. möglich wird (auch bei den vervoll-
selbst kann nicht Vergangenheit und Kraft sein, ständigenden Rekonstruktionszeichnungen – so
seine Struktur kann aber den Betrachter zu der hilfreich sie für die historische Vorstellungsbil-
produktiven inneren Gebärde anleiten, die iden- dung auch sein mögen – blicken uns doch oft un-
tisch ist mit der vergangenen Realität. verkennbar aus den Augen ihrer altsteinzeitli-
Wie jeweils die kompositorische Form be- chen, griechischen oder germanischen Protago-
schaffen ist, von der eine ›Triebkraft‹ ausgeht, die nisten unsere eigenen Zeitgenossen an, die reale
Erinnerung generiert, kann nicht theoretisch be- Materialität der Quelle und ihre Lückenhaftigkeit
schrieben werden, sondern muss am einzelnen regen meist eine wesentlich intensivere Erinne-
Bild beobachtet werden. Das für den Erinne- rungsleistung und Anschauung an).
rungsvorgang so wesentliche Moment der Zeit- Über die symbolische Verdichtung des Cha-
lichkeit wird in verschiedenen Kunstwerken auf rakteristischen einer Zeit, die im Betrachter selbst
je ganz eigene Weise realisiert. Raffaels Sixtini- eine mit dieser historischen Atmosphäre ver-
sche Madonna erneuert die an den Ikonen be- wandte seelische Disposition aufruft, durch die
214 III. Medien des Erinnerns

schichte und Geschehen, Bd. 4, Stuttgart 1997) mit


gleicher illustrativer Intention eingesetzten Foto
(s. Abb. 4), dann kann in diesem Moment sehr
evident werden, wie verschieden Bildwirkung
sein kann und welche Bedeutung die angespro-
chenen Bildmerkmale für den Vorgang der Erin-
nerung haben können.

Ausblick
Mit dem Versuch, das Bild in seiner Bedeutung
für das Gedächtnis so ernst zu nehmen, dass Er-
innerung hier nicht wie sehr oft ein metaphori-
scher Begriff bleibt, sondern dass konkret ange-
schaut wird, ob und wie das Betrachten eines Bil-
des zu einer Wahrnehmung von Vergangenheit
führen kann, betritt die Forschung sehr schwieri-
ges Terrain, auf dem vieles noch Frage und Rätsel
ist – die Erkenntnisprozesse, auf die es hier an-
kommt, sind wissenschaftlich so schwer zu be-
obachten, dass sie sich einer schnellen Begriffs-
bildung entziehen.
Sehr wesentlich ist die mittlerweile konsensfä-
hige Einsicht in die Notwendigkeit, vor jeder Spe-
Abb. 3: Ausschnitt aus Hans Grundig: Wetterleuchten kulation über historische Gedächtnisarbeit, di-
über der Vorstadt (1933) daktische Zielsetzungen, gesellschaftliche Konse-
quenzen des Umgangs mit dem Bild und dessen
Identität unter Berücksichtigung der Tätigkeit
die Erinnerungsaktivität ausgelöst wird, wurde des Betrachters wahrzunehmen. Die Wirkung ei-
bereits gesprochen. Hierzu als Beispiel ein Ge- nes Bildes auf die menschliche Erinnerungstätig-
mälde des Grafikers und Malers Hans Grundig. keit kann nur thematisiert werden, wenn die in
Die sterile, anonyme Architektur und die im der Bildwahrnehmung sich abspielenden inneren
Hintergrund angedeuteten Schornsteine vermit- Prozesse des Betrachters angeschaut werden. Es
teln viel von der Einsamkeit und Kälte der mo- ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend die
dernen, industrialisierten Großstadt, die Men- sinnlich-formale Wirklichkeit des Bildes und da-
schenleere der Straße und die Verlorenheit der mit seine spezifische Wirkung in den Blick ge-
beiden Mädchen steigern diesen Eindruck noch rückt. Ästhetik wird immer mehr zu einer an-
zu einer Atmosphäre existenzieller Trostlosigkeit thropologischen Wissenschaft, die Sinnespro-
und Bedrohung (unterstrichen durch die gewitt- zesse im Zusammenhang mit dem menschlichen
rigen Blitze), die den damaligen Jahren essentiell Gesamtorganismus untersucht. Von einer sol-
zugrunde lag und die kommenden Ereignisse chen Bildwissenschaft aus ließe sich nun noch
wetterleuchtend vorweg nahm. Das Bild ist fast stärker eine Verbindung herstellen zur aktuellen
expressionistisch überzeichnet: Es ist künstleri- Erinnerungsforschung. Befragt werden müsste
sche Komposition, aber nicht instrumentell. dabei auch, ob die strikte Trennung von Biogra-
Wenn man die an ihm beobachteten Erlebnisse phie und (vorbiographischer) Geschichte auf-
vergleicht mit einem ebenfalls aus dieser Zeit rechtzuerhalten ist, wenn eine solche Bilder-
stammenden und im Schulgeschichtsbuch (Ge- kenntnis im autobiographischen Gedächtnis un-
12. Bilder 215

Abb. 4: Berlin, Linkstraße


1928

bewusste psychische Schichten auffinden könnte, täglicher Gegenwart in künstlich erzeugte Vor-
die (im Sinne hier vereinzelt angeklungener Bei- stellungswelten hinein. Bilder werden hier gera-
spiele) mit vergangenen geschichtlichen Zustän- dezu von Bildern verdrängt. Die Gleichzeitigkeit
den verwandt sind und insofern eine Grundlage der wissenschaftlichen und künstlerischen Ent-
für historische Erinnerung bilden – so dass hier deckung des bildschaffenden produktiven Sub-
die Perspektive einer Erweiterung des kulturellen jekts und der computererzeugten Bildkonstruk-
zu einem historischen Gedächtnis entstünde. tion ist eine eigentümliche Signatur unserer Zeit
Die Beantwortung der Ausgangsfrage, die und macht aufmerksam auf die gesellschaftliche
Christoph Hamann in seinen Studien zur »Visual Aufgabe, die mit einer Beschäftigung mit dem
History« angeregt hat – »wie die materiellen Bil- Bild verbunden ist. Den Missverständnissen hin-
der aus der Vergangenheit die mentalen Bilder sichtlich bildhafter Vergegenwärtigung sowie
von der Vergangenheit beeinflussen oder gar ge- bildgesteuerten politischen oder ökonomischen
nerieren« (Hamann 2007, 170) – steht noch ganz Manipulationen gegenüber kritikfähig zu werden
am Anfang und bedarf intensiver interdisziplinä- ist das eine, das andere ist es, tatsächliche Wege zu
rer ästhetischer, psychologischer, physiologischer einer persönlichen und gesellschaftlichen Erin-
und historischer Forschung. Deutlich ist aber, nerungsfähigkeit aufzuzeigen bzw. auszubilden.
dass die Vorstellungen von Erinnerung großen
Missverständnissen unterworfen sind. Es ist in Literatur
letzter Zeit eine zunehmende Aufmerksamkeit
dafür entstanden, wie bewusst es tatsächliche und Altrichter, Helmut (Hg.): Bilder erzählen Geschichte.
Freiburg i. Br. 1995.
scheinbare ›Anschaulichkeit‹ des Bildes zu unter- Arasse, Daniel: Anselm Kiefer. München 2001.
scheiden gilt. TV-, Kino-, Computerbilder und Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und
Fotografien haben mit der Vergangenheit oft gar Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses [1999].
nichts zu tun, sondern sind Verlängerungen all- München 42009.
216 III. Medien des Erinnerns

Assmann, Jan: Altägyptische Bildpraxen und ihre im- Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen
pliziten Theorien. In: Sachs-Hombach 2009, 74–103. und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig 1996.
Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes –: Von »Engeln der Geschichte« und ästhetischer Me-
vor dem Zeitalter der Kunst. München 2004. lancholie. Zur Geschichtserfahrung in der Gegen-
Bergmann, Klaus/Schneider, Gerhard: Das Bild. In: wartskunst. In: Hemken 1996, 143–155.
Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hg.): Hand- Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildtheorien. Anthropolo-
buch Medien im Geschichtsunterricht. Schwalbach, gie und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn.
Ts. 1999, 211–254. Frankfurt a. M. 2009.
Bernhardt, Markus: Verführung durch Anschaulich- Thürlemann, Felix: Ikonographie, Ikonolgie, Ikonik.
keit. Chancen und Risiken bei der Arbeit mit Bildern Max Imdahl liest Erwin Panofsky. In: Sachs-Hombach
zur mittelalterlichen Geschichte. In: Markus Bern- 2009, 214–234.
hardt/Gerhard Henke-Bockschatz/Michael Sauer Wagner, Monika: Sigrid Sigurdsson und Anselm Kiefer –
(Hg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Das Gedächtnis des Materials. In: Hemken 1996, 126–
Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. 134.
Festschrift für Ulrich Meyer zum 65. Geburtstag. Warnke, Martin (Hg.): Aby Warburg. Der Bilderatlas
Schwalbach, Ts. 2006, 47–61. Mnemosyne. Unter Mitarbeit von Claudia Brink. Ber-
Bosinski, Gerhard: Das Bild in der Altsteinzeit. In: lin 2003.
Sachs-Hombach 2009, 31–73. Weinfurter, Stefan: Sakralkönigtum und Herrschaftsbe-
Bredekamp, Horst: Bild-Akt-Geschichte. In: Clemens gründung um die Jahrtausendwende. Die Kaiser
Wischermann/Armin Müller/Rudolf Schlögl/Jürgen Otto III. und Heinrich II. in ihren Bildern. In: Hel-
Leipold: GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag mut Altichter (Hg.): Bilder erzählen Geschichte. Frei-
vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband. burg i. Br. 1995, 47–103.
Konstanz 2007, 289–309. Wettig, Sabine: Imagination im Erkenntnisprozess.
Grohé, Stefan: Erinnern als Handlung. Zu einigen As- Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der
pekten von Sigrid Sigurdssons »Vor der Stille« und Bildmedien. Eine anthropologische Perspektive. Biele-
Siah Armajanis »Sacco-und-Vanzetti-Leseraum«. In: feld 2009.
Hemken 1996, 156–168. Zumbusch, Cornelia: Der Mnemosyne-Atlas. Aby War-
Hamann, Christoph: Visual History und Geschichtsdi- burgs symbolische Wissenschaft. In: Frauke Berndt/
daktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Christoph Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols. Frei-
Bildung. Herbolzheim 2007. burg i. Br. 2005, 77–98.
Andre Bartoniczek
217

13. Film und Fernsehen tigen kultur- und gedächtnisgeschichtlichen Ein-


schnitt, den die harmlos erscheinenden Streifen
Als die ersten Kurzfilme 1896 auf Großbildlein- repräsentieren (Sklar 1994).
wänden in Vaudeville Theatern in amerikani- Dieser kurze Blick auf die Anfänge der Film-
schen Großstädten gezeigt wurden, fand dieses kultur verdeutlicht, dass die Gedächtnisge-
epochale Ereignis unter Ausschluss der US-ame- schichte des Films (und des Fernsehens) viele
rikanischen Eliten statt. Während sich die neuen verschiedene Aspekte und Perspektiven mitein-
Medien unter Arbeitern und Einwanderern so- ander verknüpft. Das Gedächtnis an Film, von
fort großer Beliebtheit erfreuten, erregten die ni- Film und im Film betrifft Technikgeschichte,
ckelodeons und penny arcades erst das Interesse Wirtschaftsgeschichte, Sozial- und Kulturge-
der Obrigkeit, als sich herausstellte, dass die sich schichte und Mediengeschichte und Medienpsy-
blitzartig ausbreitenden, dunklen und schlecht chologie. Auch über hundert Jahre nach der Er-
durchlüfteten Filmtheater der armen urbanen findung des Films ist unser Wissen in vielerlei
Bevölkerung eine weitere Möglichkeit boten, sich Hinsicht allerdings unbefriedigend. Außerdem
staatlicher Kontrolle zu entziehen. Die Kombina- gibt es besonders in den Arbeiten zur kollektiven
tion von Ignoranz und Reformeifer hat dazu ge- Erinnerung einigen Theoriebedarf, denn viele
führt, dass fast nichts über die Gefühle und Ge- Geistes- und Sozialwissenschaftler, auch jene, die
danken der ersten Filmbesucher bekannt ist und sich mit der Erforschung sozialer Gedächtnispro-
diese Wissenslücke ist auch in den folgenden zesse beschäftigen, haben sich nur zögerlich den
Jahrzehnten nie ganz geschlossen worden (Paech/ bewegten Bildern zugewendet, die uns überall
Paech 2000). umgeben.
Klar ist allerdings, dass sich die ersten Zu- Mit der schnellen Ausbreitung der Filmkultur
schauer bald aus einer breiten Angebotspalette endete ein jahrhundertelanger Trend der zuneh-
bedienen konnten. Zuerst bevölkerten Akroba- menden Verschriftlichung von kulturellen Ge-
ten, Zauberer und Dompteure die Leinwände, dächtnissen, die für die Neuzeit prägend gewesen
d. h. Künstler, die auch zuvor schon in den Vau- war (Carruthers 1990). Film und später Fernse-
deville-Theatern aufgetreten waren. Dann aber hen führten zu einem Grad der Verbildlichung
brachten die Kurzfilme Natur- und Technikwun- sozialer Gedächtnisprozesse, wie es zuletzt im eu-
der aus der ganzen Welt in die amerikanischen ropäischen Mittelalter zu beobachten war. Aber
Großstädte. Dazu gesellten sich bald geschichtli- die Re-visualisierung fand natürlich unter ganz
che Themen, erotische Unterhaltung und eine anderen Vorzeichen statt. Die neuen Leitmedien
Vielzahl von mehr oder weniger amüsanten All- sind viel dynamischer und viel demokrati-
tagsszenen. Da die Filme anfänglich von schlech- scher verfasst als ihre mittelalterlichen Vorläufer.
ter Qualität waren und sich schnell abnutzten, Film und Fernsehen erfüllen so einen alten
verfielen die Kinobesitzer auf einen Trick, der Menschheitstraum der unbegrenzten Ausdeh-
beim Publikum sehr gut ankam und die Essenz nung menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit und
des neuen Medienzeitalters verdeutlicht. Sie be- im Falle des Fernsehens ist diese mediale, quasi-
schleunigten oder verlangsamten die Abspielge- koloniale Besitzergreifung der Welt auch noch
schwindigkeit und ließen den Film auch schon mit einer kurzschlussartigen Verschränkung von
mal in Gegenrichtung laufen, so dass Lokomoti- Öffentlichkeit und Privatsphäre verbunden, die
ven rückwärts über die Leinwand rasten und den Zuschauern vor dem heimischen Bildschirm
Schwimmer mit den Füssen zuerst aus den Fluten die Möglichkeit geben, auf virtuellen Pfaden die
tauchten. So boten schon die ersten 90-Sekunden Welt zu erobern, ohne sich um gesellschaftlichen
Filme die Illusion unbegrenzter menschlicher Regeln außerhalb der Familie scheren zu müssen.
Macht über Zeit und Bewegung. Die mit dieser Alison Landsberg spricht in diesem Zusammen-
Illusion verknüpften Gefühle erklären den Erfolg hang von prothetischem Gedächtnis und betont
des neuen Mediums und verdeutlichen den wich- die Fähigkeit von Film und Fernsehen, Empa-
218 III. Medien des Erinnerns

thiegefühle und Identifikationsprozesse in Gang oder weniger überschneidende Mediengenerati-


zu setzen, die kulturelle und geschichtliche Gren- onen, die wichtige Medienereignisse wie z. B. das
zen überschreiten (Landsberg 2004). Ende des Zweiten Weltkriegs oder die Krönung
Das Konzept des prothetischen Gedächtnisses von Elizabeth II. in der Erinnerung immer mit
ist besonders deshalb eine wichtige Ergänzung bestimmten Gruppenerfahrungen verbinden.
für die Begriffswelt der Gedächtnisforschung, Die Bedeutung der neuen Medienrituale für mo-
weil der noch recht neue Forschungszweig zwar derne, sich rasch säkularisierende europäische
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Gesellschaften wurde auch gerade von zeitgenös-
Hochzeiten zentral organisierter visueller Distri- sischen Kritikern der neuen Medien herausge-
butionsmedien wie Film und Fernsehen entwi- strichen, die den quasi-religiösen Charakter der
ckelt worden ist, aber den besonderen Eigen- Pilgergänge in die Lichtspielhäuser und des Fern-
schaften und der Dynamik dieser Medien nur sehaltars im Wohnzimmer bedauerten.
bedingt Rechnung trägt. Konzepte wie Erinne- Aus der heutigen Perspektive wird dabei deut-
rungsort (s. Kap. III.9) oder kulturelles (s. Kap. lich, dass die Popularität vieler ganz spezifisch
II.3) und kommunikatives Gedächtnis (s. Kap. moderner Erfahrungskonzepte erst als Resultat
II.4) sind bei der Analyse von film- und fernseh- eines historisch einmaligen Zusammenwirkens
gestützen Erinnerungsprozessen hilfreich, aber von zentral kontrollierten, sehr attraktiven visu-
diese Konzepte sind nicht in der Auseinanderset- ellen Medienangeboten einerseits und stabilen
zung mit diesen Medien entstanden und eignen gesellschaftlichen Rezeptionsmustern andrerseits
sich nur bedingt dazu, die besondere Wirkungs- entstehen konnten. So ist z. B. die emotionale und
macht der bewegten und bewegenden Bilder zu intellektuelle Plausibilität der Idee von gesell-
erfassen. schaftlichem Fortschritt ein medial produzierter
Gedächtniseffekt, denn die klare Abfolge von
unterschiedlichen, aber kompatiblen und auf-
Die Konstruktion von Zeit oder das Ende
einander aufbauenden Medientechnologien und
der Moderne
Benutzungsritualen, die sich im Laufe eines
Im Prinzip ist der Einfluss von Film und Fernse- Menschenlebens entfalten, ist eine essentielle Vo-
hen auf Gedächtnis- und Identitätsbildung mit raussetzung für die Wahrnehmung eindeutiger
den Funktionen anderer Medien, wie z. B. von Li- chronologischer Erfahrungsparameter, an denen
teratur, vergleichbar (s. Kap. III.10, IV.4). Aller- ein Konzept wie ›Fortschritt‹ überhaupt erst ge-
dings haben visuelle Medien insbesondere in der messen werden kann.
ersten Phase ihrer Verbreitung einen stark im- Die Gedächtnisgeschichte von Film und Fern-
mersiven Charakter und ein besonderes emotio- sehen unterscheidet sich zudem prinzipiell von
nalisierendes Potential, das den Gedächtnishaus- der Benutzungsgeschichte anderer moderner
halt von Menschen in ganz verschiedener Weise Verbreitungsmedien, weil die Konsumenten der
prägt. So erinnern sich die Benutzer von visuel- bewegten Bilder sich auch noch nach vielen Jah-
len Medien z. B. besonders gut an die sozialen Ri- ren an die Medienapparatur selbst erinnern. Ri-
tuale, die mit neuen Technologien verbunden tual, Apparatur und Inhalte gehen in der nach-
waren: die mehrstündigen Familienausflüge in träglichen Betrachtung eine enge Verbindung
die Lichtspielhäuser, die in den 1940er Jahren den ein. Während aurale Medientechnologien wie
Höhepunkt vieler Arbeiter- und Mittelschichts- z. B. das Radio in der Medienkonkurrenz in der
wochenenden darstellten; die mit wichtigen Frei- Erinnerung in den Hintergrund treten, ist Film
räumen verbundene Zweisamkeit in den Kinos und Fernsehen, zumindest in der Form, in der sie
der Nachkriegsjahre; und der in streng patriacha- im 20. Jahrhundert benutzt wurden, eine Erinne-
lischem Rahmen organisierte familiäre und nach- rung an die eigene Medialität eingeschrieben. So
barschaftliche Fernsehkonsum der 1960er Jahre. waren für viele Zeitgenossen das Ende des Zwei-
Diese Rituale prägten verschiedene sich mehr ten Weltkriegs und der Abwurf der Atombomben
13. Film und Fernsehen 219

über Hiroshima und Nagasaki Wochenschau- ten scheinen demnach einem Geschichtsbewusst-
ereignisse, über die sie im Kino besonders ein- sein zu entsprechen, das eher durch Gleichzeitig-
drucksvoll unterrichtet wurden und die sie im keit als durch Sequenzialität geprägt ist und für
Nachhinein immer mit dieser Kinoerfahrung in das Vorstellungen wie ›Fortschritt‹ wenig aussa-
Zusammenhang brachten. gekräftig sind (Volkmer 2006).
Die enge und relativ stabile Verschränkung Dabei ist die Auflösung chronologisch eindeu-
von Ritual, Technik und Erinnerung scheint sich tiger Zeit- und Gedächtnisstrukturen, die sich im
allerdings in heutigen multimedialen Medienkul- multi-medialen Spiel aufzeigen lässt, gerade nicht
turen schnell aufzulösen. Das liegt sicherlich das Resultat einer deutlich empfundenen Me-
nicht daran, dass digitale visuelle Medien ihren dienrevolution, die analoge von digitalen Me-
Benutzern nicht genügend immersiven Zeitver- dientechnologien trennt, sondern einer medialen
treib bieten. Das Gegenteil ist der Fall. Compu- Unübersichtlichkeit, die sich durch vielfältige
terspiele und andere interaktive digitale Erleb- Überlagerungs- und Remedialisierungseffekte
niswelten sind konventionellen analogen visuel- auszeichnet. Klare Kontinuitäten zwischen alten
len Medien in Bezug auf die überzeugende und neuen Medien lassen sich dabei z. B. für die
Simulation alternativer narrativer Welten weit Darstellung von Zeit in den Medien feststellen.
überlegen und diese Tendenz wird sich im Kon- Die Zeitkonstruktionen in vielen digitalen inter-
text technischer Entwicklungen auf absehbare aktiven Medien orientieren sich sehr stark an den
Zeit noch verstärken. Die Auflösung stabiler Vorbildern Film und Fernsehen. In beiden Fällen
Technik-Ritual-Erinnerungskonstellationen ist überwiegen konventionell ausgerichtete symboli-
vielmehr ein Resultat zunehmend flexibler und sche Zeitregime und finden sich nur selten Expe-
dezen-traler kultureller Produktions- und Re- rimente, die die systematische Erzeugung chro-
zeptionskreisläufe. Die Internet-Generation, die nologischer Ambivalenz verfolgen. Die effektive
sich mit großer Selbstverständlichkeit in multi- Verständigung zwischen Medium und Zuschauer
medialen Kulturen bewegt, ist sich der Medialität erfolgt über die konfliktfreie Darstellung von Zeit
ihrer Erinnerungen sehr bewusst, aber kann diese und Gedächtnis, die über flashbacks und andere
Erinnerungen nicht auf bestimmte Verbreitungs- eindeutige visuelle Zeichen in sehr homogene
techniken und konkrete soziale und historische Bahnen gelenkt wird. Visuelle Texte, die die Kon-
Kontexte zurückführen, weil Medienkonsum zeit- trolle über Zeit aufgeben, sind offensichtlich für
gleich auf vielen verschiedenen Kanälen abläuft viele Medienkonsumenten unattraktiv, weil sie
und die alltäglichen gesellschaftlichen Formen gerade dieses Gefühl der Kontrolle schätzen.
der Aneignung von Medieninhalten schnellen Trotz dieser Kontinuitäten hat sich die Konstruk-
Veränderungen unterworfen ist (s. Kap. III.15). tion von Zeit über die Jahrzehnte erheblich ver-
Durch die Benutzung globaler, digitaliserter, ändert. Das gilt z. B. für den zunehmend komple-
plurimedialer Informations- und Unterhaltungs- xen Zeitbegriff im Kino der Nachkriegszeit und
netzwerke scheinen also die Zeit- und Raumko- für experimentelle Traditionen in Film und Fern-
ordinaten an Bedeutung zu verlieren, die die kol- sehen (Rüffert 2004). Außerdem hat der kumula-
lektive Erinnerung in der Moderne strukturiert tive Konsum konventioneller Erzählungen auf
haben. Das wird z. B. dadurch deutlich, dass die vielen Medienkanälen offensichtlich einen radi-
Mitglieder der Internetgeneration eine sehr le- kalisierenden Effekt, der dann auch wieder Ge-
bendige Erinnerung an die Medienereignisse be- genstand filmischer Reflektion werden kann, wie
sitzen, die sie konsumiert haben, dass sie aber im die Filmbeispiele Momento (Christopher Nolan,
Gegensatz zu ihren durch Film und Fernsehen USA 2000) oder Matrix (Andy und Larry Wa-
geprägten Eltern und Großeltern diese Medien- chowski, USA/Australien 1999) verdeutlichen.
ereignisse schon nach kurzer Zeit nicht mehr in Auf der Suche nach Zeitkonzepten, die dieser
eine klare chronologische Struktur überführen Unübersichtlichkeit gerecht werden können,
können. Die heutigen medialen Erfahrungswel- stößt man schnell auf Vorbilder, die aus morali-
220 III. Medien des Erinnerns

schen Gründen erhebliche Probleme bereiten, die rem Interesse sind, auch in der akademischen
aber einige phänomenologische Parallelen auf- Forschung besondere Beachtung erfahren haben
zeigen. Das Bemühen um alternative, nicht-mo- (de Valck/Hagener 2005).
derne Konzepte sozialer Zeitparameter ist in der Cinophile Netzwerke können sowohl konse-
Erforschung von kollektiven Gedächtnissen an quent privatwirtschaftlich organisiert und ästhe-
Genozid und Menschrechtsverletzungen beson- tisch populär ausgerichtet sein wie z. B. Holly-
ders weit entwickelt, weil Überlebende- und Hin- wood oder alternative Finanzierungsstrategien
terbliebenengemeinschaften oft auf einer Art und ästhetische Prinzipien verfolgen. Man denke
Traumazeit beharren, die sich gegen chronologi- in diesem Zusammenhang z. B. an die anti-Holly-
sche Beschwichtigungen sperrt und erhebliches wood und anti-Ufa/Goebbels Ästhetik des Neuen
politisches Widerstandspotential freisetzen kann Deutschen Films, der sich kommerziellem Druck
(Bevernage 2009). Die politischen Widerstands- weitgehend entziehen konnte, aber dadurch nur
handlungen von Überlebenden und die multime- für eine kleine, transnational ausgerichtete Kon-
diale Spielfreude der Internet-Generation, die sumentengruppe von Interesse war. Gerade das
durch Welten getrennt sind, scheinen darin über- Beispiel des Neuen Deutschen Films verdeutlicht,
einzustimmen, dass sie mit klassischen moder- dass sich das Gedächtnis von Film, das auf der
nen Zeitvorstellungen schwer zu fassen sind. Produktionsseite besonders gepflegt wird und se-
lektiv Sponsoren und Konsumenten mit ein-
schließt, im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr stark
Die Konstruktion von Raum oder
internationalisiert hat. Dabei fällt auf, dass das
das Ende der Nation
transnationale Potenzial des Mediums ›Film‹ sich
Die Erinnerung an Rezeptionsrituale und Me- erst langsam entwickelt hat. Am Anfang des 20.
dienapparaturen in Film und Fernsehen wird er- Jahrhunderts waren Symbolsprache und Produk-
möglicht durch und überschneidet sich mit einer tionsgemeinschaften noch stark auf nationale
Reihe mehr oder weniger kommerziell ausgerich- Traditionen und Kommunikationsräume ausge-
teter Verwertungskreisläufe, die oft auch institu- richtet. Am Ende des Jahrhunderts können Pro-
tionell verankerte Gedächtnisstrukturen bedie- duktionsteams oft nicht mehr eindeutig national
nen. Das gilt zum Beispiel für die sehr selektiven verortet werden und Filmfestspiele und Preisver-
Wiederholungen von etablierten Filmen, die leihungen in Cannes, Los Angeles und anderswo
durch die Kategorie des Filmklassikers vermark- sind nicht mehr die internationalen Treffpunkte
tet werden und das sorgfältige Recycling von nationaler Filmgrößen sondern die emotionalen
Genreversatzstücken, die sich an den visuellen Fixpunkte und Gedächtnisorte einer transnatio-
Codes und narrativen Konventionen des jeweils nalen Medienelite.
letzten Blockbusters orientieren (Grainge 2003). Viele Konsumenten mögen ihren Stars bei de-
Gerade in Zeiten semiotischen Überflusses bie- ren transnationalen Gemeinschaftserlebnissen
ten solche verschiedenen Formen der Retrospek- medial Gesellschaft leisten, obwohl sich ihre ei-
tive den Zuschauern und den Medienmachern genen Alltagsidentitäten und -gedächtnisse stär-
eine visuelle Heimat, die sich explizit z. B. durch ker an nationalen und regionalen Orientierungs-
erfolgreiche Kommunikation über die Genialität punkten ausrichten. Aber gerade auch für diese
bestimmter Filmautoren und die Zitatenflut etwa Konsumentengruppe bieten Film und Fernsehen
des letzten Tarantino-Streifens generiert. Dabei eine kulturelle Dienstleistung, die jeden nationa-
sind Medienmacher und ihre mehr oder weniger len Rahmen sprengt. Gerade die Verschränkung
gut organisierten und integrierten Fangemein- von kommerziellen Verwertungskreisläufen mit
schaften sicherlich in gleichem Maße von der Gruppenritualen und -identitäten übersetzt me-
Filmgeschichte fasziniert und es ist deshalb nicht diale Überproduktion in ein erstaunlich stabiles
verwunderlich, dass die Aspekte der Filmge- und sich sehr schnell reproduzierendes transna-
schichte, die für diese Netzwerke von besonde- tionales Inventar von Standarderzählungen und
13. Film und Fernsehen 221

ikonographischen Bildern. Für viele Medienbe- 1973) über Dallas (CBS 1978–1991) bis zu Gute
nutzer steht zum Beispiel das Foto vom weinen- Zeiten, Schlechte Zeiten (RTL 1992–) besteht in
den, nackten Mädchen, das einen Napalmangriff der verlässlichen Wiederkehr des Immergleichen,
überlebt hat, für den Vietnamkrieg. Zudem ist das in endlosen Variationen auf dem Bildschirm
auch die Masse der Nicht-Experten so gut über erscheint und dem Alltag einen stabilen Rahmen
Filmsprache informiert, dass sie kurzfristig und gibt, aber gleichzeitig auch phantasiebehaftete
kurzweilig in den Bilderstrom eintauchen kön- Freiräume schafft (Spence 2005). Zum anderen
nen, der ihnen über Äther, Kabel und Internet erinnern sich Zuschauer an große, scheinbar ein-
ins Haus geliefert wird. Die visuellen und narrati- malige Medienereignisse, die sie vielleicht sogar
ven Grammatiken von verschiedenen Film- und live am Bildschirm miterlebten und die ganze
Fernsehgenres sind so unterschiedlich und in der Generationen in ihren Bann geschlagen haben.
Erinnerung so fest verankert, dass Zuschauer oft Aber diese vermeintlich so einzigartigen Vor-
schon nach wenigen Sekunden erkennen, ob sie kommnisse wie z. B. die Mondlandung, die Er-
sich einem Krimi, einer Liebesgeschichte oder ei- mordung von Präsident Kennedy, der Fall der
nem Stück ernster Unterhaltung zugeschaltet ha- Berliner Mauer, der tödliche Unfall von Prinzes-
ben. sin Diana, oder 9/11 folgen sowohl auf der Pro-
Neben vielen anderen kulturellen Entwick- duktions- wie auf der Rezeptionsseite klaren Ge-
lungsprozessen, die durch Film reflektiert wer- setzmäßigkeiten, die auch das größte Mediener-
den, repräsentieren die verschiedenen Kommu- eignis letztendlich als positives und negatives
nikationskreisläufe über Film und auch die Filme Abbild einer dominanten Nachrichtenstruktur
selbst also ein wichtiges kulturelles Gedächtnis kennzeichnen. Fernsehnachrichten konzentrie-
über die diskursive Konstruktion von Nation und ren sich auf unerwartete, negative Ereignisse, die
deren schrittweise Auflösung. All diese kulturel- Mitglieder sozialer Eliten betreffen und für privi-
len Wechselbeziehungen machen Film und Fern- legierte Gesellschaften, die intensiv Medien kon-
sehen zu idealen Schaltstellen zwischen individu- sumieren, von großem Interesse sind. Nachrich-
eller und kollektiver Erinnerung. Im Extremfall ten sind eindeutige, stark personalisierte Ge-
geht das soweit, dass sich die ganze Biographie ei- schichten, die wie eine TV-Soap über einen
nes Menschen auf offensichtlich sehr befriedi- langen Zeitraum ausgestrahlt und eingeübt wer-
gende Art und Weise über einen einzigen Film in den. Die Bedeutung und das Erinnerungspoten-
gesamtgesellschaftliche Interpretationsprozesse tial eines Medienereignisses werden in endlosen
einschreiben lässt, wie Marc Augé (2009) das im Schleifen von Wiederholungen und Zitaten kon-
Hinblick auf den Klassiker Casablanca (Michael struiert, die sich schrittweise auf einige spektaku-
Curtiz, USA 1942) demonstriert hat. läre ikonographische Bilder beschränken: 9/11
verdichtet sich im Filmclip, der zeigt, wie das
zweite Flugzeug in den zweiten Turm des World
Fernsehgedächtnisse oder das Ende
Trade Centers einschlägt (Volkmer 2006).
der Kleinfamilie
Die Strukturen der Fernsehnachrichten reflek-
Die Erinnerung an Medieninhalte, insbesondere tieren sicherlich zum Teil Konsumentenwünsche.
Fernsehinhalte, spielt sich in einem dialektischen Trotzdem wird über die Relevanz und insbeson-
Spektrum vermeintlich gegensätzlich konstruier- dere die Erinnerungswürdigkeit von Fernsehpro-
ter Geschichten ab. Zum einen erinnern sich grammen in erster Linie nicht in den Sendean-
Fernsehkonsumenten an die narrativen Welten stalten entschieden, sondern auf der Fernseh-
ihrer Lieblingsserien, die sie in gewissen Phasen couch. Die Bedeutung von Medienereignissen
ihres Lebens zum Teil mit großer emotionaler wird kommunikativ im sozialen Umfeld der Zu-
Anteilnahme in wöchentlichen oder sogar tägli- schauer bestimmt und unterliegt je nach aktuel-
chen Abständen verfolgt haben. Die Attraktivität ler Bezugsgruppe nachträglichen Um- und Über-
der Serien und Soaps von Bonanza (NBC 1959– schreibungen. Im klassischen Fernsehzeitalter
222 III. Medien des Erinnerns

waren Eltern und besonders Väter privilegierte mimetischen Qualitäten des Mediums lösen auch
Sinnspender, da sie das Programm auswählten in unterschiedlichen Kontexten sehr vergleich-
und oft auch die Rolle des Kommentators über- bare Reaktionen und intensive Affekte aus, die in
nahmen. In Zeiten individualisierten Fernseh- einer stark psychoanalytisch und materialistisch
konsums und multimedialer, digitaler Kommu- ausgerichteten Filmforschung bisher erstaunlich
nikation, die neue Bezugsgruppen schafft und wenig Beachtung erfahren haben. Jede Genera-
Generationsschranken errichtet, sind Sozialisa- tion setzt sich z. B. bewusst oder unbewusst aufs
tions- und Politisierungsprozesse in noch größe- Neue der panikerzeugenden Filmsprache von
rem Maße medial bestimmt, aber gleichzeitig Horrorklassikern wie Psycho (Alfred Hitchcock,
dem Kommunikationsraum ›Familie‹ entzogen. USA 1960), Rosemarie’s Baby (Roman Polanski,
Die Krise der Kleinfamilie ist also eine Erinne- USA 1968) oder Halloween (John Carpenter, USA
rungskrise, denn die familiäre Kommunikation, 1978) aus. Die individuelle Erfahrung oft schon
die von Facebook und Twitter verdrängt wird im Kindesalter medial induzierter Angst wird zu
und nicht durch das attraktive oder zumindest einem späteren Entwicklungsstadium in puber-
unvermeidbare Zentralmedium ›Fernsehen‹ re- täre und postpubertäre Mutproben und Balzri-
flektiert und verstärkt wird, gerät schnell in Ver- tuale überführt. Ganze Produktionszweige der
gessenheit. Der traditionellen Kleinfamilie, die Filmindustrie scheinen keine andere Aufgabe zu
von und durch das Fernsehen besonders zele- haben, als die philogenetisch angelegte Suche
briert wurde, kann bald wohl nur noch in Fern- nach geschlechtlicher Identität medial zu unter-
seharchiven gedacht werden. Während in den stützen. Filmen ist also auch eine Art physiologi-
1970er Jahren auch die schärfsten medialen An- sches, menschheitsgeschichtliches Gedächtnis
griffe auf kleinbürgerliches Spießertum (Ein Herz eingeschrieben, das sich über viele Generationen
und eine Seele, WDR 1973–1974) dem ideologi- erstreckt und nachhaltige und z. T. völlig unbe-
schen Konstrukt ›Kleinfamilie‹ in letzter Konse- wusste Denk- und Verhaltensmuster transpor-
quenz nicht entkommen konnten, belegt auch ein tiert (Plantinga 2009).
oberflächlicher Ausflug in die gegenwärtige nar- Die besonders enge Beziehung zwischen dem
rative Welt von Lindenstraße (WDR 1985–) und Horrorgenre und der Reproduktion von Ge-
Rote Rosen (ARD Degeto 2007–), dass aktuelle schlechterrollen ist in dieser Hinsicht nur die
Fernsehprogramme sich in Anlehnung an tat- Spitze des Eisberges, denn ähnliche, wenn auch
sächliche Rezeptionsmodelle schon längst von in vielerlei Hinsicht flexiblere Kommunikations-
der Enge herkömmlicher Vater-Mutter-Kind-Ge- schleifen prägen natürlich auch die gesellschaftli-
schichten befreit haben. che Antwort auf andere biologisch vorgegebene
Herausforderungen. Visuelle Medien werden
auch dazu eingesetzt, Menschen mit Erkrankun-
Mimetische Lust oder das Ende der Kindheit
gen wie Alzheimer therapeutisch zu behandeln.
Die Konzipierung von medialer Gedächtnisge- Durch den freien Umgang mit Zeit und Raum
schichte als Kommunikationsgeschichte, die sich können Film und Fernsehen außerdem die
über viele Kollektive und Netzwerke erstreckt, Freude an mimetischer Nachahmung besonders
lässt sich gut mit dem Instrumentarium der Ge- effektiv für die Herstellung gruppenkonformen
dächtnisforschung vereinbaren, die die Kon- Verhaltens einsetzen. Film ist auch in dieser Hin-
struktion von Identität durch zwischenmenschli- sicht ein Gedächtnis (menschheits)geschichtli-
che und medialisierte Kommunikation betont. cher Normalität sowie von Normalisierungsbe-
Allerdings besteht die Gefahr, dass man bei der wegungen.
Analyse der Kommunikation über Film die Kom-
munikation mit dem Film aus dem Auge verliert.
Filmrezeption findet sicherlich nie in einem ge-
sellschaftsfreien Raum statt, aber die besonderen
13. Film und Fernsehen 223

Rezeptionsforschung oder das Ende nicht gerecht werden, die Sprachwissenschaftler


der Spekulation? und Historiker heute mit der gleichen Liebe zum
Detail rekonstruieren, mit der sie in der Vergan-
Wie die bisherigen, theoretisch angelegten Aus- genheit klassische Bildungsromane und diploma-
führungen verdeutlichen, ist es oft einfacher fest- tische Depeschen analysiert haben. Außerdem
zustellen, was Kollektivgedächtnisse nicht sind, befürchten Kulturhistoriker, dass die kleinschrit-
als treffsicher zu formulieren, was ein Erinne- tige Arbeitsweise der empirischen Rezeptionsfor-
rungsereignis im Kern eigentlich ausmacht. Das schung nur bedingt Aussagen über reale Rezepti-
gilt besonders für den Themenkomplex ›visuelle onsprozesse zulässt. Die qualitativen Kulturfor-
Medien und Erinnerung‹. So sollte sich die Erfor- scher sind z. B. von den sehr widersprüchlichen
schung von Kollektivgedächtnissen z. B. in erster Ergebnissen der scheinbar endlosen Forschungs-
Linie nicht auf Medieninhalte beziehen, sondern reihen über die Auswirkungen von Gewaltdar-
sich mit der Frage beschäftigen, wie Medienbe- stellungen in den Medien eher verwirrt und fin-
nutzung bewusste und unbewusste kollektive Er- den nur schwer Anknüpfungspunkte für ihre
innerungsprozesse beeinflusst. Es geht uns nicht eigene Forschung (Trend 2007). Medienpsycho-
darum, eine Kulturgeschichte der Mediengesell- logen und Kommunikationswissenschaftler an-
schaft zu schreiben, sondern festzustellen, wie dererseits erscheinen die einschlägigen Medien-
sich Menschen in der Kommunikation mit und kulturgeschichten ähnlich nutzlos, weil sie die
über Medien ihrer eigenen Identität versichern. Rezeptionsfrage weitgehend ausklammern und
Die knappe Formel ›Darstellung und Gebrauch‹ sich überhaupt nicht um objektive, sprich quanti-
scheint die Forschung aber vor große Herausfor- fizierbare Daten zu bemühen scheinen. Das führt
derungen zu stellen, und das wird bei der Ausein- dann zu der merkwürdigen Situation, dass alle
andersetzung mit visuellen Medien besonders Welt von der Bedeutung visueller Medien für die
deutlich. Das 20. Jahrhundert hat zu einer explo- Evolution von Kollektivgedächtnissen redet, aber
sionsartigen Vermehrung visueller Datenträger ein konstruktives interdisziplinäres Gespräch, ge-
geführt, und schon deshalb ist zu vermuten, dass schweige denn eine interdisziplinäre Zusammen-
Film, Fernsehen und digitale Medien eine ent- arbeit, bisher nur selten stattgefunden hat und
scheidende Rolle in der Reproduktion sozialer die Konstruktion von Kollektivgedächtnissen im
Erinnerung spielen. Nichtsdestoweniger wissen gesellschaftlichen Medienalltag ein weitgehend
wir herzlich wenig über die Verfertigung von unerforschtes Terrain geblieben ist.
Kollektivgedächtnissen beim Kinobesuch, Fern-
sehgucken und Videospielen. Das liegt sicherlich
Geschichte in Film und Fernsehen oder das
daran, dass dieses Wissen objektiv schwer zu be-
Ende des Holocaust
schaffen ist, aber unsere Wissenslücke hat auch
viel damit zu tun, dass genau zwischen Darstel- Die Sprachlosigkeit in Sachen Rezeptionsfor-
lung und Gebrauch eine wissenschaftliche Grenz- schung lässt sich gut an Veröffentlichungen über
linie verläuft, die im Forschungsalltag offensicht- die Darstellung von Geschichte in den Medien
lich nur schwer zu überwinden ist. verdeutlichen. Die einschlägigen Forschungspro-
Viele Medieninhalte werden mittlerweile mit jekte haben mittlerweile einen beeindruckenden
großem Eifer von Kulturhistorikern und anderen Umfang erreicht und bieten bedeutende Einsich-
Geisteswissenschaftlern erforscht, während die ten in die Inhalte von Mediendiskursen, auch ge-
Analyse von Medienrezeptionsprozessen haupt- rade bezüglich der deutschen Erinnerungskultur.
sächlich in sozialwissenschaftlichen Laborunter- Aber diese Forschungstradition wird wichtigen
suchungen stattfindet. Aus geisteswissenschaftli- Fragestellungen der Gedächtnisforschung trotz-
cher Perspektive betrachtet, sind diese Laborun- dem in zweierlei Hinsicht nicht gerecht. Film und
tersuchungen suspekt, weil sie der visuellen und Fernsehen sind für viele Menschen die wichtigs-
diskursiven Komplexität von Kulturprodukten ten Medienquellen, aus denen sie ihr Wissen über
224 III. Medien des Erinnerns

die Welt beziehen, aber das Genre ›Zeitge- schichte und in den Filmwissenschaften entstan-
schichte‹ spielt in diesem Zusammenhang nur den, wobei hier Medieninhalte im Mittelpunkt
eine untergeordnete Rolle. Das gilt auch für die standen, die von besonderer politischer Relevanz
Jahre des NS-Geschichtsbooms, dessen Bedeu- sind. Deshalb ist z. B. die Darstellung von Natio-
tung von Gedächtnisforschern gerne betont wird. nalsozialismus und Holocaust in Film und Fern-
Außerdem begnügen sich viele Studien mit einer sehen schon relativ gut erfasst. Während die ers-
Analyse der Inhalte von Geschichtssendungen ten Forschungsentwürfe gerade im Fernsehbe-
und geben wenig Auskunft über die Frage, wel- reich eine relativ grobe Rasterung inhaltlicher
che Rolle diese Darstellungen im Gedächtnis- Strukturen boten (Classen 1999), ist in den letz-
haushalt ihrer Benutzer spielen. ten Jahren die Analyse der Bildsprache in den
Insgesamt existieren vier wissenschaftliche Vordergrund gerückt, z. B. in Hinsicht auf die
Traditionen, die sich für die Erforschung des Ge- ästhetische Ausgestaltung von Zeitzeugenschaft
brauchs von visuellen Geschichtsdarstellungen (Keilbach 2008). Auf der Basis solcher in erster
einsetzen lassen, obwohl dieses Ziel bisher nicht Linie an Medieninhalten orientierten For-
im Mittelpunkt dieser Forschungszweige gestan- schungsprojekte sind erste Spekulationen ange-
den hat. Das gilt zuerst einmal für die geisteswis- stellt worden über die vermeintlich problemati-
senschaftlichen Gedächtnisforscher selber, unter schen politisch-psychologischen Folgen von po-
denen sich nach mehreren Jahrzehnten ange- pulärem Dokutainment (Kansteiner 2006) und,
strengten Nachdenkens über kommunikative ein sehr viel wichtigeres Thema, über die potenti-
und kulturelle Gedächtnisse die Einsicht verbrei- ell aufklärerische Wirkung transnationalen, glo-
tet hat, dass die Auswirkungen von Medienbe- balisierten Geschichtskonsums (Levy/Sznaider
nutzung auf die Inhalte und Formen von Kollek- 2001; Landsberg 2004).
tivgedächtnissen mehr Aufmerksamkeit verdie- Filmwissenschaftler hatten natürlich mehr Zeit
nen als das bisher der Fall war (vorbildlich in und Gelegenheit, sich mit Geschichtsfilmen zu
dieser Hinsicht Erll/Wodianka 2008). Ein ande- beschäftigen, und einschlägige Untersuchungen
rer Forschungszweig, der sich schon lange, z. T. in decken ein weites Themenspektrum ab, das vom
relativer Isolation mit Geschichtsvermittlung im Römischen Reich übers Mittelalter bis in die Ge-
Alltag beschäftigt, ist die Geschichtsdidaktik. Di- genwart reicht (z. B. Burgoyne 2008). Der zeitli-
daktiker konzentrieren sich auf die Frage, wie che Vorsprung der Filmwissenschaften erwies
sich Geschichtsunterricht in der Mediengesell- sich allerdings nicht immer auch als ein kon-
schaft behaupten kann, und zu diesem Zweck zeptioneller Vorsprung. Die Fernsehprogramm-
werden auch konkrete empirische Projekte ver- geschichtsschreibung hat von Anfang an den se-
folgt, z.B bezüglich der Frage, wie sich der Kon- riellen Charakter des Mediums betont und war
sum populärer Geschichtsfilme auf das Ge- deshalb immer anschlussfähig an Forschungs-
schichtsbewusstsein von Schülern auswirkt und projekte, die sich mit den inhaltlichen Struk-
ob sich solche Filme produktiv im Unterricht ein- turen von Kollektivgedächtnissen beschäftigen
setzen lassen (Baumgärtner/Fenn 2004). Außer- (Hickethier 1998). In den Filmwissenschaften
dem hat die verspätet eingesetzte akademischen spielen dagegen traditionelle Kategorien wie
Diskussion über Geschichtsfernsehen auch einige ›Regisseur/Autor‹, ›Genre‹, ›Kanon‹ und ›Werk‹
quantitative Rezeptionsforscher an das Thema eine wichtige Rolle, so dass die Forschung hier
herangeführt, die wichtige Analysen zur Rezep- insbesondere durch Einzelfilmanalysen vorange-
tion einzelner Filme vorgelegt haben (Hofmann trieben worden ist, und diese Forschungsstrate-
u. a. 2005). gie hat auch einen erheblichen Einfluss auf die
Die quantitativ umfangreichsten Vorarbeiten Gestaltung von Überblicksdarstellungen (Reichel
zum Themenkomplex Geschichte in den Medien 2004). Andererseits ist die Filmgeschichtsschrei-
sind aber im Rahmen des noch relativ jungen bung schon lange um transnationale Verknüp-
Forschungsgebietes der Fernsehprogrammge- fungen bemüht, beschäftigt sich zudem intensiv
13. Film und Fernsehen 225

mit der Historisierung ästhetischer Gestaltungs- spiellosen Externalisierung und Visualisierung


kategorien und hat sich zumindest theoretisch, von Kollektivgedächtnissen, die die Medienrevo-
z. B. über die Kategorie des »Spectators« mit Fra- lutionen des 20. Jahrhundert ausgelöst haben,
gen der Rezeption auseinandergesetzt. In diesem wohl erst besser verstehen, nachdem diese Medi-
Kontext sind die wenigen materalistisch-empi- enwelt im Strudel der digitalen Revolution unter-
risch ausgerichteten Studien über Zuschauerer- gegangen ist. Im Rückblick wird dann vielleicht
fahrungen und Zuschauerverhalten besonders auch deutlich werden, dass sich Produzenten und
erwähnenswert (Staiger 2000). Rezipienten der relativ homogenen Fernsehwelt
Die Ausstrahlung von Holocaust 1978/79 stand über die Darstellung des Holocaust ein Ge-
am Anfang des Memory-Booms. In gewisser schichtsbewusstsein geschaffen haben, das für
Weise kann man die Fernsehserie sogar als eine die meisten an diesen Diskursen Beteiligten zu
Art Initialzündung für die akademische Gedächt- mehr oder weniger angenehmen Rezeptionser-
nisforschung bezeichnen, weil die Forschung zu fahrungen und positiven Identitätseffekten ge-
diesem Zeitpunkt zum ersten Mal wirklich be- führt hat. Dieser kreative, aber auch erschre-
griff, wie stark kollektive Identitäten und Ge- ckende Umgang mit Mediengewalt wird sicher-
schichtsbewusstsein von visuellen Medien ge- lich nicht einmalig bleiben, aber wahrscheinlich
prägt werden. Deshalb ist es enttäuschend und nie wieder so stark auf ein einziges historisches
erstaunlich, dass der Forschungsumfang zu visu- Ereignis fokussiert sein.
ellen Geschichtsdiskursen in der Zwischenzeit
zwar gewaltige Ausmaße angenommen hat, dass
Literatur
aber die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf
dem Stand der 1970er Jahre stehengeblieben ist. Augé, Marc: Casablanca: Movies and Memory. Minnea-
Das Medienereignis ›Holocaust‹ wurde von einer polis 2009.
bunt zusammengesetzten Schar von Fachleuten Baumgärtmer, Ulrich/Fenn, Monika: Geschichte und
Film. Erkundungen zu Spiel-, Dokumentar- und Un-
bestaunt, analysiert und konstruiert, die unge- terrichtsfilm. München 2004.
fähr dem Profil der Wissenschaftler entsprechen, Bevernage, Berber: »We Victims and Survivors declare
die sich auch heute wieder an Probleme der Wir- the past to be in the present«. Time, Historical (In)jus-
kungsforschung herantasten. Allerdings sind die tice and the Irrevocable. Gent 2009.
parallelen Bemühungen von Historikern, Didak- Burgoyne, Robert: The Hollywood Historical Film. Mal-
tikern und Kultur- und Kommunikationswissen- den, Mass. 2008.
Carruthers, Mary: »The Book of Memory.« A Study of
schaftlern damals wie heute nur selten auf eine
Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990.
interdisziplinäre Kooperation angelegt, die die Classen, Christoph: Bilder der Vergangenheit. National-
Grenze zwischen qualitativer und quantitativer sozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutsch-
Forschung konsequent überschreitet. Es drängt land. Köln 1999.
sich geradezu der Verdacht auf, dass der Blick De Valck, Marijke/Hagener, Malte (Hg.): Cinephilia:
über die verschiedenen disziplinären Grenzmar- Movies, Love and Memory. Amsterdam 2005.
Erll, Astrid/Wodianka, Stephanie (Hg.): Film und kultu-
kierungen, der 1978/79 fast unvermeidbar war,
relle Erinnerung: Plurimediale Konstellationen. Ber-
schnell zu Rückzugsbewegungen in die jeweils lin/New York 2008.
angestammten Forschungsfelder geführt hat. Grainge, Paul (Hg.): Memory and Popular Film. Man-
Dieses defensive Verhalten scheint erst in den chester 2003.
ersten Jahren des 21. Jahrhunderts langsam über- Gudehus, Christian/Anderson, Stewart: Lesarten eines
wunden zu werden und zwar zu einem Zeitpunkt, Films über Geschichte. In: WerkstattGeschichte 53
in dem sich die Medienlandschaft durch die Ent- (2010, im Erscheinen).
Hickethier, Knut: Geschichte des Deutschen Fernsehens.
wicklung digitaler Medien entscheidend gewan- Stuttgart 1998.
delt hat (z. B. Gudehus/Anderson 2010; Hofmann Hofmann, Wilhelm/Baumert, Anne/Schmitt, Manfred:
u. a. 2005). Folglich werden wir die langfristigen »Heute haben wir Hitler im Kino gesehen.« Evalua-
sozialen und psychologischen Folgen der bei- tion der Wirkung des Films Der Untergang auf Schü-
226 III. Medien des Erinnerns

ler und Schülerinnen der neunten und zehnten Reichel, Peter: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Ju-
Klasse. Zeitschrift für Medienpsychologie 17,4 (2005), denmord in Film und Theater. München/Wien 2004.
132–146. Rüffert, Christine (Hg.): ZeitSprünge. Wie Filme Ge-
Kansteiner, Wulf: In Pursuit of German Memory. His- schichte(n) erzählen. Berlin 2004.
tory, Television and Politics after Auschwitz. Athens, Sklar, Robert: Movie-Made America: A Cultural History
Ohio 2006. of American Movies. New York 1994.
Keilbach, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Spence, Louise: Watching Daytime Soap Operas. The
Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeut- Power of Pleasure. Middletown 2005.
schen Fernsehen. Münster 2008. Staiger, Janet: Perverse Spectators. The Practices of Film
Landsberg, Alison: Prosthetic Memory. The Transforma- Reception. New York/London 2000.
tion of American Remembrance in the Age of Mass Trend, David: The Myth of Media Violence. Malden,
Culture. New York 2004. Mass. 2007
Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen Volkmer, Ingrid (Hg.): News in Public Memory: An In-
Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2001. ternational Study of Media Memories across Genera-
Paech, Anne/Paech, Joachim: Menschen im Kino: Film tions. New York 2006.
und Literatur erzählen. Stuttgart 2000. Wulf Kansteiner
Plantinga, Carl: Moving Viewers. American Film and the
Spectator’s Experience. Berkeley/Los Angeles 2009.
227

14. Fotografie Modelle durch statuarische Disziplin und Hilfs-


mittel wie Kopfhalter ausgeglichen. Damit gingen
Durch Fotografien ist das kulturelle Bildgedächt- nicht nur der neue Typus des naturalistischen
nis immens erweitert worden, und die Kultur- Schwarz-weiß-Porträts, sondern mit ihm auch
technik des Fotografierens wirkt bis heute struk- bestimmte Posen in die Muster des Personenge-
turbildend in kollektive und individuelle Erin- denkens ein. Konsequenterweise entwickelte sich
nerungspraktiken hinein. Zudem formte die aus dieser technikgeschichtlichen Voraussetzung
Fotografie die Vorstellung von den psychischen des Stillhaltens das fotografische Totenbildnis. Ist
Vorgängen der Erinnerung und wurde zur Ge- die Fotografie im Totengedenken in der europäi-
dächtnismetapher ausgebaut. schen Kultur heute weitgehend verschwunden, so
Innerhalb der bildlichen Gedächtnismedien zeigen solche Bilder nur in extremer Zuspitzung,
markiert die Fotografie insofern einen Paradig- was jedes Foto auszeichnet: eine medienspezifi-
menwechsel, als sich durch sie die Gegenstände sche ›Thanatologie‹, die jedes Foto prinzipiell
selbst abzubilden scheinen. Dieses sine manu zum Trauerfall und zum memento mori macht
factu im Herstellungsprozess, das das Foto zum (Schulz 2002). Denn Fotos erzeugen eben nicht
indexikalischen Zeichen erhebt, dessen Bezie- das »Bewusstsein des Daseins des Gegenstandes
hung zum Referenten physisch, genauer: physi- […], sondern des Dagewesenseins« und somit
kalisch-chemisch hergestellt wird, steht im Zen- eine »neue Kategorie des Raum-Zeit-Verhältnis-
trum der kulturellen Rahmungen, in denen Fotos ses: räumliche Präsenz bei zeitlicher Vergangen-
produziert und rezipiert werden. heit« (Barthes in: Kemp 2006, III, 144). Der Zeit-
index des Fotos, der Zeitpunkt der Aufnahme, ist
auch – und gerade – dann konstitutiver Bestand-
Mediengeschichtliche Voraussetzungen der
teil der Rezeption des Bildgegenstandes, wenn er
Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion
gar nicht genau zu bestimmen ist.
Die Fotografie entwickelte sich aus dem schon Sobald die technische Optimierung die Nut-
bei Aristoteles bezeugten Verfahren der Camera zung außerhalb des Ateliers zuließ, wurde die Fo-
obscura, in dem eine konkrete räumliche Situa- tografie 1855/56 im Krimkrieg eingesetzt, um
tion physikalisch, mit Hilfe der Lichtführung, in den Lauf der Geschichte in einer neuen Qualität
die Zweidimensionalität übersetzt wird. Als es von Zeitnähe zu dokumentieren. Schließlich er-
um 1800 gelang, diese Bilder chemisch zu fixie- möglichte das ›Fotografische Gewehr‹ mit seiner
ren, entstand ein neuartiges Gedächtnismedium, Belichtung im Sekundentakt, ganze Bewegungs-
das von Anbeginn über die im Herstellungsver- abläufe in eine Serie von Einzelbildern, in
fahren gründende Zeitstruktur diskursiviert Chronofotografien, abzubilden und damit die
wurde. Während der anfangs noch stundenlan- Wahrnehmungsgrenzen zu unterschreiten. Der
gen Belichtungszeiten sah man den »pencil of na- Durchbruch der Handkameras Ende des 19. Jahr-
ture« am Werk, der das Bild sukzessive in die hunderts brachte nicht nur den Beruf des Bildre-
Platte zeichnete (Talbot in: Kemp 2006, I, 60 ff.). porters, sondern auch den Amateurfotografen
Die technische Weiterentwicklung zielte zunächst sowie den sogenannten Knipser hervor, die je auf
auf die Verkürzung der Belichtungszeiten und die ihre Weise kollektive und individuelle Geschichte
Verkleinerung der Apparatur, um das Verfahren dokumentierten. Durch die Arbeitsteilung von
über die Laborsituation hinaus nutzbar zu ma- dem Akt der Aufnahme und deren chemischer
chen. Als früher Anwendungsbereich mit Erin- Entwicklung wurde – so der berühmt gewordene
nerungsfunktion konnte sich in den 1830ern eine Werbespruch der Firma Kodak »You press the
Frühform der Porträtfotografie auf versilberten button, we do the rest« (Starl 1995, 95) – der
Kupferplatten, die Daguerreotopie, etablieren. Knopfdruck auch mentalitätsgeschichtlich zum
Die immer noch mehrere Minuten umfassende Zentralmoment des Fotografischen. Mit der Fo-
Belichtungszeit wurde mit der Stillstellung der kussierung auf den Moment entstand die Bildgat-
228 III. Medien des Erinnerns

tung des Schnappschusses, der programmatisch ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Erst nach dem
auf die Pose verzichtet und den Zufall bild- und Zweiten Weltkrieg, als das Fotografieren bereits
somit erinnerungswürdig macht. Diese techni- zum Allgemeingut geworden war, etablierte sich
sche Ausgangssituation bildet die Grundlage ei- eine Sofortbildkamera für den Alltagsgebrauch,
ner neuen Ikonographie der Reportage, die ge- die Polaroid, und deckte nicht nur den Bedarf der
rade das schnelle und zumeist unter Gefahr ge- schnellen Verfügbarkeit der Fotos, sondern lebte
schossene Bild zum Maßstab macht. Während auch von der Faszination, dass das Bild in den 60
des Spanischen Bürgerkrieges rückten nicht mehr bis 90 Sekunden nach seinem Auslösen auf der
die toten, sondern die sterbenden Soldaten in den Oberfläche erscheint, der Übergang vom »Da-
Vordergrund, der Reporter musste schon vor den sein« zum »Dagewesensein« beobachtbar und
entscheidenden Momenten am Geschehen teil- folglich Teil des fotografischen Aktes wurde.
haben: »Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, Der Einschnitt der heute dominierenden Digi-
warst du nicht nah genug dran« (vgl. Sontag 2003, talfotografie wiederum besteht erstens darin, dass
41 ff.). Zugleich entwickelte sich ein Bewusstsein die chemische Bildentwicklung vollends entfällt
davon, innerhalb des erinnerungsrelevanten Ge- und das elektronische Bild seit dem Moment der
schehens solche ›fruchtbaren Augenblicke‹ aus- Aufnahme sichtbar und verfügbar ist. Zweitens
zumachen, wie sie bereits Lessing ein Jahrhun- ist dadurch, dass die Daten elektronisch und
dert zuvor in seinem Laokoon als Kriterium des nicht auf einem Negativ notiert werden, die
gelungenen Bildes formuliert hatte. Dieses Ver- Nachbearbeitung der Bilder in einer neuen Qua-
fahren wird später mit der Etablierung der Foto- lität möglich, da sie im digitalen Format nicht
produktion im Privatbereich auch auf die indivi- mehr rekonstruierbar ist. Und drittens ermög-
duelle Biographiegestaltung übertragen, wie die licht die elektronische Speicherung Archivie-
werbesprachliche Konzeptualisierung des »per- rungsformen, die die Bilder nicht materialiter,
fekten Momentes« und die durch sie wirksame sondern im digitalen Code und somit unsichtbar
»affektive Gedächtnisdressur« belegt (King in: verfügbar halten. Dieses Speicherverfahren birgt
Wolf 2003, 213). einerseits neue Möglichkeiten der Quantität und
Bereits parallel zur Verbesserung von Belich- Distribution, andererseits neue technische Ge-
tungszeit und Handhabbarkeit der frühen Kame- fahren wie den unbemerkten Verlust ganzer Da-
ras erfolgten Experimente zum Farbfoto, das be- tensätze oder die Unmöglichkeit, ein einmal ins
reits 1861 möglich war, wobei noch bis ins 20. Web gestelltes Bild wieder restlos zu entfernen.
Jahrhundert die kolorierende Nachbehandlung Da seine Daten nicht substanziell mit dem Da-
der Bilder üblich blieb. Auch das Negativverfah- tenträger verbunden sind, auf den sie bei der Auf-
ren, die Talbotypie, wurde schon 1840 entwickelt nahme notiert wurden, vielmehr die Speicher-
und markiert einen folgenreichen Einschnitt: karte regelmäßig einer partiellen oder gesamten
War das Positivfoto ein einzigartiges Zeugnis tabula rasa unterzogen wird, ist das probeweise
einer bestimmten Position im Raum zu einem und exzessive Fotografieren in einer gesteigerten
bestimmten Zeitpunkt, so ist das originale Nega- Quantität möglich. Das hat zur Folge, dass der
tivbild ein Zwischenprodukt für beliebig viele Journalismus auch die neuesten Nachrichten in
Abzüge. Im Zusammenspiel mit neuen Druck- Bildform präsentieren kann, wobei nicht selten
techniken wurde das Foto von Anbeginn für ver- aktuelle Bildstrecken den Kontextualisierungen
schiedene Distributionszusammenhänge genutzt, vorausgeschickt werden. Im privaten Bereich ent-
nicht allein für das Massenmedium der illustrier- fällt die Kommentierung angesichts der soforti-
ten Zeitung, sondern auch im privaten und semi- gen Verfügbarkeit und Menge des Bildmaterials
öffentlichen Gebrauch, etwa für das Porträt im zusehends, was sich in einem Paradigmenwech-
Visitenkartenformat oder für die Bildpostkarte. sel vom Fotoalbum zum digitalen Bildarchiv
Auch die Sofortbildkamera, genauer: die Ver- äußert. Ins Zentrum der kollektiven und indivi-
legung der Bildentwicklung in die Apparatur, ist duellen Fotopraxis rückt die anschließende Bear-
14. Fotografie 229

beitung der archivierten Bildproduktion, die herangezogen. Besonders wirksam wurde dabei
Sichtung, Auswahl, Ordnung und Distribution die Analogie der schwierigen Beziehung von Fo-
der Fotos in intime oder öffentlich zugängliche, tografiertem und Foto wie von Erinnertem und
analoge oder digitale Medien. War die Nachbear- Erinnerung. Mit der Entdeckung der Fotografie
beitung der analogen Bilder ein wesentlicher Be- wurde sie nicht nur in ihrer Funktion für das Ge-
standteil der professionellen Fotoproduktion, so dächtnis, sondern als analoge Funktionsweise
ist dies für die digitalen Bilder in anwender- beschrieben, etwa als »Spiegel mit Gedächtnis«
freundlichen Programmen zum Allgemeingut (Holmes in: Kemp 2006, I, 119), um zu akzentu-
geworden. ieren, dass die simultanen Bilder von Spiegel oder
Die Miniaturisierung der Fototechnik und ihre Camera obscura nun auf Dauer gestellt sind. Um-
Integration in das handliche Mobiltelefon seit gekehrt ist die Metapher vom »fotografischen
2005 erzielte eine weitere quantitative Steigerung Gedächtnis« für das psychische Phänomen der
der individuellen Bildproduktion, die nun ver- Hypermnesie gebräuchlich. Gemeint ist der Son-
mehrt auch zur Entlastung des Alltagsgedächt- derfall, dass die gesamte Wahrnehmung, auch
nisses etwa von Fahrplänen, Warenangeboten, deren periphere Details, abgespeichert werden,
Textpassagen aus Büchern usw. eingesetzt wird. unabhängig davon, ob sie zum Perzeptionszeit-
Auch die automatisch getaktete Dauerfotografie punkt als bedeutsam eingeschätzt werden oder
der Welt durch Webcams und Satellitenaufnah- nicht.
men akzentuiert die Erinnerungsfunktion der Am wirkungsvollsten konnte sich das fotogra-
Fotografie stärker auf die gegenwärtige Orientie- fische Referenzmedium innerhalb der klassi-
rung. schen, bereits von Platon eingeführten und stets
Keinesfalls ist es so, dass der soziokulturelle aktualisierend fortgeschriebenen Gedächtnisme-
Wandel von Erinnerungsfunktionen sich allein taphern bewähren (s. Kap. IV.2). Diese anhal-
in den aktuellsten fototechnischen Innovationen tende Faszination erklärt sich damit, dass die ap-
abbildet. Nach zwei Jahrhunderten Medienge- parative Logik der Fotografie sich vorzüglich in
schichte mit ihren vielen hier nicht genannten beide Hauptgruppen fügte: (1) die Magazin-Me-
Zwischenschritten und Randphänomenen steigt taphern, die das Gedächtnis als räumlichen Spei-
das Interesse am Spektrum der anachronistisch cher konturieren, der intentional gefüllt wird und
gewordenen Macharten der Fotografie, nicht nur dem Zugriff seines Magazinmeisters unbegrenzt
in Hinblick auf die Konjunkturen bestimmter offen steht und (2) die Wachstafel-Metaphern,
Gattungen und deren Bildrhetoriken, wie sie sich nach denen sich Erinnerungen prozessual in
etwa durch Posen und Ausschnitte vermitteln, Form von Schriftzeichen einschreiben und nicht
sondern auch auf die technisch bedingten For- durchweg der Steuerung ihres Eigners unterlie-
mate und Farbpaletten. So etwa ist zu vermuten, gen. Gerade mit ihrer Verschränkung von subjek-
dass die im ausgehenden 20. Jahrhundert gefer- tiven und objektiven Faktoren im Produktions-
tigten Porträts mit auslaufenden Rändern in Se- prozess sowie von individuell steuerbaren und
piaton keinesfalls vortäuschen sollen, der Porträ- kollektiv überformten Aspekten im Rezeptions-
tierte habe im 19. Jahrhundert gelebt, wohl aber prozess konnte die fotografische Technik nicht
vermitteln, dass es sich – dem mittransportierten nur beide Bildfelder aktualisieren, sondern diese
Zeitkolorit gemäß – um ein seiner Intention nach miteinander verknüpfen. Ausgerechnet das erste
erinnerungswürdiges Bild handelt, dem bereits der ›neuen Medien‹ wurde »zu einer einzigarti-
die Würde einer langen Aufbewahrung anhaftet. gen Probe aufs Exempel alter ars memoriae« (Ha-
verkamp 1993, 48). Das Foto ermöglicht die Ver-
bindung des Wahrnehmungsmodells der Camera
Fotografie als Gedächtnismetapher
obscura mit dem räumlichen Speichermodell, in-
Metaphorisch wurden Fotografie und Gedächt- dem die Bilder, mit dem Zeitindex ihrer Perzep-
nis immer wieder zur wechselseitigen Erhellung tion versehen, als imagines agentes (bewegende
230 III. Medien des Erinnerns

Bilder von hoher Intensität) angesammelt und dell wurde zu einer Erinnerungspoetik ausge-
geordnet werden können. baut, so am prominentesten in Marcel Prousts
Obwohl das zugrunde liegende Konzept der Konzept der mémoire involontaire: Der Zufall
Camera obscura wahrnehmungstheoretisch seit holt die ›Negative‹ aus dem latenten Archiv des
dem beginnenden 19. Jahrhundert überholt war, Gedächtnisses, die dann in der Sprache, konkret
lebte es in der Gedächtnismetaphorik wieder auf im Schreibprozess, zu literarischen Erinnerungs-
(vgl. Crary in: Wolf 2002, 67 ff.). Freud positio- bildern entwickelt werden (vgl. auch Claude Si-
nierte seine Theorie vom Unbewussten in der mon oder William Faulkner, dazu: Busch/Albers
Magazinmetapher, hob jedoch weniger auf die 2001, 546 ff.).
Fixierung der Bilder ab als auf die Ausdifferen-
zierung des »psychischen Apparates« durch die
Fotografie in kollektiven und individuellen
systematische Unterscheidung von Negativ- und
Erinnerungspraktiken
Positivbildern und den Prozess der Bildentwick-
lung im Labor (vgl. Kofman in: Wolf 2002, 60 ff.). Die Fotografie wirkte nicht nur modifizierend in
Freud illustrierte damit seine theoretischen Ma- bestehende Erinnerungspraktiken hinein, wie
ximen, dass sich insbesondere frühkindliche oder etwa in die Zeitungsreportage oder die intime
traumatische Wahrnehmungen nicht direkt in Andenkenkultur des 19. Jahrhunderts, sondern
das verfügbare Gedächtnismagazin, sondern in sie brachte auch neue Formen, Narrative, Metho-
einen Zwischenspeicher übersetzen, der nicht zu- den, Wissensordnungen und Institutionen der
gänglich ist. Erst wenn von diesen gespeicherten, Erinnerung hervor. Entscheidend sind dabei
aber nicht lesbaren Bilder, den Negativen, ein Ab- nicht allein die oben ausgeführten Anschluss-
zug gemacht wird, treten sie aus der Dunkelkam- möglichkeiten des apparativen Aspekts an Er-
mer des Unbewussten in die helle Kammer des innerungsfunktionen und Gedächtnismodelle,
Bewusstseins. sondern die fotografischen Sammlungsformen
Wie schon die Etymologie der Fotografie an- Bildarchiv, Fotoatlas und Fotoalbum. Erst die Fo-
zeigt (griech. phos: Licht, graphein: schreiben, tografie eröffnete die Möglichkeit, qualitativ wie
einritzen), ist sie über ihr technisches Verfahren quantitativ Dinge in einem einheitlichen Abbil-
von Anbeginn in Analogie zum Wachstafelmo- dungsmodus von ihrem konkreten Umfeld abzu-
dell definiert worden. Dies fokussiert den Prozess lösen und in einem Ausmaß zusammenzuführen,
der Erinnerung und gibt dem Fall Gewicht, dass das nur noch virtuell verfügbar ist (Wolf in: Wolf
Erinnerungen nicht intentional angelegt und un- 2002, 350). André Malraux’ Modell vom ›imagi-
verändert abrufbar sind, sondern sich erstens nären Museum‹, nach dem alle Kulturgüter un-
auch ungewollt über die Wahrnehmung ein- abhängig vom räumlichen und historischen Kon-
schreiben und zweitens immer erst entziffert wer- text in einer Zusammenschau verfügbar sind,
den müssen, was die Möglichkeit der Fehllektüre lenkt den Blick darauf, dass sich die Fotografie im
einschließt. So ist es ebenfalls die psychoanaly- 19. Jahrhundert parallel mit der Etablierung von
tische Theorie, etwa das Modell vom Wunder- Museum und Archiv als öffentliche Einrichtun-
block, die dieses unwillkürliche Einschreiben und gen entwickelte (s. Kap. III.6, III.7). Diese Ent-
die sich stets verändernden Bedingungen seiner kontextualisierung radikalisiert sich in der De-
Lesbarkeit zum Ausgangspunkt nehmen. Freud tailaufnahme, in der auch der Zusammenhang
zeigte, dass diese dynamische Vorstellung durch- des Gegenstandes beschnitten und somit getilgt
aus mit der vom statischen Raum verbunden ist, die mediale Grundlage, die etwa der Stil-
werden kann. Walter Benjamin konnte daran geschichtsschreibung innerhalb der Kunstge-
anknüpfen, als er die Fotografie in Analogie schichte zum endgültigen Durchbruch verhalf.
zum »Triebhaft-Unbewußten« als »Optisch-Un- Zugleich eröffnete das kunsthistorische Fotoar-
bewußtes« beschrieb (Benjamin in: Kemp 2006, chiv auch die Entwicklung neuer Methoden durch
II, 202). Das psychoanalytische Gedächtnismo- andere Gruppenbildungen als die der Chronolo-
14. Fotografie 231

gie und der häufig damit verbundenen teleologi- Frage nach dem Aussagegehalt eines Fotos in den
schen Geschichtsschreibung. Aby Warburg ging wenigen Originaldokumenten von der national-
es in den stil- und gattungsgeschichtlich dispara- sozialistischen Vernichtungsmaschinerie des Ho-
ten Anordnungen in seinem Bilderatlas Mnemo- locaust. Hier erweist sich, dass die Bildzeugnisse
syne darum, die Kunst als Speicher des sozialen immer auch ihre Aufnahmebedingungen mit
Gedächtnisses zu untersuchen, das sich quer zu transportieren, deren Rekonstruktion, wenn
kunsthistorischen Analysekategorien in ›Pathos- überhaupt, dann nur partiell möglich ist. So ist
formeln‹ Ausdruck verschafft (s. Kap. III.16). der Großteil des überlieferten Materials in den
Die großen denkmalpflegerischen wie auch bereits seitens der Täter verlassenen Vernich-
ethnographischen Archivierungsprojekte von tungslagern weniger zu archivarischen Doku-
nicht musealisierbaren Kulturen und Kultur- mentations- als zu politischen Erziehungszwe-
gütern zeugen erinnerungspolitisch von einer cken gemacht worden. Diese Bilder, die für die
gewissen Melancholie, die nicht zuletzt im me- Zeitgenossen alle bisherigen Abbildungen von
dienspezifischen Modus des »Dagewesenseins« Gräueltaten überboten, entsprechen weitgehend
gründet: So nehmen die großen europäischen dem Typus der »Schockfotos«, in denen dem
Fotodokumentationen ihren Anfang meist in »Faktum« die »intentionale Sprache des Schre-
Zeiten der Krise etwa eines herannahenden ckens« hinzugefügt wird (Barthes in: Kemp 2006,
Krieges, um die von Verfall und Zerstörung III, 106). Hingegen zeigen die sogenannten
bedrohten Denkmale und Kulturen für die Zu- Auschwitzalben einen zensierten Ausschnitt des
kunft präsent zu halten. Geschehens im Vernichtungslager von 1944 aus
In den Naturwissenschaften geriet die Foto- der Sicht der Täter. Die wenigen Bilder, die heim-
grafie zur Voraussetzung der Analyse, Demons- lich durch die Opfer erstellt werden konnten, eig-
tration und Sicherung dessen, was dem bloßen nen sich aufgrund ihrer technischen Bildqualität
Auge nicht sichtbar ist, wie die Bewegungsabläufe weniger zu dokumentarischen Zwecken in Hin-
(Chronofotografie), das Körperinnere (Röntgen), blick auf die abgebildeten Ereignisse, sondern sie
das räumlich Allerfernste (Astrofotografie) oder dokumentieren vor allem die existenzielle Grenz-
Allernächste (Mikrofotografie). Mit diesen an- situation, in der sie zustande kamen und zugleich
wendungsbezogenen Erfindungen einher ging einen Akt des Widerstandes gegen die doppelte
die epistemische Konzeptualisierung vom »Bild Auslöschung durch Tod und Vergessen. Während
der Objektivität«, das die Formation und Kano- Distribution und Rezeption der von den Alliier-
nisierung von Wissensordnungen fortan maß- ten als auch der von den Tätern gemachten Bilder
geblich strukturiert (Lorraine Daston/Peter Gali- von der Aushandlung ästhetisch, moralisch und
son in: Geimer 2002, 29 ff.). politisch begründeter »Sagbarkeits- und Zeigbar-
Ein weiterer und soziokulturell folgenreicher keitsregeln« begleitet sind (Knoch 2001, 31), gel-
Anwendungsbereich der Fotografie besteht in ten die Bilder der Opfer als »Bilder trotz allem«,
Kriminalistik und Rechtssprechung. Die fotogra- die in radikaler Weise das Ereignis des Fotos
fische Archivierung von Tätern oder Tatverdäch- selbst zeigen (vgl. Didi-Huberman 2007, 63). Das
tigen sowie die Aufnahmen des Tatortes bleiben Phänomen der Konstituierung und Ausdifferen-
trotz molekularbiologischer Technologien immer zierung verschiedener Erinnerungsgemeinschaf-
noch das zentrale Instrument der Ermittlung und ten zeigt sich besonders nachdrücklich am Um-
erhalten vor Gericht den Status von Zeugnissen gang mit fotografischen Holocaust-Dokumenten:
der Vergangenheit. Als das Auschwitzalbum im Nürnberger Prozess
Gerade die juristische Konzeptualisierung des als Augenscheinbeweis herangezogen wurde,
Fotos als Augenscheinbeweis wirkte entschei- stellte sich heraus, dass es für die Besitzerin, die
dend auf die erinnerungspolitische Auseinander- als Überlebende und zugleich als Augenzeugin
setzung mit der jüngeren und jüngsten Ge- fungierte, den Status von Familienerinnerungen
schichte. Eine radikale Zuspitzung erfährt die hatte. Für die Kinder der Überlebenden rückte
232 III. Medien des Erinnerns

das Foto auf prekäre Weise ins Zentrum der einen Familienrahmen bereitstellen (Hirsch
Nacherinnerung (postmemory), da es ein Nähe- 1997, 53 ff.). Gerade diese quasi natürlich-über-
verhältnis zu den Vorfahren erlaubt und zugleich, zeitliche Gedenkpraxis ist in hohem Maße von
anders als bei gewöhnlichen Familienfotos der der ideologischen Verfasstheit der Familie struk-
Fall, Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnis- turiert und entsprechend störanfällig.
ses ist (vgl. Hirsch 1997). Wie an kaum einem an- Handelt es sich bei den wissenschaftlichen Fo-
deren Gegenstandsbereich der Fotografie lässt toarchiven um einen Idealtypus des kollektiven
sich an den Fotos vom Holocaust studieren, wie Gedächtnisses, so lässt sich das Fotoalbum als
sich ein Bildgedächtnis durch erinnerungspoliti- Idealtypus des individuellen Gedächtnisses be-
sche Interventionen kanonisiert, wie sich politi- schreiben: Im semantischen Rahmen der Buch-
sche und generationelle Gegengedächtnisse for- form entfalten die Bilder ein narratives Potenzial.
mieren und wie diese nicht zuletzt durch Wieder- Dieses zielte in der Frühphase der Porträtfotogra-
entdeckungen neuen oder auch altbekannten fie, in der meist nur eine oder wenige Aufnahmen
Fotomaterials immer wieder umgeordnet wer- pro Person gefertigt wurden, auf die Genealogie,
den. eine tradierte Form des Andenkens, die erst
Maßgeblicher als die institutionellen Archivie- durch die Fotografie vom Privileg zu einem Brei-
rungsstrategien profiliert die medienpolitische tenphänomen wurde. Mit der Zunahme der Fo-
Inszenierung des Einzelbildes das kollektive Ge- toproduktion setzte sich das vorgefertigte Album
dächtnis. Viele historische Augenblicke entstehen zur Dokumentation der Individualgeschichte
erst durch ein Foto, Bilder machen also Ge- durch. Ausgangspunkt bildete die Integration des
schichte wie etwa der sterbende Soldat im Spani- Fototermins in die kulturell tradierten rites de
schen Bürgerkrieg 1936, Willy Brandts Kniefall passage wie Taufe, Hochzeit, Tod. Bis heute wur-
in Warschau 1970 oder die Errichtung der US- den zahlreiche Bildnarrative solcher kulturell de-
Flagge durch Feuerwehrleute im Ground Zero finierten Höhe- und Wendepunkte ausformu-
am 11. September 2001. liert, etwa vom Ultraschallbild über die Geburt
Auch die Bildproduktion im Privatbereich ist des Kindes zu seinen Schritten ins Leben oder
durch den kollektiven Bildhaushalt sowie durch von der Abreise über die Stationen der Sehens-
die sozial eingeübte Bildpraxis gesteuert. So ging würdigkeiten bis zur Heimkehr. Seit der Etablie-
die Daguerreotopie fast vollends in der Selbstver- rung der Digitaltechnik ist eine grundlegende
ständigung des Bürgertums auf, das sich in einem Erweiterung der individuellen Erinnerungspra-
kanonischen Repertoire von Posen und Wohn- xis zu beobachten: Zielte das Foto zuvor aus-
kulissen als Familie präsentierte (Gisèle Freund, schließlich auf das identitätsbildende Langzeitge-
Photographie und Gesellschaft, 1936; vgl. Busch/ dächtnis mit generationeller oder biographischer
Albers 2001, 506 f.). Das daraus entwickelte Fa- Reichweite, so dient es nun darüber hinaus dem
milienbild wurde schichtenübergreifend zu ei- pragmatischen Kurzzeitgedächtnis der Alltagsor-
nem stabilen Erinnerungsmedium, das die »Kon- ganisation. Doch unabhängig von dieser unüber-
tinuität und Integration der häuslichen Gruppe« sehbaren digitalen Bildproduktion wurde bereits
bestätigte, auch wenn diese faktisch nicht exis- seit der Verfügbarkeit der Fotografie für den Pri-
tierte (Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst. vatbereich deren Effekt für die Erinnerung nicht
1965; vgl. Hirsch 1997, 48). Im Zuge dieser ver- nur bezweifelt, sondern mitunter umgekehrt dem
breiteten Fotopraxis wurden nicht nur Ikonogra- Vergessen zugerechnet: »Man vergißt so viel,
phien und Tauschrituale entwickelt, sondern wenn man fotografiert« (Bierbaum in: Starl 1995,
auch ein medienspezifischer familial gaze einge- 149), eine Variation der seit Platons Schriftkritik
übt, der die Verbindung zu abwesenden oder ver- nicht abbrechenden Vorbehalte gegenüber der
storbenen Familienmitglieder aufrecht erhält, in- medialen Ent-äußerung von mentaler Er-inne-
dem diese nicht nur in den eigenen Lebenskon- rung. Umgekehrt wurde das psychische Phäno-
text integriert werden, sondern umgekehrt auch men beschrieben, dass man nur das erinnert, was
14. Fotografie 233

fotografiert ist, folglich das Foto eines Ereignisses gration von Fotografien in den Text und der da-
mit der Erinnerung an das Ereignis verwechselt, durch erzeugten Spannung von Zeigen und Ver-
so wie viele Kindheitserinnerungen bei näherem bergen reflektiert, besonders eindrücklich im Er-
Hinsehen Erinnerungen an Fotos sind (vgl. ebd.). zählwerk von W.G. Sebald, so etwa in seinem
Innerhalb der privaten Erinnerungspraktiken Roman Austerlitz von 2001. Ebenfalls als inter-
entstand ein neuer Typus des Fotografen: der mediale Reflexionsfigur von Gedächtnis und Er-
Knipser. Während sich der ambitionierte Foto- innerung treten Fotos im Film auf, häufig in kri-
amateur über die Distanz von den kommerziel- minalistischen Plots bei der Rekonstruktion des
len Bildmustern definiert, ist der Knipser wenig Faktischen wie in Michelangelo Antonionis Klas-
mit der Machart seiner Bildproduktion befasst, siker Blow up von 1966, oder auch als konstituti-
sondern diese geht ganz in der Erinnerungsfunk- ves Element fiktiver Biographien wie in Ridley
tion auf (Busch/Albers 2001, 511 ff.). Die spezi- Scotts Erfolgsfilm Blade Runner von 1982. Die
fische Leistungsfähigkeit des individuellen Er- bildende Kunst stand zunächst vornehmlich in
innerungsfotos erschließt sich gerade aus der einem Konkurrenzverhältnis zur Fotografie. Die-
Verschränkung von Produktions- und Rezepti- ser Streit wurde bis in die Moderne geführt,
onspraktiken: Was das Bild zeigt, ist gar nicht ent- wobei die Kritiker der Fotografie sie als bloße
scheidend, sondern dass auch die Aufnahmesitu- »Funktion der fließenden Zeit« definierten, der
ation miterinnert wird (Starl 1995, 9). Dabei sind entgegen allein das Kunstwerk die Geschichte
es oft die unbeabsichtigt mitaufgenommenen De- darstellen und somit »Gedächtnisbilder« hervor-
tails, die den nachhaltigsten Effekt bei der späte- bringen könne (Kracauer in: Kemp 2006, II,
ren Vergegenwärtigung des Vergangenen haben. 105 f.). Parallel dazu fanden sich mit der Auflö-
Diese spezifisch individuelle Erinnerungspraxis sung der Mimesis- und Gattungsnormen experi-
realisiert sich nicht allein mit Blick auf die mentierfreudige Befürworter des Fotos als eines
fremd gewordene eigene Vergangenheit, sondern zeitgemäßen Kunstmediums, bis es sich schließ-
ebenso auf die fremde Vergangenheit eines Ver- lich als solches in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
trauten sowie schließlich auf die Vergangenheit hunderts im Kunstbetrieb etablieren konnte.
eines gänzlich Fremden: Sie reibt sich gerade am Neuere Fotoarbeiten reflektieren nicht nur das
widerständigen Überschuss an gewesener und Gedächtnis der Bilder sondern auch die Erinne-
damit verschlossener Wirklichkeit, am punctum rungsstrategien der Bildpraxis, so z. B. die Lomo-
des Fotos (Barthes in: Kemp 2006, III, 285 f.). grafien, die in den 1990er Jahren mit ihrer cha-
Die Künste haben sich mit unterschiedlichen rakteristischen farbintensivierenden Überbelich-
Aspekten und in immer wieder neuen intermedi- tung vom Stilmittel eines Kunstprojektes
alen Konstellationen mit der kulturpraktischen, bezeichnenderweise zu dem der Selbstdokumen-
funktionellen und metaphorischen Affinität der tation einer Generation in ›Hüftschüssen‹ wurde.
Fotografie zur Erinnerung auseinandergesetzt. Mit der Ausdifferenzierung fotobasierter Erinne-
Für die Literatur war das Foto von Anbeginn rungsformen sind es in der Gegenwartskunst vor
poetologisch interessant, als Muster realistischer allem die Konzepte des Atlas, so in Gerhard Rich-
bzw. naturalistischer Speicherung von Wirklich- ters gleichnamigen Werk von 1962 bis 1966, und
keit, wie es Émile Zola programmatisch in sei- des Archivs, wie es etwa Naomi Tereza Salmon in
nem Experimentalroman von 1880 vorführt. Zu- ihrer Arbeit Asservate von 1995 zeigt, die die äs-
nehmend diente die Fotografie als poetologische thetische Debatte um Erinnerung und Gedächt-
Reflexionsfigur für eine Literatur, die sich dezi- nis inspiriert haben.
diert als »Platte der Erinnerung« verstand, wie
Walter Benjamin, in seiner ab 1932 erscheinen- Literatur
den Berliner Chronik schreibt. In der Gegenwarts- Bickenbach, Matthias: Fotoalbum. In: Nicolas Pethes
literatur werden solche Text-Bild-Beziehungen (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung: ein interdiszipli-
häufig am konkreten Objekt, also durch die Inte- näres Lexikon. Reinbek 2001, 177–178.
234 III. Medien des Erinnerns

