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Belebungskünste

Nicola Gess, Agnes Hoffmann, und Annette Kappeler - 978-3-8467-6292-9


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Nicola Gess, Agnes Hoffmann,
Annette Kappeler (Hg.)

Belebungskünste
Praktiken lebendiger Darstellung in Literatur, Kunst
und Wissenschaft um 1800

Wilhelm Fink

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Umschlagabbildung:
Ernst Chladni führt Kaiser Napoleon I. (1769–1821) von Frankreich die Klangfiguren vor, Temperazeichnung,
Anfang 19. Jahrhundert.
Quelle: Deutsches Museum München, Archiv-Nr. BN31280

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(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore;
Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München


Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6292-3 (paperback)


ISBN 978-3-8467-6292-9 (e-book)

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Inhalt

Nicola Gess, Agnes Hoffmann, Annette Kappeler


Einleitung: Praktiken lebendiger Darstellung um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Mary Helen Dupree


Der Text als Vampir. Zur akustischen Verlebendigung literarischer Texte
um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Martin Danneck
Lebendige Rede, tote Buchstaben und die Normierung des Sprechens
im Schrifttum zur Deklamation um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Reinhart Meyer-Kalkus
Dramenvorlesen als Kunst – das Beispiel Ludwig Tiecks . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Sean Franzel
Les Cris de Paris: Lebendigkeit, Neuigkeit und Intermedialität in der
urbanen Tableauliteratur um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Annette Kappeler
„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange“.
Lebendiges Theaterspiel um die Wende zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 105

Hans-Christian von Herrmann


Lebenszeichen – Literatur und Theater um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Hubert Thüring
Der „Reiz des Lebens“ und der „Tanz“ der „Götter“ – Jakob Michael
Reinhold Lenz’ Poetik der Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Agnes Hoffmann
Zwischen Fragment und Phantasma: Statuenerlebnisse um 1800 . . . . . . . . 169

Arno Schubbach
Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft. Zwischen
Ästhetik, Epistemologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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vi Inhalt

Janina Wellmann
Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem
Sonnenmikroskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Verzeichnis der Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

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Nicola Gess, Agnes Hoffmann, Annette Kappeler

Einleitung: Praktiken lebendiger Darstellung


um 1800

Um 1800 ist der Begriff der Darstellung im ästhetischen Diskurs des deutsch-
sprachigen Raumes omnipräsent, und er ist eng verflochten mit Vorstellungen
von Lebendigkeit und Leben – ein Interesse, das die Ästhetik mit zeit-
genössischen naturphilosophischen Diskursen und den neu entstehenden
Disziplinen der Lebenswissenschaften teilt. Die lebendige Darstellung wird
dabei zur Zielgröße künstlerischer Praktiken und zu einer Schlüsselfigur der
philosophischen Ästhetik. Sie beerbt ältere Traditionen illusionsstiftender
Veranschaulichung und des lebendigen Vor-Augen-Stellens in Rhetorik
und Poetik, führt die Belebung der Seele und der Sinnesvermögen als neue
wirkungsästhetische Pointe ein und adaptiert und beeinflusst zugleich zeit-
genössische Modelle des Lebendigen aus der Biologie und Anthropologie. Die
Konjunktur dieses neuen Paradigmas1 wurde von der Forschung seit den 1990er
Jahren für das Feld der philosophischen Ästhetik und Kunsttheorie im Detail
herausgearbeitet.2 Deutlich wurde gezeigt, wie mit dem Modell lebendiger

1 Von einem ,neuen Paradigma‘ spricht als Erster Winfried Menninghaus in seinem grund-
legenden Aufsatz: „Darstellung. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Para-
digmas“, in: Was heißt Darstellen?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994,
S. 152–174.
2 Zum Konzept der ,Darstellung‘ in Ästhetik und Kunsttheorie um 1800 vgl. grundlegend Inka
Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ,Dar-
stellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998; Martha B. Helfer, The Retreat of Representation.
The Concept of ,Darstellung‘ in German Critical Discourse, New York, 1996. Zum Begriff der
lebendigen Darstellung in der Rhetorik vor/bis 1800: Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen.
Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Auf die Wirklichkeit Zeigen. Zum Problem
der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, hg. von Helmut Lethen, Ludwig Jäger
und Albrecht Koschorke, Frankfurt/New York, 2015, S. 106–136, bes. S. 110–116. Zur klassischen
Tradition künstlerischer Verlebendigung s. den historischen Überblick von Frank Fehren-
bach, „Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder“, in: Animationen/Trans-
gressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. von Ulrich Pfisterer und Anja Zimmermann,
Berlin, 2005 (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 4), S. 1–40. Eine anschauliche
Rekonstruktion der Transformation klassischer Begriffe künstlerischer Lebendigkeit durch
die philosophische Ästhetik bei Baumgarten und Kant unternimmt Winfried Menninghaus,
„‚Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‘. Kants Reformulierung des Topos ,lebhafter Vor-
stellung‘“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von Armen Avanessian,
Jan Völker und Winfried Menninghaus, Zürich/Berlin, 2009, S. 77–94.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_002


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2 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

Darstellung seit 1770 bei Autoren wie Lessing, Kant, Herder, Klopstock und
anderen eine Idee künstlerischer Repräsentation an Gestalt gewinnt, die
weniger der klassischen Nachahmung lebendiger Handlungen und Gegen-
stände verpflichtet ist, als die ,Lebendigkeit‘ von Kunstwerken primär vom
Akt der Darstellung und ihrer Wirkung her zu begreifen. Dies führt zu einer
bahnbrechenden Neuperspektivierung des klassischen Mimesis-Begriffs, der
nun maßgeblich um die Vorstellung praktischen Vollzugs und ästhetischer
Wirkung ergänzt wird. In Herders Schrift Kalligone (1800) wird die lebendige
Darstellung so zum eigentlichen Substrat der aristotelischen Poetik und ihres
Nachahmungs-Begriffs erklärt – diese gingen, so sein Fazit, „aus keinem als
aus dem Begriff der lebendigen Darstellung selbst hervor, einer Darstellung
(μίμησις), die alle Seelenkräfte in uns beschäftigt, indem sie das Gesehene
vor uns entstehen läßt, und es uns mit inniger Wahrheit zeiget.“3 ,Lebendig‘
sind Bildkunstwerke, Theateraufführungen oder literarische Texte im Para-
digma der lebendigen Darstellung demnach nicht länger allein deswegen,
weil sie Lebendiges mit künstlerischen Mitteln nachahmen und anschaulich
machen, sondern vor allem weil der Darstellung selbst eine schöpferische, ver-
lebendigende Qualität zukommt – sie lässt, so Herder, „das Gesehene vor uns
entstehen“ und „zeiget“ es „mit inniger Wahrheit“.
In der philosophischen Ästhetik und in künstlerischen Praktiken der Zeit
wird dieses schöpferische Potenzial der Darstellung als ein grundsätzlich
performatives Geschehen verstanden: Kaum eine Theorie der Darstellung
kommt um 1800 ohne den illustrativen oder metaphorischen Rekurs auf
Praktiken der Verkörperung, der Aufführung oder der theatralen Darstellung
aus. Menninghaus hat dies in seinem grundlegenden Artikel zum Paradigma
der Darstellung bei Klopstock und Kant betont: „Das Jahrhundert der Lese-
sucht und der Büchervermehrung inthronisiert eine Darstellungstheorie,
deren Paradigma die direkte performance in Tanz und Rede, Deklamation und
Schauspielerei ist.“4 Auch in den bildenden Künsten und der Literatur wird
die performative Belebung von (Zeichen-)Material durch künstlerische Mittel
und Praktiken zu einer Leitidee: Farbe, Klang, Rhythmus, Tanz, Mimik und
Gestik, aber auch der Einsatz optischer Instrumente oder neuartiger musealer
Inszenierungsstrategien werden zu Akteuren in einem Spiel um die Beseelung
der Kunst und die sinnliche Belebung und Überwältigung ihres Publikums.
Wie eng um 1800 der Begriff der Darstellung mit Praktiken der Verkörperung
und der Aufführung verflochten ist, lässt sich exemplarisch am Beispiel von
Theatertheorien nachvollziehen, in denen ‚Darstellung‘ zum Synonym für

3 Johann Gottfried Herder, „Kalligone“, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 22, hg. von Bernhard
Suphan, Berlin, 1880, S. 147.
4 Menninghaus, „Darstellung“, S. 209.

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Einleitung 3

die Vergegenwärtigung von Texten durch Praktiken des Theaters avanciert.