Busch, Bernd/Albers, Irene: Fotografie/fotografisch. In: Ruchatz, Jens: Fotografie. In: Nicolas Pethes (Hg.): Ge-
Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbe- dächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Lexi-
griffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. kon. Reinbek 2001, 179–182.
2. Stuttgart/Weimar 2001, 494–550. Schulz, Martin: Die Thanatologie des photographi-
Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. Aus dem schen Bildes. Bemerkungen zur Photographie. In:
Französischen von Peter Geimer. München 2007 (frz. Jan Assmann/Rolf Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und
2003). Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen
Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Foto- Thanatologie. München 2002, 740–763.
grafie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frank- Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem
furt a. M. 2002. Englischen von Reinhard Kaiser. München 2003
Haverkamp, Anselm: Lichtbild. Das Bildgedächtnis der (engl. 2003).
Photographie: Roland Barthes und Augustinus. In: Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fo-
Ders./Renate Lachmann (Hg.): Memoria. Vergessen tografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis
und Erinnern. München 1993, 47–66. 1980. Ausstellungskatalog Fotomuseum im Münch-
Hirsch, Marianne: Family Frames: Photography, Narra- ner Stadtmuseum. München/Berlin 1995.
tive and Postmemory. Cambridge, Mass. 1997. Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am
Kemp, Wolfgang/Amelunxen, Hubertus von: Theorie Ende des Fotografischen Zeitalters. Bd. I. Frankfurt
der Fotografie. I–IV: 1839–1995. München 2006. a. M. 2002.
Knoch, Habbo: Die Tat als Bild. Fotografien des Holo- – (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des
caust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg Fotografischen Zeitalters. Bd. II. Frankfurt a. M. 2003.
2001. Christiane Holm
235

15. Internet führten zu einer wechselseitigen Beeinflussung


statt zu einer Verdrängung der bis dahin beste-
Das Internet hat sich seit den 1990er Jahren zu henden Medien, die auch durch die beschleunigte
einem globalen Massenmedium entwickelt, das Globalisierung nach dem Ende des Kalten Krie-
die ›klassischen‹ Medien des 20. Jahrhunderts ges befördert wurde.
(Printmedien, Radio, TV) bündelt und durch Seit 2004 gibt die unter dem nun schon inflati-
mobile Anwendungen ortsunabhängig macht onär gebrauchten Begriff ›Web 2.0‹ zusammenge-
(deshalb wird in Folge der irreführende Begriff fasste Entwicklung – der Begriff stammt von Tim
›neue Medien‹ für das Internet auch vermieden). O’Reilly – vor allem partizipativen, multimedia-
Die Entwicklung eines dezentralen, überregiona- len und konnektiven Elementen einen neuerli-
len Datennetzwerkes begann kurz nach dem chen Schub: Flickr, Twitter, Wiki-Systeme, blog-
Zweiten Weltkrieg als sich die Idee des Hypertex- ging, MySpace, Facebook oder die verschiedenen
tes zur Verwaltung des seit Ende des 19. Jahrhun- Anwendungen von Google. Sie ermöglichen ohne
derts explodierenden Wissens konkretisierte und hohen technischen Aufwand eine stärkere Selbst-
1945 erstmals von Vannevar Bush beschrieben darstellung der Nutzer, fördern die Vernetzung
wurde. Der Sputnik-Schock in den USA 1957 – und die globale ›Kultur des Tauschens‹, verstär-
die Sowjetunion hatte den ersten künstlichen ken aber auch urheber- und datenschutzrechtli-
Erdsatelliten gestartet – war der Auslöser für die che Probleme. Verschiedene zivilgesellschaftliche
verstärkte Förderung der Computer- und Welt- Organisationen wehren sich gegen ebenso zuneh-
raumforschung und führte zur Gründung der mende Überwachungs- und Kontrollversuche
Advanced Research Projects Agency (ARPA) und durch ökonomische und politische Faktoren. Die
National Aeronautics and Space Administration Dominanz der seit den späten 1990er Jahren ent-
(NASA). Die ARPA entwickelte in den folgenden standenen Internetgiganten (Google, Wikipedia,
Jahren die Grundlagen für ein dezentrales Microsoft, Yahoo) wirft ökonomische und demo-
Computernetzwerk, das unter der Bezeichnung kratiepolitische Fragestellungen auf. Mit ver-
›ARPA-Net‹ 1969 online ging – das Internet war schiedenen Impulsen (mobile Kommunikation,
damit eine US-amerikanische Schöpfung des Aktion ›one laptop per child‹ etc.) hat sich das
Kalten Krieges, um die Kommunikation zwi- globale und soziale Ungleichgewicht im Internet
schen Militärs und Entscheidungsträgern im seit etwa 2005 zwar etwas anzugleichen begon-
Falle eines Atombombenangriffes aufrecht erhal- nen, 2009 sind aber vor allem Afrika, Lateiname-
ten zu können. rika und Teile Asiens im Verhältnis zu ihrem An-
Das ARPA-Net wurde im Laufe der 1970er und teil an der Weltbevölkerung noch immer deutlich
1980er Jahre ein Tummelfeld für Wissenschaftler unterrepräsentiert. Neben diesen geographischen
aus Nordamerika und Westeuropa, die hier die Grenzen kommt noch das Problem unterschiedli-
wichtigsten heute gültigen Standards (Transmis- cher Schriftsysteme und Sprachen hinzu.
sion Control Protocol, Internet Protocol, File
Transfer Protocol) und Anwendungen (E-Mail,
Das Internet als Gedächtnismedium?
Chat, Telnet, Newsgroups, Mailinglisten usw.)
etablierten. Immer mehr nationale Netzwerke Seit den frühen 1990ern wurde das Internet zu
schlossen sich zusammen. Nachdem sich das einem Teil des Alltags und damit auch zu einem
›World Wide Web‹ (WWW) Anfang der 1990er Gedächtnismedium. Grundsätzlich unterliegen
Jahre als Hypertext-System, das mit einem benut- zwei konstitutionelle Gedächtnis-Elemente im
zerfreundlichen, grafischen Browser verwendet Internet einer starken Instabilität: Speichern und
werden konnte, durchgesetzt hatte, wurde das In- kulturelles Abrufen gesellschaftlich relevanter In-
ternet auch für die breite Öffentlichkeit interes- formationen. Daten sind im WWW fluktuativ,
sant (Hörisch 2004, 374–423). Konnektivität, In- ihre mittel- bis langfristige Speicherung ist frag-
teraktivität, Multimedialität und Internationalität lich; sie werden dezentral verwaltet und durch
236 III. Medien des Erinnerns

eine breite Masse von menschlichen und techni- dächtnismedium setzt sich die Perspektive vom
schen (bots/web robots, Suchmaschinen) Teilneh- Internet als ›sozialem Phänomen‹ oder als Kom-
mern abgerufen und interpretiert. Online-Infor- munikations- statt als klassischem Speicherme-
mationen können jederzeit kopiert, gelöscht, dium durch. Wobei Martin Zierold noch Wider-
verschoben oder verändert werden; lediglich ge- sprüchlichkeiten und Ambivalenzen als zentrale
streamt landen sie nur für begrenzte Zeit in Zwi- Faktoren bei der Analyse des Internets diagnosti-
schenspeichern. Zwar werden seit dem Beginn ziert (Zierold 2006, 177–182). Dies stimmt mit
der Breitenwirksamkeit des Internets immer wie- Assmanns Konzept der überlappenden und sich
der Versuche zum langfristigen Speichern von wechselseitig beeinflussenden Funktions- und
Web-Inhalten unternommen, doch sie waren und Speichergedächtnisse auch überein (Assmann
sind aufgrund vorherrschender Umstände nicht 2004, 59 f.). In seiner Praxis der sozialen Verar-
konsequent umsetzbar. Archive, Bibliotheken beitung, Verbreitung und Darstellung von Infor-
und Museen versuchen mit verschiedenen Pro- mationen im und durch das Internet zeigen sich
jekten diesem Problem zu begegnen und zu- Formen kollektiver Erinnerungskulturen: In
mindest gewisse Elemente des Internets (etwa Chats, Postings sowie auf Webseiten unterliegen
Screenshots anstatt der gesamten Website) zu die Partizipienten diesen Mechanismen – somit
speichern. Auch die gesetzlichen Vorgaben zum wird das Internet zum Trägermedium von Erin-
Speichern von Informationen für Provider und nerung und Gedächtnis.
Website-Betreiber konnten sich nicht global und Diese Meinung wird unter anderem von Wolf-
nur unter bestimmten technischen und adminis- gang Ernst vertreten, der die aktuelle Gedächt-
trativen Einschränkungen durchsetzen. nis- und Medienkultur in einem Transformati-
Aleida Assmann diagnostiziert für das kultu- onsprozess von einer Kultur der ›Speicherung‹ zu
relle Gedächtnis um 2000 die Übertragung von einer Kultur der ›Übertragung‹ sieht. Daten wer-
kulturellem Wissen von materiellen auf elektro- den verschickt, gestreamt oder hoch- und herun-
nische Datenträger, die Erweiterung der Spei- tergeladen. Die digitalen Speichermedien (Bän-
cherkapazität bei drastischer Reduktion der der, Schallplatten, Disketten, CDs, DVDs, Blu-ray
Langzeitstabilität, die beschleunigte Zirkulation Disks etc.) erfüllen nur mehr eine zweitrangige
und den erweiterten Zugriff durch die globale Funktion, die sich mit der zu erwartenden Explo-
Digitalisierung des Internets. Sie folgert: »So ein- sion der stationären Speichermöglichkeiten und
drucksvoll Kommunikation durch das Internet der mobilen Breitbandübertragung noch verstär-
ausgedehnt und beschleunigt worden ist, so we- ken wird. Daten werden auf immer größere Fest-
nig zuverlässig und beständig ist es in seiner Ge- platten oder Server transferiert oder über Breit-
samtstruktur. Im Grunde ist das Internet ein band transportiert. Ernst spricht von der »Virtu-
Speichergedächtnis ohne Speicher« (Assmann alisierung als Entortung des Speichers« (Ernst
2004, 56). Im Zeitalter der ›universalen Informa- 2007, 315).
tisierbarkeit‹ aller Daten ginge die Materialität
verloren, deshalb verschwinden Realität, Ge-
Ausformung von Erinnerungskulturen
schichte und Gedächtnis. Assmann meint, dass
im Internet
»die neuen digitalen Medien die Vorstellung von
Kultur als Gedächtnis keineswegs obsolet ge- Das Internet erweist sich also als Gedächtnis-
macht, sondern umgekehrt erst wirklich hervor medium mit der Hauptfunktion des Übertragens,
getrieben haben«. Deshalb kommt den Institutio- der Partizipation und zumindest vorübergehen-
nen des Speichergedächtnisses (Museen, Archive den Speicherung (Meyer 2009, 178–180). Doch
und Bibliotheken) heute eine neue Bedeutung zu, wie formen sich nun Gedächtnisse und Erzäh-
denn sie bewahren die Objekte mit ihrer ›wider- lungen von Gruppen und Individuen unter die-
ständig sperrigen Materialität‹ (Assmann 2004, sen geänderten Bedingungen? Die zunehmende
55–59). Im Diskurs über das Internet als Ge- Interaktivität, Konnektivität und Internationali-
15. Internet 237

tät des Internets fördert die Bildung multipler Er- trete ich nicht bei?) und der Freundesliste Bezüge
innerungskulturen. Wurden Gruppengedächt- zu Gruppenidentitäten schaffen. Genauso wich-
nisse bis ins beginnende 21. Jahrhundert durch tig ist die Frage, welcher Plattform man über-
gruppenspezifische Medien und zivilgesellschaft- haupt beitritt und welcher nicht. Diese Identi-
liche Organisationen gestärkt, begann sich dieser täten fußen auf hybriden Gruppen- und In-
Prozess seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert dividualgedächtnissen. Im Gegensatz zu den
durch die Möglichkeit der Distribution verschie- bestehenden nationalen Gedächtnissen, sind
denster Gruppen- und Individualgedächtnisse in diese nun transnational und -kulturell determi-
der dritten Globalisierungsphase zu relativieren niert. ›Vergangenheit‹ wird hier zur Betonung
(Fäßler 2007, 153–175). Dadurch werden beste- der eigenen Identität im Sinnbildungsprozess
hende Kulturen transformiert, in andere Kon- verwendet. Dabei wird auch ein Kanon entwi-
texte gestellt und neu interpretiert – sie werden ckelt, der nicht nur durch die Nutzer, sondern
zu Hybriden (Pieterse 1998). Gleichzeitig gibt es auch durch Mediengiganten bestimmt wird. Bei-
eine Reihe von gesellschaftlichen, politischen spielsweise sind bei der Informationsfilterung
und ökonomischen Playern, die versuchen, die- Suchmaschinen behilflich, wobei den ersten zehn
sem Prozess entgegenzuwirken. So ist es mit Hilfe bis maximal 15 Suchergebnisse maßgebliche Be-
des Internets etwa einfacher geworden, sich nur deutung zukommt. Dieser Kanon wird durch
noch mit seinen eigenen, oder diesen ähnlichen Werbung oder Rating der Suchmaschinenbetrei-
›fremden‹ Gruppengedächtnissen zu beschäfti- ber beeinflusst, die Nutzer haben kaum Einfluss-
gen. Grundsätzlich wäre zwar eine Beschäftigung möglichkeiten (Lorenz 2009, 216–220).
mit gegenläufigen Gedächtnissen möglich, aus Besonders in autoritären Staaten, wie China,
Angst vor Identitätsverlust kommt es aber zum Iran, Myanmar/Burma, Saudi-Arabien oder Sy-
gegenteiligen Effekt. So formen sich beispiels- rien werden Webinhalte offensiv kontrolliert und
weise nationalistische bzw. abschottende Grup- gefiltert. China beispielsweise zensiert Ergebnisse
pierungen, die in meist abgeschlossenen Foren von Suchmaschinen, von internationalen Kon-
oder weniger frequentierten Bereichen im Inter- zernen (wie Google) als auch chinesischen Be-
net die Möglichkeiten der Vernetzung, Mobilisie- treibern (wie Baidu); die Firmen fügen sich aus
rung und Festigung von Gruppenidentitäten nut- ökonomischen Gründen diesen Eingriffen. Der
zen. Zugriff aus China auf internationale Server wird
Tendenziell verstärkt das Internet jedoch die erschwert, praktisch verhindert. Regimekritische
von Jean-François Lyotard diagnostizierte De- Blogger werden festgenommen, das Aufrufen
konstruktion der ›großen Erzählungen‹ – der po- von Websites von Dissidenten wird gesperrt. Nur
litisch-staatlichen und der philosophisch-speku- wenige, technisch Versierte haben die Möglich-
lativen Legitimationserzählungen der Moderne keiten, diese Maßnahmen zu umgehen; die breite
(Lyotard 1999). So dominieren immer mehr indi- Masse ist ihnen weitgehend ausgesetzt. Ein Bei-
vidualisierte Gruppengedächtnisse, der Einzelne spiel: Bei der Suche nach dem Schlagwort ›Tian’-
sucht sich die ansprechendsten Elemente unab- anmen‹ über einen chinesischen Server findet
hängig von seiner nationalen, klassen- oder gen- man schöne Urlaubs- und Familienfotos vor dem
derspezifischen Herkunft zusammen (Leggewie Portrait von Mao, vom deutschen Server aus aber
2009, 22). In sozialen Netzwerken, wie etwa My- hauptsächlich Bilder vom Massaker in Peking im
Space, StudiVZ oder Facebook, kann jeder unter Juni 1989 – Erinnerung wird im ›chinesischen‹
dem Motto ›Image-ist-alles‹ mit Hilfe von Ver- Internet nicht von Nutzern, sondern vom Staat
satzstücken und Erzählungen (Zitate oder Nen- gestaltet. Aber auch demokratische Staaten ver-
nung von Vorbildern, Musikgruppen oder Litera- suchen unter dem Vorwand der Terrorismus-
tur), Postings (Welche werden gelöscht? Welche und Kriminalitätsbekämpfung das Internet unter
werden erhalten? Welche werden selbst geschrie- Kontrolle zu bekommen – nicht immer mit dem
ben?), Gruppen (Welcher trete ich bei? Welcher gewünschten Effekt, aber mit deutlichen Neben-
238 III. Medien des Erinnerns

geräuschen, die auch hier Zensurvorwürfe laut Wissenschaftler bis zum begeisterten Laien,
werden lassen. Der globale Demokratisierungs- schreiben an den Artikeln, wobei laut Untersu-
Effekt des Internets ist unter diesem Aspekt zu- chungen der englischen und deutschen Version
mindest kurz- bis mittelfristig in Zweifel zu zie- alleinstehende Männer ohne akademisch fun-
hen. diertes Fachwissen die aktivsten Autoren sind
Führt die Nutzung global verbreiteter Formate (Schuler 2007, 125–127). Bereits in der Selbst-
(Facebook, MySpace etc.), Suchmaschinen oder beschreibung der deutschsprachigen Wikipedia
›Wissensspeicher‹ (Wikipedia) zu einer globalen wird die Gefahr hinter der tragenden Rolle von
Homogenisierung der Erinnerungskulturen? Nicht-Fachleuten erkannt, »dass die Inhalte der
Auch wenn sich Symbole und Erzählungen Wikipedia nicht den Wissensstand der Gesell-
global verbreiten, werden sie doch in verschiede- schaft, sondern die vorherrschenden Vorurteile
nen Kulturen unterschiedlich interpretiert und abbilden, bekräftigen und tradieren«. Gleich-
tradiert, lokal verortet – was regionale Gruppen- zeitig wird auch erkannt, dass diesem Umstand
und individuelle Gedächtnisse stärkt (Pieterse aufgrund der systemimmanenten Situation
1998, 103; Hein 2009, 258 f.). Was Daniel Levy kaum entgegengewirkt werden kann (http://de.
und Natan Sznaider für die Holocausterinnerung wikipedia.org/wiki/Wikipedia). Gerade deshalb
anhand von Museen, Gedenkstätten, TV- und sind partizipative Textproduktionen wie Wikipe-
Kino-Produktionen im letzten Drittel des 20. dia für erinnerungskulturelle Untersuchungen
Jahrhunderts nachgewiesen haben – dass näm- von besonderem Interesse. Wikipedia birgt aber
lich der Holocaust zu einem globalen Bezugs- auch zahlreiche Probleme in sich und fordert kri-
rahmen geworden ist, der jedoch auch in den tische Fragen heraus: die Kanonisierung dieses
jeweiligen lokalen Gedächtnissen unterschied- ›Lexikons‹ in der Öffentlichkeit bzw. im Bil-
lich verortet wird –, ist ferner für das Internet dungswesen; die mangelnde Nachvollziehbarkeit
zutreffend (Levy/Sznaider 2001; Dornik 2004). und hohe Fluktuation der Informationen; das
Dies unterstreichen etwa Websites, die global fehlende Fachlektorat; die häufige Verletzung
verwendete Darstellungsformen des Holocausts und oft nur mangelhafte Kennzeichnung von
in den lokalen Gedächtnissen, mit dem ihnen Urheberrechten; die Willkür und ökonomische
eigentümlichen Symbolkanon oder regionalen Dominanz bei der Verwaltung; und die Diskre-
Geschichtserzählungen, verorten (http://www. panz zwischen dem hohen Anspruch – offenes
lebensgeschichten.net/, http://www.stolpersteine. Lexikon für ›freies Wissen‹ der Welt – und der
com/, http://novemberpogrom1938.at/ etc.). Realität – willkürliches Löschen oder Verfälschen
von richtigen Informationen durch Administra-
toren, fehlender Selbstregulierung und pseudo-
Wikipedia als Erinnerungskanon
demokratischer Legitimierung (Petzold 2007,
Ein aufschlussreiches Beispiel für einen Web 236 f.). Auch wenn Wikipedia-Artikel nicht als
2.0-spezifischen Erinnerungskanon ist die Wiki- kollektiv erarbeitetes ›Weltwissen‹ zu verstehen
pedia. In der Frühphase der breiten Computer- sind, sondern aus Spezialinteressen Einzelner
nutzung wurden noch digitalisierte Lexika – wie entstehen, zeigen sie Prozesse von transnatio-
die Microsoft Encarta oder Brockhaus Enzyklo- nalen Erinnerungsdiskursen innerhalb von offe-
pädie – als ›modernisierte‹ Gedächtnismedien nen Sprachgruppen. Als konkretes Beispiel sei
des 18./19. Jahrhunderts genutzt. Die Wikipedia das deutschsprachige Lemma »Jugoslawien-
ermöglicht seit ihrem Start 2001 darüber hinaus kriege« und die Diskussion darüber zwischen
Multimedialität, Transnationalität, Verlinkung 2004 und 2005 angeführt (http://de.wikipedia.
und aktive Teilnahme. Die Idee war, eine einfach org/wiki/Diskussion:Jugoslawienkriege/Archiv).
zu bearbeitende, global verbreitete, offene und Auch wenn der Wikipedia-Hauptartikel nicht
permanent zu erweiternde Enzyklopädie zu unbedingt wissenschaftlichen Standards ent-
schaffen. Oft selbsternannte ›Experten‹, vom spricht, so ist er im Wesentlichen ausgewogen
15. Internet 239

formuliert. Er wird aber durch die partizipative Fazit


Textproduktion zu einer reinen Aneinanderrei-
hung von Informationen ohne Interpretation und Die kulturwissenschaftliche Erforschung des In-
konkreten Erzählstrang, da genau diese Elemente ternets steckt noch in einem frühen Stadium.
aufgrund der verschiedenen Meinungen der Teil- Noch prägen Ambivalenzen und Widersprüche
nehmer am schnellsten entfernt werden. Im Au- dieses scheinbar ›neue Medium‹; es weist zu
torenforum wird über die unterschiedliche Be- Ende der 2000er Jahre aber bereits einige, mehr
wertung von Schuld, den Ursachen und über ver- oder weniger deutlich erkennbare Muster auf:
schiedene nationale Erzählungen diskutiert. Die partizipativen Möglichkeiten bei der He-
Warum sich welcher Eintrag letzten Endes durch- rausbildung von Erinnerungskulturen führen
setzt, ist aber aus dem Diskussionsforum nicht zur Ausdifferenzierung und Individualisierung
ersichtlich. Es ist zu vermuten, dass dies die hart- des Erinnerns: Heterogenisierung und Hybridi-
näckigsten User sind, oder dass hier von Admi- tät anstatt des befürchteten globalen ›Einheits-
nistratoren, nicht fachlich, sondern willkürlich breis‹; transnationale Meta- bzw. Gruppenerzäh-
zugunsten einer Seite entschieden wird. Ein an- lungen einer kollektiven Genese auf der einen
deres, in der Öffentlichkeit häufig kritisiertes Bei- und Abschottung von Gruppenidentitäten und
spiel für manipulatives Eingreifen sind die bereits -gedächtnissen durch die vereinfachte Vernet-
zahlreichen Skandale um bewusst veränderte und zung werden auf der anderen Seite gefördert.
›geglättete‹ Biographien von öffentlich relevanten Die globale Emanzipations-Funktion des Inter-
Persönlichkeiten. nets bleibt aber beschränkt, ökonomische
An Wikipedia wird deutlich, dass die vor- Zwänge und gesellschaftspolitische Machtver-
nehmlich userdominierte Textproduktion von hältnisse benachteiligen die ›einfachen‹ User – je
verschiedenen Seiten intransparenten und oft nach ihrem Standort und ihrem technischen
willkürlichen Eingriffen unterliegt. Trotz dieser Wissen unterschiedlich stark – auch in der digi-
Einschränkungen bieten partizipative Elemente talen Welt.
des Internets den Nutzern die Möglichkeit, selbst Das Internet hat durch seine Möglichkeiten
Teil des Entstehungsprozesses von Gruppener- und Entwicklungen die ›klassischen‹ Medien be-
zählungen zu werden, auch wenn es hier zu Ein- einflusst; es ist zu erwarten, dass sie noch mehr
griffen von ›oben‹ kommt. Bei dementsprechen- miteinander vernetzt und mobiler werden. Diese
den Rahmenbedingungen können sich User bis Entwicklung ist an den ›klassischen‹ Gedächtnis-
zu einem gewissen Grad von den traditionellen medien – öffentliche Archive, Nationalmuseen,
Begründern von Metaerzählungen emanzipieren. Gedenkstätten etc. – nicht spurlos vorüberge-
Dies bestätigte auch Dörte Hein in einer empiri- gangen: Nationalmuseen transportieren immer
schen Studie über Websites zu Nationalsozialis- seltener große Metaerzählungen, sie werden zu
mus und Holocaust (Hein 2009). Erik Meyer ver- fluktuativen und multimedial aufbereiteten Infor-
weist in diesem Zusammenhang aber auch auf mations(kurzzeit)speichern – das neue Selbstver-
die zunehmende Subjektivierung und das Fehlen ständnis von Kulturmanagern fördert zusätzlich
von Historikern als Ordnungsinstanz: »So relati- Dekonstruktion und Differenzierung. Compu-
viert die durch kommunikationstechnologische terterminals, Rauminstallationen, Film-, Audio-
Innovation forcierte Dynamisierung etablierter und Medienstationen bieten hier immer mehr
Erinnerungsmodi im vorliegenden Zusammen- Wissen und differenziertere Gruppenerzählun-
hang schließlich auch die Möglichkeit einer deut- gen. Museen zeigen Sonder- und Spezialausstel-
lichen Differenzierung von kommunikativem lungen in ihren Räumlichkeiten oder als Webaus-
und kulturellem Gedächtnis« (Meyer 2009, 203). stellungen im ›virtuellen‹ Raum. Gleichzeitig be-
kommen Museen, Archive, Gedenkstätten und
Bibliotheken als Wahrer der Materialität eine be-
sondere Rolle unter den Speichermedien. Sie
240 III. Medien des Erinnerns

wurden und werden auch weiterhin durch das In- sentation und Rezeption der historischen Erzählung.
ternet dazu gedrängt, ihren Platz im Erinne- Münster/New York/München/Berlin 2007.
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Wolfram Dornik
text und dessen Potenziale für die Produktion, Reprä-
241

16. Körper Körper-Gedächtnis-Schrift zum Anlass genom-


men, um Strategien und Praktiken körperlichen
Mit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Erinnerns genauer in den Blick zu nehmen. Bei-
sogenannten geisteswissenschaftlichen Diszipli- träge unterschiedlicher Fachrichtungen (Thea-
nen seit den 1980er Jahren und mit einer an- terwissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwis-
thropologisch ausgerichteten Kulturwissenschaft senschaften) betrachten hier den Körper als Me-
wurde die Frage nach historischen und kulturel- dium der Einschreibung, Speicherung und
len Mustern der Körperwahrnehmung, Körper- Transformation kultureller Zeichen und stellen
darstellung und deren Bedeutung in verschiede- mediale Verfahren der schriftlichen Fixierung
nen künstlerischen Kontexten verfolgt. Die von und Archivierung von Körper-Wissen vor. Das
Norbert Elias’ kritischen Überlegungen zur Ge- Spektrum der Analysen reicht von der Entziffe-
schichte der abendländischen Zivilisation beein- rung der Narbenschrift in Romanen der afro-
flussten Arbeiten von Dietmar Kamper und amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison
Christoph Wulf sprechen, entgegen der Distan- über die Materialisierung sprachloser Erinne-
zierungs- und Technisierungstendenzen der mo- rung auf der Bühne der chilenischen Theater-
dernen Mediengesellschaft, von der »Wiederkehr gruppe »La Memoria« bis hin zum Gedächtnis
des Körpers« und betrachten diesen als einen des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen
Zeichen-Träger kultureller Erinnerung, als »Ge- Passionsspiel, zum Körpergedächtnis im Kontext
genstand und Gedächtnis historischer ›Einschrei- des Mesmerismus, der modernen und postmo-
bungen‹« (Kamper/Wulf 1989, 1–7). Damit wa- dernen (Video-)Kunst und im Zeitalter der digi-
ren Ansätze für die theoretische Beschreibung talen Evolution. Aus anthropologischer Perspek-
des Körpergedächtnisses formuliert, die in die tive (Clastres 1976) wurde auf den Zusammen-
Debatten um das kulturelle Gedächtnis Eingang hang von Schmerz und Gedächtnis am Beispiel
fanden. Das Körpergedächtnis rückte metapho- von Initiationsriten verwiesen, auf die Verzeich-
risch und ganz buchstäblich an die Seite der kul- nung des Schmerzes als Narbenschrift der emp-
turellen und kognitiven Speichermedien, für die fangenen Wunden, die, so Aleida Assmann, zu-
eine Vielfalt von Metaphern (Wachstafel, Tempel, verlässiger sei als das mentale Gedächtnis (Ass-
Bibliothek, Buch, Palimpsest, Spur, Schrift, Wun- mann 2009, 246). Schon Friedrich Nietzsche
derblock etc.) gefunden worden waren. hatte vom »Schmerz als dem mächtigsten Hilfs-
Sigrid Weigel legte mit ihrer Studie Bilder des mittel der Mnemotechnik« gesprochen (Nietz-
kulturellen Gedächtnisses (1994) aus literaturwis- sche 1993, 295) und damit auf den Zusammen-
senschaftlicher Perspektive den Grundstein für hang von Materialität und Gedächtnis angespielt,
eine psychoanalytische und eine kulturwissen- der bereits bei Platon und Aristoteles thematisiert
schaftliche Theoretisierung des Körpergedächt- wird: Zuverlässigkeit und Dauer einer Einprä-
nisses. Ihre Beobachtung ging zu diesem Zeit- gung wurden hier in Abhängigkeit zu der Härte
punkt dahin, dass eine Reflexion über Repräsen- des Materials gedacht (vgl. Assmann 2009, 242).
tationsformen körperlicher Erinnerung in der
Gegenwartsliteratur ausgeprägter sei als in der
Neurophysiologische und kultursemiotische
Theoriebildung zum Gedächtnis (Weigel 1994,
Perspektiven
11). Auch die angloamerikanischen Gender Stu-
dies riefen den Zusammenhang von Identität und In jüngerer Zeit zeichnen sich zwei methodische
Geschlecht ins Bewusstsein und damit den Kör- Perspektiven ab, um das »unlöschbare«, da »un-
per, an dem sich Prozesse der (brüchigen) Identi- veräußerliche« Körpergedächtnis (Assmann 2009,
tätsbildung durch sich wiederholende Zuschrei- 242) hinsichtlich seiner literarischen und künst-
bungen vollziehen. Die Bedeutung des Körpers lerischen Gestaltung und Geltung methodisch zu
für geschlechtsspezifisches Erinnern wurde in verorten:
einem 1996 erschienenen Band mit dem Titel 1. In neurophysiologisch-biologischer Hin-
242 III. Medien des Erinnerns

sicht ist das menschliche Gehirn der Ort, an dem identifikatorische Eigenschaften zu. Gerade in
Informationsspeicherung auf der Basis der Bah- Akten habitualisierten Handelns, in automati-
nung nervlicher Strukturen erfolgt (s. Kap. I.1). sierten Bewegungsabläufen und sich wiederho-
Die neuronalen Spuren, in denen sich sinnliche lenden Zuschreibungen konstituiert sich das Ge-
Eindrücke verkettet haben und codiert sind, wer- dächtnis des Körpers: Ist dieser doch den Dis-
den im Prozess des Erinnerns assoziativ ver- kursregeln von Macht, Sexualität, Wahrheit und
knüpft, erweitert und reaktiviert. Erinnerung ist Wissen (Foucault 1991) ausgesetzt und der Ort,
somit in neurophysiologischer Sicht nicht die Re- an dem über die »Intelligibilität« einer Person –
konstruktion von Vergangenheit, sondern das verstanden als Maß ihrer gesellschaftlichen An-
Ergebnis eines dynamischen Zusammenspiels erkennbarkeit – entschieden wird (Foucault 1970;
von individueller Erlebnisgeschichte und gegen- Butler 1991).
wärtigem Bewusstseinsstand. Auf die Wechsel-
wirkung von abgespeicherten emotionalen Er-
Körpergedächtnis nach Sigmund Freud
fahrungen in den Nervenzell-Netzwerken von
und Aby Warburg
Hirnrinde und limbischem System und der neu-
robiologischen Bewertung späterer Ereignisse Es sind insbesondere zwei Memoria-Konzepte
verweist aus medizinisch-neurobiologischer Per- des 20. Jahrhunderts, von denen aus die Funkti-
spektive Joachim Bauer (2008). Beziehungserfah- onsweise der körperlichen Materialisierung und
rungen hinterlassen Spuren in den biologischen Repräsentation von Erinnerung erhellt werden
Abläufen des Körpers bis hin zur Veränderung kann: Das Gedächtniskonzept der klassischen
der Aktivität genetischen Materials. Individuelle Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Mnemo-
Erfahrungen können im Organismus Reaktions- syne-Projekt des Kunsthistorikers und Kultur-
muster ausbilden, die einen Einfluss auf die Re- wissenschaftlers Aby Warburg.
gulation der Genaktivität in zukünftigen Situati- Freuds Psychoanalyse liefert keine umfassende
onen haben (Bauer 2008, 9). In poetischen Theorie des Gedächtnisses, wohl aber ein topolo-
Konzepten der Gegenwartsliteratur spielen neu- gisches Gedächtnismodell, demzufolge sich so-
robiologische Fakten für das Verständnis dichte- genannte ›Erinnerungsspuren‹ in verschiedenen
rischer Produktion und ihrer Rezeption eine Systemen des psychischen Apparates deponieren.
wichtige Rolle. Bei Durs Grünbein beispielsweise Die Verbindung zwischen Freuds Erinnerungs-
wird das »Engramm« als Medium und Markie- modell und dem Körpergedächtnis besteht dort,
rung einer physiologischen Erinnerungs- und wo sich diese Erinnerungsspuren ihren Weg nach
Gedächtnisspur zur Schlüsselidee, um zwischen außen bahnen und sich in der Affekten- und Ge-
Gehirn und Gedicht, aber auch zwischen Leser bärdensprache des Körpers verschlüsseln. Im
und Gedicht eine energetische Verbindung zu Kontext seiner Studien zur weiblichen Hysterie
denken, die aus den »neurophysiologischen Tie- betrachtete Freud in der Pariser Salpêtrière die
fenschichtungen des Körpers« gewonnen wird bei Patientinnen auftretenden Symptome als Spu-
(vgl. Birtsch 2007, 110). ren, die den Weg zu verborgenen Erinnerungsin-
2. In der oben skizzierten kultursemiotischen halten und Anlässen seelischer Leiden bahnen
Perspektive lässt sich der Körper als ein Archiv (figurationen 2008, 6). Der Körper erscheint hier
denken, in dem sich Spuren individueller oder als ein nachträgliches Symbolisierungsfeld, das
kollektiver Erinnerung eingeschrieben haben. die Leidensspuren verzeichnet und eine Ent-
Der kultursemiotische Ansatz setzt voraus, dass zifferung der in der körperlichen Symptomatik
der Körper nicht als eine jenseits kultureller Mar- eingeschmolzenen verdrängten Erfahrungen und
kierungen vorzufindende geistig-leibliche Ein- Traumata anreizt. Allerdings entzieht sich eine
heit zu denken sei, sondern vielmehr als ein Trä- solche Entzifferung der Eindeutigkeit. Vielmehr
ger von Zeichen. Diese Zeichen konstituieren den wird davon ausgegangen, dass der physischen
Körper, weisen ihm geschlechtsspezifische und Äußerung einer beispielsweise schmerzhaften
16. Körper 243

Erinnerung kein psychischer Parallelvorgang ent- übersetzbare Spur von ›Erregungen‹ gefasst, die
spricht. Körpersprachliche Artikulationen – die sich in Erinnerungen aktualisieren (vgl. Weigel
Symptomsprache des Körpers – sind als »Teil ei- 1994, 45 f.).
ner Sprache des Unbewußten« zu beschreiben,
die sich in verschlüsselter Weise äußert (Weigel
Schmerzensspuren und ihre literarische
1994, 39 ff.). Die Erinnerung stellt sich erst in ei-
Verarbeitung
ner resignifizierenden, in einer Bedeutung rekon-
struierenden und transformierenden Lektüre her. Unter der Prämisse, dass die Beziehung zwischen
Diese Annahme setzt zum einen voraus, dass sich Erfahrung und ihrer Repräsentation, zwischen
Bewusstsein und Gedächtnis ausschließen bzw. Psychischem und Physischem von unumgängli-
dass das Bewusstsein an Stelle der Erinnerungs- chen Differenzmomenten bestimmt ist, handelt
spur entsteht (vgl. Freud 1986, 217); zum ande- es sich bei der Gebärde um eine Ausdrucksform
ren folgt aus der Aktivierung abgelagerter Spu- der Entstellung, der Unähnlichkeit, der Überset-
ren, die durch bestimmte Reize von außen die zung ohne Original, um eine Artikulationsform
»Wiederholung von Affekten und damit verbun- des Unbewussten. Sigrid Weigel zeigt in Bilder
denen Vorstellungsbildern« auslösen (Weigel des kulturellen Gedächtnisses (1994) an Texten
1994, 49), die entstellende Struktur von Erinne- von Ingeborg Bachmann und Christa Wolf, wie
rungsprozessen: In einer Übersetzung ohne Ori- die Entzifferung erfahrener Traumata an den in
ginal erscheint ein zurückliegendes Ereignis oder der Schriftkultur verdrängten Körper gebunden
eine Erfahrung immer schon verschoben, in Dif- ist, der in der »Materialität der Sprache« wieder-
ferenz zu einem unerreichbaren Ort des Ur- kehrt: in Gestalt von Leibmetaphern und in Re-
sprungs. dewendungen, die auf den Körper Bezug neh-
Sigmund Freuds Einsicht in die Diskontinuität men. Die Gebärde, so Weigel, fungiert als eine
der Erinnerungstätigkeit wirkt sowohl in Benja- symbolische Form, deren Bedeutung sich nicht
mins Konzept des dialektischen Bildes (Zum- in einer Übersetzung in Sprache erschließt, son-
busch 2004) wie auch in Warburgs Theorem der dern nur über die Erinnerung der darin aktuali-
Pathosformel weiter. Die Idee eines Bildgedächt- sierten Form und Erfahrung. In ihr verkörpern
nisses der europäischen Kulturgeschichte, das der sich Leid und Leidenschaft gleichermaßen (Wei-
Kunsthistoriker Aby Warburg zu Beginn des 20. gel 1994, 45 f.). Ein weiteres einschlägiges Beispiel
Jahrhunderts entwickelte, kann als ein Versuch für die diskontinuierliche Verarbeitung traumati-
gelten, aus der Formen- und Symbolsprache ver- scher Erfahrungen und ihrer entstellten Wieder-
gangener Kulturen unausgesprochene und un- kehr in Form körpersprachlicher Affekte und
aussprechliche Erinnerungen zu lesen und zu Gebärden stellt Anne Dudens Judasschaf (1985)
entziffern. dar. Hier ist der Körper das Medium der Erre-
In seinem Bilderatlas Mnemosyne ordnete gung, in das sich Dauerspuren vergangener Trau-
Warburg auf Bildtafeln Darstellungen von Aus- mata eingeschrieben haben, die jedoch nur »blitz-
drucksgebärden (›Pathosformeln‹) aus verschie- artig« und »fragmentarisch« aufscheinen und
denen Zeiten und Genres der bildenden Kunst, nur mühsam in entstellter Form, auf der Grund-
um ein Bildprogramm der europäischen Kultur lage von Träumen, Medien und Bildern des
zu erstellen, das auf die Antike rekurriert. Dieses kulturellen Gedächtnisses (Gemälde der Renais-
›visuelle Cluster‹ versteht sich als Bildgedächtnis, sance), entziffert werden können. Spuren erlitte-
in dem die Gebärden- und Körpersprache als ner Traumata bzw. Glückserfahrungen mani-
symbolische Form, in der sich Leid und Leiden- festieren sich gestisch, affektiv, mimisch. Fried-
schaft gleichermaßen verkörpern, gespeichert rich Nietzsches Diktum, dass nichts furchtbarer
werden. Analog zu psychoanalytischen Erklärun- und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte
gen der körperlichen Affektensprache wird die des Menschen sei als seine Mnemotechnik, ist für
Ausdrucksgebärde hier als eine sprachlich nicht eine kultursemiotische Konzeption von Körper-
244 III. Medien des Erinnerns

gedächtnis immer noch aktuell: »Wie macht man bärden, Gesten, physische Symptome werden
dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt auch in Ingeborg Bachmanns imaginärer Auto-
man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augen- biographie Malina (1971) und in Christa Wolfs
blicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergeßlich- Prosa zu Leitkategorien eines Gedächtnisses, das
keit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt? [...] die Grenzen der Repräsentierbarkeit von trauma-
Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis tischer Erfahrung zur Darstellung bringt. In Ruth
bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt Klügers Autobiographie weiter leben. Eine Jugend
im Gedächtnis« (Nietzsche 1993, 295). Indem (1992) wiederum ist es die schreibende Hand, die
Nietzsche den körperlichen Schmerz zum »mäch- als Instrument der Selbstvergewisserung Zeugnis
tigsten Hülfsmittel der Mnemonik« erklärt, wird ablegt von einer Erinnerung, die sich im Ineinan-
letzthin deutlich, dass die mnemotechnische der von durchlittener Vergangenheit und schrift-
Funktion gerade in der Schmerzfähigkeit des stellerischer Gegenwart prozessual entfaltet (vgl.
Körpers, in seiner äußeren und nach innen ge- Hoffmann 2008). Die schreibende Hand ist hier
richteten Verwundbarkeit zu suchen ist (vgl. auch Garant einer Erfahrung, die sich im Körper der
Scarry 1992). Der Körper wird zum »Wahrneh- Schreibenden materialisiert hat, jedoch wird bei
mungs- und Ausdrucksorgan« dort, wo Spuren Klüger die Möglichkeit, Zeugnis ablegen zu kön-
erlittener Gewalt sich in das Fleisch eingegraben nen, zum Gegenstand literarischer Selbstrefle-
haben und die Narbenschrift die durch solche xion. Selbst der durch das Körpergedächtnis ga-
Gewalteinwirkungen verursachte seelische Ver- rantierte Sinngehalt der Worte entbehrt der end-
sehrtheit lesbar macht. gültigen Beweiskraft.
Literarische Texte der Nachkriegszeit nähern Wenn es, wie die neurophysiologische Hirn-
sich individuellen und kollektiven Traumata auf forschung versichert, »körperlich eingeschrie-
den Spuren dieses kultursemiotischen und psy- bene Erfahrungen und Wunden« gibt, die sich
choanalytischen Konzepts von Körpergedächt- dem Einfluss des Willens entziehen und sich des-
nis, wobei es vorzugsweise Autorinnen sind, die halb als besonders stabil erweisen (Assmann
das Körpergedächtnis auf seine geschlechtsspezi- 2009, 250), so bleibt doch auch im Fall der un-
fischen Implikationen hin befragen. Die österrei- trüglichen Affekt- und Gefühlssprache des Kör-
chische Historikerin und Autorin Elisabeth pers die Frage nach der Authentifizierbarkeit von
Reichart etwa fokussiert in ihren Erzählungen Erinnerung bestehen. Am Fall der Autobiogra-
»Wie nah ist Mauthausen?« und »Wie fern ist phin Mary Antin demonstriert Assmann, dass
Mauthausen« aus ihrer Erzählsammlung La Valse Erinnerung nicht zwingend mit der empirisch
das nationalsozialistische Lager Mauthausen als gesicherten Erfahrungswelt übereinstimmen
einen Ort, an den sich eine »kollektive Erinne- muss, sondern, gerade wenn sie affektiv ausge-
rungsverweigerung« knüpft (Kecht 2002, 70) und richtet ist, einen Anspruch auf Wahrheit erheben
dessen traumatische Dimension nach einer Erin- kann, der historischen Zeugniswert besitzt. In
nerungssprache verlangt, die sich nicht mit der Erinnerungspoetiken der Gegenwart wiederum,
offiziellen Historiographie verrechnen lässt. die noch nicht einmal den Anspruch auf Au-
Mauthausen verbindet für die Protagonistin Wis- thentizität der geschilderten historischen Erfah-
sen mit Erfahrung, das »Erfahrungsgedächtnis rung erheben können, wird immer noch auf den
wird bei Reichart zu einem Körpergedächtnis« Körper als Gedächtnisträger und untrüglichen
(ebd., 70). Auch hier wird die Erinnerung an ei- Garanten erlittener Traumata zurück verwiesen.
nen Ort des Schreckens von körperlichen Affek- In W.G. Sebalds Œuvre sind es die melancholi-
ten aus entschlüsselt, wobei sich das Augenmerk sche Grundbefindlichkeit des Erzählers und da-
der Autorin auf die erfahrene Zeugenschaft, auf raus resultierende körperliche Affekte, die als
weibliche Solidarität unter den Häftlingen und Schlüssel der Lesbarkeit einer nicht nur individu-
die Geschlechtsspezifität eines persönlichen »Ge- ellen, sondern kollektiven historia calamitorum
schichtsnarrativs« richtet (Kecht 2002, 71 f.). Ge- in Anspruch genommen werden.
16. Körper 245

Literatur Hoffmann, Lukas: Die Repräsentation des Holocaust in


der modernen Literatur vom authentischen Zeugnis
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und zum bagatellisierenden »Shoah-Business«. Unveröf-
Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses [1999]. fentlichte Magisterarbeit Paderborn 2008.
München 42009. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.): Transfigurati-
Bauer, Joachim: Das Gedächtnis des Körpers. München onen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte.
13
2008. Berlin 1989.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Kecht, Maria-Regina: Wo ist Mauthausen? Weibliche
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frank- Erinnerungsräume bei Elisabeth Reichart. In: Mo-
furt a. M. 1974. dern Austrian literature 35 (2002), 63–86.
Birtsch, Nicole: Orientierungsversuche im Niemands- Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine
land zwischen Medizin und Poetik. Das Verhältnis Streitschrift. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische
zwischen Körpergedächtnis und Poesie in Texten von Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio
Durs Grünbein. Würzburg 2007. Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. München 31993,
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frank- 245–412.
furt a. M. 1991. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der
Clastres, Pierre: Staatsfeinde: Studien zur politischen Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frank-
Anthropologie. Frankfurt a. M. 1976. furt a. M. 1992.
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Körpergedächtnis//Gedächtniskörper. Hg. von The- Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink.
rese Frey Steffen. Köln/Weimar/Wien 2008. Gesammelte Schriften II.1. Berlin 2000.
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Wille zum Wissen. Frankfurt a. M. 1991. Benjamin. Köln/Weimar/Wien 1992.
–: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am –: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Ge-
Collège de France. 2. Dezember 1970. Mit einem Es- genwartsliteratur. Dülmen-Hiddingsel 1994.
say von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 1994. Zumbusch, Cornelia: Wissenschaft in Bildern. Symbol
Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887–1904. und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-
Frankfurt a. M. 1986. Atlas und Benjamins Passagen-Werk. Berlin 2004.
Claudia Öhlschläger
247

IV. Forschungsgebiete

Einleitung reich zentraler disziplinärer aber auch konzeptu-


eller, sich über die Disziplinen erstreckender Zu-
Obwohl individuelle Erinnerung sozial verfasst gänge, die in diesem Kapitel gesondert vorgestellt
ist, und obwohl selbst das Gehirn als plastisches werden sollen.
Organ in Teilen sozial geformt ist, kann mit guten Die Geschichtswissenschaft unterscheidet sich
Gründen analytisch zwischen individuellen und von all den anderen Fach- und Forschungsrich-
kollektiven Aspekten von Gedächtnis und Erin- tungen vor allem dadurch, dass sie selbst eine fun-
nerung unterschieden werden. Die Beschäftigung damentale Rolle im Kreislauf der Vergegenwärti-
mit ersteren fokussiert darauf, woran ein Indivi- gung von Vergangenheit spielt. Sie gilt als letzte
duum sich erinnern kann, wie sich sein Gedächt- Instanz wenn es um möglichst akkurate Rekon-
nis herausgebildet hat und wie dieses funktio- struktionen vergangener Ereignisse geht. Sie ord-
niert. Die kollektiven Dimensionen von Erinne- net Artefakte, Akten und Berichte zu Erzählun-
rung und Gedächtnis hingegen werden zwar gen, die maßgebliche Orientierung für das Bild
getragen von Individuen, die sie schaffen, aktua- einer Vergangenheit sind, unabhängig davon wie
lisieren und rezipieren, als Gegenstand der For- dieses dann medial umformatiert und verbreitet
schung interessieren jedoch die Phänomene jen- wird. Zugleich, und darum geht es in diesem Ab-
seits der an ein Individuum gebundenen Erinne- schnitt, ist die Beschäftigung mit Vergangenheits-
rung. In den Vordergrund geraten die für jede erzählungen in der Geschichte inzwischen zum
Art von Kollektiv bedeutsamen Vergangenheits- integralen Bestandteil der Geschichtswissen-
repräsentationen. schaft geworden. Die wohl längste Tradition des
Insbesondere in den ersten beiden Kapiteln Nachdenkens darüber, was Erinnerung ist, findet
sind bereits eine Reihe von Disziplinen und For- sich zweifellos in der Philosophie. Beginnend in
schungsgebieten angesprochen worden, die sich der klassischen Antike bis zur Philosophie des
genau dieser Dimensionen von Erinnerung an- Geistes ist dieses Denken stets anschlussfähig an
nehmen. Die »Grundlagen des Erinnerns« be- die jeweils parallel in anderen Denktraditionen
treffen das Individuum, seine organische und und Untersuchungsansätzen geführten Diskussi-
psychische Ausstattung. So galt die Aufmerksam- onen geblieben. Die im Verhältnis zu den beiden
keit dem Gehirn als Organ der Erinnerung und genannten Disziplinen noch junge Soziologie und
dabei seiner Entwicklung, seiner Beschädigun- Literaturwissenschaft knüpfen theoretisch durch-
gen und der Veränderung seiner Leistungsfähig- aus an philosophische, geschichtstheoretische
keit. Hinzu traten verschiedene Spielarten psy- und theologische Diskurse zum Gedächtnis an.
chologischer Forschung, die stärker auf das Während die Soziologie schon im frühen 20.
Individuum und seine Erinnerungsfähigkeit fo- Jahrhundert noch heute zentrale, ja paradigmati-
kussieren. Die im zweiten Kapitel gestellte Frage sche Arbeiten hervorgebracht hat, trug sie selbst
»Was ist Gedächtnis/Erinnerung?«, welche wei- in Form neuer empirischer Studien angesichts
teren diesbezüglichen Konzepte und Untersu- dieser Tradition bemerkenswert wenig zum
chungsweisen existieren, führte immer stärker in Boom der Gedächtnisforschung seit den späten
die Bereiche kollektiver, ja politischer Erinne- 1980 Jahren bei. Ganz anders die Literaturwis-
rung. Neben den dort bereits ausführlich vorge- senschaft, die neben der Geschichtswissenschaft
stellten Ansätzen, Gedächtnis zu verstehen, gibt eine der maßgeblichen Disziplinen der Erfor-
es eine Reihe weiterer für diesen Gegenstandsbe- schung kollektiver Erinnerung geworden ist.
248 IV. Forschungsgebiete

Beide befinden sich übrigens an fast entgegenge- dem Begriff der Oral History assoziierte Biogra-
setzten epistemologischen Polen. Während die phieforschung – ihr Gegenstand sind Lebensge-
eine sich zentral im Verhältnis zu dem was tat- schichten –, die jedoch etwa in Gestalt diskurs-
sächlich geschah definiert, ist genau dieser Bezug psychologischer oder narratologischer Zugriffe
bei der anderen weitgehend bedeutungslos. starke Anleihen bei anderen Fächern macht.
Neben den genannten Fächern, in denen die Ähnliches gilt für die Tradierungsforschung, de-
Erinnerungsforschung lediglich ein Teil ihrer Ge- ren Gegenstand kommunikative Weitergabepro-
samtheit ausmacht, enthält das Kapitel Beiträge zesse sind. Geschlechter- und Generationenfor-
zu Forschungsgebieten, die jenseits solcher dis- schung sind wiederum Gebiete, in denen Ge-
ziplinärer Zuordnungen originär gedächtnisrele- dächtnis und Erinnerung lediglich Teilbereiche
vante Gegenstände untersuchen und dies unter des Gesamtgegenstands ausmachen, deren Im-
Rückgriff auf Theorien und Methoden verschie- pulse jedoch fundamental für jede Form der em-
denster Provenienz tun. Noch relativ enge Bin- pirischen und theoretischen Gedächtnisfor-
dungen zur Geschichtswissenschaft hat die mit schung sind.
249

1. Geschichtswissenschaft Es ist symptomatisch, dass sich die Bezeich-


nung ›Historische Erinnerungsforschung‹ in
Trotz bis heute inspirierender Schriften, wie der wissenschaftlichen Kommunikation bis dato
Friedrich Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtun- nicht wirklich eingebürgert hat. In Deutschland
gen (1873–1876), Was ist eine Nation? (1882) von ist vielmehr von ›Gedächtnis-‹ bzw. ›Erinnerungs-
Ernest Renan oder das umfangreiche und nicht forschung‹ die Rede, was allerdings disziplinäre
abgeschlossene Passagen-Werk (1927–1940) von Mehrfachgebundenheit impliziert und somit un-
Walter Benjamin, lässt sich ein besonderes Inter- spezifisch ist; in Frankreich bedient man sich da-
esse der Geschichtswissenschaft an Erforschung gegen entweder der schlichten Bezeichnung Er-
des individuellen und des kollektiven Gedächt- forschung von mémoire collective oder aber des
nisses (erst) seit Ende der 1970er bzw. seit den von Pierre Nora vorgeschlagenen Terminus
1980er Jahren erkennen und seit den frühen »Geschichte zweiten Grades« (histoire au second
1990er Jahren ist mit Recht vom »Erinnerungs- degré). Die zweite Variante ist wiederum im deut-
boom« die Rede. Im Hinblick auf die »Erinne- schen Sprachgebrauch – von frankophilen Histo-
rungswelle« (Hartog 2003, 114) nach 1989 und rikern abgesehen – kaum präsent. Die Bezeich-
das starke Interesse an jüngster Vergangenheit in nung ›Historische Erinnerungsforschung‹ hat in-
der Geschichtswissenschaft und im öffentlichen folgedessen mehrere Vorteile: (1) Sie bezieht sich
Diskurs betrachtet François Hartog den Präsen- auf die Historizität des Gedächtnisses; (2) sie im-
tismus als einen neuen Geschichtlichkeitsmodus pliziert beide Formen der Erinnerung bzw. des
(régime d’historicité), in dem das Gedächtnis zu Gedächtnisses: die individuelle und die kollektive
einer »metahistorischen, manchmal sogar theo- Erinnerung; (3) sie ist beschreibend, keinem kon-
logischen Kategorie« (ebd., 17) wurde. kreten Forschungsstrang verbunden und hat da-
Von der Popularität erinnerungsgeschichtli- durch einen neutralen und umfassenden Charak-
cher Fragestellungen zeugen breit angelegte For- ter, was besonders wichtig ist, wenn man die
schungsprojekte, die kaum mehr zu überschau- Weite des begrifflichen Feldes der Historischen
ende Anzahl von Beiträgen, Monographien und Erinnerungsforschung berücksichtigt. Zu diesem
Sammelbänden zu dieser Problematik, unzählige in terminologischer und konzeptueller Hinsicht
Konferenzen und Podiumsdiskussionen, in de- ausgedehnten Gebiet gehören u. a. als Produkte
nen Gedächtnis und Erinnerung eine zentrale diskursiver Praktiken verstandene kollektive Er-
Rolle spielen oder die Präsenz der Termini Ge- innerung, kollektives Gedächtnis und kollektive
dächtnis, Erinnerung und Erinnerungskultur in Identität, Erinnerungsort (s. Kap. III.9), Erinne-
einschlägigen Einführungen und Lexika (wo sie rungs- und Geschichtskultur, sowie Geschichts-,
oft mit den Attributen »Leitbegriff« oder (neues) Vergangenheits- und Gedächtnispolitik, Kultur-
»Paradigma« versehen werden). erbe (frz. patrimoine, engl. heritage), Memoria,
In der Forschungspraxis werden Gedächtnis Semiophor (als ein sichtbarer Zeichenträger im
bzw. Erinnerung bemüht, um so unterschiedliche Sinne von Krzysztof Pomian) als auch verschie-
Phänomene zu beschreiben, wie: Vorstellungen dene Formen des Vergessens und Verdrängens.
von der Vergangenheit, Vergangenheitsbezüge Trotz der Heterogenität von Schlüsselbegriffen
jeglicher Art, Geschichtspolitik, -bewusstsein könnte der kleinste gemeinsame Nenner ver-
oder -wissen, Tradition, Gedenken und öffentli- schiedener Ansätze der Historischen Erinne-
cher Diskurs über die Vergangenheit sowie Ge- rungsforschung in Abkehr von Linearität, po-
schichte der Geschichtsschreibung. Gemeint sind litischer und Ereignisgeschichte sowie in Zu-
sowohl Bedeutungsinhalte, als auch Bedingun- wendung zur symbolischen Dimension der
gen, Mechanismen und Wirkungen des »Ge- Vergangenheit, kollektiven Imaginationen sowie
dächtnisses«, das sich wiederum auf die jeweilige der Analyse von Formen und Funktionen des Ge-
Gegenwart sowohl der erlebten als auch der ver- brauchs der Geschichte für die jeweils aktuellen
mittelten Vergangenheit bezieht. Bedürfnisse gesucht werden. Es bedeutet aller-
250 IV. Forschungsgebiete

dings weder Abschied von Erforschung der Fak- über das Vichy-Regime in Frankreich oder auch
tizität noch ›Entrealisierung‹ der Geschichte, im Hinblick auf die Folgen der »Holocaust«-Serie
sondern eine Erweiterung des Realitätsbegriffs (1979) in Westdeutschland (»Eine Nation ist be-
um das Problem der Präsenz der Vergangenheit troffen«). Der Abschied von (nationalen) Meis-
in der jeweiligen Gegenwart: In der Historischen tererzählungen, die Abkehr von Fortschrittsideo-
Erinnerungsforschung werden Konstruktions- logien und das damit einhergehende Gefühl der
prozesse des Gedächtnisses (Ursprünge, Archi- Verunsicherung und der Zukunftslosigkeit be-
tektur, Dis- und Kontinuitäten), seine Verbrei- günstigten – so die Erkenntnis mehrerer v. a.
tungsweisen (Träger und Medien sowie Zirkula- französischer Historiker – den Rekurs auf die
tionswege), Funktionen (z. B. Abgrenzung, Vergangenheit. Nicht ohne Grund erfreut sich
Absicherung, Annäherung, Kompensation, Legi- auch das »Plastikwort« ›kollektive Identität‹ (Lutz
timation oder Rechtfertigung) und Wirkungen Niethammer) zu (bzw. seit) dieser Zeit einer gro-
erforscht. Auf diese Weise können jeweils in con- ßen Popularität.
creto solche Eigenschaften der Erinnerungen auf- Sowohl gesellschaftlich als auch geschichtswis-
gedeckt werden, wie Emotionalität, Formbarkeit senschaftlich gab es also günstige Bedingungen
und Plastizität, Historizität, Selektivität und – für die Konjunktur des Gedächtnisses. Ange-
nicht selten – Widersprüchlichkeit. sichts der intensiven Präsenz dieser Kategorie in
Der Einzug des Gedächtnisses in den Bereich dem historiographischen Diskurs seit den 1980er
der historischen Forschung kann vor dem Hin- Jahren und der imponierenden Anzahl von Pu-
tergrund geschichtswissenschaftlicher Neuerun- blikationen zu diesem Thema, überrascht aller-
gen der drei letzten Jahrzehnte sowie im Hinblick dings die Tatsache, dass es bis dato keine allge-
auf bestimmte gesellschaftliche Prozesse in die- meine Überblicksdarstellung zur Historischen
sem Zeitraum betrachtet werden. Erwähnt seien Erinnerungsforschung gibt.
die Entstehung und Etablierung der Oral History,
der Holocaust-Forschung, der Mentalitäts- und
Historische Erinnerungsforschung
Alltagsgeschichte, der Historischen Anthropolo-
in Frankreich und Deutschland
gie, der modernen Nationalismusforschung, des
linguistic turn und der aus der Begriffsgeschichte Im Folgenden wird näher auf zentrale Fragestel-
Reinhart Kosellecks und Arbeiten Hayden Whites lungen und Methoden der Historischen Erinne-
und Michel Foucaults schöpfenden historischen rungsforschung in Frankreich und Deutschland
Diskursanalyse seit den 1970er sowie das Vor- eingegangen, die durch kursorische Einblicke in
dringen kulturwissenschaftlicher Fragestellun- das Gebiet der Memory Studies in den USA er-
gen in den 1980er Jahren. Aus realgeschichtlicher gänzt werden. Die Fokussierung auf diese zwei
Perspektive handelt es sich in den westlichen Ge- Länder ermöglicht es, grundlegende Konzepte
sellschaften um eine Zeit diverser Umbrüche: und international rezipierte Erkenntnisse der his-
»Zweite Französische Revolution« (Henri Men- torischen Erforschung des individuellen und des
dras), »Ende des goldenen Zeitalters« (Eric Hobs- kollektiven Gedächtnisses zu erörtern. Anschlie-
bawm) oder »Nach dem Boom« (Anselm Doe- ßend werden Chancen und Risiken der Histori-
ring-Manteuffel) verweisen auf die Wirtschafts- schen Erinnerungsforschung und – im abschlie-
krise, den »langen Abschied vom Malocher« und ßenden Kapitel – einige Kritikpunkte und For-
die strukturelle Arbeitslosigkeit. Zu berücksichti- schungsdesiderate diskutiert.
gen sind darüber hinaus verschiedene Emanzipa- Frankreich: Das manifestartige Erscheinen des
tionsbewegungen – von der Dekolonialisierung Gedächtnisses in der französischen Geschichts-
bis zur Frauenbewegung –, der Medienwandel schreibung geht auf Pierre Nora zurück, der 1978
und bestimmte nationale Identitätsdebatten: z. B. in dem von Jacques Le Goff und Jacques Revel
im Zusammenhang mit dem Ende des Gaullis- herausgegebenen Lexikon La nouvelle histoire im
mus und des Kommunismus oder der Debatte kollektiven Gedächtnis eine Möglichkeit sah, die
1. Geschichtswissenschaft 251

historische Forschung zu erneuern. In den darauf 1978 ist darüber hinaus die Gründung des In-
folgenden Jahren setzte Nora seinen Ansatz in stitut d’Histoire du Temps Présent (IHTP, Institut
dem siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire zur Erforschung der Zeitgeschichte) in Paris zu
(1984–1992) um. Allerdings wurden schon ein verzeichnen, die – wie dem offiziellen Selbstver-
paar Jahre früher interessante Beiträge zur Erfor- ständnis dieser Institution zu entnehmen ist – auf
schung des kollektiven Gedächtnisses vorgelegt, die »kollektive Amnesie« nach dem Zweiten
auch wenn sich ihre Autoren der Kategorie »Ge- Weltkrieg und die spätere Entstehung einer »eu-
dächtnis« nicht explizit bedienten: Le dimanche ropäischen und internationalen Erinnerung« an
de Bouvines: 24 juillet 1214 von Georges Duby den Zweiten Weltkrieg zurückgehe (http://www.
(1973, dt. 1988) und La légende des camisards. ihtp.cnrs.fr). Einer der zentralen Forschungsbe-
Une sensibilité au passé von Philippe Joutard reiche des IHTP waren von Anfang an die Erin-
(1977). Dem Mediävisten Duby gelang es, die nerungskulturen in Frankreich. 1980 wurde z. B.
mittelalterliche Schlacht bei Bouvines in doppel- ein Forschungsprojekt (Les Français et la Seconde
ter Hinsicht zu hinterfragen, indem er heraus- Guerre mondiale depuis 1945) initiiert, dessen
arbeitete, dass sich unser Wissen über diese Ziel es war, kollektive Imaginationen der Jahre
Schlacht auf eine winzige Anzahl von Fakten re- 1939–1945 zu erforschen. In über zwanzig De-
duziere und indem er dieses Ereignis in einer lan- partements wurden grundlegende Untersuchun-
gen historischen Perspektive betrachtete. Duby gen diverser Formen des Gedenkens des Zweiten
interessierte dabei nicht (mehr), was sich ›wirk- Weltkrieges bis Ende der 1970er Jahre durchge-
lich‹ am 27. Juli 1214 bei Bouvines abgespielt führt. Im Zentrum standen dabei der 8. Mai so-
hatte, sondern das ›Nachleben‹ dieser Schlacht wie die Résistance und die Libération. Während
im kollektiven Gedächtnis der Franzosen. Das lokale, regionale und politische Spezifika der Ge-
Werk des Frühneuzeitlers Philippe Joutard ist da- denkveranstaltungen detailliert erforscht werden
gegen eine gelungene Verbindung der ›klassi- konnten, wurden generationelle, soziale oder
schen‹ Historiographie mit den Ergebnissen sei- auch genderfokussierte Schichten der Erinne-
ner historisch-ethnographischen Untersuchun- rungskultur(en) kaum berücksichtigt.
gen (Oral History) unter den Bauern in der In den darauf folgenden Jahren dominierten
Gebirgsregion Cévennes im Süden Frankreichs, in der Historischen Erinnerungsforschung in
wo es 1704 nach der Aufhebung des Edikts von Frankreich drei Themenkomplexe: das Vichy-
Nantes (1685) und der erzwungenen Rekatholi- Regime, der Algerien-Krieg und die Französische
sierung einen Aufstand der unterdrückten Refor- Revolution.
mierten und folglich einen grausamen Guerilla- Aus mindestens drei Gründen begannen sich
Krieg gab. Die Erforschung mündlicher Überlie- die französischen Historiker erst Ende der 1970er
ferungen bestätigte Joutards Hypothese über die Jahre mit der Geschichte des Vichy-Regimes zu
lang anhaltende Wirkung der kollektiven Erinne- beschäftigen: (1) Maßgebliche Archive waren bis
rung an die Auflehnung der Protestanten (die in dahin geschlossen und alternative Quellen, wie
den Cévennes als »camisards« bezeichnet wur- Zeitzeugeninterviews spielten damals so gut wie
den). Besonders spannend ist dabei der von Jou- keine Rolle. (2) Hinzu kam, dass bis in die 1970er
tard unternommene Versuch, herauszufinden, Jahre hinein die Zeitgeschichte (histoire du temps
welchen Ursprung die jeweiligen Schichten der présent) für die überwiegende Mehrheit der his-
Erinnerung hatten. Es gelang ihm, Erinnerungs- torischen Zunft als ein suspektes Terrain galt und
bestände zu identifizieren, die den gedruckten die Oral History – als eines der wichtigsten In-
Quellen gegenüber relativ resistent waren, solche, strumente zur Erforschung der jüngsten Vergan-
die auf Rezeption der diesbezüglichen Literatur genheit – weitgehend unbekannt war. (3) Von
zurückgingen sowie diverse Verschmelzungspro- grundlegender Bedeutung war außerdem der ge-
zesse zwischen diesen beiden Erinnerungskon- sellschaftliche Kontext: Die graduell zwar sehr
stellationen. unterschiedliche, aber doch verbreitete Verwick-
252 IV. Forschungsgebiete

lung der Franzosen in die Kollaboration führte zu gesellschaftspolitischen Prozessen: Die Mitte
dazu, dass in der französischen Öffentlichkeit der 1970er Jahre war zum einen durch das Ende
wenig Interesse an einer Auseinandersetzung mit des Gaullismus markiert, zum anderen verlor die
den ›dunklen Jahren‹ bestand. Kommunistische Partei an gesellschaftlicher Re-
Intensiv erforscht wurde dagegen die (Erinne- levanz. Somit wurden zwei Traditionen margina-
rungs-)Geschichte der französischen Résistance: lisiert, für die die Hervorhebung der Résistance
Vor allem in den 1980er Jahren beschäftigten sich beim gleichzeitigen Schweigen über die wenig
viele Historiker mit schriftlichen und mündli- ruhmreiche Geschichte des Vichy-Regimes von
chen Zeugnissen der Widerstandskämpfer. Dabei identitätsstiftender Bedeutung war. Den damit
zeigte sich, wie aus einer Anzahl individueller Er- verbundenen erinnerungskulturellen Wandel be-
innerungen eine anerkannte und allgemein gel- züglich der Vichy-Zeit analysierte u. a. Henry
tende Geschichte des Widerstands (le récit de la Rousso. Roussos Untersuchung in Le syndrome
Résistance) entstanden war und die individuellen de Vichy (1987) ›beginnt‹ nach dem Ende des Re-
Geschichten zugleich aus dem Gewebe der be- gimes und widmet sich unterschiedlichen For-
reits etablierten Großerzählung geschöpft und men des Umgangs der Franzosen mit der Vichy-
bestimmte Momente, Inhalte und Akzente sogar Zeit. Auffallend in der Studie von Rousso ist sein
übernommen haben. Die wichtigsten Vermittler- Rekurs auf psychoanalytische Termini bei Perio-
figuren in diesem Prozess waren einerseits di- disierung der analysierten Jahrzehnte: Auf die
verse Vereinigungen der Widerstandskämpfer als Zeit der Trauer (temps du deuil) 1944–1954 sei
Initiatoren und Organisatoren von Gedenkver- die Zeit der Verdrängung (temps du refoulement)
anstaltungen und Ideengeber zur Anbringung gefolgt. Anfang der 1970er Jahre sei das Ver-
von Gedenktafeln oder Errichtung von Denkma- drängte zurückgekehrt (retour de refoulé) und die
len und andererseits Presse, Radio und Fernse- traumatische Neurose (la névrose traumatique)
hen als öffentlichkeitswirksame Transporteure habe sich nach 1974 in eine Obsession verwan-
bestimmter Inhalte und Bilder. Weitere Studien delt.
untersuchten Mechanismen, Funktionen und Die Psychoanalysierung der Vorstellungen von
Auswirkungen politischer Instrumentalisierung Vergangenheit ist heute zwar Geschichte, aber
der Widerstandsbewegung, in deren Folge aus Rückgriffe auf Konzepte der Psychoanalyse (s.
der Résistance das ins Deutsche kaum übersetz- Kap. I.5) und insbesondere auf das Konzept des
bare Phänomen des Resistenzialimus (résistanci- Traumas kommen in der Geschichtswissenschaft
alisme) und dann ein Mythos (le mythe résistanci- – vor allem in Bezug auf die Geschichte des 20.
aliste) entstehen konnten. Jahrhunderts – nicht selten vor. Unter dem Be-
Eine Zäsur in der gesellschaftlichen Vichy-Re- griff ›Trauma‹ wird ein unerwartetes und um-
zeption markiert neben dem berühmten Film stürzendes Ereignis verstanden, das Spuren
Shoah (1985) von Claude Lanzmann der viel frü- hinterlässt, mit traditionellen Mitteln als nicht
her entstandene Dokumentarfilm Le Chagrin et erklärbar erscheint und deswegen auf die Trau-
la pitié (1969, dt. Zorn und Mitleid oder Das Haus matisierten – womit sowohl Individuen als auch
nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kollektive gemeint sind – blockierend wirkt. Eine
Kriege) von Marcel Ophüls über das Alltagsleben methodisch umstrittene Forschungsperspektive
unter der deutschen Besatzung in Clermont-Fer- ist hierbei die im Grenzbereich zwischen Natur-
rand, in dem das Problem der Kollaboration und und Geisteswissenschaften angesiedelte Psycho-
des Antisemitismus der Franzosen enthüllt historie, in der z. B. psychohistorische Interviews
wurde. Eine Wende hin zu einer Historisierung mit Überlebenden des Holocaust und ihren Fa-
des Vichy-Regimes ist u. a. drei Werken ausländi- milienmitgliedern zur Erforschung des Traumas
scher Historiker zu verdanken: Eberhard Jäckel der Shoah und der Vermittlung der Erinnerun-
(1966), Alan S. Milward (1970) und Robert O. gen an das Trauma an die nächsten Generationen
Paxton (1972). Diese Entwicklung verlief parallel dienten. Eine durchaus andere Ausrichtung hat
1. Geschichtswissenschaft 253

dagegen der Rückgriff auf das Konzept des Trau- tung der Disziplin insbesondere im Hinblick auf
mas bei dem US-amerikanischen Holocausthis- ihre Rolle in der Öffentlichkeit aufwirft. Zugleich
toriker Dominick LaCapra: Auf Freudsche Kate- zeigte sich erneut, dass die Historiographie selbst
gorien des Durcharbeitens und der Übertragung und somit auch die Historiker Akteure der Erin-
(bzw. des Ausagierens) rekurrierend, unterschei- nerungskultur sind.
det er zwei Formen der Erinnerung an das Deutschland: Anders als in Frankreich, gab es
Trauma und des geschichtswissenschaftlichen in der deutschen Geschichtswissenschaft keine
Schreibens über das Trauma. LaCapras Ziel ist es progammatische Erklärung à la Pierre Nora, mit
jedoch nicht, die Positionen der Psychohistorie der man die Anfänge der Historischen Erinne-
zu stärken, sondern zur methodischen Selbstre- rungsforschung verbinden könnte. Als signum
flexion der Geschichtswissenschaft über die Ver- temporis kann allerdings die Entstehung des Ar-
strickung der Forschenden in den Untersu- beitskreises Archäologie der literarischen Kommu-
chungsgegenstand beizutragen. nikation bereits im Jahre 1978 gelten, in dem die
Ähnlich wie im Falle des Vichy-Regimes Grundlagen der inzwischen auch in der Ge-
wurden Erkenntnisinteressen der Historiker des schichtswissenschaft omnipräsenten Assmann-
Algerienkrieges von gesellschaftlich wirksamen schen Kategorien ausgearbeitet wurden. In der
Mechanismen des Vergessens bzw. des Nicht- deutschen Geschichtswissenschaft gab es, ähn-
erinnerns abgeleitet. Da nach 1962 – übrigens lich wie in Frankreich, bereits in den 1970er Jah-
noch schneller als nach 1944/1945 – Amnestiege- ren wichtige erinnerungsgeschichtliche Studien,
setze erlassen, Radio- und Fernsehsendungen in denen zwar nicht explizit vom Gedächtnis die
sowie Filmproduktionen zensiert wurden und in Rede war, die jedoch als Vorläufer der späteren
den Schulen über den Algerienkrieg nicht unter- Forschungstendenzen betrachtet werden können.
richtet wurde, nimmt es nicht Wunder, dass im Von bis heute eminenter Bedeutung sind hierbei
Zentrum der Aufmerksamkeit der Historiker Thomas Nipperdeys Studien über Nationaldenk-
zum einen verschiedene Formen von Vergessen male (1968; s. Kap. III.8) oder Reinhart Kosel-
und Verdrängen stehen (u. a. Stora 1992) und lecks Arbeiten zum politischen Totenkult (1994)
zum anderen gruppenspezifische Gedächtnis- sowie zahlreiche, mit ihnen verwandte Untersu-
konstruktionen untersucht werden. Es wird ge- chungen zu nationalen Mythen, Symbolen und
fragt, wer, warum und zu welchem Zweck ver- Festen im 19. und 20. Jahrhundert.
gessen bzw. verdrängen wollte und welche Der zentrale Untersuchungsgegenstand der
erinnerungskulturellen Gegenentwürfe zu der Historischen Erinnerungsforschung in Deutsch-
herrschenden Amnesie (nicht) entstehen konn- land ist jedoch die Zeitgeschichte, hier insbeson-
ten. Eine ›Verlängerung‹ dieses Forschungs- dere der Zweite Weltkrieg und die NS-Zeit; und
strangs ist die Erinnerungsgeschichte von Kolo- ähnlich wie in Frankreich kann sie ohne Berück-
nialisierung, Dekolonialisation und Immigrati- sichtigung des gesellschaftlichen Rahmens der
onsgeschichte. Nachkriegszeit – v. a. der für die Mehrheit der Be-
Der dritte rote Faden der Historischen Erinne- völkerung willkommenen Unterscheidung zwi-
rungsforschung in Frankreich ist die Nachge- schen den ›Deutschen‹ und den ›Nazis‹ – nicht
schichte der Französischen Revolution (Furet vollständig erfasst werden. Die (Nicht-)Rezep-
1978), die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tion des grundlegenden Werkes The Destruction
– mit Blick auf die anstehende Zweihundertjahr- of the European Jews (1961, dt. 1982) Raul Hil-
feier – besonders intensiv in den Fokus geriet. bergs in Westdeutschland ist symptomatisch für
Die Flut an Publikationen zur Französischen Re- die mangelnde Bereitschaft der Historiker, sich
volution veranschaulichte die Verwicklung der der Geschichte der Shoah anzunehmen. Das
Geschichtswissenschaft in die aktuellen politi- Hauptanliegen der Geschichtsforschung zu die-
schen und ideologischen Debatten, was wiede- ser Zeit war die Dokumentation des Handelns
rum die Frage nach der Rolle und der Verantwor- von Einzelpersonen (und zwar nicht Opfer, son-
254 IV. Forschungsgebiete