Adelungs Wörterbuch von 1793 z.B. fasst den Begriff des Darstellens (an die
antike Rhetorik und ihre evidentia-Vorstellung anknüpfend) als „vor Augen
stellen, gegenwärtig machen, […] körperlich vor Augen stellen. […]“. In Über-
tragung kann er dem Wörterbucheintrag zufolge auch „dem Geiste auf eine
lebhafte Art gegenwärtig machen“5 bedeuten. ‚Darstellen‘ ist hier also im
engeren Sinne an eine Verkörperung geknüpft und bedarf einer sinnlichen
Wahrnehmung der Zusehenden bzw. Zuhörenden. Entsprechend ist der
Dramentext erst Darstellung, wenn er in einer Aufführung – oder eventuell
auch im Akt des (Vor-)Lesens – eine Vergegenwärtigung des textuell Gefassten
vor den Sinnen eines Publikums erfährt. Vergleichbar beschreibt auch noch
das Theater-Lexikon von Düringer und Barthels von 1841 die „wirkliche Dar-
stellung der Dichtung“ als etwas, das über das „Medium der Sinne“ erfasst
werden muss, um den Zugang zur „Phantasie des Zuschauers“ zu finden,
die an „die äußere Erscheinung gebunden“6 sei. Die subjektive Wirkung von
Bildern der Einbildungskraft ist demnach zwar von der Wirkung einer mit den
Sinnen wahrgenommenen Darstellung grundsätzlich verschieden,7 mentale
Vorstellungen haben aber ihren Ausgangspunkt in sinnlichen Darstellungen.
Ein Drama findet erst dann Zugang zur Vorstellungskraft des Publikums, wenn
es in einer Aufführung sicht- und hörbar gemacht wird. In der Kombination
unterschiedlicher – rhetorischer, körperlicher, dekorativer – Praktiken auf der
Bühne entsteht so eine lebendige theatrale Darstellung. Dabei unterscheidet
sich die wahre (theatrale) Darstellung von einer einfachen ‚Vorstellung‘ im
Sinne des reinen Vor-Augen-Stellens dadurch, dass nicht nur äußere, sondern
vor allem auch innere, psychische Vorgänge sicht- oder hörbar gemacht
werden können.8

5 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mund-


art, Wien, 1811, Stichwort: Darstellen (online unter: https://lexika.digitale-sammlungen.de/
adelung/lemma/bs00009131_6_0_203 [letzter Zugriff: 26.10.2018]).
6 Philipp Jacob Düringer und Heinrich Ludwig Barthels (Hg.), Theater-Lexikon. Theoretisch-
practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters, Leipzig,
1841, Eintrag „Decoration“, S. 305–315, hier S. 308f.
7 Ebd., S. 310.
8 „Die Vorstellung des Menschen betrifft mehr dessen Aueßeres, bedarf etwas Schellen-
geklingels, – ist beinahe nur Manier, kann durch conventionelle Regeln geübt und erlernt
werden, mithin ist sie dem Handwerk zuzugesellen. – Die Darstellung betrifft das Innere
desselben, den Gang der Leidenschaften, die hohe, einfache, starke Wahrheit im Ausdruck, –
die lebendige Hingebung der Uebergänge, welche in der Seele wechseln, u. allmälig zum
Ziele führen“ (Düringer/Barthels, Theater-Lexikon, Eintrag „Schauspieler“, S. 967–970, hier
S. 967f.). Jedoch fließe „[v]on dem Gesichtspuncte der Totalität, ja schon von den Be-
dingungen der dramatischen Form aus, […] dieses sogenannte Aeußere und Innere der
theatralischen Darstellung so genau zusammen, daß jede Grenzlinie verschwindet.“ (Ebd.,
Eintrag „Decoration“, S. 305–315, hier S. 310f.).

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Ein solcher innerer Zusammenhang von lebendiger Darstellung und Ver-


fahren der Aufführung und performativen Realisierung steht im Zentrum
des vorliegenden Bandes: Die hier versammelten Beiträge untersuchen per-
formative Praktiken der Darstellung in Literatur, bildenden Künsten und
Wissenschaft um 1800, ihre theoretische Reflexion und ihre Institutionen
und Akteure. Im Fokus stehen einerseits Formen und diskursgeschichtliche
Kontexte von Darstellungsweisen, andererseits die Frage nach unterliegenden
Konzepten von Lebendigkeit und Leben und ihrem diskursiven Ort zwischen
Ästhetik, Biologie und Anthropologie. Zusammengenommen wollen die einzel-
nen Beiträge auf diese Weise vertiefende Einblicke in einen Zeitraum bieten,
der im Feld der Sprach- und Bildkünste von grundlegenden Transformationen
geprägt war. So sind die Darstellungspraktiken, die in den einzelnen Beiträgen
des Bandes zum Thema werden, im Kontext neuer Formen der Popularisierung
von Kunstwerken und ästhetischem Wissen des Lebendigen zu verstehen,
die sich in diesem Zeitraum beobachten lassen – wie z.B. performative Dar-
bietungen von Literatur im Rahmen der aufblühenden Deklamationskultur
(DUPREE, DANNECK) oder in Vorlesegesellschaften (MEYER-KALKUS),
die Verbreitung und Zirkulation bildlicher Darstellungen in Journalen und
Magazinen (FRANZEL), das gemeinschaftliche Praktizieren von Rhythmen in
Gesellschaftstänzen (THÜRING), das Erlebnis ,lebendiger Bilder‘ im Theater
(VON HERMANN), im Rahmen geselliger Vorführungen mikroskopischer
Experimente (WELLMANN), die lebendige Anschaulichkeit mathematischer
Darstellungsmodelle (SCHUBBACH) oder die verlebendigende Inszenierung
antiker Statuen in öffentlichen Sammlungen und Museen (HOFFMANN).
Andere Beispiele zeugen von der Ausstrahlung zeitgenössischer Modelle bio-
logischer Lebendigkeit auf künstlerische Praxisbegriffe, etwa in der Adaption
von Ideen des Organismus/des Organischen durch den Theater- und Kunst-
betrieb (KAPPELER). Deutlich wird so die Konjunktur von Vorstellungen
leibhafter Verkörperung, praktischer Vorführung und physiologischer Be-
lebung erkennbar, die an die Stelle klassischer Konzepte der Nachahmung des
Lebendigen und der künstlerischen Inspiration treten.

Die praxeologische Perspektive

Die gewählte Perspektive auf Praktiken lebendiger Darstellungen um 1800


ergänzt die bisherige Forschung in mindestens dreifacher Weise grund-
legend. (I) Verwiesen wurde bereits auf die performativen Aspekte des
Darstellungs-Begriffs um 1800, die in Ästhetik und Poetik der Zeit gleicher-
maßen fassbar werden. Während die theoretische Modellierung des neuen

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Einleitung 5

Paradigmas in einschlägigen Studien detailliert herausgearbeitet wurde, fehlte


bislang die Aufarbeitung der breiten Vielfalt von künstlerischen oder auch
wissenschaftlichen Praktiken, welche im selben Zeitraum strategisch für die
Erzeugung lebendiger und verlebendigender Darstellungs-Effekte eingesetzt
wurden. Die Beiträge dieses Bandes erheben keinesfalls den Anspruch, dieses
Feld umfassend zu erschließen, möchten aber Schlaglichter auf die Varietät
und zeitgenössische Popularität solcher Praktiken werfen, die die lebendige
Darstellung qua Aufführung, Verkörperung oder Inszenierung anstrebten –
und damit der Zielgröße ,Leben‘/,Lebendigkeit‘ in unterschiedlichen Formen
Gestalt gaben.
(II) Unter ,Praktiken‘ werden dabei grundsätzlich diejenigen Handlungs-
oder Verhaltensformen gefasst, die an Akten der Darstellungen beteiligt sind,
wozu spezifisch künstlerische Techniken ebenso zu zählen sind wie alle mög-
lichen Verfahren ihrer praktischen Umsetzung oder medialen Realisierung.
Im Vergleich zu gängigen Definitionen aus dem Feld der Praxeologie, die im
Anschluss an soziologische Praxistheorien grundsätzlich alle Formen sozialen
Verhaltens als Praktiken verstehen, die sich auf Handlungen oder Sprechakte
als kleinste gemeinsame Einheiten zurückführen lassen,9 ist die Verwendung
in unserem Fall folglich von vornherein enger bestimmt: Gemeint sind im
Folgenden jene Doings und Sayings (Schatzki) oder Verhaltensroutinen,10 die
um 1800 auf lebendige Darstellung und Aufführung abzielen, inklusive der
Institutionen, Akteure und Netzwerke, die sie begleiten. Wenn etwa das 2014
erschienene interdisziplinäre Handbuch Praxeologie Praktiken definiert als
„Verhaltensakte […], die auf routinisiertem, implizitem, nicht reflektiertem

9 Vgl. die einschlägige Definition von Schatzki, der Praktiken als ,organisierte und ver-
knüpfte Handlungen, die sich aus Machen [doings] und Sagen [sayings] zusammen-
setzen‘ bezeichnet („organized nexuses of action […] [composed by] doings and sayings
[…] linked through (1) practical understandings, (2) rules, (3) teleoaffective structure, and
(4) general understandings“; Theodore R. Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical
Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania, 2002, S. 77). Schatzki
gehört zu den Mitbegründern einer Erneuerung soziologischer Praxistheorien seit
der Jahrtausendwende, die im Rückgang auf ältere soziologische und philosophische
Theorien der Praxis (u.a. Wittgenstein, Heidegger, Bourdieu, Foucault) die Gesamtheit
aller Praktiken als unhintergehbare Daseins- und Organisationsformen von Sozietät be-
greifen und damit einen regelrechten practical turn in den Cultural Studies initiierten, der
von einer Reihe benachbarter Disziplinen aufgenommen wurde.
10 Vgl. Andreas Reckwitz, der Praktiken als „know-how abhängige und von einem
praktischen ,Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen“ bestimmt. Andreas
Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“, in: Zeitschrift für Soziologie
32/4, 2003, S. 282–301, hier S. 289.