dern Täter), was vor dem Hintergrund der aufei- Berg, in der das »Doppelverhältnis« ausgewählter
nander folgenden Prozesse gegen die Kriegsver- westdeutscher Historiker zur Vergangenheit – als
brecher zu sehen ist. Die gesellschaftliche Dimen- Akteure bzw. Augenzeugen des Dritten Reiches
sion – sowohl im Hinblick auf die ›Geschichte und als Forschende – untersucht wurde. Berg
ersten Grades‹ als auch die Erinnerungsge- unternahm damit einen innovativen, wenn auch
schichte – stand bis in die 1980er Jahre hinein – wie die kontroverse Diskussion über seine The-
nicht im Fokus der historischen Forschung und sen zeigt – oft nicht oder missverstandenen
erfolgte erst im Zuge des Aufstiegs der Alltagsge- Versuch, einen Abschnitt der deutschen Historio-
schichte und der Oral History. Als Initialzündung graphiegeschichte aus gedächtnisgeschichtlicher
und »Entdeckung der Zeitzeugen« (Ulrike Jureit) Perspektive zu erforschen und machte somit auf
gilt das von Lutz Niethammer geleitete und in ei- ein grundlegendes epistemologisches Problem
ner dreibändigen Publikation (1983) dokumen- aufmerksam: das Spannungsverhältnis zwischen
tierte Projekt Lebensgeschichte und Sozialkultur (individueller und kollektiver) Erinnerung und
im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 – die erste und in der wissenschaftlicher Erkenntnis.
Geschichte der deutschen Historiographie bis Ein anderer Strang der Historischen Erinne-
dato umfangreichste Erforschung mündlicher rungsforschung der NS-Zeit konzentriert(e) sich
Zeugnisse. Nach 1989 entstanden viele weitere, auf die Ebene des politischen Handelns. Zu Stan-
auf Oral History basierende Studien, in denen dardwerken hierbei gehört der inzwischen in
das Gedächtnis bestimmter soziokultureller mehrere Sprachen übersetze Band Vergangen-
Gruppen und Generationen erforscht wurde. In- heitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und
zwischen liegen auch zahlreiche diskursanalyti- die NS-Vergangenheit (1996) von Norbert Frei.
sche Studien zum Umgang der Deutschen und Unter Geschichtspolitik versteht Frei justizielle,
anderer Gesellschaften mit dem Holocaust und legislative und exekutive Entscheidungen im Um-
der NS-Zeit vor, in denen unterschiedliche Pha- gang mit der Vergangenheit. Seine Analyse bezog
sen, soziale Gruppen, politisch-ideologische Be- sich auf die ›politische Amnesie‹ und die Reinte-
dingungen und Interessen sowie Medien (u. a. Li- gration der NS-Mitläufer in den fünf ersten Jah-
teratur, Presse, Fernsehen, Ausstellungen und ren des Bestehens der BRD. Verwandte Ansätze
Geschichtsschulbücher) analysiert wurden. erfreuen sich in der deutschen Geschichtswissen-
Eine internationale und insbesondere in schaft einer großen Beliebtheit. Stellvertretend
Deutschland intensive Debatte löste das 1999 er- sei die Studie Geschichtspolitik in der Bundesre-
schienene Buch Nach dem Holocaust. Der Um- publik Deutschland (1999) von Edgar Wolfrum
gang mit dem Massenmord aus, in dem der US- erwähnt. Auf mehrere Konzepte rekurrierend
amerikanische Historiker Peter Novick die Sa- (Gedächtnisorte, erfundene Tradition, kulturan-
kralisierung des Holocaust in den Vereinigten thropologische Ritual- und historische Diskurs-
Staaten erforschte. In Novicks Untersuchung analyse), erforschte Wolfrum am Beispiel des
kristallisieren sich einige zentrale Probleme der Umgangs mit dem 17. Juni vier Phasen (bis 1953,
Erinnerungsgeschichte des Holocaust: die Kon- seit 1953 bis Mitte der 1960er Jahre, von Mitte der
kurrenz der Opfer, der Status der Judenvernich- 1960er Jahre bis 1974 und schließlich die Zeit bis
tung (Universalität vs. Singularität) und folglich 1989 mit Ausblicken in die Zeit nach der Wieder-
die identitätsstiftende Rolle der Erinnerung, das vereinigung Deutschlands) der bundesrepublika-
Aussterben der Zeitzeugen, Medialisierung und nischen Geschichtspolitik. Die Dimension des
Instrumentalisierung sowie Moralisierung, Kom- politischen Handelns im Hinblick auf vergangen-
merzialisierung und Dekontextualisierung der heits- bzw. erinnerungspolitische Strategien (der
Erinnerung. Erwähnenswert ist darüber hinaus Begriff ›Gedächtnispolitik‹ kam erst vor wenigen
die 2003 erschienene diskursgeschichtliche Stu- Jahren hinzu) wurde ebenfalls in Bezug auf die
die Der Holocaust und die westdeutschen Histori- Geschichte der DDR untersucht (u. a. Sabrow
ker. Erforschung und Erinnerung von Nicolas 1997). Unterschiedliche Aspekte von Rezeption
1. Geschichtswissenschaft 255

und Gegenentwürfen zu der offiziellen Politik finitionen der Grundtermini der Historischen
der SED sowie diesbezügliche erinnerungskul- Erinnerungsforschung und der Geschichts-
turelle Konstellationen in der Zeit nach 1989 didaktik beim Versuch der Substitution oft als
wurden u. a. in diversen Projekten des Potsdamer austauschbar erweisen, was Begriffspaare ›Ge-
Zentrums für Zeithistorische Forschung unter- schichtsbild‹ und ›Erinnerungsort‹ oder aber ›Er-
sucht und nach dem ›Supergedenkjahr 2009‹ innerungs-‹ und ›Geschichtskultur‹ belegen.
kam eine beträchtliche Anzahl von neuen Publi- Ein völlig anderes Beispiel für Nichtrezeption
kationen hinzu, was wiederum die Abhängigkeit und somit einen beinahe separaten Strang der
der Geschichtsschreibung (bzw. der Verlagsland- Historischen Erinnerungsforschung stellen Un-
schaft) von den aktuellen erinnerungskulturellen tersuchungen zur Memoria dar, die der nichtme-
Anlässen deutlich vor Augen führt. diävistischen Mehrheit der Historikerzunft oft
Im Hinblick auf die Erinnerungsgeschichte der kaum oder nur oberflächlich bekannt sind. Be-
DDR stellt sich ferner die Frage, ob es Ansätze ei- reits in den 1950er und 1960er Jahren wurden die
ner Historischen Erinnerungsforschung in Ost- sogenannten Memorialüberlieferungen der Klös-
deutschland gab bzw. hätte geben können. Expli- ter – u. a. Aufzeichnungen, Graffiti in sakralen
zite Beispiele solcher Ansätze sind nicht zu fin- Räumen, Gedenkbücher (Libri vitae) und Nekro-
den, was möglicherweise zum einen daran liegt, loge – ausgewertet. Auf die aus diesen Quellen
dass das mit der Gedächtnisproblematik ver- schöpfende Erforschung des Adels, des Mönch-
wandte Konzept des (Kultur-)Erbes durch die Er- tums oder der Städte folgten Studien zum Geden-
bepolitik der SED kompromittiert wurde; zum ken in der mittelalterlichen Gesellschaft von u. a.
anderen spielte sicherlich auch eine gewisse Sub- Michael Borgolte, Johannes Fried und Otto Ger-
versivität der Erinnerungsforschung im Kontext hard Oexle in Deutschland oder Jacques Le Goff
der weitgehend parteitreuen Geschichtsschrei- und Jean-Claude Schmitt in Frankreich, die ei-
bung in der DDR eine ausschlaggebende Rolle. nen erinnerungsgeschichtlichen Fragenkatalog
Präsent war dagegen in den osteuropäischen His- nicht nur auf Memorialüberlieferungen sondern
toriographien – erwähnt seien beispielhaft Jerzy auch auf Bilder, Skulpturen, Architektur oder
Topolski in Polen oder František Graus und Mi- Grabkunst anwenden. Aus der Feder des Mediä-
roslav Hroch in der Tschechoslowakei – das Kon- visten Johannes Fried stammt außerdem der Ent-
zept des ›Geschichtsbewusstseins‹. wurf einer geschichtswissenschaftlichen Memo-
Obwohl der Geschichtsdidaktiker Hans-Jür- rik, deren Ziel »Kritik, Kontrolle und Rückfüh-
gen Pandel davon ausgeht, dass ›Geschichtsbe- rung der Verformungen auf eine ursprüngliche
wusstsein mit ›Erinnern‹ nichts zu tun‹ habe, sind Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte«
bestimmte Überschneidungen und Überlappun- (2004, 380) sei. Der Frankfurter Historiker will
gen zwischen den u. a. von Karl-Ernst Jeismann seinen Entwurf zu einer »neuronalen Geschichts-
und Jörn Rüsen seit den 1970er Jahren gepräg- wissenschaft« weiterentwickeln, um kognitions-
ten Begriffen ›Geschichtsbewusstsein‹ und ›Ge- und neurowissenschaftliche Erkenntnisse (s. Kap.
schichtskultur‹ einerseits und den bedeutungspo- I.1) über mögliche Fehlleistungen des menschli-
tenten ›Gedächtnis‹ und ›Erinnerungskultur‹ an- chen Gedächtnisses für eine verfeinerte, für »Er-
dererseits nicht von der Hand zu weisen. Der innerungsmodulationen« sensible Quellenkritik
Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Bor- zu nutzen. Bei der Suche nach den Spuren der
ries bedauerte sogar, dass die in den »benachbar- Veränderungen von Gedächtnisinhalten seien
ten Kultur-Wissenschaften« geführten Diskussi- der erinnerungskritische Vergleich des zur Ver-
onen über »Kultur, Gedächtnis und Erinnerung« fügung stehenden Quellenmaterials und ein
keinen Bezug auf »die geschichtsdidaktische The- grundlegender Zweifel an der Glaubwürdigkeit
orie und Empirie zum ›Geschichtsbewußstein‹ der Quellen von zentraler Bedeutung. Auf diese
genommen hätten« (2001, 239). Diese Nicht-Re- Weise könne die Geschichtswissenschaft Aussa-
zeption ist insofern interessant, da sich einige De- gen über den gesellschaftlich bedingten Formie-
256 IV. Forschungsgebiete

rungsprozess des kollektiven Gedächtnisses tref- Historiker und als ein sehr problematisches
fen und in Zukunft Forschungsfelder erschlie- Werkzeug galten bisher Meinungsumfragen. Die
ßen, »die bislang unbetretbar waren« (ebd., 390). Heranführung der Umfrageergebnisse im Projekt
»Memoria Austriae« (2004–2005) veranschau-
lichte sowohl Vorteile – Aktualität und gesell-
Erinnerungsgeschichte: Chancen und Risiken
schaftlich repräsentative Überprüfung akademi-
Die oben angeführten Ansätze der Historischen scher Intuitionen – als auch Grenzen – Vorläufig-
Erinnerungsforschung weisen auf die Vielfältig- keit und Selektivität – des demoskopischen
keit von Erkenntnissinteressen und Leitfragen Verfahrens.
hin, was eine entsprechend umfassende analyti- Die Erforschung der Erinnerungsgeschichte
sche Werkzeugkiste impliziert. Von zentraler Be- bedeutet – trotz derartiger Befürchtungen – kei-
deutung ist hierbei neben der Oral History die nen Abschied von der ›traditionellen‹ Quellen-
historische Diskursanalyse, die die ›klassische‹ analyse und kann nicht auf Untersuchung der Re-
Quellenkritik um die Erforschung sprachlicher zeptionsgeschichte reduziert werden. Das No-
und bildlicher Darstellungen (Repräsentationen) vum im Umgang mit Quellen in dieser Form der
der Quellen bereichert, Konstruktions-, (Um-) Geschichtsforschung bedeutet vielmehr in erster
Deutungs- und Instrumentalisierungsprozessen Linie eine erhebliche Erweiterung der Quellen-
nachgeht und nach interdiskursiven Verbindun- basis, denn mit Recht stellte der Warschauer
gen fragt. Forschungsdirektiven bezüglich der er- Historiker Marcin Kula fest, dass »alles Träger
innerungsgeschichtlichen Anwendung der Dis- des Gedächtnisses sein« (2002, 9) könne. Die
kursanalyse formulierte u. a. der österreichische Geschichtswissenschaft kann tatsächlich auf so
Historiker Moritz Csáky, der für ein »dekon- unterschiedliche Quellen rekurrieren wie: An-
struktivistisches Verfahren« (2004) bei der Erfor- sichtskarten, Archive, Ausstellungskataloge, Bil-
schung der »Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und der, Chroniken, Comics, Denkmale, Festivals,
Erinnerung« plädiert. Es soll von drei Prämissen Fernsehprogramme, Fotografien, Gedenkveran-
ausgehen: (1) Die Erinnerung sei als ein prozess- staltungen, Historiographie, Internetseiten und
hafter und mehrdeutiger Akt zu analysieren, (2) -foren, Interviews, Jugendliteratur, Karikaturen,
die Kultur als ein lesbarer und dynamischer Text, Kunstwerke, Landkarten, Märchen, Musikstücke,
»der sich in einer kontinuierlichen Performance Reisebeschreibungen, Reiseführer, Rituale, Rund-
immer wieder neu konstituiert, dem die Erinne- funksendungen, schöngeistige und Triviallite-
rung (das Lesen) immer neue Facetten abge- ratur, Schul- und Tagebücher, Theaterauffüh-
winnt«, und (3) »in einer historisch-kulturellen rungen, Werbeprospekte oder Zeitschriften und
Situation« gilt es, plausibel nachzuweisen, »dass Zeitungen. Dies impliziert die Fähigkeit, sich
die im Gedächtnis, […] inkludierten Elemente eines breiten Methodenspektrums zu bedienen,
prinzipiell von translokaler kultureller Proveni- um sprachliche, bildliche, materielle und per-
enz und von translokaler kultureller Relevanz formative Träger bestimmter Gedächtniskons-
sind«. Csáky plädiert also dafür, in erinnerungs- truktionen historisch zu analysieren oder eine
geschichtlichen Studien die Komplexität und die quellengesättigte Diskursanalyse des jeweiligen
Hybridität des kulturellen Kontextes des kollekti- Phänomens in der Geschichte zweiten Grades
ven Gedächtnisses und insbesondere den »Ver- durchzuführen. Angesichts der Vielfalt und der
weischarakter« der jeweiligen Erinnerungsfor- Bandbreite der potenziellen Quellen in der dis-
mationen zu untersuchen. kursanalytischen Herangehensweise an die Er-
Nicht zu vergessen ist obendrein der Mut zu forschung der Erinnerungsgeschichte wäre ein
methodologischen ›Anleihen‹ in benachbarten Versuch, alle jeweils relevanten Quellen aus-
Disziplinen: Anthropologie, Kunstgeschichte, Li- zuwerten, kaum realistisch. Vielmehr muss es
teratur- und Medienwissenschaft, Psychologie darum gehen, Tendenzen als Vehikel bestimmter
und Soziologie. Von marginaler Bedeutung für Bedeutungen und Sinninhalte aufzuspüren und
1. Geschichtswissenschaft 257

diese mit repräsentativen Exemplifikationen zu Der ›Gedächtnis-Boom‹ ermöglichte (auch)


belegen. Sonst kann aus der erinnerungsge- den Historikern – um auf den Titel eines berühm-
schichtlichen Studie eine möglicherweise zwar ten Sammelbandes über die »Neue Geschichts-
sehr spannende, aber in Bezug auf die Geschichte wissenschaft« (1978, dt. 1990) zu rekurrieren –
der Erinnerung nicht tragfähige Kuriositäten- die »Rückeroberung des historischen Denkens«:
sammlung werden. Wie den oben erwähnten Die große Anzahl diesbezüglicher Veröffentli-
Beispielen zu entnehmen ist, stehen den For- chungen geht in gewisser Hinsicht (auch) auf die
schenden mehrere Möglichkeiten zur Verfügung: Popularität der Erinnerungsproblematik beim
Sie können eine bestimmte Quellensorte aus- Lesepublikum zurück, das vielleicht nach ›klassi-
wählen, um die in ihr präsente Erinnerungspro- schen‹ Geschichtsbüchern nicht greifen würde.
blematik zu erforschen; sie können einen the- Die Popularität und manchmal sogar ge-
matischen Zugriff wählen, um ein konkretes er- schichtspolitische Brisanz einiger erinnerungsge-
innerungsgeschichtliches Problem in möglichst schichtlicher Forschungsprojekte verweist wie-
vielen unterschiedlichen Quellen und somit die derum auf ein epistemologisches und ethisches
Mechanismen der Entstehung, Vermittlung, Wir- Problem der Geschichtswissenschaft: die Frage
kung und des Wandels sowie diverse Polyvalen- nach der Unabhängigkeit der Forschenden. Eine
zen bestimmter Gedächtniskonstruktionen zu gute Illustration sind hierfür die französischen
untersuchen; oder sie können sich auf Akteure lois mémorielles. Die sogenannten Erinnerungs-
konzentrieren, um Gedächtniskonstruktionen ei- gesetze hatten zum Ziel, bestimmte Aspekte der
ner konkreten gesellschaftlichen Gruppe, einer Vergangenheit in den Vordergrund der histori-
Generation (s. Kap IV.8) und einer Region nach- schen Forschung, des Geschichtsunterrichts bzw.
zugehen. der öffentlichen Gedenkkultur zu rücken, andere
Eben auf die Erweiterung des »Territoriums dagegen zu marginalisieren. Als Antwort darauf
des Historikers« (Le Roy Ladurie: Le territoire de wurde 2005 von vielen namhaften Historikern
l’historien, 1977) geht die Skepsis vieler Fach- die Vereinigung »Liberté pour l’histoire« (http://
kollegen gegenüber der erinnerungsgeschichtli- www.lph-asso.fr) gegründet. Von der nicht un-
chen Forschung zurück. In der Einschätzung des problematischen Annahme ausgehend, dass
Kieler Osteuropahistorikers Rudolf Jaworski liegt Geschichte und Gedächtnis Gegensätze seien,
der »eigentliche Stein des Anstoßes« vor allem erinnern ihre Vorsitzenden Pierre Nora und
darin, dass die erinnerungsgeschichtliche Per- Françoise Chandernagor daran, dass die Ge-
spektive »die Methodik und klassischen Arbeits- schichtswissenschaft weder Religion, noch Mo-
felder der Fachhistorie zu verflüssigen« scheint. ral, noch Sklavin der Aktualität sei und nicht un-
Jaworski spricht sogar von »einer generellen Ver- ter dem Diktat des Gedächtnisses geschrieben
unsicherung des methodisch-theoretischen Selbst- werden könne.
verständnisses und Instrumentariums vieler His- Die Entstehung und Entwicklung diverser er-
toriker« und der »Sorge, Geschichte könne im innerungsfokussierter Ansätze in den Geistes-
Zuge der Erinnerungsforschung einfach in Dis- und Sozialwissenschaften hat außerdem eine his-
kurs- und Deutungsgeschichte aufgelöst und toriographische Relevanzdebatte zur Folge, denn
damit verwässert« (2009, 22–23) werden. Das die Geschichtsschreibung wird mit einer gewis-
Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft sen ›Konkurrenz‹ seitens anderer Disziplinen
würde damit deutlich strapaziert, wenn nicht so- konfrontiert, die sich – was vor allem für die So-
gar in Frage gestellt. ziologie (s. Kap. IV.3) und die Politikwissenschaft
Diesbezüglich sind darüber hinaus noch drei (s. Kap. II.6) gilt – ebenfalls mit der Lebendigkeit
Aspekte der Historischen Erinnerungsforschung der Vergangenheit befassen und oft interessan-
von Bedeutung, die wiederum je nach Perspek- tere Erkenntnisse über die Erinnerungsge-
tive als Chancen oder Bedrohungen wahrgenom- schichte gewinnen. Positiv betrachtet kann die
men werden können. steile Karriere der disziplinär mehrfachgebun-
258 IV. Forschungsgebiete

denen Erinnerungsforschung zur Intensivierung kenntnisse und nachvollziehbaren logischen


von Inter- bzw. Transdisziplinarität führen, in Prozeduren der Interpretation. Eines der Haupt-
der die Historiker ihre Kompetenzen besonders probleme, mit denen die Historische Erinne-
stark machen könnten. Im Gegensatz zu Soziolo- rungsforschung konfrontiert wird, betrifft näm-
gen, Anthropologen, Medien- oder Literaturwis- lich die Repräsentativität und die Bestimmung
senschaftlern, sind Historiker ausdrücklich dazu der gesellschaftlichen Verankerung, der Reich-
aufgerufen, die Historizität des kollektiven und weite und der Relevanz der jeweiligen Erinne-
des individuellen Gedächtnisses zu erforschen, rungsdebatten.
vergangene Erinnerungsstrategien zu rekonstru- Im Hinblick auf die aktuell in der Historischen
ieren, das Spannungsverhältnis zwischen den ge- Erinnerungsforschung dominierenden Tenden-
schichtsmächtigen und den jeweils erinnerungs- zen wären sicher einige Akzentverschiebungen
relevanten Phänomenen zu untersuchen sowie lohnend. Eine starke Dominante ist z. B. die Er-
der Frage nachzugehen, warum bestimmte Tat- forschung der top-down-Dimension, d. h. der
bestände in der Erinnerungskultur einer Gesell- Formen und Mechanismen der Geschichts-, Ver-
schaft oder einer sozialen Gruppe von langer gangenheits- bzw. Gedächtnispolitik, was oft
Dauer sind, andere wiederum aus dem kollekti- zur Benachteiligung der bottom-up-Perspektive
ven Gedächtnis (vorübergehend) verschwinden. führt, d. h. der Rezeptions- und Aneignungswei-
Das Interesse an Mechanismen des individuellen sen öffentlicher bzw. offizieller Gedächtniskon-
und des kollektiven Vergessens und Verdrängens struktionen oder der minoritären, dissidenten,
in den verschiedenen kulturellen, politischen von unten entstandenen Alternativen zu den do-
und sozialen Kontexten ermöglicht es, die jewei- minierenden Erinnerungskulturen. Ein weiteres
lige Funktionalität und den historischen Wandel Defizit der Historischen Erinnerungsforschung
erinnerungskultureller Strategien im Umgang ergibt sich aus der starken Fokussierung auf den
mit der Vergangenheit zu analysieren. nationalen Rahmen. Während es viele Studien zu
subnationalen – z. B. regionalen, soziokulturellen
oder generationellen – Aspekten der Erinne-
Kritik und Forschungsdesiderate
rungsgeschichte gibt, die Komparatistik ebenfalls
Trotz Popularität und interessanter Erkenntnisse praktiziert wird und Versuche unternommen
der Historischen Erinnerungsforschung mangelt werden, erinnerungsgeschichtliche Fragestellun-
es nicht an Forschenden, die die Tragfähigkeit gen auf die Geschichte Europas anzuwenden,
des erinnerungsgeschichtlichen Ansatzes in bleibt die Verschränkung des erinnerungsge-
Zweifel ziehen. Grundlegende Kritik betrifft schichtlichen Ansatzes mit dem u. a. von Klaus
schon den metaphorischen Charakter des Termi- Zernack geprägten beziehungsgeschichtlichen
nus ›kollektives Gedächtnis‹. Die Kritik richtet Ansatz nach wie vor ein Forschungsdesiderat.
sich gegen die auf Analogie beruhende Übertra- Dies ist verwunderlich angesichts der banalen
gung eines biologischen bzw. naturwissenschaft- Einsicht, dass kein historisches Phänomen eine
lichen und sich auf Individuen beziehenden Be- einsame Insel ist, sondern immer in Beziehung
griffs auf soziale Gruppen. Ähnliche Vorbehalte zu anderen Phänomenen steht. Die Erkenntnis
wurden übrigens auch bezüglich der Übertra- der Beziehungshaftigkeit jeglicher Geschichte
gung des psychoanalytischen Konzepts des Trau- wurde jedoch bisher ungenügend auf die Erinne-
mas auf gesellschaftliche Gruppen geäußert. Ein rungsgeschichte übertragen, während gerade der
weiteres Problem betrifft den Anspruch erinne- Blick auf Gedächtniskonstruktionen in bi- und
rungsgeschichtlicher Erkenntnisse auf Wissen- multilateralen Beziehungsgeflechten es ermögli-
schaftlichkeit und somit ihre Überprüfbarkeit. chen würde, z. B. das Spannungsverhältnis zwi-
Damit wird eine der Kernfragen der Geschichts- schen Selbst- und Fremdwahrnehmungen und
forschung angesprochen: die nach intersubjek- somit Prozesse der Identitätsstiftung genauer zu
tiver Geltung geschichtswissenschaftlicher Er- untersuchen.
1. Geschichtswissenschaft 259

Zu schreiben wären darüber hinaus eine Ge- die schwache Reflexion über Medien und Pro-
schichte der Historischen Erinnerungsforschung, zesse der Medialisierung sowie ein kaum vor-
eine gedächtnisgeschichtlich konzipierte – d. h. handenes Interesse an der Verknüpfung der
auch Ego-Dokumente der Historiker umfassende Erinnerungsgeschichte mit der Geschichte der
– Historiographiegeschichte und eine systemati- Emotionen auffallend. Wünschenswert wäre
sche Geschichte der Geschichtsschreibung als diesbezüglich ein intensiverer Austausch mit Kul-
(Mit-)Gestalterin des kollektiven Gedächtnisses. tur- und Medienwissenschaftlern, den z. B. ent-
Es gibt nämlich je nach Kontext, Ziel und diszi- sprechende Zeitschriften fördern könnten. Aller-
plinärer Verortung des Forschers diverse Beiträge dings haben interdisziplinär angelegte Periodika
zur Analyse und Konzeptualisierung des Verhält- wie History and Memory (seit 1989) oder Memory
nisses zwischen Geschichte und Gedächtnis. Studies (seit 2008) im deutschsprachigen Raum
Diese Beziehung wurde mit Hilfe so verschiede- keine Pendants. In Bezug auf diskursanalytische
ner Kategorien erfasst wie: friedliche Koexistenz Studien ist außerdem oft der Vorwurf der Text-
und Gegnerschaft, Quelle und Instrument, Er- lastigkeit bzw. der beschränkten Quellenbasis zu-
gänzung und Korrektiv. Das Verhältnis zwischen treffend, während interdisziplinäre Erfahrung
Geschichte und Gedächtnis wird noch proble- und Medienkompetenz zu den wichtigsten Ei-
matischer, wenn unterschiedliche Bedeutungen genschaften derjenigen gehören, die erinne-
von Geschichte – als Vergangenheit, als Wissen- rungsgeschichtlichen Fragestellungen nachgehen
schaft, als Teildisziplin oder Forschungsperspek- möchten.
tive – und das reiche Bedeutungsspektrum des Hinzu kommt, dass Gedächtnis und Erin-
Gedächtnisses berücksichtigt werden. Eine syste- nerung (auch) in der Geschichtswissenschaft un-
matische Analyse der Rolle der Geschichtswis- ter terminologischem Überfluss leiden. In ge-
senschaft im Getriebe der Konstruktion von Ver- schichtswissenschaftlichen Studien wurden in-
gangenheitsbildern steht allerdings noch aus, zwischen mehrere Arten und Kategorien des Ge-
wenngleich es bereits interessante Beiträge dies- dächtnisses ausgesondert und die Grundtermini
bezüglich gibt. Beispielhaft sei auf die inzwischen Erinnerung und Gedächtnis sind ein Paradebei-
in mehrere Sprachen übersetze Studie Zakhor: Je- spiel dafür, wie ein Begriff bis zur Beliebigkeit
wish History and Jewish Memory von Yosef Hayim ausgedehnt werden kann. Nicht ohne Grund
Yerushalmi (1982, dt. 1996) hingewiesen. Von konstatierte Etienne François: »wo man vor
der Frage nach dem Stellenwert der Historiogra- zwanzig Jahren von Geschichte, von Vergangen-
phie in der jüdischen Kultur ausgehend und im heit oder von Geschichtsbewusstsein gesprochen
Hinblick auf sein eigenes Selbstverständnis als jü- hätte, spricht man heute wie selbstverständlich
discher Historiker, beschäftigte sich Yerushalmi von Gedächtnis, was wieder einmal deutlich
mit dem Paradox, »dass zwar die Frage nach dem zeigt, wie fließend und durchlässig die Grenzen
Sinn der Geschichte bei den Juden zu allen Zeiten unserer Begrifflichkeit sind« (2006, 17).
eine entscheidende Rolle spielte, die Geschichts- Angesichts dieses inflationären Gebrauchs der
schreibung dagegen entweder gar keine oder bes- Termini, der oft reflexionslosen Übernahme von
tenfalls eine untergeordnete.« Indem er die Be- Begriffen und Konzepten, sowie vieler Unklar-
deutung und Funktionen des religiösen Impera- heiten bezüglich der Grenzen der Historischen
tivs Zachor erforschte, bewies Yerushalmi, dass Erinnerungsforschung – im Hinblick auf Imago-
die Erinnerung an die Vergangenheit zwar ein logie, Mythosforschung, Mentalitätengeschichte,
zentraler Aspekt der jüdischen Kultur sei, »aber Geschichte der Repräsentationen oder Histori-
nicht in erster Linie dem Historiker anvertraut sche Stereotypenforschung – stellt sich die Frage
war« (1996, 9 f.). nach dem Status und nach dem Horizont der His-
Neben den bereits erwähnten Defiziten der ge- torischen Erinnerungsforschung: Handelt es sich
schichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit um eine neue geschichtswissenschaftliche (Sub-)
der Erinnerungsproblematik ist darüber hinaus Disziplin, eine attraktive transdisziplinäre For-
260 IV. Forschungsgebiete

schungsperspektive oder lediglich um eine vorü- Hartog, François: Régimes d’historicité. Présentisme et
bergehende Mode? Je nach wissenschaftlichem expériences du temps. Paris 2003.
Jaworski, Rudolf: Die historische Gedächtnis- und Er-
Temperament oder der eigenen Standortbestim- innerungsforschung als Aufgabe und Herausforde-
mung kann man in der Historischen Erinne- rung der Geschichtswissenschaft. In: Martin Aust/
rungsforschung – wie Pierre Nora – eine Chance Krzysztof Ruchniewicz/Stefan Troebst (Hg.): Ver-
auf Erneuerung der Geschichtswissenschaft oder flochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im
aber – um mit dem amerikanischen Philosophen 19. und 20. Jahrhundert. Köln 2009, 17–29.
Stephen Toulmin zu sprechen – lediglich eine Joutard, Philippe: La légende des camisards. Une sensibi-
lité au passé. Paris 1977.
would-be discipline sehen.
Koselleck, Reinhart/Jeismann, Michael (Hg.): Der poli-
tische Totenkult: Kriegerdenkmäler in der Moderne.
Literatur München 1994.
Kula, Marcin: Nośniki pamięci historycznej. Warschau
Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen His- 2002.
toriker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen 2003. LaCapra, Dominick: Geschichte schreiben, Trauma
Borries, Bodo v.: Geschichtsbewusstsein als System schreiben. Zürich 2003 (amer. 2000).
von Gleichgewichten und Transformationen. In: Le Goff, Jacques/Chartier, Roger/Revel, Jacques (Hg.):
Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsbewusstsein. Psychologi- Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grund-
sche Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische lagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Franfurt
Befunde. Köln 2001, 239–280. a. M. 1990 (frz. 1978).
Csáky, Moritz: Die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis und Nipperdey, Thomas: Nationalidee und Nationaldenk-
Erinnerung. Ein kritischer Beitrag zur historischen mal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Histori-
Gedächtnisforschung. In: Digitales Handbuch zur sche Zeitschrift Jg. 206, H. 3 (1968), 529–585.
Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas Nora, Pierre: Mémoire collective. In: Jacques Le Goff/
9/2004, online: http://epub.ub.uni-muenchen.de/603/ Jacques Revel (Hg.): La nouvelle histoire. Paris 1978,
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Berlin 1988 (frz. 1973). dem Massenmord. Stuttgart 1999.
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und Polen 1800 bis 1939. Warschau 2006, 17–32. Stora, Benjamin: La gangrène et l’oubli: la mémoire de la
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Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepu-
1996. blik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikani-
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1978. Kornelia Kończal
261

2. Philosophie Die Klassische Antike

Die Frage nach der Funktion von Gedächtnis und Platon: Platon hat als erster zwischen Gedächtnis,
Erinnerung scheint ein Signum kultureller Um- Erinnerung und Wiedererinnerung unterschie-
bruchs- und Transformationsprozesse zu sein. den und seine Anamnesis-Lehre mit dem Mythos
Das gilt für die klassische Antike ebenso wie für der Präexistenz der Seele verknüpft. Im Menon
die erste ihrer selbst als Umbruch bewusstwer- wird die These exponiert, dass Erkennen in der
dende Epoche, die Spätantike. Nahezu alle fol- Aktualisierung von Wissen besteht, über das die
genden Epochenschwellen und -zäsuren haben Seele vor der Geburt und damit vor aller Erfah-
Wesentliches zur Aufklärung von Sinn und Se- rung verfügt. Lernen ist in erfahrungsunabhängi-
mantik von Gedächtnis und Erinnerung wie zur gen Strukturen fundiert und beruht auf Wissen,
Differenzierung zwischen Gedächtnis und Erin- das sich in einer gemeinsamen Sprachgemein-
nerung beigetragen: die beginnende Neuzeit – in schaft jederzeit aktivieren lässt. Vor ihrer ›Ge-
je verschiedener Weise Hobbes, Locke, Leibniz burt‹ habe die Seele Kenntnisse, die unter der Be-
und Vico –, die Diskussionen im Anschluss an dingung von Raum und Zeit wachzurufen Ler-
Kant um 1800 und dann die Kritik am wissen- nen bedeute – wobei ›Seele‹ (psyche) hier nicht
schaftsgläubigen und positivistischen 19. Jahr- im neuzeitlichen Sinn einer individuellen Einzel-
hundert, mit der Nietzsche zum Herold der seele zu verstehen ist, sondern als jene belebende
jüngsten Moderne wird. Und schließlich gilt dies Instanz gedacht wird, die in Erkennensakten je-
für die gegenwärtigen Anforderungen, denen weils individuell realisiert wird. Diese Lehre von
sich die philosophische Auseinandersetzung mit der Wiedererinnerung wird dann umfänglicher
Sinn und Semantik der Leistungen des Gedächt- im Phaidon umschrieben. »Alles Lernen« (ma-
nisses wie des Vermögens der Erinnerung gegen- thesis) »sei Wiedererinnern«, heißt es (vgl. Phai-
übersieht: auf der einen Seite (1) die Katastro- don, 72e). Platon ruft dabei insbesondere die se-
phen, die zum Signum des 20. Jahrhunderts ge- mantische Evidenz auf, dass jedes Erinnern ein
worden sind und Praxis werdendes Erinnern zur Wiedererinnern in sich schließe: Denn erinnern
irreduziblen ethischen Forderung haben werden könne man nur, was man schon kennt. Was Erin-
lassen – auf der anderen Seite (2) die exponentiell nern und Wiedererinnern nicht zusammenfallen
gesteigerten Möglichkeiten der Speicherung von lässt, bleibt dabei undiskutiert.
Gedächtnisdaten. Weiterhin (3) die Versuche, Er- Mit diesem Beginn der Analyse des Erinne-
innerung mit Gedächtnis und dessen Leistungen rungsvermögens thematisiert Platon Erinnern
wiederum von seiner neurophysiologischen von seinen Objekten her: von Daten, auf die wir
Hardware her zu erklären und schließlich ist (4) uns erinnernd beziehen, um zugleich auf einen
das mit den Leistungen des Gedächtnisses nicht von der sinnlichen Empirie unabhängigen Maß-
identische Vermögen der Erinnerung eine, wenn stab (›Gleichheit‹) zu stoßen, der uns vergleichen
nicht die zentrale Instanz im Netzwerk der Selbst- lässt und den wir, als ›Idee‹ der Gleichheit, erin-
reflexion kultureller Erfahrung: Spätestens seit nert hätten. In neuzeitliche Terminologie über-
Nietzsche und Freud kann nicht mehr unterstellt setzt thematisiert der Phaidon die Struktur aprio-
werden, dass sich das als Herr im Haus des Be- rischer, erfahrungsunabhängiger Erkenntnis, in
wusstseins vorgestellte Ich des Erinnerns wie ei- der die Gültigkeit von Aussagen begründet ist.
nes Instruments bedienen könne. In dieser vier- Offenkundig genügt Platon dabei der Selbst-
fachen Perspektive stellt sich die Frage nach dem bezug, der im Akt des Erinnerns gegeben ist, zur
Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung ge- Sicherung der Gültigkeit von Aussagen nicht.
rade in philosophischer Hinsicht in neuer Weise. Vielmehr versucht er, diese Gültigkeit auch vom
Der folgende Überblick skizziert in philosophie- ›Was‹ des Erinnerten her zu erklären, und setzt
geschichtlicher Anamnese Antwortoptionen, die deshalb das Mythologem einer Präexistenz der
es für diese Frage gibt. Seele ein. Mit ihm soll die Evidenz einer bewusst-
262 IV. Forschungsgebiete

seinstheoretischen Struktur auf eine naturalisti- dächtnisreicher würden. Die Kritik an dieser
sche (mythische) Prämisse zurückgeführt wer- Technik bzw. Kenntnis (máthema) wird durch
den. Gebunden wird Erkennen an das, was die die Zweideutigkeit des Wortes phármakon ausge-
Seele qua ›natürlicher Ausstattung‹ in sich findet drückt. Hilfsmittel und zugleich Gift sei die
– und Erinnern auf ein innerpsychisches Abru- Schrift als ein Verfahren der Speicherung von
fen gegebener Daten beschränkt (in diversen Gedächtnisinhalten. Natürlich entlaste der Ge-
Konjunkturen kehren vergleichbare Rückfüh- dächtnisspeicher der Schrift als Informationsauf-
rungsstrategien bis in die jüngste Gegenwart wie- zeichnungstechnik die Fähigkeit des Erinnerns.
der). Von dieser mythologisierenden Rückversi- Aber im Vertrauen darauf, dass sich die Fähigkeit
cherung unberührt bleibt jedoch die Entdeckung des Erinnerns durch eine solche Informations-
der semantischen Evidenz, die dem Gedanken aufzeichnungstechnik ersetzen lasse, werde diese
der Wiedererinnerung ursprünglich zugrunde Erfindung »de[n] lernenden Seelen Vergessen
liegt und sie zum Kriterium der Unterscheidung einflößen aus Unbesorgtheit um das Erinnern«.
zwischen Wissen und Meinung macht. In diesen Daraus folgt als Zusammenfassung, dass die
Kontext gehört auch die klassische – und bis in Schrift ein Hilfsmittel nicht für die Fähigkeit des
die digitale Gegenwart hinein wirksame (s. u.) – Erinnerns (mneme), sondern allein für die Auf-
Definition, dass Vergessen das Ausgehen einer bewahrungsleistung (hypomnésis) des Gedächt-
Erkenntnis sei: eine epistemes apobole (Phaidon, nisses ist. Kein Akt der Aufzeichnung und Archi-
75d). Erinnern wird damit (a) als eine mentale vierung/Thesaurierung von Gedächtnisgehalten
Speicherleistung gedacht, die (b) objektorientiert kann Erinnern als Fähigkeit und als Vermögen
ist und der (c) als Verlust das Vergessen gegen- sui generis ersetzen. Gerade die Schrift ist keine
überstünde. Kopie des Erinnerns. Sie bedarf vielmehr der Er-
Nicht allein bezüglich der Differenzierung innerung. Der schweigende Logos der Schrift
zwischen Gedächtnisleistungen und Erinne- wird erst durch (Wieder-)Erinnern zur sinnvol-
rungsvermögen sowie im Hinblick auf die For- len Sprache lebender und beseelter Rede (vgl.
men, in denen sich mitteilt, was Erinnern ist und Phaidros, 275d–276a).
was Erinnern bedeutet, ist Platons bedeutsamster Platon konstruiert damit keinen Gegensatz
Dialog der Phaidros. Über Vorgaben, dass Erin- zwischen Schrift und Erinnerung: Er kritisiert
nern ein »Wiedererinnern dessen, was die Seele vielmehr die Ansicht, dass sich der Akt des Erin-
einst gesehen hat« bedeute und dass es Gegensatz nerns durch Technologien der Gedächtnisspei-
des Vergessens (der lethe) sei (vgl. Phaidros, cherung ersetzen lasse. Die Schrift als die Form,
249c–251d), hinaus fragt Platon im Phaidros nach in der die Übersetzung von Erinnerung in Spra-
den Bewusstseinsleistungen, die bei der Kunst che fixiert wird, ist nicht nur Objekt, sondern
der Rede als Seelenleitung durch Worte (vgl. auch Subjekt der Kritik. Denn es ist die Schrift,
Phaidros, 261a) im Spiel sind – Bewusstseinsleis- die uns bemerken lässt, dass kein Austausch von
tungen, die ihn zwischen den mentalen Speicher- Gedächtnisgehalten die Fähigkeit des Erinnerns
leistungen des Aufbewahrens von Daten (der hy- zu ersetzen vermag.
pomnesis), der Kopierfunktion des Gedächtnisses Umgekehrt erschöpft sich diese Fähigkeit nicht
(der mneme) und dem damit nicht identischen in einer intramentalen Selbstbeziehung. Was Er-
Vermögen des Erinnerns (der anamnesis) unter- innern heißt, bedarf der Sprache. Erst in Formen
scheiden lassen. der Äußerung können wir auf unser Erinnern zu-
In diesem Zusammenhang wird der Mythos rückkommen und sei es – wie im Phaidros –
von Theuth referiert (vgl. Phaidros, 274c–275b). durch die Kritik, dass keine Technologie den Akt
Gefragt nach dem Nutzen der von ihm erfunde- des Erinnerns ersetzen kann. In sachlicher Hin-
nen Buchstaben antwortet der Techniker Theuth, sicht ist damit die Entdeckung der semantischen
dass diese ein Hilfsmittel für die Erinnerung Evidenz, dass jedes Erinnern ein Wiedererinnern
(mneme) seien, da dadurch die Menschen ge- in sich schließt, um die Erkenntnis ergänzt, dass
2. Philosophie 263

das Vermögen des Erinnerns nicht in Akten des strument mentaler Introspektion denkt. Die
Konservierens besteht: Erinnern ist nicht die (in- Frage, was Erinnern ist, wird dadurch zur Frage,
tramental) bedeutungsidentische Kopie vor-ana- wie es sich als Beziehung auf etwas von ihm Un-
mnetisch gegebener Daten. Erinnern ist vielmehr terschiedenes zeigt. Was Erinnern ist, ist mit dem,
eine Bewusstseinsleistung sui generis, die sich was erinnert wird, nicht gleich. Diese Dialektik
weder durch Datenspeicherungsvorgänge noch der Verschiedenheit, ohne die die semantische
gar durch Datenträger substituieren lässt. Natur der Erinnerung und ihres Bezugs zu den
Auf die erkenntnistheoretischen Themen, die Zeichen, in denen sie sich zeigt, nicht gedacht
sich aus der Einsicht in die Notwendigkeit erge- werden kann, diskutiert Platon im Sophistes (vgl.
ben, dass zwischen hypomnesis – mneme – ana- Sophistes, 244d, 262e). Erinnernd wissen wir, dass
mnesis differenziert werden muss, kommt Platon das, was erinnert (und in Zeichen benannt) wird,
in den Spätdialogen Theaitetos und Sophistes zu vom Akt und der Präsenz des Erinnerns unter-
sprechen. Ad absurdum geführt wird die Mei- schieden ist und dass dieses Moment um sich
nung, dass die Erinnerung als ein mentaler Be- selbst wissender Unterschiedenheit zum Sinn des
hälter und Erinnern als datenreduplizierendes Erinnerns wie der Natur des Verstehens von Zei-
›Ver-Innern‹ vorgestellt werden könne. Als Mo- chen gehört. Damit beginnt Platon der Evidenz,
delle, die Erinnern auf die Speicherleistungen des dass jedes Erinnern ein Wiedererinnern bedeu-
Gedächtnisses und diese wiederum auf einen tet, die Einsicht hinzuzufügen, dass das Was des
mentalen Kopiervorgang reduzieren, fungieren Erinnerns nicht erklärt werden kann, wenn man
das Bild vom Erinnern als einem Abdruck in der es mit dem Was des Erinnerten in eins setzt.
›prägbaren Wachsschicht‹ der psyche (vgl. The- Aristoteles: Auf die Frage, was sich ergibt, wenn
aitetos, 191d) und dasjenige vom ›Taubenschlag‹ man die semantische Evidenz, dass jedes Erin-
für die Tätigkeit der Seele (vgl. Theaitetos, 197c nern Wiedererinnern ist, ohne die mythische An-
ff.). Zwei Argumente widerlegen diese repräsen- nahme einer Präexistenz der Seele erklärt, hat als
tationalistischen Modelle. Wäre die Seele ein erster Aristoteles reagiert – und zwar in der klei-
mentales Behältnis und bestünde Erinnern in nen Schrift Peri mnemes kai anamneseos (Über
einem eineindeutigen (bedeutungsidentischen) Gedächtnis und Erinnerung). Aristoteles schließt
Abspeichern gegebener Daten, ließe sich erstens an Platons Unterscheidung zwischen Gedächtnis
falsches Vorstellen nicht erklären: Nun gibt es fal- (dem aufbewahrenden Erinnern als mnemoneu-
sches Vorstellen – das Gedächtnis kann uns täu- ein) und der Erinnerung als Wiedererinnerung
schen –, also stimmt das Repräsentationsmodell (anamnesis, anamimneskein) an. Erinnern ist (a)
nicht. Zweitens: wenn Erkenntnis (auch falsches von den Gegenständen, die erinnert werden, un-
Vorstellen) auf vor- bzw. außerpsychisch Gegebe- terschieden und (b) nicht auf seine Gegenstände
nes zurückgeführt werden soll, entsteht ein infi- reduzibel. Es lässt sich nicht erklären durch das,
niter Regress: Erkenntnisse müssten jeweils auf ›was‹ erinnert wird. Es ist ›Bild von etwas‹ (ei-
etwas vor dem Erinnern schon erinnerungsunab- kon), nicht sekundärer Ab- oder Eindruck (typos)
hängig Erinnertes zurückgeführt werden (vgl. ›primärer‹, vorgängiger Daten. ›Semantisch‹ be-
Theaitetos, 200b/c). Über den Abweis der Repä- deutet Erinnern die ›Präsenz von Nichtpräsen-
sentationsmodelle hinaus beginnt Platon damit tem‹ – die erwähnte logische Entdeckung in Pla-
im Theaitetos explizit nach Struktur und Seman- tons Sophistes bringt Aristoteles mit der zeitli-
tik der Bewusstseinsleistung des Erinnerns zu chen Natur der Erinnerung zusammen: Erinnern
fragen. Die Vorstellung, dass es (a) als Speichern richtet sich auf Vergangenes und zwar in einer
und (b) als Speicher von erinnerungsfrei gegebe- von den Speicherleistungen des Gedächtnisses zu
nen Daten zu denken sei – als mentaler Raum der unterscheidenden Weise.
Repräsentation – ist irrig. Daraus folgt zugleich, Doch »Erinnerung unterscheidet sich vom Ge-
dass Erinnern nicht – bzw. nicht hinreichend – dächtnis nicht nur bezüglich der Zeit (katà tòn
verstanden ist, wenn man es als Form oder In- chronon), sondern auch darin, dass sich Gedächt-
264 IV. Forschungsgebiete

nis (mnemoneúein) auch bei vielen anderen Le- als zeitlich bestimmte begreift: Das unterscheidet
bewesen findet, Erinnerung aber (anamimnes- Erinnern vom Gedächtnis. Die Einsicht, dass das
kesthai), so kann man sagen, sich bei keinem an- Erinnern deshalb auf einem Prinzip gründen
deren Lebewesen findet, außer beim Menschen. muss, das erklärungsmächtiger ist als das, von
Die Erinnerung ist nämlich gleichsam eine Art dem ausgehend man sich zu erinnern lernt, hat
Schluß (syllogismós)« (Peri mnemes kai anamne- Aristoteles freilich nur als Hypothese formuliert.
seos, 453a6–10). Es ist die Fähigkeit des Erin- Es wird Augustinus sein, der den von Aristoteles
nerns, die den Menschen unter den übrigen Le- ausgelegten Faden aufgreift und expliziert, in
bewesen auszeichnet. Diese Fähigkeit muss, so welchem Sinne der Syllogismus der Erinnerung
Aristoteles weiter, »auf einem Prinzip gründen sich als die Kraft des Lebens im sterblich leben-
[…], das größer, d. h. erklärungsmächtiger (pleío- den Menschen zeigt.
nos arches) ist als das, von dem ausgehend man Plotin: Plotin setzt das Denken ausdrücklich
sich zu erinnern lernt« (Peri mnemes kai anamne- dem Erinnern entgegen und denkt dieses Erin-
seos, 451b9–11). nern als eine Art von Abspeichern (als ein Aufbe-
Aristoteles’ Antwortansatz auf die Frage, was wahren) des Wahrgenommenen. Die Seelenkraft
die arche ist, die die Fähigkeit des Erinnerns vom der mneme gehöre mit dem Vorstellungsvermö-
mentalen Speicher ›Gedächtnis‹ unterscheidet, gen (dem phantastikon) zusammen und sei im
erfolgt in drei Schritten. Ausgangspunkt ist die Unterschied zur Anamnesis, die mit der Zeit
Common-sense-Auffassung: Es gebe mneme nur (dem chrónos) nichts zu tun habe, zeitgebunden.
von Vergangenem (vgl. Peri mnemes kai anamne- Die ›gute Seele‹ sei ›vergesslich‹ und fliehe aus
seos, 449b10–15). In einem zweiten Schritt fragt dem Vielen in die Erinnerungslosigkeit des ›Ei-
Aristoteles nun aber danach, auf welchen Leis- nen‹ (vgl. Enneade IV.3.25–32). Habe die Seele
tungen die Speicherfunktion beruht, die wir als durch Vergessen den Bereich des Noetischen er-
Gedächtnis denken. Er entdeckt dabei, dass das reicht, dann gebe es dort nicht nur keine erinner-
Erinnern, das dem Gedächtnis-Haben zugrunde ten Dinge, sondern auch kein Erinnern mehr.
liegt, sich nicht darin erschöpft, extramentale Denn Erinnern erzeugt Andersheit: Es habe not-
›Dinge‹ – Reizeindrücke – in ein mentales Innen gedrungen mit dem ›Vielen‹ und Zeit als Form
zu kopieren und informations- oder dateniden- wie Bedingung des Werdens zu tun. Erinnern
tisch zu ›speichern‹. Das Gedächtnis-Haben, das verzeitlicht das Denken. Deshalb stehe das Ver-
Erinnern meint, heißt vielmehr, die Gegenstände mögen der Erinnerung unterhalb der psyche
oder Objekte des Erinnerns in ihrer gerade zeitli- (›psyche‹ wird hier wie bei Platon als Weltseele
chen Verschiedenheit zu verbinden: Jede Art von verstanden). Plotin verknüpft die Erinnerung mit
Gedächtnis ist mit Zeit verbunden. Schon zur Zeit als Bedingung (der Vielheit) diesseitiger
Struktur der Repräsentationsleistungen, die wir Existenz und bindet dabei das Erinnern an die
mit Gedächtnis meinen, gehört, dass es sie »nicht Zeitdimension ›Vergangenheit‹. Diesem zeitbe-
gibt, ehe eine Zeit vergangen ist« (vgl. Peri mne- dingten Erinnern wird das Vergessen als ekstati-
mes kai anamneseos, 451a31). Damit unterläuft sche Einung jenseits aller Verbindung mit dem
Aristoteles die mythische Zusatzhypothese einer Zeitlichen entgegengesetzt. Die Entgegensetzung,
Präexistenz der Seele, mit der Platon die Evidenz, die Plotin damit auf klassische Weise formuliert,
dass jedes Erinnern ein Wiedererinnern (ein ›Er- ist die Entgegensetzung zwischen einem Erin-
innern des Erinnerns‹) in sich schließt, absichern nern, das nur als Methode und Instrument des in
zu müssen meinte. Die Erfahrung von Zeit ist ur- sich gehenden Geistes erscheint, und einem Ver-
sächlich mit dem Vermögen der Erinnerung gessen, das als Negation allen Erinnerns der Er-
(dem anamimneskein) verbunden. Erinnern be- innerung gegenüber privilegiert wird, weil es die
deutet, zeitlich Verschiedenes gerade im Bewusst- Sphäre des Endlichen hinter sich lasse. Wo Erin-
sein seiner Verschiedenheit zu verbinden – und nern war, soll Vergessen werden – wobei dies
zwar so, dass die Instanz, die das leistet, sich selbst Vergessen jene Tabula rasa bewirken soll, auf der
2. Philosophie 265

der Geist, in sich zurückgegangen und unberührt haltendes inneres Subjekt noch die verräumli-
von allem Endlichen, allein sich noch auf sich be- chende Vorstellung aus, die Erinnern auf Ge-
zieht. Umgekehrt wird damit bei Plotin deutlich, dächtnis und dessen Funktion auf einen inneren
dass sich das Vermögen der Erinnerung als Aufbewahrungsort reduziert. Als Gedächtnis
Selbstbezug endlicher Wesen gerade in dem Sinn wird die Erinnerung gleichsam in räumlicher
erweist, dass dieser Selbstbezug nicht auf eine er- Form betrachtet. Sie erscheint als mentaler The-
innerungsfrei gegebene noetische Struktur abzu- saurus, auf den sich reproduzierende Akte der
bilden ist. Erinnern ist ein irreduzibles Plus in der Repräsentation von Erinnertem beziehen. Was
wissenden Selbstbeziehung endlicher Wesen. im Gedächtnis aufbewahrt ist, erinnert sich aber
nicht von selbst – sondern will erinnert werden
und wird meist unwillkürlich erinnert. Etwas er-
Nachantike – Augustinus
innert zu haben bedeutet deshalb nicht dauernde
Der nach Platon bedeutsamste Einschnitt im oder ununterbrochene Präsenz. Zu erinnern setzt
Denken der Erinnerung vollzieht sich an der vielmehr Vergessen voraus. ›Vergessen‹ ist der
Schnittstelle von antikem und nachantik- Gegenbegriff zum Gedächtnis, sofern dieses als
›mittelalterlichem‹ Denken bei Augustinus. Er ist Konservierungsinstanz aufgefasst wird. Verges-
der erste, bei dem das Verhältnis zwischen Ge- sen ist aber nicht der Gegensatz des Erinnerns.
dächtnis und Erinnerung wie die Frage nach der Was Erinnern heißt, setzt sich vielmehr aus bei-
Semantik und den Strukturen wissender Selbst- dem – der Speicherfunktion des Gedächtnisses
beziehung, die sich im Vermögen der Erinnerung und dem Vergessen – zusammen. Weil es Verges-
zeigen, in voller Breite erläutert werden. Das sen voraussetzt und in sich schließt, bedeutet Er-
schließt die (von Aristoteles angeregte) Frage innern keine konservierte oder konservierende
nach der zeitlichen Natur und dem zeitlichen Präsenz, sondern einen Akt der Vergegenwärti-
Sinn dieses Vermögens ebenso ein wie das Wis- gung. Erinnern ist nicht auf (urimpressional) ein-
sen, dass sowohl repräsentationalistische Modelle malige Akte zurückzuführen, die durch ein In-
wie mentalistische Engführungen dem Sinn der wendigmachen konserviert würden, sondern ein
Erinnerung nicht gerecht werden. Augustinus hat wiederholendes und wiederholend sich auf sich
die von Platon entdeckte Evidenz, dass jedes Er- selbst beziehendes Vermögen. Erinnern schließt
innern ein Wiedererinnern in sich schließt (s. o.), die zwischen den jeweils erinnerten Jetzten und
als innerzeitliches Erfahrungsdatum ausgewiesen den Jetzten des Erinnerns vergangenen zeitlichen
und plausibel gemacht. Dies geschieht vor allem Zwischenräume (die intervalla temporum) auch –
in den Confessiones und in De trinitate. und gerade – qua Vergessen in sich. Nicht eine
Dass der Mythos einer Präexistenz der Seele konservierende Präsenz, sondern Vergessen ist in
im christlichen Kontext nicht akzeptabel ist, nö- diesem Sinn – auch wenn es paradox klingt – die
tigt dazu, durch die Analyse des Erinnerungsver- innere Form der Erinnerung.
mögens den Gedanken der Wiedererinnerung zu Die Selbstgegenwärtigkeit des Erinnerns be-
fundieren, statt umgekehrt das Erinnern mit ei- steht deshalb nicht darin, dass uns erinnernd al-
nem vorausgesetzten Wiedererinnern zu erklä- les gegenwärtig wäre und bliebe (vgl. Confessio-
ren. Die hier zu leistende Erinnerungsanalyse be- nes, X.13.20). Die Vorstellung, die Erinnern mit
ginnt in Buch X der Confessiones mit der Einsicht, einem zeitlosen Gedächtnisspeicher identifiziert,
dass mit dem in allen Akten der Wahrnehmung ist die Vorstellung eines Geistes, der alle Endlich-
tätigen ›Ich‹ nicht erklärt werden kann, was Erin- keit und mit ihr das Vergessen in sich getilgt
nern im Grunde bedeutet (vgl. Confessiones, hätte. Dieser (traumatischen) Restriktion des Er-
X.6.9–8.12). Um das zu verstehen, reicht weder innerns auf ein Nicht-vergessen-Können wider-
der Rekurs auf ein in den verschiedenen Sinnes- spricht aber das triviale Faktum, dass wir deshalb
empfindungen sich gleichsam autark als ›Einer, erinnern müssen und erinnern können, weil wir
Ich‹, als ›Geist‹ (als »unus ego animus«) durch- vergessen. Entscheidend nun ist, dass sich diese
266 IV. Forschungsgebiete

Trivialität in der Erinnerung selbst findet. Des- zieht (ad aliquid) und ›bezügliche‹ (relative) heißt
halb wird gerade daran, was sich dem Erinnern (vgl. De trinitate, X.11.18). In ihrer Beziehung auf
immer von neuem entzieht, bemerkbar, dass das etwas – das Erinnerte – erscheint die memoria als
Vermögen der Erinnerung die Kraft des Lebens Gedächtnis. In ihrer Beziehung auf sich selbst
im sterblich lebenden Menschen ist: die vis vitae wird die Erinnerung als Kraft der Selbstbezie-
in homine vivente mortaliter (Confessiones, hung von Lebendigem einsichtig. Diese Bezie-
X.17.26). Erinnern heißt nicht, Gedächtnisin- hung-auf-sich in der Beziehung-auf-anderes, die
halte in zeitloser Präsenz zu konservieren. Es ist Erinnern ist, gehört in dem Tätigsein, das mens
kein bloßes ›Andenken‹. Gäbe es eine zeitlose als Geist und Bewusstsein heißt, mit Erkennen
Präsenz der Gedächtnisinhalte, so bedürften wir und Wollen zusammen. Erinnern geschieht nicht
des Erinnerns nicht. Erinnern müssen wir, weil automatisch oder konditioniert, es ist als Auf-
wir vergessen und Zeit vorübergeht. An diesen oder Abrufen von Daten untererklärt. Es ist Aus-
beiden Evidenzen alltäglicher Erfahrung macht druck einer Intentionalität: Ausdruck eines Erin-
Augustinus eine doppelte Entdeckung. Die erste nernwollens. Erkennen wir, dass wir erinnern
besteht darin, dass das Subjekt des Erinnerns wollen, so erkennen – und erinnern – wir einen
nicht das bloß vorausgesetzte autarke Ich einer ›inneren Vorgang‹, der sich in der Beziehung auf
mentalen Innenwelt, nicht der »unus ego animus« Gegenstände wiederholend auf sich selbst bezieht
ist (s. o.). Das ›Subjekt‹ des Erinnerns ist vielmehr (vgl. De trinitate, X.11.18). In den Akten des Den-
jene Identität, die sich in der Verbindung von kens gehören Erinnern, Einsehen und der Wille
zeitlich Verschiedenem erst bildet. Erinnern voll- zusammen. Das Vermögen der Erinnerung ist als
zieht sich im Vergehen von Zeit. Es vollzieht sich der Wille zum Erinnern wirklich. Es ist kein men-
so – und das ist die zweite Entdeckung, die Au- tales Innen, sondern die Beziehung, in der die
gustinus in Buch X der Confessiones macht –, dass mens sich vorfindet. Die Einheit von ›Sich-Erin-
das Vergehen der Zeit und dessen, was in der Zeit nern, Einsehen und Wollen‹ ist der Modus, in
›ist‹, d. h. auch das Vorübergehen des Erinnerns dem der Geist sich in seiner Endlichkeit vorfin-
selbst, in der Erinnerung ist. Das – nicht eine det wie erkennt. Erinnern vollzieht sich hier in
Zeitlosigkeit des Geistes – ist der Grund, weshalb vielen, wenn man so will, ›kleinen‹ Erinnerungs-
die vis memoriae von den Speicherleistungen des vorgängen, die jeweils nicht eigens bewusst (als
Gedächtnisses unterschieden und ›unendlich‹ ist. solche thematisch) werden. Sie sind als ›geheimes
Genau durch das, was sich dem Vermögen der Wissen‹ (arcana notitia) in der Erinnerung, die
Erinnerung zu entziehen scheint und doch in der dadurch zum »Verborgenen des Geistes« (abdi-
Erinnerung ist, wird uns die Erinnerung als pro- tum mentis) wird: zur »abgründigeren Tiefe der
duktives Vermögen bewusst. Erinnerung (der »abstrusior profunditas memo-
Bringen die Confessiones die Erinnerung als riae«; vgl. De trinitate, XIV.6.8; 7,9; XV.21.40).
Kraft des Lebens im sterblich lebenden Menschen Der terminus abditum mentis und die Rede von
zur exemplarischen Darstellung, so rückt in De der abstrusior profunditas memoriae sind keine
trinitate die memoria in die Mitte der begriffli- Formeln für etwas, was die Kraft des Denkens
chen Rekonstruktion dessen, was das menschli- überstiege oder zu dem über die Grenzen des
che Bewusstsein als göttliche Trinität in sich fin- Denkens hinaus aufzusteigen wäre. ›Abgrund‹
det (und erinnert). In der Erinnerung gründet heißt, dass die Erinnerung auf keinen anderen
die dynamische und zirkuläre Struktur des Be- (extramemorialen) ›Grund‹ zurückzuführen ist.
wusstseins, das sich wegen dieser Struktur als Und das ›Verborgene des Geistes‹ ist der Termi-
Entsprechung der schöpferisch gedachten Trini- nus technicus dafür, dass wir ›mehr‹ im Bewusst-
tät begreift. In diesem Zusammenhang unter- sein haben, als uns jeweils aktual bewusst er-
scheidet Augustinus zwischen dem Aspekt der scheint. Deshalb ist das Denken als ›Erinnern sei-
memoria, in dem sie auf sich selbst (ad se ipsam) ner selbst‹ (als »memoria sui«: De trinitate,
bezieht, und jenem, bei dem sie sich auf etwas be- XIV.6.8) aufzufassen – als der Wille und der
2. Philosophie 267

Wunsch, dasjenige, was im Grund des Bewusst- durch das er sich gegenwärtig ist« (De trinitate,
seins (gewissermaßen ›immer schon‹) ist, zur XIV.11.14).
Einsicht zu aktualisieren.
Das, was eingesehen wird, und der Wille, ein-
Neuzeit – Hobbes, Locke, Leibniz, Vico
zusehen und zu erinnern und dieses Einsehen
und Erinnern zu wollen, sind als ›innere Erinne- Bei Platon, Aristoteles und Augustinus finden
rung des Geistes‹ mit allem, was wir denken, sich die entscheidenden Anstöße zur philosophi-
gleichzeitig. Mit der memoria interior legt Au- schen Bestimmung von Sinn und Semantik von
gustinus offen, dass sich Erinnern nicht auf punk- Gedächtnis und Erinnerung. In der folgenden,
tuell-abbildende Akte beschränkt, sondern ein bis zu Nikolaus von Kues reichenden Epoche des
kontinuierlich-›einbildendes‹ Tätigsein bedeutet. Denkens ›versteckt‹ sich die Auseinandersetzung
Nicht als mentale ›Blackbox‹ liegt die Erinnerung mit Gedächtnis und Erinnerung in den Diskussi-
allen Denkakten zugrunde, sondern als jenes tä- onen der Trinitätslehre. Der Sache nach wird da-
tige Bezogensein, in dem der Geist sich vorfindet, bei an Augustinus’ Memoria-Konzept ange-
wenn er sich in seiner Endlichkeit und darin sich knüpft. Die Erinnerung ist als ›Seelengrund‹ oder
als wissende Selbstbeziehung erkennt und zu- ›Grund im Bewusstsein‹ der Ort, an dem sich die
gleich dies, sein erkennendes Sich-auf-sich- Einheit von göttlicher und menschlicher Natur
selbst-Beziehen, erinnert. In diesem Zusammen- und mit ihr die irreduzible Dignität des sich in
hang wird zugleich ein Vorurteil korrigiert, das seiner Endlichkeit erinnernden Geistes zeigt. Ins-
die Vorstellungen, die es bezüglich des Sinns der besondere Dietrich von Freiberg und Eckhart
Erinnerung gibt, so begleitet wie die klassische von Hochheim radikalisieren diesen Grundge-
Festlegung, dass Vergessen das Gegenteil der Er- danken der Trinität und verbinden ihn mit dem
innerung und jene Tätigkeit sei, die Erinnern ne- aristotelischen Konzept des ›tätigen Intellekts‹.
giere. Es ist das Vorurteil, dass Erinnern sich aus- Die Analyse des Objektes memoria wird – nach
schließlich auf Vergangenes richte und an die dem Ende der Hochscholastik in der Krisenzeit
Zeitdimension Vergangenheit gebunden sei. Dem des 14. Jahrhunderts – zur Reflexion des Subjek-
stellt Augustinus entgegen, dass das Vermögen tes memoria. Was Erinnern heißt, ist als Grund
der Erinnerung sich auch und insbesondere als des Bewusstseins zu begreifen, der sich in der dy-
Vermögen der Erinnerung des Gegenwärtigen namischen Struktur seiner Akte zeigt. Nikolaus
erweist. Dass Vergangenes wiedererinnert wer- von Kues wird die memoria als virtuellen Hori-
den kann, zeigt, dass es erinnert (worden) ist. Er- zont des tätigen Geistes und in ausdrücklicher
innern ist nur erklärbar dadurch, dass das Gegen- Anknüpfung an Augustinus die Intellekttätigkeit
wärtige immer schon erinnert ist. Es enthält als memoriae intellectus begreifen. Ansätze zur
(mindestens) zwei Gegenwärtigkeiten in sich: die Entfaltung der Natur des Denkens aus der memo-
des Vergangenen in seiner vergangenen Gegen- ria finden sich im Humanismus. Doch ist hier die
wärtigkeit (wird es erinnert) und die des Erin- Erinnerung vor allem als topologische Kunst des
nerns ›jetzt‹ (als dem gegenwärtigen Erinnern). Gedächtnisses thematisch. Diese postmediävale
Das Vermögen der Erinnerung ist sozusagen Tradition der Gedächtniskunst bereitet die Opti-
nichts anderes als das Vermögen der Erinnerung mierung der Speicherleistungen des Gedächtnis-
von Gegenwärtigkeit. Erinnern kommt der Emp- ses vor, die vom Bau und der Einrichtung von
findung des Gegenwärtigen nicht erst nachträg- Museen, in denen die mentalen Memorialorte
lich – als allein sekundäres Reproduzieren eines vorgestellter Gedächtniskammern architekto-
primären Datums – hinzu. Es ist vielmehr in der nisch umgesetzt werden, bis zu den Möglichkei-
Wahrnehmung des Gegenwärtigen selbst primär ten digitalisierter Datenverarbeitung reichen. Die
verortet, so dass »auch bei einer gegenwärtigen technische Optimierung der Speicherleistungen
Sache, wie der Geist es ist, ohne Absurdität Erin- des Gedächtnisses begleitet dabei die sich entfal-
nerung jenes Vermögen genannt [werden kann], tende Neuzeit von Anfang an – und ist zugleich,
268 IV. Forschungsgebiete

ebenso von Anfang an, von einem Misstrauen heißt, kann hinreichend nicht von den Objekten
dem Vermögen der Erinnerung gegenüber ge- des Erinnerns her erklärt werden. Die Bedeu-
prägt. tungsgehalte von Äußerungsformen sind nicht
Descartes etwa setzt der ›lügnerischen Erinne- im Gedächtnis deponiert, sondern in der Form
rung‹, der »mendax memoria«, die er der Einbil- erinnernd tätigen Bewusstseins gegeben. Erin-
dungskraft und den Sinnen zuordnet, das »Auf- nern ist keine bloße Software in Relation zur ma-
decken der eingeborenen Ideen« qua »Wiederer- teriellen Hardware des Gedächtnisses. Zweitens
innern« (reminisci) entgegen (vgl. Meditationes schließt Erinnern Vergessen in sich. Was die
de prima philosophia, II.2; V.4; Regula ad directio- Identität des Bewusstseins – und insbesondere
nem ingenii VIII.6). Damit ist ein Mentalismus auch die Identität personalen Daseins – aus-
verbunden, der Erinnern als innere Repräsenta- macht, ist stets durch Zustände des Vergessens
tion gegebener (äußerer und vergangener) Ob- ›unterbrochen‹ (vgl. Essay, II.27.10). ›Identität‹
jekte auffasst – als das Instrument imaginativer ist nicht das Produkt eines sich durchhaltenden
Repräsentation. Hobbes etwa (vgl. Leviathan, I.2) ›identischen Ich‹ (einer Ich-Substanz), sondern
ist die Erinnerung ein Zerfallsprodukt, in das qua Resultat des von ›Vergessen‹ durchsetzten Erin-
Imagination ursprüngliches Empfinden übergeht nerns. Erinnern müssen endliche Wesen, weil sie
oder verwest. Erinnern wird auf die sekundäre vergessen – genau daran wird bewusst, was Erin-
Kopie primärer Reize reduziert. nern heißt. Nicht ein Set mentaler Daten (oder
Locke kritisiert die Annahme eingeborener extramemorialer Codierungen) konstituiert per-
Ideen, in der bei Descartes das Präexistenzmy- sonale Identität, sondern das Vermögen der Erin-
thologem wiederkehrt, mit dem Platon sein nerung. Die aufbewahrenden Leistungen des Ge-
Anamnesistheorem verbunden hatte. In der Kri- dächtnisses sind ein Aspekt dieses Vermögens.
tik an Descartes’ mentalistischer Annahme ein- Leibniz greift auf Platons Gedanken der Ana-
geborener Ideen unterscheidet er die Erinnerung mnesis zurück. Die »Lehre der Wiedererinne-
von ihrer Reduktion auf die Aufbewahrungsleis- rung sei gut überlegt«, wenn man sie von der An-
tungen des Gedächtnisses und geht zugleich – nahme einer Präexistenz reinige (Discours de mé-
wie vor ihm Augustinus – über den unreflektier- taphysique, § 26). Damit verweist Leibniz auf den
ten Gegensatz von Erinnern und Vergessen hi- sachlichen Kern von Platons Anamnesistheorem.
naus. Er nennt das Vermögen der Erinnerung Erinnern erscheint im Bewusstsein als Bemer-
retention und das aufbewahrende Gedächtnis ken, etwas schon zu kennen. Der ›Irrtum der Prä-
»memory, the Store-house of our Ideas« (vgl. Es- existenz‹ besteht darin, dass Platon meinte, die
say, II.10.1–3). Neben dem ursprünglichen Wahr- interne Logik oder Semantik des Erinnerns auf
nehmen sei dieses aufbewahrende Gedächtnis ein erinnerungsunabhängiges – präexistent-pri-
am notwendigsten. Zwar bleibt er damit in der märes – Faktum zurückführen zu müssen, dem
Vorstellung befangen, dass Erinnern eine sekun- gegenüber Erinnern ein sekundäres Aktivieren
däre Art der Erfahrung sei (vgl. Essay, II.10.7). sei. Will man diesen Irrtum vermeiden, dann
Gleichwohl betrachtet er das mit dem Aufbewah- muss man sich Aufklärung über die semantische
ren zusammenhängende Erinnern als zentrales Evidenz verschaffen, dass jedes Erinnern ein
Element des als dynamische Prozesseinheit zu Wiedererinnern bedeutet. Das ›Faktum‹ des Wie-
verstehenden Bewusstseinsstromes. Bei dem, was dererinnerns gilt es aus der internen Struktur des
Locke hier als consciousness konzipiert oder be- Erinnerns und als innerzeitlichen Akt plausibel
greift, werden zwei zentrale Entdeckungen Au- zu machen. Leibniz fügt hier den diesbezüglichen
gustinus’ in die Sprache neuzeitlichen Denkens Erklärungsangeboten, die sich bei Augustinus
übersetzt. Erstens unterscheidet sich Erinnern finden, mit der Betonung der Bedeutung der »pe-
vom bloßen Aufbewahren (auch beispielsweise in tites perceptions« (kleine Wahrnehmungen) eine
Gestalt neuronaler Codierungen) ›angeborener‹, wichtige Präzisierung hinzu. Er zeigt, dass die
prä- wie extramemorialer ›Ideen‹. Was Erinnern 0/1-Codierungen im Hinblick auf das, was Be-
2. Philosophie 269

wusstsein ist, dem Befund unseres Wahrnehmens sich nicht auf die ›dienende‹ Funktion der aufbe-
nicht entsprechen. Dieses Wahrnehmen ist viel- wahrenden Speicherleistungen des Gedächtnis-
mehr von unmerklichen Perzeptionen dergestalt ses beschränken lässt findet sich bei Giambattista
durchsetzt, dass etwas erinnert ist, ohne bewusst Vico. Die memoria gilt ihm als sinn- wie sprach-
gespeichert worden zu sein (vgl. Monadologie, schöpferisches Vermögen. Als diese Äußerungs-
§§ 14–21). Diese ›kleinen‹ oder unmerklichen formen generierendes wie ihrer bedürftiges Ver-
Wahrnehmungen seien von ›großem Nutzen‹ für mögen erscheint die memoria innerhalb der kul-
die Erklärung der Identität individuellen Be- tursemiologischen Trias von memoria, fantasia,
wusstseins: »Diese unmerklichen Perzeptionen ingegno (Erinnerung, Einbildungs- und Erfin-
sind es auch, die dasjenige bezeichnen, was wir dungskraft) als kulturstiftende Bedingung der
ein und dasselbe Individuum nennen: denn kraft Möglichkeit, die auf die Daten der Geschichte als
ihrer erhalten sich im Individuum Spuren seiner Zeichen zurückkommen und Geschichte erzäh-
früheren Zustände, durch die die Verknüpfung len lässt. Hesiods Satz, dass Mnemosyne die Mut-
mit seinem gegenwärtigen Zustand hergestellt ter der Musen ist, deutet Vico in dem Sinn, dass
wird« (Neue Abhandlungen, Vorrede). Die Identi- die Erinnerung sich damit als Matrix der Künste
tät von Bewusstsein gründet in einer Intentiona- der Humanität erweise. Sie wird dies, indem sie
lität, die ›unter‹ den Daten bewussten oder ab- in Formen kultureller Überlieferung übersetzt er-
sichtlichen Aufbewahrens jenen Subtext bilden, scheint. Die Geschichte der Sprache – das dizio-
der Erinnern erklärt. Die unwillkürlichen Wahr- nario mentale commune – erweist sich insofern
nehmungsleistungen, die hier im Spiel sind, las- als Naturgeschichte der Formen kultureller Erin-
sen sich nicht verlustlos in Formen mentaler Re- nerung. Was ›Erinnern‹ heißt, enthält das Ob-
präsentation, die als Abbildungsfunktionen auf- jekte erinnernde Gedächtnis (rimembrare). Es
gefasst werden, übersetzen. Deutungen, die zeigt sich in der die erinnerten Gegenstände ver-
Erinnern als bedeutungsidentische ›innere‹ Ko- ändernden und nachschaffenden (alterare e con-
pie eines gegebenen ›äußeren‹ Datums denken, traffare) Phantasie, es beweist sich als Erfindungs-
muss der Sinn der Erinnerung dunkel bleiben. Er gabe. Aufgrund dieser Natur des Sinns der Erin-
geht in einer zweistelligen ›Repräsentierendes- nerung ist Phantasie ein Wiederhervorspringen
Repräsentiertes‹-Logik nicht auf. Das hat Konse- von Erinnertem und ›Ingenium‹ der erfinderi-
quenzen für das Verhältnis Gedächtnis-Erinne- sche Umgang mit den Dingen, derer man sich
rung. entsinnt. Das produktive Ingenium der Erinne-
Erinnern hängt mit den Speicherleistungen rung zeigt sich in der ars inveniendi, der Kunst
der Maschine Gehirn, die wir mit Gedächtnis des Findens. Als Ingenium verwirklicht sich die-
meinen, zusammen. Aber es ist darauf nicht re- ses Vermögen der Erinnerung in der Fähigkeit,
duzibel (vgl. Monadologie § 17). Was wir erin- Verschiedenes zu verbinden. Verschiedenes zu
nern, können wir gegebenenfalls auf Daten und verbinden ist der Sinn der Erinnerung. Darin
Reize zurückführen – nicht aber, dass wir erin- gründet ihre unhintergehbares Verwiesensein auf
nern. Dass wir erinnern, ist ein um sich wissen- die Materialität äußerer (dinghafter, von der ›In-
des ›Sich-Beziehen-auf‹, in dem das jeweils erin- nenwelt‹ des Geistes unterschiedener) Zeichen.
nerte Jetzt in seinem Zusammenhang und in sei- In ihrer verdinglichten Materialität sind sie die
ner Differenz zum Jetzt des Erinnerns ›bewusst‹ Formen, in denen der ›inwendige‹ Geist ›auswen-
wird. Leibniz bringt die daraus folgende mehr- dig‹ erscheint. Der Sinn für die Beziehung zwi-
stellige Logik des Erinnerns mit seinen ›petites schen dinghafter Materialität und freier Erinne-
perceptions‹ zu bewusstseinstheoretischer Spra- rungsfähigkeit gelangt in den Zeichen der Kultur
che. zu Ausdruck, in ihm besteht Kultur. Die kultur-
Die deutlichste Kritik am mentalistischen Ver- stiftende Fähigkeit des Erinnerns ist kein Besitz-
nunftbegriff der Neuzeit und seinem Misstrauen stand. Sie ist bedroht von der zyklisch wiederkeh-
gegenüber dem Vermögen der Erinnerung, das renden »Barbarei der Reflexion«, die sich bei-
270 IV. Forschungsgebiete

spielsweise immer dann zeigt, wenn man meint, als jener »höheren Form der Substanz«, die zum
Erinnern durch Technologien der Gedächtnis- Resultat der Erfahrung des Bewusstseins wird.
speicherung ersetzen zu können – das war im Diese höhere Form der Substanz wird aber als
Übrigen bereits der Kern von Platons Kritik am ›nächtliches‹ Prinzip der Verinnerlichung aufge-
Glauben, Erinnern ließe sich durch Techniken fasst (vgl. Das absolute Wissen). Schon in den Je-
der Informationsaufzeichnung ersetzen. naer Systementwürfen zur Philosophie des Geistes
reduziert er Erinnern auf ein Instrument, durch
das die äußeren Gegenstände ›unter die Herr-
Deutscher Idealismus – Hegel und Hölderlin
schaft des Selbsts‹ kommen. Damit wird die Erin-
Die Zusammengehörigkeit des reproduktiven nerung zum mentalen Innenraum – zu jener
Aspekts des Vermögens der Erinnerung mit ih- »Nacht des Fürmichseyns«, in der Erinnern mit
rem produktiven Sinn hat Kant in die Funktionen dem Erinnerten (den ›verinnerten‹ Gegenstän-
von reproduktiver und produktiver Einbildungs- den) identifiziert wird. Es wird zum Speicher
kraft aufgespalten. Daran schließen die Diskussi- oder Behälter von Erfahrungsdaten bzw. Infor-
onen im Deutschen Idealismus an: Fichte sucht mationseinheiten. Dieser – und nur dieser –
beide Aspekte der Einbildungskraft zusammen- Form der Erinnerung, in der sie als Aufbewah-
zuhalten, Schelling paraphrasiert Platons Prä- rungsort vorgegebener Bilder bzw. als Archiv des
existenzmythologem buchstäblich als Erinnern Geistes (als ›Beinhaus der Wirklichkeiten‹, von
eines vorindividuellen Eins-Seins mit Natur. Zum dem der junge Hegel die Erinnerung gerade un-
Austrag kommt die mit dem neuzeitlichen Ver- terschieden hatte) gedacht wird, stehen Verges-
nunftbegriff verbundene Evaluierung von Ge- sen und Verdinglichung als konkurrierende In-
dächtnis und Erinnerung und beider Verhältnis stanzen gegenüber. Würde das Gedächtnis nun
bei Hegel und Hölderlin. als ein solcher Speicher bzw. Behälter tatsächlich
Mit Hölderlin war Hegel zunächst der Ansicht, funktionieren, gäbe es weder Vergessen noch
dass die Erinnerung als der reflexiv nicht hinter- müssten wir erinnern. Freilich ist das ein Selbst-
gehbare Grund der dynamischen Struktur ›Be- widerspruch, der die Gedächtnisauffassungen bis
wusstsein‹ zu denken und vom Gedächtnis un- in die Gegenwart verunklart. Bedeutsam sind
terschieden ist, wenn er (im Geist des Christen- dem gegenüber zwei Bemerkungen. Erstens kann
tums) vom »Gedächtnis« als »Beinhaus der sich, was Gedächtnis heißt, allein als produktives
Wirklichkeiten« spricht. Im ausgereiften System Vermögen darstellen: Die »Zeichen erschaffende
aber wird wieder das Gedächtnis privilegiert und Tätigkeit kann das productive Gedächtniß (die
die Erinnerung noch unter die Tätigkeit der Ein- zunächst abstracte Mnemosyne) vornemlich ge-
bildungskraft herabgestuft. In den Vorlesungen nannt werden, indem das Gedächtniß, das [...]
über Ästhetik macht Hegel einen Hiatus zwischen mit [...] Vorstellung und Einbildungskraft ver-
der Erinnerung, die die »Einzelheit und äußere wechselt und gleichbedeutend gebraucht wird, es
Art des Geschehens« bewahre, und der produkti- überhaupt nur mit Zeichen zu thun hat« (vgl. En-
ven Phantasie. Als mit seinen Gegenständen zyklopädie, § 458). Zweitens ist die Fassung der
identifiziertes Erinnern wird die Erinnerung un- Stellung und Bedeutung des Gedächtnisses und
ter das ›Allgemeine‹ des Geistes herabgestuft. das Begreifen seines »organischen Zusammen-
Und in der Enzyklopädie fungiert die Erinnerung, hangs mit dem Denken« in der Lehre vom Geist
von Einbildungskraft und Phantasie getrennt, »einer der schwersten Punkte« (Enzyklopädie,
nur noch als »nächtlicher Schacht der Intelli- § 464).
genz« und wird dem Gedächtnis subordiniert Aufschlüsse geben hier ursprüngliche Einsich-
(vgl. Enzyklopädie [1830], §§ 452–462). Die Mitte ten Hölderlins. Er hat daran festgehalten, dass Er-
dieses Übergangs zur Depotenzierung der Erin- innern weder mit seinen Gegenständen zusam-
nerung bildet die Phänomenologie des Geistes. Sie menfällt noch sich im erkennenden Rückbezug
kulminiert zwar geradezu in der »Er-Innerung« des Denkens auf sich selbst, d. h. in der zweistelli-
2. Philosophie 271

gen Logik von ›Innen/Geist – Außen/Dinge‹ er- möglich, dass wir auf unser Erinnern selbst
schöpft. Die mehrstellige Relation des Erinnerns zurückkommen. Ohne äußere Zeichen ist es un-
bedarf vielmehr äußerer Objektivationen, in de- möglich, dass der Geist des Erinnerns sich und in
nen sich in Differenz zur mentalistischen Selbst- anderen reproduziert. Hat es das produktive Ge-
bezüglichkeit bloßer Reflexion die Erinnerung dächtnis (Hegel, s. o.) mit der Hervorbringung
wirklich erhält. Das erklärt für Hölderlin die Not- von Zeichen zu tun, so ist es die als Tun verstan-
wendigkeit, dass die Forderung einer Selbstre- dene Sprache, in der sich das Wesen der Erinne-
produktion des Geistes eine »poëtische Verfah- rung zeigt.
rungsweise« bedingt. Deren bewusstseinstheore-
tische Grundlagen wie Implikationen und daraus
Das Erbe des 19. und 20. Jahrhunderts:
folgende Forderungen hat er in seinen theoreti-
Zum Stand der Diskussion
schen Fragmenten diskutiert und dabei deutlich
gemacht, was den Unterschied zwischen dem Angesichts der Erklärungsschwundstufen, die
produktiven Sinn des Erinnerns und den repro- Gedächtnis wie Erinnerung im Kontext der posi-
duktiven Leistungen des Gedächtnisses aus- tivistischen Epistemologien erleiden, die ab dem
macht. Das Gedächtnis wiederholt, Erinnern 19. Jahrhundert das Ende der idealistischen Sys-
bringt hervor. Dieser hervorbringende Sinn be- tembildungen begleiten, erinnert Søren Kierke-
darf der Äußerung – es kann sich nur in Formen gaard an den lebensweltlichen Sinn, den die The-
der Äußerung reproduzieren. Nur in Formen der matisierung des spezifischen Sinns von Gedächt-
Äußerung vermag der Geist wirklich zu werden. nis und Erinnerung seit Platon hat, und bezieht
Dies resümiert der Satz, den Hölderlin als »Wink sich auf Platons Anamnesistheorem zurück. Ge-
für die Darstellung und Sprache« gibt: »So wie genüber dessen Deutung, die Erinnern gedächt-
die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert nisgleich an ein Vergangenes rückbindet, bedeute
sich die Sprache der Erkenntniß« (vgl. Wenn der konkretes Erinnern eine Wiederholung und be-
Dichter einmal des Geistes mächtig ist …). wahrheite sich als die Praxis eines ›Erinnerns
Der Sinn der Erinnerung erschöpft sich nicht nach vorn‹ (vgl. Die Wiederholung). In Differenz
in einer »Er-Innerung«, die mentale Begriffsge- zum Gedächtnis erfüllt sich Erinnern, indem es
halte systematisiert – jenem ›Er-Innern‹, das He- praktisch wird. Zugleich löst Kierkegaard die un-
gel zum Resultat der Phänomenologie des Geistes glückliche Verquickung des Erinnerns mit dem
hat werden lassen. Erinnern gibt es vielmehr nur, Vergangenen: ›Wiederholen‹ lasse sich nur Ge-
sofern ein Erinnerungsgeschehen übersetzt wird: wesenes, dass es aber (in erinnernder Praxis) wie-
Es gibt den »Sinn«, der die Erinnerung ist und derholt werde, sei das jeweils Neue. Das Prak-
den sie zugleich hat, nicht im Selbstbezug des tischwerden der Erinnerung wird in ethischer
Geistes, sondern nur in den Formen ihrer Äuße- wie ästhetischer Hinsicht zur grundlegenden Un-
rung. Die zweistellige Logik, die ein zeitfrei ge- terscheidung zwischen Gedächtnis und Erinne-
dachtes mentales Innen sich auf äußere Gegen- rung.
stände beziehen lässt, reicht für die Bestimmung Nietzsche rekurriert auf das klassische Vorur-
der Funktion des Gedächtnisses aus. Sie erklärt teil, das Vergessen als Negation des Erinnerns
aber nicht, dass und inwiefern sich Erinnern denkt, kehrt dieses Vorurteil gegen die Leistun-
selbst mitteilt. Soll sich Erinnern mitteilen, so ist gen des Gedächtnisses und fordert zunächst als
das nur als eine in der und unter der Bedingung ›Diät des Bewusstseins‹ gegen das ›mumifizie-
von Zeit sich erfüllende Selbstbeziehung zu den- rende Wiederkäuen‹ des ansammelnden Ge-
ken. ›Zeit‹ wird damit zum Medium, deren Ob- dächtnisses »Vergessen« (vgl. 2. Unzeitgemäße
jektivität die Erinnerung im Unterschied zur ver- Betrachtungen, 1). Abgesehen davon, dass wil-
meintlichen Zeitlosigkeit des Gedächtnisses be- lentliches Vergessen ein Selbstwiderspruch ist,
darf. Ohne die Objektivität sprachlicher Formen, hilft Nietzsches Kritik die Bestimmung des Erin-
die der Bedingung der Zeit unterliegen, ist es un- nerns zwischen Gedächtnis und Vergessen zu
272 IV. Forschungsgebiete

klären. Das willentliche Konservieren und end- kultureller Erfahrung ankommt, hat Theodor W.
lose Kumulieren, dem er »aktive Vergeßlichkeit« Adorno in einem Brief an Walter Benjamin hin-
entgegenstellt, eignet der »Mnemotechnik« des gewiesen. In der Reaktion auf dessen modellhafte
Gedächtnisses: nur was nicht aufhöre »weh zu Analyse Über einige Motive bei Baudelaire hält er
thun«, so Nietzsche später, bleibe im Gedächtnis programmatisch fest:
(vgl. Zur Genealogie der Moral, II.1–3). Sich »Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht,
Dinge gemerkt zu haben, ist die Basis des Erin- ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt. Sie
nerns, solche Konditionierung reicht aber zu sei- spielen auf diese Frage an in der Fußnote, in der Sie
ner Erklärung nicht zu. feststellen, daß Freud keine explizite Unterscheidung
Kurz nach Nietzsche weist Bergson darauf hin, zwischen Erinnerung und Gedächtnis mache (ich lese
dass der mémoire Vergangenheit (Vergangenes) die Fußnote als Kritik). Wäre es aber nicht die Aufgabe,
den ganzen Gegensatz von Erfahrung und Erlebnis an
und Gegenwart (Gegenwärtiges) gleichberechtigt eine dialektische Theorie des Vergessens anzuschlie-
präsent sind. Dass (Wieder-)Erinnern deshalb ßen? […] Ich muß dem kaum hinzufügen, daß es sich
ein wiederfindendes Sich-Entsinnen bedeutet dabei für uns nicht darum handeln kann, das Hegelsche
und sich durch die Akte solchen Wiederfindens Verdikt gegen die Verdinglichung nochmals zu wieder-
die Identität einer Lebensgeschichte bildet, bringt holen, sondern recht eigentlich um eine Kritik der Ver-
dann Marcel Prousts À la recherche du temps dinglichung, d. h. um eine Entfaltung der widerspre-
chenden Momente, die im Vergessen gelegen sind.«
perdu zu poetischer Darstellung. Über Prousts
(Briefwechsel 1928–1940, 417/18)
Recherche hinaus zeichnet sich die erste Hälfte
des 20. Jahrhunderts durch ein Wiederzurück- Nur wenn man Gedächtnis und Erinnerung nicht
kommen auf Sinn und Vermögen der Erinnerung in eins setzt, lässt sich verstehen, worin beider
gerade auch in philosophischer Hinsicht aus. Leistungen bestehen.
So erinnert Wittgenstein an einige Selbstver- Aristoteles hatte das vom Gedächtnis unter-
ständlichkeiten. Das Faktum etwa, dass uns das schiedene Erinnern als eine den Menschen spezi-
Gedächtnis täuschen kann, widerlegt (a) die phy- fisch auszeichnende Fähigkeit begriffen. Ange-
sikalistische Reduktion der Erinnerung auf die sichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist
Speicherfunktion des Gedächtnisses (vgl. Philo- solches Erinnern zu einem unverzichtbaren Be-
sophische Untersuchungen, § 56). Erinnern ist standteil praktisch-werdender Vernunft geworden.
nicht die sekundäre Kopie einer primären Erfah- Benjamin hat inmitten dieser Katastrophen vom
rung oder einer vorgängigen Codierung. Das »Eingedenken« als Kategorie des Messianischen
»Bild vom inneren Vorgang« gibt deshalb (b) gesprochen (vgl. Über den Begriff der Geschichte,
nicht »die richtige Idee von der Verwendung des Anhang B). Der Verlust dieses Sinns der Erinne-
Wortes erinnern« (PU, § 305) – auch nicht das rung wäre – angesichts oder vielleicht gerade we-
Bild von ihm als einer Art »Rohr in die Vergan- gen der enorm gesteigerten Möglichkeiten, die
genheit« (vgl. PU, § 604). Die ›richtige Verwen- Speicherleistungen des Gedächtnisses technolo-
dung‹ erschließt sich vielmehr (c) nur der Ana- gisch zu perfektionieren – Index des Rückfalls in
lyse der Äußerungsformen und Symbolisierungs- selbstverschuldete Unmündigkeit. Gerade deshalb
leistungen, in denen sich Erinnern ›zeigt‹ – es gilt es, die erkenntnis- wie bewusstseinstheoreti-
zeigt sich in Zeichen: in objektiv-dinglicher, ma- sche ›Grammatik‹ des Verhältnisses von Gedächt-
teriell verkörperter wie medial vermittelter Form. nis und Erinnerung mit ihrer gegenwartsdiagnos-
Ein solcher Begriff der Erinnerung lässt sie zum tischen, geschichtsphilosophischen, ästhetischen
Schlüsselbegriff für die Netzwerke wie für die und nicht zuletzt auch ethischen Bedeutung zu
Selbstreflexion kultureller Erfahrung werden. verbinden. Hier gewinnen Antwortoptionen, die
Auf einen Punkt, auf den es beim Begreifen es seit Platon und Augustinus gibt, unverzichtbare
der Erinnerung als Schlüssel zur Selbstreflexion Sachaktualität.
Johann Kreuzer
2. Philosophie 273