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6 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

und kollektiv geteiltem Wissen beruhen“11, so gilt das für die in den folgenden
Kapiteln besprochenen Praktiken nur teilweise – tatsächlich treten in den
einzelnen Beiträgen Verfahren, Techniken oder Handlungsweisen in den Blick,
die damals explizit als fortschrittliche Methoden begriffen und im Rahmen
ästhetischer Debatten reflektiert wurden, d.h. also bereits bei ihrem Auf-
kommen weder implizit noch unreflektiert blieben. Auch wenn so ausschließ-
lich Praktiken im Zentrum stehen, die um 1800 im Kontext künstlerischer oder
wissenschaftlicher Darstellungen zum Einsatz kommen, erlaubt die praxeo-
logische Perspektive mit ihrem basalen Ansatz, potenziell unterschiedlichste
Formen von Doings und Sayings im sozialen Raum als Praktiken zu beobachten
und nach ihren übergeordneten Organisationsformen (Diskurse, Akteure,
Institutionen) zu fragen, neue und vielversprechende Einsichten gerade in das
künstlerische Geschehen dieses Zeitraums. Vor dem Hintergrund epistemischer
Umbrüche, die mit der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der
Diskursfelder der Ästhetik und der empirischen Lebenswissenschaften ein-
hergingen und von der bereits erwähnten Entstehung neuer Formen der Dis-
tribution und Popularisierung von Kunst und Wissen begleitet wurden, wird
das Geschehen an der „notorischen Epochenschwelle ,um 1800‘“12 als ein Feld
von zeitgebundenen Praktiken lesbar, die aus praxeologischer Sicht keine bloß
singulären Effekte makrostruktureller Veränderungen (z.B. auf der Ebene von
Diskurs oder Gesellschaft) darstellen, sondern in denen sich in Form einzelner
Tat- oder Sprachhandlungen epochale Veränderungsprozesse mikrostrukturell
realisieren – dynamisch, oftmals durch Zufall und Experiment geprägt,
relational und diskursiv.13
Für einen Zeitraum, der andererseits für die Herausbildung moderner
ästhetischer Leitbegriffe wie die Vorstellung des selbstbezüglichen Kunstwerks
und der Autopoiesis seiner Form steht, sowie – folgt man der einflussreichen
These Niklas Luhmanns – für die Schließung von Kunst als autonomem
und systemisch ausdifferenziertem System innerhalb der Gesellschaft, als
deren Konsequenz sie „im Prozess der Selbstbeobachtung auch die Grenzen

11 Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, „Ein-
leitung“, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer
Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von dens., Berlin/New York, 2015
(= Materiale Textkulturen 3), S. 3–12, hier S. 4.
12 So Joseph Vogl in der Einleitung zu: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens, München, 1999,
S. 7.
13 Zur Aufhebung der (in vielen Sozialtheorien entscheidenden) Unterscheidung zwischen
gesellschaftlicher Makro- und Mikrostruktur in der Praxistheorie s. Frank Hillebrandt,
„Begriffe und Paradigmen einer Soziologie der Praxis“, in: ders., Soziologische Praxis-
theorien. Eine Einführung, Wiesbaden, 2014, S. 57–116, bes. S. 87–101.

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Einleitung 7

dieser Autonomie erkennt, nämlich dass die eigenen Ansprüche und Maß-
stäbe nicht mehr gesamtgesellschaftlich generalisierbar sind“14, wird über die
Frage nach Praktiken lebendiger Darstellung somit eine konträre Perspektive
ins Feld geführt: In den Beiträgen des Bandes werden künstlerische Werke,
ihre Entstehung, diskursive Rahmung und Theoretisierung von Praktiken
her verstanden, die im Feld der Kunst und Ästhetik gebräuchlich sind, zu-
gleich aber mit anderen Diskursfeldern geteilt oder aus diesen übernommen
werden können – wie z.B. wenn literarische Texte auf die ,lebendigen Bilder‘
zeitgenössischer Mikroskopierpraktiken anspielen (WELLMANN), wenn
Theatermanuale für die Beschreibung von Proben- und Aufführungspraktiken
auf Begriffe der Biologie rekurrieren (KAPPELER) oder der ästhetische Be-
griff der (lebendigen) Darstellung für die Modellbildung der Mathematik un-
verzichtbar wird (SCHUBBACH).
(III) Die Frage nach den Praktiken lebendiger Darstellung möchte drittens
und letztens die bestehende Forschungsdiskussion zur ,ästhetischen Lebendig-
keit‘ um 1800 durch einen materialen, auf Akten der Verkörperung und per-
formativer (Wieder-)Belebung fußenden Lebensbegriff erweitern.15 Dieser
schließt an Ergebnisse zur oben beschriebenen ,performativen Wende‘ im
rhetorischen Paradigma der lebendigen Darstellung an, rückt jedoch anstelle
begrifflicher Modelle oder Theorien in erster Linie die konkreten Formen der
Realisierung in den Blick: Die ,Lebendigkeit‘ der Darstellung ist aus praxeo-
logischer Perspektive zuallererst eine im historischen Kontext gegenwärtige,
situative, die durch jeweils spezifische Verfahren, Akteure und Institutionen
ermöglicht wird. An verschiedenen Stellen lassen sich dabei in den einzelnen
Aufsätzen Berührungspunkte mit dem Lebensbegriff der zeitgenössischen
Biologie und Anthropologie erkennen – etwa in der zitierten Faszination der
Literatur für Praktiken des Mikroskopierens oder im Aufkommen von Vor-
stellungen organischer Bildung im Kontext von Aufführungspraktiken und
Theaterinstitutionen. Durch den Fokus auf Darstellungspraktiken werden so
interdiskursive Bezüge zwischen Ästhetik und den zeitgenössischen Lebens-
wissenschaften erkennbar, die in der Forschung im Rahmen wissenspoeto-
logischer Studien oder den anglo-amerikanischen Science Studies bereits seit
einiger Zeit beforscht werden. Im Unterschied vor allem zu solchen Ansätzen,
die von einer Übernahme vitalistischer Modelle – z.B. des Bildungstriebs,

14 Thomas Klinkert unter Bezug auf Luhmann in: ders., „Literatur, Wissenschaft und
Wissen – ein Beziehungsdreieck“, in: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochen-
schwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, hg. von ders. und
Monika Neuhofer, Berlin, 2008 (= spectrum Literaturwissenschaft 15), S. 65–86, hier S. 86.
15 Hierzu ausführlicher in den folgenden Unterkapiteln.

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der ,autopoietischen‘ Epigenesis oder der organischen Form – durch den


ästhetischen Diskurs ausgehen,16 machen die folgenden Untersuchungen bei
allen Verknüpfungen jedoch den transgressiven Charakter ästhetischer Dar-
stellungspraktiken gegenüber biologischen Lebensbegriffen erkennbar.
Denn die lebendige Darstellung wird dort am greifbarsten, wo sie gezielt
eingesetzt wird, um eine Transformation von ,totem‘ (Zeichen-)Material in
lebendig-lebhafte Wirkung zu erzielen. Ihre ,Lebendigkeit‘ interessiert oder
,belebt‘ also nicht, weil sie den Gegenständen eignet wie eine naturgegebene
Qualität, sondern gerade deswegen, weil sie durch spezifische Praktiken erst er-
zeugt und zur Anschauung gebracht wird. Dies korrespondiert historisch dem
Organismus-Modell Kants, das um 1800 zu einem wirkmächtigen Modell für
künstlerische Praktiken sowie naturwissenschaftliche Erklärungsmuster wird,
weil es nicht eine statische Qualität ‚natürlicher‘ Entitäten beschreibt, sondern
ein dynamisches Netzwerk, das Lebendigkeit erst hervorbringt, indem es in
komplexen interrelationalen Aktionen ein Gebilde immer wieder aktualisiert.17
Wenn der ‚natürliche‘ Organismus um 1800 nur in seiner dynamischen Form
lebendig ist, so gilt dies gleichermaßen für das Kunstwerk: Ein ‚Werk‘ an sich
ist tot, wenn es nicht in vielerlei Praktiken, die den menschlichen Sinnen zu-
gänglich sind, immer neu aktualisiert wird. Obwohl also auch auf Papier (oder
Leinwand etc.) festgehaltene Kunstwerke immer wieder als lebendig (bzw. als
Organismus) bezeichnet werden,18 so sind es performative Praktiken, die den
eigentlichen Verlebendigungsprozess ausmachen. Erst in der Ausübung einer
Kunstform kann das Kunstwerk lebendig werden. So wird z.B. die Leseprobe
auf dem Theater häufig als grundlegende Praxis eines Prozesses begriffen,
der eine Verlebendigung eines (toten) Kunstwerkes in Gang setzt: „Ihr [der
Leseprobe] ist das erste Begründungsgeschäft der ganzen Darstellung über-
geben […] der Organismus ([d.h.] das Gliederverhältnis) der dramatischen
Composition, muß durch sie völlig ins Klare gebracht werden,“19 heißt es bei-
spielsweise in Klingemanns Kunst und Natur (1819).