Philosophie des Geistes ist die Intelligenz verortet. Jedes Input-System


basiert auf unabhängig voneinander ablaufenden
Die Extended Mind-Hypothese: Seit den späten Prozessen im Gehirn, die sich, je nach Zweck, un-
1990er Jahren wuchs das Interesse der Philoso- tereinander stark unterscheiden. Diese Systeme
phie des Geistes an Diskussionen zur Gedächt- sind in bestimmten Gehirnarealen verortet. Die
nisthematik beständig, eine Debatte, die in ande- Input-Systeme sind automatisiert: So kann nach
ren Disziplinen, zum Beispiel mit dem Problem dieser Theorie etwa das Hörmodul nicht abge-
der falschen Erinnerung in der Kognitionspsy- stellt werden, selbst wenn die Umweltgeräusche –
chologie, bereits in den späten 1970er und frühen etwa Gespräche Dritter – als störend empfunden
1980er Jahren eingesetzt hatte. In weniger als werden. Dieser vermeintliche Mangel hat jedoch
zwei Jahrzehnten entstand so eine fachübergrei- den Vorteil, Zeit zu sparen, die sonst für den
fende Debatte. Die gegenwärtigen Diskussionen Entscheidungsprozess in Anspruch genommen
zur Gedächtnisthematik in der Philosophie des würde. Fodor ist der Ansicht, dass die Input-Sys-
Geistes, oder in dem Bereich, den einige Autoren teme ›verkapselt‹ sind, was bedeutet, dass sie kei-
bevorzugt als ›Philosophische Psychologie‹ (Car- nen direkten Zugang zu den von anderen Syste-
ruthers 1996) bezeichnen, basiert zum Großteil men empfangenen Informationen haben. Kurz
auf einer relativ neuen Hypothese, die Andy gesagt, was man zu einer bestimmten Zeit mit der
Clarks und David Chalmers 1998 mit der Veröf- einen sensorischen Modalität erfährt, wird nicht
fentlichung ihres Aufsatzes »The Extended Mind« auch gleichzeitig von den anderen erfahren.
auslösten. Die Hypothese des erweiterten Geistes Folgen für das Verständnis von Erinnerung: Er-
oder der ›verteilten Kognition‹ behauptet, dass, innerungsprozesse, die als situierte und zielori-
während einige mentale Zustände und Erfahrun- entierte Handlungen verstanden werden, entwi-
gen intern ablaufen, es daneben viele andere gibt, ckeln sich im Rahmen realer Interaktionen mit
bei denen externe Faktoren in einem hohen Grad der unmittelbaren Umwelt, kulturellen Metho-
die Bedeutungszuschreibungsprozesse beeinflus- den und anderen Personen. Sie werden üblicher-
sen. Das heißt, Umwelteinflüsse üben einen we- weise von emotionalen Zuständen, von der
sentlichen Einfluss auf den Verlauf kognitiver Laune, der Motivation, der durch die Brille be-
Prozesse aus. Kognition beruht auf einer Vielzahl stimmter kultureller Modelle wahrgenommen
von Verbindungen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt usw., geprägt. Die Frage ist nun, wie In-
sowohl der physischen als auch der sozialen Welt. ternalisten die Komplexität der sich ständig ver-
Deshalb können Dinge unter bestimmten Um- ändernden situierten Rekonstruktionen von Er-
ständen ein kognitives Eigenleben besitzen. innerungen in den verschiedenen Kontexten der
Die Hypothese des erweiterten Geistes oder realen Welt erklären können? Zweifelsohne kön-
der verteilten Kognition entfachte Diskussionen nen sie es nicht, und zwar aus dem einfachen
zwischen sogenannten Externalisten und Inter- Grund, dass interne (Geist/Gehirn) und externe
nalisten. Jerry Fodor (1983, 2009), nach eigenen (Körper und Welt) Ressourcen erweiterte Ge-
Aussagen ein Internalist, vertritt ein architektoni- dächtnissysteme schaffen, die viel mehr beinhal-
sches und modulares Verständnis des menschli- ten, als den aktiven Einsatz eines zentralen Pro-
chen Geistes. Er behauptet, dass der Geist aus zessors, der Informationen aus verschiedenen
zwei Teilen besteht: Die ›Input-Systeme‹ bestehen Wahrnehmungssystemen (Sehvermögen, Geruch
aus einer Reihe einzelner Module mit dazugehö- und Sprachverständnis als autonome Module) im
riger Architektur, die das Seh-, Hör- und hapti- Gedächtnis speichert. Aus der Sicht von Interna-
sche Vermögen usw. bestimmen. Sprache wird listen wie Fodor bedürften die Ressourcen des
ebenfalls als Input-System betrachtet. Das ›kogni- externen Gedächtnisses (Körper und Welt) einer
tive‹ oder ›zentrale System‹ verfügt jedoch über direkten Verbindung mit den neuralen Systemen,
keinerlei Architektur – hier finden Gedanken, um als Teil des individuellen Gedächtnisses ver-
Imagination und das Problemlösen statt und hier standen werden zu können (Clark 2009).
274 IV. Forschungsgebiete

Im Folgenden werden zwei Beispiele vorge- Christopher Nolans Film Memento (2000) er-
stellt – eines aus dem Alltagsleben und eines aus zählt die Geschichte von Leonard, einem Ermitt-
einem populären Film –, mit deren Hilfe an- ler für Versicherungsbetrug, der unter einer ante-
schaulicher erklärt werden soll, wie die Hypo- rograden Amnesie leidet. Seit er sich bei dem
these des erweiterten Geistes/der verteilten Ko- Versuch, die Ermordung seiner Frau zu vereiteln,
gnition zum besseren Verständnis von Erinne- eine Kopfverletzung zuzog, kann er keine neuen
rungsprozessen nicht nur innerhalb kleiner Erinnerungen mehr speichern. Leonard versucht
Gruppen, sondern auch auf der individuellen verzweifelt, den Mord an seiner Frau zu rächen,
Ebene beiträgt. Im Einzelnen handelt es sich bei aber aufgrund seiner Gedächtnisschädigung ge-
den Beispielen um Unterhaltungen im familiären staltet sich diese Aufgabe recht schwierig. Er ent-
Kreis über in der Vergangenheit gemeinsam ge- wickelt jedoch ein kognitives System, indem er
machte Erfahrungen und um eine kurze Analyse sich Notizen auf seinen Körper tätowiert und mit
von Christopher Nolans Film Memento (2000). einer Polaroidkamera Dinge fotografiert. Dieses
Wahrgenommen aus einer dialogischen und System spielt in dem Film eine zentrale Rolle. Es
interaktiven Perspektive sind die Gespräche zwi- funktioniert wie eine Art verkörperlichtes GPS-
schen Familienmitgliedern schlechthin ein All- System, das Leonards Verhalten so lenkt, dass er
tagsbeispiel für die auf verschiedene Individuen das von ihm gesetzte Ziel, die Rache für die Er-
verteilte Kognition. Die Prozesse der Schaffung mordung seiner Frau, erreichen kann. Leonards
kommunikativer Erinnerungen, die für gewöhn- Versuch, mit Hilfe von Tätowierungen und Fotos
lich im Rahmen von Praktiken des gemeinschaft- ein erweitertes kognitives System aufzubauen,
lichen Erinnerns innerhalb von Familien entste- um die Beeinträchtigung seines episodischen Ge-
hen, können als einleuchtende Beispiele der ver- dächtnisses auszugleichen, ist ein augenfälliges
teilten Kognition im Blick auf vergangene Beispiel für die Komplexität des Gedächtnisses.
Erfahrungen bezeichnet werden. In vielen Fällen Leonards externes Gedächtnissystem zeigt viel
umfassen diese Prozesse nicht nur die Interaktion besser als die dem architektonischen Ansatz ent-
zwischen Familienmitgliedern, sondern auch die sprechende Darstellung, wie und warum das Ge-
Interaktion zwischen ihnen und kulturellen In- dächtnis viel mehr als nur integrative Funktionen
strumenten, Artefakten und Symbolsystemen, erfüllt und stattdessen auch komplex verwoben
die für Eltern und Kinder emotional aufgeladen ist. Leonards Fall unterminiert die rationalisti-
sind (z. B. Fotos, alte Notizbücher, Videos usw.). sche Unterscheidung zwischen Geist und Körper,
Insgesamt liefern diese Arten bedeutungsvoller da der Geist sich aus emotionalen, kognitiven
Interaktionen die Grundlage für das Entstehen und körperlichen Erfahrungen konstituiert. So
situativer soziokognitiver Systeme, die auf Fami- hat die vermeintliche Abtrennung von Geist und
lienmitglieder und kulturelle Ressourcen verteilt Körper, wie sie als Folge intensiven Betens oder
sind. Diese Systeme funktionieren, indem sie au- Meditierens beschrieben wird, ein auf Hirnebene
tobiographisches Wissen verbinden, das auf die zu beobachtendes, also körperliches Korrelat.
Familienmitglieder verteilt ist, insgesamt aber ei- Weiter sind solche Zustände auch über extreme
nen Teil gemeinsamer vergangener Erfahrungen und gleichförmige Aktivität zu erreichen (New-
darstellt. Indem eine Verknüpfung zwischen ver- berg u. a. 2003).
teilten episodischen Erinnerungen (z. B. die Dar- Abschließend soll hervorgehoben werden, dass
stellung der Geburt des ersten Kindes aus der die autobiographischen Erinnerungen daran,
Sicht der Gefühlswelt der Mutter im Vergleich Memento gesehen zu haben, wahrscheinlich der
zum Bericht desselben autobiographischen Er- Dunkelheit des vergesslichen Gehirns des Autors
eignisses durch den Vater) hergestellt wird, ver- überlassen worden wären, hätte dieser nicht die
mittelt das soziokognitive System den Familien- Möglichkeit gehabt, drüber zu schreiben. Anders
mitgliedern die Fähigkeit, mit dem verteilten au- gesagt ist Erinnern situiert, zielorientiert und, wie
tobiographischen Wissen umzugehen. zu erwarten war und es der Einflussnahme der
2. Philosophie 275

soeben erwähnten Merkmale entspricht, ge- Fodor, Jerry: The Modularity of Mind: An Essay on Fa-
wöhnlich ein kognitiver Prozess, der durch das culty Psychology. Cambridge, Mass. 1983.
Zusammenspiel unserer Gehirne, Körper und –: Where is the Mind? London Review of Books 31, 3
(2009), 13–15.
der direkten Umwelt in Gang gebracht wird. Das Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Memo-
ist der Grund, warum das Gedächtnis und Erin- ria – Vergessen und Erinnern (= Poetik und Herme-
nern als kognitive Aktivität verstanden werden neutik XV). München 1993.
müssen, die nicht nur auf Individuen und kultu- Kreuzer, Johann: Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes
relle Instrumente verteilt ist, sondern die sich bei Augustin. München 1995.
auch zwischen Individuen und einer Vielzahl von –: Zeit, Sprache, Erinnerung (Dichtung als Zeitlogik).
In: Ders. (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk –
Artefakten, mit denen wir im alltäglichen Leben
Wirkung. Stuttgart/Weimar 2002, 147–161.
ständig umgehen, abspielt. –: Zeichen machende Phantasie. Über ein Stichwort
Lucas M. Bietti/Übers. Jessica Rodemann Hegels und eine ursprüngliche Einsicht Hölderlins.
In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2008), 253–
Literatur 278.
Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hg.): Seelenma- Metz, Johann Baptist: Erinnerung. In: Handbuch philo-
schinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leis- sophischer Grundbegriffe. Bd. 2. München 1973, 386–
tungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittel- 396.
alter bis zum Beginn der Moderne. Wien/Köln/Wei- Newberg, Andrew/D’Aquili, Eugene/Rause, Vince: Der
mar 2000. gedachte Gott: Wie Glaube im Gehirn entsteht. Mün-
Bormann, Carl von: Erinnerung. In: Historisches Wör- chen 2003.
terbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. a. Oeing-Hanhoff, Ludger: Zur Wirkungsgeschichte der
Bd. 2. Basel/Darmstadt 1972, 636–643. platonischen Anamnesislehre. In: Collegium Philoso-
Carruthers, Peter: Language, Thought and Conscious- phicum. Festschrift für Joachim Ritter. Basel/Stuttgart
ness: An Essay on Philosophical Psychology. Cam- 1965, 240–271.
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Clark, Andy: Commentary on Jerry Fodor’s Where is dem Frz. von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und
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mination. Hg. von Peter Engelmann, übers. von 1966 (dt.: Gedächtnis und Erinnerung. Weinheim
Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, 71–190 (frz. 1972). 1990).
276 IV. Forschungsgebiete

3. Soziologie gemeinsame Erinnerung im Mittelpunkt steht,


sondern auch das wechselseitige Nicht-Verges-
sen-Können oder -Wollen. Die Chance, ›Gras
Gedächtnisvergessene Theoriebildung
über eine Sache wachsen zu lassen‹, scheint nur
in der Soziologie?
in engen Grenzen zu bestehen.
Mit den Worten »Ich bin nicht Stiller!« versucht Das soziologische Nachdenken über die Trias
der Protagonist Anatol Ludwig Stiller in Max von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen ist
Frischs gleichnamigem Roman nicht nur unter mit Blick auf den Diskussionsstand der Kultur-
dem Decknamen Mr. White, seine ›Identität‹ vor oder der Neurowissenschaften bislang unterent-
der schweizerischen Justiz zu verbergen. Der Satz wickelt. Zwar verfügt die Soziologie mit Maurice
versinnbildlicht auch den Versuch eines völligen Halbwachs über einen bedeutenden Theoretiker,
Neuanfangs, der die Ausgangsproblematik des dessen Pionierleistungen für eine Theorie des
Buches darlegt. Seiner selbst ebenso wie seiner kollektiven Gedächtnisses heute als ›klassisch‹
Umwelt überdrüssig taucht der Bildhauer Stiller aufgefasst werden können. Nach seinem Tod am
unter, um in der Ferne ein neues Leben zu begin- 16. März 1945 im KZ Buchenwald wurde jedoch
nen. Das Vorhaben scheitert jedoch und führt die soziologische Auseinandersetzung mit der
ihn letztlich zurück in die alte ›Heimat‹, wobei Gedächtnisthematik nur noch vereinzelt fortge-
auch hier der Wunsch, das alte Ich zu ersetzen – führt. Man kann auch vermuten, dass die Sozio-
wenngleich unerfüllt – erhalten bleibt. Frischs logien des auf Wiederaufbau und damit Zu-
Roman wirft ein Gedächtnisproblem auf, das kunftsorientierung konzentrierten Nachkriegs-
nicht auf das vergessen wollende Individuum be- europas die jüngste Vergangenheit zunächst nicht
grenzt ist. Das Problem des Gedächtnisses wird in den Blick nehmen konnten (oder wollten) und
auch in der Gesellschaft angesiedelt: Stiller hat es so ihren Teil zum Beschweigen der Vorgänge bei-
nämlich einerseits mit einer Gesellschaft zu tun, trugen. Aber auch in der Konstitutionsphase der
die sich gleichsam im Kopf des Einzelnen befin- Soziologie Ende des 19. Jahrhunderts findet sich
det und den Neuanfang in einem anderen sozia- ein möglicher weiterer Grund für diese weitge-
len Umfeld verhindert. So muss er erfahren, dass hend gedächtnisvergessene Theoriebildung: Die
viele Probleme auf ihn selbst in seinem biogra- Modernität soziologischer Theorien und Dia-
phischen Gewordensein zurückfallen und sich gnosen, wie sie etwa bei Max Weber und Karl
nicht einfach durch eine Veränderung der äuße- Marx zu finden sind, kommt gerade in ihrer Kon-
ren Umstände lösen lassen. Andererseits sieht er zentration auf gegenwärtige Wirklichkeiten und
sich nach seiner Rückkehr mit einer Gesellschaft mögliche Zukünfte zum Ausdruck. Erinnerung
konfrontiert, die geradezu gnadenlos an die alten und Gedächtnis werden – implizit wie explizit –
Bindungen anknüpft. mit überkommener Vergangenheit und Tradition
Wegen kleinerer Delikte gesucht, wird Stiller gleichgesetzt. Was auch immer die Gründe sein
an der Grenze festgenommen und aufgrund sei- mögen, so lassen sich im soziologischen Theorie-
ner beharrlichen Weigerung, sich als der Alte angebot kaum eigenständige und ausgewiesene
auszuweisen mit zahlreichen Gewährsleuten sei- Ansätze zu Phänomenen des sozialen Gedächt-
ner Vergangenheit konfrontiert. Die, die er ver- nisses, Erinnerns und Vergessens finden. Ge-
gessen haben wollte, haben ihn nicht vergessen. nauer betrachtet zeigt sich allerdings, dass zahl-
Stillers egozentrischer Wunsch nach Tabula rasa reichen soziologischen Theorien die Gedächtnis-
bleibt somit auf tragische Weise unerfüllt. Frischs problematik innewohnt.
Werk berührt Probleme des eigenen Gedächtnis- Ziel dieses Kapitels ist es dementsprechend,
ses, des Gedächtnisses der Anderen und der Be- zunächst auf bedeutsame Ausgangspunkte sozio-
ziehungsgedächtnisse, wodurch das ›Kammer- logischer Gedächtniskonzeptionen hinzuweisen.
spiel‹ Stiller auch eine Parabel auf Formen des so- Dann sollen mit den Theorien von Maurice
zialen Gedächtnisses wird, in dem nicht allein die Halbwachs, Alfred Schütz und Niklas Luhmann
3. Soziologie 277

exemplarisch drei soziologische Ansätze vorge- nern stellt damit einen Akt der Neuschöpfung
stellt werden, bei denen die Frage nach Gedächt- dar, der sich einem einfachen Reiz-Reaktions-
nis, Erinnern und Vergessen explizit als Bestand- Schema ohne Lerneffekt und Speichermöglich-
teil der Theorie selbst oder als elementarer Bau- keit verdankt. Doch bestehen von diesem materi-
stein in der Theorieentwicklung aufgeworfen ellen Substrat unabhängige »Ideenassoziationen«
wird. (ebd., 64), die das Wiedererinnern steuern und
anders möglich machen. Äußere Reize, die in das
Bewusstsein eindringen, sind nach Durkheim
Ausgangspunkte soziologischer
»einer Verarbeitung sui generis« (ebd., 47) unter-
Gedächtniskonzeptionen
worfen. Sie bewirkt, dass Ähnlichkeiten zwischen
Überlegungen zu Fragen des Gedächtnisses, die Vorstellungen festgestellt und diese entsprechend
für soziologische Theoriebildung Pate gestanden lokalisiert werden. Das Gedächtnis kann somit
haben könnten, finden sich bereits in der griechi- »kein rein physisches Faktum« (ebd., 60) sein, in
schen Antike. Drei neuzeitliche Denker waren je- dem Vorstellungen immer wieder verschwinden
doch mit Blick auf die Theorieentwicklung be- und neu hervorgebracht werden. Vielmehr muss
sonders einflussreich: der französische Soziologe es ein Gedächtnis geben, das eine Verknüpfung
Émile Durkheim sowie die Philosophen Henri von Vergangenheit und Gegenwart erlaubt. Ge-
Bergson und Edmund Husserl. rade weil das Gedächtnis für eine besondere
Wechselwirkung zwischen Vergangenem und
Gegenwärtigem sorgt, die »die vergangenen Vor-
Erinnerung und Ritual: Émile Durkheim
stellungen unter bestimmten Umständen hinrei-
Émile Durkheim (1858–1917), Mitbegründer der chend zu intensivieren vermag, um sie von neuem
akademischen Soziologie, greift den Begriff des bewußt zu machen« (ebd.), verweist es auf einen
Gedächtnisses in seinem Werk zunächst im Rah- eigenständigen Bereich der individuellen Vorstel-
men einer strategischen Argumentation auf. Sein lungen. Durkheim geht es an dieser Stelle jedoch
Ziel ist es, dem noch jungen Fach einen eigenen, nicht um ein Weiterdenken psychologischer
mit genuin soziologischen Mitteln zu erforschen- Ideen. Er möchte zeigen, dass die Soziologie vor
den Gegenstand zu sichern. In einer Zeit, in der einem ähnlichen Problem steht: Die »kollektiven
die Soziologie noch keineswegs zu den etablier- Vorstellungen, die von den Wirkungen und Ge-
ten wissenschaftlichen Disziplinen gehört, geht genwirkungen der elementaren Psychen hervor-
es ihm in seiner 1898 erschienenen Schrift In- gebracht werden, aus denen die Gesellschaft sich
dividuelle und kollektive Vorstellungen darum, aufbaut« ergeben sich nicht unmittelbar aus den
ihre »relative Unabhängigkeit« (Durkheim 1976, individuellen Vorstellungen, sondern gehen über
46) gegenüber der Psychologie herauszustellen. diese hinaus (ebd., 70 f.). Auch die Soziologie hat
Durkheim widersetzt sich der Auffassung, dass es also mit einer Wirklichkeit sui generis zu tun,
die Soziologie »nur ein Korrolarium der Indivi- die ihr eine theoretische und methodologische
dualpsychologie« darstelle (ebd.). Genauso, wie Eigenständigkeit verleiht. Der Gedächtnisbegriff
die Psychologie ihren Gegenstand – die individu- des frühen Durkheim dient dazu, die Soziologie
ellen Vorstellungen – nicht aus einem organi- insbesondere gegenüber der Psychologie als Wis-
schen Modell des Gedächtnisses ableiten kann, senschaft zu legitimieren. Ein Instrument für so-
könne auch die Soziologie nicht von individuel- ziologische Analysen stellt er zu diesem Zeit-
len Psychen auf die von ihr zu untersuchenden punkt noch nicht dar.
sozialen Vorstellungen schließen. Im organischen Durkheim schließt diese Lücke im Jahr 1912 in
Gedächtnismodell der Psychologie verschwinden seinem Werk Die elementaren Formen des religiö-
die individuellen Vorstellungen, sobald die ihnen sen Lebens, das sich mit den Funktionen des ge-
entsprechenden Nervenbahnen nicht mehr von meinschaftlichen Erinnerns im Rahmen religiö-
äußeren Reizen stimuliert werden. Jedes Erin- ser Rituale und Zeremonien in vormodernen Ge-
278 IV. Forschungsgebiete

sellschaften auseinandersetzt. Als Beispiel dient tiven Erinnerung wenige Jahre später aufgreifen
ihm dabei der Totemismus bei den australischen und im Rahmen moderner, pluralistisch organi-
Ureinwohnern. Der Begriff der Erinnerung steht sierter Gesellschaften ausarbeiten wird.
jetzt im Zusammenhang mit Solidarität und Kol-
lektivbewusstsein, den bestimmenden Themen
Dauer und Gedächtnis: Henri Bergson
des Durkheim’schen Werks. Im religiösen Ritual,
so lautet seine zentrale These, geht es nicht um Henri Bergson (1859–1941), französischer Philo-
die Beschwörung eines Gottes. Vielmehr erfüllt soph und Nobelpreisträger für Literatur, schafft
das Ritual die rein immanente Funktion der ge- in seinen zeittheoretischen Untersuchungen eine
meinsamen Erinnerung. Durch die Gedenkriten für die spätere Entwicklung soziologischer Ge-
der Aborigines, in denen die Vergangenheit als dächtnistheorien wesentliche Grundlage. Zwei
dramatisierte Darstellung vergegenwärtigt wird, Begriffe stehen dabei im Mittelpunkt seiner Be-
erneuert sich die Solidarität unter den Gruppen- trachtungen: das Problem der Dauer, das er in
mitgliedern. Der zu Krisenzeiten durchgeführte seinem erstmals 1888 erschienenen Werk Zeit
Ritus, der von Durkheim auch als »Erinnerungs- und Freiheit entfaltet und das Phänomen des Ge-
feier« beziehungsweise eine »Art impliziter Ge- dächtnisses, welches maßgeblich in der 1896 ver-
dächtnisfeier« (Durkheim 2007, 548) bezeichnet öffentlichten Abhandlung Materie und Gedächt-
wird, ruft jedem Gruppenmitglied die Geschichte nis untersucht wird.
der für die Gruppe wichtigen Vorfahren ins Ge- Unter Dauer (durée) wird dabei ein im Be-
dächtnis und bindet den Einzelnen (wieder) an wusstsein des Individuums fortlaufender Strom
die Werte und Normen des Kollektivs. Die Auto- aufeinander folgender Momente verstanden, die
rität des gegenwärtigen Ritus vermischt sich da- sich nicht nur qualitativ voneinander unterschei-
bei »mit der Autorität der Tradition, die im den, sondern auch in der erlebten Zeit entfalten
höchsten Grad eine soziale Angelegenheit ist. und ineinander verschachteln. Auf diese Weise
Man begeht ihn, um den moralischen Charakter findet eine ständige Aktualisierung dieser Mo-
der Kollektivität zu bewahren und nicht wegen mente im individuellen Bewusstsein statt. Was
physischer Wirkungen, die er bewirken könnte« genau damit gemeint ist, macht folgender Ver-
(ebd., 544). gleich klar: Wenn das Verstreichen von Zeit an
Die Verknüpfung von Gegenwart und Vergan- äußeren Gegenständen – etwa einer Uhr – be-
genheit wird als gemeinschaftliches Erinnern zu obachtet wird, handelt es sich bereits um die fik-
einem soziologischen Gegenstand. Es entsteht tive Konstruktion einer künstlich verräumlichten
eine soziologische Perspektive, die die integrative Zeitvorstellung. Die reine Dauer verweist demge-
Funktion kollektiver Erinnerung hervorhebt. genüber auf das Erleben im Hier und Jetzt, ohne
Dies gilt allerdings zunächst nur für die in Durk- dass dabei jedoch der Ablauf von Momenten ge-
heims Beispiel untersuchte vormoderne Gesell- messen und reflektiert würde. Und dennoch wird
schaft. Modernen säkularisierten und arbeitstei- das Hören des gleichmäßigen Tickens eines We-
ligen Gesellschaften attestiert er den Verlust einer ckers in der Dauer nicht als immer wieder neues
mechanisch entstehenden Solidarität, wie sie im Ticken erlebt, sondern als eine sich erlebnismä-
religiösen Ritual Ausdruck und Bestätigung fin- ßig aufbauende Gesamtsequenz: Man schläft
det. Zwar lassen sich auch hier implizite Hinweise nicht beim ersten »Tick« ein; die ermüdende
auf die Veränderung kollektiver Erinnerung im Wirkung ergibt sich erst im Verlauf des Tickens –
Übergang zur Moderne und die dort stattfin- allerdings ohne dass man über die gesamte Zahl
dende Verknüpfung von Erinnerung und Recht der Tick-Geräusche nachdenken würde. In dem
finden. Explizit ausbuchstabiert werden die Be- Augenblick, da an das fortlaufende Ticken an sich
griffe der Erinnerung und des Gedächtnisses dort gedacht wird, hat man das Erleben in der reinen
jedoch nicht mehr. Durkheims Schüler Maurice Dauer bereits verlassen. Ähnlich wie Émile Durk-
Halbwachs wird es sein, der die Figur der kollek- heim geht Bergson davon aus, dass die zur dama-
3. Soziologie 279

ligen Zeit vorherrschende materialistische Psy- die volle Summe aller Erinnerungen hervor, son-
chologie, die sich allein auf die Wirklichkeit orga- dern nur eine begrenzte Auswahl ähnlicher oder
nischer Vorgänge konzentrierte und sie mit der benachbarter Assoziationen, die nützlich für das
Wirklichkeit des Bewusstseins gleichsetzte, irrt Individuum sind. »Das Interesse eines lebenden
(vgl. Bergson 1982). Im steten Fortgang des ab- Wesens verlangt, dass es in einer gegenwärtigen
laufenden Bewusstseins gibt es kein Nebeneinan- Lage erfaßt, was einer früheren ähnlich ist, mit
der, sondern lediglich eine mitunter sehr schnell ihr in Verbindung bringt, was damals vorausging
zwischen zwei oder mehreren Gegenständen und besonders was nachfolgte, und so aus seiner
wechselnde Aufmerksamkeit. Das schnelle Ti- vergangenen Erfahrung Nutzen zieht. Von allen
cken des Weckers und das langsame der Wand- denkbaren Assoziationen sind also die der Ähn-
uhr sind nur voneinander abgegrenzte Symbole, lichkeit und der Kontiguität zunächst die einzi-
die das Bewusstsein über unterschiedliche Grup- gen, die eine vitale Nützlichkeit haben« (ebd.,
pen von Zuwendungserlebnissen konstruiert und 242). Was man im Allgemeinen unter Wahrneh-
mit jeder hinzutretenden Wahrnehmung fort- mung versteht, ist also nach Bergson eine Syn-
schreibt. these aus reiner Wahrnehmung (Körper) und rei-
Die Funktion des Gedächtnisses besteht nach ner Erinnerung (Geist). Wahrnehmung ist also
Bergson nun darin, vergangene Wahrnehmun- nicht etwas, das einem objektiven Gegenstand
gen, die der gegenwärtigen Wahrnehmung ähn- hinzugefügt wird, beispielsweise als subjektiver
lich sind, aufzurufen. Damit ermöglicht es dem Standpunkt, sondern etwas, das ein Objekt um all
Individuum, ein Vorher und ein Nachher zu den- das reduziert, was für das wahrnehmende Be-
ken und Entscheidungen zu treffen. Mit anderen wusstsein nicht interessant ist.
Worten hebt das Gedächtnis das Bewusstsein aus Mit seinen Überlegungen zu einer in der fort-
dem Fluss der Dinge und befreit es vom unerbitt- laufenden Dauer notwendig eindimensionalen
lichen Rhythmus der Notwendigkeit. Während reinen Wahrnehmung, die durch assoziative Er-
die Wahrnehmung in der reinen Dauer den Kör- innerungen ständig beeinflusst wird, schafft
per als Wahrnehmungsinstrument verändert, ist Bergson eine Grundlage für den Begriff des
die Erinnerung ausschließlich ein Rückgriff auf ›Schemas‹. Das Schema ist ein durch ein kogniti-
die Vorstellung abwesender oder gewesener und ves Symbol vertretenes Muster aus einander zu-
deshalb nur in Form von Symbolen abrufbarer geordneten vergangenen Erlebnissen, das in der
Gegenstände. Die Leistung des Gehirns besteht Wahrnehmungssituation abgerufen und gegebe-
dann nicht darin, Erinnerungsgegenstände auf- nenfalls aktualisiert wird. Der von Bergson nicht
zubewahren, sondern vielmehr darin, ihren aktu- vollzogene Schritt von der geistig-körperlichen
alisierenden, situationsadäquaten Abruf im Sinne Routine des Wiedererkennens zur sozial gepräg-
des Wiedererkennens zu gewährleisten. Dieses ten Vorstellung des Typischen wird später zu ei-
Wiedererkennen kann einerseits automatisch im nem zentralen Motiv sowohl der sozialphänome-
Zuge von körperlichen Reaktionsroutinen erfol- nologischen als auch konstruktivistischen Sozio-
gen – es kommt etwas angeflogen und man geht logie.
in Deckung. Andererseits kann das Wiedererken-
nen auch als eine Erinnerung erfolgen, die sich
Inneres Zeitbewusstsein, Erinnerung und
der aktuellen Wahrnehmung entgegen drängt
Vorerinnerung: Edmund Husserl
und sie teilweise überlagert. Bergson stellt dabei
fest, dass es »keine Wahrnehmung (gibt), die Der in Österreich geborene Philosoph Edmund
nicht mit Erinnerungen gesättigt ist. Dem, was Husserl (1859–1938) setzt sich im Rahmen der
unsere Sinne uns unmittelbar und gegenwärtig von ihm entwickelten Phänomenologie umfas-
geben, mengen wir tausend und abertausend Ele- send mit Fragen der Wahrnehmung und der Zeit
mente aus unserer vergangenen Erfahrung bei« auseinander. Ein zentrales Moment seiner Über-
(ebd., 18). Dabei holt das Gedächtnis stets nicht legungen ist, dass das Ich andere Personen und
280 IV. Forschungsgebiete

Dinge immanent, also im Rahmen seiner inneren Den drei ›Ideengebern‹ für soziologische Zu-
Erfahrung als raumzeitlich fixierte Realitäten gänge zu Fragen des Gedächtnisses, des Erin-
wahrnimmt. Da auch Prozesse oder Abfolgen nerns sowie des Vergessens ist gemeinsam, dass
von Dingen in der Zeit erlebbar sind, führt Hus- sie sich sowohl gegen eine psychologistische Ver-
serl das Konzept des inneren Zeitbewusstseins einnahmung des Themenbereichs als auch gegen
beziehungsweise – in Anlehnung an Bergson – eine psychologisierende Anwendung ihrer Ideen
der inneren Dauer ein. verwahren. Darüber hinaus fällt auf, dass jeder
In der inneren Dauer verläuft die zeitliche Ansatz zwar umfassende Analysen zu diesem Be-
Wahrnehmung zunächst linear – ein Erlebnis reich integriert; allerdings entfaltet keiner der
folgt auf das andere; Gleichzeitigkeit ist ausge- Autoren eine als solche ausgewiesene Gedächt-
schlossen. Die Gegenwart kann allerdings nicht nistheorie: Allen geht es um etwas anderes, für
als ein einzelner Punkt auf dem Zeitstrahl der dessen Konstruktion jedoch ein gut durchdach-
Dauer begriffen werden. Husserls Auffassung von tes Verständnis von Zeit und von Gedächtnis
der Gegenwartswahrnehmung des Bewusstseins grundlegend ist. Durkheim entwickelt eine Ge-
kann man sich wie einen Mondhof vorstellen, der dächtniskonzeption, um die Entstehung und Er-
um den jeweiligen Punkt des Gegenwärtigen liegt haltung eines kollektiven Bewusstseins theore-
und ins Dunkel der Vergangenheit wie der Zu- tisch zu untermauern. Mit seinem Hinweis auf
kunft strahlt. Mit Blick auf Zurückliegendes leitet das Ritual schafft er zugleich die Möglichkeit,
sich daraus die Unterscheidung von zwei Vergan- Gedächtnis überindividuell, kollektiv und damit
genheiten ab: Einerseits haben wir es mit einer als genuin soziologischen Tatbestand zu verste-
Vergangenheit innerhalb dieses Mondhofes zu hen. Bergson entfaltet den Begriff des Gedächt-
tun, die noch Bestandteil des originären Erlebnis- nisses im Rahmen seiner fortdauernden sowie
ses ist, andererseits gibt es auch eine Vergangen- unterschiedliche Aspekte ausleuchtenden Be-
heit außerhalb des Lichtscheins, die nur durch er- schäftigung mit der inneren Dauer, was ihn zu
innernde Reproduktion wieder (re-)konstruiert der Annahme führt, dass keine Wahrnehmung
werden kann. Die noch frische Erinnerung be- ohne Rückbezug auf das Gedächtnis denkbar ist.
zeichnet Husserl als Retention, die zurückgeholte Husserl schließlich formuliert in seiner Zeittheo-
Vergangenheit als Wiedererinnerung. Alles, was rie den Standpunkt eines doppelten Vergangen-
von der Gegenwart aus entlang des Zeitstrahls in heits- und eines einfachen Zukunftsbewusstseins.
die Zukunft gerichtet ist, nennt er Protention. Nicht nur wird die Wahrnehmung des Gegen-
Hierbei handelt es sich um vorblickende Erwar- wärtigen an Wiedererinnertes ebenso wie an Ver-
tungen oder Vorerinnerungen, deren Erfüllung gangenes, das im Bewusstsein noch nachwirkt –
das Bewusstsein harrt (vgl. Husserl 1913). man könnte sagen: noch ›warm‹ ist – angeschlos-
Husserl entwickelt in seinen Untersuchungen sen; auch die zukünftigen Erwartungen können
keine eigenständige Theorie des Gedächtnisses – sich, als Vermutungen oder Annahmen über das
ihm geht es um die Frage der Wahrnehmung in was kommen wird, nur auf der Grundlage des
der Zeit. Insofern sollte man bei ihm eher von ei- Zurückliegenden ausbilden.
ner in seine Überlegungen zum Zeitbewusstsein
eingebetteten Theorie des Erinnerns und erinne-
Das gesellschaftlich bedingte Gedächtnis:
rungsbasierten Erwartens (Vorerinnerns) spre-
Soziologische Perspektiven
chen. Das Gedächtnis wird damit in jedem Jetzt
aufs Neue aktualisiert. Eine Wahrnehmung Das Nachdenken über eine soziologische Inter-
schließt sich an die andere an und verändert da- pretation der mit sozialen Beziehungen verbun-
bei das Erinnerungsbild – gleichgültig, ob die neu denen Probleme des Gedächtnisses, des Erin-
hinzugetretenen Erlebnisse auf aktueller Sinnes- nerns sowie des Vergessens entzündete sich maß-
wahrnehmung oder bereits auf wieder aktuali- geblich an den drei vorangehend vorgestellten
sierten Erinnerungen beruhen. Wegbereitern. Im Weiteren werden drei Theore-
3. Soziologie 281

tiker in den Blick genommen, in deren Werken In dieser Argumentationsfigur wird insbeson-
Bezüge auf solche Fragen deutlich zu erkennen dere der Einfluss Durkheims spürbar, der das re-
sind und die daher als Gedächtnistheoretiker der ligiös-ritualisierte Erinnern bereits als ein auf ge-
Soziologie Geltung beanspruchen können. Diese genwärtige Krisen und Problemlagen gerichtetes
Auswahl bedeutet nicht, dass das Gedächtnis- und reagierendes Geschehen interpretiert hat.
thema nicht auch in anderen soziologischen An- Stärker jedoch als Durkheim betont Halbwachs
sätzen zu finden ist – kaum eine soziologische den schöpferischen Aspekt des Erinnerns: Mit
Theorie kommt ohne zumindest implizite An- Erinnern ist immer eine (Re-)Konstruktion von
nahmen über das Gedächtnisphänomen aus. Al- Vergangenheit im Sinne einer Neuschöpfung ver-
lerdings stechen die Arbeiten von Maurice Halb- bunden, die freilich nicht beliebig ist. Denn Halb-
wachs, Alfred Schütz und Niklas Luhmann durch wachs führt die Frage nach dem soziologischen
eine gewisse Prominenz des Themas heraus. Gehalt von Erinnerungen auf die gesellschaftli-
Nur Halbwachs betrachtet dabei das kollektive chen Rahmen des Gedächtnisses zurück, auf die
Gedächtnis als seinen zentralen Forschungs- kollektiv geteilten Kategorien und Konzepte, die
gegenstand. Sowohl Schütz als auch Luhmann in sozialen Beziehungen und deren Wissensord-
bearbeiten gedächtnis-, erinnerungs- und verges- nungen verankert sind, und mit deren Hilfe Ver-
sensbezogene Fragestellungen mit Blick auf ihr gangenheit in der Gegenwart angeeignet wird.
theoretisches Gesamtprojekt einer sozialphäno- Individuelle Erinnerungen sind damit immer
menologisch-handlungsorientierten Sozialtheo- schon in soziale Verhältnisse eingebettet, die die
rie beziehungsweise einer radikalkonstruktivisti- Art und Weise der Vergangenheitsvergegenwär-
schen Theorie sozialer Systeme. tigung bestimmen. Dies kann das von Halbwachs
untersuchte Kollektivgedächtnis der Familie sein,
aber auch Freundeskreise, Städte, Regionen, Na-
Die gesellschaftlichen Rahmen des
tionen und religiöse Gemeinschaften lassen sich
Gedächtnisses: Maurice Halbwachs
als solche Rahmen verstehen, die einen Einfluss
Für Maurice Halbwachs (1877–1945), französi- auf das Erinnern Einzelner haben.
scher Philosoph und Soziologe – er war sowohl Anschaulich illustriert wird dies in dem post-
Schüler Bergsons als auch Durkheims –, stellt hum 1950 erschienenen Werk Das kollektive Ge-
sich die Frage nach dem Zusammenhang von dächtnis am Beispiel eines Spaziergangs durch
Vergangenheit und Gegenwart ausschließlich als London. Halbwachs erzählt hier den Weg eines
eine Frage der Gegenwart. Die Vergangenheit, so Neuankömmlings, der die Stadt ohne Begleitung
Halbwachs in seinem 1925 erschienenen Werk erkunden will. Doch auch wenn der Spaziergang
Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, alleine erfolgt, behält der Spaziergänger nicht nur
zeige sich in der Gegenwart nicht wie die »intak- individuelle, gleichsam ungeteilte und unteilbare
ten Wirbel fossiler Tiere« (Halbwachs 1985, 132), Erinnerungen zurück. Auf seinem Weg durch die
die die eindeutige Rekonstruktion des Vergange- Stadt ermöglichen ihm etwa ein Stadtplan, in der
nen erlauben, sondern erscheine in der Form von Kindheit gelesene Romane von Charles Dickens,
»vagen Spuren« (ebd.), die im Licht der Gegen- ein vorher betrachtetes Gemälde einer Londoner
wart interpretiert und dieser angepasst würden. Brücke oder das Geschichtsbuch ein nach innen
Erinnerungen stellen somit je eigene Versionen verlagertes, persönliches Gespräch, das unter Ab-
von Vergangenheit dar, die die Vergangenheit wesenheit des Gegenübers beziehungsweise der
nicht aufbewahren oder speichern, sondern per- Erinnerungsgemeinschaft stattfindet. Durch das
spektivisch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Wirken von Medien hat das Individuum die Be-
Problem- und Interessenlagen verarbeiten, for- trachtungsweisen unterschiedlicher Gruppen,
men und repräsentieren. Erinnern könnte man der Autoren, Maler, Historiker, Architekten und
also gleichsetzen mit der sozial bedingten Kon- Städteplaner, die sich mit London beschäftigt ha-
struktion von Vergangenheit. ben, gewissermaßen im Kopf – und damit auch
282 IV. Forschungsgebiete

die zu diesen Gruppen gehörenden und in die- zialen Tatsache auf, doch geht er, der stets von
sem Sinne kollektiven Erinnerungen. Auch wenn verschiedenen kollektiven Gedächtnissen inner-
das Individuum alleine ist, ermöglichen ihm die halb einer gegebenen Gesellschaft spricht, we-
unterschiedlichen Medien, sich »von neuem in sentlich feinsinniger in der Bestimmung dessen
die Gruppe ein[zufügen]« (Halbwachs 1991, 3), vor, was das Soziale ausmacht.
sich im sozialen Raum zu verorten und dort zu Im Gegensatz zu Bergson sieht Halbwachs kei-
erinnern. nen Wesensunterschied zwischen dem Rahmen
Vom Individuum aus gesehen ist das Verhält- und den in ihm ablaufenden Ereignissen. Auch
nis von individuellem und kollektivem Gedächt- stimmt er der Unterscheidung zwischen dem
nis demnach eine Frage des Standpunkts: »Wir spontanen Gedächtnis der Wahrnehmung und
würden sagen, jedes individuelle Gedächtnis ist dem auf Wiederholung basierenden Gedächtnis-
ein ›Ausblickspunkt‹ auf das kollektive Gedächt- ses der Gewohnheiten nicht zu. Die Gedächtnis-
nis; dieser Ausblickspunkt wechselt je nach der konzeption, die Halbwachs im Sinn hat, sieht den
Stelle, die wir darin einnehmen, und diese Stelle Unterschied zwischen einem Gedächtnisrahmen
selbst wechselt den Beziehungen zufolge, die ich und den davon abhängigen Erinnerungen als Ab-
mit anderen Milieus unterhalte« (ebd., 31). Das stufung innerhalb eines Kontinuums. Halbwachs
Individuum ist Mitglied verschiedener Gruppen stellt fest, »daß zwischen dem Rahmen und den
und damit immer auch von einer Vielzahl sozia- Ereignissen von Natur eine Identität (besteht):
ler Gedächtnisrahmen abhängig. Löst es sich von Die Ereignisse sind Erinnerungen, aber der Rah-
der Gruppe und ihren Rahmen, so setzt das Ver- men ist gleichfalls aus Erinnerungen gebildet«
gessen ein. Das Phänomen der kollektiven Erin- (ebd., 144). Die gesellschaftlichen Rahmen, die
nerung wird auf diese Weise nicht nur multiper- unser Erinnern organisieren, sind also selbst Er-
spektivisch gedacht, sondern lässt sich auch als gebnis einer Konstruktion: Sie werden durch die
Ergebnis von Aushandlungsprozessen verstehen: Verdichtung und Verallgemeinerung individuel-
Unterschiedliche Gruppen können verschiedene ler Erinnerungen gebildet und geben als stabili-
Erinnerungen an ein und dasselbe vergangene sierte Erinnerung den sozialen Kontext vor, in-
Ereignis haben, was zu Definitionskämpfen füh- nerhalb dessen sich spontane Ereignisse des indi-
ren kann. viduellen Erinnerns abspielen. Würde man
Das, was in vielen aktuellen Studien – etwa zur beispielsweise alle Erinnerungen, die einen beim
gesellschaftlichen Verarbeitung von Holocaust Lesen eines Buches überkommen, aneinanderrei-
und Nationalsozialismus – als Erinnerungspolitik hen, dann ließen sich dadurch nicht nur die Um-
bezeichnet wird, greift mehr oder weniger expli- stände des Lesens rekonstruieren, sondern dann
zit auf die Halbwachssche Argumentationsstruk- würde auch der gesellschaftliche Druck, der von
tur zurück. Mit der Rede von einem kollektiven den Umständen beziehungsweise dem wirk-
Gedächtnis ist jedoch gerade nicht gemeint, dass mächtigen Gedächtnisrahmen ausgeht, erkenn-
alle Individuen, die für Halbwachs die eigentli- bar werden. Eine Auflösung des Rahmens führt
chen Träger kollektiver Erinnerungen sind, glei- dementsprechend zu einem Verschwinden von
che Erinnerungen haben. Vielmehr wird der in- Erinnerungen, also zum Vergessen.
dividuelle Akt des Erinnerns selbst von Rahmen- Dabei darf jedoch nicht übersehen werden,
bedingungen bestimmt, die über das Individuelle dass zwischen Erinnerungen und Rahmen Wech-
hinausgehen und im Sinne einer Realität sui ge- selwirkungen auch in anderer Richtung bestehen:
neris einen Zwang auf das Individuum ausüben. Ebenso, wie sich die spontanen Erinnerungen
Das Soziale wird in dieser Lesart zur Bedingung durch eine Veränderung der Rahmen wandeln,
der Möglichkeit von Erinnerungen, die erst »un- können sich aufgrund der Rekursivität des Erin-
ter dem Druck der Gesellschaft« (Halbwachs nerns auch die stabilen Rahmen durch spontane
1985, 159) zustande kommen. Hier greift Halb- Erinnerungen verändern. Halbwachs nimmt so-
wachs die von Durkheim entwickelte Idee der so- mit keine grundlegende Trennung zwischen den
3. Soziologie 283

gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses werden. Diese Erfahrungen erschließen sich al-
und dem individuellen Erinnern vor, wenn er lerdings nur über Erinnerung beziehungsweise
auch hier von graduellen Unterschieden ausgeht, das Gedächtnis. Einen solchen Prozess der Sinn-
die seiner Gedächtniskonzeption Stringenz und setzung – als Sinn bezeichnet Schütz das Resultat
hohe Anschlussfähigkeit für die Analyse gesell- der Auslegung vergangener Erlebnisse – be-
schaftlicher Wandlungsprozesse verleihen. schreibt er folgendermaßen: »Subjektiv sinnvoll
sind also nur Erlebnisse, die über ihre Aktualität
hinaus erinnert, auf ihre Konstitution befragt und
Gesellschaftlicher Wissensvorrat und
auf ihre Position in einem zuhandenen Bezugs-
Relevanz: Alfred Schütz
schema ausgelegt werden. Demnach wird mir
Das Werk des österreichischen Soziologen Alfred mein eigenes Verhalten erst in der Auslegung
Schütz (1899–1959) ist von dem Willen geprägt, sinnvoll« (Schütz/Luckmann 1979, 38). Wenn ein
den Sozialwissenschaften eine philosophische Eingriff in die Lebenswelt geplant wird, muss auf
Grundlage zu geben. Dazu bedarf es nach Schütz den Sinn aus vergangenen Handlungen zurück-
einer genauen Untersuchung der Konstitution gegriffen und das zukünftige Tun im Husserlschen
der sozialen Wirklichkeit, die weder allein durch Verständnis ›vorerinnert‹ werden. Allerdings
das vernunftbegabte Handeln Einzelner noch wird bei weitem nicht jedes Handeln auf diese
ausschließlich durch festgelegte soziale Struktu- Weise entworfen. Der subjektive Wissensvorrat
ren geprägt ist. Schütz geht davon aus, dass die verfügt auch über eine sehr große Menge an im
Lebenswelt, die die Menschen im Alltag vorfin- Bewusstsein abgelagerten Wissensbeständen, auf
den und als gegeben hinnehmen, nicht nur ihr die das sich erinnernde Individuum gar nicht
Tun bestimmt, sondern auch durch ihr Tun und mehr ohne weiteres zugreifen kann, weil die all-
Unterlassen verändert wird. tägliche Praxis durch und durch routinisiert ist.
Die für die Wissenssoziologie charakteristi- So ist das Gehen für ein Kleinkind eine große He-
sche Untersuchung des im Alltag vermeintlich rausforderung – ein erwachsener Mensch voll-
Gegebenen muss auch Antworten auf die Frage zieht diesen anspruchsvollen Balanceakt völlig
nach der Entstehung dieser Lebenswelt geben automatisch. Auch im Hinblick auf die Gedächt-
können. Schütz entlehnt die hierfür zentralen niskonzeption Bergsons kann hier von verkör-
Grundelemente bei Bergson und Husserl. So perlichtem Wissen gesprochen werden.
kommt den Bergsonschen Begriffen der Dauer Die Auslegung von Situationen in der Lebens-
und des Gedächtnisses insbesondere in Schütz’ welt greift auf den subjektiven Wissensvorrat zu-
frühen Arbeiten, die Mitte der 1920er Jahre ent- rück. Für Schütz stellt sich dabei die Frage, aus
standen sind (vgl. Schütz 1981), den Husserlschen welchem Grund die Aufmerksamkeit des Be-
Konzepten des inneren Bewusstseinsstroms so- wusstseins in bestimmte Bahnen gelenkt wird.
wie der Retention und der Protention im weite- Hierzu führt er den Begriff der ›Relevanzstruk-
ren Verlauf seines Schaffens ein grundlegender tur‹ ein (vgl. Schütz 1971; Schütz/Luckmann
Stellenwert zu (vgl. Schütz 1974). 1979). Wenn ein Mensch Wissen erwirbt, fügt
Die Lebenswelt ist der Bereich der Wirklich- sein Bewusstsein alle Erfahrungen nach Relevanz
keit, in den die Individuen eingreifen können. und Typik in Sinnstrukturen ein, die dann wiede-
Die Voraussetzung eines solchen gestaltenden rum als Vorgang der inneren Dauer die Grund-
Handelns ist, dass man die Lebenswelt interpre- lage der Auslegung von Situationen und Erfah-
tieren muss. Bei der Auslegung jeder einzelnen rungen sind. In der Regel leben die Menschen in
Situation greift man auf etwas zurück, das Schütz ihren Relevanzen, indem sie sich von ihnen len-
als ›subjektiven Wissensvorrat‹ bezeichnet. Er ken lassen. Relevanzen sind ein Bestandteil des
meint damit die Summe aller bisherigen Erfah- subjektiven Wissensvorrats und gründen daher
rungen, die ein Mensch gemacht hat und die so- in den vielfach sozial geprägten Erfahrungen des
mit zum Bezugsschema seiner Weltauslegung Einzelnen. Das von Schütz entworfene System
284 IV. Forschungsgebiete

der Relevanzstrukturen ist mit seinen mannigfa- mich gleichermaßen verständlich oder eben ›so-
chen wechselseitigen Einflussverhältnissen hoch zial‹ zu begreifen. Durch die Typisierung subjek-
differenziert. Festzuhalten ist jedoch, dass es tiver Erfahrungen, denen wechselseitig eine prin-
keine kausale Erklärung dafür gibt, welche der zipielle Ähnlichkeit und Gültigkeit zugemessen
unterschiedlichen Relevanzen im Einzelfall bei wird, kann ein gemeinsames Symbolsystem –
der Definition einer Situation bemüht werden. zum Beispiel die Sprache – entstehen. Dieses
Hier kann nur im Rahmen von mitunter sozio- symbolische und überindividuelle Wissen er-
kulturell spezifischen Wahrscheinlichkeiten dar- gänzt den subjektiven Wissensvorrat und wird in
über gemutmaßt werden, auf welchen bewusst- den mannigfaltigen alltäglichen Interaktionen
seinsmäßigen Grundlagen der Eingriff in die all- der Menschen fortlaufend reproduziert und ver-
tägliche Lebenswelt beruht. ändert. Zugleich bestimmt es die individuellen
Der soziologische Beitrag von Schütz beginnt Relevanzstrukturen und damit die Auslegung der
dort, wo er die egologischen Überlegungen eines Situation und das Gestalten der Lebenswelt mit.
umfassend durch die Erfahrung des Sozialen ge- Auch wenn die Begriffe Gedächtnis, Erinne-
prägten subjektiven Wissensvorrats auf Fragen rung und Vergessen an manchen Stellen des
der Intersubjektivität und Sozialität mit dem Ziel Schützschen Werks zur Sprache kommen, kann
der Konzipierung eines gesellschaftlichen Wis- die Wissenssoziologie von Alfred Schütz nicht als
sensvorrats bezieht. Und auch für die Frage nach genuine Gedächtnistheorie bezeichnet werden.
Gedächtnis und Erinnerung erfolgt hier der Gleichwohl sind Überlegungen zur Frage des Be-
Schritt von einem gesellschaftlich geprägten In- haltens sozialer Sinnsetzungsprozesse ein zentra-
dividualgedächtnis, auf dessen Grundlage die Le- ler Bestandteil seiner Arbeiten, und es ist nahelie-
benswelt gestaltet wird, zur Annahme kulturspe- gend, in der Konzeption des gesellschaftlichen
zifisch geprägter Strukturen der Lebenswelt. Wissensvorrats Motive eines überindividuellen
Der gesellschaftliche Wissensvorrat gründet Gedächtnisses oder in den Relevanzstrukturen
auf den subjektiven Wissensvorräten der in einer die Vorstellung eines sozial geprägten Selektions-
Gesellschaft versammelten Individuen. Schütz prinzips der erinnernden Wahrnehmung aufzu-
weist immer wieder darauf hin, dass es keine zeigen.
strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesen beiden
Konzeptionen gibt (vgl. Schütz/Luckmann 1979).
Soziale Gedächtnisse: Niklas Luhmann
Subjektive Erfahrungselemente werden vielmehr
durch den intersubjektiven Vorgang der Objekti- Im Rahmen seiner Theorie sozialer Systeme ent-
vierung in den gesellschaftlichen Wissensvorrat wirft Niklas Luhmann (1927–1998) ein Gedächt-
aufgenommen. Infolge der grundlegenden An- niskonzept funktional differenzierter Gesell-
nahme, dass der oder die Andere im Prinzip über schaften, bei dem soziale Kommunikationssys-
ein ähnliches Bewusstsein verfügt, also ähnlich teme im Mittelpunkt stehen. Im Unterschied zu
intelligent ist und die Gegenstände in der Umwelt anderen soziologischen Theorieperspektiven
auf ähnliche Weise erfährt, geht das Individuum geht es hier nicht um handelnde Individuen oder
davon aus, dass die Standpunkte von Ich und Du Gruppen, sondern um die Strukturen ihrer Kom-
vertauscht werden können, ohne dass sich die Le- munikations- oder Austauschbeziehungen. Luh-
benswelt dadurch ändert. Wenn das Individuum manns Überlegungen orientieren sich einerseits
zudem davon ausgeht, dass die biographischen an der Philosophie Husserls; andererseits greift er
und sozialräumlichen Unterschiede zwischen auf neurowissenschaftliche Gedächtniskonzepte
ihm und seinem Gegenüber nicht so gravierend zurück, die in der Tradition des radikalen Kon-
und auch die Relevanzstrukturen ähnlich sind, struktivismus – und dabei insbesondere der Ar-
kann es dazu kommen, bestimmte Erfahrungen beiten Heinz von Foersters – stehen. Soziale Sys-
nicht nur als subjektiv, sondern darüber hinaus teme bestehen nicht aus festen Körpern, sondern
als notwendig geteilt und damit für dich und erzeugen und erhalten sich selbst aus Kommuni-
3. Soziologie 285

kation beziehungsweise kommunikativen Ereig- algedächtnisses, um das System nicht mit Infor-
nissen, die geschehen und wieder verschwinden. mationen zu überlasten und den ungehinderten
In fortdauernden Systemen – dies können Ge- Fortgang der systemspezifischen Kommunika-
spräche unter Anwesenden sein, aber auch Orga- tion zu gewährleisten (vgl. Luhmann 2002). Luh-
nisationen oder Gesellschaften – folgt Kommu- mann trennt in diesem Zusammenhang erinne-
nikation auf Kommunikation. Maßgeblich für die rungsrelevante von zu vergessenden Informatio-
Charakterisierung solcher Kommunikationsket- nen. Nur diejenigen Ereignisse werden für
ten als System ist, dass der so entstandene Zu- speicherungswürdig befunden, die sich vom vor-
sammenhang erstens nicht abbricht und zweitens liegenden systemrelevanten Wissen so weit un-
identifizierbar bleibt. Luhmann bezeichnet dies terscheiden, dass sie die systemeigenen Schemata
als ›Autopoiesis‹ (wörtlich übersetzt: Selbst-Her- zu ergänzen vermögen. Oder anders: Nur wenige
stellung). Gesellschaft wird dabei radikal als Ge- Gedächtnisinhalte werden nicht einer bereini-
genwartsgesellschaft gedacht: Ihre Dauer besteht genden Löschung durch Vergessen zugeführt, die
in der Abfolge von aneinander anschließenden aus der Sicht des Systems die Spreu vom Weizen
Kommunikationsereignissen, die, jedes für sich, trennt. Das von Luhmann als ›sozial‹ bezeichnete
nicht anders als in der Gegenwart angesiedelt sein Gedächtnis ist demnach maßgeblich mit system-
können. Um angesichts der Vielfalt gegenwärti- spezifischem Vergessen beschäftigt (vgl. Luh-
ger Kommunikationen Bekanntes zu erkennen mann 1998). Wie das Bewusstsein des Indivi-
und von Neuem zu unterscheiden – kurz: neue duums bilden sich auch in sozialen Systemen
Informationen zu erzeugen –, müssen soziale Schemata aus, mit deren Hilfe sie nicht etwas Ver-
Systeme über Vorrichtungen des Erinnerns und gangenes erinnern, sondern durch die sie in
Vergessens verfügen, die in der Lage sind, Ord- neuen Situationen Vertrautheit herstellen. Sche-
nung in eine zunächst aufgrund unendlicher mata mobilisieren das Systemgedächtnis, indem
Möglichkeiten völlig unübersichtliche Welt zu sie den Eindruck von Bekanntheit erzeugen. Sie
bringen. Nur wenn es gelingt, die Beliebigkeit der sind als Ereignis zu verstehen, mit dem sich das
Welt auf wesentliche Aspekte zu reduzieren, kön- System sein Gedächtnis zugänglich macht (vgl.
nen Kommunikationen als ähnlich erkannt und Luhmann 2002) und damit eine selektive Wie-
gegebenenfalls wiederholt werden. derherstellung des unwiederbringlich Vergange-
Diese Vorüberlegungen führen zu einer Theo- nen ermöglicht.
rie des Gedächtnisses, die Antworten auf die Dies lässt sich am Beispiel von Organisationen
Frage gibt, wie sich Systeme über die Zeit erhal- veranschaulichen, deren Abfolge von Kommuni-
ten und wie sie mit dem Ablaufen der Zeit umge- kationen (Autopoiesis) in aneinander anschlie-
hen (vgl. Luhmann 1996). Luhmann unterschei- ßenden Entscheidungen besteht. Das Gedächtnis
det dabei das Systemgedächtnis als Instrument der Organisation hält nicht fest, warum so oder
der Informationsselektion vom psychisch-perso- so entschieden wurde; es speichert einerseits die
nalen Gedächtnis, wobei die systemspezifische durch Entscheidungen geschaffenen Situationen,
Kommunikation regelt, was aus den Individual- um bei neuen Entscheidungsproblemen eine
gedächtnissen aktualisiert werden soll. So inter- Wiederverwendbarkeit zu prüfen. Andererseits
essiert sich zum Beispiel das Systemgedächtnis erinnert es an Stellen oder Personen, die etwas
der Organisation nur für die Erinnerung an zu- entschieden haben. Durch das Gedächtnis wird
rückliegende organisationsrelevante Entschei- eine Zeitdifferenz zwischen Vergangenheit und
dungen und nicht dafür, was es Tags zuvor zum Zukunft überbrückt, indem aktuelle Situationen
Abendessen gegeben hat. Das Systemgedächtnis mit bereits Bekanntem abgeglichen werden. Ver-
ist also nicht als Summe der irgendwie beteiligten gessen sorgt in der Organisation für die Freiset-
Individualgedächtnisse zu verstehen. Vielmehr zung von Kapazitäten, während im Erinnern die
adressiert das Systemgedächtnis nur bestimmte Konstruktion von Identitäten zum wiederholten
und eben systemrelevante Aspekte des Individu- Gebrauch – im Rahmen von Entscheidungspro-
286 IV. Forschungsgebiete

grammen – besteht. Vergessen ist dabei der Re- Die Unhintergehbarkeit des Gruppen-
gelfall; Erinnern kommt nur durch die Verhinde- gedächtnisses
rung des Vergessens zustande (vgl. Luhmann
2000). Die für Organisationen hoch relevante Soziologische Konzeptionen betrachten kollek-
Schriftlichkeit darf allerdings nicht mit Gedächt- tive Gedächtnisse beziehungsweise Gruppenge-
nis gleichgesetzt werden. Schrift begreift Luh- dächtnisse als soziale Tatsachen in dem Sinne,
mann vielmehr als ein physisches Substrat des dass sie dem Einzelnen als gegeben erscheinen
Gedächtnisses, das wiederum selbst auswählt, und einen zwingenden Einfluss auf sein Verhal-
was erinnert und was vergessen wird. Akten zum ten ausüben. Zumindest in alltäglichen Hand-
Beispiel organisieren nicht nur das Erinnern, lungsabläufen sind diese soziologischen Gedächt-
sondern auch das Vergessen. Jede erneute Lek- nisse insofern unhintergehbar als sie bestimmte
türe kann zu Konformität ebenso motivieren wie Erinnerungen auftauchen lassen und infolgedes-
zu Abweichung. Das Gedächtnis der Organisa- sen vieles nicht aktualisieren, das dann aus Sicht
tion wirkt an allen Operationen des Systems mit, der Gruppe vergessen werden kann. Als Konsti-
indem es die grundlegende Unsicherheit, die vor tutionsbedingungen von institutionalisierten
jeder Entscheidung liegt, ebenso vergisst wie die Wissensstrukturen sind sie wirkmächtige Deter-
vielen Zuträger- oder Unterentscheidungen. Er- minanten der Aufrechterhaltung sozialer Ord-
innert wird lediglich, was als Entscheidungsprä- nung. Auch den drei exemplarisch entfalteten so-
misse für weitere Entscheidungen bedeutsam ist. ziologischen Standpunkten ist gemeinsam, dass
Damit erklärt sich, dass sich viele organisatori- sie die Vorstellung einer verdinglichten und ge-
sche Routinen, die in Organisationen ablaufen, speicherten Vergangenheit, die sich zu einem
dem reflexiven Zugriff entziehen und scheinbar späteren Zeitpunkt wieder herstellen ließe, ableh-
intuitiv oder automatisch ablaufen. Als Prämis- nen. Die Erinnerung an Vergangenes unterliegt
sen bewahrt werden nur bestimmte Entscheidun- immer der Auslegung unter den Bedingungen
gen, die oft mit Hierarchien zusammenhängen, der gegenwärtigen Situation.
weshalb das, was als maßgebliche Steuerung erin- Neben diesen nicht zuletzt auch eine spezifisch
nert wird, in der Regel mit einem Herrschaftsin- soziologische Sicht repräsentierenden Überein-
dex versehen ist. stimmungen bestehen zwischen den drei Positio-
Festgehalten werden kann damit, dass Organi- nen jedoch auch grundlegende Unterschiede. So
sationen als Sozialsysteme ein von den an ihnen gibt es für Halbwachs so viele Kollektivgedächt-
beteiligten Individuen weitgehend unabhängiges nisse, wie es Gruppen gibt. Dieses Motiv findet
soziales Gedächtnis entwickeln, dessen Aufgabe sich bei den sozialen Systemen Luhmanns wie-
darin besteht, auszuwählen, welche organisatio- der: Jedes System verfügt über sein eigenes spezi-
nalen Entscheidungen erinnert und welche ver- fisches Gedächtnis. Anders verhält es sich dage-
gessen werden sollen. Auch wenn es durch Kom- gen bei Schütz, dessen individualistische Ge-
munikation – mitunter auf der Basis von Texten, dächtniskonzeption in der Vorstellung eines
die ihrerseits auf Wahrnehmung und Wiederer- subjektiven Wissensvorrats ebenso wie des ge-
kennen angewiesen sind – fortgeführt wird und sellschaftlichen Wissensvorrats zwar von Fall zu
so eine über die Zeit sich weiter entwickelnde Fall variieren kann aber stets unter der Annahme
Struktur aus Entscheidungsprämissen bildet, prinzipieller Ähnlichkeit behandelt wird. Es gibt
greift das soziale Gedächtnis nur ausnahmsweise viele Individualgedächtnisse, aber nur ein sich
auf die Gedächtnisse von Personen zurück. auf deren Grundlage konstituierendes Gruppen-
gedächtnis. Der gesellschaftliche Wissensvorrat
steht als objektive Struktur den Gesellschaftsmit-
gliedern zur Verfügung. Unterschiedliche Ge-
brauchsweisen dieses Wissensvorrats ergeben
sich vor allem aus den gruppenspezifischen Zu-
3. Soziologie 287

griffsweisen durch jeweils andere Relevanzset- begriffen und ausgerichtet werden. Damit stellen
zungen. Luhmann wiederum grenzt sich von diese neu entdeckten Tendenzen sozialen Wan-
Halbwachs ab, dem er die Konstruktion einer dels nicht nur eine empirische Herausforderung
raumzeitlichen Erinnerungsdeterminante und für die Soziologie dar. Sie weisen auf einen in den
damit eine unnötige Starrheit unterstellt, und be- letzten Jahrzehnten soziologischen Nachdenkens
tont die Rekursivität des sozialen Gedächtnisses, vergessenen Themenbereich hin und fordern
das als Eigenleistung aus kommunikativen Ope- dazu auf, ihr theoretisches Werkzeug unter den
rationen erwachse. In diesem Punkt ähneln sich Gesichtspunkten ›Gedächtnis, Erinnern und Ver-
die Konzeptionen von Luhmann und Schütz – gessen‹ zu überprüfen und gegebenenfalls zu er-
möglicherweise aufgrund des bei beiden promi- weitern.
nenten Bezugs auf Husserl – ungeachtet der un-
terschiedlichen Theoriesprachen. Literatur
Nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit sol- Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Meisenheim 1949.
chen Grundsatzfragen finden sich neuerdings –: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die
vermehrt Studien, die der soziologischen Theo- Beziehung zwischen Körper und Geist. Frankfurt
riebildung neue Wege des Verständnisses kollek- a. M./Berlin/Wien 1982.
tiver und sozialer Gedächtnisse eröffnen. So ver- Durkheim, Émile: Individuelle und kollektive Vorstel-
lungen. In: Ders.: Soziologie und Philosophie. Frank-
sucht etwa die italienische Soziologin Elena Es-
furt a. M.1976, 45–83.
posito in systemtheoretischer Perspektive die –: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frank-
Evolution des Gedächtnisses der Gesellschaft in furt a. M. 2007.
Abhängigkeit vom Entwicklungsstand der ver- Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien
fügbaren Kommunikationstechnologien zu be- des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a. M.
schreiben und zu prognostizieren (vgl. Esposito 2007.
2007). Die stetig fortschreitende Vernetzung Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stutt-
gart 1991 (frz. 1950).
durch Computer, so ihre These, verändere gegen- –: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.
wärtig nicht nur die gesellschaftliche Organisa- Frankfurt a. M. 1985 (frz. 1925).
tion des Gedächtnisses, sondern auch die Art und Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenolo-
Weise, wie Menschen an diesem Gedächtnis teil- gie und phänomenologischen Philosophie. Halle 1913.
haben und es nutzen. Auf eine andere Entwick- –: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusst-
lungsdynamik weisen Daniel Levy und Natan seins (1893–1917). Hamburg 1985.
Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen
Sznaider hin (vgl. Levy/Sznaider 2001): Am Bei-
Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2001.
spiel der Globalisierung der Holocaust-Erinne- Luhmann, Niklas: Zeit und Gedächtnis. In: Soziale Sys-
rung zeigen sie, dass mit der Loslösung kollek- teme Jg. 2, H. 2 (1996), 307–330.
tiver Erinnerung vom nationalstaatlichen Rah- –: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt
men dieser nicht aufgehoben wird, sondern neue a. M. 1998.
Möglichkeiten einer, wie sie es nennen, ›kosmo- –: Organisation und Entscheidung. Wiesbaden 2000.
–: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt
politischen Erinnerung‹ geschaffen werden, die
a. M. 2002.
über nationale und kulturelle Grenzen hinaus- Schütz, Alfred: Das Problem der Relevanz. Frankfurt
geht. a. M. 1971.
Für die soziologische Forschung ist damit die –: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt
Erkenntnis verbunden, dass durch Prozesse der a. M. 1974.
Globalisierung und Medialisierung die Themen –: Theorie der Lebensformen. Frankfurt a. M. 1981.
Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen nicht ob- – /Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd.
1. Frankfurt a. M. 1979.
solet werden – sie müssen vielmehr neu verortet, Michael Heinlein/Oliver Dimbath
288 IV. Forschungsgebiete

4. Literaturwissenschaft umrissen das Gebiet einer literaturwissenschaft-


lichen Gedächtnisforschung ist.
Wer eine Abfrage in der Datenbank der MLA Die literaturwissenschaftliche Gedächtnisfor-
(Modern Language Association) unter den Schlag- schung reicht heute von im engeren Sinne philo-
worten ›memory + literature‹ macht, der findet logischen bis hin zu stark kulturwissenschaftlich
für das Jahr 1980 noch eine recht übersichtliche und interdisziplinär geprägten Ansätzen. Sie wird
Anzahl von etwa 30 literaturwissenschaftlichen in der Allgemeinen Literaturwissenschaft ebenso
Forschungsbeiträgen verzeichnet. Die Zahl der wie innerhalb der verschiedenen Nationalphilo-
jährlichen Publikationen wächst 1990 bereits auf logien praktiziert. Sie nimmt Bezug auf antike,
139 an; im ›Erinnerungsjahr‹ 2000 auf spektaku- mittelalterliche und neuzeitliche Literaturen.
läre 568; und seitdem erscheinen pro Jahr im Und sie ist überdies in unterschiedlichen natio-
Schnitt 430 Beiträge zum Thema ›Literatur und nalen Wissenschaftskulturen anzutreffen, deren
Gedächtnis‹. Wie in den anderen kulturwissen- jeweilige Forschungstraditionen und -konventio-
schaftlichen Disziplinen, so ist also auch in der nen stark voneinander abweichen können. In den
Literaturwissenschaft seit den frühen 1990er Jah- USA beispielsweise dreht sich die literaturwis-
ren ein rapider Anstieg der Veröffentlichungen senschaftliche Diskussion in erster Linie um psy-
zum Gedächtnis-Thema zu beobachten. Neben choanalytische und poststrukturalistische Kon-
Begriffen wie ›Kultur‹, ›Gender‹ oder ›Medialität‹ zepte von Trauma, während in der deutschen Li-
hat ›Gedächtnis‹ heute den Status einer literatur- teraturwissenschaft unter Rückgriff auf Maurice
wissenschaftlichen Schlüsselkategorie. Aber wir Halbwachs, Aby Warburg und Pierre Nora stär-
haben es nicht nur mit einer Konjunktur im ak- ker kontextorientiert und kulturhistorisch gear-
tuellen Diskurs zu tun. Auch in historischer Per- beitet wird.
spektive zeigt sich, dass das Konzept des Ge- Aus der Fülle der literaturwissenschaftlichen
dächtnisses die Disziplin nachhaltig geprägt hat. Beiträge zur Gedächtnisforschung können einige
Zentrale Konzepte der literaturwissenschaftli- grundlegende Gedächtniskonzepte der Literatur-
chen Gedächtnisforschung sind bis in das frühe wissenschaft (Erll/Nünning 2005) abgeleitet wer-
20. Jahrhundert zurückzuverfolgen. den. Ausgehend von diesen Konzepten werden
Für die Literaturwissenschaft ist ›Gedächtnis‹ im Folgenden fünf deutlich konturierte Haupt-
– mit Manfred Weinbergs (2006) Worten – ein richtungen der literaturwissenschaftlichen Ge-
»unendliches Thema«, nicht nur weil es grund- dächtnisforschung vorgestellt:
sätzlich niemals abschließend fassbar sein kann 1. Ars memoriae als Gegenstand der Literaturge-
(denn jede für die Untersuchung des Gedächtnis- schichte: Ein literaturhistorisch ausgerichteter
ses gewählte Perspektive impliziert notwendig Zweig der Gedächtnisforschung widmet sich
das ›Vergessen‹ bzw. Ausblenden oder Marginali- der Bedeutung antiker Mnemotechnik in mit-
sieren anderer Blickrichtungen). Es handelt sich telalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur.
auch aufgrund der vielfältigen wörtlichen und 2. ›Gedächtnis der Literatur I‹: Topoi-, Intertex-
metaphorischen Bedeutungsdimensionen des Ge- tualität- und Gattungsforschung beschäftigen
dächtnis-Begriffs um ein Thema, mit dem eine sich mit dem ›erinnernden‹ Rückgriff literari-
kaum mehr zu überblickende Vielzahl höchst un- scher Werke auf Elemente vorgängiger Litera-
terschiedlicher Gegenstandsbereiche, Erkennt- tur. In diesem Zusammenhang ist von einem
nisinteressen und Methoden verbunden ist. Diese ›Gedächtnis der Literatur‹ die Rede.
Heterogenität zeigt sich bereits in den acht Bän- 3. ›Gedächtnis der Literatur II‹: Mit dieser Meta-
den der Reihe Literature as Cultural Memory pher können zudem Prozesse der Kanonbil-
(D’haen 2000), die zwar einen ersten Eindruck dung und Literaturgeschichtsschreibung be-
von der ganzen Spannbreite möglicher Verknüp- schrieben werden.
fungen von Literatur und Gedächtnis vermitteln, 4. ›Gedächtnis in der Literatur‹: Das außeror-
aber damit zugleich auch belegen, wie wenig klar dentlich breite Spektrum der Beiträge zur lite-
4. Literaturwissenschaft 289

rarischen Repräsentation von Gedächtnis und und christlichem Gedankengut erhält das künst-
Erinnerung reicht von narratologischen und liche Gedächtnis eine ganz neue Dimension, eine
diskursanalytischen Ansätzen bis hin zur lite- moralische Funktion: Von Scholastikern wie Al-
raturwissenschaftlichen Traumaforschung. bertus Magnus oder Thomas von Aquin wird die
5. ›Literatur und die Medialität des Gedächtnis- memoria als Teil der prudentia, einer der vier
ses‹: Unter diesem Schlagwort werden schließ- Kardinaltugenden, verstanden. Die eindrucks-
lich neuere Ansätze gefasst, die das Verhältnis vollen Bildwelten in Dantes Göttlicher Komödie
von Literatur und Gedächtnis im Spannungs- (um 1310), die gotische Architektur oder Bilder
feld von (inter-)medialen und medienkulturel- von Giotto oder Tizian werden, so Yates, besser
len Prozessen beschreiben. verständlich, wenn man sie als Ausdruck einer
mittelalterlichen Gedächtniskunst versteht. Sie
stellen eine christliche Form der platonischen
Ars memoriae als Gegenstand der
Wiedererinnerung (anamnesis) – an Paradies
Literaturgeschichte
und Hölle, Laster und Tugenden – dar, und zwar
Anders als die Sozial- und Geschichtswissen- mit Hilfe der den antiken Quellen entnommenen
schaften (s. Kap. IV.3 und IV.1), deren Gedächt- mnemonischen Technik, Orte mit imagines agen-
nisforschung schon seit Halbwachs und Nora die tes zu verbinden (s. Kap. III.2). Yates Ausführun-
konstruktive und identitätsstiftende Aneignung gen zur Geschichte der Gedächtniskunst von der
von Vergangenheit in sozialen Kontexten fokus- Mnemotechnik der Antike über die Bildwelten
siert, hat sich die Literaturwissenschaft traditio- des Mittelalters bis hin zu den magisch-herme-
nell vor allem der Bedeutung antiker Mnemo- tischen Gedächtnissystemen Giulio Camillos,
techniken (ars memoriae) für Kunst und Kultur Giordano Brunos oder Robert Fludds in Renais-
gewidmet. Gedächtnis wurde im Rahmen der Li- sance und früher Neuzeit verdeutlichen, dass die
teraturwissenschaft – mit Aleida Assmanns Gedächtniskunst eine lebendige und recht wand-
(1999/2009) Worten – dominant als ars (künstli- lungsfähige Tradition war, die nicht nur zu rheto-
ches, raumorientiertes Gedächtnis) untersucht, rischen Zwecken, sondern auch zum christlichen
während Geschichte und soziales Gedächtnis Gedenken, zur kulturellen Wissensorganisation
stärker als vis (natürliches, zeitorientiertes Ge- oder als Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks
dächtnis) konzipiert wurden. diente (zu einer umfassenden Bestandsaufnahme
Als Forschungsgegenstand der modernen Li- der ars memorativa in Mittelalter und Früher
teratur- und Kulturwissenschaft etabliert wurde Neuzeit vgl. auch Berns/Neuber 1993).
die ars memoriae von der Literaturhistorikerin Mary Carruthers zeigt in ihrem Buch The Book
Frances A. Yates. Ihre Studie The Art of Memory of Memory (1990), Yates’ Thesen relativierend,
(1966) ist eine Geschichte der Gedächtniskunst dass im Mittelalter die Buchseite selbst zum mne-
von der Antike bis zur frühen Neuzeit. Yates motechnischen Gedächtnisraum wird. Damit
bringt die in der Literaturwissenschaft weitge- zeichnet sich schon der Übergang von einem
hend in Vergessenheit geratene ars memoriae bild- und raumgeprägten Gedächtnis in Antike
wieder in Erinnerung und argumentiert, dass und Mittelalter zu einem schriftgeprägten Ge-
sich Kunst, Wissensorganisation und Denksys- dächtnis in der Neuzeit ab; und damit auch von
teme des Mittelalters und der Renaissance in der Rhetorik und Auswendigkeit zur Hermeneu-
nicht unwesentlichem Maße aus einem Rückgriff tik. Obgleich die ars memoriae um 1800 aus der
auf die antike Mnemonik speisen. Yates argu- kulturellen Praxis verschwindet, wirkt ihre Me-
mentiert, dass wir es in Mittelalter und Renais- thode dennoch nach; ihr Fortleben wird insbe-
sance mit einer tiefgreifenden Umgestaltung der sondere durch Kunst und Literatur gesichert, für
klassischen Gedächtniskunst zu tun haben. die die Verknüpfung von Bildern und Orten ein
Durch den Rückgriff auf römische Quellen und grundlegendes Verfahren bleiben (vgl. Haver-
deren Verknüpfung mit platonischen Schriften kamp/Lachmann 1991).
290 IV. Forschungsgebiete

Das ›Gedächtnis der Literatur‹ I: Topoi-, Prozess der »De- und Resemiotisierung« begrei-
Intertextualitäts- und Gattungsforschung fen (vgl. Haverkamp/Lachmann 1991). Das Ge-
dächtnis der Literatur basiert auf einer Resemio-
Die zeitliche Dimension des Zusammenhangs tisierung von Zeichen, auf einem ›Wieder-Aufla-
von Literatur und Gedächtnis wird üblicherweise den‹ von Elementen überlieferter Texte mit
unter dem Begriff ›Gedächtnis der Literatur‹ ver- Bedeutung. Dieser Prozess wird in der Literatur-
handelt. Dabei handelt es sich um eine stark me- wissenschaft als ›Intertextualität‹ im weitesten
taphorische Ausdrucksweise, die immer wieder Sinne – als Rückgriff auf überkommene Topoi,
auch Kritik erfährt. Denn natürlich ›hat‹ Litera- als Einzeltext- oder als Gattungsreferenzen – be-
tur ebenso wenig ein Gedächtnis wie Denkmale zeichnet.
und andere kulturelle Artefakte eines haben. Die Vorstellung von einem ›Gedächtnis der
Konzepte von einem Gedächtnis der Literatur ba- Literatur‹ liegt auch der historischen Topik von
sieren vielmehr auf der Annahme, dass Literatur Ernst Robert Curtius zugrunde, die der Romanist
nur in einem diachronen Zusammenhang zu be- in seiner Monographie Europäische Literatur und
greifen ist. Dabei kann zwischen zwei Gebrauchs- lateinisches Mittelalter (1948) entfaltet. Die Theo-
weisen des Begriffs ›Gedächtnis der Literatur‹ rie und Methode der historischen Topik ist in der
unterschieden werden: (1) Als genitivus subiecti- Zeit zwischen den Weltkriegen zu verorten, in
vus: Durch Intertextualität ›erinnert‹ Literatur der Curtius kulturkonservativ ein Geschichtsbild
›an sich selbst‹; (2) als genitivus obiectivus: In von europäischer Kontinuität und Einheit be-
gesellschaftlich institutionalisierter Weise wird schwört. Europa ist für Curtius eine historische
an Literatur erinnert, z. B. durch Kanonbildung und geistesgeschichtliche Einheit: Die europäi-
und Literaturgeschichtsschreibung (s. folgender sche Literatur »umfaßt einen Zeitraum von etwa
Abschnitt). sechsundzwanzig Jahrhunderten (von Homer bis
Im Sinne des genitivus subiectivus verweist das Goethe gerechnet)« (Curtius 1948/1993, 22). Bei
Konzept ›Gedächtnis der Literatur‹ auf die Vor- der Beschränkung der Literaturbetrachtung auf
stellung von einem innerliterarischen Gedächt- bestimmte Epochen und Nationen geraten daher,
nis, einem Gedächtnis des Symbolsystems Litera- so Curtius, wichtige Traditionslinien aus dem
tur, das sich in einzelnen Texten manifestiert. Im Blick. Um Kontinuitäten und Wandlungen litera-
literarischen Werk wird durch intertextuelle Be- rischer Formen aufzuzeigen, richtet er seine Auf-
zugnahmen an vorgängige Texte, Topoi, Formen merksamkeit auf Topoi, d. h. auf in der antiken
und Gattungsmuster erinnert. Literaturtheoreti- Rhetorik zur inventio gehörende Gemeinplätze
sche Ansätze, die sich mit Intertextualität als lite- bzw. feste Denk- und Ausdrucksschemata. Hierzu
rarischer ›Erinnerungspraktik‹ beschäftigen, ha- zählt Curtius rhetorische Topoi wie den Beschei-
ben stets die ars memoriae als ein Denkmodell denheits- oder den Unsagbarkeitstopos und Vor-
genutzt, weit ausgedeutet und mit verschiedenen stellungen wie die von der verkehrten Welt, im
anderen Konzepten zu neuartigen Theorien ver- weiteren Sinne aber auch Metaphern wie ›das Le-
knüpft. Ihr Ziel ist es, Phänomene der Wieder- ben als Schifffahrt‹ oder ›die Welt als Theater‹.
kehr und Veränderungen von ästhetischen For- Curtius verfolgt mit seiner historischen Topik
men beschreibbar zu machen. zwei Ziele: Erstens geht es ihm um Gattungs- und
Am Beginn der gedächtnistheoretischen Un- Formengeschichte, um die »genetische Erkennt-
tersuchung von Kontinuitäten und Wandlungen nis literarischer Form-Elemente« (ebd., 92).
in Kunst und Literatur stehen Aby Warburgs Zweitens leitet ihn ein geistesgeschichtliches
Mnemosyne-Atlas und sein Konzept eines ›sozia- Interesse, denn die Untersuchung der Wieder-
len Gedächtnisses‹ (s. Kap. III.16). Bis heute ist kehr literarischer Ausdrucksformen trägt Curtius
Warburgs Arbeit vor allem an literaturwissen- zufolge zu einem »Verständnis der abendländi-
schaftliche Theorien anschließbar, die Literatur schen Seelengeschichte« (ebd., 92) bei. Das Ge-
und Kultur zeichentheoretisch als fortlaufenden dächtnis der Literatur, wie es mit Curtius’ histori-
4. Literaturwissenschaft 291

scher Topik in den Blick kommt, zeichnet sich Diese agonale Dimension des Gedächtnisses
dadurch aus, dass literarische inventio auf memo- der Literatur unterstreicht bereits T. S. Eliot im
ria basiert: Künstlerische Tätigkeit ist immer Jahr 1919 in seinem Essay »Tradition and the In-
auch ein Erinnerungsakt, denn sie muss auf Ele- dividual Talent«. Eliot argumentiert, dass wahre
mente der kulturellen Tradition zurückgreifen. Neuheit und Originalität eines literarischen Tex-
Curtius’ Toposforschung verdeutlicht zudem, tes nur auf der Auseinandersetzung mit der Tra-
dass Literatur eine diachrone und transkulturelle dition basieren kann. Umgekehrt wirkt sich jedes
Dimension hat. So wie Aby Warburgs Pathosfor- neue, ›große‹ literarische Werk auf das beste-
meln die ›Energiekonserven‹ eines kollektiven hende Gefüge überkommener klassischer oder
Bildgedächtnisses sind, findet das europäische li- kanonischer Texte aus.
terarische Gedächtnis in Topoi seinen Ausdruck. Auf den Begriff gebracht wurde das ›Gedächt-
Curtius’ vager und restaurativer Toposbegriff ist nis der Literatur‹ in Renate Lachmanns einfluss-
in der Literaturwissenschaft stark kritisiert wor- reicher Monographie Gedächtnis und Literatur:
den. Er hat aber auch beträchtliche Wirkung ent- Intertextualität in der russischen Moderne (1990).
faltet und wird gerade im Kontext der neueren Kennzeichnend für Lachmanns Ansatz ist die
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung konsequente Gleichsetzung von Gedächtnis mit
wieder neu entdeckt (vgl. Berndt in: Erll/Nün- der Kategorie der Intertextualität: »Das Gedächt-
ning 2005). nis des Textes ist seine Intertextualität« (ebd., 35).
Die Ursprünge poststrukturalistischer Inter- Lachmann verortet das literarische Phänomen
textualitätskonzepte, wie sie etwa von Harold der Intertextualität in einem gedächtnistheoreti-
Bloom und Renate Lachmann entwickelt wur- schen Bezugsrahmen. Ihr geht es um »die Inter-
den, sind bis in die 1920er Jahre zurückzuverfol- pretation der Intertextualität (konkreter Texte)
gen, etwa zu Michail Bachtins Dialogizitätskon- als eines mnemonischen Raums, der sich zwi-
zept (vgl. Scheiding in: Erll/Nünning 2005). Ende schen den Texten entfaltet, und um den Gedächt-
der 1960er Jahre prägte Julia Kristeva in Anleh- nisraum innerhalb konkreter Texte, der durch die
nung an Bachtins Überlegungen zum »Wort im Intertexte aufgebaut wird, die in diese eingetra-
Roman« den Begriff der Intertextualität. Das Ge- gen werden« (ebd., 11). Literatur erweist sich also
dächtnis der Literatur erscheint aus der Perspek- als in mehrfacher Hinsicht mit Gedächtnis und
tive der poststrukturalistischen Theoriebildung Kultur verwoben: Sie ist eine »mnemonische
als der sich auf textinterner Ebene manifestie- Kunst par excellence, indem sie das Gedächtnis
rende Bezug zu Prätexten, als deren Aktualisie- für eine Kultur stiftet; das Gedächtnis einer Kul-
rung und Transformation. tur aufzeichnet; Gedächtnishandlung ist; sich in
Harold Bloom geht es in The Anxiety of Influ- einen Gedächtnisraum einschreibt, der aus Tex-
ence (1973, 5) um »intra-poetic relationships«. ten besteht; einen Gedächtnisraum entwirft, in
Am Beispiel der Lyrik englischer Romantiker den die vorgängigen Texte über Stufen der Trans-
zeigt er, dass Einflussangst (von Bloom freudia- formation aufgenommen werden« (ebd., 36).
nisch gewendet: die Angst eines jungen Dichters Seit einigen Jahren wendet sich die literatur-
– ephebe – vor den Werken eines scheinbar über- wissenschaftliche Gedächtnisforschung zuneh-
mächtigen ›Dichtervaters‹) literarische Produk- mend Phänomenen zu, die man als ›Gattungs-
tion erst ermöglicht. Einflussangst führt zu litera- gedächtnis‹ und ›Gedächtnisgattungen‹ bezeich-
rischen Abwehrmechanismen, vor allem zum nen kann (vgl. Humphrey in: Erll/Nünning 2005).
misreading. Bloom unterscheidet verschiedene Im Rahmen der Intertextualitätsforschung wird
Ausprägungen solcher »revisionary ratios« (ebd., grundlegend zwischen Einzeltext- und Gattungs-
14) – Formen der intertextuellen Aktualisierung referenzen unterschieden. Gattungen sind daher
und Variation von Elementen der literarischen erstens Resultat intertextueller Bezüge; auch sie
Tradition, die als rhetorische Strategien im Text basieren auf einem ›Gedächtnis der Literatur‹
erkennbar sind. (bzw. dem ›Gattungsgedächtnis‹). Zweitens die-
292 IV. Forschungsgebiete

nen bestimmte Gattungen, wie Autobiographie, Das ›Gedächtnis der Literatur‹ II:
Biographie oder Epos, als konventionalisierte Kanonforschung und Theorie der
›Formulare‹ zur Kodierung von Vergangenheits- Literaturgeschichtsschreibung
versionen (›Gedächtnisgattungen‹). Aufgeladen
mit ideologischer Bedeutung tradieren Gattun- Während Intertextualitätstheorien literaturwis-
gen dabei auch Werte, Normen und Identitäts- senschaftliche Ansätze darstellen, mit denen ein
konzepte. Ein dritter Aspekt des Verhältnisses Gedächtnis des Symbolsystems Literatur unter-
von Gattung und Gedächtnis ist schließlich, dass sucht werden kann, ermöglichen Kanonfor-
Gattungen ein ›Lesergedächtnis‹ voraussetzen: schung und Theorie der Literaturgeschichts-
Nur wenn Autoren und Leser einer Erinnerungs- schreibung Einblicke in die Funktionsweisen des
kultur das Wissen um Gattungskonventionen tei- Sozialsystems Literatur: Kanonbildung und Lite-
len (und beispielsweise ahnen, dass am Ende ei- raturgeschichte sind zentrale Mechanismen und
nes Krimis die Auflösung des Mordfalls stehen Medien, durch die in Gesellschaften an Literatur
wird), kann von der Existenz einer Gattung die erinnert und kollektive Identität gestiftet wird. Es
Rede sein. bedarf der Institutionen, um aus der Fülle der
Die vorgestellten Konzepte von einem ›Ge- verfügbaren literarischen Werke ein Korpus von
dächtnis der Literatur‹ weisen einige wichtige zu erinnernden Texten auszuwählen, zusammen-
Gemeinsamkeiten auf. So wird in der Literatur- zustellen und dessen Überlieferung zu sichern.
wissenschaft nicht nur häufig auf Begriffe und Neben Literaturwissenschaftlern beschäftigen
Vorstellungen zurückgegriffen, die der antiken sich vor allem Vertreter der Religions-, Alter-
Rhetorik entstammen. Dieser Rekurs ist zudem tums- und Geschichtswissenschaften mit Kano-
meist mit einer produktiven Aneignung und nisierungsprozessen als zentrale Vorgänge bei der
(häufig tiefgreifenden) Veränderung der histori- Herausbildung und Tradierung von kulturellem
schen Rede- und Gedächtnislehre verbunden. Gedächtnis. Der Kanon – ein Begriff, der ur-
Zwei wichtige Modifikationen der ars memoriae sprünglich auf das Korpus anerkannter heiliger
nimmt die Literaturwissenschaft vor: Erstens er- Schriften bezogen war – hat eine hohe gesell-
hält das abstrakte und auf das individuelle Ge- schaftliche und kulturelle Relevanz. Zu den Funk-
dächtnis ausgerichtete Verfahren der Verbindung tionen, die Literaturgeschichtsschreibung und
von loci und imagines eine kollektive, mediale Kanonisierungsprozesse erfüllen können, gehö-
und diachrone Dimension, denn mit den mne- ren die Stiftung kollektiver Identitäten, die Legiti-
motechnischen Konzepten werden nun literari- mierung gesellschaftlicher und politischer Ver-
sche Traditionen und deren Wandlungen be- hältnisse sowie die Aufrechterhaltung oder Un-
schrieben. Zweitens konzipieren literaturwissen- terwanderung von Wertesystemen. Mit ihrem
schaftliche Ansätze die fünf Schritte der antiken Korpus an »Wiedergebrauchs-Texten« (J. Ass-
Rhetorik als einen Zirkel. Memoria verweist im mann) beschreiben Kulturen sich selbst. Und so
Sinne der Literaturwissenschaft nicht auf das wie sich die Identitätskonzepte und Wertstruktu-
bloße Memorieren eines bereits Vorhandenen, ren von Kulturen wandeln, verändert sich auch
sondern stellt die Basis für die Erzeugung neuer ihr Kanon. Das Gedächtnis des Sozialsystems Li-
Literatur dar. Inventio, dispositio, elocutio basie- teratur ist daher kulturell und historisch variabel.
ren auf memoria. Jeder neue literarische Text ist Mit Beginn der 1970er Jahre setzte in der Lite-
bezogen auf vorgängige Texte, auf kulturell ver- raturwissenschaft Kritik an überkommenen lite-
fügbare Gattungsmuster, auf literarische Formen raturwissenschaftlichen Kanon- und Geschichts-
und Topoi. konzepten ein. Im Zuge von Ideologiekritik und
feministischer Forschung wurden Auswahlkrite-
rien bei der Kanonbildung hinterfragt. Gefordert
wurde eine Kanonrevision, ein Aufbrechen des
bildungsbürgerlichen und elitären Kanons sowie
4. Literaturwissenschaft 293

eine Berücksichtigung zuvor marginalisierter struktionsprozesse. Sie betrachtet ihr eigenes Tun
Autoren. Im Sinne des poststrukturalistischen – die Hervorbringung und Tradierung von kultu-
Paradigmas wurde gar ein Verzicht auf jegliche rellem Gedächtnis – aus kulturwissenschaftlicher
Art von Kanonbildung angeregt. Vor allem in und gedächtnistheoretischer Perspektive.
Amerika haben diese Kanondebatten, die als
»The Great Canon Controversy« oder »Culture
›Gedächtnis in der Literatur‹: Studien
Wars« in der Presse hohe Wogen schlugen,
zur literarischen Repräsentation von
enorme Wirkung entfaltet.
Gedächtnis und Erinnerung
Im Umfeld des linguistic turn und der Diskus-
sion um die Möglichkeiten der Repräsentation Während sich Intertextualitäts- und Kanonfor-
von Geschichte wurden auch die der Literaturge- schung mit der diachronen Dimension des Ver-
schichtsschreibung zugrunde liegenden Kon- hältnisses von Gedächtnis und Literatur beschäf-
struktionsprozesse untersucht. Das Erkenntnis- tigen, rückt in Untersuchungen zur literarischen
interesse der Theorie der Literaturgeschichts- Repräsentation bzw. Inszenierung von Gedächt-
schreibung gilt damit weniger dem historischen nis stärker die synchrone Dimension, die dialogi-
Prozess der Literatur selbst (dem Objektbereich) sche Beziehung zwischen Literatur und außerli-
als dem Vorgang seiner retrospektiven Erkennt- terarischen Gedächtnisdiskursen in den Blick.
nis, Deutung und Darstellung. Auch jene auf den Studien zum ›Gedächtnis in der Literatur‹ liegt
Bereich der Literatur konzentrierte Form der zumeist ein Konzept von Literatur als ›Interdis-
Historiographie basiert auf bestimmten Selekti- kurs‹ zugrunde: Literarische Werke nehmen auf
onsprinzipien und Konstruktionsmechanismen, die außerliterarische Wirklichkeit und ihre Dis-
durch die eine vergangene Wirklichkeit mehr er- kurse Bezug, reorganisieren sie im Medium der
zeugt als abgebildet wird. Heute rücken zuneh- Fiktion und machen sie auf diese Weise be-
mend auch Fragen nach der Nationenspezifik obachtbar. So greift Literatur auf die Vergangen-
und den erinnerungskulturellen Funktionen von heitsversionen und Gedächtniskonzepte anderer
Literaturgeschichtsschreibung in den Blick der Symbolsysteme (Psychologie, Psychoanalyse,
Literaturwissenschaft. Neurowissenschaften, Religion, Geschichtswis-
Die Literaturwissenschaft – das haben die De- senschaft, Soziologie, Alltagsdiskurse etc.) zu, ko-
batten um Kanonrevision und um den konstrukt- diert kulturelles Wissen über das Gedächtnis in
haften Charakter der Literaturgeschichte gezeigt ästhetischen Formen (narrative Strukturen, Sym-
– erzeugt und tradiert kulturelles Gedächtnis. Da bolik, Metaphern) und bringt es damit prägnant
Literaturgeschichtsschreibung und die Bildung zur Anschauung. Diese literarische Inszenierung
oder Veränderung von Kanones seit jeher zu den von Gedächtnis steht allerdings nicht nur in ei-
zentralen Aufgaben der Disziplin gehören, ist das nem dynamischen Austauschverhältnis zu gesell-
institutionalisierte Literaturgedächtnis ein Phä- schaftlichen Memorialkonzepten, sondern wan-
nomen, das die Literaturwissenschaft implizit, al- delt sich auch mit diesen selbst. In ihrer für
lerdings nachhaltig prägte und noch prägt. Die die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung
Literaturwissenschaft ist eine Gedächtniswissen- insgesamt wegweisenden Studie Erinnerungs-
schaft. Die Mechanismen und die vielfältigen ge- räume (1999/2009) erzählt Aleida Assmann die
sellschaftlichen Funktionen des literaturwissen- Geschichte der literarischen Inszenierung von
schaftlichen Bezugs auf Vergangenheit sind erst kulturellem Gedächtnis, und zeigt in ihren Inter-
in den letzten Jahrzehnten deutlich ins Bewusst- pretationen von William Shakespeare bis Durs
sein ihrer Vertreter gerückt. Daher beschäftigt Grünbein, dass Literatur in der Erinnerungskul-
sich die Literaturwissenschaft heute nicht mehr tur Darstellungs-, Kritik- und Reflexionsfunktio-
nur mit der Erzeugung von Kanones und Litera- nen übernehmen kann.
turgeschichten, sondern auch mit der kritischen Die Forschung zum historischen Roman kann
Reflexion solcher disziplinspezifischen Kon- in der Literaturwissenschaft auf eine sehr lange
294 IV. Forschungsgebiete

Tradition zurückblicken. Durch die neuerliche Proust auch Virginia Woolf, Charles Baudelaire
Einbeziehung von Fragestellungen der kultur- und vor allem Walter Benjamin, dessen Passagen-
wissenschaftlichen Gedächtnisforschung werden Werk und Essay »Über des Begriff der Ge-
historische Romane als Produkte ihrer Erinne- schichte« auch konzeptuell zu zentralen Bezugs-
rungskulturen begriffen. Das Genre hat sich seit punkten für weite Teile der literaturwissenschaft-
Beginn des 19. Jahrhunderts, im engen Dialog lichen Gedächtnisforschung geworden sind (vgl.
mit der Geschichtsschreibung, herausgebildet. z. B. Huyssen 1995).
Dieser Dialog wird bis heute auf vielfältige Weise Das gerade in der internationalen Diskussion
literarisch inszeniert: So finden sich in histori- außerordentlich wirkmächtige Konzept von
schen Romanen Belege für das Dargestellte in ›Trauma als Krise der Repräsentation‹ wurde im
den Fußnoten oder Verweise auf Quellen und ge- Kontext der poststrukturalistischen, psychoana-
schichtswissenschaftliche Abhandlungen in den lytisch ausgerichteten Literaturtheorie entwi-
Paratexten (Buchrücken, Klappentexte usw.). Der ckelt, v. a. von Shoshana Felman und Cathy Ca-
sogenannte ›Professorenroman‹, der in der zwei- ruth. Der poststrukturalistische Traumadiskurs
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts von deutschen geht von der Annahme aus, dass wir uns seit dem
Historikern verfasst wurde und in dem germani- Holocaust mit einer epistemologisch-ontologi-
sche Mythen im Vordergrund stehen, ist auch ein schen Krise der Zeugenschaft (witnessing) kon-
Symptom für die damalige Erinnerungskultur, frontiert sehen, die sich auf der Ebene der Spra-
die durch einen starken Historismus und Natio- che selbst manifestiert. In dekonstruktivistischer
nalismus geprägt war. Eine aktuelle Entwicklung Argumentation und in Anknüpfung an Paul de
des Genres ist der postmoderne historische Ro- Man verbindet Caruth in ihrer Studie Unclaimed
man, der sich durch seine Inszenierung und Pro- Experience (1996) das Konzept des Traumas mit
blematisierung von Prozessen und Problemen den generellen Grenzen der Sprache: Der für das
der Historiographie auszeichnet, wie sie im Rah- psychologische Trauma kennzeichnende Bruch
men der Geschichtstheorie etwa von Hayden (oder die ›Aporie‹) in Bewusstsein und Repräsen-
White aufgedeckt wurden. Die von Ansgar Nün- tation steht so für die ›Materialität‹ des Signifi-
ning (1995) mit Blick auf den englischen histori- kanten, der ebenfalls durch einen Bruch prinzipi-
schen Roman seit 1950 unterschiedenen Subgat- ell von der Bedeutung geschieden ist. Felman
tungen (dokumentarischer, realistischer, revi- fragt in diesem Zusammenhang auch nach den
sionistischer und metahistorischer Roman sowie Möglichkeiten und Grenzen einer Übertragung
historiographische Metafiktion) beschreiben (transmission) von Traumata durch Literatur
stets auch verschiedene Formen des literarischen (Felman/Laub 1992). Kritiker des poststruktura-
Umgangs mit dem kulturellen Gedächtnis. listischen Traumakonzepts (wie etwa Wulf Kan-
Die Untersuchung von Erinnerungskonzepten steiner) haben allerdings wiederholt zu bedenken
der klassischen Moderne hat sich als ein eigen- gegeben, dass es sich hierbei um ein vages, meta-
ständiger Forschungszweig innerhalb der litera- phorisches Konzept von Trauma handelt, das das
turwissenschaftlichen Gedächtnisforschung her- konkrete Leiden der Opfer von Gewalt gleich-
ausgebildet. Als Paradigma der modernistischen setzt mit ontologischen Fragen nach der funda-
Erinnerungsliteratur gilt Marcel Prousts À la re- mentalen Ambivalenz der menschlichen Existenz
cherche du temps perdu (1913–1927), ein Roman, und Kommunikation.
in dem die zu Beginn des 20. Jahrhunderts kur- Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen
sierenden Vorstellungen um unwillkürliche Erin- Erzählforschung beschäftigt man sich mit den
nerung (Sigmund Freuds Konzept des Unbe- Formen narrativer Inszenierung von Gedächtnis
wussten und Henri Bergsons mémoire involon- und Erinnerung. Tatsächlich kann argumentiert
taire etwa) mit spezifisch literarischen Mitteln werden, dass der Narratologie schon immer (zu-
inszeniert werden (s. Kap. I.5). Studien zur mo- meist unausgesprochen) bestimmte Annahmen
dernistischen Erinnerung widmen sich neben über das Gedächtnis zugrunde lagen. So beruht
4. Literaturwissenschaft 295

bereits die erzähltheoretische Unterscheidung ihre literarische Repräsentation hin untersucht


zwischen ›erlebendem Ich‹ und ›erzählendem worden sind, gehören die Erinnerung in der
Ich‹ auf einem Gedächtniskonzept: auf der Vor- Nachwendeliteratur, die Erinnerung an Kolonia-
stellung von einer Differenz zwischen pränarrati- lismus, Sklaverei und Dekolonisierung, diaspori-
ver Erfahrung einerseits und der die Vergangen- sche Erinnerung, ›Wahrheit und Versöhnung‹,
heit narrativ überformenden, retrospektiv Sinn Generationalität und Gedächtnis, Flucht und
und Identität stiftenden Erinnerung andererseits. Vertreibung sowie die literarische Erinnerung an
Die Beschäftigung mit Ich-Erzählsituationen ist den ›11. September‹.
daher stets auch eine Beschäftigung mit der Schließlich liefert auch die literaturwissen-
literarischen Inszenierung von Erinnerung. Die schaftliche Metaphernforschung wichtige Er-
verschiedenen Verfahren der Bewusstseinsdar- kenntnisse über das ›Gedächtnis in der Literatur‹,
stellung sind ein weiteres Beispiel für das Leis- denn die Metapher als basisliterarisches Verfah-
tungsvermögen der Erzählliteratur als Darstel- ren gehört seit jeher zu den bevorzugten ästheti-
lungsform des Gedächtnisses, die durch ihre ›fik- schen Formen, durch die Gedächtnis und Erin-
tionalen Privilegien‹ (Nünning 1995) bewusste nerung zur Anschauung gebracht werden. Bei
und unbewusste Prozesse des Erinnerns zur An- der Beschäftigung mit dem unbeobachtbaren or-
schauung bringen kann (vgl. dazu Erll 2005). ganischen Gedächtnis waren notwendigerweise
Das Spektrum der Gedächtnisthematiken, die immer sprachliche Bilder im Spiel: das Gedächt-
durch literarische Werke inszeniert werden, ist nis als Wachstafel (Platon), als Siegel (Aristoteles)
nahezu grenzenlos. Und so fächert sich auch die oder als Wunderblock (Freud). Seit der Antike
Forschung zum ›Gedächtnis in der Literatur‹ in diente dabei die jeweils vorherrschende Medien-
eine kaum mehr überschaubare Fülle von Beiträ- technologie zur Bildung von Gedächtnismeta-
gen zu verschiedenen Ereignissen, Epochen und phern (von der Schrift über die Fotografie bis
Kulturräumen, Gattungen und Autoren auf. hin zum Computer). Die Literaturwissenschaft
Zahlreiche Studien widmen sich bestimmten, be- hat insbesondere zur Systematisierung der – vor-
sonders ›erinnerungsträchtigen‹ Autoren, wie nehmlich philosophischen – Gedächtnismeta-
etwa Marcel Proust, W. G. Sebald, Toni Morrison, phorik beigetragen (vgl. Butzer in: Erll/Nünning
Günter Grass oder Uwe Timm. Die Erinnerung 2005; zur Metaphorik des Vergessens vgl. Wein-
an traumatische historische Erfahrungen – wie rich 1997). Das Verhältnis von ›Metapher und
Krieg, Vertreibung und Völkermord – hat sich als Gedächtnis‹ kann jedoch auch aus einer etwas
ein zentrales literaturwissenschaftliches For- anderen Perspektive beleuchtet werden, etwa in-
schungsthema und als eine Art Prüfstein für die dem man fragt, wie und warum Metaphern als
Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen lite- wirkmächtige Sprachbilder unsere Vorstellungen
rarischer Vergangenheitsrepräsentation erwie- vom Sinn und Gang der Geschichte oder von
sen. In diesem Zusammenhang werden Darstel- ganz spezifischen historischen Erfahrungen prä-
lungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, des gen. Diese Frage markiert jedoch bereits den
Spanischen Bürgerkriegs und vor allem des Ho- Übergang von der literarischen Repräsentation
locaust, zunehmend auch in komparatistischer zur Konstruktion und Prägung des Gedächtnis-
Perspektive, untersucht. Wie die anderen Diszi- ses bzw. vom ›Gedächtnis in der Literatur‹ zu der
plinen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- im folgenden Abschnitt zu erörternden Wirkung
forschung widmet sich auch die Literaturwissen- von ›Literatur als Medium des Gedächtnisses‹.
schaft dabei neuerdings verstärkt der Transnatio-
nalisierung von Erinnerung, zumeist am Beispiel
der ›globalen Erinnerungsorte‹ Holocaust und
Zweiter Weltkrieg. Zu den weiteren Themen, die
sich im gesellschaftlichen Gedächtnis-Diskurs
durch ihre aktuelle Brisanz auszeichnen und auf
296 IV. Forschungsgebiete

Literatur und die Medialität des oder religiöse Identität stiften sowie kollektiv ge-
Gedächtnisses: Intermedialitätsforschung teilte Werte und Normen vermitteln. Anders als
und medienkulturwissenschaftliche in der literaturwissenschaftlichen Kanonfor-
Perspektiven schung (s. o. Kap. »Das Gedächtnis der Literatur
II«) geht es in dieser Perspektive also nicht so
Sowohl die sich in der kulturwissenschaftlichen sehr um die Prozesse der Kanonisierung, son-
Gedächtnisforschung allgemein durchsetzende dern um die möglichen Funktionalisierungen
Einsicht in die »konstitutionelle Medialität des von kanonisierter Literatur durch die Leserschaft.
Gedächtnisses« (V. Borsò) als auch die in der Li- Allerdings ist zu betonen, dass nicht nur Werke
teraturwissenschaft immer stärker werdende der Hochliteratur, sondern auch Texte der Popu-
Tendenz, Literatur als Bestandteil der Medien- lärliteratur Einfluss auf die Erinnerungskultur
kultur zu betrachten, haben für die literaturwis- nehmen. Als ›kollektive Texte‹ vermögen popu-
senschaftliche Gedächtnisforschung wichtige läre Vergangenheitsfiktionen (wie etwa Erich
Konsequenzen: Literatur wird heute als ein Me- Maria Remarques Im Westen Nichts Neues oder
dium sowohl des individuellen als auch des kol- Margaret Mitchells Vom Winde verweht) Ge-
lektiven Gedächtnisses begriffen. Gerade der In- schichtsbilder nachhaltig zu prägen.
termedialität als einem wirksamen Verfahren Wie literarische Erzähltexte als Medien des
kulturellen Erinnerns misst die Literaturwissen- kollektiven Gedächtnisses operieren, kann in An-
schaft dabei große Bedeutung zu. Das Interesse lehnung an Paul Ricœurs ›Kreis der Mimesis‹ ge-
gilt dem Zusammenspiel und den Übergängen zeigt werden: Auf der Ebene der ›Konfiguration‹
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder erzeugt Literatur narrative Gedächtnis-Fiktio-
zwischen Text und Bild (Dickhaut in: Erll/Nün- nen. Aber auch das Vorher und Nachher des lite-
ning 2005). Einhergehend mit dem performative rarischen Textes ist mit erinnerungskulturellen
turn in den Kulturwissenschaften wird neben in- Prozessen verknüpft, denn literarische Werke
ter/medialen Prozessen verstärkt auch die Perfor- sind stets erinnerungskulturell ›präfiguriert‹ (d. h.
mativität der Erinnerung, die Zentralität des kon- durch Erinnerungskulturen bereits vor-geformt),
kreten, transistorischen Erinnerungsvollzugs, und erst bestimmte kollektive ›Refigurationen‹
hervorgehoben. (oder Lesarten) machen einen literarischen Text
Literatur ist ein Medium, das kulturelle Erin- zum ›kollektiven‹ Text (vgl. Erll 2005).
nerung maßgeblich mitprägt. Die Entstehungs- Literarische Werke sind nicht nur an der Pro-
bedingungen, Formen und Wirkungsweisen sol- duktion kultureller Erinnerung beteiligt; sie ver-
cher ›gedächtnisbildender‹ Literatur stellen einen mögen überdies unsere individuellsten Erinne-
für die heutige Diskussion ebenso wichtigen wie rungen zu prägen. Gerade durch die Erzeugung,
noch viel zu stark unterbelichteten Untersu- Tradierung und Verbreitung kultureller Plots
chungsbereich dar. Gerade mit tiefergehenden dient Literatur als eine Art cadre médial de la mé-
Einsichten in die gedächtnismediale Kraft der Li- moire – als ›medialer Rahmen des Gedächtnisses‹
teratur ist jedoch die Anschlussfähigkeit litera- (der analog zu Halbwachs’ einflussreicher Idee
turwissenschaftlicher Studien an die kulturwis- von der sozialen Gerahmtheit des Gedächtnisses
senschaftliche Gedächtnisforschung und die zu denken ist). Literatur kann die Erinnerung an
Möglichkeit zum interdisziplinären Dialog, etwa Lebenserfahrung vorprägen oder nachträglich
mit den Geschichts- und Sozialwissenschaften überformen. Dies wurde im Rahmen der Oral
oder der Psychologie, verknüpft. History und Tradierungsforschung wiederholt
Darauf, dass Literatur als Gedächtnismedium gezeigt, etwa von Harald Welzer, den die Lebens-
wirkt, verweist Aleida Assmanns (1995) Konzept geschichten der von ihm interviewten Kriegsve-
der ›kulturellen Texte‹ – verbindliche, kanoni- teranen deutlich an bestimmte Kriegs-Filme und
sierte Texte, wie die Bibel, Homers Epen oder -Romane erinnerten. Wie grundlegend Literatur
Shakespeares Dramen, die kulturelle, nationale und Gedächtnis zusammenwirken, verdeutlicht
4. Literaturwissenschaft 297

das Konzept der narrativen Schemata, das von befindet sich die Literaturwissenschaft in einer
Frederic C. Bartlett (in: Remembering, 1932) po- Konvergenzzone, in der ein intensiver Dialog mit
pularisiert wurde. Der Psychologe konnte in ei- psychologischer, sozial- und geschichtswissen-
nem Experiment zeigen, dass Probanden eine schaftlicher Forschung sowie verschiedenen me-
fremdkulturelle Geschichte nach Maßgabe eigen- dienwissenschaftlichen Ansätzen nicht nur eine
kultureller literarischer Schemata (und damit interessante Möglichkeit darstellt, sondern zu
verzerrt) wiedergeben. Unsere Erinnerung an den fundamentalen Voraussetzungen gehört.
Geschichte und Geschichten, aber auch an ganz Wichtige Konzepte für ein Verständnis von Ge-
persönliche Erlebnisse wird durch solche Erzähl- dächtnismedialität sind beispielsweise im Rah-
schemata in bestimmte Bahnen gelenkt. Die Be- men der Film studies entwickelt worden. Mit dem
deutung von kulturellen Plots, narrativen Sche- Begriff der prosthetic memory beschreibt Alison
mata, aber auch von Metaphorik für individuelles Landsberg (2004) die ›Erinnerungsübertragung‹
Erinnern zeigt, dass wir es mit einer inhärenten des Films, d. h. die Möglichkeit, über dieses Me-
›Literarizität des Gedächtnisses‹ zu tun haben. Es dium, das durch ästhetische Verfahren Empathie
gehört zu den zukünftigen Aufgaben der Litera- erzeugt, fremde Vergangenheit nachzuerleben.
turwissenschaft, in der interdisziplinären Kolla- Mit Blick auf das Medium Fotografie hat Mari-
boration mit Psychologie und Neurowissenschaf- anne Hirsch (1997) das Konzept des postmemory
ten zu erforschen, wie Literatur im weitesten eingeführt. Damit beschreibt sie die transgenera-
Sinne (mündlich erzählte Geschichten, Romane, tionelle Übertragung von Erinnerung durch Fo-
Spielfilme) das organische Gedächtnis prägt. tos und Narrationen. Solche und andere Kon-
Die dringendste methodische Herausforde- zepte setzen bei den Kernfragen medienkultur-
rung für eine Literaturwissenschaft, die verstehen wissenschaftlicher Gedächtnisforschung an:
will, wie Literatur soziale Erinnerung mitformt, Fragen etwa nach den Scharnieren zwischen me-
liegt auf dem Gebiet der Rezeptions- bzw. Wir- dialer und organischer Erinnerung, nach der Au-
kungsforschung. Wie kann bestimmt werden, ob thentizität medialer Vergangenheitsrepräsenta-
ein literarisches Werk, ein Drama oder ein Spiel- tion sowie nach der Bedeutung von ästhetischen
film tatsächlich die in einer Gesellschaft kur- und narrativen Verfahren im erinnerungskultu-
sierenden Vorstellungen von Vergangenheit rellen Prozess.
beeinflusst? Eine mögliche Vorgehensweise, die Mit dem neueren Konzept der ›Remediation‹
der Rekonstruktion ›plurimedialer Netzwerke‹, schließlich wird die Tradition der literaturwis-
wurde in der Auseinandersetzung mit dem aktu- senschaftlichen Forschung zu ›Intertextualität
ellen Erinnerungsfilm erprobt (Erll/Wodianka als Gedächtnis‹ konsequent medienkulturwis-
2008). Spielfilme können beträchtliche Wirkung senschaftlich gewendet. Remediation ist eine Art
im gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs entfal- diachroner Intermedialität, die Übersetzung
ten. Das zeigt sich nicht zuletzt an neueren deut- oder ›Transkription‹ (L. Jäger) von Erinnerungs-
schen Produktionen, wie Das Leben der Anderen gegenständen von einem Medium in das nächste.
und Der Untergang. Der ›plurimediale Ansatz‹ Zu erinnernde Ereignisse wie Kriege oder Ter-
geht davon aus, dass filmische Repräsentationen roranschläge etwa werden üblicherweise von
der Vergangenheit erst durch ihre Einbettung Augenzeugenberichten und Fotografien in Zei-
in ein komplexes mediensystemisches Netzwerk tungsartikel und von dort aus in Geschichts-
zu Erinnerungsfilmen gemacht werden – durch werke, Romane und Spielfilme übersetzt. Ann
Marketing-Aktionen, Rezensionen, das ›Buch Rigney (2005) argumentiert, dass erst eine
zum Film‹ (und seiner Zensur), öffentliche De- solche intermediale Dynamik einen Erinne-
batten, TV-Sondersendungen, wissenschaftliche rungsort lebendig erhält. Untersuchungen zur
Diskussionen oder didaktische Handreichungen. Remediation als einer Form kultureller Erinne-
Bei der Erforschung des Zusammenhangs von rung stellen Fragen nach der Medienspezifik von
Literatur und der Medialität des Gedächtnisses Erinnerung und nach den Spuren, die vorgän-
298 IV. Forschungsgebiete

gige Medien in neuen Repräsentationen hinter- Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und latei-
lassen. nisches Mittelalter [1948]. Tübingen/Basel 111993.
D’haen, Theo (Hg.): Literature as Cultural Memory. 8
Auch wenn es schwierig ist, Aussagen über die Bde. Amsterdam/Atlanta 2000.
allgemeineren Tendenzen der literaturwissen- Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskul-
schaftlichen Gedächtnisforschung zu treffen turen. Stuttgart/Weimar 2005.
(und die interessantesten Beiträge werden wohl – /Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Li-
stets diejenigen sein, die sich außerhalb solcher teraturwissenschaft (unter Mitarbeit von Hanne Birk
erkennbaren Tendenzen bewegen), scheinen und Birgit Neumann). Berlin/New York 2005 (= Me-
dia and Cultural Memory/Medien und kulturelle Er-
doch zwei aktuelle Entwicklungen besonders be-
innerung 2).
deutsam: (1) eine immer stärker werdende inter- – /Wodianka, Stephanie (Hg.): Plurimediale Konstella-
disziplinäre Öffnung der literaturwissenschaftli- tionen: Film und kulturelle Erinnerung. Berlin/New
chen Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung York 2008 (= Media and Cultural Memory/Medien
und der sich daraus ergebende, fruchtbare me- und kulturelle Erinnerung 9).
thodische Synkretismus; (2) eine Erweiterung Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Ge-
dächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur
und Dynamisierung des Gegenstandsbereichs –
Mnemotechnik. Frankfurt a. M. 1991.
vom statischen Text zur dynamischen Perfor- Hirsch, Marianne: Family Frames. Photography, Narra-
mance, von literarischen Gedächtnisprodukten tive, and Postmemory. Cambridge, Mass. 1997.
zu plurimedialen Erinnerungsprozessen, von der Huyssen, Andreas: Twilight Memories: Marking Time in
Nationalliteratur zu interkulturellen und trans- a Culture of Amnesia. New York 1995.
nationalen Formationen und von der Fokussie- Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertex-
rung auf Erinnerungsliteratur im engeren Sinne tualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.
1990.
hin zur gedächtnisprägenden Rolle des Literari- Landsberg, Alison: Prosthetic Memory: The Transfor-
schen im weitesten Sinne. mation of American Remembrance in the Age of Mass
Culture. New York 2004.
Literatur Felman, Shoshana/Laub, Dori: Testimony. Crises of Wit-
nessing in Literature, Pychoanalysis and History. New
Assmann, Aleida: Was sind kulturelle Texte? In: An-
York 1992.
dreas Poltermann (Hg.): Literaturkanon – Mediener-
Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historio-
eignis – kultureller Text. Formen interkultureller
graphischer Metafiktion. 2 Bde. Trier 1995.
Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995, 232–
Rigney, Ann: Plenitude, Scarcity and the Circulation of
244.
Cultural Memory. In: Journal of European Studies 35.
–: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul-
Jg., 1 (2005), 11–28.
turellen Gedächtnisses [1999]. München 42009.
Weinberg, Manfred: Das »unendliche Thema«. Erinne-
Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hg.): Ars memo-
rung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübin-
rativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Ge-
gen 2006.
dächtniskunst 1400–1750. Tübingen 1993.
Weinrich, Harald: »Lethe«: Kunst und Kritik des Verges-
Bloom, Harold: The Anxiety of Influence. A Theory of
sens. München 1997.
Poetry. New York 1973.
Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik
Carruthers, Mary: »The Book of Memory.« A Study of
von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin 62001 (engl.
Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990.
1966).
Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narra-
Astrid Erll
tive, and History. Baltimore/London 1996.
299

5. Biographieforschung Walter Jens sowie die verfügbaren biographi-


schen Fakten – Einstellung und Verhalten des
Schülers und Studenten Walter Jens zum Natio-
Prominente Erinnerungslücken oder:
nalsozialismus, in deren Licht zumindest ein ak-
Zur Relevanz des Gedächtnisdiskurses
tives Bemühen um den Beitritt in die NSDAP
»Was wusste Walter Jens?«, fragten Journalisten mehr als unwahrscheinlich erschien. Ein histori-
und Historiker, als im November 2003 Doku- sches Gutachten analysierte dagegen die dama-
mente bekannt wurden, wonach der Tübinger Li- lige Aufnahmepraxis und kam zu dem Ergebnis,
teraturwissenschaftler 1942 in die NSDAP aufge- es sei nicht möglich gewesen, unwissend in die
nommen worden war. Weniger die Tatsache NSDAP aufgenommen worden zu sein. Kollek-
selbst erregte die Gemüter als vielmehr das hart- tive Aufnahmeverfahren wie die Überführung
näckige Beharren des so Beschuldigten darauf, er ganzer HJ-Jahrgänge in die Partei – eine Mög-
habe von diesem Beitritt nichts gewusst. War dies lichkeit, die in diesem Zusammenhang erwogen
nun eine bewusste Lüge, notwendige Konsequenz worden war – seien nicht nachweisbar und müss-
jahrzehntelangen Verschweigens, auf das sich ten als »Entlastungsstrategien« der Betroffenen
nicht nur die damals jungen Mitläufer wortlos bewertet werden.
verständigt hatten? Oder war das von Jens be- Als 2007 weitere Mitgliedskarteikarten auf-
hauptete Nichtwissen subjektiv vielleicht sogar tauchten, die nunmehr auch Martin Walser, Sieg-
zutreffend, Resultat erfolgreichen Verdrängens fried Lenz, Dieter Hildebrandt und Dieter Wel-
eines mit späteren Wertorientierungen nicht zu lershoff der bisher verschwiegenen NSDAP-Mit-
vereinbarenden Fehltritts? Oder handelte es sich gliedschaft »überführten«, wurde auch der Fall
um das schlichte Vergessen eines im späteren Walter Jens erneut aufgerollt. Denn wie Jens be-
Umfeld nicht kommunizierbaren Faktums, eine stritten auch die vier anderen vehement, von ih-
Erinnerung, die durch jahrzehntelanges Nicht- rer Parteimitgliedschaft gewusst zu haben. Tat-
Abrufen dem Gedächtnis nicht mehr zur Verfü- sächlich erwies sich die Aktenüberlieferung bei
gung stand? Oder konnte Walter Jens sich nicht kritischer Prüfung als höchst lückenhaft: In kei-
erinnern, weil das Ganze tatsächlich ohne sein nem der Fälle liegen Aufnahmeanträge vor oder
Wissen und Zutun geschehen war? Er sei Mit- ist die Aushändigung eines Parteibuchs belegt.
glied der Hitlerjugend und später des NS-Studen- Und auch die Mitgliedskarten weisen Besonder-
tenbundes gewesen, das hatte Jens stets freimütig heiten auf – vor allem das Fehlen von Unter-
bekannt; und vielleicht habe er auch »irgendei- schriften und Adressen –, die durchaus für die
nen Wisch unterschrieben«, dessen Bedeutung Aufnahme ohne eigene Kenntnis bzw. Initiative
ihm damals gar nicht klar gewesen sei, räumte er sprechen könnten.
im Licht der neuen Faktenlage ein. Zu einem be- Vergessen, Verdrängen, Lüge oder eine un-
wussten Beitritt in die NSDAP habe er jedoch wahrscheinliche, aber zutreffende Erinnerung
keine »Erinnerungsbilder«. bzw. Nicht-Erinnerung – all das sind Fragen, die
Während einige in der nunmehr offenbar ge- die Biographieforschung in ihrem Kern treffen.
wordenen NSDAP-Mitgliedschaft den Schlüssel Eine Forschung, die sich mit Lebenserinnerun-
zum Verständnis späterer Äußerungen, ja sogar gen beschäftigt, ist in hohem Maße mit den Un-
der Demenzerkrankung von Jens sahen, verwie- tiefen des Gedächtnisses und den Fallstricken des
sen andere – wie Günter Grass – auf die Lebens- Erinnerns konfrontiert. Die Vergewisserung über
leistung, die man nicht mit Enthüllungen über die Konstitutionsbedingungen ihrer Quellen
eine vergessene oder verschwiegene NSDAP-Mit- nimmt deshalb in den methodischen Debatten
gliedschaft zudecken könne. Auch die Histori- der Biographieforschung breiten Raum ein. Und
kerzunft war uneins: Götz Aly z. B. rekonstruierte auch die Kritik an dieser Art Forschung macht
auf der Basis zeitgenössischer Quellen – beleg- sich ganz wesentlich an der offensichtlichen Un-
bare Äußerungen und Veröffentlichungen von zuverlässigkeit biographischer Selbstauskünfte
300 IV. Forschungsgebiete

fest. Das Beispiel zeigt aber zugleich, dass der his- Interview im Rahmen des Forschungsprozesses
torischen Wahrheit, dem, »wie es damals gewe- eigens erhobenen Lebensgeschichte, kommen
sen ist«, auch mit anderen Quellen nicht immer auch vorgefundene Texte, sogenannte Ego-Do-
beizukommen ist. Und schließlich vermittelt es kumente, in Frage, etwa für den familiären Ge-
eine Ahnung davon, dass beides, individuelles brauch geschriebene Lebenserinnerungen, Tage-
Erinnern und historische Überlieferung, in sozi- bücher oder Briefsammlungen. Dass letztere sich
ale Prozesse eingebettet ist. auf bestimmte Abschnitte des Lebens beschrän-
ken, ist kein Ausschlusskriterium. Wichtig ist je-
doch, dass die Beschreibungen »aus dem Blick-
Was ist Biographieforschung?
winkel desjenigen [stammen], der sein Leben
Erste Antworten und Probleme
lebt«, weswegen man genauer von autobiographi-
»Unter biographischer Forschung werden alle schen Daten bzw. Texten sprechen müsste, wenn
Forschungsansätze und -wege in den Sozialwis- es um die Grundlage biographischer Forschung
senschaften verstanden, die als Datengrundlage geht – während die begrifflich naheliegende his-
(oder als Daten neben anderen) Lebensgeschich- torische Biographik als geschichtswissenschaftli-
ten haben, also Darstellungen der Lebensführung che Darstellungsform nicht zur Biographiefor-
und der Lebenserfahrung aus dem Blickwinkel schung gehört.
desjenigen, der sein Leben lebt« (Fuchs-Heinritz Und schließlich ist der Begriff der Biographie
2005, 9). Diese Definition aus einer 1984 erstmals selbst doppeldeutig. Zusammengesetzt aus den
erschienen Einführung in Praxis und Methoden griechischen Wörtern bios für ›Leben‹ und gra-
der biographischen Forschung unterstreicht die phein für ›Schreiben‹, meint der Begriff im wört-
große Bedeutung der Quellen für die Biographie- lichen Sinn die Lebensbeschreibung, eben die
forschung. Sie macht somit aber auch darauf auf- »Darstellung der Lebensführung und Lebenser-
merksam, dass eine andere Bestimmung schwer- fahrung«. Zugleich bezeichnet der Begriff aber
fällt. Biographieforschung ist nicht einer Wissen- auch das gelebte Leben selbst. Die gleiche Dop-
schaft zuzurechnen oder durch spezifische peldeutigkeit schwingt in dem deutschen Begriff
Methoden eindeutig abzugrenzen. Vielmehr ›Lebensgeschichte‹ und in dem englischen life
zeichnet sich Biographieforschung durch eine story mit. Für die Biographieforschung ist dieser
beinahe unübersichtliche Vielfalt aus, deren Ge- Doppelcharakter ihres Gegenstands ein zentrales
meinsamkeit in der Tat noch am ehesten im Cha- Thema, das zumeist als Problem der Retrospek-
rakter der zur Auswertung gelangenden Daten tive diskutiert wird: Wenn Biographien oder Le-
besteht. Nahezu in allen Humanwissenschaften bensgeschichten immer erinnernde Rekonstruk-
wird inzwischen biographische Forschung betrie- tionen der Vergangenheit aus der Gegenwart
ben, namentlich in der Soziologie und Pädago- sind, können sie dann überhaupt Informationen
gik, in der Volkskunde und Ethnologie, in der über vergangene Lebensführung und Lebensauf-
Geschichtswissenschaft und Literaturwissen- fassung liefern? Oder lassen sich auf ihrer Grund-
schaft, in Psychoanalyse und Psychologie. Dabei lage nur Aussagen über heutige Deutungsmuster
haben die verschiedenen Disziplinen teils ge- und Orientierungen treffen?
meinsame, aber doch auch unterschiedliche Fra-
gestellungen und Begriffe, Methoden und For-
Von der (Wieder-)Entdeckung bis zur
schungsstrategien entwickelt – nicht selten sogar
Etablierung biographischer Forschung
innerhalb einer Disziplin.
in Deutschland
Dass auch die Datengrundlage vielfältig ist,
lässt die umständliche Formulierung von den Die Entdeckung, teils Wiederentdeckung biogra-
»Darstellungen der Lebensführung […]« erah- phischer Forschungsmethoden setzte in der Bun-
nen. Neben der in der Biographieforschung in- desrepublik in den frühen 1970er Jahren ein und
zwischen bevorzugten Datengrundlage, der als ging einher mit einer Renaissance qualitativer
5. Biographieforschung 301

Forschungsverfahren insgesamt. Auffallend ist, sche Erstausgabe 1925) und Das kollektive Ge-
dass diese Entwicklung zeitgleich in verschiede- dächtnis 1967 (französische Erstausgabe posthum
nen Disziplinen zu beobachten war, die dabei an 1950). Halbwachs war der erste, der umfassend
je eigene Theorie- und Forschungstraditionen die Prägung des menschlichen Gedächtnisses
anschlossen, und dass dies im Austausch mit an- durch gesellschaftliche Interaktion untersuchte
deren Ländern stattfand, wo sich zeitgleich ähnli- und die These formulierte, dass gesellschaftliche
che Entwicklungen vollzogen. In einzelnen Diszi- Gruppen ihre je eigene Erinnerung pflegen und
plinen gab es schon frühere Ansätze zu einer bio- untereinander kommunizieren. Mit dem Begriff
graphischen Forschung, etwa in der Psychologie des ›kollektiven Gedächtnisses‹ fasste er die Insti-
in den 1950er Jahren durch Hans Thomae, die al- tutionalisierung der Überlieferung in sozialen
lerdings keine breite Wirkung entfalteten. Organisationen und die durch Interaktionen ge-
Gemeinsam war all diesen Strömungen die Be- stützte Rekonstruktionsbedürftigkeit aller Erin-
tonung des Subjektiven bzw. des Individuums im nerung. Für die Begründung der Biographiefor-
Verhältnis zur Gesellschaft. Eine wichtige Rolle schung von weitreichender Bedeutung war das
spielte die Auseinandersetzung mit der von laut Halbwachs reziproke Verhältnis zwischen
Alfred Schütz (s. Kap. IV.3) begründeten phäno- kollektivem und individuellem Gedächtnis. Kol-
menologischen Sozialphilosophie, wonach das lektive Gedächtnisse konstituieren sich durch In-
konstitutive Merkmal soziologischer Forschung teraktion von Individuen und beeinflussen ihrer-
darin besteht, dass sie es immer mit bereits inter- seits die Bildung individueller Gedächtnisse. Kol-
pretierter Realität zu tun hat, und zwar interpre- lektive und individuelle Erinnerung sind
tiert durch diejenigen, die als handelnde Perso- praktisch nicht voneinander zu trennen. Halb-
nen selbst Teil der untersuchten Realität sind. wachs formulierte dies so: »Es genügt in der Tat
Soziologische Forschung muss demnach die sub- nicht zu zeigen, daß die Individuen immer gesell-
jektiven Interpretationen der in einem Hand- schaftliche Bezugsrahmen verwenden, wenn sie
lungsfeld agierenden Personen in ihre Analysen sich erinnern. […] Man kann ebensogut sagen,
einbeziehen. Dass biographische Selbstauskünfte daß das Individuum sich erinnert, indem es sich
das dazu geeignete Datenmaterial bieten, davon auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß
waren schon der Chicagoer Soziologe Isaac Tho- das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und
mas und sein polnischer Kollege Florian Znanie- offenbart in den individuellen Gedächtnissen«
cke überzeugt. In ihrer Studie The Polish Peasant (Halbwachs 1967/1991, 23).
in Europe and America (1918–1920), die als Be- Was die Einbeziehung von Subjektivität in so-
ginn der biographischen Methode in der Soziolo- ziologische Untersuchungen meint, hat Martin
gie gilt, vertreten sie die Auffassung, »daß per- Kohli in der Einleitung der 1978 von ihm heraus-
sönliche Lebensberichte […] den perfekten Typ gegebenen Soziologie des Lebenslaufs formuliert:
von soziologischem Material darstellen« (zitiert die Wahrnehmung der eigenen Sinnstrukturen
nach Fuchs-Heinritz 2005, 90), weil nur durch der untersuchten Subjekte, die Wahrnehmung in-
die Berücksichtigung der subjektiven Perspekti- dividueller Besonderheiten in den Lebensverhält-
ven von Menschen und Gruppen soziale Prozesse nissen als kritisches Potential gegenüber verallge-
erklärt werden könnten. meinernden Abstraktionen zur Kennzeichnung
Für die Frage, wie persönliche Lebensberichte, sozialer Lagen und die Wahrnehmung individu-
individuelle Erinnerungen, mit sozialen Prozes- eller Handlungsbeiträge der Subjekte. Denn »ge-
sen zusammenhängen, war die Rezeption der genüber den verbreiteten Spielballmodellen wird
Arbeiten von Maurice Halbwachs (s. Kap. IV.3) in handlungstheoretischer Sicht daran festgehal-
aus den 1920er Jahren richtungweisend. In den ten, dass das Subjekt selber aktiv an der Gestal-
1960er Jahren waren seine wichtigsten Werke tung seiner Lebensverhältnisse beteiligt ist«
auch auf Deutsch erschienen: Das Gedächtnis (Kohli 1978, 24).
und seine sozialen Bedingungen 1966 (französi- Dass hier zunehmender Zweifel an umfassen-
302 IV. Forschungsgebiete

den Erklärungsansprüchen großer Theorieent- schichtsschreibung eine lange Tradition; und


würfe eine Rolle spielte, sprachen auch Dieter auch in der Soziologie wurden biographische Zu-
Baacke und Theodor Schulze in der Einleitung gänge genutzt, jedoch lediglich als explorative
ihres 1979 erschienen Readers Aus Geschichten Vorstudie oder fallbezogene Unterfütterung
lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens quantitativer Untersuchungen. Demgegenüber
an mit der »Einsicht, die gerade um Reform be- entwickelte die Biographieforschung zunehmend
mühte Pädagogen, gerade Anhänger der Kriti- den Anspruch, nicht nur eine Methode unter an-
schen Theorie, Vertreter der Studentenbewegung deren, sondern ein eigenständiges Forschungs-
machen mußten, daß eine umfassende gesell- konzept oder sogar eine neue Perspektive einzu-
schaftskritische Programmatik fehlgeht, wenn sie bringen, indem sie die Wirkungsmacht individu-
nicht den Anschluß im Subjekt sucht. […] Die ellen Handelns gegenüber der determinierenden
gesellschaftlichen Bedingungen«, so ihre Schluss- Kraft struktureller Bedingungen betont. Die rein
folgerung, »finden ihren Counterpart im Detail instrumentelle Nutzung biographischer Materia-
einer Biographie, einer Situation, eines Erlebnis- lien ist der Erforschung des Biographischen als
ses« (Baacke/Schulze 1979, 7). soziale Größe gewichen.
Bei einigen Historikern hörte sich das ganz Die in den 1970er Jahren wohl kaum vermu-
ähnlich an. In kritischer Wendung gegen den tra- tete Anziehungs- und Ausstrahlungskraft von
ditionellen Historismus, dem allein die Herr- ›Biographie‹ als Forschungsgegenstand fällt zu-
schenden als Subjekte gegolten hatten, aber auch sammen mit einer Radikalisierung und Univer-
gegen eine auf Strukturen und Gesetzmäßigkei- salisierung des Individualisierungsprozesses seit
ten orientierte Historische Sozialwissenschaft den 1960er Jahren, wie ihn Ulrich Beck, Anthony
wandte sich eine neu entstehende qualitative So- Giddens und andere ausmachten. Ob dieser Pro-
zialgeschichte dem »Eigensinn der Subjekte und zess nun institutionell abgesicherte Lebensläufe
alltäglichen Erfahrungswelten« zu (Niethammer hervorgebracht hat, die Spielraum für individu-
1985, 427 f.). Parallel entwickelte sich im außer- elle Lebensgestaltung bieten (Institutionalisie-
universitäreren Bereich eine Geschichtsbewe- rung des Lebenslaufs nach Kohli), oder ob Le-
gung, die sich die Erforschung einer ›Geschichte bensläufe zunehmend als kontingent erfahren
von unten‹ auf die Fahnen schrieb, verbunden werden und Biographie die Funktion übernimmt,
mit dem demokratischen Impuls, die von der die auseinanderdriftenden Teilwelten zusam-
herrschenden Geschichtsschreibung notorisch menzuhalten (Biographisierung des Lebenslaufs
Übergangenen in die Geschichte zu holen. Mit nach Fuchs), sei dahingestellt. Entscheidend ist,
seinem 1980 erschienen Band Lebenserfahrung dass beide Varianten wachsende Ansprüche an
und ›kollektives Gedächtnis‹. Die Praxis der Oral biographische Kompetenz beinhalten. ›Biogra-
History machte Lutz Niethammer in Deutschland phie‹ ist gleichsam das Brennglas, in dem sich in-
eine in den USA und Großbritannien bereits dividuelle und gesellschaftliche Prozesse bün-
etablierte Methode der mündlichen Befragung deln, und deshalb als Forschungsgegenstand
von Zeitzeugen bekannt, die zum Synonym die- höchst attraktiv.
ser Art Forschung wurde. Die historische Biogra- Was zu Beginn als Modetrend beargwöhnt
phieforschung firmiert bis heute zumeist unter wurde, etablierte und institutionalisierte sich in-
der Bezeichnung ›Oral History‹. nerhalb weniger Jahre. Eine Entwicklung, die hier
Dass somit die Methode der Produktion nur in Schlaglichtern angedeutet werden kann:
mündlicher Quellen zum Kennzeichen der For- 1978 konstituierte sich auf der Jahrestagung der
schung wurde, geht am deutlich weiter gesteckten Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen-
Anspruch der Biographieforschung sowohl in der schaft (DGfE) eine Arbeitsgruppe zur wissen-
Geschichtswissenschaft wie auch in anderen Dis- schaftlichen Erschließung autobiographischer
ziplinen vorbei. So hat die Nutzung mündlicher und literarischer Quellen für pädagogische Er-
Erinnerungszeugnisse als Quelle für die Ge- kenntnis (vgl. Baacke/Schulze 1979), aus der die
5. Biographieforschung 303

heutige Kommission Qualitative Bildungs- und Methode »Zur Hervorlockung und Analyse von
Biographieforschung in der DGfE hervorgegan- Erzählungen thematisch relevanter Geschichten
gen ist. In der Deutschen Gesellschaft für Sozio- im Rahmen soziologischer Feldforschung« durch
logie wurde 1979 die Arbeitsgruppe Biographie- Fritz Schütze, der 1976 einen Aufsatz unter
forschung gegründet, die 1986 den Status einer diesem Titel veröffentlichte. Das von Schütze vor-
Sektion erhielt. Für die Geschichtswissenschaft geschlagene Interviewverfahren geht von der
entstand mit dem 1992 von Alexander von Plato Grundannahme aus, dass die Erzählung dem Ab-
an der Fernuniversität Hagen gegründeten Insti- lauf vergangener Ereignisse mit gewisser Not-
tut für Geschichte und Biographie ein Zentrum wendigkeit folgt, Erzählungen also die geeignete
biographischer Forschung. Schon Mitte der sprachliche Form sind, vergangene Wirklichkeit
1980er Jahre verfolgten über fünfzig Forschungs- zu vergegenwärtigen – während die Sprachmodi
projekte in der Bundesrepublik biographische des Berichts und der Argumentation eine größere
Ansätze. 1984 erschien ein erstes Lehrbuch bio- Distanz zum Gegenstand aufweisen. Begründet
graphischer Forschung (Fuchs-Heinritz 2005). wird diese Annahme mit der Tatsache, dass Er-
Seit 1989 erscheint mit zwei Heften pro Jahr die zählungen einem festen Schema folgen, angefan-
interdisziplinäre Zeitschrift BIOS, gegründet als gen von der Vorstellung der Ausgangssituation
Zeitschrift für Biographieforschung und Oral His- und der handelnden Personen über die Darstel-
tory, 2002 erweitert um den Bereich Lebensver- lung des Geschehens in seinem Verlauf bis zur
laufsforschung. Auflösung bzw. einer neuen Situationskonstella-
tion. Lässt sich der Befragte auf den Modus des
Erzählens ein, wird er durch das Erzählschema
Methoden zur Generierung biographischer
selbst dazu gebracht, damaliges Geschehen und
Erinnerungen
seine Beteiligung daran so darzustellen, wie sie
Biographische Quellen haben ohne Zweifel ihren gewesen sind. Vor allem die von Schütze identifi-
ganz besonderen Charme. Ob sie aber als Daten- zierten Zugzwänge des Erzählens – der Zug-
grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis taugen, zwang der Gestaltschließung, der Zugzwang der
ist immer wieder bezweifelt worden. Weder die Kondensierung und der Zugzwang der Detaillie-
Soziologie noch die Geschichtswissenschaft oder rung – sollen dazu führen, dass der Erzähler die
die Pädagogik sind am individuellen Einzelfall als Dinge so erzählt, wie sie sich zugetragen haben.
solchem interessiert. Das Individuum ist insofern Die Interviewführung ist deshalb darauf aus-
von Belang, als es Träger von etwas Allgemeinem gerichtet, unvorbereitete Stegreiferzählungen von
ist. Die persönliche Färbung biographischen Er- Geschehensverläufen hervorzulocken, an denen
innerns kann man sich dabei durchaus als stö- der Erzähler aktiv oder passiv beteiligt war. Dafür
rend vorstellen. »Das autobiographische Indivi- wird der Interviewte gebeten, ausführlich und
duum ist in der Regel nicht darauf eingestellt, be- nach eigenen Relevanzkriterien seine Lebensge-
stimmte soziale Gegebenheiten und Verhältnisse schichte zu erzählen, während der Interviewer in
sachgemäß zu beschreiben. […] Vieles von dem, dieser Phase möglichst gar nicht interveniert,
was das autobiographische Individuum erinnert, sondern allein durch aufmerksames Zuhören den
scheint nur für es selbst und einen relativ kleinen Interviewten zur Fortsetzung seiner Erzählung
Kreis von Verwandten, Bekannten, Freunden motiviert. Rückfragen des Interviewers sind erst
und Weggenossen bedeutsam, kaum von öffentli- späteren Phasen des Interviews vorbehalten, die
chem Interesse,« beschreibt Theodor Schulze das jedoch wiederum darauf gerichtet sind, den In-
biographische Quellenmaterial (Schulze 1991, terviewten zum Erzählen anzuregen. Die eben-
162 f.). falls von Schütze entwickelte Methode der Narra-
Ein entscheidender Schritt für die Etablierung tionsanalyse – auch als formale Text- und struk-
der Biographieforschung in Deutschland war turelle Inhaltsanalyse bekannt – ist speziell auf
deshalb die Bereitstellung einer eigenständigen nach seinem Verfahren geführte Interviews zuge-
304 IV. Forschungsgebiete

schnitten und soll es ermöglichen, den »wesentli- Vernachlässigung des Interaktionsgeschehens,


chen Ereignisablauf und die grundlegende bio- ein Zugang, der die methodische Debatte lange
graphische Erfahrungsaufschichtung« (Schütze Zeit bestimmt hat. Dazu beigetragen hat auch das
1983, 286) aufzudecken. von Ulrich Oevermann entwickelte und in der
Neben dem narrativen Interview nach Schütze deutschen Biographieforschung breit rezipierte
gibt es weitere Erhebungsverfahren wie Leitfade- Interpretationsverfahren der Objektiven Herme-
ninterviews, thematisch fokussierte Interviews neutik, das Interviews ebenfalls als Texte analy-
oder auch Gruppeninterviews. Nicht selten wer- siert.
den auch Mischformen praktiziert. Gleichwohl
hat sich das narrative Interview als anerkanntes
Mal Illusion, mal Artefakt.
Verfahren der Datenerhebung durchgesetzt. Viel-
Das biographische Interview in der Kritik
leicht ist es sogar das am meisten genutzte Daten-
erhebungsverfahren der qualitativen Sozialwis- Das narrative Interview, bei dem der Befragte
senschaften – auch wenn nicht alle, die vorgeben, möglichst ungehindert seine Lebensgeschichte
narrative Interviews zu führen, dies tatsächlich erzählt, ist immer wieder heftig in die Kritik ge-
tun. raten. Für eine Forschungsrichtung, die sich über
Zwar wurde, wie wir noch sehen werden, die die spezifische Qualität ihrer Daten definiert,
sogenannte Homologie-Annahme Schützes, also keine Kleinigkeit.
die Vorstellung einer Widerspiegelung oder Ent- Eine frühe Kritik stammt von Pierre Bourdieu,
sprechung der Biographie als erzählter Lebensge- der die Lebensgeschichte als ›biographische Illu-
schichte und der Biographie als gelebtes Leben, sion‹ entlarvte – so auch der Titel seines kurzen
äußerst kritisch diskutiert. Wenn auch oft miss- Textes, der 1986 im französischen Original, 1990
verstehend vereinfacht, beinhaltet die Methode in deutscher Übersetzung erschien. Analog der
Schützes gleichwohl vermutlich die idealistischste Aufgabe der linearen Erzählung in der Literatur
Annahme hinsichtlich der Möglichkeit, durch stellt er die Sicht auf das Leben als »Existenz mit
das biographische Interview hindurch zum er- gegebenem Sinn« grundsätzlich infrage. »Man ist
zählten Leben selbst vorzudringen. Dass sich die zweifellos berechtigt zu unterstellen, daß die au-
narrative Form der Interviewführung trotz ihrer tobiographische Erzählung sich immer, mindes-
problematischen erkenntnistheoretischen Vo- tens teilweise, von dem Ziel anregen läßt, Sinn zu
raussetzungen durchsetzen konnte, ist in dem machen, zu begründen, eine gleichzeitig retro-
Vorzug einer relativen Offenheit der Befragung spektive und prospektive Logik zu entwickeln,
begründet. Je mehr Raum dem Interviewten Konsistenz und Konstanz darzustellen, indem sie
überlassen wird, je geringer ist die Gefahr, das In- einsehbare Beziehungen wie die der Folgewir-
terview mit Vorannahmen zu befrachten, die das kung von einem verursachenden oder letzten
Ergebnis präformieren. Dies gilt umso mehr, Grund zwischen aufeinanderfolgenden Zustän-
wenn die Eigenlogik biographischer Konstrukti- den herstellt, die so zu Etappen einer notwendi-
onsprozesse Gegenstand des Interesses ist. gen Entwicklung gemacht werden« (Bourdieu
In der Tradition Schützes wurde das Problem 1990, 76). Mit dieser »artifiziellen Kreation von
des Erinnerns im biographischen Interview vor Sinn« werde der Erzähler zum »Ideologen seines
allem erzähltheoretisch expliziert. Besonders eigenen Lebens«, in seinem Bemühen unterstützt
Stegreiferzählung gelten nach diesem Verständ- durch die »natürliche Komplizenschaft« des zu-
nis als angemessene Form des Erinnerns, weil hörenden Forschers. Im biographischen Inter-
hier der »Erzählstrom mit dem Strom der ehema- view, so nochmals zugespitzt die Kritik Bour-
ligen Erfahrungen im Lebensablauf« parallelisiert dieus, verbindet sich das Interesse des Erzählers
wird. Der erzähltheoretischen Fundierung des an einer sinnhaften Lebensgeschichte mit dem
Erinnerns entspricht die Wahrnehmung und Interesse des Forschers an einer guten Geschichte
Analyse des Interviews als Text bei weitgehender zu der »Konstruktion des perfekten sozialen
5. Biographieforschung 305