16 Vgl. die ,Pionierstudien‘ in diesem Feld von Maike Arz, Literatur und Lebenskraft.
Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart, 1996; Helmut
Müller-Sievers, Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature around 1800, Stanford,
1997 sowie den Überblick bei Johannes Bierbrodt, Naturwissenschaft und Ästhetik 1750–
1810, Würzburg, 2000.
17 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 2. Teil: Kritik der teleologischen Urteilskraft,
Hamburg, 2009, §65, S. 280.
18 Z.B. Neue Leipziger Literaturzeitung 1, 1806, S. 457.
19 August Klingemann, Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche, Bd. 1, Braun-
schweig, 1819, S. 38.

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Einleitung 9

Die praxeologische Perspektive ergänzt die vieldiskutierte Frage nach


der ,Lebendigkeit‘ in Ästhetik und Poetik um 1800 somit um den Aspekt
eines durch Praktiken überhaupt erst realisierten oder zur Anschauung ge-
brachten ,Lebens‘, das seinerseits in Beziehung zu Konzepten aus der sich neu
konstituierenden Biologie steht. Eine ‚ästhetische‘ Lebendigkeit um 1800 weist
zahlreiche Berührungspunkte zu zeitgenössischen Vorstellungen organischer
Bildung oder epigenetischer Entwicklung auf, ist dabei aber nur vor dem
Hintergrund sozialer, auf geteilten oder teilbaren Routinen basierender, dis-
kursiver und korrelativer Praktiken zu verstehen.

Lebendiges Theaterspiel

Wie oben bereits angemerkt, gilt das Theater nicht zuletzt deswegen als
Ort der Verlebendigung von Kunstwerken, weil es diese in Proben- und Auf-
führungspraktiken mit Hilfe einer Reihe von um 1800 aufkommenden Schau-
spielpraktiken aktualisiert. Eine dieser Praktiken ist die bereits erwähnte
‚Leseprobe‘, die Ende des 18. Jahrhunderts an vielen Bühnen eingeführt wird,
so u.a. von Friedrich Ludwig Schröder in den 1770er Jahren in Hamburg. Da
Schauspieler/innen bis zu diesem Zeitpunkt oft nur die eigenen Rollentexte
aus Abschriften kennen, soll die Leseprobe ihnen den Theatertext als Ganzes
vor Ohren führen.20 Die Praktik des Gemeinsamen-Laut-Lesens bzw. des Vor-
lesens stellt eine erste Stufe in einem Prozess dar, der den Theatertext von
einem toten in einen lebendigen Zustand versetzen soll.21 Das Vorlesen des
Stückes kann eine gemeinschaftliche Unternehmung der Schauspieler/innen
sein oder von einem ‚Vorleser‘ übernommen werden.22 In beiden Fällen wird
mit der akustischen Vergegenwärtigung des Theatertextes ein Prozess in Gang
gesetzt, der zu einer Bildung eines Netzwerkes von Akteuren führt, die zu
einem ‚Gesamtorganismus‘ zusammenwachsen und das Theaterstück in ihrem
dynamischen Zusammenwirken vor den Augen und Ohren der Zuschauer/
innen in einer Aufführung zu neuem Leben erwecken.23 Die Idee der Lese-
probe weitet die Vorstellung einer lebendigen Darstellung also auf Praktiken
jenseits der Aufführung vor Publikum aus und beschreibt eine prozesshafte

20 Adolph Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, in: Drama-


turgisches Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin 25,
1816, S. 204.
21 August Lewald, „In die Scene setzen“, in: Allgemeine Theater-Revue, hg. von dems.,
Stuttgart/Tübingen, 1837, S. 249–308, hier S. 266.
22 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 205.
23 Klingemann, Kunst und Natur, S. 38.

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10 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

Verlebendigung, die sich in Verhaltensformen innerhalb eines Schauspieler/


innen-Ensembles konstituiert.
Die Koordinierung „verschiedene[r] Stimmen [und] sich bewegende[r] Ge-
stalten“ der Schauspieler/innen stellt die nächste Stufe in einer Proben- und
Aufführungspraxis dar, die auf Verlebendigung abzielt.24 So wie die hörbare
Rede bereits in den Proben nötig ist, um den Theatertext für Schauspieler/
innen zum Leben zu erwecken, so sind auch Praktiken der Bühnenbewegung,
die keinem höfischen Regelwerk unterworfen, sondern häufig als sich während
der Proben selbstregulierende gruppendynamische Prozesse gedacht sind,
Bedingung für eine lebendige Theatersprache.25 In Wechselwirkung der
Elemente hörbare Rede (lebendiger Ton) und sichtbare Bewegung (lebendiges
Bild) entsteht so lebendiges Theaterspiel: „[D]ie Recitationen und die körper-
liche Beredsamkeit [durchdringen einander] zu einem schönen organischen
Leben.“26 Die Proben- und Aufführungspraxis, die die Veranschaulichung
eines Kunstwerkes in Ton und Bild zusammendenkt, spielt um 1800 für Vor-
stellungen des lebendigen Theaterspiels eine entscheidende Rolle. In gemein-
schaftlicher Zusammenarbeit in einem dynamischen Netzwerk von Akteuren
soll ein Gesamtorganismus der Theatergruppe und des aufgeführten Stückes
entstehen, der beiden – Theaterstück und Theatergesellschaft – zu neuem
Leben verhilft.
In diesem Zusammenhang sind auch um 1800 verbreitete Praktiken der
Theaterorganisation von Interesse. Die (deutschsprachige) Theaterlandschaft ist
zu diesem Zeitpunkt in einer Umbruchphase, es etablieren sich ‚professionelle‘
feste Ensembles, die sich häufig von ‚Amateur‘-Gruppen trennen.27 Theater-
gruppen sind immer häufiger als Vereine organisiert, Mitglieder und Vorstände
werden durch Mehrheitsbeschlüsse gewählt, Statuten legen deren Funktions-
weise fest,28 Theatertruppen geben sich eigene Theatergesetze.29 Eine selbst-
verwaltete Ordnung ohne autoritäre Gesetzgebung oder Disziplinierung

24 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 205.


25 Johann Gottlieb Rhode, Neue deutsche Dramaturgie 1, Altona, 1798, S. 215.
26 Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen
Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, Berlin, 1841, S. 101.
27 Valeska Valipour, La pratique théâtrale dans l’Allemagne de la seconde moitié du dix-
huitième siècle (1760–1805). Musique, musicologie et arts de la scène, Dissertation, Paris,
2011, S. 250.
28 Uta Motschmann, „Die private Öffentlichkeit. Privattheater in Berlin um 1800“, in: Der
gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, hg. von Klaus Gerlach,
Berlin, 2009, S. 61–84, hier S. 69.
29 Die Privattheatergesellschaft Urania wird beispielsweise 1792 gegründet, 1796 Melpo-
mene und Thalia, 1797 Minerva, 1798 Apollo, 1800 Polhymnia. Motschmann, „Die private
Öffentlichkeit“, S. 62.

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Einleitung 11

scheint Garant für eine Praxis, die in Verwaltungs-, Proben- und Aufführungs-
praktiken in gruppendynamischen Prozessen einen lebendigen Schauspieler/
innen-Organismus schafft, der allmählich zusammenwächst und sich in
seinen Interaktionsformen immer wieder erneuert. Auf den ersten Blick
scheinen viele Theatergruppen also selbstverwaltet und demokratisch
organisiert zu sein,30 bei genauerem Hinsehen entpuppen sich Regelwerke und
Organisationsformen aber oft als Werkzeuge autoritärer Disziplinierung.31 Die
Gemeinschaft der Theatergruppe mit egalitärer Ordnung, die Kunstwerk und
Gesellschaft als dynamischen Organismus verlebendigen soll, bleibt in den
meisten Fällen Utopie. Die Funktion des Regisseurs als autoritäre Macht setzt
sich im Theaterbetrieb durch, nur vereinzelt wird weiter mit Modellen einer
demokratischeren, selbstorganisierten Theatergemeinschaft experimentiert.32

Lebendige Rede

Auch in Praktiken abseits des Theaters spielt die akustische Dimension


von Sprachkunstwerken eine entscheidende Rolle: Der sogenannten Lese­
revolution im 18. Jahrhundert, in deren Kontext nicht nur die intensive von
einer extensiven Lektüre, sondern auch das laute Lesen vom leisen Lesen ab-
gelöst wurde, steht in den Jahrzehnten um 1800 eine Reorientierung auf die
akustische Dimension und die auditive Rezeption von Literatur gegenüber,
die in den letzten Jahren in das Augenmerk der Forschung gerückt ist.33 Ob