Artefakts […], das da ›Lebensgeschichte‹ heißt« Wie Nassehi hebt auch die kritische Analyse
(Bourdieu 1990, 80). Harald Welzers darauf ab, dass das biographische
Auch Armin Nassehi will die Biographiefor- Interview nicht als Quelle dafür zu betrachten sei,
schung mit einem fundamentalen Missverständ- wie etwas gewesen ist, sondern wie etwas von
nis, ihre bevorzugten Quellen, narrative, biogra- heute aus als vergangenes Ereignis wahrgenom-
phische Interviews, betreffend, konfrontieren. men wird (Welzer 2000, 61). Interessant ist weni-
Zwar gehört die Unterscheidung zwischen bio- ger diese weitgehend geteilte Schlussfolgerung als
graphischer Erzählung bzw. Text und dem er- vielmehr die von Welzer eingebrachte gedächt-
zählten Lebensverlauf zum Grundbestand bio- nispsychologische und interaktionstheoretische
graphischer Forschung; Nassehi radikalisiert Perspektive, die die bisher vornehmlich auf die
diese Unterscheidung jedoch mit dem Nachweis narrative und subjektive Qualität der Quellen fo-
der prinzipiellen Unmöglichkeit, über das narra- kussierte methodische Debatte um die Fragen
tive Interview zu dem vorzudringen, ›wie es wirk- nach Erinnerung und Gedächtnis erweitert –
lich war‹. Hatte Bourdieu noch eine mehr oder Fragen, die bis dahin bestenfalls implizit mitdis-
minder intentionale Zurichtung der biographi- kutiert wurden, wiewohl ihre Relevanz evident
schen Erzählung unterstellt, ist die von der Sys- ist. Zum einen zeigt Welzer, dass das biographi-
temtheorie kommende Kritik Nassehis funda- sche Interview in hohem Maße geprägt ist von
mentaler, weil erkenntnistheoretisch begründet. seinem Entstehungszusammenhang, von der In-
Die aus der dekonstruktivistischen Sprachphilo- teraktionsbeziehung zwischen Interviewer und
sophie Jacques Derridas stammende Annahme Interviewtem, den unterstellten und tatsächli-
von der Unüberschreitbarkeit der Grenze zwi- chen Erwartungen und Reaktionen, von der In-
schen Zeichen und Bezeichnetem bezieht Nas- teraktionsgeschichte und anderem mehr. Die Me-
sehi auf das Verhältnis von Biographie und Le- thode des narrativen Interviews nach Schütze
benslauf mit der Folge, dass »der Lebenslauf, also sieht aber genau davon ab und ignoriert so eine
das, was tatsächlich stattgefunden hat, gewisser- der Grundannahmen interaktionistischer Sozial-
maßen die dunkle Seite der Biographie« bleibt psychologie, nämlich »daß man so spricht, wie
und als solche der biographischen Kommunika- man erwartet, daß der andere erwartet, daß man
tion nicht zugänglich ist (Nassehi 1994, 54). Des- sprechen wird« (ebd., 52). Ob es nicht unbescha-
halb, so Nassehi weiter, sind »Gegenstand biogra- det dessen sinnvoll sein kann, das Interview nach
phischer Forschung […] nicht Lebensverläufe, den Regeln Schützes zu führen, sei dahingestellt.
sondern biographische Kommunikationen bzw. Mit Sicherheit weiterführend ist aber der Hin-
deren Resultat: biographische Texte« (ebd., 59). weis, dass die Interpretation beim Interaktions-
Damit nicht genug: Auch von einer »vorgängig geschehen ansetzen muss, wenn sie der Qualität
zu konstatierenden Homologie von Lebenslauf der Daten gerecht werden will. Entsprechend hat
und Biographie auszugehen, wie es die biogra- Welzer, in Abwandlung der Objektiven Herme-
phische Forschung – zumindest in der Schütze- neutik Oevermanns, das Verfahren der herme-
schen Variante – zumeist tut« (Nassehi 1994, 53), neutischen Dialoganalyse entwickelt, das die
weist Nassehi scharf zurück. Biographien be- Aushandlungsprozesse der Interakteure in den
obachten bzw. thematisieren zwar die Vergan- Mittelpunkt stellt. Bei der gängigen Auswertung
genheit eines Lebenslaufs, sie sind aber »keine des Interviews als Text, zumal als Monolog, wie
Reproduktionen von Vergangenem, sondern stets im Fall der Narrationsanalyse gerät das Interview
Neuproduktionen einer operativen Gegenwart« hingegen zum Artefakt.
(ebd.). Ein dieser Quelle angemessenes Erkennt- Auch Ergebnisse der neueren Gedächtnisfor-
nisinteresse ist die Frage, »welche Formen der schung stützen die These, dass Erinnerung in so-
Thematisierung ein biographischer Text in der zialen Bezügen entsteht und nicht als einmal ein-
Erzählgegenwart dafür findet, was dieser thema- gespeichertes Erinnerungsbild abgerufen wird.
tisiert« (ebd., 59). Jeder Abruf von Erinnerungen ist ein komplexer
306 IV. Forschungsgebiete

neuronaler Vorgang, bei dem Erinnerung »an- seiner je eigenen Lebensgeschichte ist, sondern
wendungsbezogen« gestaltet wird (Welzer 2000, das soziale Konstrukt ›Biographie‹, dass es nicht
52, im Org. kursiv). Beunruhigend sind indessen darum gehe, wie das erzählte Leben ›wirklich ge-
weitere von Welzer vorgetragene Befunde, die ge- wesen ist‹, sondern um die Rekonstruktion bio-
eignet sind, jedes Vertrauen in die Leistungsfä- graphischer Konstruktionsprozesse. In der histo-
higkeit des Gedächtnisses zu erschüttern. Eine rischen Biographieforschung entspricht diesem
ganze Reihe von Faktoren – darunter besondere methodischen Bewusstsein die Entwicklung von
emotionale Betroffenheit wie Angst oder Stress – der Oral History zur Erfahrungsgeschichte, der
können schon die Einspeicherung von Erinne- es um »die Verarbeitung früherer Wahrnehmung
rungen beeinträchtigen. Unter Umständen wird als Vorstrukturierung künftiger Wahrnehmung«
dann zwar die emotionale Reaktion stabil erin- geht (Niethammer 1985, 428). Aber auch wenn es
nert, große Unklarheit kann aber über das auslö- im weiten Feld der Biographieforschung zweifel-
sende Ereignis bestehen. Auch Erinnerung kann los Fragestellungen gibt, die mit der Beschrän-
zum Artefakt werden, dann nämlich wenn Ereig- kung ihrer Quellen auf die Gegenwartsperspek-
nisse, die mit visueller Präsenz erinnert werden, tive keine Probleme haben, lässt sich doch in vie-
tatsächlich imaginierte oder aus anderen Zusam- len Fällen die Frage nach dem, ›wie es wirklich
menhängen adaptierte Ereignisse sind – obwohl gewesen ist‹, nicht vollständig suspendieren. In
der Sich-Erinnernde subjektiv überzeugt ist, das diese Richtung geht auch die Feststellung Nas-
fragliche Ereignis selbst erlebt zu haben. Die sehis, »daß die Schützesche Homologie-An-
skeptische Schlussfolgerung Welzers kann kaum nahme zwar selten forschungsmethodologisch
überraschen: Das Zeitzeugeninterview kann le- explizit geteilt wird, forschungspraktisch aber
diglich als Quelle dafür genutzt werden, »wie et- sehr wohl implizit zur Anwendung kommt«
was von heute aus als vergangenes Ereignis wahr- (Nassehi 1994, 49). Allerdings steckt dahinter we-
genommen wird« (ebd., 61). Aber kann sich die niger Nachlässigkeit als einmal mehr der Charak-
Biographieforschung damit begnügen? ter der biographischen Daten selbst, für die die
Zunächst einmal kann man feststellen, dass die Dimension der Zeitlichkeit konstitutiv ist. »Die
Kritik an den Quellen biographischer Forschung für die soziale Konstitution sozialen Sinns unab-
aus gut unterrichteten Kreisen stammt: Bourdieu dingbare Perspektivität gegenüber historischem
hat in einer späteren Untersuchung über die Vor- Geschehen definiert sich nämlich nicht nur aus
orte von Paris intensiv mit biographischen Inter- dem – möglicherweise opportunistischen – Inte-
views gearbeitet. Die Ergebnisse wurden 1993 resse der interagierenden Personen in der Gegen-
unter dem Titel La misère du monde sogar als rei- wart, sondern auch aus dem, was sich in der Ge-
ner Interviewband veröffentlicht. Und auch die genwart an objektiv möglichen neuen Lesarten
anderen beiden Kritiker sind in der Biographie- der Vergangenheit erschließt« (Apitzsch 2003,
forschung erfahren: Armin Nassehi mit einem 99). Und auch die Erfahrungsgeschichte stößt
Projekt zur Emigration der Siebenbürger Sach- schnell an die Grenzen der Gegenwärtigkeit, geht
sen, Harald Welzer mit einer Untersuchung zur es doch zumeist gerade um frühere Wertorientie-
familiären Tradierung von Erinnerungen an den rungen und deren Wirkungsmacht in der Ge-
Nationalsozialismus. Die hier vorgetragene Kri- schichte.
tik ließe sich also durchaus als Ausweis des hohen Ob Walter Jens Mitglied der NSDAP war oder
Niveaus der methodischen Debatte innerhalb der nicht, lässt sich nicht einfach als belanglos abtun.
Biographieforschung interpretieren. Die Antwort, wenn wir sie denn wüssten, hätte
Tatsächlich besteht ein entwickeltes Bewusst- Auswirkungen sowohl auf unser Wissen über die
sein vom konstruktiven Charakter biographi- vergangene Wirklichkeit, hier: Rekrutierungs-
scher Daten. Kaum ein soziologischer Text, der vorgänge in die NSDAP, als auch auf die Rekon-
nicht den Hinweis enthielte, dass das Thema der struktion der biographischen Konstruktion eines
Biographieforschung nicht das Individuum mit Walter Jens.
5. Biographieforschung 307

Zum Umgang mit dem Erinnerungscharakter halten keine unmittelbar praktizierbaren Hand-
biographischer Quellen lungsanweisungen, denn in Bezug auf die Ver-
gangenheit besteht kein Handlungsbedarf.
Die Frage nach der historischen ›Wahrheit‹ Deshalb ist für die Erforschung der Vergangen-
spielte ebenso wie Fragen nach Erinnerung und heit »auch jenseits meßbarer Präzision jede ver-
Gedächtnis im engeren Sinn in den methodi- nünftige Annäherungsstrategie recht, die in ihren
schen Debatten der Biographieforschung nach Aussagen den Stoff ihrer Erkenntnis und den
innen wie nach außen über weite Strecken keine Weg ihrer Gewinnung reflektiert« (Niethammer
nennenswerte Rolle. Der Begriff des Gedächtnis- 1985, 410). Genau dies hat Lutz Niethammer im
ses war im Zuge der Rezeption der Theorie des Anschluss an das unter seiner Leitung durchge-
kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halb- führte erste große Oral History-Projekt in der
wachs soziologisch-kulturhistorisch belegt. Die Bundesrepublik getan in einem methodologi-
biologische oder neurologische Dimension blieb schen Text mit der Überschrift »Fragen – Ant-
hingegen weitgehend ausgeblendet. Was es be- worten – Fragen«. Anders als in vielen anderen
deutet, wissenschaftliche Forschung auf indivi- Debatten dieser Zeit wird hier der Erinnerungs-
duelle Gedächtnisleistung zu gründen, wurde charakter reflektiert, was auch in der sonst unüb-
methodisch kaum hinterfragt. Erst seit der Jahr- lichen Bezeichnung der Quellen als Erinnerungs-
tausendwende findet der Aspekt der Erinnerung interview zum Ausdruck kommt. Rund zweihun-
vermehrt Eingang in die Diskussion. In der histo- dert lebensgeschichtliche Interviews wurden
rischen Biographieforschung war dies etwas an- Anfang der 1980er Jahre im Rahmen des Projekts
ders. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet
Man wird der Geschichtswissenschaft eine ge- 1930 bis 1960 geführt. Für die am Projekt betei-
wisse Zuständigkeit für historische Wahrheitsfra- ligten Wissenschaftler war dies ein erstes Experi-
gen nicht absprechen können. Es ist von daher si- mentieren mit der Methode der Oral History, das
cher kein Zufall, dass sich noch am ehesten die von intensiven methodischen Reflexionen beglei-
historische Biographieforschung der Frage ge- tet war.
stellt hat, inwieweit biographische Interviews et- Systematische Forschungen zum Gedächtnis,
was über die vergangene Wirklichkeit aussagen auf die man sich hätte beziehen können, standen
können, statt im erkenntnistheoretischen Spagat zu dieser Zeit kaum zur Verfügung. Lange war
zu verharren, nämlich forschungsmethodolo- die Auffassung verbreitet, das Gedächtnis sei eine
gisch die Quellen extrem kritisch als reine Kon- Art Speichermaschine, in der jedes Erlebnis und
struktionen zu qualifizieren, forschungspraktisch jedes Ereignis einen Eindruck hinterlässt, der
diesen Quellen gleichwohl Daten zu entnehmen, grundsätzlich unverändert abrufbar sei, wobei al-
als wären sie wirklich. Zum einen ist das Problem lein das Wiederauffinden der Informationen an
für die Geschichtswissenschaft alles andere als den jeweiligen Speicherorten Probleme bereiten
neu. Letztlich ist jede historische Quelle durch könne. Gegen diese Speicherthese setzte sich all-
den konstruktiven Charakter von Wahrnehmung mählich die Vorstellung durch, wonach Wahr-
und Erinnerung geprägt. Solcherart Quellen mit nehmungen und Informationen im Geflecht der
geeigneten Methoden auf ihren Aussagewert hin Nervenzellen Bahnen und Schaltstellen bilden,
zu analysieren ist das tägliche Brot des Histori- die umso deutlicher hervortreten und deshalb
kers und Ausweis der Geschichte als Wissen- umso besser funktionieren, je häufiger sie be-
schaft. Die historische Biographieforschung kann nutzt werden. Immerhin interpretierte diese Bah-
deshalb nicht ohne ernsthaften Verlust auf die nen-Hypothese Wahrnehmen und Erinnern be-
Frage verzichten, ›wie es wirklich gewesen ist‹. reits als selektive, sinnhafte Zusammenhänge
Zum anderen tut sie sich vielleicht auch leichter herstellende Vorgänge. Gleichwohl war der wis-
als etwa die Soziologie, weil ihre Ergebnisse an- senschaftliche Kenntnisstand insbesondere das
derer Natur sind. Die Lehren der Geschichte ent- Langzeitgedächtnis betreffend dürftig.
308 IV. Forschungsgebiete

Hilfreicher als die Forschungen zum Gedächt- und bewährt haben, lässt sich aus Ausführungen
nis war die Tatsache, dass Erinnern Gegenstand Alexander von Platos aus dem Jahr 2000 schlie-
alltäglicher Erfahrung ist, wo es mal mehr, mal ßen. Aus langjähriger Erfahrung in der histori-
weniger zuverlässig funktioniert, bei der Bewälti- schen Biographieforschung empfiehlt er die An-
gung des Alltags aber doch ganz brauchbare wendung bestimmter Interviewtechniken, um
Dienste leistet. Auf dieser Erfahrung beruhen Erinnerungen zu generieren, die möglichst nahe
auch in unserer Kultur entwickelte spezifische an vergangene Wirklichkeit heranführen und da-
Formen geregelter Erinnerungsarbeit, wie sie bei besonders die Verarbeitung dieser Wirklich-
etwa in der Psychoanalyse (s. Kap. I.5) und als keit in der Lebensgeschichte zur Geltung bringen
Zeugenbefragung vor Gericht praktiziert werden, (Plato 2000, 17 ff.). Die Kunst des Interviewers sei
die »ihre praktischen Möglichkeiten nicht aus ei- es, schreibt Plato, den Interviewten dabei zu un-
ner allgemeinen Gedächtnistheorie, sondern aus terstützen, ein ganzes »Erzählnetz« von Bezügen
einem Interaktionsprozeß im Rahmen eines je und Beschreibungen, Episoden und Informatio-
spezifischen ›Setting‹ herleiten« (Niethammer nen zu spinnen, ein Bild, das an die Metapher
1985, 397). Analog dazu wird auch der Erinne- ›neuronaler Netze‹ in den Kognitionswissen-
rungsvorgang im Rahmen einer Zeitzeugenbe- schaften anschließt. Eine »qualifizierende Viel-
fragung aus der Spezifität des sozio-kulturellen falt« ist demnach am besten geeignet, die Erinne-
Arrangements, das ihn hervorbringt und überlie- rungsfähigkeit des Interviewpartners zu aktivie-
fert, aufgefasst. ren. Sie kann entstehen, wenn die gesamte
Ausgehend von einer Analyse der Erinne- Lebensgeschichte des Befragten zum Gegenstand
rungsvorgänge in den genannten Settings – der des Interviews gemacht wird und wenn das Inter-
Psychoanalyse, der gerichtlichen Zeugenbefra- view möglichst viel Raum zur Präsentation bio-
gung sowie dem narrativen Interview der Sozial- graphischer Eigenkonstruktion zulässt, wie es das
forschung – identifiziert Niethammer einen La- narrative Drei-Phasen-Interview nach Schütze
tenzbereich zwischen dem aktiven Gedächtnis vorsieht, das hieraus seine eigentliche Begrün-
und dem völligen Vergessen, der durch Informa- dung erfährt. Die lebensgeschichtliche Dimen-
tion und Interaktion aktiviert werden kann. Eben sion und die narrative Form, so Plato, entspre-
dies wird als Aufgabe des Interviewers bei der chen dem Prozess des Erinnerns und begünsti-
Durchführung eines Erinnerungsinterviews be- gen so die Hervorbringung vielfältiger Erinne-
stimmt. Notwendig ist dafür eine weitgehende rungen. Auch sei es hilfreich, das Gedächtnis in
Vertrautheit des Interviewers mit dem untersuch- seinen unterschiedlichen Bereichen sinnlichen
ten Sachverhalt, die es ihm gestattet, im Bedarfs- und bildlichen ebenso wie emotionalen und
fall die Erinnerung des Befragten gezielt anzure- räumlichen Erinnerns anzusprechen, etwa durch
gen, bei gleichzeitiger Offenheit und Aufmerk- die Einbeziehung persönlicher Dokumente wie
samkeit für die selbstgeformten Lebensgeschich- Fotos, die den Prozess des Erinnerns über visu-
ten und Erfahrungsberichte des Interviewten. elle Impulse in Gang setzen können.
Niethammer spricht von Erinnerungsräumen, Natürlich müssen solcherart im Interview ge-
die es durch geeignete Interviewstrategien zu öff- nerierte Erinnerungen nicht notwendig wahr
nen gilt (vgl. Niethammer 1985, 401). Als dem sein. Ob Auskünfte richtig sind, geht aus ihnen
Vorgang des Erinnerns angemessen wird eine of- selbst nicht hervor, und es gibt viele denkbare
fene Form des Interviews eingeschätzt, die die In- Gründe für unrichtige Auskünfte. Niethammer
itiative ein Stück weit dem Befragten überlässt weist darauf hin, dass ein unkritisches Glauben
und so dem assoziativen und rekonstruktiven dessen, was Zeitzeugen im Interview erinnern,
Charakter von Erinnerungen Raum gibt und ›Ab- angesichts der Strukturen der Interaktion und
schweifungen‹ des Gedächtnisses ermöglicht. des Gedächtnisses nicht nur absurd wäre, son-
Dass sich die Überlegungen Niethammers von dern den Befragten auch die historische Dienst-
1985 in künftigen Befragungsprojekten bestätigt leistung verweigere, sie in die Geschichte zu holen
5. Biographieforschung 309

(Niethammer 1985, 409). Notwendig sei vielmehr stimmen lassen« (Alheit/Dausien 2000, 262). Das
eine kritische Auswertung und Interpretation, zu bedeutet, dass das Gehirn Wirklichkeit nicht ab-
der auch die Prüfung des Wahrheitsgehalts von bildet, sondern konstruiert. Zum Glück für die
Aussagen gehört. Ein nach oben genannten Ge- Biographieforschung verbleit ein gewisser Spiel-
sichtspunkten geführtes Interview bietet, davon raum dadurch, dass Roth nur einen relativ auto-
sind beide Autoren überzeugt, dafür eine Fülle poietischen Charakter aller Organismen an-
von Ansatzpunkten. Als durchaus hilfreich und nimmt, so dass äußere Einflusse doch eine ge-
angemessen erweisen sich dabei die üblichen wisse Rolle bei der Wirklichkeitskonstruktion
Verfahren der historischen Quellenkritik, na- spielen. Ebenso bemerkenswert wie die Befunde
mentlich die Prüfung der inneren Plausibilität, an sich ist für unseren Zusammenhang die einlei-
der Vergleich mit Aussagen anderer Befragter tende Feststellung von Alheit und Dausien, dass
und die Konfrontation mit anderen Quellenar- in der bisherigen Biographieforschung »bei allem
ten. Im Ergebnis ist letztendliche Gewissheit Mißtrauen gegenüber der Genauigkeit subjekti-
nicht zu erwarten, wohl aber erfahrungsgesät- ver Wahrnehmung […] die Tatsache, daß das
tigte, plausible Annäherungen, die der intersub- Gedächtnis (allgemeiner: das Gehirn als synthe-
jektiven Überprüfung offenstehen. Alle qualita- tisches ›Wahrnehmungsorgan‹) einen unmittel-
tive Forschung, so noch einmal Niethammer, ist baren Zugang zur Wirklichkeit habe, völlig
im Kern heuristisch, im Sinne von Beweisbarkeit unproblematisiert« geblieben ist (Alheit/Dausien
aber zunächst ergebnislos. Ihre Ergebnisse gene- 2000, 259).
rieren eher Hypothesen und neue Fragestellun- Für die Auseinandersetzung mit neueren Be-
gen. funden der Neurowissenschaften innerhalb der
historischen Biographieforschung steht die An-
fang 2000 von Harald Welzer als Vertreter der
Was lässt sich von den Neurowissen-
Gedächtnisforschung sowie Alexander von Plato
schaften lernen?
und Almut Leh als Vertreter der historischen Bio-
Es wäre sicherlich übertrieben, würde man für graphieforschung durchgeführte Konferenz »Der
das Jahr 2000 von einer neurobiologischen Zeitzeuge als natürlicher Feind der historischen
Wende in der Biographieforschung sprechen. Im- Zunft?«, deren Beiträge im gleichen Jahr in der
merhin fallen in diesem Jahr aber gleich zwei Er- Zeitschrift BIOS veröffentlicht wurden. Die Bei-
eignisse – ein Aufsatz und eine Tagung – dadurch träge von Harald Welzer – »Das Interview als Ar-
auf, dass Themen neuerer neurobiologischer For- tefakt« – und Alexander von Plato – »Zeitzeugen
schung in der soziologischen und historischen und die historische Zunft« – wurden bereits zi-
Biographieforschung diskutiert wurden – was si- tiert. Über »Die Erinnerung von Zeitzeugen aus
cher nicht zuletzt mit den rasanten Fortschritten der Sicht der Gedächtnisforschung« sprach der
der Neurobiologie durch die Möglichkeiten bild- Psychologe und Gedächtnisforscher Hans J. Mar-
gebender Verfahren zusammenhängt. kowitsch. Wie Roth bestreitet auch er die Exis-
Für die soziologische Biographieforschung ha- tenz eines freien Willens, was für die Biographie-
ben Bettina Dausien und Peter Alheit die Arbei- forschung für sich genommen schon Probleme
ten des Hirnforschers Gerhard Roth rezipiert, der verursacht. Kaum weniger beunruhigend sind
im Anschluss an Humberto Maturana einen radi- seine Ausführungen hinsichtlich der Erinne-
kalen Konstruktivismus vertritt. Seine die Bio- rungsfähigkeit von Zeitzeugen bzw. des Wahr-
graphieforschung herausfordernde Entdeckung heitsgehalts ihrer Erinnerungen (vgl. zum Fol-
besteht darin, dass die Wirklichkeitsverarbeitun- genden Markowitsch 2000).
gen durch das Gehirn »selbstreferentiell struktu- Das episodisch-autobiographische Gedächt-
riert sind, sich eben nicht durch den Charakter nis, mithin das für die Befragung von Zeitzeugen
von äußeren Einflüssen, sondern allein durch in erster Linie relevante Gedächtnis, ist in neuro-
eine zuvor bereits existierende innere ›Logik‹ be- logischer Sicht besonders komplex und damit lei-
310 IV. Forschungsgebiete

der auch besonders verletzlich (s. Kap. I.1). Pro- ben. Man müsse sich aber »der Bedingungen
bleme bei der Einspeicherung einer Erinnerung bewusst sein, die während ihres (erstmaligen) Er-
können ebenso für defizitäre Gedächtnisleistun- lebens, während möglicher nachfolgender ›Re-
gen verantwortlich sein wie Störungen beim Ab- produktionen‹ und während des aktuellen Abrufs
ruf. Insbesondere Stress aller Art beeinträchtigt herrschten« (ebd., 47). Der Aufsatz schließt mit
diese Vorgänge, so dass Informationen, die unter dem Hinweis auf die nicht unbeträchtlichen Ab-
Stress aufgenommen oder abgerufen werden, bauvorgänge auf Hirnebene mit zunehmendem
eine stark verminderte Glaubwürdigkeit besitzen. Alter.
Personen in Stress- und Traumasituationen – Diese Befunde lassen den Biographieforscher
aber auch Kinder und labile Persönlichkeiten – einigermaßen ratlos zurück. Zu skeptisch sind
sind besonders suggestibel und anfällig für mas- die Aussagen, zu weit liegen sie aber auch von
senpsychologische Phänomene. In diesen Fällen dem entfernt, was sich in der Praxis biographi-
kann es besonders leicht dazu kommen, dass die scher Forschung vollzieht, wo Erinnern ebenso
betreffende Person nicht zwischen real und nicht wie in vielen anderen Kommunikationsbereichen
real erlebten Gedächtnisinhalten unterscheiden bei allen Einschränkungen doch erstaunlich gut
kann. Die eingeschränkte Erinnerungsfähigkeit funktioniert. Möglicherweise liegt dies daran,
an traumatische Erlebnisse ist bisweilen sogar in dass sich die im Labor und nicht selten an für
Form physischer Veränderungen nachweisbar. So biographische Forschung untypischen Versuchs-
zeigten sich bei Kriegsveteranen signifikante personen gewonnenen Erkenntnisse der Ge-
Schrumpfungen im Bereich des Hippocampus, dächtnisforschung nur bedingt auf die Situation
den für die Übertragung von Informationen ins des biographischen Interviews übertragen lassen.
Langzeitgedächtnis wichtigen Strukturen. Weni- Doch auch der umgekehrte Weg ist schwierig,
ger störanfällig als das autobiographische Ge- lässt sich doch die Komplexität des biographi-
dächtnis ist hingegen das Wissensgedächtnis. Al- schen Erinnerns, wie es sich im Interview voll-
lerdings ist es nicht möglich, die Güte der auto- zieht, kaum ohne Verluste auf eine neurowissen-
biographischen Behaltensleistung durch Fragen schaftliche Versuchsanordnung reduzieren.
nach allgemeinen Fakten aus der Vergangenheit Dabei gäbe es seitens der Biographieforschung
zu verifizieren, weil die Gedächtnissysteme zu durchaus eine ganze Reihe von Fragen an die
unterschiedlich sind. Verbessern lässt sich der In- Neurowissenschaften, vor allem ob und welche
formationsabruf grundsätzlich, wenn dieser in Möglichkeiten der Interviewführung bestehen,
einer Situation stattfindet, die möglichst weitge- Erinnerungsprozesse zu aktivieren und valide Er-
hend der Einspeicherungssituation entspricht. innerungen zu produzieren. Umgekehrt könnten
Anderseits gibt es viele Gründe, die das Bewusst- die in biographischen Interviews generierten Er-
sein stören oder beeinträchtigen – die sinnfälligs- innerungen durch die Gedächtnisforschung aus-
ten sind Müdigkeit und Erschöpfung, aber auch gewertet werden, der so wirklichkeitsnäheres
Drogen- und Alkoholkonsum – und damit zu ei- Material bereitstehen würde. Vielleicht müssen
ner eingeschränkten Informationsverarbeitung weitere Fortschritte der Neurowissenschaften ab-
führen können, gewartet werden, bevor ein solcher Austausch
Seine Ausführungen zusammenfassend, hilfreich sein kann. Gegenwärtig führen die Be-
schreibt Markowitsch: »Es gibt damit eine Reihe funde der neurobiologischen Gedächtnisfor-
die Gedächtnisleistung ungünstig beeinflussen- schung die Biographieforschung ebenso in den
der Faktoren, von denen angenommen werden erkenntnistheoretischen Spagat wie der radikale
muss, dass gerade Zeitzeugen ihnen mit gewisser soziale und kulturelle Konstruktivismus früherer
Wahrscheinlichkeit ausgesetzt waren« (Marko- Jahre. Lassen die extrem skeptischen Befunde
witsch 2000, 46). Umso erstaunlicher sein nach- doch keinen Raum für die Erfahrung der bio-
folgender Rat, man solle trotz dieser pessimisti- graphischen Forschungspraxis, dass Erinnerung
schen Sicht Zeitzeugenbefragungen nicht aufge- zwar trügen kann, dass Menschen bisweilen auch
5. Biographieforschung 311

bewusst lügen, dass es in sehr vielen Fällen aber Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion. In: BIOS.
durchaus möglich ist, mit hinreichender Genau- Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History
igkeit und Verlässlichkeit vergangene Ereignisse 3. Jg. (1990), 75–81 (frz. 1986).
Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine
zu erinnern. Einführung in Praxis und Methoden [1984]. Wiesba-
Gleichwohl und ohne Zweifel ist eine interdis- den 2005.
ziplinäre Perspektive den Fragen nach Erinne- Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frank-
rung und Gedächtnis angemessen. Weiterfüh- furt a. M. 1991 (frz. 1950).
rend scheint zur Zeit ein weiterer Blickwinkel, Kohli, Martin (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darm-
der Erkenntnisse der Neurowissenschaften, des stadt/Neuwied 1978.
Markowitsch, Hans J.: Die Erinnerung von Zeitzeugen
Sozialkonstruktivismus und der Kulturwissen-
aus der Sicht der Gedächtnisforschung. In: BIOS.
schaften umgreift und auf die Praxis biographi- Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History
scher Forschung bezieht. In der Biographiefor- 13. Jg. (2000), 30–50.
schung ist seit den späten 1990er Jahren ein ver- Nassehi, Armin: Die Form der Biographie. Theoretische
stärktes Interesse an solchen interdisziplinären Überlegungen zur Biographieforschung in methodo-
Zugängen zu beobachten. Neben einigen Aufsät- logischer Absicht. In: BIOS. Zeitschrift für Biographie-
forschung und Oral History 7. Jg. (1994), 46–63.
zen und Sammelbänden sind inzwischen auch
Niethammer, Lutz: Fragen – Antworten – Fragen. Me-
zwei Monographien erschienen – Das kommuni- thodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral
kative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung History. In: Ders./Alexander von Plato (Hg.): »Wir
von Harald Welzer (2002) und Der lange Schatten kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der
der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge- Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern.
dächtnispolitik von Aleida Assmann (2006) –, die Berlin/Bonn 1985, 392–445.
ausgearbeitete, methodische Ansätze zur Ver- Plato, Alexander von: Zeitzeugen und die historische
Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und
knüpfung der genannten Disziplinen entwickeln. kollektives Gedächtnis in der qualitativen Ge-
Man darf vermuten, dass die Diskussion dieser schichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: BIOS.
Fragen und die Weiterentwicklung breit angeleg- Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History
ter Erinnerungskonzepte die Biographiefor- 13. Jg. (2000), 5–29.
schung auch zukünftig noch beschäftigen wer- Schulze, Theodor: Pädagogische Dimensionen der Bio-
den. graphieforschung. In: Erika M. Hoerning u. a. (Hg.):
Biographieforschung und Erwachsenenbildung. Bad
Heilbrunn 1991, 135–181.
Literatur Schütze, Fritz: Zur Hervorlockung und Analyse von Er-
Alheit, Peter/Dausien, Bettina: Die biographische Kon- zählungen thematisch relevanter Geschichten im
struktion der Wirklichkeit. Überlegungen zur Bio- Rahmen soziologischer Feldforschung – dargestellt
graphizität des Sozialen. In: Erika M. Hoerning (Hg.): an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen
Biographische Sozialisation. Stuttgart 2000, 257–283. Machtstrukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder So-
Apitzsch, Ursula: Biographieforschung. In: Barbara ziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung.
Orth/Thomas Schwietering/Johannes Weiß (Hg.): München 1976, 159–260.
Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Ein –: Biographieforschung und narratives Interview. In:
Handbuch. Opladen 2003, 95–110. Neue Praxis 13 (1983), 283–293.
Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (Hg.): Aus Geschich- Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik
ten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. der Zeitzeugenforschung. In: BIOS. Zeitschrift für Bio-
München 1979. graphieforschung und Oral History 13. Jg. (2000), 51–
63.
Almut Leh
312 IV. Forschungsgebiete

6. Tradierungsforschung ziologe Maurice Halbwachs und der (Sozial-)Psy-


chologe Frederic C. Bartlett zu einer bemer-
kenswert ähnlichen Einsicht: Die individuelle
Begriff
Erinnerung ist ein soziales Konstrukt. Faktoren
Unter ›tradieren‹ wird gemeinhin ›weitergeben‹ sind u. a. kulturelle Rahmung (z. B. erinnern Bau-
verstanden. Regelmäßig findet der Begriff Ver- ern die Musterung von Rindern und die für sie
wendung im Zusammenhang mit der Weitergabe gezahlten Preise besser als andere nichtspeziali-
von Umgangsweisen oder Tätigkeiten (z. B. Bräu- sierte Menschen; das Gleiche gilt für Architekten
chen, Ritualen), praktischem Wissen (z. B. Bau- bezüglich geometrischer Formen), soziale und
kunst, Heilkunst), aber auch Werten, vor allem psychologische Funktionalität (Narrationen, die
jedoch von Wissen über die Vergangenheit, mit- geeignet sind Sinn, Orientierung und Kohärenz
hin also Geschichten und Geschichte. Die Tradie- zu erzeugen) und kulturelle Skripte (Erzählwei-
rungsforschung widmet sich vor allem Letzterem. sen, Plotstrukturen, Plausibilitätsvorstellungen).
Wobei damit viel mehr gemeint ist, als die bloße Entsprechend ist, was Individuen aber auch Kol-
Weitergabe von Episoden aus sowie Daten und lektive als ihre Vergangenheit erzählen nur zum
Fakten über eine Vergangenheit. Tradiert werden Teil so geschehen, wie es als Geschichte und in
zugleich Deutungen, Strukturen und Gebrauchs- Geschichten wieder- und vor allem weitergege-
weisen von Vergangenheitsrepräsentationen. ben wird.
Aus diesen Annahmen folgen zwei Sichtwei-
sen auf Vergangenheitserzählungen. Eine erste
Geschichte
interessiert sich dafür, was wirklich geschah und
Die Bezeichnung ›Tradierungsforschung‹ steht deutet entsprechend Abweichungen, soweit diese
nicht für eine Disziplin oder Schule, sie ist nicht feststellbar oder gar messbar sind als Verzerrung
in Zeitschriften, Lehrstühlen oder nach ihr be- oder schlicht als Fehler. Solche Deutungen finden
nannten Forschungseinrichtungen institutionali- sich beispielsweise in Bereichen der Geschichts-
siert. Sie ist vielmehr ein theoretisch-methodi- wissenschaft (s. Kap IV.1) und ausgeprägt in der
sches Konzept, das sich in der empirischen Ar- Psychologie (s. Kap I.2, II.1). Die zweite Sicht-
beit als eigenständiger Zugriff auf eine zentrale weise, der die Tradierungsforschung entspricht,
menschliche Tätigkeit entwickelt hat: Vergangen- fokussiert auf die Erzählung, die sie als soziale
heiten zu erzählen. Es handelt sich um ein außer- und zeitgebundene Konstruktion interpretiert,
ordentlich funktionales heuristisches Konzept, die allenfalls mit anderen Erzählungen von Ver-
um eine Denk- und Arbeitsweise, die sich in gangenheit abgeglichen werden kann, nicht je-
Folge und Kritik der Zeitzeugenforschung sowie doch mit einer ›Masterversion‹. Sie untersucht,
der Oral History und Biographieforschung (s. wie solche Erzählungen verfasst sind, was also
Kap. IV.5), ohne die sie nicht denkbar ist, heraus- wie erzählt wird. In dieser Orientierung zeigt sich
gebildet hat. Es geht ihr allerdings weder um eine ein gemildertes Erbe postmoderner Repräsenta-
Rekonstruktion von Lebensgeschichten, noch hat tionstheorien, die Geschichte und Geschichten
sie einen therapeutischen Anspruch. als Ergebnis von Erzähltraditionen, also als Poeti-
In konzeptioneller Hinsicht knüpft sie an die sierungsweisen von Vergangenheit deuten. An-
kulturwissenschaftlich inspirierte Gedächtnis- ders als das viel zu oft in polemischer Absicht
theorie (s. Kap. II.3) und an die vor allem sozial- wiedergeben worden ist, folgt daraus keinesfalls
psychologische Erinnerungsforschung (s. Kap. eine Relativierung von vergangenen Geschehnis-
I.2) an. Beide Forschungsrichtungen entwickel- sen, wie etwa von Großverbrechen. Ganz im Ge-
ten sich im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. genteil: Das Wissen über die Konstruktionsprin-
Fast zeitgleich kamen auf methodisch völlig un- zipien von Vergangenheitserzählungen ermög-
terschiedlichen Wegen und unter ebenso unter- licht eine erheblich differenziertere Form der
schiedlichen theoretischen Paradigmen der So- Quellenkritik, insbesondere für nicht durch Be-
6. Tradierungsforschung 313

lege gestützte Erzählungen wie etwa Zeitzeugen- junge (15- bis 20-jährige) in Deutschland lebende
berichte. Menschen mit Migrationshintergrund sich zu
dieser Geschichte verorten und konstruierte
Studien ebenfalls Typen von Geschichtsbezügen (Georgi
2003). Die Gruppe um Harald Welzer unternahm
Das paradigmatische Thema der Erinnerungs- in zunächst zwei Studien, aus denen eine Reihe
forschung in Deutschland war lange Jahre der von Monographien hervorging, den Versuch, die
Themenkomplex Nationalsozialismus, Zweiter Tradierung der Geschichte des Nationalsozialis-
Weltkrieg, Holocaust und damit verbunden die mus und des Zweiten Weltkriegs innerhalb von
Ver- oder Bearbeitung dieser Zeit. Entsprechend Familien zu untersuchen (Welzer u. a. 1997; Wel-
fokussieren fast alle Studien, die sich mit der Wei- zer u. a. 2008).
tergabe von Vergangenheit beschäftigen, auf diese Wie die Aufzählung zeigt, handelt es sich
Zeit. Während lange die offizielle öffentliche Um- durchweg um qualitative Sozialforschung, in der
gangsweise der – um einem Wort Reinhart Regel um Interviewstudien. Welzer und Kollegin-
Kosellecks zu folgen – ›negativen Geschichte‹ nen beispielsweise haben Einzelinterviews von
Deutschlands galt, also dem was an Wissen und Familienangehörigen dreier Generationen (Erleb-
Deutungen die öffentlich zugängigen Diskurse nisgeneration des Nationalsozialismus und deren
prägte, interessierten sich ab Mitte der 1990er Kinder und Enkel) mit gemeinsamen Gesprächen
Jahre eine Reihe von empirisch arbeitender For- der gesamten Familie kombiniert, um so einer-
scherinnen und Forscher zunehmend dafür, was seits die Familien in Interaktion beobachten und
jenseits dieser Ebene, was im mehr oder weniger anderseits die in den Einzelgesprächen erzählten
Privaten für Versionen dieser Vergangenheit kur- Geschichten untereinander und mit den Famili-
sieren. So entstanden in den folgenden Jahren engesprächen abgleichen zu können. Von der An-
Studien, die auf unterschiedliche Weise das Spre- nahme ausgehend, dass alle an den Gesprächen
chen über diese Vergangenheit insbesondere mit Beteiligten, also auch die Interviewenden, kom-
dem Blick auf Angehörige verschiedener Genera- munikativ an der Konstruktion der Erzählungen
tionen (s. Kap. IV.8) untersuchen. Gabriele Ro- mitwirken, ist genau dieser Aspekt in der Auswer-
senthal beispielsweise analysierte das Sprechen tung durch Rückgriff auf die maßgeblich von Ha-
über Nationalsozialismus und Holocaust in Fa- rald Welzer entwickelte ›hermeneutische Dialog-
milien von Verfolgern und Verfolgten. Ihr ging es analyse‹ ausgewertet worden. Das für die Tradie-
dabei um die Aufdeckung »latenter biografischer rungsforschung zentral gewordene Verfahren
Sinnstrukturen« (Rosenthal 1997, 12) und in die- ermöglicht es, den Prozess der ›gemeinsamen
sem Rahmen um die Fokussierung auf die bio- Verfertigung‹ von Vergangenheitserzählungen
graphische und familiensystemische Funktion nachzuvollziehen, ein Aspekt, der auch heute
der biographischen Erzählungen (Rosenthal noch häufig übersehen wird. Die Vorstellung, Ge-
1998). Nina Leonhard hingegen war zentral am schichtsbewusstsein wäre etwas, das tief in den
Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Menschen verborgen ist und nur mit dem ent-
Politikbewusstsein interessiert (Leonhard 2002). sprechenden Methodenarsenal ans Tageslicht ge-
Friedhelm Boll untersuchte die Funktion des bracht werden muss, lässt sich empirisch nicht
Sprechens für ehemals Verfolgte und die Bedeu- bestätigen. Vielmehr ist die Herstellung von Ge-
tung gesellschaftlicher Konjunkturen der Vergan- schichtsdeutungen, ebenso wie jene von Mei-
genheitsthematisierung für die Möglichkeit die- nungen, ein hochgradig kommunikativer und
ses Sprechens (Boll 2003). Michael Kohlstruck somit sozial verfasster Vorgang. Narrationen ent-
konstruierte Thematisierungstypen der NS-Ver- stehen in verschiedenen situativen und kommu-
gangenheit bei Angehörigen der Jahrgänge 1951 nikativen Settings unter – wenn auch oft asymme-
bis 1967 als private Vergangenheitsbewältigung trischer – Teilnahme aller an der Situation Betei-
(Kohlstruck 1997). Viola Georgi studierte, wie ligten. Das gilt übrigens selbst dann, wenn diese
314 IV. Forschungsgebiete

nur zuhören, also nicht selbst sprechen. Eine Indikator für eine Tradierung ist also die Wie-
Rede, ein Vortrag, eine Führung, eine Analyse dererzählung. Folglich ist Rezeption im Sinne ei-
bringen verschiedene Dramatisierungsformen, ner neuen, eigenen, angeeigneten Wiedergabe
Sprechweisen und thematische Fokussierungen der Kern dessen, was mit Tradierung beschrieben
hervor. wird. Das bedeutet auch, jede Erzählung über
Ein weiterer beobachteter Effekt ist als ›kumu- Vergangenheit ist zugleich immer in kommuni-
lative Heroisierung‹ bezeichnet worden. Gemeint kationstheoretischer Hinsicht Ausgangspunkt
ist damit die Umdeutung von aus heutiger Sicht und Ende einer Weitergabekette. Jede Erzählung
problematischen Erzählungen der Erlebnisgene- beruht auf Erzählungen – und zwar nicht nur auf
ration, die auf Antisemitismus, Rassismus und einer. Vielmehr konstituieren sich individuelle
sogar Verbrechen hinweisen. In den Interviews Deutungen in vielen kommunikativen Prozessen
mit Kindern und insbesondere den Enkeln wer- und sind folglich auch, zumindest theoretisch,
den diese entweder überhört oder gar positiv in unbegrenzt veränderbar. Also ist jede Erzählung
Geschichten von Widerstand umgedichtet. Eine Ausgangspunkt neuer Erzählungen. Fehlt letzte-
wesentliche Ursache für diese in einer quantitati- res, gibt es also keine neue angeeignete Erzäh-
ven Befragung bestätigte Beobachtung ist die Auf- lung, die Kette bricht ab und es wird nicht tra-
hebung kognitiver Dissonanzen. Das Bild der af- diert. Das gilt auch für die Darstellungen der Er-
fektiv positiv besetzten Familienmitglieder – bzw. lebnisgeneration. Wie aus der psychologischen
die Vorstellung, die Sprechende von der Familie Erinnerungsforschung bekannt ist, beruhen Er-
geben wollen – lässt sich nur schwer mit dem über innerungen nur zum Teil auf Selbsterlebtem. Au-
alle Bildungs- und Informationskanäle vermittel- tobiographie ist also in relevanten Teilen fiktiv.
ten Bild des Nazis in Übereinstimmung bringen. Jede Erzählung beruht auf einer Vielzahl von
Einschränkend ist anzumerken, dass natürlich Quellen, die in Montageprozessen gemäß der
nur solche Familien Teil der Untersuchung wa- kommunikativen Notwendigkeiten einer Situa-
ren, in denen miteinander gesprochen wurde und tion aber auch der jeweils psychologischen Be-
für die somit von einem Mindestmaß an gegen- dürfnisse der Sprechenden zusammengesetzt
seitiger Wertschätzung auszugehen ist. Die ange- wird. Aufgrund von Quellenkonfusion oder gar
sprochene Umdeutung geschieht, wie das auch Quellenamnesie können selbst die Sprechenden
für autobiographische Erzählungen beobachtet den Eigenanteil des Erzählten nur sehr bedingt
werden kann (s. Kap II.1), überwiegend nicht vor- bestimmen.
sätzlich, sondern entsprechend der automatisier- Weiterhin folgen die Erzählungen dramaturgi-
ten Umformungsprozesse von Vergangenheit in schen Logiken, die, wie seit den Untersuchungen
eine Gegenwart, die Kohärenz, Orientierung und Frederic C. Bartletts bekannt ist, kulturspezifisch
Sinn liefert. In dieser Veränderung von Geschich- sind (s. Kap. I.2). Geschichten werden so plausi-
ten nach den Sinn- und Plausibilitätsbedürfnis- bilisiert, dass sie mit dem Selbstbild der Spre-
sen jener, die sie wiedererzählen, liegt der Kern chenden bzw. dem Bild das sie von anderen ha-
dessen, was Tradierung genannt wird. »Das«, so ben und den jeweiligen ›kulturellen Skripten‹
Harald Welzer, »was wir als Tradierung bezeich- (Robyn Fivush), also den etablierten Erzählwei-
nen, braucht die aktive Aneignung des Berichte- sen von beispielsweise Autobiographien, über-
ten – das heißt, tradierbare Geschichten brauchen einstimmen (s. Kap II.1). All diese Aspekte be-
einen Anknüpfungspunkt an die eigene Lebens- stimmen was und wie erinnert, erzählt, wiederer-
wirklichkeit […], eine Erzählgestalt, die Raum für zählt und damit auch tradiert wird. Empirisch
Einfügungen lässt, sowie eine Erzählsituation, die zeigt sich die hochgradige Geformtheit von Ver-
selbst Erlebnisqualität hat […]. Unter diesen Be- gangenheitserzählungen in Gestalt der zwar idea-
dingungen wird eine Erzählung tradierbar, d. h. lisierten aber eben dennoch vorfindlichen soge-
zu einer Erzählung, die von einer fremden zu nannten Tradierungstypen. Dabei handelt es sich
einer eigenen wird« (Welzer u. a. 2008, 35). um Dramatisierungsweisen von Vergangenheit,
6. Tradierungsforschung 315

die etablierten Skripten folgen: ›Opferschaft‹, sen‹ oder den ›schlimmen Zeiten‹, in denen man
›Rechtfertigung‹, ›Distanzierung‹, ›Faszination‹ lebte, oder auch den ›reichen Juden, die plötzlich
und ›Heldentum‹ (Jensen 2004). In ihnen kommt weg waren‹. Entsprechend betont, wie Georg Bol-
zum Ausdruck, in welche Form die Vergangen- lenbeck feststellt, »die Erforschung des in Spra-
heit im Gespräch gegossen wird, es ließe sich che eingebauten Deutungsmusters kollektive statt
auch von Poetisierungsweisen sprechen. Tradiert individueller, nachwissenschaftliche statt wissen-
werden also – in Form mal kleinerer, nur aus ei- schaftlicher Einstellungen« (Bollenbeck 1996,
ner Bemerkung bestehender, mal großer, die 20). Demnach sind Deutungsmuster und Topoi
ganze Biographie umfassender Erzählungen – In- Indikatoren für das kollektive Element im Spre-
terpretationen, die sich häufig in Topoi und Deu- chen über jedes beliebige Thema. Genau an die-
tungsmustern sedimentiert haben. ser Stelle schließt die Tradierungsforschung an
eine Grundfrage sozialwissenschaftlicher For-
schung an: am Verhältnis von Individuum und
Topoi und Deutungsmuster
Kollektiv (je nach theoretischer Provenienz kann
›Topoi‹ sind Wörter, die über ihre ursprüngliche auch von Kultur, Gesellschaft, Struktur oder
Bedeutung hinaus Deutungen und damit auch Ähnlichem gesprochen werden). Hier zeigt sich
Qualifizierungen beinhalten. Der dominante To- eine zweite Dialektik der Untersuchung von Tra-
pos beim Sprechen über den Nationalsozialismus dierungsvorgängen. Die erste betraf den Fakt,
ist jener von den ›Nazis‹. ›Die Nazis‹ sind diejeni- dass Erzählungen immer zugleich Ausgangs- und
gen, die den Krieg begonnen haben, die die Juden Endpunkt von Weitergabeprozessen sind. Die
verfolgten und ermordeten, die Konzentrations- zweite Dialektik besteht darin, dass Deutungs-
lager bauten und betrieben. Sie sind eine nicht muster und Topoi, ebenso wie kulturelle Skripte,
näher bestimmte Gruppe von Personen, die für Sprechen und Denken, Wahrnehmung und In-
alles Negative in dieser Vergangenheit verant- terpretation von Menschen präformieren, aber
wortlich waren. Dieses sich hier offenbarende zugleich von ihnen hervorgebracht werden. Ähn-
Nebeneinander von Klarheit (das sind die Ver- lich wie das für Institutionen oder Normengefüge
antwortlichen) und Vagheit (wer war denn ein der Fall ist, wird das Deutungsmuster, der Erzähl-
›Nazi‹?) zeichnet viele der Topoi aus. Gerade modus performativ immer wieder aufs Neue be-
diese Charakteristika lassen einen Topos wie den stätigt – oder eben nicht. So besteht immerhin
der ›Nazis‹ zu Dreh- und Angelpunkten von tra- theoretisch die Möglichkeit, gegenüber virulen-
dierbaren Geschichten werden. Die vermeintli- ten Deutungen eine zumindest graduelle Auto-
che, fiktive Einigkeit darüber, was genau gemeint nomie zu entwickeln. Jedes Abweichen von Er-
ist, erlaubt jedem, eine je eigene Deutung damit zählmustern, jede Dekonstruktion von Topoi und
zu verbinden, die durchaus offen sein kann. So Deutungsmustern kann also aus dieser Sicht als
wird erneut deutlich, dass Tradierung neben Ver- Ausdruck von Freiheit gedeutet werden.
sionen der Vergangenheit selbst (was ist wann
wie unter welchen Umständen aus welchen Grün-
Kontextualisierung
den geschehen) eben Bewertungen, Deutungen
und Erzählweisen beinhaltet. Neben Inhalt (was geschah) und Struktur (wie
Unter ›Deutungsmuster‹ ist eine verbreitete, wird erzählt) ist auch der Einsatz, die Benutzung,
also regelmäßig anzutreffende, Deutung vergan- die Kontextualisierung des Geschichtsbezugs
gener Geschehnisse zu verstehen, deren sprachli- fundamentaler Bestandteil der Tradierung. Wann
che Erscheinungsform – die Wörter, in denen sie spricht man wie über welche Vergangenheit? Wie
geäußert wird – variieren kann. Diese Deutungen setzt man die Bezeichnung ›Nazi‹ ein, wann sind
müssen nicht zwangsläufig intentional weiterge- Vergleiche opportun, wann nicht? Sabine Moller
geben werden. Oft geschieht dies beiläufig, wenn hat in ihrer Studie zu öffentlichen Erinnerungs-
die Rede ist ›vom bösen und gefährlichen Rus- kulturen und Familienerinnerung an die NS-Zeit
316 IV. Forschungsgebiete

in Ostdeutschland (Moller 2003) gezeigt, wie von lebensgeschichtlicher Erfahrung, familiärer


Ostdeutsche im Jahr 1999 gegenüber den west- Überlieferung, öffentlicher Erinnerungskultur
deutschen Interviewern, die über den National- und Geschichtswissenschaft« (Moller 2003, 13)
sozialismus sprechen wollten, dieses Thema als ausgeleuchtet hat. Konsequent ausgebaut zu einer
Folie nutzten, ihre ihnen erheblich wichtigere vergleichenden, internationalen Forschung steht
Geschichte zu erzählen. Zensur, soziale Kontrolle eben genau dieses Verhältnis von privat und öf-
durch Organisationen wie die FDJ und Ähnliches fentlich/offiziell, aber auch jenes verschiedener
wurden unter Verweis auf strukturell vergleich- Aggregatzustände von Vergangenheitsbezügen,
bare Elemente des NS, etwa im Verweis auf die ihre mediale und kommunikative Verfasstheit,
Jugendorganisationen oder die Partei, erzählt. im Fokus des Interesses (Welzer 2007). In Mehr-
Kontextualisierung und das Paar Topoi/Deu- generationeninterviews sowie Gruppendiskussi-
tungsmuster tauchen in Kombination auf. So, onen verschiedener Altersgruppen und mit Ak-
wenn gesagt wird, ›man müsse über die Ge- teuren der Erinnerungskultur (aus Politik, Bil-
schichte Bescheid wissen, um daraus zu lernen, dung und Öffentlichkeit) wurde dem Verhältnis
damit es nie wieder geschähe‹. Die das Sprechen von nationaler Basiserzählung und familialen/
über ein Thema begleitende Rahmung kann be- privaten Geschichtsdeutungen nachgegangen.
deutsamer werden als der ursprüngliche Inhalt Zunächst ließ sich beobachten, dass diese Basis-
(das, was geschah). Tradierung kann im Extrem- erzählungen, dort wo sie sich als solche über-
fall fast ohne Inhalt auskommen. Nicht die wei- haupt etablieren konnten, sich nach einem drei-
tererzählten Geschichten sind relevant, sondern schrittigen Muster veränderten. Für ehemals be-
das Wissen um ihre Kontextualisierung. setzte westliche Länder wie etwa Dänemark,
Tradierung beinhaltet also in verschiedener Norwegen oder die Niederlande geriet eine ur-
Zusammensetzung: das Bild einer Zeit bestehend sprüngliche zumeist heroisch verfasste Ausgangs-
aus Beschreibung der Geschehnisse, der Benen- erzählung von Widerstand in einer geeinten Na-
nung und Charakterisierung der Akteure (Indivi- tion in die Krise, in der negative Seiten der Ver-
duen, Gruppen beziehungsweise Kollektive oder gangenheit wie Kollaboration oder der Umgang
Institutionen) inklusive der Motivationen, der mit ›Deutschenmädchen‹ und ihren Kindern the-
Ursachen und der Gründe für deren Handeln. matisiert wurden. Nach einer Zeit oft heftiger öf-
Damit einher gehen Bewertungen des Gesche- fentlicher Auseinandersetzungen kam es zu die-
hens (das war gut, das war schlecht), Deutungen sen Schuld einbeziehenden Reformulierungen
(was das zu bedeuten hat) und schließlich das der jeweiligen Basiserzählung, die nicht selten an
Wissen um die angemessene, nutzbringende, transnationale Erzählungen (z. B. Menschen-
Dritte zufriedenstellende Kontextualisierung. All rechte) anschlossen. Bemerkenswerterweise fand
dies wird hervorgebracht durch sprachliche Kon- sich über Erzählungen von den jungen attrakti-
ventionen, kulturelle Skripte, Deutungsmuster ven deutschen Soldaten in solchen Ländern ein
und Topoi, Plotstrukturen und schließlich situa- durchaus positives Deutschenbild, das nicht sel-
tive, also soziale und psychologische Notwendig- ten einherging mit tendenziell antisemitischen
keiten. Äußerungen, die sich vor allem auf die aktuelle
Politik Israels gegenüber den Palästinensern be-
zogen. Wie schon in Deutschland spielten in
Privat – Öffentlich
west- als auch in osteuropäischen Ländern Filme
Die bisher angeführten Arbeiten haben einen we- eine stellenweise zentrale Referenz in der Kon-
sentlichen Beitrag zur Vermessung nicht aus- struktion von nationalen aber eben auch von pri-
schließlich öffentlich-offizieller Weitergabepro- vaten familialen Geschichtsbildern. Und eben-
zesse in Deutschland geleistet. Immer implizit, falls wie in Deutschland konstruiert sich das
aber durchaus auch explizit, wie etwa im Falle private Narrativ in Auseinandersetzung mit nati-
von Sabine Moller, die das »Spannungsfeld onalen Basiserzählungen – die gerade im Fall
6. Tradierungsforschung 317

(süd-)osteuropäischer oft junger Nationen kei- gebaut werden wie die stärkere Suche nach
nesfalls stabil sind – selbst wenn es im Ergebnis grundlegenden Aspekten narrativen und kom-
diesen möglicherweise sogar widerspricht. Die- munikativen Erinnerns, wie sie etwa in bestimm-
ses Verhältnis von privaten, öffentlichen/offiziel- ten Erzählmodi vorzuliegen scheinen (Gudehus
len (und somit nationalen) und schließlich trans- 2010). In fast allen Bereichen der Erinnerungs-
nationalen Erzählweisen und nicht nur von je- forschung, insbesondere in jenen zur kollektiven
weils zwei Ebenen untereinander – ist zweifellos Erinnerung, fehlen Metastudien völlig. Die Zu-
noch immer ein Desiderat der Forschung. Mi- kunft der Tradierungsforschung allerdings ge-
chael Heinlein hat mit einer Untersuchung zum hört vor allem dem Thema ›Zukunft‹ selbst, der
Phänomen der deutschen ›Kriegskinder‹ begon- Frage also, welche Bedeutung Erwartungen an
nen, diese Lücke zu schließen (Heinlein 2009). und Konzepte von Zukunft für Vergangenheits-
deutungen haben (Bleakney/Welzer 2009). Drin-
gend notwendig ist der Ausbau jeder Form von
Ausblick
Rezeptionsforschung als Grundlagenforschung
Die Tradierungsforschung verlässt, wie die For- insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung fil-
schung zu kollektiver Erinnerung generell, mit mischer Vergangenheitsrepräsentationen für die
großen Schritten das Thema ›Nationalsozialis- Herausbildung von Geschichtsbildern auf ver-
mus und Zweiter Weltkrieg‹. In Luxemburg etwa schiedensten Ebenen. Erste Studien deuten an,
untersucht ein interdisziplinär angelegtes Projekt dass Filme zu tatsächlichen Ereignissen, wie an-
Tradierungsvorgänge in ganz unterschiedlich dere Deutungsangebote auch, gemäß individuel-
verfassten Milieus. Die Erinnerung von Migran- ler Dispositionen angeeignet werden. So kann ein
ten verschiedener Generationen, Stahlarbeitern und dasselbe Produkt ebenso Ausgangspunkt
und Bauern fokussieren eben weniger oder kaum von hochemotionalen Selbstthematisierungen
auf Krieg, sondern auf die Bedeutung von Kon- wie von Reflexionen über den konstruktiven
zepten wie Heimat, Integration, Konstruktion be- Charakter von Geschichtsdeutungen sein (Gude-
ruflicher Biographien oder auf spezifisch ver- hus/Anderson 2010).
fasste Erinnerungsgemeinschaften für Tradie- Wie der Blick in die Vergangenheit, Gegenwart
rungsvorgänge. Neben dieser auf eine thematische und Zukunft der noch jungen Tradierungs-
Verschiebung und gleichzeitig vergleichend an- forschung zeigt, ist der Ansatz in steter Entwick-
gelegten Forschung liegen weitere Potenziale für lung begriffen, transdisziplinär angelegt und im
die Forschung in einer Reihe von Bereichen. So Hinblick auf andere Disziplinen, Methoden und
konzentrieren sich bisherige Studien stark auf Theorien anschlussfähig.
eine recht klein konzipierte Familie, andere Kon-
stellationen von erinnerungsrelevanten Peers Literatur
(z. B. Freunde) sind noch wenig untersucht. Ne-
ben einer Verbreitung des Feldes muss es um eine Bleakney, Lesley Ann/Welzer, Harald: Strukturwandel
des Familiengedächtnisses: Ein Werkstattbericht. In:
Vertiefung gehen, also darum, das Soziale der Er-
Familiendynamik 34. Jg., H. 1 (2009), 2–9.
innerung, insbesondere methodisch, etwa durch Boll, Friedhelm: Sprechen als Last und Befreiung. Holo-
Rückgriff auf ethnographische Ansätze, tiefer caust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Dik-
aufzuschließen. Darüber hinaus hat Karoline taturen. Bonn 2003.
Tschuggnall (2004) gezeigt, wie fruchtbar der Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und
Blick zu benachbarten Disziplinen wie etwa der Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt
Diskurspsychologie oder auch zur Narratologie a. M. 1996.
Georgi, Viola B.: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbil-
ist. Bezüge zur klassisch sozialpsychologischen der junger Migranten in Deutschland. Hamburg
Forschung, etwa in Form der Untersuchung von 2003.
Erzählketten innerhalb der Weitererzählfor- Gudehus, Christian: Remembering WWII in Europe –
schung (Koch/Welzer 2005), können ebenso aus- Structures of Remembrance. In: Eric Langenbacher/
318 IV. Forschungsgebiete

William Niven/Ruth Wittlinger (Hg.): Dynamics of Moller, Sabine: Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Er-
Memory in the New Europe. New York/Oxford 2010. innerungskulturen und Familienerinnerungen an die
– /Anderson, Stewart: Lesarten eines Films über Ge- NS-Zeit in Ostdeutschland. Tübingen 2003.
schichte. In: WerkstattGeschichte 53 (2010, im Er- Rosenthal, Gabriele: Fragestellung und Methode. In:
scheinen). Dies. (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Genera-
Heinlein, Michael: Die Erfindung der Erinnerung. Zur tionen. Familien von Überlebenden der Shoah und von
Repräsentation deutscher Kriegskindheiten im Ge- Nazi-Tätern. Gießen 1997.
dächtnis der Gegenwart. Unveröffentlichte Disserta- –: Trennende und bindende Vergangenheiten. Zur fa-
tion. München 2009. milienbiographischen Arbeit und Dynamik in Ehen
Jensen, Olaf: Geschichte machen. Strukturmerkmale des zwischen Nachkommen und Überlebenden der
intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergan- Shoah und von Nazi-Tätern. In: Christian Staffa/Ka-
genheit in deutschen Familien. Tübingen 2004. tharina Klinger (Hg.): Die Gegenwart der Geschichte
Koch, Torsten/Welzer, Harald: Weitererzählforschung. des Holocaust. Intergenerationelle Tradierung und
Zur seriellen Reproduktion erzählter Geschichten. Kommunikation der Nachkommen. Berlin 1998.
In: Thomas Hengartner/Brigitta Schmidt-Lauber Tschuggnall, Karoline: Sprachspiele des Erinnerns. Le-
(Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Biographie- und bensgeschichte, Gedächtnis und Kultur. Gießen 2004.
Erzählforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann Welzer, Harald (Hg.): Der Krieg der Erinnerung. Holo-
zum 65. Geburtstag. Berlin 2005. caust, Kollaboration und Widerstand im europäischen
Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Ge- Gedächtnis. Frankfurt a. M. 2007.
schichte. Der Nationalsozialismus und die jungen – /Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war
Deutschen. Berlin 1997. kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im
Leonhard, Nina: Politik- und Geschichtsbewusstsein im Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M. 62008.
Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozia- – /Montau, Robert/Plaß, Christine. »Was wir für böse
listischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generati- Menschen sind!«. Der Nationalsozialismus im Ge-
onen in Ost- und Westdeutschland. Münster 2002. spräch zwischen den Generationen. Tübingen 1997.
Christian Gudehus
319

7. Geschlechterforschung die Grenzen zwischen akademischen und nicht


akademischen Formen der Wissensproduktion
Seit Anfang der 1970er Jahre formierte sich die noch fließend. Der Grund dafür besteht darin,
›Neue Frauenbewegung‹ und die daraus erwach- dass die Etablierung der akademischen Frauen-
sende feministische Forschung, die zunächst un- forschung zwar ein Resultat der Frauenbewegung
ter dem Begriff ›Frauenforschung‹ firmierte. Eine war, zugleich jedoch starke Vorbehalte gegenüber
sowohl für die politische Bewegung als auch für der institutionalisierten Wissenschaft bestanden.
die Frauenforschung entscheidende Annahme Diese wurde mit ihren tradierten Regeln und Er-
war, das ein Verständnis der historisch gewachse- kenntnisidealen sowie aufgrund ihrer elitären
nen patriarchalen und frauenunterdrückenden Struktur geradezu als Inbegriff männlicher Hege-
Strukturen eine der Grundbedingungen für de- monie betrachtet. Wenn im Folgenden nachge-
ren Überwindung wäre. Damit war nicht nur eine zeichnet wird, in welcher Weise die Kategorien
enge Verbindung zwischen einem feministischen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ in der Frauen-
Erkenntnisprojekt und dem politischen Projekt des und Geschlechterforschung seit deren Anfängen
Kampfes um Gleichberechtigung zwischen den eine Rolle gespielt haben, so wird an manchen
Geschlechtern geknüpft. Vielmehr war auch eine Stellen auch deutlich werden, dass es dabei zu-
Verbindung zwischen dem Blick in die Vergan- mindest in den Anfängen auch darum ging, die
genheit und der emanzipatorischen Veränderung tradierten akademischen Spielregeln selbst in
der Gegenwart und Zukunft geschaffen. Das Frage zu stellen, bewusst die politische Dimen-
Thema der Erinnerung spielt somit in der femi- sion von Wissensproduktion zu mobilisieren und
nistischen Forschungsliteratur eine bedeutende die Grenzen zwischen akademischer und nicht-
Rolle – sowohl in direkter wie indirekter Weise. akademischer Erkenntnis in Frage zu stellen.
So lautete einer der entscheidenden Kritikpunkte Gleichzeitig wird dieser Beitrag jedoch auch den
an der als ›männlich dominiert‹ kritisierten geis- Wandel nachzeichnen, den der theoretische und
tes- und sozialwissenschaftlichen Praxis, dass methodologische Status der Erinnerungs-Kate-
die Erfahrungs-, Lebens- und Sichtweisen von gorie im Zuge der Etablierung und Professionali-
Frauen systematisch ausgeblendet und damit de- sierung feministischer Forschung durchlaufen
ren Ausschluss von sozialer und politischer Teil- hat.
habe perpetuiert würde. Anliegen feministischer Von zentraler Bedeutung ist zudem die unter-
Wissensproduktion war somit, weibliche Lebens- schiedliche Konzeptualisierung der Kategorie
wirklichkeit ›in Erinnerung zu rufen‹ und Frauen ›Geschlecht‹, die verschiedene ›Generationen‹
in einer historischen und Gegenwartsperspektive von Geschlechterforschung voneinander trennt.
den Status als handelnde Subjekte zu geben. Ne- Dabei können im Wesentlichen drei Ansätze un-
ben der Betonung weiblicher Erfahrungen ging terschieden werden, die der Frage nach Erinne-
es jedoch auch um weibliche Erkenntnisweisen. rung und Gedächtnis einen jeweils grundlegend
Einem Großteil vorherrschender wissenschaftli- verschiedenen Status zuweisen:
cher Standards wurde ein male bias nachgewie- 1. Frauenforschung als ›Erinnerungsprojekt‹: Pa-
sen, dem eine feministische Epistemologie entge- triarchatskritik und Suche nach ›weiblichen
gengesetzt wurde. Wie zu zeigen sein wird, spielte Genealogien‹.
auch auf dieser Ebene der Wissensproduktion die 2. Die konstruktivistische Wende: Erinnerung als
Kategorie der Erinnerung eine zentrale Rolle. Der Werkzeug der Dekonstruktion von Geschlech-
›weiblichen (Gegen-)Erinnerung‹ wurde somit terdiskursen.
ein emanzipatorisches Potenzial zugesprochen, 3. Queer Theorie: Performanz als Erinnerung –
wodurch sie sowohl zum Gegenstand als auch zur Erinnerung als Performanz.
Methode feministischer Forschungspraxis avan-
cierte.
In der frühen Phase der Frauenforschung sind
320 IV. Forschungsgebiete

Frauenforschung als ›Erinnerungsprojekt‹ gangenen Utopie‹. Göttner-Abendroth betrachtet


die Matriarchatsforschung als explizites Erinne-
Die Anfänge der Frauenforschung können in rungsprojekt, durch das eine verborgene und be-
vielfacher Weise als ›Erinnerunsprojekt‹ be- wusst verschwiegene zivilisatorische Tradition –
schrieben werden. Zum einen ging es darum, die und damit Alternativen zu bestehenden Ge-
feministische Analyse, wonach die Frauenunter- schlechterordnungen – wieder ins Gedächtnis
drückung eine der zentralen Achsen gewaltför- gerufen werden sollten (vgl. Göttner-Abendroth
miger Herrschaft darstellt, und damit den Kampf 1982a; 1982b).
um die Befreiung von dieser Herrschaft auf ein Weniger radikal im Hinblick auf die Suche
historisches Fundament zu stellen. Weiterhin nach ›weiblichen Gegenentwürfen‹ zur männli-
ging es darum, Frauen als Akteurinnen in die Ge- chen Vorherrschaft verhalten sich große Teile der
schichte einzuschreiben und damit Genealogien frühen Frauengeschichtsschreibung. Hier geht es
selbstbewusster und handelnder weiblicher Sub- vielmehr darum, weibliche Erfahrungs- und Le-
jekte zu etablieren. Darüber hinaus handelte die- benswelten in unterschiedlichen historischen
ses Projekt vielfach um die ›Wiederentdeckung‹ Epochen sichtbar zu machen, die in der traditio-
verschütteter oder verschwiegener weiblicher nellen, auf männlich dominierte Herrschaftseli-
Denk- und Ausdrucksweisen. ten hin orientierten Geschichtsschreibung keine
Betrachtet man die feministische Literatur der Beachtung fanden. Im Gegensatz zu der oben be-
1970er und frühen 1980er Jahre, so taucht der sprochenen ›Patriarchatskritik‹ stellen histori-
Begriff des ›Patriarchats‹ in einer Vielzahl der Ti- sche Studien über Frauen im Mittelalter, der Frü-
tel auf. In vielen Fällen hat dieser Begriff den Sta- hen Neuzeit etc. häufig gerade die Vorstellung ei-
tus einer analytischen Kategorie für eine Be- ner vollkommenen Frauenunterdrückung in
schreibung gegenwärtiger männlicher Vorherr- Frage und beleuchten Handlungsspielräume oder
schaft, in einem anderen Teil der Literatur hat er heben markante historische Frauenfiguren her-
den Status einer historischen Kategorie, durch vor, die Macht und Einfluss gewinnen konnten.
den die Geschichte der Frauenunterdrückung Aber auch hier spielt das Anliegen eine Rolle,
angezeigt wird. Der Ansatz der ›Patriarchats- dass die Einschreibung weiblicher Handlungs-
geschichte‹ kam dem Anspruch gleich, die Welt- möglichkeiten und Akteurinnen in die Ge-
geschichte radikal unter dem Vorzeichen der schichte eine entscheidende Rolle im Hinblick
Geschlechterherrschaft umzuschreiben. Eine auf die Möglichkeit von Frauen spielt, sich selbst
zentrale Referenz stellte dabei Ernest Borne- als handelnde Subjekte aufzufassen und zu reali-
manns Buch Das Patriarchat. Ursprung und Zu- sieren.
kunft unseres Gesellschaftssystems von 1976 dar. In besonders starkem Maße galt dies für die
Da jedoch das ›master narrative‹ der patriarcha- Erforschung der Geschichte der bürgerlichen
len Herrschaft, das – anders als der historische Aufklärung. Die Erforschung der Genese und
Materialismus im Marxismus – keine Eschatolo- Durchsetzung der bürgerlichen Geschlechterord-
gie der Befreiung aufzuweisen hatte, Frauen in ei- nung, mit ihrer radikalen Trennung von öffentli-
ner ›ewig währenden‹ Opferposition festzu- cher und privater Sphäre und der damit verbun-
schreiben drohte, bedurfte es utopischer Gegen- denen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung,
modelle. hatte eine wesentliche Funktion für feministische
Die Suche nach solchen Gegenmodellen in Selbstverständigung und Standortbestimmung
der Geschichte führte zu einem Interesse an (vgl. die Literaturübersicht von Paletschek 1993).
matriarchalen Gesellschaften. Die prominenteste Der Titel von Karin Hausens Buch Frauen suchen
deutschsprachige Vertreterin der Matriarchats- ihre Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhun-
forschung ist Heide Göttner-Abendroth. Matri- dert (1983) kann diesbezüglich als programma-
archale Gesellschaftsformen gewannen den Sta- tisch angesehen werden.
tus einer teils historischen, teils mythischen ›ver- Besondere Aufmerksamkeit wurde natürlich
7. Geschlechterforschung 321

auch der ›Ersten Frauenbewegung‹ und dem Kampf um die Gleichberechtigung beziehen und
Kampf um die politische Partizipation von Frauen deshalb Frauen mit ihren individuellen Lebens-
zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewidmet. Je und Unterdrückungserfahrungen – und Erinne-
nach politischem Standort der Autorinnen, stell- rungen – Stimme und Autorität verleihen.
ten die Aktivistinnen der bürgerlichen und/oder Diese Vorstellung von der Autorisierung weib-
sozialistischen Frauenbewegung die Grundlage licher Erfahrung und Erinnerung innerhalb wis-
einer ›weiblichen politischen Genealogie‹ dar. senschaftlicher Praxis wurde auch durch die Eta-
Angesichts der weiterhin bestehenden männli- blierung des Feldes der ›Alltagsgeschichte‹ in den
chen Dominanz im Feld des Politischen erschien 1980er Jahren unterstützt. In Bezug auf zeitge-
diese Erinnerung an weibliche Vorkämpferinnen schichtliche Themen und hier vor allem die Herr-
als ein Reservoir positiver Identifikationsmög- schaft des Nationalsozialismus versprachen die
lichkeit. Methode der Oral History und der Ansatz der
In ähnlicher Weise widmete sich auch die Alltagsgeschichte Frauenerinnerungen in den
frühe feministische Literaturwissenschaft der Su- Rang relevanter Quellen der Geschichtsschrei-
che nach weiblichen Genealogien in der Litera- bung zu setzen und ihnen den Status eines Kor-
turgeschichte. Die Beschäftigung mit weiblicher rektivs vorherrschender, männlich dominierter
Autorschaft blieb dabei nicht immer bei der Ein- Geschichtsbilder zuzuweisen. Allerdings gab es
schreibung ›vergessener‹ Autorinnen in den lite- auch innerhalb der feministischen Wissenschaft
rarischen Kanon stehen. Zum Teil ging es auch Einwände. Die einseitige identifikatorische Aus-
darum, ein spezifisches »weibliches Schreiben« richtung auf weibliche Erfahrungen als Opfer-
zu behaupten, das sich mit den Vorstellungen ei- und Unterdrückungserfahrungen wurde vor
ner anderen, weiblichen Rationalität in Teilen der allem im Hinblick auf die Geschichte des Natio-
feministischen Philosophie deckte (vgl. Erhart/ nalsozialismus als zusehends problematisch an-
Herrmann 1996). gesehen. Die Publikation eines Buches von Clau-
dia Koonz (1987), in dem sie die aktive Teilhabe
von Frauen am Projekt im nationalsozialistischen
Erinnerung als Methode: Oral History,
Volksgemeinschafts- und Rassenprojekt themati-
Selbsterfahrung und Biographieforschung
sierte, löste eine heftige Debatte innerhalb der
In dem Anliegen, die Geschichten historischer deutschen Frauenforschung aus. Als einer der
Akteurinnen sichtbar zu machen und deren Er- Kulminationspunkte kann die von Christina
fahrung und Wissen in den autorisierten kultu- Thürmer-Rohr (1989) geprägte Wendung von
rellen Kanon einzuschreiben, richtete sich das fe- der weiblichen (Mit-)Täterschaft betrachtet wer-
ministische Interesse auch auf die Methode der den. Damit hatte sich das Schwergewicht des fe-
Oral History, also die Dokumentation mündlich ministischen Interesses von einer parteilichen,
überlieferter Erinnerungen. Die Methode der viktimisierenden Perspektive auf weibliche Er-
Oral History, mit ihrem Anspruch, »Geschichte fahrungen auf die Frage hin verlagert, in welcher
von unten« zu schreiben und denjenigen histori- Weise die Geschlechterverhältnisse beschaffen
schen Akteurinnen und Akteuren eine Stimme waren, die das NS-Regime an die Macht brachten
zu geben, die in den traditionell verwendeten und dort hielten. Das Erinnerungsprojekt war
Quellen der Geschichtsschreibung nicht zu Wort dabei, sich von einem rein affirmativen zu einem
kommen, entsprach den Anliegen feministischer kritisch-dekonstruktiven zu wandeln.
Forschung. In ihren »Methodischen Postulaten ›Weibliche Erinnerungen‹ rückten jedoch auch
zur Frauenforschung« hatte Maria Mies 1984 die in anderen Disziplinen ins Zentrum feministi-
Prinzipien der Parteilichkeit und Subjektivität ge- scher Methodologie. Die oben bereits erwähnten
gen das als männlich dominiert erachtete Objek- Postulate Maria Mies’, in denen Parteilichkeit und
tivitätsideal in der Wissenschaft eingefordert. Die Subjektivität als wissenschaftliche Leitprinzipien
Frauenforschung sollte Position im politischen behauptet wurden, beeinflussten die Methodolo-
322 IV. Forschungsgebiete

gie der sozialwissenschaftlichen und zum Teil nerungen beruht, geht es gerade nicht um empa-
psychologischen Frauenforschung. Aus der Er- thisches Einleben und parteiliche Bestärkung der
kenntnis heraus, dass das wissenschaftliche ›weiblichen‹ Perspektive. Vielmehr werden die
Objektivitätsideal ein hierarchisches Verhältnis Erinnerungstexte bewusst distanzierenden Tech-
zwischen Forschenden und Beforschten hervor- niken unterzogen, die darauf abzielen, sich von
bringt, in dem die ausschließliche Definitions- den darin enthaltenen ›selbstverständlichen‹
macht auf Seiten der Forschenden liegt, wurde Sichtweisen zu lösen und die eigene, weibliche
›Selbsterfahrung‹ aus ihrem ursprünglich thera- Positionierung als Bestandteil bestehender Herr-
peutischen Kontext herausgelöst und als alterna- schafts- und Geschlechterverhältnisse zu erach-
tive wissenschaftliche Methode entwickelt. Der ten. Diese kritische Durchleuchtung von Erinne-
Grundgedanke bestand darin, dass ein kritisches rungskonstruktionen soll Aufschluss darüber ge-
Wissen über gesellschaftliche Verhältnisse und ben, wie gesellschaftliche Normen, Werte und
vor allem über die geschlechtsspezifischen Dis- Identifikationen internalisiert wurden und Wege
kriminierungsmechanismen seinen Ausgangs- der De-identifizierung und gesellschaftlichen
punkt in den individuellen Erinnerungen und Veränderung aufzeigen – Haug nennt dies den
Erfahrungen der Forscherin hätte. Frauen sollten Prozess der »Entselbstverständlichung« (vgl.
nicht Objekte der Forschung sein, sondern in je- Haug 1988; 1999).
dem Schritt des Forschungsprozesses als deren Diese Sichtweise gewann ab Ende der 1980er
Subjekte zu Geltung kommen. Unter dem Vorzei- Jahre unter dem Einfluss der postmodernen The-
chen der Parteilichkeit wurden die subjektiven orie und hier vor allem der Foucaultschen Dis-
Erfahrungen und Erinnerungen jedoch keiner kursanalyse und der von Jacques Derrida entwi-
systematischen kritisch-distanzierenden Refle- ckelten Theorie der Dekonstruktion an Bedeu-
xion unterzogen. Basierend auf der Forderung tung. An die Stelle von ›Weiblichkeit‹ trat
nach der analytischen Aufhebung der Kategorien ›Geschlecht‹ als zentraler Referenzpunkt und der
von privat und öffentlich/politisch wurde das Weg von der parteilichen Frauenforschung zur
Aufzeigen subjektiver Unterdrückungs-Erinne- dekonstruktiven Geschlechterforschung war be-
rungen und der daraus möglicherweise resultie- schritten.
rende persönliche Befreiungsprozess als eine Hiermit ist ein Zugang zu Phänomenen der
Form politischer Praxis betrachtet. Erinnerung innerhalb der feministischen For-
Jedoch blieb auch hier die innerfeministische schung beschrieben, in der ›Weiblichkeit‹ nicht
Kritik nicht aus. Vor allem marxistisch orientierte mehr als unproblematische und rein affirmativ
Soziologinnen wie Frigga Haug betrachteten die verwendete Kategorie erscheint, die es nur von
Welle von ›Selbsterfahrungsgruppen‹ und die unterdrückenden, patriarchalen Beschädigungen
Überbewertung subjektiver Erfahrungen in der zu befreien gilt. Ganz im Gegenteil, Weiblichkeit
Frauenforschung als Abrutschen in eine thera- wird hier als selbst zutiefst verstrickt in die Herr-
peutische und vor allem auch: in eine bürgerlich- schafts- und Unterdrückungsverhältnisse be-
individualisierte Praxis. Der ausschließliche Fo- trachtet. Somit kommt der Erinnerung nicht die
kus auf biographisches Erinnern wurde als An- Funktion der utopischen Rekonstruktion, son-
zeichen der Entpolitisierung der Frauenbewegung dern diejenige der kritischen Dekonstruktion zu.
im Allgemeinen und der Frauenforschung im Be-
sonderen betrachtet. Die von Frigga Haug und
Die konstruktivistische Wende:
Kornelia Hauser entwickelte Methode der ›kol-
Erinnerung als Werkzeug der Dekonstruktion
lektiven Erinnerungsarbeit‹ kann als marxistisch-
von Geschlechterdiskursen
feministisch inspirierter Gegenentwurf der als
individualisierend erachteten ›Selbsterfahrung‹ Wenn Weiblichkeit nicht mehr als unhinter-
angesehen werden. Bei dieser Methode, die zu- fragter Referenzpunkt feministischer Forschung
nächst auch auf dem Festhalten subjektiver Erin- fungiert, sondern ›Geschlecht‹ schlechthin als so-
7. Geschlechterforschung 323

ziales Konstrukt, d. h. als Effekt von kulturellen Für den Status der Erinnerung in der Ge-
Repräsentationsweisen und individuellen Erwer- schlechterforschung bedeutet dies, dass die in
bungsprozessen verstanden wird, dann erhalten gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen
die Phänomene der Erinnerung eine neue Bedeu- materialisierte Geschlechterordnung sowie indi-
tung: Zum einen wird die Kategorie ›Geschlecht‹ viduelle/private als auch kollektive/öffentliche
entessentialisiert und historisiert. Die Erfor- Erinnerung Aufschluss über die Art und Weise
schung kultureller Erinnerung kann somit Auf- geben, in der Geschlechtlichkeit hervorgebracht,
schluss darüber geben, wie zu unterschiedlichen reguliert und stabilisiert wird. Zugleich ruft die-
historischen Zeitpunkten Männlichkeit und ser anti-essentialistische Zugang jedoch auch in
Weiblichkeit kulturell repräsentiert und sozial Erinnerung, dass ›Geschlecht‹ eine im stetigen
hervorgebracht wurden, also wie, in Andrea Mai- historischen Wandel befindliche und kontingente
hofers Worten, »Geschlecht als Existenzweise« Kategorie ist.
konstituiert und reguliert wurde (Maihofer 1994). Für die Biographieforschung repräsentieren
Zum anderen verändert diese Perspektive auch zwei Projekte der letzten Jahre diesen Schritt vom
die Sicht auf individuelle Geschlechteridentitä- Ansatz der Frauen- hin zur Geschlechterfor-
ten. Erinnerungspraktiken geben somit nicht län- schung. Seit 2001 existiert die von Luise F. Pusch
ger Aufschluss über eine – möglicherweise ver- geschaffene Datenbank »FemBio – Frauen.Bio-
schüttete oder beschädigte – authentische Weib- graphieforschung«(http://www.fembio.org/biogra-
lichkeit oder Männlichkeit –, sondern darüber, phie.php). Laut Selbstdarstellung des Projektes
wie Weiblichkeit und Männlichkeit individuell auf der Homepage widmet sich das Projekt »der
innerhalb kultureller und sozialer Kontexte er- Aufklärung der Gesellschaft über ihre bessere
worben wurden. Hälfte«. Die Datenbank umfasst über 30.000 Bio-
Dies hat Konsequenzen für sämtliche Felder graphien von, so wiederum die Homepage, »be-
der Geschlechterforschung. Im Bereich der histo- deutenden Frauen aller Länder«. Geht es hier also
rischen und gerade auch zeitgeschichtlichen For- darum, Frauen qua Frausein in Erinnerung zu
schung, aber auch innerhalb der sozialwissen- rufen, schlagen die Initiatorinnen der 2005
schaftlichen Forschung gewinnt das Geschlecht durchgeführten Tagung »Biographieforschung
als Strukturkategorie an Bedeutung. Gemäß der im sozialwissenschaftlichen Diskurs«, dem im
Definition Joan Scotts (1986) beinhaltet ein sol- gleichen Jahr eine Publikation folgte, einen ande-
cher Zugang vier unterschiedliche Dimensionen: ren Weg ein (vgl. Völter/Dausien u. a. 2005). Hier
1. Kulturelle Symbole und Repräsentationsfor- richtet sich das Interesse auf die Frage, wie bio-
men sind stets auch an geschlechtliche Bedeu- graphische Erinnerungen vergeschlechtlichte So-
tungsdimensionen gebunden; zialisations- und Identitätsbildungsprozesse wi-
2. die normativen Strukturen und Konzepte, derspiegeln. Untersucht werden kulturell vor-
die sowohl soziale und politische Strukturen als herrschende ›Geschlechtererzählungen‹, also
auch Artikulationsmöglichkeiten innerhalb einer jene Skripte, an denen entlang sich Geschlechter-
Gesellschaft regulieren, strukturieren zugleich identitäten im Rückgriff auf vergangene indivi-
auch die Geschlechterordnung; duelle Erfahrungen sowie auf kulturell gespei-
3. gesellschaftliche Institutionen stellen auch chertes und zirkulierendes ›Geschlechtswissen‹
Materialisierungen der kulturellen Geschlechter- formieren. Zudem kommt auch die Verschrän-
ordnung dar; kung der Kategorie ›Geschlecht‹ mit anderen für
4. der mit der Herausbildung einer Ge- die Identitätsbildung bedeutsamen Strukturkate-
schlechtsidentität verbundene Prozess der Sub- gorien, wie z. B. Ethnizität oder soziale Schicht-/
jektkonstitution ist von den herrschenden kul- Klassenzugehörigkeit in den Blick. Dieser Ansatz
turellen Repräsentationssystemen und deren der Intersektionalität lässt individuelle Erinne-
strukturellen Materialisierungen nicht zu tren- rungen analytisch als Brenngläser gesellschaftli-
nen. cher Herrschaftsverhältnisse begreifen.
324 IV. Forschungsgebiete

Im Zuge der konstruktivistischen Wende in telter Vergangenheitsvorstellungen untersucht


der Geschlechterforschung ist neben dem indivi- werden können (vgl. Heinsohn/Lenz 2005).
duellen auch das kollektive Erinnern ins Zen- Die Erkenntnis, dass in der öffentlichen Erin-
trum der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei richtet nerung entlang geschlechtsspezifischer Muster
sich ein Hauptinteresse auf institutionalisiertes reguliert wird, wer etwas Relevantes, Wahres und
Erinnern und Gedenken im Rahmen des Natio- Legitimes zur Verhandlung der Vergangenheit
nalen. Nira Yuval-Davis (1997) verweist in ihren beizutragen hat, spiegelt sich auch in der Tradie-
Arbeiten darauf, dass die Konstruktion des Nati- rungsforschung wider, wenn es um die Untersu-
onalen und nationaler Identitäten und damit chung familiärer Erinnerung geht. Die Familie
auch die Konstruktion nationaler Traditionen stellt als soziale Erinnerungsgemeinschaft eine
und kollektiven Gedenkens eng mit der Durch- besondere Scharnierstelle zwischen den Dimen-
setzung der bürgerlichen Geschlechterordnung sionen der individuellen und öffentlichen Erin-
verbunden waren. Die weiblichen und männli- nerung dar (Lenz/Welzer 2007). Eine geschlechts-
chen Figuren, die im nationalen Gedenken reprä- spezifische Analyse familiärer Kommunikations-
sentiert werden, stehen für gesellschaftliche Ord- prozesse über die Vergangenheit zeigt, dass es
nungsmodelle. In den Monumenten und Ritua- hier, ebenso wie im öffentlichen Raum, autori-
len des Gedenkens eingeschriebenes männliches sierte SprecherInnenpositionen und ›männliche‹
Heldentum und weibliche Mütterlichkeit und bzw. ›weibliche‹ Zuständigkeiten gibt (Bjerg/Lenz
Opferbereitschaft spiegeln die Aufteilung in ei- 2008). Hier schlägt sich die kulturelle Zuweisung
nen aktiv und männlich konnotierten öffentli- nieder, wonach weibliche Erfahrungen einen sub-
chen Raum und eine passiv und weiblich konno- jektiven Charakter haben, männliche hingegen
tierte Privatsphäre wider (Hoffmann-Curtius einen objektiven (vgl. Schraut/Paletschek 2008).
2002). Dies korrespondierte mit einer Autorisie- Allerdings führt die in den letzten Jahren ge-
rung individueller wie kollektiver Akteure, wenn wachsene Aufmerksamkeit für den Kriegsalltag
es darum ging, über die Vergangenheit oder im und nicht zuletzt für die damit verbundenen As-
Namen der Vergangenheit zu sprechen. pekte des Leidens und der Entbehrung dazu, dass
Inzwischen gut bearbeitet sind die Erinne- Zeitzeuginnen von den Angehörigen der nach-
rungskulturen im Bezug auf den Nationalso- folgenden Generationen doch als relevante Spre-
zialismus und den Holocaust, wobei auf die Dop- cherinnen betrachtet werden (Bjerg/Lenz 2008).
pelfunktion von Geschlechterbildern innerhalb Somit lässt sich für die gegenwärtige Ge-
dieser Vergangenheitsdiskurse verwiesen wird. schlechterforschung feststellen, dass individuelle
Diese liegt einerseits in der Konstituierung iden- wie auch kulturelle Erinnerungen einerseits eine
tifikationsfähiger geschichtspolitischer Diskurse Grundlage der Analyse der sozialen Konstruk-
und andererseits in der Konsolidierung und Le- tion von Geschlecht darstellt, anderseits aber
gitimierung bestehender Geschlechterordnun- auch weiterhin eine Referenz für die Thematisie-
gen. Insa Eschebach (2002) verweist darauf, dass rung und Autorisierung der Erfahrungen kon-
Männern und Frauen in den Repräsentationssys- kreter Frauen und Männer bleiben. Einen weite-
temen und Diskursen öffentlichen Erinnerns je ren Schritt in der Demontage der Kategorien
unterschiedliche Akteurspositionen, Handlungs- ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ geht die Queer
spielräume und damit Autorisierungen für die Theory in ihrer anti-essentialistischen und anti-
Gegenwart und Zukunft zugewiesen werden. So- normativen Programmatik.
mit stellen sich öffentliche Vergangenheitsdis-
kurse als Teil der Verhandlung gesellschaftlicher
Queer Theorie: Performanz als Erinnerung
Deutungs- und Definitionsmacht dar. Die me-
– Erinnerung als Performanz
thodologische Antwort darauf sind analytische
Instrumente, mit denen die inhärenten Ge- Zentrales Anliegen der Queer Theory ist die Auf-
schlechterentwürfe öffentlich und medial vermit- hebung von Normalitätsvorstellungen und nor-
7. Geschlechterforschung 325

mativer Begrenzungen im Denken über Ge- in einem Denkmal enthistorisierende und nor-
schlechtlichkeit. Dies gilt vor allem im Hinblick mative Vorstellungen über Homosexualität fest-
auf die Konzepte von Zweigeschlechtlichkeit und zuschreiben.
Heterosexualität. Ziel der Queer Studies ist es,
einen kulturellen Raum für andere geschlechtli-
Ausblick: Das Geschlecht der Erinnerung
che Existenzweisen und Begehrensformen zu er-
und seine Zukunft
öffnen. Zentrale theoretische Bezugspunkte der
Queer Theory sind die Konzepte der Iteration ›Geschlecht‹ und ›Erinnerung‹ sind in der
(Wiederholung) und der Performativität, die gegenwärtigen Forschungspraxis in zweierlei
beide in direkter Weise das Problem von Erinne- Richtung miteinander verbunden: Zum einen
rung und Gedächtnis berühren (vgl. Enderwitz eröffnet der erinnernde Rückbezug auf die Ver-
2008). Der Grundgedanke besteht darin, dass Ge- gangenheit Erkenntnismöglichkeiten im Hin-
schlecht und sexuelles Begehren keinerlei natür- blick auf die Bedeutung der Kategorie ›Ge-
lichen Festlegungen unterliegen, sondern durch schlecht‹ für individuelle Lebensweisen, soziale
stetige Wiederholungspraktiken hervorgebracht Strukturen und politische Herrschaft. Zum an-
werden. Die theoretisch unbegrenzte Vielfalt von deren stellt die Kategorie ›Geschlecht‹ einen
Geschlechts- und Begehrensformen wird jedoch wichtigen analytischen Zugang im Hinblick auf
durch kulturelle Normierungen und deren Inter- die Formierungsmechanismen und Funktionen
nalisierung begrenzt, die das Kontingente als un- individuellen und kollektiven Erinnerns dar.
abänderlich und natürlich erscheinen lassen. Das Gegenwärtig dominieren auf dem Feld der
Anliegen der Queer Theory besteht darin, diese Geschlechterforschung sozialkonstruktivistische
Norm(alis)ierungsmecha-nismen zu dekonstru- und dekonstruktivistische Zugänge, allerdings
ieren und das in performativen Praktiken ange- bleibt das Moment der ›identitätspolitischen‹
legte Potenzial radikaler Veränderung und Neu- Funktion dieser Forschung durchweg erhalten.
schöpfung zu mobiliseren. In der Figur der Wie- Wie es scheint, werden in absehbarer Zukunft
derholung liegt eine Verbindung zum Gedächtnis wohl die Rekonstruktion von weiblichen Genea-
und zur Erinnerung. Denn in gewisser Weise logien und verborgenen Traditionen, die kriti-
›schöpft‹ sich Geschlechtlichkeit also stets aus sche Untersuchung der Bedeutung von Ge-
dem Material vergangener Geschlechtsdiskurse schlecht in der historischen Regulierung von
und -praktiken. Statt jedoch deshalb die Vergan- Macht und Autorität als auch radikal identitäts-
genheit zu einer identitätsstiftenden Referenz kritische und dekonstruktivistische Bemühun-
werden zu lassen wird sie zum Gegenstand per- gen, die historische Kontingenz und performa-
manenter Dekonstruktion. Die Annahme der ste- tive Gestaltbarkeit von Geschlecht zu behaupten,
tigen performativen Generierung von Geschlecht in der Geschlechterforschung anzutreffen sein.
reduziert das Erinnern auf den Akt der Wieder- Interessant ist es, entlang welcher aktuellen ge-
holung selbst. Vorstellungen von Genealogie oder schichtspolitischen und geschlechterpolitischen
Traditionsbildung sind stets dem Verdacht nor- Debatten sich dieser Zugang zukünftig entwi-
mativer und normalisierender Engführung aus- ckeln wird.
gesetzt.
Geschichtspolitisch führt diese zugespitzte Po-
Literatur
sition der Verweigerung von Tradierung aller-
dings zu Dilemmata, wie sich anhand der Diskus- Bjerg, Helle/Lenz, Claudia: »If only grandfather were
sion um das Denkmal für die Verfolgung der Ho- here to tell us…« Gender as a Category in the Culture
mosexuellen im Nationalsozialismus gezeigt hat. of Memory of the Occupation in Denmark and
Norway. In: Sylvia Paletschek/Sylvia Schraut (Hg.):
Dem Anliegen, die Verfolgung dieser Gruppe in
The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in
das kollektive Gedächtnis einzuschreiben, steht Nineteenth- and Twentieth-Century Europe. Frank-
die Skepsis entgegen, durch deren Repräsentation furt a. M./New York 2008, 221–237.
326 IV. Forschungsgebiete

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Erhart, Walter/Herrmann, Britta: Feministische Zu- funde einer vergleichenden Tradierungsforschung.
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Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literatur- der Erinnerungen. Holocaust, Kollaboration und Wi-
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Eschebach, Insa: Heilige Stätte – imaginierte Gemein- 2007, 7–41.
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denken. In: Dies./Sigrid Jacobeit/Silke Wenk (Hg.): kritische Anmerkungen zu aktuellen Versuchen zu
Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Dar- einem neuen Verständnis von »Geschlecht«. In: In-
stellungen des nationalsozialistischen Genozids. stitut für Sozialforschung Frankfurt (Hg.): Geschlech-
Frankfurt a. M. 2002, 117–136. terverhältnisse und Politik. Frankfurt a. M. 1994, 168–
Göttner-Abendroth, Heide: Die tanzende Göttin: Prin- 185.
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The Duke Lectures. Hamburg 1999. Schraut, Sylvia/Paletschek, Sylvia: Remembrance and
Hausen, Karin: Frauen suchen ihre Geschichte. Studien Gender: Making Gender Visible and Inscribing Wo-
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Heinsohn, Kirsten/Lenz, Claudia: Dekodieren als kriti- via Schraut (Hg.): The Gender of Memory. Cultures of
sche Methode: Lektüren zu einer Geschlechterord- Remembrance in Nineteenth- and Twentieth-Century
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Claudia Lenz
327

8. Generationenforschung der ursprüngliche genealogische Bedeutungszu-


sammenhang von Generation im Sinn von Erb-
Das Konzept der Generation erfreut sich seit den schaft und Tradierung wiederbelebt worden. ›Ge-
1990er Jahren zunehmender Beliebtheit, nicht neration‹ ist somit zu einer Art Gedächtniskate-
nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in der gorie geworden, mit der das Nachwirken ebenso
Wissenschaft. Zu den untrüglichen Zeichen ei- wie die Rekonstruktion von Vergangenem in den
ner solchen Konjunktur gehört die Etablierung Blick genommen werden kann.
von Forschungsschwerpunkten (wie das 2005 Damit sind zwei unterschiedliche Perspektiven
eingerichtete DFG-Graduiertenkolleg Generati- auf die jeweils betrachtete Generation und den
onengeschichte an der Georg-August-Universität sie umgebenden historischen Kontext verbun-
Göttingen) ebenso wie die Veröffentlichung von den: Im Verständnis von Generation als Rekon-
Lehrbüchern (z. B. Jureit 2006) und Handbuch- struktion von Vergangenheit wird das Element
artikeln (z. B. Weigel 2002). Die Beschäftigung der Gemeinschaftsbildung, das den Generatio-
mit Generationsphänomenen ist an sich jedoch nenbegriff ausmacht, durch die Interpretation
nicht neu. Die Zeitgenossenschaft einer Alters- vergangener Ereignisse hergestellt. Die zweite Be-
kohorte und ihre Verortung in einer Generatio- trachtungsweise von Generation betont die Ver-
nenreihe stellt gewissermaßen eine anthropolo- gemeinschaftung durch das Fortwirken eines ge-
gische Grundkonstante dar; Generationenkon- nerationsformierenden Ereignisses – gegebenen-
flikte, d. h. Klagen der Älteren über die Jüngeren falls über mehrere Generationen hinweg. Im
bzw. das Aufbegehren der Jungen gegen die Al- ersten Fall ist also ein historisches Ereignis der
ten, sind bereits für die Antike dokumentiert. Kristallisationspunkt für eine nachfolgende Ver-
Seit Ende des 18. Jahrhunderts werden gesell- gangenheitskonstruktion, die zur Entstehung ei-
schaftliche Veränderungen und Diskontinuitäten ner Generation führt. Im zweiten Fall ist das ur-
zudem bevorzugt unter der Perspektive der ›Ge- sprüngliche Ereignis der gemeinsame Bezugs-
neration‹ öffentlich thematisiert und – mit einer punkt, der – auch nachfolgende – Generationen
gewissen Verzögerung – wissenschaftlich unter- konstituiert bzw. prägt.
sucht. Diese beiden Thematisierungsformen des Zu-
Dies gilt auch für die jüngste Konjunktur des sammenhangs von historischem Ereignis, Erin-
Begriffs, die sowohl in Zusammenhang mit dem nerung sowie Generationenbildung, die zusam-
Umbruch von 1989/90 als auch mit der Neube- men mit der Analyse der Generationenbeziehun-
stimmung des ›Generationenvertrags‹, also der gen, also der Merkmale und Modalitäten des
sozialstaatlichen Neuregelung des Verhältnisses (ideellen wie materiellen) Austausches zwischen
zwischen Älteren und Jüngeren im Zuge demo- Eltern und Kindern oder Älteren und Jüngeren,
graphischer Entwicklungen, zu sehen ist. Darü- zu den zentralen Forschungsachsen im aktuellen
ber hinaus spiegelt der Aufschwung der Genera- Feld der Generationenforschung gehören (für ei-
tionenforschung die gestiegene Aufmerksamkeit nen Gesamtüberblick vgl. Jureit 2006), werden
für vergangene Erlebnisse und deren Verarbei- im Folgenden näher beleuchtet. Im nächsten Ab-
tung bzw. Deutung bis in die Gegenwart, kurz: schnitt wird zunächst das in den Geistes- und
für Phänomene von Erinnerung und Gedächtnis Sozialwissenschaften vorherrschende Generatio-
wider. Das Konzept der Generation findet dabei nenverständnis in der Tradition von Karl Mann-
auf zweierlei Art Anwendung: Zum einen werden heim dargestellt, das die Nutzung des Generatio-
Generationen inzwischen nicht nur als Erfah- nenbegriffs bis heute maßgeblich prägt. Anschlie-
rungsgemeinschaften, sondern zunehmend auch ßend wird anhand ausgewählter Beispiele die
als Erinnerungsgemeinschaften verstanden. Zum zunehmende Berücksichtigung von ›Erinne-
anderen ist im Zuge der in den 1980er Jahren auf- rungsfaktoren‹ für die Analyse von historischen
kommenden Beschäftigung mit der nationalsozi- Generationen aufgezeigt. Darauf folgt eine Erör-
alistischen Vergangenheit als Familiengeschichte terung der Bedeutung des genealogischen Gene-
328 IV. Forschungsgebiete

rationsverständnisses im Bereich der Forschung für die Konstitution einer Generation angesehen
zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, bevor wird, wird zusätzlich eine gewisse Gleichartigkeit
schließlich die Verwendung des Generationenbe- der Orientierungen und Verhaltensweisen der
griffs im Rahmen der Auseinandersetzung mit Mitglieder einer Generation vorausgesetzt, die
Erinnerungs- und Gedächtnisphänomenen kri- diese von der ›bloßen‹ Zugehörigkeit zu einer be-
tisch zusammengefasst wird. stimmten Alterskohorte unterscheidet.
Diese Auffassung geht maßgeblich auf die
Überlegungen zum »Problem der Generationen«
Generation als Gleichzeitigkeit und Motor
des ungarisch-deutschen Soziologen Karl Mann-
sozialen Wandels: Karl Mannheim
heim (1893–1947) aus dem Jahr 1928 zurück, der
»Wenn man Generation genau definieren will, [...] stol- wie die meisten seiner Zeitgenossen ›Generation‹
pert man unweigerlich in die Falle, die im Begriff selbst mit dem Neuen und Zukünftigen assoziierte.
versteckt ist, und zwar gleich doppelt. Auf der einen Dieses Generationenverständnis hat seinen Ur-
Seite ist Generation von Natur aus ein rein individuelles sprung in der Beschleunigung der Zeiterfahrung
Phänomen, das jedoch nur kollektiv Sinn macht; auf
der anderen Seite erhält der Begriff, der von seinem Ur-
infolge der Französische Revolution, die der fran-
sprung her Kontinuität bedeutet, seinen Charakter erst zösische Historiker Pierre Nora daher auch als
im Zusammenhang mit Diskontinuität und Bruch« »Schöpferin« des modernen Generationenbe-
(Nora 1997, 2983, dt. Übers. N. L.). griffs bezeichnet hat, »weil sie das Universum der
Veränderung und die egalitäre Welt eröffnet,
Wie zahlreiche andere wissenschaftliche Grund- ermöglicht, beschleunigt und begründet hat, wo-
begriffe zeichnet sich auch der Generationenbe- raus ein ›Generationsbewusstsein‹ entstehen
griff durch eine Vielzahl von Bedeutungszusam- konnte« (Nora 1997, 2979, dt. Übers. N. L.). Wie
menhängen aus: Er wird zur Beschreibung des von Auguste Comte und John Stuart Mill um
Verhältnisses von Familienangehörigen und un- 1840 erstmals wissenschaftlich formuliert, wird
terschiedlichen Altersgruppen ebenso verwendet der Generationswechsel, der bis dahin vor allem
wie für die Analyse von Jugendkulturen oder po- als Faktor für Kontinuität angesehen wurde, seit-
litischen Bewegungen. ›Generation‹ wird sowohl dem als Motor gesellschaftlicher Entwicklungen
analytisch als auch für alltagssprachliche Selbst- thematisiert.
und Fremdzuschreibungen gebraucht und bein- Mannheim selbst rekurriert für seine Konzep-
haltet somit ein deskriptives wie reflexives Mo- tion auf Wilhelm Diltheys Definition von Gene-
ment. Als Forschungskonzept ist der Begriff auf- ration als einem »engen Kreis von Individuen,
grund dieser Mehrdeutigkeit umstritten, findet welche durch Abhängigkeit von denselben gro-
jedoch vermutlich gerade deshalb in ganz unter- ßen Tatsachen und Veränderungen, wie sie im
schiedlichen Disziplinen (wie der Soziologie, Ge- Zeitalter ihrer Empfänglichkeit auftraten, trotz
schichte, Politikwissenschaft, Pädagogik, Psycho- der Verschiedenheit anderer hinzutretender Fak-
logie, Literaturwissenschaft) Anwendung. toren, zu einem homogenen Ganzen verbunden
Außerhalb des familiären Kontextes wird der sind« (Dilthey 1875, zit. nach Jaeger 1977, 432).
Generationenbegriff von den meisten Autoren Mannheim will sich damit von den zu seiner Zeit
als Bezeichnung für eine Gruppe von (ungefähr) einflussreichen Vorstellungen einer quasi natur-
Gleichaltrigen verwendet, die dasselbe Ereignis gegebenen, in gleichmäßigen Abständen erfol-
(z. B. die Geburt, den Schulabschluss, aber auch genden Generationenabfolge abgrenzen und be-
ein bestimmtes historisches Ereignis) im gleichen tont stattdessen die Bedeutung der »inneren Er-
Zeitintervall erleben bzw. erlebt haben, wobei lebniszeit« einer Generation. Dabei beruft er sich
›Zeit‹ hier sowohl geschichtlicher Zeitpunkt als auf das Diktum des Kunsthistorikers Wilhelm
auch Lebenszeit (Alter) bedeuten kann. Neben Pinder von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzei-
dieser Gleichzeitigkeit, die zumeist als notwen- tigen«, um deutlich zu machen, dass der gleiche
dige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung historische Zeitpunkt je nach Generationszuge-
8. Generationenforschung 329

hörigkeit unterschiedlich erlebt wird (Mannheim ren Generationsstil anpasst oder von diesem »un-
1964, 516 f.). Dahinter steht die Annahme, dass terdrückt« wird (ebd., 559).
sich die Eindrücke, die man in der Jugendzeit er- Angesichts der Betonung der prägenden Er-
fährt, »als natürliches Weltbild« festsetzen, an fahrungen in der Jugendzeit ist der Begriff der
dem sich alle späteren Erfahrungen orientieren Generation unter Berufung auf Mannheim in der
(ebd., 536). Die Jüngeren zeichnen sich daher ge- Folge vorwiegend für die Analyse des Jugendal-
genüber den Älteren stets durch einen »›neuen ters, von Jugendbewegungen bzw. ›Jugendgene-
Zugang‹ zum akkumulierten Kulturgut« aus rationen‹ verwendet worden. Seit den Studenten-
(ebd., 530). Die Frage nach den Bedingungen für protesten Ende der 1960er Jahre wird Mann-
die Entstehung einer Generation beantwortet heims Konzeption zudem als besonders geeignet
Mannheim, indem er zwischen drei verschiede- angesehen, um Entstehungsbedingungen wie
nen Ebenen differenziert: Die Generationslage- Handlungsformen ›politischer Generationen‹ zu
rung, die Mannheim in Analogie zur Klassenlage untersuchen (z. B. Fogt 1982). Folgt man der
bestimmt, bezeichnet die Tatsache, dass eine werkgeschichtlichen Interpretation von Lutz
Gruppe von Personen im selben historisch-sozia- Niethammer (2006), beruht diese Rezeption des
len Raum zur selben Zeit geboren wurde. Durch Mannheim’schen Textes allerdings auf einem
die »Partizipation an den gemeinsamen Schicksa- grundlegenden Missverständnis. Trotz der Allge-
len dieser historisch-sozialen Einheit« (ebd., 542) genwart zeitgenössischer Diskurse über die junge
kann sich daraus ein Generationszusammenhang Generation galt Mannheims Interesse demnach
entwickeln. Die Mitglieder eines solchen Gene- weniger der sozialhistorischen Prägung konkre-
rationszusammenhangs sind durch die Bezug- ter Jugendkohorten, als vielmehr den seltenen
nahme auf dieselben »realen sozialen und geis- »Neuformierungsprozessen des Geistes, die aus
tigen Gehalte« und durch eine gemeinsame tiefen und beschleunigten Transformationspro-
Orientierung an »derselben historisch-aktuellen zessen der Gesellschaft hervorgehen mögen«,
Problematik« gekennzeichnet (ebd., 543 f.). Aus also den Entstehungsbedingungen »neuer Para-
einem solchen Zusammenhang können schließ- digma des Welt- und Selbstverständnisses« im
lich unterschiedliche, mitunter polarisierend ein- Zuge sozialer Veränderungen (ebd., 60 f.). Die
ander gegenüberstehende Generationseinheiten Engführung des Generationenproblems auf die
mit einem eigenen Generationsstil hervorgehen. Identifikation konkreter, sozial beschreibbarer
Mannheim versteht darunter »konkrete Grup- Altersgruppen oder Generationseinheiten wurde
pen«, deren Mitglieder sich hinsichtlich der Ver- auch schon zwanzig Jahre zuvor von Joachim
arbeitung und Interpretation gemeinsamer Er- Matthes (1987) unter Berufung auf Mannheims
lebnisse voneinander unterscheiden und sich spätere wissenssoziologische Arbeiten kritisiert.
jeweils durch ein gemeinsames Bewusstsein aus- Matthes plädierte vor diesem Hintergrund dafür,
zeichnen (ebd., 547). Ob sich aus einer Genera- generationelle Verhältnisse als eine Form der »ge-
tionslagerung ein Generationszusammenhang sellschaftlichen Regelung von Zeitlichkeit« ange-
oder gar eine (bzw. mehrere) Generationsein- sichts von Erfahrungen der Ungleichzeitigkeit
heit(en) ausbilden, hängt nach Mannheim »von des Gleichzeitigen zu verstehen. Generationelle
außerbiologischen und außervitalen Faktoren« Selbstthematisierungen, die über bestimmte
ab, »und zwar in erster Reihe von der Eigenart Gruppen in Erscheinung treten, geben demnach
der jeweils besonders gearteten gesellschaftlichen Aufschluss über kulturelle Wahrnehmungs-,
Dynamik« (ebd., 552 f.). Dies gilt ebenso für die Deutungs- und Verhaltensmuster in der entspre-
Frage, ob und wann ein Generationstyp, der den chenden Gesellschaft und sind als solche zu ana-
Generationsstil einer Generationseinheit verkör- lysieren.
pert, darüber hinaus für den Generationszusam- Jenseits solcher bis heute selten gebliebenen
menhang »führend« und einflussreich wird, oder Ansätze, sich mit der Generationenkonzeption
ob er sich als »umgelenkter« Typus einem ande- Mannheims theoretisch auseinander zu setzen,
330 IV. Forschungsgebiete

konzentriert sich die Kritik am Generationenbe- Das Phänomen der 68er-Generation lässt es in
griff auf die Schwierigkeit, eine Generation, ver- der Tat als besonders wichtig erscheinen, zwi-
standen als eine Gruppe von Personen innerhalb schen dem tatsächlichen Ereignis, den damit ver-
eines bestimmten historisch-sozialen Raumes an- bundenen Erfahrungen und der nachträglichen
hand klar definierter Kriterien, entweder als Ge- Erinnerung zu unterscheiden: Die protestieren-
nerationszusammenhang in Mannheims Ver- den Studierenden und ihre Anhänger stellten
ständnis oder gar als sozial bzw. politisch han- Ende der 1960er zahlenmäßig nur eine kleine
delnde Generationseinheit zu identifizieren und Gruppe dar, deren Aktivitäten außerdem zumeist
in Abgrenzung zu anderen Generationen empi- auf wenige Orte beschränkt blieben. Erst in der
risch zu untersuchen. Wie die Arbeiten zur soge- Folge wurden die Ereignisse dieser Zeit soweit
nannten ›Hitlerjugend-Generation‹, die je nach verdichtet, dass die damit verbundenen Ideen
Standpunkt bzw. Erkenntnisinteresse auch unter und Aktionen weit über die aktiv Beteiligten hi-
dem Label der ›skeptischen Generation‹, der naus zu Bezugspunkten der positiven wie negati-
›Flakhelfer‹-Generation oder der ›45er‹ firmiert, ven Identifikation wurden und die ›68er‹ auf
sowie insbesondere zur 68er-Generation zeigen, diese Weise für die Gesellschaft als Ganzes Ge-
wird die Frage, welche Geburtsjahrgänge eine be- schichte ›machten‹.
stimmte Generation ausmachen und worin die Für die Auseinandersetzung mit der Generati-
generationsbildende Erfahrung für die Mitglieder onsthematik seit den 1990er Jahren ist nicht zu-
dieser Generation besteht, unterschiedlich beant- letzt vor diesem Hintergrund eine gewisse Relati-
wortet. Dass sich die Kontur jeder identifizierten vierung der mit Mannheim assoziierten »Prä-
Generation durch eine gewisse Unschärfe aus- gungs-Hypothese« (Jaeger 1977) zu konstatieren,
zeichnet, wird inzwischen allerdings nicht mehr und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen ist
nur als Defizit, sondern unter Berufung auf die die starke Bindung von Generationsphänomenen
Reflexivität des Begriffs auch als Stärke prokla- an das Jugendalter insoweit gelockert worden, als
miert. Damit ist die Eigenschaft von ›Generation‹ die für eine Generation als relevant erachteten
als kollektives Deutungsmuster in den Blick ge- Erlebnisse und Erfahrungen nicht mehr aus-
rückt – die auch schon Mannheim mit dem Ver- schließlich für die Zeit der Adoleszenz, sondern
weis auf den Generationsstil hervorgehoben hat. zunehmend für alle Lebensphasen betrachtet
werden. Als Beispiel hierfür sei eine historische
Gesellschaftsanalyse der DDR aus generationel-
Zwischen Ereignis, Erfahrung und
ler Perspektive von Thomas Ahbe und Rainer
Erinnerung: Generationen als Konstruktionen
Gries (2006) genannt, die darauf abzielt, für un-
und Konstrukteure der Vergangenheit
terschiedliche Alterskohorten die jeweiligen Ent-
Bei seiner Gegenüberstellung von 1789 und 1968 wicklungsmöglichkeiten und -grenzen für die ge-
als bedeutenden generationsbildenden Ereignis- samte vierzigjährige Geschichte der DDR nach-
sen hat Pierre Nora (1997, 2976 f.) mit kaum ver- zuzeichnen und im Vergleich unterschiedliche
hüllter Ironie festgestellt, dass sich 1968 als Ereig- ›Generationsbündnisse‹ (Niethammer) und Kon-
nis vor allem dadurch auszeichne, dass eigentlich flikte herauszuarbeiten. Zum anderen und vor al-
nichts passiert sei – bis durch die nachträgliche lem wird bei der Verwendung des Generationen-
Berufung darauf eine Generation hervorgegan- konzepts der Fokus zunehmend auf die reflexive
gen sei oder sich vielmehr selbst erschaffen habe. Dimension von Generationserfahrungen gelegt.
In Zukunft, so lautete sein Fazit, werden Genera- Dies zeigt sich nicht nur bei Studien über die er-
tionen nicht mehr durch einschneidende Ereig- wähnte 68er-Generation und den Prozess ihrer
nisse hervorgerufen, sondern entstehen nur noch sozialen Konstruktion (z. B. Bude 1995). Viel-
dann, wenn und insoweit es ihnen gelingt, eine mehr findet die identitätsstiftende Rolle von ›Ge-
Vergangenheit für sich zu reklamieren (vgl. ebd., neration‹ bzw. Generationszugehörigkeit bei-
2992). spielsweise auch in neueren geschichtswissen-
8. Generationenforschung 331

schaftlichen Arbeiten über Eliten des NS-Staates Da Generationen die Vergangenheit zwar nicht
Berücksichtigung. Wie für den NS-Funktionär beliebig erfinden, aber als ›Wirklichkeit‹ erst
Werner Best (Herbert 1996) oder das Führungs- durch die Bezugnahme darauf gestalten, ist jede
korps im Reichssicherheitshauptamt (Wildt Generation immer (auch) als ein ›Produkt der
2002) im Einzelnen gezeigt wurde, verstanden Erinnerung‹ zu verstehen. Dies wirft die Frage
sich diese explizit als Angehörige einer bestimm- nach den entsprechenden ›Produzenten‹ (die Öf-
ten Generation – der sogenannten Kriegsjugend- fentlichkeit bzw. Medien, die Wissenschaft, die
generation der zwischen 1900 und 1910 gebore- Generationsangehörigen selbst – oder alle zu-
nen Männer – und handelten in und mit diesem sammen) auf, die von Fall zu Fall wohl unter-
Generationsbewusstsein. Auf das ›neue‹ Interesse schiedlich beantwortet werden muss. Bei aller
für die generationelle (Selbst-)Verortung einer Aufmerksamkeit für die Konstruktivität jedes
bestimmten (Alters-)Gruppe verweist auch das Generationenbezugs gilt es umgekehrt nicht zu
vor einigen Jahren eingeführte historische Kon- vergessen, dass Generationen aufgrund ihres spe-
zept der »Generationalität« (Reulecke 2003), das zifischen ›Zugangs‹ zur Welt die gesellschaftliche
ähnlich wie die Definition von ›Generation‹ als Wahrnehmung der Vergangenheit tatsächlich be-
eine Form des ›Wir-Gefühls‹ (z. B. Bude 1997) einflussen (können). Dies zeigt etwa die verglei-
auf die subjektiven Selbst- bzw. Fremdbeschrei- chende Betrachtung der Erinnerungspolitik nach
bungen abhebt, die auf dem Bewusstsein be- 1945 in sieben europäischen Ländern von Clau-
stimmter gemeinsamer Erfahrungen und Erin- dio Fogu und Wulf Kansteiner (2006), die den
nerungen beruhen. transnational beobachtbaren, sich mehr oder we-
Mit der Betrachtung historischer Erfahrungen niger gleichzeitig vollziehenden Wandel der öf-
(im Sinne Mannheims) aus dem Blickwinkel der fentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
generationellen Selbstwahrnehmung (oder Stili- und den Holocaust zwischen Ende der 1960er
sierung) ist das generationskonstitutive Ereignis und Mitter der 1980er Jahre explizit und länder-
zumindest vorerst etwas in den Hintergrund ge- übergreifend auf die (konfliktreiche) Beziehungs-
rückt. Dies mag auch daran liegen, dass das an konstellation von Kriegsjugendgeneration und
den beiden Weltkriegen geschulte Vertrauen in erster Nachkriegsgeneration zurückführen (ebd.,
die generationsbildende Kraft von historischen 296 ff.).
Großereignissen durch die – bislang – unerfüllt Generationen und Generationszugehörigkei-
gebliebenen Erwartungen an eine aus dem Zu- ten entstehen jedoch nicht nur durch den Rück-
sammenbruch des Staatssozialismus hervorge- griff von der Gegenwart aus auf die Vergangen-
hende ›89er‹-Generation erschüttert wurde. Ob heit, sondern auch durch das Fortwirken der Ver-
man für diesen konkreten Fall daraus schließen gangenheit in die Gegenwart und Zukunft hinein
muss, dass die alltäglichen Lebensumstände – nämlich dann, wenn der Wechsel von einer Ge-
durch die ›Wende‹ von 1989/90 letztlich doch we- neration zur nächsten nicht als Bruch bzw. Neu-
niger radikal verändert wurden als durch die bei- anfang, sondern als Fortsetzung eines über die
den Weltkriege, oder ob dieser Befund wenigstens Generationen hinweg tradierten Erbes in den
für Deutschland auf ein fehlendes bzw. von der Blick genommen wird, welches die Zugehörigkeit
Ost-West-Problematik überlagertes Konfliktpo- zu einer Generation bzw. einer Generationsfolge
tenzial zwischen den Generationen zurückzufüh- bestimmt.
ren ist, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten.
Angesichts der jüngsten Neuerfindung der 68er
Generation als Erbschaft, Tradierung und
als Kriegskindergeneration – mehr als ein halbes
genealogische Verpflichtung
Jahrhundert nach Kriegsende – kann immerhin
nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass In ihrer Genealogie des Generationsbegriffs hat
eine wie auch immer geartete ›Wendegeneration‹ die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel
in Zukunft irgendwann entstehen wird. (2002) die Fixierung auf das Generationsver-
332 IV. Forschungsgebiete

ständnis in der Tradition Mannheims kritisiert logischer Perspektive nicht die Gleichzeitigkeit
und das ›kurze‹ Gedächtnis der Generationenfor- der Erfahrung, sondern die historische Erbschaft,
schung beklagt, welche die ursprüngliche genea- die sich aus einem ›Ursprungserlebnis‹ oder einer
logische Bedeutung von ›Generation‹ vergessen als solches gedeuteten historischen Zäsur ergibt,
habe. In der Tat hat ›Generation‹ als Begriff zu- von der aus die nachfolgenden Generationen ge-
nächst nichts mit Zeitgenossenschaft und Gleich- zählt werden. Die Einteilung in eine erste, zweite,
zeitigkeit zu tun. Es ist vielmehr vom lateinischen dritte und inzwischen vierte Generation im Kon-
Wort generatio, also Zeugung(sfähigkeit), abge- text von Flucht, Vertreibung und Migration
leitet, das wiederum auf das lateinische genus ebenso wie mit Blick auf die Erfahrungen von
bzw. das griechische genos zurückgeht, die jeweils NS-Diktatur und Holocaust folgt genau dieser
für Art, Gattung, Geschlecht bzw. Nachkommen- Logik (vgl. Weigel 2002, 162).
schaft stehen. Das damit verbundene Bedeu- In der Tat ist in der Bundesrepublik die Aus-
tungsfeld von Generation als Abstammung und einandersetzung um die ›Bewältigung‹ des Nati-
Erbschaft verweist sowohl auf den biologischen onalsozialismus und die damit verbundene Frage
Prozess der Vererbung (der sich z. B. im Begriff nach der intergenerationellen Verstrickung in
›Genetik‹ wiederfindet) als auch auf das kultu- diese Vergangenheit bis heute eng mit einem sol-
relle Verständnis von Überlieferung, Tradition chen genealogischen Verständnis von Generation
und in diesem Sinne ›Gedächtnis‹ (vgl. ebd., 166, verknüpft. Wichtig hierfür sind neben der bibli-
173), das auf Kontinuität in der Zeit abhebt. Die schen Idee der drei bis vier Generationen, die für
Vorstellung von der Generationsabfolge als Vo- eine Schuld einstehen müssen, Konzepte aus dem
raussetzung und Faktor für die Bewahrung bzw. Bereich der Psychoanalyse, welche die Wieder-
Fortdauer des Bestehenden schwingt ebenfalls kehr des Verdrängten sowie (zumeist unbe-
mit, wenn der Begriff der Generation, wie z. B. in wusste) Tradierungsprozesse zwischen den Ge-
der Bibel oder in der antiken Geschichtsschrei- nerationen thematisieren (s. Kap. I.5). Phäno-
bung, als eine Art Maßeinheit für die (soziale) mene der transgenerationellen Weitergabe von
Zeit verwendet wird. Dabei wird von einem schwierigen, nicht-bearbeiteten Erfahrungen aus
durchschnittlichen Zeitabstand zwischen Eltern der Zeit der NS-Diktatur wurden in den 1980er
und Kindern ausgegangen; ein Jahrhundert be- Jahren denn auch zunächst im Rahmen der psy-
steht entsprechend aus drei (oder vier) Generati- chotherapeutischen Praxis entdeckt und analy-
onen bzw. Menschenaltern. Diese Idee findet sich siert. Damit verbundene Vorstellungen von der
auch bei Jan und Aleida Assmanns Unterschei- ›Last‹ der Vergangenheit, die wie ein ›Schatten‹
dung zwischen dem ›kommunikativen‹ und dem auf den nachfolgenden Generationen liegt, haben
›kulturellen Gedächtnis‹ wieder. So wird das seitdem nicht nur in publizistischen Diskursen
kommunikative Gedächtnis, das sich auf Erinne- über die NS-Zeit ihren Niederschlag gefunden,
rungen an die jüngste, noch selbst erlebte Ver- sondern lassen sich auch bei wissenschaftlichen
gangenheit bezieht, die durch die Kommunika- Studien finden. Exemplarisch hierfür sind die
tion im Alltag informell zwischen den mitleben- Arbeiten der Soziologin Gabriele Rosenthal, die
den Generationen ausgetauscht werden, als unter Rückgriff auf Ansätze aus dem Bereich der
›Generationengedächtnis‹ definiert, das sich über Oral History- und Biographieforschung als eine
drei bis vier Generationen bzw. über einen Zeit- der ersten die lebens- und familiengeschichtliche
raum von etwa 80 bis 100 Jahren erstreckt und Bedeutung der NS-Vergangenheit für verschie-
danach im ›kulturellen Gedächtnis‹ aufgeht oder dene Generationen in Deutschland untersucht
verschwindet (Assmann 2007, 50 f.). und als Forschungsthema etabliert hat. Rosen-
Entscheidender Bestimmungsfaktor für die thals erste Studien analysieren, auf welche Art
(individuelle wie gesellschaftliche) Befindlichkeit die Zeit des Nationalsozialismus von Zeitzeugen
der einzelnen Generation wie auch für das Ver- unterschiedlicher Alters- und in diesem Sinne
hältnis zwischen den Generationen ist aus genea- Generationszugehörigkeit (Hitlerjugend-Genera-
8. Generationenforschung 333

tion, Kriegsgeneration) erinnert oder vielmehr: zu einem Gegenstand des Familiengedächtnisses


verharmlost und verdrängt wird. Als Vorläuferin geworden sind.
kann die Psychoanalytikerin Haydée Faimberg In anderen Arbeiten spielt ›Generation‹ als er-
gelten, die in den späten 1960er Jahren den Be- fahrungsgeschichtliche Dimension dagegen noch
griff »the telescoping of generations« prägte und insoweit eine Rolle, als Differenzen in der Hal-
mit Menschen arbeitete, die unter transgenerati- tung zur Vergangenheit zwischen Familienange-
onellen Traumata litten. Der Fokus der späteren hörigen generationell, d. h. mit Blick auf die je-
Arbeiten von Rosenthal liegt dagegen auf den weilige zeitliche wie lebensgeschichtliche Distanz
problematischen Folgen des familiären Schwei- zum ursprünglichen Ereignis erklärt werden
gens über die NS-Vergangenheit für die ›zweite‹ (z. B. Leonhard 2002). Damit rückt der Genera-
und ›dritte‹ Generation. Die starke Betonung der tionenbegriff allerdings wieder in die Nähe der
transgenerationellen Tradierung eines bestimm- Mannheimschen Vorstellung vom neuartigen
ten Erbes mit der entsprechenden Verpflichtung, Zugang jeder Generation zur Welt und löst sich
der sich im Prinzip keine Generation entziehen von der Idee der generationellen Erbschaft. ›Ge-
kann, beschränkt sich dabei nicht nur auf den fa- neration‹ ist in diesem Verständnis weniger eine
miliären Kontext, sondern wird auch auf die Ge- von außen, anhand der Zeitgenossenschaft vor-
nerationenbeziehung in der (west)deutschen Ge- zunehmende Setzung, als vielmehr eine empi-
sellschaft als Ganzes bezogen. Dies zeigt sich bei- risch zu überprüfende Konstruktion von Zusam-
spielsweise in der Modellierung von Generati- menhängen.
onsabfolgen, bei der neben der Prägung durch Während die Frage nach Abstammung, Her-
den gesellschaftshistorischen Kontext (im Sinne kunft und Tradition in den wissenschaftlichen
Mannheims) auch die aus der Familientherapie Diskursen über die Erinnerung an den National-
übernommene Idee der ›Auftragsdelegation‹ als sozialismus also seit einigen Jahren etwas in den
Faktor für die Generationenbildung berücksich- Hintergrund gerückt ist, gewinnt sie gegenwärtig
tigt wird (vgl. Rosenthal 1997 mit den entspre- andernorts dafür zunehmend an Einfluss, wie die
chenden Hinweisen auf die Vorgängerstudien). neuere Konjunktur der Familien- und Generatio-
Demgegenüber hat sich seit Ende der 1990er nenromane zeigt, in denen die NS-Vergangenheit
Jahre eine weitere Forschungsperspektive entwi- u. a. aus der Perspektive der Töchter, Brüder,
ckelt, die zwar weiterhin danach fragt, was von Söhne oder Enkelkinder thematisiert wird (Eig-
den Erfahrungen der ›ersten‹ Generation bei den ler 2005; Eichenberg 2009). Abzuwarten bleibt,
nachfolgenden Generationen ›ankommt‹, die ob der Begriff der Generation, der nicht nur in
Vergangenheit jedoch weniger als unausweichli- der NS- und Erinnerungsforschung, sondern im
che Erbschaft, sondern eher als ›Traditionsange- Übrigen auch in der Wissenschaftsforschung be-
bot‹ in der Gegenwart bestimmt. So konzentriert reits seit längerem angewendet wird, um Ur-
sich die Untersuchung über die familiäre Tradie- sprünge und Entwicklungen einer bestimmten
rung der NS-Vergangenheit von Welzer/Moller/ Fachdisziplin nachzuzeichnen, irgendwann auch
Tschuggnall (2008) unter Berufung auf konstruk- einmal auf Generationenforschung selbst über-
tive Gedächtnistheorien (in der Tradition von tragen wird, um den erfahrungsgeschichtlichen
Maurice Halbwachs) darauf, wie ›Geschichte‹ wie erinnerungskulturellen Hintergründen des
im Familiengespräch kommunikativ ›verfertigt‹ genealogischen Forscherblicks auf die NS-Ver-
wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die Diskre- gangenheit, der dagegen bei der Beschäftigung
panzen, die zwischen dem öffentlichen Ge- mit der DDR-Vergangenheit weitgehend zu feh-
schichtsbild und den privaten Erinnerungen an len scheint, reflexiv nachzuspüren.
den Nationalsozialismus sichtbar werden. Die
vergangenen Erfahrungen der ›ersten‹ Genera-
tion sind aus dieser Perspektive nicht für sich ge-
nommen von Bedeutung, sondern erst wenn sie
334 IV. Forschungsgebiete

Generation und Erinnerung unter gewissen Bedingungen auch transgenerati-


onell von Bedeutung sein kann, in den Vorder-
Ob man ›Generation‹ als Ersatzkategorie ver- grund gerückt.
steht, auf die immer dann zurückgegriffen wird, In der Forschungspraxis hat sich der Generati-
wenn andere, präzisere Konzepte zur Bestim- onenansatz vor allem dort als anschlussfähig er-
mung gesellschaftlicher Veränderungen nicht zur wiesen, wo es um die Analyse des subjektiven Er-
Verfügung stehen, wie es Wolfgang Knöbl im lebens und Deutens geht, also etwa in der Alltags-
Rahmen eines Seminars des eingangs erwähnten geschichte, der Oral History- oder Biographie-
Göttinger Graduiertenkollegs formuliert hat, und Lebenslaufforschung (s. Kap. IV.5). Denn er
oder ob Generationszugehörigkeit im Anschluss erlaubt es, den Einzelnen aufgrund seiner »jahr-
an Pierre Nora oder Lutz Niethammer als Aus- gangsbedingten Teilhabe an spezifischen histori-
druck einer neuen, ›postmodernen‹ Identitäts- schen Ereignissen« als Teil einer Gruppe und
konstruktion, die andere Formen der Zugehörig- umgekehrt als deren »gleichsam natürlichen Re-
keit wie die der Klasse, Schicht und vielleicht präsentanten« zu konzipieren: »Auf diese Weise
sogar Nation ersetzt hat verstanden wird – ›Ge- wird seine biographische Erzählung zur Mikro-
neration‹ ist und bleibt ein vieldeutiges Konzept, erzählung der Geschichte, während umgekehrt
das je nach Forschungsintention und disziplinä- der Verlauf seiner individuellen Lebensgeschichte
rem Hintergrund trotz gemeinsamer Berufung wiederum im Takt von generationstypischen Le-
auf Karl Mannheim unterschiedlich verwendet bensabschnitten erzählbar« und analysierbar ist
wird. (Weigel 2002, 164). Auf der anderen Seite können
Die aktuelle Attraktivität des generationellen unter Rückgriff auf das Konzept der Generation
Forschungsansatzes liegt nicht zuletzt darin be- unterschiedliche Sichtweisen der Vergangenheit
gründet, dass dieser es ermöglicht, die Dichoto- bestimmten Altersgruppen mit ihren spezifi-
mie zwischen Subjektivität und Objektivität, zwi- schen Erfahrungen zugeordnet werden: ›Erinne-
schen individuellen Handlungsspielräumen und rung‹ erhält auf diese Weise eine soziale wie his-
gesellschaftlichen Gegebenheiten zu überwin- torische Verortung. Der Begriff der Generation
den. Dies passt gut zur kulturwissenschaftlich in- eröffnet somit den Zugang zu Gedächtnisphäno-
spirierten Forschungsausrichtung, wie sie sich im menen, die gewissermaßen zwischen der indivi-
Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte in den Geis- duellen und der politischen, offiziellen Ebene lie-
tes- und Sozialwissenschaften hierzulande eta- gen. In dieser Stärke liegt gleichzeitig auch eine
bliert hat und die in der Generationenforschung entscheidende Schwäche, denn von der mit dem
ebenfalls ihren Niederschlag gefunden hat. Wäh- Generationenbegriff assoziierten Alters- und Er-
rend Generationszugehörigkeit lange Zeit aus- fahrungsgleichheit wird häufig vorschnell auf die
schließlich auf prägende Erfahrungen in der Ver- reale Existenz ähnlicher Einstellungen und/oder
gangenheit bezogen wurde, hat sich in den letz- Verhaltensweisen geschlossen bzw. diese ohne
ten Jahren eine konstruktivistische, reflexive Sicht weitere empirische Prüfung vorausgesetzt. Aus
auf Generationsphänomene entwickelt, die diese diesem Grund erscheint der Gebrauch des Gene-
auch und vor allem in der gemeinschaftlichen rationenbegriffs dann besonders überzeugend,
Vergegenwärtigung des Vergangenen in der Ge- wenn Generationszugehörigkeit reflexiv auftritt,
genwart begründet sieht, und zwar unabhängig d. h. als Selbst- bzw. Fremdbeschreibung wirksam
davon, ob das Verhältnis zwischen den Generati- wird und auf diese Art untersucht werden kann.
onen synchron oder diachron gedacht und auf ›Generation‹ als Forschungsansatz in der Tra-
die Familie oder die Gesellschaft als Ganzes be- dition von Mannheim erlaubt schließlich eine
zogen wird. Damit ist ›Erinnerung‹ als gemein- Verzeitlichung und Differenzierung geschichtli-
schafts- und in diesem Sinne generationsstiften- cher Erfahrung sowie deren Interpretation. Und
der Faktor gegenüber der erfahrungsgeschichtli- dies in zweierlei Hinsicht: Generationen erschaf-
chen Dimension des erinnerten Ereignisses, das fen sich durch die gemeinsame Bezugnahme auf
8. Generationenforschung 335

eine Vergangenheit nicht nur selbst, sondern wer- –: Die »Wir-Schicht der Generation. In: Berliner Jour-
den auch von der Vergangenheit geschaffen bzw. nal für Soziologie 7. Jg., 2 (1997), 197–204.
dadurch geprägt – ohne eigenes Zutun und mit- –: »Generation« im Kontext. Von den Kriegs- zu den
Wohlfahrtsstaatsgenerationen. In: Ulrike Jureit/Mi-
unter sogar gegen den eigenen Willen. Beide chael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines
Sichtweisen von Generationsphänomenen haben wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg 2005, 28–
ihre Berechtigung und sollten idealerweise zu- 44.
sammen betrachtet werden, ohne das eine oder Dilthey, Wilhelm (1875), Über das Studium der Ge-
andere absolut zu setzen. So zeigt sich insbeson- schichte der Wissenschaften vom Menschen, der Ge-
dere bei der Forschung über die Erinnerung an sellschaft u. dem Staat [1875]. In: Ders.: Gesammelte
Schriften. Bd. 5. Leipzig 1924, 37.
den Nationalsozialismus, wie notwendig es ist,
Eichenberg, Ariane: Familie – Ich – Nation. Narrative
generationelle Zuschreibungen, wie sie in der Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göt-
Rede von der ›zweiten‹ und ›dritten‹ Generation tingen 2009.
zum Ausdruck kommen, nicht nur als Tatsachen- Eigler, Friederike: Geschichte und Gedächtnis in Genera-
beschreibungen, sondern auch als Konstruktio- tionenromanen seit der Wende. Berlin 2005.
nen zu untersuchen, die etwas über den gesell- Fogt, Helmut: Politische Generationen. Opladen 1982.
schaftlichen Umgang mit dieser Vergangenheit Fogu, Claudio/Kansteiner, Wulf: The Politics of Mem-
ory and the Poetics of History. In: Richard Ned Le-
aussagen. Wird die Frage nach dem Verhältnis
bow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hg.): The Poli-
zwischen den Generationen auf die unbewusste tics of Memory in Postwar Europe. Durham/London
Tradierung nicht-bearbeiteter Erfahrungen ver- 2006, 284–310.
kürzt, gerät all das, was Generationszugehörig- Herbert, Ulrich: Best: Biographische Studien über Radi-
keit mit und ohne expliziten Bezug zur Vergan- kalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989.
genheit unter sozialen, politischen oder kulturel- Bonn 1996.
len Gesichtspunkten interessant und zugleich Jaeger, Hans: Generationen in der Geschichte. Überle-
gungen zu einer umstrittenen Konzeption. In: Ge-
problematisch macht, aus dem Blickfeld. Umge- schichte und Gesellschaft 3. Jg., 4 (1977), 429–452.
kehrt sollte bei aller Konstruktivität, die jede Ge- Jureit, Ulrike: Generationenforschung. Göttingen 2006.
nerationszugehörigkeit auszeichnet, die genea- Leonhard, Nina: Politik- und Geschichtsbewusstsein im
logische Pfadabhängigkeit bestimmter Generati- Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozia-
onsphänomene nicht vergessen werden. In der listischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generati-
Tat gibt es Generationen »allein schon deshalb, onen in Ost- und Westdeutschland. Münster 2002.
Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen
weil Leute sich als Angehörige einer Generation
[1928]. In: Ders.: Wissensoziologie. Berlin/Neuwied
fühlen, bezeichnen und als solche auftreten« 1964.
(Bude 2005, 30). Warum das so ist und auf welche Matthes, Joachim: Karl Mannheims »Problem der Ge-
Weise sich dies in der sozialen Wirklichkeit nie- nerationen«, neu gelesen. In: Zeitschrift für Soziologie
derschlägt, wird man für die ›68er‹ und die 14. Jg., 5 (1987), 363–372.
›Kriegskinder‹, für die ›zweite‹ und ›dritte‹ Gene- Niethammer, Lutz: Generation und Geist. Eine Station
ration teils ähnlich, teils unterschiedlich beant- auf Karl Mannheims Weg zur Wissenssoziologie. In:
Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.):
worten müssen.
Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive.
Eine Inventur. Leipzig 2006, 47–64.
Literatur Nora, Pierre: La génération. In: Ders. (Hg.): Les lieux de
mémoire II. Paris 1997, 2975–3015.
Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Die Generationen der Reulecke, Jürgen (Hg.): Generationalität und Lebensge-
DDR und Ostdeutschlands. Ein Überblick. In: Berli- schichte im 20. Jahrhundert. München 2003.
ner Debatte Initial 17. Jg., 4 (2006), 90–109. Rosenthal, Gabriele: Zur interaktionellen Konstitution
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erin- von Generationen. Generationenabfolge in Familien
nerung und politische Identität in frühen Hochkultu- von 1890 bis 1970 in Deutschland. In: Jürgen Man-
ren [1992]. München 62007, 48–66. sel/Gabriele Rosenthal/Angelika Tölke (Hg.): Gene-
Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahr- rationen-Beziehungen. Austausch und Tradierung.
gänge 1938–1948. Frankfurt a. M. 1995. Opladen 1997, 57–73.
336 IV. Forschungsgebiete

Weigel, Sigrid: Generation, Genealogie, Geschlecht. Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Füh-
Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner rungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Ham-
wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des burg 2002.
18. Jahrhunderts. In: Lutz Musner/Gotthart Wun- Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline:
berg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis »Opa war kein Nazi« Nationalsozialismus und Holo-
– Positionen. Wien 2002, 161–190. caust im Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M.
6
2008.
Nina Leonhard
337

V. Anhang

Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen


1. Auswahlbibliographie [1928]. In: Ders.: Wissensoziologie. Berlin/Neuwied
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und 1964.
Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses [1999]. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiogra-
München 42009. phische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005.
Identität. In: Ders./Tonio Hölscher (Hg): Kultur und Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollekti-
Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1988, 9–19. ves Gedächtnis. Die Praxis der Oral History. Frankfurt
–: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und po- a. M. 1985.
litische Identität in frühen Hochkulturen [1992]. Mün- Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris
chen 62007. 1984–1992.
Bartlett, Frederic C.: Remembering. A Study in Experi- –: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990.
mental and Social Psychology. Cambridge 1932. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Hg. von
Carruthers, Mary: »The Book of Memory.« A Study of Theodor Nüßlein. Zürich 1994.
Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990. Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Reinbek 2001.
Connerton, Paul: How Societies Remember. Cambridge Tausch, Harald (Hg.): Gehäuse der Mnemosyne. Archi-
1989. tektur als Schriftform der Erinnerung. Göttingen
Dunlosky, John (Hg.): Handbook of Metamemory and 2003.
Memory. New York u. a. 2008. Tulving, Endel/Donaldson, Wayne (Hg.): Organisation
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskul- of Memory. New York 1972.
turen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005. – (Hg.): The Oxford Handbook of Memory. Oxford u. a.
– /Nünning, Ansgar (Hg.): Cultural Memory Studies. 2000.
An International and Interdisciplinary Handbook. Weinberg, Manfred: Das »unendliche Thema«. Erinne-
Berlin/New York 2008. rung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübin-
Fogu, Claudio/Kansteiner, Wulf: The Politics of Mem- gen 2006.
ory and the Poetics of History. In: Richard Ned Le- Welzer, Harald (Hg.): Das Soziale Gedächtnis: Ge-
bow/Wulf Kansteiner/Claudio Fogu (Hg.): The Poli- schichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001.
tics of Memory in Postwar Europe. Durham/London – /Markowitsch, Hans J. (Hg.): Warum Menschen sich
2006, 284–310. erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären
François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erin- Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006.
nerungsorte. 3 Bde. München 2001. – /Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war
Freud, Sigmund: Über Deckerinnerungen. In: Ders.: kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im
Gesammelte Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M. 21999, 529– Familiengedächtnis [2002]. Frankfurt a. M. 62008.
554. Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern: Mnemonik
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frank- von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin 62001 (engl.
furt a. M. 1991 (frz. 1950). 1966).
–: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung
Frankfurt a. M. 1985 (frz. 1925). und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1992.
Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertex-
tualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M.
1990.
Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerung im globalen
Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a. M. 2001.
Loftus, Geoffrey R./Loftus, Elizabeth F.: Human Mem-
ory. The Processing of Information. Hillsdale 1976.
Lübbe, Hermann: Geschichtsbegriff und Geschichtsinter-
esse. Basel 1977.
338 V. Anhang

2. Institutionen, Projekte, Center for Psychology and Law


Leitung: Prof. Elizabeth F. Loftus
Zeitschriften Institute of Social Ecology, University of California, Ir-
vine
Institutionen http://socialecology.uci.edu/research/psychlaw/
Das CPL forscht am Schnittpunkt zwischen Sozial- und
Rechtswissenschaft. Ein zentraler Bestandteil sind Eli-
Abteilung für Psychologie der Fakultät für
zabeth Loftus’ Studien zum False Memory Syndrome.
Psychologie und Sportwissenschaft der Universität
Bielefeld
Center on Autobiographical Memory Research
Prof. Dr. Hans J. Markowitsch, Dr. Gerald Echterhoff
(CON AMORE)
http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/
Leitung: Prof. Dorthe Berntsen
Prof. Markowitsch forscht u. a. zu Wechselwirkungen
Psykologisk Institut det Samfundsvidenskabelige Fa-
zwischen Umwelt, Entwicklung und Gehirn, Bewusst-
kultet, Aarhus Universitet
sein und Gedächtnis; Dr. Echterhoff u. a. zur sozialen
http://www.psy.au.dk/forskning/forskningscentre-
Kognition, zu sozialen Einflüssen auf das Gedächtnis
og-klinikker/center-on-autobiographical-memory-re
und zu Erinnerungsprozessen in kulturellen und politi-
search-con-amore/
schen Kontexten.
Das CON AMORE will die verschiedenen Aspekte der
Erforschung des autobiographischen Erinnerns vor al-
Annual New School for Social Research (NSSR)
lem unter Berücksichtigung psychologischer Forschung
Interdisciplinary Memory Conference
integrieren.
New School for Social Research, New York
http://www.nssrmemoryconference.com/index.html
Centre for Research in Memory, Narrative and
Jährlich stattfindende Konferenz der NSSR Interdiscip-
Histories
linary Memory Group.
Vorsitz: Prof. Deborah Philips, Mark Bhatti u. a.
Centre for Research and Development at the University
Berlin School of Mind and Brain
of Brighton
Leitung: Prof. Dr. Michael Pauen, Prof. Dr. Arno Vill-
http://artsresearch.brighton.ac.uk/research/centre/
ringer
centre-for-research-in-memory-narrative-and-
International Graduate School der Humboldt Universi-
histories
tät zu Berlin
Das Centre for Research in Memory, Narrative and His-
http://www.mind-and-brain.de/
tories erforscht die Beziehungen zwischen Erinnern,
Die BSMB beschäftigt sich zentral mit dem Zusammen-
Narrativen und den darin enthaltenen pluralen Ge-
hang zwischen Human-, Verhaltens- und Neurowissen-
schichten im Hinblick auf deren Konstitution.
schaft.
Centre for the Study of Cultural Memory (CRM)
Bernstein Center for Computational Neuroscience
Vorsitz: Dr. Katia Pizzi u. a.
Berlin
Insitute of Germanic and Romance Studies, University
Koordination: Michael Brecht
of London
Humboldt Universität zu Berlin
http://igrs.sas.ac.uk/research/CCM.html
http://www.bccn-berlin.de/Home
Das im Februar 2010 zu eröffnende CRM soll ein inter-
Das Bernstein Center erforscht neuronale Aktivitäten
disziplinäres und kulturübergreifendes Forum zur Er-
des menschlichen Gehirns.
forschung des kulturellen Gedächtnisses sein.
Center for Interdisciplinary Memory Research
Center for the Study of History and Memory
(CMR)
(CSHM)
Leitung: Prof. Dr. Harald Welzer
Leitung: Prof. John Bodnar
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)
Indiana University, Bloomington
http://www.memory-research.de/
http://www.indiana.edu/~cshm/
Interdisziplinäres Forschungskolleg der Sozial-, Geis-
Das CSHM erforscht auf der Basis der Oral History die
tes- und Kulturwissenschaften am KWI der Univer-
Art und Weise, in der Menschen erinnern, Erinnerun-
sitätsallianz Metropole Ruhr (UAMR). Forschungs-
gen repräsentieren und im öffentlichen und privaten
schwerpunkte bilden u. a. Erinnerung und Gedächtnis.
Leben nutzen.
2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 339

Cognition Laboratory of the Human-Automation Forschungsgruppe Centre Maurice Halbwachs


Integration Research Branch (COGLAB) at (CMH)
National Aeronautics and Space Administration Leitung: André Grelon
(NASA) Centre National de la Recherche Scientifique, Ecole des
Gesamtleitung: Patricia M. Jones Hautes Etudes en Sciences Sociale, Ecole Normale Su-
Ames Research Center périeure
Moffett Field, California Paris
http://human-factors.arc.nasa.gov/cognition/ http://www.cmh.ens.fr/index.php
coglab.html Das CMH ist eine Forschungsgruppe der genannten In-
Das COGLAB ist ein experimentelles Forschungslabor stitutionen zu den Methoden empirischer Sozialfor-
der US-amerikanischen Raumfahrtagentur NASA, das schung, die sich ihrem Namen entsprechend, auch mit
zur Erforschung und Optimierung menschlicher Ver- Fragen von Erinnerung und Gedächtnis auseinander-
haltensweisen in der Raumfahrt beitragen soll. setzt.

DFG-Graduiertenkolleg 1083 der Georg-August- Forschungsgruppe Centre for Popular Memory


Universität Göttingen (CPM)
Generationengeschichte: Generationelle Dynamik Leitung: Dr. Sean Field
und historischer Wandel im 19. und University of Cape Town
20. Jahrhundert http://www.popularmemory.org/
Sprecher: Prof. Bernd Weisbrod Das CPM ist eine Methodenforschungsgruppe der His-
Georg-August-Universität Göttingen torischen Fakultät der University of Cape Town.
http://www.generationengeschichte.uni-goettingen.de/
Das Forschungsprogramm will die verschiedenen An- Forschungsgruppe Dynamics of Memories:
sätze in den Forschungsfeldern zur Generationsfrage Re-membering in the Plural
verbinden, um aus deren Elementen einen integralen Vorsitz: Prof. Ruth Wodak, Prof. Mercedes Camino u. a.
Ansatz für Generation Studies in den historischen Kul- Faculty of Arts and Social Sciences, University Lancas-
tur- und Sozialwissenschaften zu begründen. ter
http://www.lancs.ac.uk/fass/groups/dynamicsofmemo-
Emory Center for Myth and Ritual in American Life ries/
(MARIAL) Die internationale und interdisziplinäre Forschungs-
Leitung: Dr. Bradd Shore gruppe untersucht die Frage, inwiefern kulturelle und
Emory University historische Gedächtnisse sich in der Gegenwart als
Atlanta, Georgia Machtkämpfe darstellen.
http://www.marial.emory.edu/
Das MARIAL konzentriert seine Forschungsarbeit all- Forschungsgruppe Núcleo de Estudios sobre
gemein auf Funktion und Bedeutung von Ritual und Memoria de Instituto de Desarollo Económico y
Mythos in amerikanischen Familien sowie auf die Ge- Social
nese des autobiographischen wie familiären Erinnerns. Leitung: Elizabeth Jelin
Instituto de Desarollo Económico y Social Buenos Aires
Eva and Marc Besen Institute for the Study of http://www.ides.org.ar/grupoestudios/memoria/
Historical Consciousness Die Núcleo de Estudios sobre Memoria ist eine For-
Leitung: Prof. Gadi Algazi schungsgruppe, die sich u. a. mit den Prozessen sozialer
School of History at Tel Aviv University Erinnerung in Ländern des Cono Sur, des südlichen La-
http://www.tau.ac.il/humanities/besen/ teinamerika, auseinandersetzt.
Das 1989 auf Initiative Prof. Saul Friedländers gegrün-
dete Institut widmet sich vor allem der halbjährigen Fritz-Bauer Institut
Herausgabe der Zeitschrift History & Memory zum Stu- Leitung: Prof. Raphael Gross
dium der Repräsentation der Vergangenheit. Frankfurt am Main
http://www.fritz-bauer-institut.de
Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte
und Wirkung des Holocaust. Forschungsschwerpunkte
bilden u. a. Erinnerungskultur und Rezeptionsfor-
schung sowie die Datenbank »Cinematographie des
Holocaust«.
340 V. Anhang

Gedächtnisambulanz des Universitätsklinikums International Oral History Association (IOHA)


Heidelberg Institut für Geschichte und Biographie der Fern-Uni-
Leitung: Prof. Johannes Schröder versität Hagen
Sektion Gerontopsychiatrie Lüdenscheid und Hagen
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~bc2/geronto/ http://www.iohanet.org/
gedaechtnisambulanz.html Die IOHA ist ein internationales Fachforum zur
Die Gedächtnisambulanz des Universitätsklinikums Diskussion um Dokumentation und Interpretation
Heidelberg behandelt Patienten mit nachlassender Ge- menschlicher Erfahrung in der Geschichte.
dächtnisleistung.
Jena Center für Geschichte des 20. Jahrhunderts
Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) Leitung: Prof. Dr. Norbert Frei
Leitung: Prof. Jan Philipp Reemtsma Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität
http://www.his-online.de/ Jena
Das HIS erforscht in seinen Projekten u. a. die Aufar- http://www.jenacenter.uni-jena.de/
beitung und Genese von sowie die Erinnerung an Phä- Schwerpunkt der jährlichen Gastprofessur ist die inter-
nomene kollektiver Gewalt. disziplinäre Erforschung des Holocaust und seiner
Nachwirkungen in Deutschland und Europa.
Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolff
Leitung: Prof. Dieter Wiedemann Life Story Center (LSC)
Potsdam-Babelsberg Leitung: Prof. Robert Atkinson
http://www.hff-potsdam.de/ Osher Liefelong Learning Institute (OLLI) National Re-
Die Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolff source Center, University of Southern Maine
widmet sich u. a. auch der Erforschung der Medien Portland
Film und Fernsehen in Bezug auf ihre historische und http://usm.maine.edu/olli/national/lifestorycenter/
aktuelle Rezeption. Das LSC erforscht lebensgeschichtlich bedingte Per-
sönlichkeitsveränderungen, intergenerationelle Tradie-
Institut für Geschichte und Biographie rung und historische Bedeutungs- und Sinnkonstruk-
Lüdenscheid tion.
Leitung: apl. Prof. Arthur Schlegelmilch
Fern-Universität Hagen Luce Program in Individual and Collective Memory
Lüdenscheid und Hagen Leitung: Prof. Pascal Boyer
http://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiogra- Washington University St. Louis
phie/ http://artsci.wustl.edu/~pboyer/LuceWebSite/
Das Institut für Geschichte und Biographie der Fern- IndexGrey2.html
Universität Hagen führt lebensgeschichtliche For- Das Luce Program erforscht Prozesse des individuellen
schungsprojekte durch, betreibt das Archiv »Deutsches und des kollektiven Gedächtnisses als »integrales Feld,
Gedächtnis« für subjektive Erinnerungszeugnisse und das die Grenzen der Fachdisziplinen transzendiert«.
gibt die Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History
und Lebensverlaufsanalysen – BIOS heraus. Macquarie Centre for Cognitive Science (MACCS)
Leitung: Prof. Max Coltheart
International Center for Transitional Justice (ICTJ) Macquarie University Sydney
Vorsitz: Prof. Alex Boraine u. a. http://www.maccs.mq.edu.au/
New York Forschung und Lehre des MACCS konzentriert sich all-
http://www.ictj.org/en/index.html gemein auf die Kognitionswissenschaft unter besonde-
Das ICTJ arbeitet und forscht u. a. im Bereich der ge- rer Betonung der Psychologie der Sprache, der visuellen
sellschaftlichen Aufarbeitung diktatorischer Vergan- Kognition und der kognitiven Neuropsychiatrie.
genheiten.
Max Planck Institut für Kognitions- und
Neurowissenschaften Leipzig
Leitung: Prof. Dr. Angela Friederici
http://www.cbs.mpg.de/index.html
Das Institut untersucht die kognitiven Fähigkeiten und
Gehirnprozesse des Menschen.
2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 341

Mercator Research Group (MRG) Strukturen des Projekte


Gedächtnisses
Leitung: Dr. Magdalena Sauvage, Dr. Sen Cheng, Dr. Forschungsprojekt »Das Gehirn – ein Beziehungs-
Markus Werning organ. Interdisziplinäre Perspektiven auf die
Ruhr-Universität Bochum Entwicklung sozial induzierter Fähigkeiten«
http://www.stiftung-mercator.org/cms/front_content. Leitung: Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Prof. Dr. Michael
php?client=1&lang=1&parent=2&idcat=92&idart=431 Pauen
Die MRG wird ab 1. Januar 2010 zu den Themen Neu- Universität Heidelberg
robiologie, Funktionelle Architektur und Theorie des http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~qy7/index.html
Gedächtnisses forschen. Das Forschungsprojekt untersucht das menschliche Ge-
hirn als Organ eines sozialen Lebewesens, wobei die
Rutgers University Center for Cognitive Science Umwelt und ihr Einfluss auf die Gehirnentwicklung be-
(RuCCS) sonders berücksichtigt werden sollen.
Leitung: Prof. Rochel Gelman, Prof. Randy Gallistel
School of Arts and Sciences, Rutgers University Forschungsprojekt »Die Entwicklung des autobio-
New Brunswick, New Jersey graphischen Gedächtnisses im Kulturvergleich«
http://ruccs.rutgers.edu/ruccs/index.php Leitung: Prof. Dr. Heidi Keller
Das RuCCS erforscht auf der rechnerischen Ebene die Institut für Migrationsforschung und interkulturelle
symbolischen Prozesse, die Intelligenz konstituieren Studien der Universität Osnabrück
sollen. http://www.imis.uni-osnabrueck.de/FORSCHUNG/
autobio.htm
Warwick Centre for Memory Studies Das Forschungsprojekt erforscht kulturvergleichend
Leitung: Andrew Hoskins die Entstehung und Entwicklung des autobiographi-
Department of Sociology, University of Warwick schen Gedächtnisses.
http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/sociology/rsw/
research_centres/memorystudies/ Forschungsprojekt »Dynamics of Cultural
Das Warwick Centre for Memory Studies untersucht Remembrance: an intermedial Perspective«
vor allem die Frage, wie technologische, politische, in- Leitung: Prof. Ann Rigney
terpersonale, soziale und kulturelle Veränderungen in- Research Institute for History and Culture, Universiteit
dividuelle und gesellschaftliche Erinnerung verändern. Utrecht
Mitherausgeber der Buchreihe »Memory Studies« (Pal- http://www.let.uu.nl/cultural-remembrance/
grave Macmillan) und der Zeitschrift Memory Studies Das Projekt erforscht die Rolle verschiedener Medien
(Sage). in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Erinne-
rungsorten und deren Einfluss auf die Formung der so-
Washington University Memory Lab zialen Erinnerung.
Leitung: Prof. Henry L. Roedinger III.
Department of Psychology, Washington University St. Forschungsprojekt »Memoria in der Megacity:
Louis Erinnerung, Urbanität und Geschlecht in Latein-
http://psych.wustl.edu/memory/ amerika«
Das Memory Lab forscht in den Bereichen der ange- Leitung: Dr. Anne Huffschmid
wandten kognitiven Psychologie, der False Memories Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin
und der impliziten und expliziten Erinnerung. http://www.lai.fu-berlin.de/forschung/forschungspro-
jekte/aktuelle_projekte/Memoria_in_der_Megacity/
Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin index.html
(ZAS) Das Forschungsprojekt untersucht die Veränderungen
Leitung: Prof. Dr. Manfred Krifka der politischen und kulturellen Topographie der latein-
Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin amerikanischen Megastädte durch aktuelle Erinne-
http://www.zas.gwz-berlin.de/ rungsprojekte und -praktiken im städtischen Raum
Das ZAS untersucht die biologischen, kognitiven, kul- (Mexiko City und Buenos Aires).
turellen und kommunikativen Faktoren der menschli-
chen Sprachfähigkeit. Red Interdisciplinaria de Estudios sobre Historia
Reciente (RIEHR)
Leitung: Marina Franco, Florencia Levín
http://www.riehr.com.ar/index.php
342 V. Anhang

Internet-Publikations- und Kommunikationsnetzwerk Memory Studies


von und für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Herausgegeben vom Warwick Centre for Memory Re-
die zur Verbindung zwischen Ereignissen der jüngsten search u. a.
lateinamerikanischen Geschichte und ihrem (traumati- Sage Publications, London
schen) Einfluss auf individuelle Identitätskonstruktio- http://mss.sagepub.com/
nen arbeiten.
Social Cognition
Sonderforschungsbereich 636 der DFG: Lernen, Herausgegeben vom International Social Cognition
Gedächtnis und Plastizität des Gehirns – Network
Implikationen für die Psychopathologie Guilford Press, New York
Sprecher: Prof. Herta Flor http://www.guilford.com/cgi-bin/cartscript.
Universität Heidelberg u. a. cgi?page=pr/jnco.htm&dir=periodicals/per_
http://www.sfb636.de/ psych&cart_id=
Der SFB 636 konzentriert sich in seinem Forschungs-
profil auf Lern- und Gedächtnismechanismen, die hie-
raus resultierenden plastischen Veränderungen des Ge- Ressourcen
hirns und deren Einfluss auf die Psychopathologie.
Applied Cognition Website
Cognition Laboratory of the Human-Automation Inte-
Zeitschriften gration Research Branch at National Aeronautics and
Space Administration (NASA)
BIOS – Zeitschrift für Bigraphieforschung, Oral
http://human-factors.arc.nasa.gov/cognition/tutorials/
History und Lebensverlaufsanalysen
index.html
Herausgegeben vom Institut für Geschichte und Bio-
In fünf Online-Spielen werden Felder der angewandten
graphie an der Fernuniversität Hagen u. a.
kognitiven Psychologie vorgestellt: Recognition, Mne-
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen Opladen
motic techniques, Recall, Interference und Short Term
http://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiogra-
Memory.
phie/bios/
Archiv »Deutsches Gedächtnis«
History & Memory: Studies in Representation of
Leitung: apl. Prof. Arthur Schlegelmilch
the Past
Institut für Geschichte und Biographie der Fern-Uni-
Herausgegeben vom Eva and Marc Besen Institute for
versität Hagen
the Study of Historical Consciousness, School of His-
Lüdenscheid und Hagen
tory at Tel Aviv University
http://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiogra-
Indiana University Press, Baltimore
phie/deutschesgedaechtnis/
http://muse.jhu.edu/journals/history_and_memory/
Im »Deutschen Gedächtnis« werden subjektive Erinne-
Die Zeitschrift veröffentlicht Beiträge und Studien aus
rungszeugnisse aller Art archiviert.
allen Bereichen der Erforschung der Repräsentation
der Vergangenheit.
Norman Brown’s Website
Department of Psychology, University of Alberta
Journal of Memory and Language
Edmonton
Herausgegeben von Victor Ferreira
http://www.ualberta.ca/~nrbrown/
Elsevier
http://www.elsevier.com/wps/find/journaldescription.
Center for the Study of History and Memory
cws_home/622888/description#description
(CSHM): Resources Website
http://www.indiana.edu/~cshm/resources.html
Memory
Große Datensammlung des CSHM mit Textreferenzen,
Herausgegeben von Susan E. Gathercole, Martin A.
Bibliographien und Internetlinks.
Conway
Psychology Press (Taylor & Francis)
David Chalmers’ Website
http://www.tandf.co.uk/journals/authors/pmemauth.
Department of Philosophy, Australian National Uni-
asp
versity
Canberra, Australien
http://consc.net/chalmers/
2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 343

Texte zu Erinnerung und Gedächtnis in der Philoso- Erinnerungskulturen (1997–2008): Website des
phie der Psychologie. Sonderforschungsbereichs 434 der Justus-Liebig-
Universität und der deutschen Forschungsgemein-
Cinematographie des Holocaust schaft (DFG)
http://www.cine-holocaust.de/ Sprecher: Prof. Jürgen Reulecke, Prof. Günter Oesterle,
Datenbank zu vor allem englischsprachigen Filmen u. a.
und Filmzeugnissen über den Holocaust. Ein Projekt Justus-Liebig-Universität Gießen
des Fritz-Bauer-Instituts. http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/
home/index.html
Collected Visions Website Ziel des mittlerweile ausgelaufenen SFBs war die Unter-
http://cvisions.cat.nyu.edu/ suchung von Formen und Inhalten kultureller Erinne-
Internetdatenbank enthält ca. 3000 Familienschnapp- rung von der Antike bis zur Gegenwart sowie eine kriti-
schüsse und will demonstrieren, wie Fotografien die sche Auseinandersetzung mit dem Konzept des »kultu-
menschliche Erinnerung formen. rellen Gedächtnisses« (A. und J. Assmann); knapp 40
Publikationen liegen vor.
Corridos sin Fronteras Website
Smithsonian Museum Global Cultural Memory Website
Washington, DC Getty Information Institute und University of Illinois at
http://www.corridos.org/ Urbana-Champaign
Wanderausstellung und interaktive Internetdatenbank http://images.library.uiuc.edu/projects/gcm/
über mexikanische und mexikanisch-amerikanische Das Ziel der Global Cultural Memory war die Schaf-
Balladen, die die »inoffizielle Geschichte ihrer commu- fung eines kollektiven Archivs digitaler Informationen
nities erzählen« (Guillermo E. Hernandez). über Ereignisse, die in den letzten 50 Jahren das globale
kulturelle Gedächtnis geprägt haben.
Critical Discourse Studies 6, No. 4 (2009):
Sonderausgabe »Discourse, History and Memory« Tilmann Habermas’ Website
Herausgegeben von John E. Richardson Institut für Psychologie der Goethe-Universität Frank-
Routledge furt am Main
http://www.informaworld.com/smpp/ http://www.psychoanalyse.uni-frankfurt.de/personen/
title~db=all~content=g915188733 habermas/index.html
Prof. Dr. Habermas forscht über Narration und Emo-
Cultural Memory in Romance Studies (CMRS) tion sowie zur Entwicklung des autobiographischen
Website Gedächtnisses.
Insitute of Germanic and Romance Studies, University
of London Human Ecology of Memory: John F. Kihlstroms
http://igrs.sas.ac.uk/research/CMRS/Index.htm Website
Internetdatenbank für Literatur zur Erforschung des Institute for the Study of Healthcare Organisations and
kulturellen Gedächtnisses der romanischen Länder. Transactions, Department of Psychology
University of California, Berkeley
Culture and Psychology 8, No. 1 (2002): Sonder- http://socrates.berkeley.edu/~kihlstrm/mnemosyne.
ausgabe »Cultural Memory« htm
Herausgegeben von Jaan Valsiner Große Link- und Stichwortsammlung zur Human Eco-
Sage Publications logy of Memory.
http://cap.sagepub.com/content/vol8/issue1/
Journal of Language and Politics (2006): Sonder-
Definitions of Collective Memory: Harold ausgabe »Critical Linguistic Perspectives on
Marcuses Website Coping with Traumatic Pasts«
Modern German History and Public History, Depart- Herausgegeben von Ruth Wodak, Paul Chilton
ment of History John Benjamins Publishing Company
University of California, Santa Barbara http://www.benjamins.com/cgi-bin/t_bookview.
http://www.history.ucsb.edu/faculty/marcuse/ cgi?bookid=JLP%205%3A1
classes/201/CollectiveMemoryDefinitions.htm
Eine Liste von Definitionen des »kollektiven Gedächt-
nisses« von Maurice Halbwachs bis ins 21. Jahrhun-
dert.
344 V. Anhang

Konstruktion der Erinnerung Website Oral-History Archiv


Goethe Institut München Leitung: Prof. Gerald Schöpfer
http://www.goethe.de/erinnerung Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensge-
Website des Goethe Instituts, die einen multithemati- schichte der Karl-Franzens-Universität Graz
schen Zugriff auf »Erinnerung« vor allem im histori- http://www-classic.uni-graz.at/wsgwww/oral.html
schen Kontext versucht. Es werden verschiedene Wis- Eine kontinuierlich erweiterte Sammlung von Erinne-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Kon- rungsinterviews zur Zeitgeschichte Österreichs, insbe-
zepte und Themenspektren anhand kurzer Aufsätze sondere der Steiermark.
vorgestellt und verlinkt.
Projekt »Memories«
Daniel Levy’s Website Koordination: Dr. Michel Merten
Department of Sociology, Stony Brook University Information Society Technologies
New York Brüssel
http://www.sunysb.edu/sociol/?faculty/Levy/levy http://www.memories-project.eu/
Ausgelaufenes Forschungs- und Entwicklungsprojekt
Elizabeth Loftus’ Website zu Management und Vernetzung von Archivbestän-
Institute of Social Ecology, University of California, Ir- den.
vine
http://socialecology.uci.edu/faculty/eloftus/ Recovered Memories of Sexual Abuse: Scientific
Viele Texte von Prof. Loftus im Kontext des False Mem- Research and Scholary Resources
ory Syndrome. Jim Hopper’s Website
Massachussetts General Hospital/Harvard Medical
Memory Arena Website School
Psychology Press London Cambridge (USA)
http://www.memoryarena.com/ http://www.jimhopper.com/memory/
Die Website informiert fortlaufend über die bei den
Verlagen Routledge, Psychology Press und Guilford Daniel Schacter’s Website
Press publizierten Fachbücher zum Themenkomplex Department of Psychology, Harvard University
Erinnerung und Gedächtnis. Cambridge (USA)
http://www.wjh.harvard.edu/~dsweb/
Museu da Pessoa
http://www.museudapessoa.net/ingles/ Sir Frederic Bartlett Archive
Das Museu da Pessoa ist ein virtuelles Museumsprojekt Cambridge University
zur Integration persönlicher Lebensgeschichten »in ein Cambridge (UK)
Netzwerk sozialer Erinnerung«. http://www.ppsis.cam.ac.uk/bartlett/index.html
Onlinekatalog des Frederic Bartlett Archivs.
NS-Gedenkstätten und Dokumentationszentren in
der Bundesrepublik Deutschland John Sutton’s Website
Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-West- Department of Philosophy, Macquarie University Syd-
falen ney
Düsseldorf http://www.phil.mq.edu.au/staff/jsutton/Memory.html
http://www.ns-gedenkstaetten.de/portal/index.php Enthält neben Hinweisen zu seinen eigenen Arbeiten
Interaktive Datenbank zu NS-Gedenkstätten und Do- und Projekten innerhalb des Macquarie Centre for Co-
kumentationszentren in Deutschland. gnitive Science (MACCS) eine große Datenbank mit
Links, Textreferenzen und Bibliographien zum inter-
Jeffrey Olick’s Website disziplinären Feld der Gedächtnisforschung.
University of Virginia
Charlottesville The American Memory Project Website
http://www.virginia.edu/sociology/peopleofsociology/ Library of Congress
jolick.htm Washington, DC
http://memory.loc.gov/ammem/index.html
Internetdatenbank über die Bestände der Library of
Congress das amerikanische kulturelle Gedächtnis be-
treffend.
2. Institutionen, Projekte, Zeitschriften 345

The Memory Debate Archives Numbers, 5 Minute Numbers, Historic and Future
http://www.tmdarchives.org/ Dates, Random Words, One Hour Cards, Spoken Num-
Internetdatenbank v. a. zu den Themen der ›wiederge- bers, Speed Cards.
wonnenen‹ und der False Memories.
James E. Young’s Website
The Memory Exhibition Website Department of Judaic and Near Eastern Studies, Uni-
Exploratorium Museum San Francisco versity of Massachussetts, Amherst
http://www.exploratorium.edu/memory/ http://www.umass.edu/judaic/faculty/jamesyoung.
Interaktive Website, die eine Ausstellung des Museums html
zu Aufbau, Funktion, Genese und Erforschung von Er- Enthält viele Texte und Links zu Erinnerung und Ge-
innerung und Gedächtnis 1998/99 archiviert. dächtnis in Kunst, Gedenkstätten u. a.