30 Klaus Schwind, „‚Man lache nicht!‘ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schau-
spielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs“, in: Internationales Archiv für
Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21/2, 1996, S. 66–112, hier S. 74.
31 Peter Hesselmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutscher
Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt a.M., 2002, S. 279.
32 Diese Überlegungen werden im Detail weiter ausgeführt im Beitrag von Annette Kappeler
im vorliegenden Band: „‚Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammen-
hange‘. Lebendiges Theaterspiel um die Wende zum 19. Jahrhundert“ (s.u., S. 105–125).
33 Vgl. u.a. Johannes Birgfeld, „Klopstock, the Art of Declamation and the Reading Revolution:
An Inquiry into one Author’s Remarkable Impact on the Changes and Counter-Changes
in Reading Habits between 1750 and 1899“, in: Journal for Eighteenth-Century Studies 31/1,
2008, S. 101–117; Johan Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst
zwischen 1750 und 1800, Göttingen, 2004; Joachim Gessinger, Auge & Ohr. Studien zur Er-
forschung der Sprache am Menschen. 1700–1850, Berlin/New York, 1994; Reinhart Meyer-
Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin, 2001, S. 223–225; Karl-Heinz
Göttert, Geschichte der Stimme, München, 1998, S. 373–398; Sean Franzel, Connected by the
Ear: The Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture, Evanston, IL, 2013 sowie
die folgenden Aufsätze von Mary Helen Dupree: „Early Schiller Memorials (1805–1809)
and the Performance of Literary Knowledge“, in: Performing Knowledge, 1750–1850, hg. von

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12 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

lautes Lesen, Vorlesen, Deklamieren oder der öffentliche Vortrag – all dies wird
um 1800 nicht nur verstärkt individuell praktiziert, sondern auch von nam-
haften Akteuren und Institutionen (wie z.B. Lesegesellschaften) gefördert und
als ein Ensemble von kultivier- und erlernbaren Praktiken verstanden, die
auch zu entsprechenden Wissensformationen gerinnen (z.B. Deklamations-
lehren). Diese Reorientierung kann zum einen als Gegenreaktion auf die
genannte Entwicklung verstanden werden: Man besinnt sich auf das Ver-
gangene und idealisiert es, wie etwa die unten zitierten Texte von Herder und
A.W. Schlegel zeigen, im Kontext zivilisationskritischer Überlegungen, zugleich
als Ursprüngliches, als klingende Erinnerung an eine Zeit der Unmittelbar-
keit, Gemeinschaftlichkeit und Ganzheit. Zugleich hat diese Entwicklung aber
auch mit einer spezifisch klanglichen Codierung des seelischen Innenlebens
(des Einzelnen oder auch des Kollektivs) zu tun, die sich in der empirischen
Ästhetik und Psychologie im späten 18. Jahrhundert Bahn bricht und sich in
der Musikauffassung dieser Zeit ebenso niederschlägt wie in philosophischen
Sprachursprungstheorien und in einer Renaissance der Vorstellung des
Dichter-Sängers.
Caroline Welsh hat diesen Konnex beispielsweise an den Texten des
ästhetischen Theoretikers und empirischen Psychologen Johann Georg Sulzer
überzeugend herausgearbeitet.34 Sulzer steht erstens am Beginn einer psycho-
logischen Theoriebildung des Unbewussten. Er behandelt „‚dunkle Gegenden
der Seele‘, die dem Bewusstsein nicht oder nur schwer zugänglich seien“ und
an deren Schwelle zum bewussten Seelenleben er die Stimmung als „diffuse
emotionale Grundbefindlichkeit“ verortet, die im bewussten Seelenleben als
ein Indiz für unbewusste Prozesse, als ein Hinweis, dass sich im Unbewussten
„etwas zusammenbraut“, zu verstehen sei.35 Und der Begriff der Stimmung

ders. und Sean Franzel, Berlin, 2015, S. 137–164; „Ottilie’s Echo: Vocality in Goethe’s ‚Wahl-
verwandtschaften‘“, in: German Quarterly 87/1, 2014, S. 67–85; „From ‚Dark Singing‘ to a
Science of the Voice: Gustav Anton von Seckendorff, the Declamatory Concert and the
Acoustic Turn Around 1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 86/3, 2012, S. 365–396; „Sophie Albrechts Deklamationen. Schnittstellen
zwischen Musik, Theater und Literatur“, in: Die Albrechts – Erfolgsautor und Bühnenstar.
Aufsätze zu Leben, Werk und Wirkung des Ehepaars Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752–
1814) und Sophie Albrecht (1757–1840), hg. von Rüdiger Schütt, Hannover, 2015, S. 353–368.
34 Caroline Welsh, „Zur psychologischen Traditionslinie ästhetischer Stimmung zwischen
Aufklärung und Moderne“, in: Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie,
hg. von Anna-Katharina Gisbertz, München, 2011, S. 131–155; vgl. für das Folgende: Nicola
Gess, „Narrative akustischer Heimsuchung heute und um 1800: Hören und Erinnerung
in Hoffmanns ,Johannes Kreislers Lehrbrief‘“, in: Wissensgeschichte des Hörens in der
Moderne, hg. vom Netzwerk Hör-Wissen im Wandel, Berlin, 2017, S. 253–288.
35 Welsh, „Zur psychologischen Traditionslinie“, S. 138f.

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Einleitung 13

ermöglicht es Sulzer zweitens, die emotionale Verfassung des Gemüts und


deren klanglichen Ausdruck immer schon zusammen zu denken. Denn
mit dem ursprünglich musiktheoretischen Begriff der Stimmung schließt
Sulzer, wie Welsh ausführt, an die alte Tonartenlehre an, in der bestimmte
Tonarten bestimmten Affekten entsprechen, an stimmphysiognomische Vor-
stellungen, nach denen sich an der Stimmung der Stimme die des Gemüts
ablesen lässt, sowie an die nervenphysiologische Resonanztheorie, der zu-
folge die ‚Saiten der Seele‘ wie die (und auch mit denen) eines ge- oder ver-
stimmten Musikinstruments resonieren. An diese Prämissen anschließend
kann Sulzer die These formulieren, dass jede das Unbewusste indizierende Ge-
mütsstimmung ihren eigenen Ausdruck habe, der sich im ,Ton‘ manifestiere.
Dass Musik aus dem Unbewussten des Komponisten, des Musikers oder –
die Resonanztheorie macht es möglich – des Hörers oder gar aus einem
kollektiven Unbewussten künde, ist in der Folgezeit dann eine von zahlreichen
Musikschriftstellern vertraute Annahme. Weniger vertraut, aber nicht weniger
zentral, ist Sulzers Annahme, dass nicht nur dem musikalischen Ton, sondern
mehr noch dem „Ton der Rede [Hvh. d. A.]“ eine solche Funktion zukommt,
zu dem „[i]n der Dichtung […] neben dem Klang der Stimme alles [gehört],
was wir recht sinnlich vom Charakter der Rede empfinden, in Prosodie, der
Rhythmus – aber auch die verwendeten Metaphern, Redefiguren und Tropen.“36
Im Ton der Rede, den der Zuhörer sinnlich empfinden kann, kommt also das
innere Leben des Redners/des Dichters oder sogar eines durch ihn sprechenden
Kollektivs zum Ausdruck. Denn in den sprachphilosophischen Schriften der
Zeit wird häufig angenommen, dass im Klang der Sprache die Erinnerung an
eine goldene Vorzeit akustisch archiviert sei, in der orale Dichtung als natür-
liche Form der Kommunikation und Selbstvergewisserung einer Gemeinschaft
fungierte.37 Als Beispiel dafür lässt sich Johann Gottfried Herders Interesse an

36 Johann Georg Sulzer , Artikel „Ton (Redende Künste)“, in: ders., Allgemeine Theorie der
Schönen Künste, 2 Bde., Leipzig, 1771–1774, hier Bd. 2, S. 1158, zit. nach Welsh, „Zur psycho-
logischen Traditionslinie“, S. 136.
37 Prägnant findet sich diese Annahme z.B. auch im frühromantischen Ursprachenmythos
wieder, den Sabrina Hausdörfer in ihrem Abstract zum Aufsatz „Die Sprache ist Delphi“
stichwortartig zusammenfasst: „Ursprache als Zugang zum verlorenen und künftigen
Paradies; […] Analogie von Ursprache und Poesie (A.W. Schlegel, Görres); Ursprache/
Poesie als Korrektiv der entfremdeten Allgemeinsprache; Novalis’ Theoreme über Ur-
sprache und Poesie: Bestimmung von Ursprache als Ausdruck eines integren Zusammen-
hangs von Ich und Welt; Musikalität, Kunstcharakter der Ursprache […]“ (Sabrina
Hausdörfer, „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und
Sprach-Utopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin“, in: Theorien vom
Ursprung der Sprache, 2 Bde., hg. von Joachim Gessinger und Wolfert von Rahden, Berlin/
New York, 1989, Bd. 1, S. 468–497).

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14 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

mündlicher Dichtung anführen. In seiner Vorlesung „Ueber die menschliche


Unsterblichkeit“ (1792) legt Herder sogar nahe, Sprache überhaupt als ‚Geister-
rede‘ zu verstehen: „Wir denken in einer Sprache, die unsre Vorfahren erfunden,
in einer Gedankenweise, an der so viele Geister bildeten und formten […] und
uns damit den edelsten Teil ihres Daseins, ihr innerstes Gemüt, ihre erworbnen
Gedankenschätze huldreich vermachten“.38 Herder stellt den Philosophen
und Dichter der Gegenwart also zum einen als Geisterseher und -hörer dar:
„[W]ir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer, abgelebter Schatten,
alter Dämonen […] wirken in uns. Wir können nicht umhin, ihre Gesichte zu
sehn, ihre Stimmen zu hören“.39 Zum anderen als einen Bauchredner, in dem
die Stimmen verstorbener Denker wieder lebendig werden:

So gingen in uns als Jünglinge die Gedanken derer über, die am meisten auf uns
gewirkt haben; ihre Töne flossen in uns, wir sahen ihre Gestalten, verehrten ihre
Schatten. […] [Was, Anm. d. A.] im dunkeln Grunde unsres Gedankenmeeres tot
und begraben zu liegen [scheint,] [steiget] zu rechter Zeit […] doch hervor […];
alles […] ist da, daß es zum Leben geweckt werde.40

In den Vorreden zu seinen Volksliedsammlungen (1778–1779) geht es Herder


dabei um eine ganz besondere, mit den alten Liedern anzutretende Erbschaft,
die den organischen Zusammenhang von Dichtung und Gemeinschaft ebenso
wie von Wort und Ton betrifft. Herder formuliert hier, wie Johann Nikolaus
Schneider ausführt, „eine Poetik […], die das Wesen der Poesie jenseits der
Schriftlichkeit sucht“ und in deren Zentrum der „Ton“ als „organische[r] Zu-
sammenhang von Wort, Melodie und Vortrag“ steht.41 Ähnlich ist auch August
Wilhelm Schlegel in seinen „Briefen über Silbenmaß und Sprache“ (1795)
davon überzeugt, dass in der gegenwärtigen Sprache eine ursprüngliche
Sprache archiviert sei, die der tönenden Sprache der Jugendzeit des Menschen-
geschlechts entspreche, in der Kunst und Poesie, „von der gütigen Natur selbst
gepflegt und erzogen“,42 „an allen Angelegenheiten des Lebens den wichtigsten

38 Johann Gottfried Herder, „Ueber die menschliche Unsterblichkeit. Eine Vorlesung“, in:
ders., Werke, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, hg. von Hans Dietrich
Irmscher, Frankfurt a.M, 1998, S. 203–219, hier S. 207.
39 Ebd., S. 209.
40 Ebd., S. 208 u. 209.
41 Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 27f.
42 August Wilhelm Schlegel, „Briefe über Poesie, Silbenmaaß und Sprache“, in: ders.,
Kritische Schriften und Briefe, Bd. 1: Sprache und Poetik, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart,
1962, S. 141–180, hier S. 148.

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Einleitung 15

Anteil“43 gehabt und die „Zeichen der Mitteilung [und das] Bezeichnet[e]“
noch in einem „notwendigen Zusammenhang“ gestanden hätten:44 „Indessen
liegt doch jene innige, unwiderstehliche […] Sprache der Natur in ihnen [d.h.
in den gebildeten Sprachen] verborgen.“45 Es ist die Aufgabe der Poesie, diese
verborgene Sprache in der gegenwärtigen Sprache wieder zu offenbaren: „Der
ist ein Dichter, der die unsichtbare Gottheit nicht nur entdeckt, sondern sie
auch andern zu offenbaren weiß“.46 Das wiederum bedeutet, dass der Dichter
bestrebt sein muss, seine Sprache wieder tönen zu lassen, „Gesang und gleich-
sam Tanz in die Rede zu bringen […]. Dies hängt genau mit ihrem [d.h. der
Poesie] Bestreben zusammen, die Sprache durch eine höhere Vollendung zu
ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen“.47
Vor diesen Hintergründen sind die um 1800 aufblühenden Praktiken des
lauten Lesens, des Vorlesens und des Deklamierens vor Publikum zu verorten,48
mit denen sich – anhand der Besonderheit ganz konkreter Beispiele, aber
auch unter Berücksichtigung verschiedener Schulen und Traditionslinien –
die Beiträge von DUPREE, DANNECK, THÜRING und MEYER-KALKUS
eingehend beschäftigen. Das zivilisationskritische und sentimentalische Be-
mühen, den toten Buchstaben zum Leben zu erwecken, die ‚Stimmen der Toten
wieder hörbar werden‘ zu lassen und mit ihnen einen so unverstellten wie un-
mittelbaren Ausdruck des (Innen-)Lebens des Sprechers/Dichters/Kollektivs
zu ermöglichen wie auch eine direkte Wirkung auf die Nerven und damit
das Seelenleben des Zuhörers zu erzielen, wird in diesen Praktiken in die Tat
umgesetzt. Beliebt ist dabei beispielsweise das Deklamieren von Klopstocks
Lyrik, insbesondere des „Messias“, das Klopstock seit ca. 1770 auch selbst durch
entsprechende Programmschriften und programmatische Gedichte förderte.
Aber auch viele andere Dichter stehen aktiv für das laute Lesen ihrer und
anderer Dichtung ein. Wie präsent die Praxis des öffentlichen Deklamierens
von Gedichten war und was man mit ihr verband, zeigt beispielsweise das Ge-
dicht An die Rhapsodin von August Wilhelm Schlegel, in dem es heißt, dass
die Rhapsodin „kunstlos“ „dem Gedichte Leben“ gebe und so ein „Abbild“ der
„Seele“ des lyrischen (Dichter-)Ichs neu erschaffe. Gleichzeitig entstehen, als
zur Wissensformation geronnene Praxis, zahlreiche Deklamationslehren, die
die Kunst der lebendigen Rede lehren und sich dabei u.a. von der klassischen
Rhetorik und der französischen Bühnendeklamation abzugrenzen suchen.

43 Schlegel, „Briefe über Poesie, Silbenmaaß und Sprache“, S. 164.


44 Ebd., S. 145.
45 Ebd., S. 146.
46 Ebd.
47 Ebd., S. 148.
48 Zu weiteren Hintergründen siehe die oben in Anm. 33 angegebene Forschungsliteratur.

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Autoren wie Schocher (Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben,
1791; vgl. DANNECK) oder Seckendorf (Vorlesungen über Deklamation und
Mimik, 1816) gehen dabei sogar so weit, in ihren Deklamationslehren den Ver-
such einer Notation der Deklamation zu unternehmen, in Anlehnung an die
musikalische Notenschrift.

Lebendige Bilder

Dass die Vorstellung ästhetischer Lebendigkeit um 1800 untrennbar ge-


worden ist von Praktiken der Auf- und Vorführung und der performativen Ver-
körperung, zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie im Feld der bildenden
Kunst. Als einer der „ältesten und dauerhaftesten ekphrastischen und kunst-
theoretischen Topoi“49 gehört die Lebendigkeit von Bildkunstwerken seit der
Antike zu den zentralen Themen der Ästhetik. Der ästhetische Diskurs selbst
stellte dabei grundsätzlich „kein normatives Wissen, wie diese Lebendigkeit
,hergestellt‘ werden kann“50 bereit. Sondern worin genau das ,Leben‘ der Bild-
werke zu suchen und wie es zu realisieren sei, variierte von Epoche zu Epoche,
abhängig von übergeordneten Konzeptionen künstlerischer Mimesis und
ästhetischer Wirkung.
Das neue Interesse an der Idee der lebendigen Darstellung, das sich in
Kunsttheorie und -praxis seit den 1770er Jahren herausbildete, führte zu einer
epochemachenden Wende in der Frage der Lebendigkeit von Bildwerken. In
der Kunsttheorie blieb der lebende Körper als organisch-lebendige Entität auch
um 1800 das Leitbild – insbesondere das Beispiel der antiken Plastik avancierte
im Zuge der Antikenbegeisterung seit der Jahrhundertmitte zum Paradigma
der idealen Form und Wirkung der Kunst.51 Das Interesse der Kunsttheorie
verlagerte sich dabei jedoch maßgeblich auf den Akt der künstlerischen Dar-
stellung selbst, deren Lebendigkeit überwiegend als quasi-theatraler Effekt be-
schrieben wurde. Die Begründung dieser Lebendigkeit erfolgte bei zentralen
Autoren hierbei auf anthropologischer Grundlage – sie wird etwa in der be-
lebenden Wirkung der lebendigen Darstellung auf die Sinne (Kant) oder der
leibhaft-sinnlichen Erfahrung der plastischen Gestalt der Kunst (Herder) auf-
gespürt. Vor dem Hintergrund dieser Ineinssetzung künstlerischer Darstellung
und lebendiger Schöpfung hat die Forschung als Kernnarrativ der Zeit den

49 Frank Fehrenbach, Artikel „Lebendigkeit“, in: Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft, hg. von


Ulrich Pfisterer, Stuttgart u.a., 2003, S. 222–227, hier S. 222.
50 Fehrenbach, „Kohäsion und Transgression“, S. 3.
51 Vgl. Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions.