World Memory Championship Website


http://www.worldmemorychampionships.com/
Medaillen werden in 10 Disziplinen verliehen: Abstract
Images, Binary Numbers, Names and Faces, One Hour
346 V. Anhang

3. Mitarbeiterinnen und Florian Hessel ist studentische Hilfskraft am Center for


Interdisciplinary Memory Research am Kulturwis-
Mitarbeiter senschaftlichen Institut in Essen (V.2, Übersetzung:
I.3 Die Entstehung des autobiographischen Gedächt-
Aleida Assmann ist Professorin für Anglistik und All-
nisses).
gemeine Literaturwissenschaft an der Universität
Christiane Holm ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an
Konstanz (III.6 Archive und Bibliotheken).
der Klassik Stiftung Weimar im BMBF-Projekt
Andre Bartoniczek ist Deutsch- und Geschichtslehrer
»Sinnlichkeit – Materialität – Anschauung« (III.14
und Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart, Se-
Fotografie).
minar für Waldorfpädagogik sowie beim Fernstu-
Wulf Kansteiner ist Associate Professor für Geschichte
dium Waldorfpädagogik, Jena (III.12 Bilder).
an der State University of New York in Binghamton
Lucas M. Bietti ist Doktorand an der Pompeu Fabra
(III.13 Film und Fernsehen).
Universität Barcelona und der Macquarie Universität
Carlos Kölbl vertritt z.Z. den Lehrstuhl für Pädagogi-
Sydney (IV.2 Philosophie, Kap. Philosophie des Geis-
sche Psychologie am Georg-Elias-Müller-Institut für
tes).
Psychologie der Georg-August-Universität Göttin-
Oliver Dimbath ist akademischer Rat am Lehrstuhl für
gen (I.2 Zur Psychologie des Erinnerns).
Soziologie der Universität Augsburg (IV.3 Soziologie).
Kornelia Kończal ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Wolfram Dornik ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
am Zentrum für Historische Forschung Berlin der
Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-For-
Polnischen Akademie der Wissenschaften und Dok-
schung Graz-Wien-Klagenfurt (III.15 Internet).
torandin an der Freien Universität Berlin (IV.1 Ge-
Gerald Echterhoff ist Professor für Psychologie, »Area
schichtswissenschaft).
Social Psychology« der School of Humanities and
Helmut König ist Professor für Politische Theorie und
Social Sciences an der Jacobs University Bremen (II.4
Ideengeschichte am Institut für Politische Wissen-
Das kommunikative Gedächtnis).
schaft der RWTH Aachen (II.6 Das Politische des
Astrid Erll ist International Fellow-in-Residence am
Gedächtnisses).
Netherlands Institute for Advanced Study in the Hu-
Johann Kreuzer ist Professor für Geschichte der Philo-
manities and Social Sciences (NIAS) (IV.4 Literatur-
sophie an der Carl von Ossietzky Universität-Olden-
wissenschaft).
burg (IV.2 Philosophie).
Robyn Fivush ist Samuel Candler Dobbs Professor of
Jens Kroh ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center
Psychology an der Emory University Atlanta (I.3 Die
for Interdisciplinary Memory Research am Kultur-
Entwicklung des autobiographischen Gedächtnis-
wissenschaftlichen Institut in Essen (III.9 Erinne-
ses).
rungsorte).
Rainer Gries ist Professor für Neuere und Neueste Ge-
Renate Lachmann ist emeritierte Professorin für Allge-
schichte; er forscht und lehrt an der Friedrich Schil-
meine Literaturwissenschaft und Slavische Literatu-
ler-Universität Jena, der Universität Wien und an der
ren an der Universität Konstanz (III.2 Gedächtnis-
Sigmund Freud Privat Universität Wien (III.4 Pro-
künste).
dukte).
Anne-Katrin Lang ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Christian Gudehus ist wissenschaftlicher Geschäftsfüh-
am Center for Interdisciplinary Memory Research
rer des Center for Interdisciplinary Memory Re-
am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (III.9
search am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen
Erinnerungsorte).
(IV.6 Tradierungsforschung).
Marc Montgomery Lässer ist Wissenschaftlicher Mitar-
Tilmann Habermas ist Professor für Psychoanalyse an
beiter an der Sektion für Gerontopsychiatrische For-
der Goethe Universität Frankfurt a.M (I.5 Psycho-
schung der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
analyse als Erinnerungsforschung).
(I.4 Das Gedächtnis im Alter).
Corinne Heaven ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Almut Leh ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ins-
Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Ent-
titut für Geschichte und Biographie der Fernuniver-
wicklungspolitik am Institut für Politikwissenschaft
sität Hagen (IV.5 Biographieforschung).
der Universität Duisburg-Essen und Associate Fel-
Claudia Lenz ist Forschungskoordinatorin am Euro-
low am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF);
pean Wergeland Centre for Education on Intercultu-
sie arbeitet als freie Übersetzerin und Lektorin für
ral Understanding, Human Rights and Democratic
verschiedene Forschungsinstitute (Übersetzungen:
Citizenship in Oslo (IV.7 Geschlechterforschung).
II.3 Das kulturelle Gedächtnis, III.3 Rituale).
Nina Leonhard ist Dozentin für Allgemeine Soziologie
Michael Heinlein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
und Politikwissenschaft an der Führungsakademie
Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Uni-
der Bundeswehr in Hamburg (IV.8 Generationen-
versität München (IV.3 Soziologie).
forschung).
3. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 347

Daniel Levy ist Professor für Soziologie an der State Martin Roth ist Generaldirektor der Staatlichen Kunst-
University of New York – Stony Brook (II.3 Das kul- sammlungen Dresden und Honorarprofessor für
turelle Gedächtnis). Kultur und Management an der Dresden Internatio-
Gilbert Lupfer ist wissenschaftlicher Projektleiter an nal University (III.7 Museen).
den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und au- Johannes Schröder ist Professor für Klinische Psychia-
ßerplanmäßiger Professor für Kunstgeschichte an trie und Leiter der Sektion für Gerontopsychiatrische
der TU Dresden (III.7 Museen). Forschung an der Ruprecht-Karls-Universität Hei-
Hans J. Markowitsch hat den Lehrstuhl für Physiologi- delberg (I.4 Das Gedächtnis im Alter).
sche Psychologie an der Universität Bielefeld (I.1 Bradd Shore ist Goodrich C. White Professor und Di-
Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundla- rector of MARIAL Center at Emory University in At-
gen von Gedächtnis). lanta (III.3 Rituale).
Sabine Moller ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Cornelia Siebeck ist Historikerin und promoviert an
Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Uni- der Ruhr Universität Bochum zu »Buchenwald« als
versität Oldenburg und z. Z. als Visiting Scholar an Gedächtnisort in Geschichte und Gegenwart (III.8
der Stanford University School of Education (II.2 Denkmale und Gedenkstätten).
Das kollektive Gedächtnis). Jürgen Straub ist Professor/Inhaber des Lehrstuhls für
Claudia Öhlschläger ist Professorin für Vergleichende Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Fakultät
Literatur-/Kulturwissenschaft und Intermedialität in für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bo-
der Fakultät für Kulturwissenschaften an der Univer- chum (I.2 Zur Psychologie des Erinnerns).
sität Paderborn (III.16 Körper). Harald Tausch ist Privatdozent für Neuere deutsche Li-
Jeffrey K. Olick ist Professor für Soziologie und Ge- teraturgeschichte und AVL an der Justus-Liebig-Uni-
schichte an der University of Virginia, USA (II.5 Das versität Gießen und Wissenschaftlicher Mitarbeiter
soziale Gedächtnis). am Kunsthistorischen Institut der Friedrich-Schiller-
Dennis Pausch ist Akademischer Rat auf Zeit am Lehr- Universität Jena (III.5 Architektur).
stuhl für Latinistik des Instituts für Altertumswissen- Manfred Weinberg ist Professor für Neuere deutsche
schaften der Justus-Liebig-Universität Gießen (III.1 und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni-
Schrift). versität Konstanz sowie regelmäßiger Gastprofessor
Martina Piefke vertritt z. Z. den Lehrstuhl für Physiolo- am Lehrstuhl für Germanische Studien der Karls-
gische Psychologie an der Universität Bielefeld (I.1 Universität Prag (III.10 Literatur).
Neuroanatomische und neurofunktionelle Grundla- Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdiscipli-
gen von Gedächtnis). nary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen
Rüdiger Pohl ist apl. Professor für Psychologie an der Institut in Essen, und Forschungsprofessor an der
Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Universität Witten-Herdecke (Einleitung).
Mannheim (II.1 Das autobiographische Gedächtnis). Martin Zierold ist Geschäftsführer und Principal Inves-
Jessica Rodemann ist Dozentin für Englisch an der Uni- tigator des International Graduate Centre for the
versität Duisburg-Essen (Übersetzungen: II.5 Das Study of Culture an der Justus-Liebig-Universität
soziale Gedächtnis, IV.3 Philosophie des Geistes). Gießen (III.11 Printmedien und Radio).
348 V. Anhang

4. Sachregister – ägyptische 101


– griechische 129, 178, 277
Abecedarium 138 – klassische 136, 247, 261
Abruf 3 f., 14 ff., 19, 26, 33 ff., 56, 58, 61 f., 75 f., 78 f., 81, – römische 117, 129, 157, 178
83 f., 102 f., 105, 136, 145, 152, 203, 230, 235, 262, – Spätantike 134, 261
266, 279, 299, 305, 307, 310 Aphasie 41
Abrufhilfen 26, 36, 83 Apraxie 41
Abrufprozesse 37, 76, 83 arche, Archetyp 264, 211
Absolutismus 159 Architecture parlante 161 f.
abspeichern 263 f. Archiv 26 f., 45, 83, 90, 93 f., 99, 128, 139, 153 f., 165 ff.,
Abwehr 64 ff., 68, 72 ff., 291 171 f., 174, 188, 196 f., 200 f., 208 f., 222, 228 ff., 236,
Abwehrmechanismus 65, 68, 291 238 ff., 241 f., 251, 256, 262, 270
Adoleszenz 2, 74, 79, 90, 330 Archivierung 27, 45, 90, 128, 139, 168 f., 172, 196 f.,
Ägypten 101, 125, 129 ff., 133, 165 f., 203 f. 201, 228 f., 231, 241, 262
Agenda setting 177 Archivkonstruktion 169, 228, 232
Agnosie 41 ars 136 ff., 157, 190, 229, 269, 288 ff., 292, 298
aisthesis 136 (s. a. Wahrnehmung) – memoria 136, 229, 288 ff., 292 (s. a. Gedächtnis-
Allegorese 190 kunst)
Alltagsferne 93 – memorativa 138 f., 142, 157, 289, 298
Alltagsgeschichte 250, 254, 321, 334 (s. a. Oral History) Artefakte 45, 85, 138, 171, 247, 274 f., 290, 304 ff., 309,
Alltagskommunikation 86, 116 311
Alltagsnähe 24 Assoziation 11, 13 f., 23, 38, 65, 67 f., 87, 89, 107, 156,
Alphabet 129 f., 132, 135, 138 f., 140, 167, 191 159 f., 174, 209, 277, 279
Alterität 165, 170 Assoziationslernen 23, 38
Alterskohorte 327 f., 330 Asymmetriereduktion 58
Altersstereotypie 54 Aufbewahren 3, 5, 75, 94, 141, 156, 209, 229, 262 ff.,
Altersvergesslichkeit 59 f. 268 f., 281
– benigne 59 f. Aufbewahrungsorte 75, 94, 265, 270
– maligne 59 f. Aufklärung 155, 161 f., 187, 192, 261, 268, 320, 323,
Alterungsprozess 54 f., 57, 62 326
Alzheimer-Demenz 1, 41, 54, 59 ff., 78, 222, Aura 151, 172 ff., 204 f., 218
Amnesie 14 ff., 20, 41, 66, 69, 79, 83, 251, 253 f., 274, Authentizität 4, 128, 173, 175, 177 f., 185, 205, 208,
314 244 f., 297, 323
– anterograde 14, 16, 41, 274 Autobiographie 15, 39, 45 f., 49, 52 f., 244, 291, 314
– domänenspezifische 41 Autopoiesis 285, 309
– funktionelle 41
– globale 41 backward telescoping 77
– Kindheitsamnesie 66, 79, 83 Barock 139, 160, 167, 173, 191 f.
– kollektive 251 Behaltensleistung 22 ff., 32 f., 38 f., 310
– materialspezifische 41 Behaviorismus 24
– modalitätsspezifische 41 Belastungsstörungen (PTSD) 18 ff., 84
– organische 41 Beschwörung 166, 278
– partielle 41 Bewusstsein 2, 4, 16 ff., 27, 32, 39, 45, 65, 68, 86, 88,
– psychogene 15 f., 20 100, 109, 111, 113, 119, 123 f., 132, 145 f., 163, 165,
– Quellenamnesie 314 168 ff., 178 f., 186, 203, 205, 209, 219, 224 f., 227 f.,
– retrograde 14, 16, 41 230, 241 ff., 249, 255, 259, 261 ff., 266 ff., 277 ff.,
– zeitlich begrenzte 41 283 ff., 293 ff., 306, 310, 313, 328 f., 331
– zeitlich unbegrenzte 41 – anoetisches 17
Anamnesis 136, 189, 261 ff., 268, 271, 275, 289 – autonoetisches 16 f.
Anamnesistheorie 136, 261 ff., 268, 271, 275 – Generationsbewusstsein 328, 331
Antike 34, 64, 101, 104, 117, 127 ff., 131 ff., 136 ff., – Geschichtsbewusstsein 32, 88, 100, 113, 163, 169 f.,
141 f., 156 ff., 162 f., 175, 177 f., 187, 189, 204 ff., 178, 186, 219, 224 f., 249, 255, 259, 313
211 f., 243, 247, 261, 265, 277, 288 ff., 292, 295, 327, – Kollektivbewusstsein 278
332 – kollektives 109, 280
4. Sachregister 349

– noetisches 16 – Nationaldenkmal 253


– Politikbewusstsein 313 – Naturdenkmal 177
– Zeitbewusstsein 279 f. Denkmallandschaft 177
– Zukunftsbewusstsein 280 Denkmalkonflikt 180
Bewusstseinsstrom 65, 269, 283 Denkmalkult 141
Bezugsrahmen 85, 89, 92, 109, 111, 117, 238, 291, Denkmalkultur 177 f.
301 Denkpsychologie 24
Bibel 134, 138, 140, 157, 166 f., 191, 211, 296, 332 Denkstein 160
Bibliothek 93, 128, 132 f., 165 ff., 171, 236, 239, 241 Depot 165, 175
Bildgebungstechniken 18 f., 26, 58, 309 Deutungsmuster 7, 53, 300, 315 f., 330 (s. a. Topoi)
Bildlichkeit 190, 209 Dialoganalyse 305, 313
Bildungskanon 174, 185 Dialogizität 291
Bindungsmuster 73 Diskontinuität 243, 327 f.
Biographie 15, 39, 45 f., 49, 52 f., 141, 211, 214, 221, Diskurs 33, 118, 121, 137, 156, 160 ff., 178 f., 180 ff.,
239, 244, 248, 291, 299 ff., 312, 314 f., 317, 321, 323, 221, 223, 225, 238, 242, 248, 249 f., 256 f., 289, 293,
332, 334 (s. a. Lebensgeschichte) 299, 319, 322 ff., 327, 329, 332 f.
Biographieforschung 248, 299 ff., 312, 321, 323, 332, – transnationaler 238
334 Diskursanalyse 33, 88, 181 f., 254, 256 f., 259, 289,
Black box 181 322
Briefsammlung 300 Dokumente 42, 113, 165 ff., 200, 231, 259, 299 f., 308
Buch 121, 128, 129, 131 ff., 157 ff., 166, 191 ff., 196 f., Dreispeichermodell 27 f., 32 f.
206 f., 232, 241, 262, 282, 289, 291, 294, 303 Druckerpresse 167
Buchdruck 128, 129, 134, 191, 196 f., 206 f. Druckmedien 196 f.
Buchmarkt 132 Druckverfahren 196

Cadres sociaux 85 Ego-Dokumente 259, 300


Camera obscura 229 f. eikon 263
Cera 137 Einschreibung 3, 241, 320 f.
Cerebellum 58 – neuronale 3
Christentum 134, 187, 204 f., 270 Elaboration 47 ff., 107
Codierung 2, 35, 79 f., 193, 268, 272 Emotion 2, 11 ff., 37, 39, 46 f., 49 ff., 67 f., 71, 73 f., 75 ff.,
Coping-Strategien 83 80, 92, 99 f., 102, 111, 141, 144, 155, 174, 182, 203,
Culture war 179 f. 205, 207, 218, 221, 242, 250, 259, 273 f., 306, 308,
317
Daten 4, 29, 130 ff., 138 ff., 165 ff., 223, 228, 235 f., Engramm 2 ff., 13, 32, 242
261 ff., 300 ff., 312, 323 Enkodierung 11 ff., 26, 36, 39, 61, 77, 79, 81, 106
Datendepot 165 Enkodierungsphase 26
Datenspeicherungsvorgänge 175, 263 Entkontextualisierung 96, 230
Datenträger 138, 140 f., 223, 228, 236, 263 Enzyklopädie 142, 238
Datenverarbeitung 267 Epistemologie 248, 254, 271, 294, 319
Dauer 3, 28 f., 90, 93 ff., 109 ff., 129 ff., 165 ff., 197, Epos 141, 189, 291
203 ff., 229, 241, 243, 258, 265, 278ff 332 Erbe 109, 177 f., 249, 255, 312, 331 ff., 333
Deckerinnerung 66 – kulturelles 177 f., 249, 255
Dekolonisierung 250, 295 Erbschaft 327, 331 ff.
Dekonstruktion 192, 237, 239, 315, 319, 322 f., 325 Erfahrungsdaten 270
Demenz 1, 41, 54, 56, 59 ff., 299 Erfahrungsgemeinschaft 327
Demenzsyndrome 54, 62 Erfahrungsgeschichte 306
Denkmal 117, 127 f., 141, 160, 162 f., 177 ff., 190, 231, Erinnern
253, 325 – gemeinschaftlich 45 ff., 317 f., 324
– Baudenkmal 177 – geschlechtsspezifisch 49 ff., 322 f.
– Gartendenkmal 160, 177 – individuell 45 ff., 75 ff., 85 ff., 299 ff.
– Gegendenkmal 178 – körperlich 241 ff.
– Heldendenkmal 178 Erinnerung
– Kriegerdenkmal 117 – assoziative 145, 242, 279, 308
350 V. Anhang

– Deckerinnerung 66 Erzähltradition 312


– externalisierte 3, 93 f., 225 Eselsbrücke 142
– falsche 4, 30 f., 76, 81 f., 103, 238, 263, 273 (s. a. Ethnologie 171, 174, 300
Falschinformation; false memory syndrome) Evolution 2 ff., 29, 32, 80, 141, 223, 241, 287
– implizite 89 f. Exklusion 180
– kollektive 31 ff., 85 ff., 115 ff., 177 ff., 184 ff., 312 ff. Exogramm 2 ff.
– mediale 127 ff., 147, 154, 218 f., 222, 296 ff., 316 Exponat 171 ff.
– Nacherinnerung 232 (s. a. post memory)
– organische 297 Faktographie 190
– Vorerinnerung 8, 279 f. Fälschung 66
– Wiedererinnerung 261 ff., 280, 289 Falschinformation 103
Erinnerungsakte 45, 291 false memory syndrom 4, 24, 30 f., 81 ff.
Erinnerungsanweisung 121 Familie 17, 45 ff., 86, 88 ff., 93, 95, 100, 112, 115, 117,
Erinnerungsarbeit 108, 308, 322 185, 201, 206, 217, 221 f., 231 f., 274, 281, 313 ff., 324,
Erinnerungsbild 159, 202 f., 230, 280, 299, 305 333 f.
Erinnerungserzählung 71, 74 Familiengeschichte 89, 100, 124, 327
Erinnerungsgegenstände 136, 147, 279, 297 Fehler 22 ff., 81 f., 102, 104, 106, 312
Erinnerungsgemeinschaft 4, 86, 89 f., 119 f., 177, 186 f., Fehlleistungen 36, 255
231, 281, 317, 324, 327 Fiktionalität 68
Erinnerungsgeschichte 4, 99, 185, 253 ff. Flashback 69, 219
Erinnerungsgespräch 45 ff., 74, 80 (s. a. memory talk) forward telescoping 77
Erinnerungshäufung 79 f. Fotoinstallation 169
Erinnerungshilfe 132 Frauenbewegung 250, 319, 321 f.
Erinnerungskanon 238 f. Frauenforschung 319 ff.
Erinnerungskonstruktion 322 Fremdbilder 153
Erinnerungskonzepte 172 f., 294, 311 Frontallappen 78
Erinnerungskultur 2, 7, 88 ff., 95, 97, 101, 115, 117 ff.,
130 f., 133, 155, 184, 186, 196, 201, 223, 236 ff., 249, Galton-Crovitz-Stichworttechnik (cue-word method)
251 ff., 292 ff., 315 f., 324, 333 78
Erinnerungsleistung 24 f., 27, 29, 34 f., 39 f., 57, 83 f., Gedächtnis
105, 213 – aktives 24 ff., 75 f., 165, 167, 308
Erinnerungsmilieu 86, 88, 184 f. – Arbeitsgedächtnis 11, 28, 56 ff., 61 f., 75
Erinnerungsmuster 7, 88 – archivarisches 94
Erinnerungsort 91, 128, 163, 175, 184 ff., 218, 249, 255, – artifizielles 23
295, 297 – autobiographisches 2, 4 f., 11 ff., 45 ff., 72 f., 75 ff.,
Erinnerungspoetik 230, 244 102, 210
Erinnerungspolitik 7, 115 ff., 157, 248, 331 – Beziehungsgedächtnis 276
Erinnerungspraktik 95, 99, 227, 230 f., 233, 290, 323 – Bildgedächtnis 85 f., 210 f., 227 ff., 243, 291
Erinnerungsprojekt 319 ff. – deklaratives 2, 29, 54, 61 f., 72, 75, 145 f.
Erinnerungsprozess 75 f., 83, 85, 147, 196 f., 207, 218, – dynamisches 24, 64 ff., 242, 267 f.
223, 243, 273 f., 298, 310 – Echogedächtnis 28
Erinnerungsspur 38, 193, 242 f. – einheitliches 11, 27 f., 89, 94, 124
Erinnerungsstil 48 ff. – elementares 25
Erinnerungsstrategie 35, 233, 258 – episodisches 2, 11 ff., 27, 29, 31 f., 45, 55 ff., 75 f., 78,
Erinnerungstechnik 94 146, 274, 309
Erinnerungsverfälschung 81 ff. – epochales 97 f., 101
Ersparnismethode 22 f., 26 – Erfahrungsgedächtnis 2, 169, 244
Erwachsenenalter 5, 18 f., 47, 53, 55, 57, 59 f., 64, 69, – ethnisches 93, 98
79, 90 – europäisches 178, 186 f., 211, 291
Erzählung 4, 24, 26 f., 42, 45 ff., 57, 66, 71 f., 74, 81, – Familiengedächtnis 27, 88 ff., 115, 333
88 f., 92, 96, 125, 127, 130, 142, 157, 165 f., 194, 219, – fotografisches 229
221, 236 ff., 244, 247 f., 252, 303 ff., 312 ff., 323, 334 – fragmentiert kulturelles
(s. a. Narrativ) – Funktionsgedächtnis 94, 165, 167
Erzählstrukturen 80 – Gattungsgedächtnis 291
4. Sachregister 351

– Generationengedächtnis 88 ff., 332, 334 f. – Speichergedächtnis 27 f., 94, 165, 167 ff., 236
– göttliches 189 – Systemgedächtnis 285
– Gruppengedächtnis 87, 237, 286 f. – Totengedächtnis 157
– gruppenspezifisches 95 f., 210, 253, – überindividuelles 31, 280, 284
– habituelles 29 – Ultrakurzzeitgedächtnis 11, 27 ff.
– hegemonial kulturelles 99, 180 f. Gedächtnisabruf 14
– implizites 2, 11 f., 38 ff., 72 f., 89 f., 113, 153, 155, Gedächtnisambulanz 54
278 Gedächtnisarchiv 94, 165 ff.
– Individualgedächtnis 192 f., 237, 284 ff. Gedächtnisdaten 261
– individuelles 1, 4, 110, 192 f. Gedächtnisdefizit 15, 18 ff., 54 f., 60 ff.
– informatives 141 Gedächtnisdressur 228
– innerliterarisches 290 Gedächtniseinbußen 14 f.
– Körpergedächtnis 241 ff. Gedächtnisfiktionen
– kollektives 4, 31 f., 85 ff., 93, 109 ff., 117, 127, 141, Gedächtnisforschung 1 ff., 4, 8 f., 24, 33, 85 f., 92, 96,
147 f., 152 ff., 161 ff., 178, 181, 184 ff., 198, 209 ff., 107, 109, 117, 119, 128, 184, 188, 189, 191, 202, 218,
220, 223 ff., 230 ff., 247, 249 ff., 276 ff., 291, 296, 222 f., 225, 247 f., 288 f., 291, 293 ff., 305, 309 f.
301 f., 307, 325 Gedächtnisgattungen 291 f.
– kollektiv-episodisches 32 Gedächtnishandlung 291
– kollektiv-semantisches 32 Gedächtnisindikatoren 26
– kollektiv-prozedurales 32 Gedächtnisinhalt 3 f., 22, 25 f., 30, 36 ff., 57 ff., 62, 77,
– kommunikatives 1, 86 ff., 93 f., 99, 102 ff., 111 ff., 80, 83, 118, 127 f., 150, 153 f., 255, 262, 266, 285,
115, 150, 187, 218, 224, 239, 311, 322, 332 310
– konstruktives 24, 31 Gedächtnis-Interview 57, 78
– kosmopolitisches 98 f., 287 Gedächtniskapazität 37
– kreatives 24, 141 Gedächtniskonsolidierung 13 ff.
– künstliches 137, 289 Gedächtniskonzept 31, 69, 141, 242, 288, 293, 295
– kulturelles 1, 87 ff., 93 ff., 111 ff., 115 f., 131, 150, 165, Gedächtniskonzeption 69, 276 ff.
167 ff., 180, 203, 207 f., 210, 212, 215, 217 f., 221, 224, Gedächtniskunst 136 f., 141, 209 f., 267, 289
227, 236, 239, 241, 243, 292 ff., 332 Gedächtniskünste 27, 127 f., 136 ff. (s. a. ars memoria)
– Kurzzeitgedächtnis 11, 27 ff., 41, 56 ff., 68, 232 Gedächtnislandschaft 98, 116, 120, 123
– Langzeitgedächtnis 11 ff., 17, 27 ff., 57 ff., 68, 232, Gedächtnisleistung 16 f., 22 ff., 26, 35, 41, 54, 56, 58 f.,
307, 310 62 f., 77, 102, 131, 262, 307, 310
– Lesergedächtnis 292 Gedächtnismanipulation 117 f.
– mechanisches 22, 25 Gedächtnismaße 26
– mentales 241 Gedächtnismetapher 194, 227, 229 f., 295
– Metagedächtnis 38 Gedächtnismodell 67 f., 71, 141, 230, 242, 277
– monolithisches 27 Gedächtnismuster 76
– nationales 90 f., 97 ff., 120 ff., 163, 187, 237 Gedächtnisort 91, 137, 171, 175, 184 ff., 220, 254
– natürliches 25, 289 Gedächtnisphänomen 9, 42, 281, 328, 334
– operatives 29 Gedächtnispolitik 115 ff., 177, 179 ff., 249, 254, 258,
– organisches 295, 297 311
– passives 22, 167 Gedächtnispraktiken 1, 8, 113, 178
– perzeptuelles 2, 11 f., 16, 29, 55 f. Gedächtnisprüfung 36
– primäres 27 f., 62 Gedächtnispsychologie 22 ff., 72 f., 77, 102 f.
– Produktgedächtnis 149 ff. Gedächtnisrahmen 86 f., 112, 282
– produktives 24, 271 Gedächtnisraum 117, 137, 140, 193, 289, 291
– prospektives 2, 8 f. Gedächtnisregime 121 ff.
– prozedurales 2, 11 f., 16 f., 29, 32, 55 ff., 72 f., 75 f. – nationales 123,
– psychisch-personales 285 – postnationales 122f
– reproduktives 22, 271 – postkommunistisches 123
– sekundäres 27 f. Gedächtnisreligion 123 ff.
– semantisches 2, 11, 29 ff., 55 f., 75 f., 146 Gedächtnisrepertoire 12 ff.
– soziales 1, 85 ff., 109 ff., 115, 147, 150, 152 ff., 217, Gedächtnisrepräsentation 78, 104, 289, 293 f.
231, 276, 284 ff., 289, 296 Gedächtnisritual 141, 143 ff.
352 V. Anhang

Gedächtnisspeicher 3, 29, 32 f., 94, 166, 262, 265 Geschichtsschreibung 87, 120, 131, 133, 141, 185, 190,
Gedächtnisspur 3, 13, 32 f., 36 ff., 242 (s. a. Engramm) 224, 230 f., 249 f., 255, 257, 259, 288, 290, 292 ff., 302,
Gedächtnisstörung 14 f., 41, 54, 78 320 f., 332 (s. a. Historiographie)
Gedächtnisstütze 34 f., 38 f. Geschlecht (gender) 50 f., 169, 237, 241, 251, 288,
Gedächtnisstruktur 79 f., 219 f. 319 ff.
Gedächtnissuche 76 f. Geschlechterbilder 324
Gedächtnissystem 2, 4, 11 f., 16, 29, 41 f., 55 ff., 61 f., 73, Geschlechterdiskurs 319, 322 f.
127, 145 f., 273 f., 289, 310 Geschlechterentwürfe 324
Gedächtnistheater 139, 158 f., 167 Geschlechteridentität 323
Gedächtnistheorie 33, 73, 194, 278, 280, 284, 308, 312, Geschlechterordnung 320, 323 f.
333 Gesellschaften 4, 6, 9, 25, 34, 42 f., 70, 86, 88, 90 f., 93,
Gedächtnistraining 34 f., 141 95 f., 101, 111, 113, 115 ff., 127, 129 f., 132 ff., 143,
Gedächtnisverzerrung 73, 83 145, 149, 152 f., 155, 160, 162, 165, 167 ff., 171, 173,
Gedächtniswissenschaft 293 175, 177 ff., 185 ff., 196, 199, 202, 207, 213 ff., 218 ff.,
Gedenkfeier 113, 184 235, 238, 242, 250 ff., 276 ff., 290, 292 f., 297, 301 ff.,
Gedenklandschaft 182 313, 315, 320, 322 ff., 327 ff.
Gedenkritual 179 – heiße 95f
Gedenkstätte 7, 91, 127, 177 ff., 184, 238, 239 – kalte 95
Gedenkstättenarchäologie 182 Gestaltpsychologie 24
Gedenktag 91, 124, 141 Gleichzeitigkeit 99, 127, 156, 215, 219, 280, 328 f., 332
Gefühle 37, 45 ff., 65 f., 71, 73, 153 f., 187, 212 f., 217 f., Globalisierung 98, 115, 235, 237, 287
244, 274, 331 Grabbaukunst 178
Gehirnareale 19, 273 Grotte 160, 203
Gehirnregionen 13 f., 19 Gruppen 6, 19, 26 f., 32, 40 ff., 47, 50 ff., 55, 85 ff., 93 ff.,
Gemeinschaften 4, 6 f., 85 f., 89 f., 95 f., 119 f., 127, 134, 102 ff., 109 ff., 143 ff., 150 ff., 168, 174, 177, 182, 197,
144, 146 ff., 152 f., 177 f., 184, 186 ff., 220, 231, 261, 210, 218, 220, 222, 230, 232, 236 ff., 253 f., 257 f., 274,
274, 277 f., 281, 317, 321, 324, 327, 334 278 f., 281 f., 284, 286 f., 301, 304, 316, 322, 325,
Gemeinwesen 118 f. 328 ff., 334,
Genealogie 232, 319 ff., 325, 331 Gruppenerinnerung 86 f., 90, 111
Generationalität 295, 331 Gruppenerzählung 239
Generation(en) 5, 8, 32, 69, 88 ff., 93 ff., 99, 111 f., Gruppenidentität 93, 109, 222, 237, 239
117 f., 131, 152 ff., 165, 167, 169, 201, 218 ff., 232 f., Gyrus cinguli 12 ff., 19
251 f., 254, 257 f., 297, 313 f., 316 f., 319, 324, 327 ff.
– Wendegeneration 331 Hagiographie 141
Generationenabfolge 328 Handeln 2 f., 8 f., 16, 34, 37, 67, 93, 116, 118 f., 121 f.,
Generationenbeziehung 327, 333 127, 143, 154, 179, 190, 242, 253 f., 283, 301 f., 316,
Generationenbildung 327, 333 319 f., 330
Generationenforschung 327 ff. – gedächtnispolitisches 118, 179
Generationenkonflikt 327 Handlungsorientierung 9, 117
Generationenverständnis 327 f. Hegemonie 118, 121, 179 f., 319
Generationenvertrag 327 – Diskurshegemonie 121
Generationsbewusstsein 328, 331 Heldentum 187, 315, 324
Generationsbündnis 330 Hermeneutik 192 f., 289, 304 f.
Generationseinheit 329 f. Herrschaftselite 320
Generationslagerung 329 Herrschaftsindex 286
Generationstyp 329 Hieroglyphe 158
Generationswechsel 328, Hippocampus 12 ff., 29, 58, 61, 310
Generationszugehörigkeit 330 ff. Hippocampusschädigung 14
Generationszusammenhang 329 f. Hirnrinde 11, 13, 242
Genozid 118, 180, 220 Hirnschäden 78
Geschichtenschemata 40 Historienmalerei 141
Geschichtsbewusstsein 32, 88, 163, 178 f., 186, 219, Historiographie 22, 87, 131, 244, 251, 253 ff., 259, 293 f.
224 f., 255, 259, 313 (s. a. Geschichtsschreibung)
Geschichtsnarrativ 244 Historismus 162, 168, 294, 302
4. Sachregister 353

Holocaust 70, 88, 96, 117, 123 f., 163, 181 f., 187, 223 ff., – Zeitzeugeninterview 88, 200, 251, 296, 306, 308
231 f., 238 f., 250, 252 ff., 282, 287, 294 f., 313, 324, inventio 290 ff.
331 f. (s. a. Shoah)
Hortus 159 Jugendkultur 328
Humanwissenschaften 300
Hypermnesie 229 Kabbala 138
Hypnose 65, 82 Kanon 40, 76 f., 79, 94, 117 f., 128, 130, 133 f., 158, 160,
Hysterie 64 f., 69, 242 165 ff., 169 f., 173 f., 185, 191, 224, 231 f., 237 f., 288,
290 ff., 296, 321
Idealismus 270 f. Kanonforschung 292 f., 296
Ideenlehre 189, 204 Kanonisierung 118, 128, 130, 167, 173, 191 f., 231 f.,
Identität 16 f., 30, 32, 39, 47, 52 f., 79 f., 83, 86 f., 90, 92, 238, 292, 296
93, 98 ff., 109, 116 f., 119, 127 f., 144, 159 ff., 165, 168, Kanonizität 167
172, 177 ff., 182, 185, 187 f., 203, 207, 214, 218, 220, Kanonrevision 292 f.
222 f., 225, 232, 237, 239, 241, 249 f., 252, 254, 258, Katalogisierung 165, 168
266, 268 f., 272, 276, 282, 285, 289, 292, 295 f., 323 ff., Kategorienlehre 139
330, 334 Kindheitsentwicklung 47 ff.
Identitätsstiftung 32, 117, 128, 144, 172, 177 ff., 185, Kindheitserinnerung 14 f., 49, 66, 233
252, 254, 258, 289, 295 f., 325, 330 Klassizismus 162
Identitätsbildungsprozesse 39, 47, 52, 218, 232, 323, Körper 113, 128, 138, 146, 153, 184, 189, 204, 211 f.,
334 231, 241 ff., 273 f., 279, 283 f.
Imagination 95, 137 f., 148, 156, 170, 249, 251, 268, 273 Körperdarstellung 241
Imagines agentes 136, 156 f., 212, 229, 289 Körperwahrnehmung 241
imago 136, 138, 259 Kognition 3, 12 f., 17 f., 24, 26, 30, 33 f., 36, 38, 42, 45,
Individuum 4, 17 f., 20, 31, 33 f., 64, 82, 85, 86 ff., 95, 51, 54 ff., 58 ff., 72, 77 ff., 94, 99 f., 102 ff., 107, 146 ff.,
102 f., 105, 107, 111, 127, 143 f., 148, 247, 269, 276, 182, 211 f., 241, 273 ff., 279, 314
278 f., 281 ff., 301, 303, 306, 315 Kollektivpsyche 86 f.
Informationsverarbeitung 11, 28, 30, 33, 54, 81 f., 310 Kommunikation 3 ff., 31, 41, 45, 65, 79 f., 85 ff., 94,
Informationsverlust 36, 102, 228, 310 99 ff., 102 ff., 116, 127, 130, 132, 135, 147, 150 ff., 166,
Informationsselektion 81 f., 105, 285, 293 179, 181, 202, 220 ff., 235 f., 248, 284 ff., 294, 305,
Ingenium 269 310, 313 ff., 324, 332 f.
Initiationsriten 146, 241 – adressatorientierte (audience turning) 41, 105 ff.
Inklusion 180 – interpersonale 80, 92, 153
Inquisition 168 – interpersonelle 102, 107
Instrumentalisierung 95 f., 252, 254, 256 – systemspezifische 284 f.
Intelligenzstrukturmodell 41 Kommunikationskultur 152
Intelligibilität 242 konditionieren 38, 266, 272
Interaktion 38 f., 46, 50, 73 f., 80, 85 f., 89, 93, 102, 107, Konfabulation 78, 82
111, 113, 127, 144, 147, 150, 179, 181, 273 f., 284, Konnektivität 18, 20, 235 f.
301, 304 f., 308, 313 Konservieren 128, 141, 165, 168, 263, 265 f., 272
Interaktivität 45, 80, 101, 107, 175, 219, 235 f., 274 Konservierung 165
Interferenz 36, 61 Konstruktion 22, 47, 51 ff., 65 f., 76 f., 88 f., 102, 107,
Intersubjektivität 45, 72, 147, 193, 258, 284, 309 116, 169, 191 f., 206, 208, 210, 215, 218 ff., 250, 253,
Intertextualität 169, 192 f., 288, 290 ff., 297 256 ff., 278, 280 ff., 293, 295, 304, 306 ff., 312 f., 316 f.,
Intertextualitätskonzept 192 f., 290 ff. 322, 324, 327, 330 f., 334 f.
Intertextualitätstheorie 192 f., 290 ff. Konstruktivismus 284, 309, 310 f.
Interview 8, 26 f., 42, 57, 78, 88, 200, 251 f., 256, 296, Kontiguität 68, 279
300, 303 ff., 313 f., 316 Konzentrationslager 178, 182, 209, 276, 315
– biographisches 27, 88, 300, 304 ff., 310 Korsakow-Syndrom 78
– Erinnerungs-Interview 307 f. Kryptomnesie 82
– Gruppen-Interview 26, 304 Kult 136, 166, 192, 204 ff., 253
– Leitfadeninterview 304 Kultur 1 ff., 22 ff., 46 ff., 49 ff., 76 ff., 85 ff., 93 ff., 111 ff.,
– Mehrgenerationen-Interview 313 f., 316 127, 129 ff., 141, 165 ff., 179 f., 291 f., 312 ff.
– narratives 42, 304 f., 308 Kulturtechnik 129, 141, 227
354 V. Anhang

Kulturwissenschaft 1, 9, 31, 43, 85, 91, 117, 128, 159, Mehrspeichermodell 27 ff.
163, 184, 188, 239, 241 f., 250, 288 f., 291, 293 ff., mémoire involontaire 230, 294,
311 f., 334 Memoiren 113, 141
Kulturzeugnis 165 Memorabile 141
Kunstkammer 171 Memoria 132, 134, 136, 139, 157 f., 161, 193, 242, 255,
Kythera-Gärten 159 266 f., 269, 288 ff., 292
Memorialkonzept 293
Labyrinth 137, 157, 160 f., 167, 169 Memorialort 267
Landmark 179 Memorialvers 138
late-life forgetfullness 59 memory sharing 80
Lebensabschnitt 57, 76 ff., 334 memory talk 6, 41, 80, 127 (s. a. Erinnerungsgespräch)
Lebensereignis 39, 76, 84, mens 266
Lebenserfahrung 17, 88, 296, 300 Merkhilfe 138, 140
Lebenserinnerung 299 f. Merktechnik 137
Lebensführung 300 Merkvers 138
Lebensgeschichte (life story) 2, 18, 45 ff., 66, 68, 70 ff., Merkwörter 140, 142,
77 ff., 248, 272, 296, 300, 303 ff., 312, 334 (s. a. Mesmerismus 241
Autobiographie) Mesopotamien 129 f., 133, 165 f., 203, 210
Lebenslauf 6, 46, 77, 79, 302, 305, 334 Metaerzählung 239
Lebensrückschau (life review) 80, 83 Metapher 31, 34, 68, 72, 83, 86, 94, 128, 137, 158, 169,
Leistungsminderung 54, 57 ff., 63 194, 227, 229 f., 241, 243, 288, 290, 293, 295, 308
Lektüre 40, 42, 129, 166, 191, 199, 230, 243, 286 – Leibmetapher 243
Lerneffekt 277 – Magazinmetapher 229 f.
Lerntheorie 33 f., 38 Milieu 30, 85 f., 88, 184 f., 282, 317
Lernvorgänge 38 f. Mimesis 189 f., 194, 233, 296 (s. a. Nachahmung)
Levels of processing 32 misinformation 81
Lexikon 99 f., 238, 250 Mittelalter 6, 134, 137, 157, 190, 205 f., 209, 212, 217,
Libido 67 f. 224, 241, 251, 255, 265, 288 f., 320
Lieux de mémoire 91, 163, 184 ff., 251 (s. a. Erinne- – Spätmittelalter 137 f., 157, 212, 241
rungsort) Mneme 131, 136, 262 ff.
linguistic turn 250, 293 mnemoneuein 263 f.
littera(e) 137 Mnemonik 137 ff., 244, 289
Locitechnik 34 – kryptographische 139
locus 130, 136 Mnemosyne 189 f., 209, 269 f.
Loi Gayssot 118 Mnemosyneatlas 211, 231, 242 f., 290
Lüge 299, 311 Mnemotechnik 34 f., 38 f., 136 ff., 140 f., 156 f., 189 f.,
212, 241, 243, 272, 288 f.
Macht 37, 67, 83, 98, 117, 124, 147, 159 ff., 167 f., 179 f., Mnemotope 178
207 f., 217, 239, 241 f., 302, 306, 320 f., 324 f. Moderne 6, 25, 94, 96 f., 101, 109, 118, 120, 131, 152 f.,
Magazin 196 ff., 229 f. 156, 158, 161 f., 166, 168, 172, 178, 196, 207 f., 214,
Magnetresonanztomographie 16 ff. (s. a. Bildgebungs- 218 ff., 233, 237, 241, 261, 278, 294
technik) Mündlichkeit 113, 129 f., 134, 190, 296
Markenprodukt 149 ff. Multimedialität 235, 238
Mathesis 261 Museumslandschaft 171
Matriarchat 320 Muster 76 f., 117, 146 f., 155, 233, 239, 279, 316, 324
Medialisierung 100, 219, 254, 259, 287 – Deutungsmuster 7, 53, 300, 315 f., 329 f. (s. a. Topoi)
Medialität 158, 218, 219, 288 f., 296 f. – historische 241
Medien 7, 27, 32, 85 f., 89, 91 f., 93 f., 112 f., 115, 127 f., – kulturelle 46, 50, 241
129 ff., 136 ff., 143 ff., 149 ff., 156 ff., 165 ff., 171 ff., Mythos 66, 136, 252, 259, 261 f., 265
177 ff., 184 ff., 189 ff., 196 ff., 202 ff., 217 ff., 227 ff.,
235 ff., 241 ff., 250, 254, 259, 282, 289, 292, 295 f. Nachahmung 141, 189 f., 222 (s. a. Mimesis)
– externe 93, 127 ff. Narben 18, 20, 209
Medienwandel 129 ff., 250 Narbenschrift 241, 244
Meditation 137, 157 Narration 8, 127, 153, 202, 297, 303, 305, 312 f.
4. Sachregister 355

Narrativ 24 f., 40, 42, 45 ff., 77, 80, 89, 96 ff., 149 f., 153, Politik 42, 90 f., 95, 100, 115 ff., 158, 187, 254 f., 316
187, 213, 219 ff., 230, 232, 244, 293 ff., 316 f., 320 (s. a. (s. a. Erinnerungspolitik; Gedächtnispolitik;
Erzählung; Interview, narratives) Handeln, erinnerungspolitisches)
Narratologie 294, 317 – Geschichtspolitik 91, 249, 254, 258
Nation 7, 85, 90 f., 93, 96 ff., 115 ff., 127, 145, 172 f., Politkbewusstsein 313
178 f., 184 ff., 207, 220 f., 239, 250, 253, 258, 281, 287, Politikwissenschaft 116, 121, 257, 328
288, 290, 293, 298, 316 f., 324, 334 Positivitätsbias 82 f.
Nation building 178 f. Positronenemissionstomographie 18 (s. a. Bildge-
Nationalismen 178 bungstechnik)
Nationalismus 98, 185, 250, 294 Postmemory 232, 297 (s. a. Erinnerung/Nacherinne-
Nationalsozialismus 89, 117 f., 122, 124, 149 f., 180, rung)
186, 196, 209 f., 224, 231, 239, 244, 253 f., 282, 299, Präexistenzmythologem 261, 268, 270
306, 313, 315 ff., 321, 324 f., 327 f., 331 ff., 335 Präkuneus 14
Neokortex 29 primacy-Effekt 33, 61
Nervenbahnen 67 f., 277 Primingsystem 11 f., 17, 55 f.
Netzwerkmodelle 30, 67 prosthetic memory 297
Neuroanatomie 14 Protention 9, 280, 283
Neurofibrillenbündel 61 Psychophysik 23
Neurose 64, 69, 252
Neuschöpfung 277, 281, 325 Queer Theory 319, 324 f.
Neuzeit 177, 206 ff., 217, 261, 267 ff., 277, 288 f. Quellenamnesie 314
– frühe 6, 135, 138 f., 157 f., 160 f., 251, 288, 320 Quellenkonfusion 314
Nicht-vergessen-Können 265, 276
nota(e) 137 (s. a. Zeichen) Rahmen 24, 26, 46, 53, 85 f., 88 f., 90, 93, 95, 98, 100,
NS-Regime 89, 321 109 ff., 117, 146, 152, 157, 179, 182, 218, 221, 232,
NS-Vergangenheit 89, 122, 254, 313, 328, 332 f. 238, 253, 258, 273 f., 281 f., 287, 296, 308
Nucleus Caudatus 58 – gesellschaftlicher 85 f., 89, 90, 93, 98, 109 ff., 117,
179, 253, 278, 281 f., 301
Objektbeziehungstheorie 67 f. Raum 2 f., 9, 11, 16 f., 28 f., 36, 42, 75, 113, 117, 136 ff.,
Oral History 88 ff., 248, 250 f., 254, 256, 296, 302 f., 156 ff., 193, 206 f., 220 ff., 229, 261, 263, 270, 289
306 f., 312, 321 f., 334 (s. a. Alltagsgeschichte) – mnemonischer 291 ff.,
oral poetry 111, 189 Recency-Effekt 33, 61
recollectio 136
Paarassoziationslernen 23 Re-Enkodierung 14
Palastbibliothek 166 Reformation 138, 206
Palimpsest 241 Regression 67, 192, 263
Papyrus 166 Reifungsprozess 79
Parodie 141 Reiz-Reaktions-Schema 277
Pathosformel 211, 231, 243, 291 Rekognition 26
Patriarchat 319 f. Rekonstruktion 17 f., 65, 70 f., 78, 81 f., 84, 85, 92, 199,
Performanz 134, 256, 296, 315, 324 f. 233, 242, 247, 266, 273, 281, 300 f., 306, 312, 322, 327
performative turn 296 Relevanz 8, 41, 57, 71, 88, 96, 101, 105, 129, 152, 165,
Permutation 138 168, 180, 188, 221, 224, 256, 283 f., 286, 292, 303
Persönlichkeit 17 f., 27, 40 f., 75, 82, 184, 239, 310 Relevanzstruktur 283 f.
Persönlichkeitsstörung 66 Remediation 297
Personengedenken 227 reminiscence bump 79, 90
Perzeption 100, 160, 229, 269 reminiscentia 136
Phänomenologie 91, 279 f. Renaissance 97, 147, 156, 158, 160, 173 f., 177, 206,
Phantasie 123, 190, 221, 269 f. 211, 243, 289
phantasma 136 – Preußen-Renaissance 182
Plastizität 250 Re-Oralisierung 129
– neuronale 17 ff. Repräsentation 3 f., 7, 30 f., 35, 42, 87, 96, 100, 106 f.,
Plausibilität 68, 116, 218, 309, 312 109, 127, 139 f., 143, 165, 173, 177, 179 ff., 241 ff.,
Plausibilitätsbedürfnisse 314 256, 259, 263 ff., 293 ff., 297 f., 312, 323 f.
356 V. Anhang

Repräsenationstheorie 312 Signalentdeckungstheorie 26


Repressor 66 simulacra 137
Reproduktion 22 ff., 33 ff., 85, 168, 222 f., 280, 305, Sinneswahrnehmung 202 f., 280
310 Source Monitoring 103
Resemiotisierung 290 soziale Realitätsbildung (shared reality) 106 f.
Retention 9, 268, 280, 283 Speicher 3 ff., 13 f., 27 ff., 131 ff., 165 ff., 171 ff., 228 ff.,
Rezeption 8, 24, 39, 85, 100, 132, 138, 157, 162, 172, 235 f. (s. a. Gedächtnisspeicher)
177 f., 180 ff., 190, 193, 207, 212 f., 218 ff., 223 ff., 231, Speichermaschine 307
233, 242, 252 ff., 314 Speichermöglichkeit 127, 236, 277
Rezeptionsforschung 1, 87, 92, 223 ff., 297, 317 (s. a. Speicherorte 13, 307
Wirkungsforschung) Speicherrolle 175
Rezeptionspraktiken 174, 178, 212 f., 233 Speicherstätte 171
Rhetorik 34, 132, 134, 136 f., 147, 189, 191 f., 229, Speicherung 5, 11, 13, 19, 30, 35, 56, 61, 64, 68, 79, 84,
289 f., 292 95, 130, 132 f., 139, 165 ff., 175, 228, 233, 235 f., 241 f.,
Rhetoriklehre 132, 156 261 ff., 270, 285, 306, 310
Ritual 32, 93, 96, 99, 112 f., 115, 124, 125, 127 f., 141, Sprache 3, 5, 35, 37, 39 f., 45 ff., 53, 87, 104, 119, 127,
143 ff., 149, 165, 179, 184, 188, 198, 218 ff., 254, 256, 134, 161 f., 243 f., 262, 269, 273, 294, 315
277 f., 280, 312, 324 Sprachproduktion 39
Ritus 88, 101, 112, 127, 143 ff., 174, 241, 278 Sprachrezeption 39
Ruine 64, 149, 160, 209 Sozialisationshintergrund 46 f.
ruminatio 137, 157 – Affektensprache 243 f.
– Gebärdensprache 242 f.
Sammlung 76, 134, 147, 163, 165, 171 ff., 184, 186, 207, – Gefühlssprache 244
230, 257, Spracheinfluss 48 f.
Sammlungskonzept 172 f. Sprachverständnis 41, 273
Saying-is-Believing-Paradigma 105 f. Sprechvermögen 41
Schatzhaus 166 Spurenzerfall 36
Scheitellappen 11, 14 f. Stämme 127, 174
Schemata 24 f., 30 f., 37, 40, 42, 76, 79, 86, 140 f., 285, Stegreiferzählung 303 f.
290, 297 Stichwort-Technik 77 ff. (s. a. Galton-Crovitz-Stich-
Schläfenlappenspitze 14 worttechnik)
Schlüsselwortmethode 34 f. Stimmungskongruenz 39
Schmerz 64, 66, 68, 71, 76, 241 ff. Stirnhirn (präfrontaler Kortex) 11, 13 f., 18 f., 82
Schockerlebnis 16, 18 Store-House 159, 268
Schrift 3, 127, 129 ff., 137 ff., 190 f., 203 f., 262 f., 286, Stress 18 ff., 306, 310
296 f. Stresshormone 18
– Heilige Schrift 134, 166, 292 Symbol 3, 5, 29, 34, 46, 64, 70, 72, 86 f., 90, 93, 98, 100,
Schriftkritik 134, 190, 232 109 f., 112 ff., 129, 138 f., 143 ff., 153 ff., 158, 178 ff.,
Schriftkultur 130, 134, 165 f., 243 184 f., 205, 211, 213, 220, 238, 242 f., 253, 272, 279,
Schriftlichkeit 113, 129 ff., 134, 190, 285, 296 323
Schriftsinn, vierfacher 190 f. Symbolsystem 274, 284, 290, 292 f.
Schriftsystem 142, 235 Symptom 16, 18 f., 41, 54, 60 ff., 64 f., 69, 71, 144, 213,
Schrifttum 134, 165 ff., 242 ff., 294
Schuld 69, 89, 118, 122, 168, 192, 239, 272, 299, 316, Symptombildung 36, 64
332 Symptomsprache 243
Schuldgefühle 71 Synkretismus 298
Skripte 24 f., 30 f., 37, 76 ff., 94, 312, 314 ff., 323 System
scriptura 138 f. – Input-System 273 f.
Sekundartraumatheorie 69 – kognitives 273 f.
Selbstbild(er) 9, 50 ff., 66, 123, 314 – limbisches 11 ff., 242
Selbstkonzept 2, 5, 17, 57, 75 f., 79 f., 83 – politisches 115 ff.
self-defining-memories 83 – soziales 6, 143, 152, 281, 284 ff., 292
Sexualität 18, 31, 64, 67 ff., 242 Systemtheorie 284 ff., 305
Shoah 69, 123 f., 252 f. (s. a. Holocaust)
4. Sachregister 357

Tagebuch 26 f., 76, 78, 102, 113, 193, 256, 300 – motiviertes 36
Teilberichtmethode 28 – prospektives 36
Tempel 137, 166, 204, 241 Vergessenskurve 22 f., 79
Temporallappen 14, 61 Vergessensprozess 22 f., 36 f., 39, 76
Thalamus 13 Vergesslichkeit 58 ff., 264, 274
Theater 132, 139, 158 f., 167, 193, 217, 241, 256, Verhaltensmuster 18, 49 f., 52, 143, 222, 329
290 Verhaltensrepertoire 38
Thesaurus 136, 159, 265 Veridikalität 27, 68, 71
Tip-of-the-tongue-Phänomen 56 Vernetzung 6, 17 f., 235, 237, 239, 287
Tontafel 166 Verzerrung 8, 30, 36, 64 ff., 68 f., 71, 73 f., 77, 83, 95,
Topoi 137, 288, 290 f., 315 f. (s. a. Deutungsmuster) 102, 106, 147, 166, 297, 312
Topos 137, 166, 267, 315 Vinca-Symbole 129
Toposbegriff 137, 291, 315 f. vis 266, 289
Totemismus 278 – memoria 266
Totenklage 157 Visualität 76
Transformation 25, 95, 98 ff., 146, 193, 236, 241, 261, Vitalismus 123
291, 329 Vorderhirn 12 f.
transmission 294 Vorerinnerung 8, 279 f.
Traum 36, 65, 72, 211, 243 Vorstellung 8, 14, 27, 35, 53, 67 f., 71, 75, 82, 85, 89, 91,
Trauma 18 ff., 31, 36, 47, 64 f., 69 ff., 83, 147, 220, 131, 136, 139 ff., 147 f., 156 ff., 173, 191, 202 ff., 227,
242 ff., 252 f., 258, 265, 288 f., 294 f., 310, 333 230, 243, 249, 252, 264 f., 270, 277 ff., 312, 324,
Traumatheorie 69, 252 f., 258, 294
Travestie 141 Wachstafel 137, 229 f., 241, 295
Treffermethode 23 Wachträumen 65
Trigger-Signale 14 Wahrheit 4, 78, 83, 105, 116, 161, 189 f., 194 f., 242,
Trinität, göttliche 266 f. 244, 271, 295, 300, 307, 309
Trinitätslehre 266 f. Wahrnehmung 17, 37, 40, 45 f., 50 f., 53, 54, 56, 65 ff.,
Triumpharchitektur 159 f. 73, 86, 90, 99, 104, 129, 136, 147 f., 155, 157, 159,
Tropen 137 f. 161, 202 ff., 210 f., 213 f., 217 f., 227, 229 f., 241, 244,
255, 258, 265, 267 ff., 273, 279 f., 282, 284, 286, 301,
Übertragung 65 ff., 69, 71, 253, 297 306 f., 309, 315, 331
Umkodierung 190 Wahrnehmungsprozess 37 f., 208
unbewusst 11 f., 17, 30, 56, 64 ff., 87, 144 f., 185 Wandlungsprozess 109, 283
Unbewusste, das 64 f., 72 f., 113, 141, 145, 202, 211, Wende
230, 243, 294 – kognitive (cognitive turn) 24
211, 214, 222 f., 295, 332, 335 – konstruktivistische 319, 322 f.
Ungleichzeitigkeit 9, 96 f., 329 – linguistische (linguistic turn) 250, 293
Universalsammlung 171 – neurobiologische 309
Unsterblichkeit 132, 169 – visuelle Wende (visual/iconic turn) 202, 208 f.
Wiedererinnerung 261 ff., 280, 289
Verbal-Overshadowing-Effekt 104 f. Wiedererkennen 11, 23, 59, 61 f., 77 f., 279, 286
verdrängen 206, 215, 222, 242 f. Wieder-Erleben 75
Verdrängung 36, 39, 64 ff., 235, 249, 252 f., 258, 299, Wiedergabe 26, 130 f., 194, 203, 314
332 f. – offene 77 ff.,
Verfälschung 81 f., 103 Wiedererzählung 314
Vergangenheitsbewältigung 313 Wikipedia 142, 235, 238 ff.
Vergangenheitspolitik 91, 258 Wirkungsforschung 225, 297 (s. a. Rezeptionsfor-
Vergangenheitsthematisierung 7, 48, 112, 123, 196 f., schung)
305, 313, 316, 333 Wissen
Vergangenheitsvergegenwärtigung 127, 136, 175, 188, – Körperwissen 241 ff.
203, 215, 233, 247, 265, 278, 281, 303, 334 – göttliches 189
Vergessen 9, 22 ff., 35 ff., 59, 61, 64, 67, 70, 73, 76 ff., 94, – subjektives 283 f.
96, 101, 102, 104, 117, 121 ff., 165, 232, 253, 258, 262, – verkörperlichtes 146, 283
264 f., 276 ff. Wissenskompendien 140
358 V. Anhang

Wissensrepräsentation 42, 140 Zeit 2 f., 5, 11 ff., 97 f., 141, 156, 218 f.
Wissensspeicher 162, 166 f., 169, 238 Zeitbewusstsein 279 f.
Wissensvorrat 166, 168, 283 f., 286 Zeitdiagnose 97 f.
Wortfindungsstörung 61 Zeitlichkeit 93, 97, 101, 209, 211, 213, 306, 329
Wunderblock 230, 241, 295 Zeremonie 124, 144, 174, 277
Zitat 141, 193, 220 f., 237
Zahlen 29, 46, 139, 142, 145 Zwangsneurose 64
Zahlenmagie 139 Zweikomponententheorie 27 f., 54
Zeichen 24 f., 130, 137 ff. 152, 190, 193, 203 f., 206, 219,
227, 241 f., 263, 269 ff., 290, 305 (s. a. nota(e))
359

5. Personenregister Berg, Nicolas 254


Bergson, Henri 141, 272, 277, 278, 279, 280, 281, 282,
Adler, Alfred 66 283, 294
Adorno, Theodor W. 272 Best, Werner 331
Ahbe, Thomas 330 Binet, Alfred 40
Alanus ab Insulis 205 Bion, Wilfred 65
Alberti, Leon Battista 158 Blondel, François 158
Albertus Magnus 136, 289 Bloom, Harold 291
Alexandrinus, Clemens 166 Boll, Friedhelm 313
Alheit, Peter 309 Bollenbeck, Georg 315
Allport, Gordon W. 102 Boltanski, Christian 169
Alsted, Johann Heinrich 140 Bolz, Norbert 193
Althusser, Louis 179 Borges, Jorge Luis 169, 194
Aly, Götz 299 Borgolte, Michael 255
Alzheimer, Alois 60 Bornemann, Ernest 320
Anders, Günther 208 Borries, Bodo von 255
Annan, Kofi 124 Borsò, Vittoria 296
Antin, Mary 244 Bourdieu, Pierre 113, 232, 304, 305, 306
Antonioni, Michelangelo 233 Bowlby, John 67, 69
Arasse, Daniel 210 Brandt, Willy 232
Aristoteles 132, 136, 189, 190, 227, 241, 263, 264, 265, Bredekamp, Horst 212, 213
267, 272, 295 Bremner, Douglas J. 19
Arndt, Ernst Moritz 120 Broadbent, Donald 27
Asklepios 204 Brueghel, Pieter d. Ä. und d. J., Jan d. Ä. 208
Assmann, Aleida 1, 93, 94, 113, 158, 236, 241, 244, 289, Bruner, Jérôme 33, 45
293, 296, 311, 332 Bruno, Giordano 139, 289
Assmann, Jan 1, 86, 87, 90, 93, 94, 95, 101, 111, 112, Bucer, Martin 138
113, 119, 130, 178, 191, 203, 212, 292, 332 Buno, Johann 140
Atkinson, Richard C. 27, 28, 33 Burke, Peter 87, 89, 112
Atwood, Margaret 168 Bush, Vannevar 235
Auer, Olaf 209
Auerhahn, Nanette C. 70 Cabeza, Roberto 58
Augé, Marc 163, 221 Caesar, Gaius Julius 133
Augustinus 136, 190, 264, 265, 266, 267, 268, 272 Calle, Sophie 181
Calvin, Johannes 138
Baacke, Dieter 302 Camillo, Giulio 139, 159, 289
Bachmann, Ingeborg 243, 244 Carpenter, John 222
Bachtin, Michail 291 Carruther, Mary 289
Bacon, Francis 190 Caruth, Cathy 294
Baddeley, Alan 28, 33 Cattell, Raymond B. 41, 54
Balint, Alice 67 Certeau, Michel de 163
Balint, Michael 67 Chalmers, David 273
Bandura, Albert 38 Chandernagor, Françoise 257
Barthes, Roland 193 Chauvin, Nicolas 185
Bartlett, Frederic C. 22, 24, 25, 26, 30, 31, 37, 82, 85, Christo und Jeanne-Claude 213
110, 147, 297, 312, 314 Churchill, Winston 122
Baudelaire, Charles 294 Cicero, Marcus Tullius 121, 132, 137, 157
Bauer, Joachim 242 Clark, Andy 273
Baxandall, Michael 147, 148 Colonna, Francesco 158
Beck, Ulrich 302 Comenius, Johannes Amos 140
Becker, James T. 61 Comte, Auguste 328
Belting, Hans 203, 205 Confino, Alon 87
Benjamin, Walter 94, 110, 163, 230, 233, 243, 249, 272, Connerton, Paul 113
294 Conway, Martin 65, 74
360 V. Anhang

Cooley, Charles Horton 110 Fludd, Robert 140, 289


Cortez, Hernán 206 Fodor, Jerry 273
Craik, Fergus 32, 34 Foerster, Heinz von 284
Cranach d. Ä., Lukas 207 Fogu, Claudio 7, 331
Cresswell, Tim 182 Fonagy, Peter 72, 73
Cruise, Tom 201 Fontane, Theodor 194
Csáky, Moritz 256 Forster, E.M. 169
Curtius, Ernst Robert 290, 291 Foucault, Michel 163, 168, 250, 322
Curtiz, Michael 221 François, Etienne 91, 186, 259
Frei, Norbert 254
Dante Alighieri 289 Freiberg, Dietrich von 267
Darboven, Hanne 209 Freud, Sigmund 4, 39, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 73, 86,
Dausien, Bettina 309 122, 230, 242, 243, 253, 261, 272, 294, 295
David, Jacques-Louis 207 Freund, Gisèle 232
Dean, John 27, 31 Fried, Johannes 255
Derrida, Jacques 190, 192, 305, 322 Friedländer, Saul 7
Descartes, René 268 Friedrich II., Preußischer König 182
Dewey, John 38 Frisch, Max 276
Diana, Prinzessin 221 Fuchs-Heinritz, Werner 302
Dickens, Charles 281
Dilthey, Wilhelm 192, 328 Gadamer, Hans-Georg 192
Diokletian 156 Gallagher, Shaun 16
Doering-Manteuffel, Anselm 250 Galton, Francis 40
Donald, Merlin 3 Gasset, Ortega y 123
Driessen, Martin 19 Gehry, Frank 212
Duby, Georges 251 Genoa, John of 148
Duden, Anne 243 Georgi, Viola 313
Duhamel, Georges 208 Gergen, Kenneth 33
Durkheim, Émile 109, 110, 111, 147, 277, 278, 280, Gerz, Jochen 163
281, 282 Gesner, Konrad 191
Giddens, Anthony 302
Ebbinghaus, Hermann 22, 23, 24, 25, 26, 29, 37 Giotto di Bondone 289
Eisenman, Peter 163 Gladstone, William Ewart 122
Ekman, Paul 144 Goebbels, Joseph 220
Elias, Norbert 5, 241 Goethe, Johann Wolfgang 140, 290
Eliot, T. S. 291 Goetz, Rainald 193
Elizabeth II., Königin von Großbritannien und Goffman, Erving 144
Nordirland 218 Göttner-Abendroth, Heide 320
Erdelyi, Mathew Hugh 72 Graevenitz, Gerhart von 193
Erhard, Ludwig 150 Granzow, Stefan 73
Erll, Astrid 87 Grass, Günter 295, 299
Ernst, Wolfgang 236 Graumann, Carl 33
Eschebach, Insa 324 Graus, František 255
Esposito, Elena 287 Gries, Rainer 330
Grigorjewitsch, Grigori 207
Faimberg, Haydée 333 Gross, David 97
Fairbairn, Ronald 67 Grubrich-Simitis, Ilse 69
Faulkner, William 230 Grünbein, Durs 242, 293
Felman, Shoshana 294 Grundig, Hans 214
Fentress, James 111 Guilford, Joy P. 41
Ferenczi, Sandor 67 Gurvits, Tamara 18
Ferro, Antonino 72, 73
Fichte, Johann Gottlieb 120, 270 Hadrian 157
Fivush, Robyn 74, 314 Halbwachs, Maurice 31, 85, 86, 87, 88, 89, 91, 93, 109,
5. Personenregister 361

110, 111, 112, 113, 117, 162, 163, 185, 276, 278, 281, Kamper, Dietmar 241
282, 286, 288, 289, 296, 301, 307, 312, 333 Kandel, Eric 2
Haller von Hallerstein, Carl 162 Kansteiner, Wulf 7, 100, 294, 331
Hamann, Christoph 212, 213, 215 Kant, Immanuel 261, 270
Harré, Rom 33 Keilson, Hans 69
Hartog, François 249 Kennedy, John F. 147, 221
Haug, Frigga 322 Keos, Simonides von 136
Hausen, Karin 320 Keppler, Angela 89
Hauser, Kornelia 322 Kernberg, Otto 66, 74
Havelock, Eric A. 130 Kerschensteiner, Georg 39
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 270, 271, 272 Kertész, Imre 208
Hein, Dörte 239 Kiefer, Anselm 169, 210, 213
Heinlein, Michael 317 Kierkegaard, Søren 271
Heinrich II., dt.-röm. Kaiser 207 Kircher, Athanasius 140
Hering, Ewald 29 Kirsch, Jan Holger 7
Hermann der Cherusker 120 Klee, Paul 208
Hermes 204 Klein, Melanie 67
Herodot 131 Klenze, Leo von 162
Hesiod 269 Klüger, Ruth 244
Hilberg, Raul 253 Knigge, Volkhard 178
Hildebrandt, Dieter 299 Knöbl, Wolfgang 334
Hirsch, Marianne 297 Koeppen, Wolfgang 156
Hirst, William 31, 104 Koffka, Kurt 38
Hitchcock, Alfred 222 Köhler, Robert 207
Hitler, Adolf 201 Köhler, Wolfgang 38
Hobbes, Thomas 261, 268 Kohli, Martin 301, 302
Hobsbawm, Eric 96, 250 Kohlstruck, Michael 313
Hochheim, Eckhart von 267 Koonz, Claudia 321
Hoheisel, Horst 169 Kopelman, Martin D. 62
Hölderlin, Friedrich 270, 271 Koselleck, Reinhart 87, 156, 250, 253, 313
Holodynski, Manfred 74 Kracauer, Siegfried 163
Holzkamp, Klaus 33, 34 Kral, Viktor A. 59, 60
Homer 189, 190, 290, 296 Kris, Ernst 66
Horaz, d. i. Quintus Horatius Flaccus 132, 190 Kristeva, Julia 193, 291
Horn, John L. 41, 54 Kues, Nikolaus von 267
Horowitz, Mardi 69 Kuhl, Julius 41
Hroch, Miroslav 255 Kuhn, Thomas S. 1
Husserl, Edmund 8, 9, 277, 279, 280, 283, 284, 287 Kula, Marcin 256
Hutton, Patrick 95
LaCapra, Dominick 253
Illies, Florian 153 Lachmann, Renate 193, 194, 291
La Fontaine, Jean de 158
Jäckel, Eberhard 252 Lamb, Charles 211
Jäger, Ludwig 297 Landsberg, Alison 217, 297
Jahn, Friedrich Ludwig 120 Lanzmann, Claude 252
James, William 27 Laub, Dori 70
Janet, Pierre 25, 70 Lave, Jean 38
Jaworski, Rudolf 257 Lebow, Richard Ned 7
Jeismann, Karl-Ernst 255 Ledoux, Claude Nicolas 161
Jens, Walter 299, 306 Le Goff, Jacques 250, 255
Jesus Christus 138, 148, 204, 205, 206, 213 Leh, Almut 309
Josia (König von Juda) 121 Leibniz, Gottfried Wilhelm 261, 268, 269
Joutard, Philippe 251 Lenin, d. i. Vladimir Iljitsch Uljanov 181, 182
Jureit, Ulrike 88, 254 Lenz, Siegfried 299
362 V. Anhang

Leo III., byzantinischer Kaiser 205 Michelangelo, Buonarotti 206


Leonardo da Vinci 206, 207 Mies, Maria 321
Leonhard, Nina 313 Mill, John Stuart 328
Leont’ev, Aleksej N. 22, 24, 25 Miller, George 29
Le Roy Ladurie, Emmanuel 257 Milward, Alan S. 252
Lessing, Gotthold Ephraim 228 Minsky, Marvin 24
Levine, Brian 57 Mirandola, Pico della 138
Lévi-Strauss, Claude 95 Mitchell, Don 180
Levy, Daniel 238, 287 Mitchell, Margaret 296
Levy, Robert 143 Moller, Sabine 315, 316
Lévy-Bruhl, Lucien 25 Morel, A. A. (Kupferstecher) 207
Lewin, Kurt 72 Morrison, Toni 241, 295
Liberzon, Israel 19 Moses 121
Lichtwark, Alfred 172 Mucha, Stanislav 212
Lincoln, Abraham 91 Münsterberg, Hugo 40
Livius, Titus 133
Locke, John 159, 261, 268 Nassehi, Armin 305, 306
Lockhart, Robert 32, 34 Neisser, Ulric 24, 27, 31
Loftus, Elisabeth 4 Nelson, Katherine 6
Lohenstein, Daniel Casper von 191 Niethammer, Lutz 88, 250, 254, 302, 307, 308, 309, 329,
Lotman, Jurij 141 330, 334
Ludwig XIV., König von Frankreich 158, 159 Nietzsche, Friedrich 119, 241, 243, 244, 249, 261, 271,
Luhmann, Niklas 276, 281, 284, 285, 286, 287 272
Lullus, Raimundus 138, 139, 140 Nilsson, Lars-Göran 56
Lurija, Aleksandr 27 Nipperdey, Thomas 253
Luther, Martin 138, 191, 206 Nolan, Christopher 219, 274
Lyotard, Jean-François 237 Nora, Pierre 91, 128, 163, 184, 185, 186, 187, 188, 249,
250, 251, 253, 257, 260, 288, 289, 328, 330, 334
Madonna, d. i. Madonna Louise Ciccone 8 Novick, Peter 254
Maguire, Eleanor 17 Nünning, Ansgar 294
Maier, Michael 158
Maihofer, Andrea 323 Oevermann, Ulrich 304, 305
Main, Margaret 74 Oexle, Otto Gerhard 255
Malraux, André 230 Olick, Jeffrey 90, 110, 113
Man, Paul de 294 Ophüls, Marcel 252
Mandelstam, Osip 169 O’Reilly, Tim 235
Manier, David 31 Orsini, Vicino 158
Mann, Thomas 193 Orwell, George 168
Mannheim, Karl 89, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, Otto, Adolf 41
334 Otto III., dt.-röm. Kaiser 207, 208
Mao Tse-Tung 237 Overman, Amy 61
Maria (Mutter Jesu) 204, 205, 213
Markowitsch, Hans J. 80, 309, 310 Paleotti, Gabriele 158
Marx, Karl 276 Pandel, Hans-Jürgen 255
Matthes, Joachim 329 Panofsky, Erwin 213
Maturana, Humberto 309 Paracelsus 138
McDermott, Kathleen 103 Paulus 204
McGee, Peter 198 Pavlov, Ivan P. 38
McLuhan, Marshall 94, 193 Paxton, Robert O. 252
Mead, George Herbert 110 Persson, Göran 124
Meinhof, Ulrike 209 Piaget, Jean 4, 5
Mendras, Henri 250 Piefke, Martina 15, 19
Menzel, Adolph 207 Pinder, Wilhelm 328
Meyer, Erik 239 Plato, Alexander von 303, 308, 309
5. Personenregister 363

Platon 104, 130, 131, 133, 136, 189, 190, 204, 241, 261, Schütz, Alfred 9, 276, 281, 283, 284, 286, 287, 301
262, 263, 264, 265, 267, 268, 270, 271, 272, 295 Schütze, Fritz 303, 304, 305, 306, 308
Plinius, d. i. Gaius Plinius Secundus Maior 157 Schwartz, Barry 91
Plotin 264, 265 Scott, Jacqueline 90
Poirier, Anne 209 Scott, Joan 323
Poirier, Patrick 209 Scott, Ridley 233
Polanski, Roman 222 Sebald, W. G. 233, 244, 295
Pomian, Krzysztof 249 Seidl, Ulrich 62
Porsina, König der Etrusker 157 Semon, Richard W. 211
Possevino, Antonio 191 Seneca, Lucius Annaeus 190
Potter, Jonathan 33 Sevilla, Isidor von 134
Proust, Marcel 230, 272, 294, 295 Shakespeare, William 293, 296
Pusch, Luise F. 323 Shereshevskij, Solomon 27, 141
Puymège, Gérard de 185 Shiffrin, Richard M. 27, 28, 33
Sigurdsson, Sigrid 169, 209
Quintilian, Marcus Fabius 137, 157 Simon, Claude 230
Simon, Theodore 40
Raffael, d. i. Raffaello Santi 174, 213 Simonides von Keos 141, 157
Ranger, Terrence 96 Skinner, Burrhus F. 38
Ranke, Leopold von 162 Sokrates 130
Raz, Naftali 58 Sperling, George 28
Reichart, Elisabeth 244 Spielberg, Steven 208
Remarque, Erich Maria 296 Stauffenberg, Klaus Graf von 201
Rembrandt, d. i. Rembrandt Harmenszoon van Rijn Stern, Daniel 73
207 Stern, William 40
Renan, Ernest 120, 249 Stierle, Karlheinz 193
Repin, Ilja 208 Storm, Theodor 194
Revel, Jacques 250 Sueton, d. i. Gaius Suetonius Tranquillus 191
Richelieu, Armand Jean du Plessis, Comte de 159 Sznaider, Natan 238, 287
Richter, Gerhard 209, 233
Ricœur, Paul 296 Tacitus, Publius Cornelius 191
Ries, Henry 212 Tarantino, Quentin 220
Rigney, Ann 297 Terr, Leonore 69, 70
Robbins, Joyce 110, 113 Tertullian, Quintus Sepptimius Florens 204
Roediger, Henry 103 Theagenes von Rhegion 190
Rogoff, Barbara 38 Theodor, Friedrich 211
Romulus 178 Thomae, Hans 301
Rosenthal, Gabriele 313, 332, 333 Thomas, Isaac 301
Roth, Gerhard 309 Thomas von Aquin 136, 205, 289
Rousso, Henry 252 Thukydides 131
Rüsen, Jörn 255 Thürmer-Rohr, Christina 321
Thurnwald, Richard 25
Sallust 133 Timm, Uwe 295
Salmon, Naomi Tereza 209, 233 Tizian, d. i. Tiziano Vecellio 289
Sapir, Edward 104 Tomasello, Michael 5
Sartre, Jean-Paul 123 Tomkins, Sylvan 66
Schacter, Daniel L. 80, 86 Tönnies, Ferdinand 96
Schafer, Roy 71, 72 Topolski, Jerzy 255
Schelling, Friedrich Wilhelm 270 Toulmin, Stephen 260
Schleiermacher, Friedrich 192 Trevarthen, Colwyn 73
Schmitt, Jean-Claude 255 Trumbull, John 207
Schulze, Hagen 91, 186 Tschuggnall, Karoline 317
Schulze, Theodor 302, 303 Tulving, Endel 2, 16, 17, 55
Schuman, Howard 90, 91
364 V. Anhang

Varus, Publius Quintilius 120 White, Hayden 250, 294


Verville, Béroalde de 158 Whorf, Benjamin 104
Vico, Giambattista 261, 269 Wickham, Chris 111
Vischer, Robert 211 Wilhelm II., Preußischer König 207
Vitruv, d. i. Marcus Vitruvius Pollio 158 Winnicott, Donald 67, 69
Vorherr, Gustav 162 Wirtz, Thomas 192
Vygotsky, Lev 110 Wittgenstein, Ludwig 272
Wolf, Christa 243, 244
Wachowski, Andy und Larry 219 Wolfrum, Edgar 254
Walser, Martin 299 Woolf, Virginia 169, 294
Wang, Qi 6 Wulf, Christoph 241
Warburg, Aby 31, 85, 86, 110, 112, 163, 211, 212, 213,
231, 242, 243, 288, 290, 291 Yates, Frances A. 147, 148, 159, 163, 189, 289
Watson, John B. 38 Yerushalmi, Yosef Hayim 259
Weber, Max 120, 276 Young, James E. 7, 181
Weckherlin, Georg Rodolf 191 Yuval-Davis, Nira 324
Weigel, Sigrid 241, 243, 331
Weinberg, Manfred 288 Zernack, Klaus 258
Wellershoff, Dieter 299 Zierold, Martin 236
Welzer, Harald 7, 80, 89, 99, 111, 112, 113, 296, 305, Znaniecke, Florian 301
306, 309, 311, 313, 314, 333 Zola, Émile 233
Werner, Anton von 207 Zumthor, Peter 163
Wertheimer, Max 38 Zwingli, Ulrich 138
Wetherell, Margaret 33

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