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Einleitung 17

Mythos von Pygmalion bestimmt, in dem künstlerisches Handwerk und die Er-
zeugung einer lebendigen Gestalt als zwei Aspekte der ästhetischen Schöpfung
zusammenfallen.52 Victor I. Stoichiță hat etwa am Beispiel französischer Bild-
hauerkunst des 18. Jahrhunderts überzeugend gezeigt, dass sich künstlerische
Bearbeitungen des Pygmalion-Motivs in dieser Zeit nicht nur häufen, sondern
dass in ihren Darstellungen oftmals eine Dialektik von unbelebter/belebter
Materie in Szene gesetzt wird.53
Während die neuartige Lebendigkeit der Bildwerke, die unter dem Para-
digma einer pygmalionischen Kunst seit dem mittleren 18. Jahrhundert für
Theorie und Praxis an Bedeutung gewinnt, einerseits ältere Vorstellungen wie
z.B. das seit der Antike angestrebte Ideal künstlerischen Vor-Augen-Stellens
beerbte, war ihr zugleich ein unübersehbar transgressiver Zug eingeschrieben:
Kunstwerke werden um 1800 als nicht nur scheinbar lebendig begriffen, etwa
im Modus des fiktionalen Als-Ob oder der symbolischen Repräsentation,
sondern, qua ihrer Bestimmung als Schöpfungen künstlerischer Einbildungs-
kraft und sinnlich erfahrbare Artefakte, als buchstäblich lebendig. Innerhalb
des aufklärerischen Diskurses zeichnet sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts damit ein Kunstverständnis ab, das in letzter Konsequenz auf einem
quasi-animistischen Begehren nach der körperlichen, sinnlichen Präsenz
imaginärer Objekte beruht, verbunden mit dem festen Glauben an die Fähig-
keit der Kunst, tote Materie zu verlebendigen.54 Ein sensibles Bewusstsein für

52 Oskar Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der Kunst-
rezeption“, in: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hg. von
Matthias Mayer und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br., 1997, S. 325–370; Viktor I. Stoichiță,
Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock, München, 2011.
53 Beispielsweise wird in Étienne-Maurice Falconets Pygmalion au pied de sa statue, à
l’instant où elle s’anime (1761) die Figur der Statue im Moment des Herabsteigens von
ihrem Sockel gezeigt, wobei das Gewand des neben der Statue knienden Pygmalion sich
in weiten Falten nicht nur über den Sockel im Bildnis breitet, sondern auch die Plinthe
des Bildnisses selbst überzieht, d.h. das Erlebnis der ,Verlebendigung‘ der Galathea
suggestiv in den Raum der Betrachterin überträgt. An Louis Lagrenées malerischer Dar-
stellung der pygmalionischen Statuenverlebendigung (Pigmalion, dont le Vénus anime
le Statue, 1777) macht Stoichiță dagegen anschaulich, wie zwischen den Figuren der
Statue, des Pygmalions und der anwesenden Göttin Venus bildimmanent eine Dynamik
von körperlicher Berührung und Reaktion ins Zentrum gestellt wird, die das ,Leben‘ der
Figuren als Teil einer zwischen belebter und unbelebter Materie sowie zwischen Mensch,
Kunstwerk und Göttin unterschiedslos zirkulierenden Energie darstellt. Vgl. Stoichiță,
Der Pygmalion-Effekt, Kap. IV: Die nervöse Statue, S. 119–166, bes. S. 125–160.
54 Zu Animismus und Fetischismus als Aspekten der Kunstrezeption um 1800 vgl.
Caroline van Eck, Art, Agency and Living Presence. From the Animated Image to the
Excessive Object, Leiden, 2015 (= Studien aus dem Warburg-Haus 16), S. 119–136; sowie all-
gemein zu primitivistisch-magischen Aspekten in der Kunstauffassung der Moderne:

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18 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

die hiermit einhergehenden Verstrickungen von Ästhetik und Phantasma,


der Lust an der Verlebendigung des Unbelebten und am Horror der Er-
schaffung untoter, quasi-lebendiger Körper zeigen unzählige Beispiele aus
der zeitgenössischen Literatur, in denen Statuenverlebendigungen in ihren
ästhetischen und zugleich phantasmatischen, animistischen und nicht selten
unheimlichen Dimensionen ausgeleuchtet werden.55
Beispielhaft lässt sich die allgemeine Faszination für lebendige Bildwerke
um 1800 dies- und jenseits des professionellen Kunstbetriebs an der europa-
weiten Konjunktur ,lebender Bilder‘ in geselliger Runde feststellen, die in der
Forschung immer wieder thematisiert wurden.56 Ihre bekanntesten Formen
waren die tableaux vivants, d.h. die Nachstellung bekannter Gemälde durch
lebende Personen, sowie die sogenannten attitudes, die Darstellung von
Affektposen, die zumeist aus der klassischen Kunst, z.B. von antiken Statuen,
Gemmen oder Vasen übernommen wurden.57 Beide hatten ihre Herkunft im
Theater und der adligen Festkultur des 18. Jahrhunderts, wo sie als Bühnen-
mittel und Unterhaltungsinstrument die Aufmerksamkeit des Publikums auf
sich zogen.58 Um 1800 wanderten sie aus diesem Rahmen in die intellektuellen
Salons und großbürgerlichen Wohnzimmer, wie zeitgenössische Beschrei­
bungen, private Korrespondenzen, Berichte in Journalen und Magazinen
oder auch literarische Darstellungen – z.B. die bekannten Szenen aus Goethes
Wahlverwandtschaften (1809), in denen die Protagonistinnen des Romans ver-
schiedene Kunstwerke verkörpern – bezeugen. Resümierend beschreibt ein

William J. Thomas Mitchell, What Do Pictures Want? The Life and Love of Images, Chicago,
2005, zu Pygmalion als Paradigma S. 28–75.
55 Peter Brandes, Leben die Bilder bald? Ästhetische Konzepte bildlicher Lebendigkeit
in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg, 2013; Nicola Gess, „Troubled
Resemblances. Portrait and Poetics in Breitinger’s Critische Dichtkunst, Wieland’s Don
Sylvio, Burke’s Enquiry and Radcliffe’s Castle of Udolpho“, in: Modern Language Notes.
Comparative Literature Issue 132/5, 2017, S. 1277–1300.
56 Eine ausführliche Typologie mit vielen Einzelbeispielen gibt: Birgit Jooss, Lebende Bilder.
Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin, 1999.
57 Vgl. ebd., bes. S. 103–115. Die bekannteste Vertreterin der attitudes war Lady Emma
Hamilton, die als Gattin des britischen Diplomaten Sir William Hamilton seit den 1780er
Jahren in Neapel lebte. An ihren Attitüden-Performances nahmen regelmäßig prominente
Vertreterinnen und Vertreter der zeitgenössischen europäischen Kulturszene teil, ins-
besondere Weimarer Autoren, mit denen das Haus Hamilton engen Kontakt pflegte.
Starke Verbreitung fanden neben druckgraphischen Reproduktionen von Ansichten,
welche die Akteurin bei der Aufführung verschiedener Posen zeigten (u.a. von Francesco
Novelli, 1791) auch ihre Beschreibungen in Goethes Italienischer Reise. Vgl. Jooss, Lebende
Bilder sowie Eck, Art, Agency, and Living Presence, S. 168ff.
58 Jooss, Lebende Bilder, S. 38–53.

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Einleitung 19

Artikel der Allgemeinen Deutschen Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände


1827 das beliebte Amüsement:

Tableaux, lebende (Tableaux vivans) nennt man die Gemäldedarstellungen


durch lebende Personen, welche jetzt theils als künstlerische Übungen, theils
als sinnreiche und reizende Festspiele beliebt sind. […] In der neuern Zeit war
unstreitig Lady Hamilton […] die eigentliche Erfinderin jener Darstellungen, die
aber mehr Attituden […] als Tableaux zu nennen waren, da sie […] mehr einer
Statue als einem Gemälde glich. […] Etwas wunderbar Anziehendes und Über-
raschendes haben alle solche Tableaux.59

Neben der ästhetischen Übung und ,sinnreichen‘ Unterhaltung durch die


Nachbildung klassischer Kunstwerke, die hier als Zweck der Aufführungen ge-
nannt werden, gehörte vor allem zu Beginn der Mode im ausgehenden 18. Jahr-
hundert auch ihre didaktische Funktion, insbesondere die (kunst-)historische
und moralische Bildung des Publikums anhand bekannter Meisterwerke
zur eindeutigen Wirkungsabsicht.60 In gesellschaftlichen Runden waren die
lebenden Bilder dabei oftmals Teil eines abendfüllenden Programms, in dem
sie sich mit Deklamationen, musikalischen Einlagen und anderen Beiträgen
abwechselten. Die Tableaux waren meist hinter einem Vorhang verborgen,
sodass die feierliche Enthüllung der dargestellten Szene zu einem Teil ihrer
Präsentation wurde. Nicht selten wurde die Vorführung auch durch Musik oder
eine dichterische Beschreibung des Dargestellten umrahmt oder begleitet.61
So schildert Karl August Böttiger, der als Kunstkenner und Kritiker eine ganze
Reihe von Rezensionen von Aufführungen ,Lebender Bilder‘ bei Gesellschafts-
anlässen in Weimar und anderswo verfasste, 1819 in einem Artikel der Abend-
zeitung unter der Überschrift „Tableaux“:

Dichtkunst und Tonkunst vermählen sich bei solchen Darstellungen sehr gut mit
der malenden Orchestik [sic] wohl am zweckmäßigsten so, daß erst, bevor noch
der deckende Vorhang gelüftet wird, ein Prolog oder sonst gebildeter Sprecher
den Gegenstand dichterisch bezeichnet; dann während das Gemälde sich dar-
stellt, begleitet es Musik, (wäre es auch nur im kleinen Kreise eine Fantasie am
Pianoforte).62

59 Allgemeine Deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände, 12 Bde., Leipzig, 1827,
Bd. 11, S. 3.
60 Jooss, Lebende Bilder, S. 54–82 u. 145–151.
61 Ebd., S. 42–172.
62 Karl August Böttiger, „Tableaux“, in: Abend-Zeitung, Nr. 126, 27.05.1819 (zit. in Jooss,
Lebende Bilder, S. 378f.).

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20 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

Durch theatrale Darstellung, musikalische Untermalung und dichterische


Beschreibung erhielt die Darbietung der ,lebenden Bilder‘ etwas von einem
sinnendurchflutenden Gesamtkunstwerk – und auch wenn an einer Auf-
führung nicht immer mehrere Künste gleichzeitig beteiligt waren, so gehörte
zumindest die feierliche Inszenierung mittels Vorhängen oder eigens gebauten
Podesten und Bühnen zur szenischen Rahmung der Vorführung. Dass diese
gerne mit der zeitgleich florierenden Deklamationskunst kombiniert wurden,
verwundert kaum: Beide versprachen mit jeweils unterschiedlichen Mitteln
eine körperliche Verlebendigung vorhandenen (Text- bzw. Bild-) Materials, die
beim zeitgenössischen Publikum nachweislich auf größten Widerhall stieß.
Auch für die lebenden Bilder lässt sich so beobachten, was oben bereits als
Merkmal der populären Deklamationen festgestellt wurde – als Praktiken der
Darstellung vollzogen die tableaux eine publikumswirksame Verlebendigung
von Kunstwerken, bei der im Fall der lebenden Bilder die Re-Produktion
bekannter Kompositionen mit einer durch den Einsatz theatraler Mittel
(Vorhänge, Beleuchtung, Kostüme, musikalische Untermalung) strategisch in-
szenierten sinnlichen Präsenz einherging.
Als populäre Praktiken reagieren die tableaux vivants und attitudes damit
auf dieselbe Notwendigkeit, die auch Künstler wie Falconet, Lagrenées und
andere zur Ausbildung neuer motivischer Behandlungen der traditionsreichen
Thematik von ,Modell und Künstler‘ geführt hatte. Die Vorstellung einer im
Kunstwerk realisierten lebendigen Darstellung machte seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert solche Kunstformen erstrebenswert, welche die inhärenten
Spannungen dieser Konzeption (gegenständliche Materie vs. ästhetische
Lebendigkeit; tradierte Inhalte vs. gegenwärtige, sinnlich erfahrbare Präsenz)
gleichsam selbst zur Darstellung brachten. Während sich in der bildenden
Kunst – wie unter Bezug auf Stoichiță gezeigt wurde – u.a. die Möglichkeit bot,
diesem Problem durch eine Selbstthematisierung der Leitdifferenz unbelebt/
belebt oder unbewegt/bewegt im Kunstwerk zu begegnen und so die Dialektik
der lebendigen Darstellung auf Ebene des Inhalts und seiner Gestaltung
reflexiv zum integralen Teil des Werks zu machen, waren die gesellschaft-
lichen Praktiken der ,lebenden Bilder‘ auf eine theatrale Dramatisierung
dieser Spannungen ausgerichtet: Zeitgenössische Berichte zeugen davon,
dass das Interesse des anwesenden Publikums und die Aufregung der Dar-
stellerinnen und Darsteller sich insbesondere auf den Kontrast zwischen
lebenden Körpern und ihrer Arretierung im vorgeführten ,Tableau‘ richtete
sowie auf den Moment des Wiedererkennens tradierter Bildwerke im Hier
und Jetzt ihrer Aufführung.63 Mindestens im selben Maß wie die kunstvolle

63 Vgl. z.B. Eck über die Reaktionen auf die Hamilton’schen Attitudes: „Within a theatrical
setting Lady Hamilton achieved a changeant effect of representation, embodiment and

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Einleitung 21

Nachbildung überlieferter Kunstformen scheint dieses unauflösbare Zu-


sammenkommen von Körperlichkeit und Künstlichkeit, Verlebendigung und
Stillstellung, Vergangenheit und Präsenz im Medium der dramatischen Ver-
körperung zu den zeittypischen Charakteristika dieser Darstellungsform zu
gehören. Ein Interesse, das sich beispielhaft auch an der zeitgenössischen In-
szenierung antiker Plastik erkennen lässt, die durch besondere Beleuchtungs-
techniken als historisch fremde und quasi-lebendige Körper erfahren werden
sollten (vgl. hierzu den Beitrag von HOFFMANN in diesem Band). Beides ist
Ausdruck und Effekt einer Zeit, in der die individuelle Erfahrung von Kunst-
werken dank öffentlicher Museen und Sammlungen und einer zunehmenden
Vielzahl an bildlichen Reproduktionen europaweit zur Kulturtechnik ge-
worden war, und in der das Begehren nach ,lebenden Bildern‘ neben den
Praktiken und Institutionen ihrer Darstellung auch ein neues Bewusstsein für
die irritierenden und phantasmatischen Potenziale ästhetischer Kreation mit
sich brachte.

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actual presence that viewers found irresistible and sometimes deeply troubling. The
setting encouraged a willing suspension of disbelief, and created a viewing situation
in which viewers could allow themselves to enjoy a divided consciousness. They could
go along with the fiction of looking at a living, breathing statue, and allow themselves
the behavior that would not be acceptable in either a museum or when looking at Lady
Hamilton when not performing. At the same time they were well aware of the safety
valves offered by its performance character.“ In: dies.: Art, Agency, and Living Presence,
S. 169.

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22 Nicola Gess / Agnes Hoffmann / Annette Kappeler

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Mary Helen Dupree

Der Text als Vampir


Zur akustischen Verlebendigung literarischer Texte um 1800

Sowohl in den Medienwissenschaften wie auch in der Literaturwissenschaft


wird der Medienwandel im 18. Jahrhundert als ein unaufhaltbarer Prozess der
‚Verschriftlichung‘ verstanden.1 Dieser Verschriftlichungsprozess wird als Ver-
lustgeschichte charakterisiert, in deren Lauf akustische und vokale Medien
wie Theater, Gesang, Vortrag und Predigt ihre Relevanz schnell einbüßten.
Dennoch – und fast parallel zur ersten Entwicklung – wurde in mehreren
Studien erfolgreich gezeigt, dass die Epoche um 1800 auch eine Blütezeit des
akustischen Ausdrucks und der Experimentation vor allem im Bereich des
Vortrags literarischer Texte war. Letzteres wurde schon in den 1960er Jahren
von der Germanistin Irmgard Weithase in ihrer Geschichte der gesprochenen
deutschen Sprache bestätigt.2 Neu bewertet wird die ‚Sprechkunstbewegung‘
um 1800 u.a. von Reinhart Meyer-Kalkus in seinem 2001 erschienenen Buch
Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert; in neueren Studien wie Johannes
Birgfelds Arbeit zur Vortragskultur im Umfeld Klopstocks, oder auch in Sean
Franzels Auseinandersetzung mit dem romantischen Vortrag wird der Stellen-
wert des Akustischen in der literarischen Kultur um 1800 nochmal betont.3 In

1 Als entscheidender Schritt in diese theoretische Richtung gilt Friedrich Kittlers These eines
‚Schriftmonopols‘; siehe dazu Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin, 1986, S. 17. Bei
Albrecht Koschorke dagegen ist vom „Schriftverkehr als erweiternde Prothese akustischer
Verständigung“ die Rede; für das empfindsame Subjekt des 18. Jahrhunderts lasse sich die
Orientierung auf Briefkommunikation und Praktiken des stillen Lesens konstatieren. Siehe
dazu Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München,
2003, S. 190–196. Die These der ‚Verschriftlichung‘ wird auch von Werner Faulstich energisch
vertreten; im Rahmen der „bürgerlichen Usurpation“ mündlicher Medien wurden, so die
These, „die früheren Hörer […] tendenziell durch die neuen Leser ersetzt.“ Faulstich, Die
bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen, 2002, S. 75.
2 Siehe z.B. Irmgard Weithase, „Die gesprochene deutsche Sprache im Zeitalter der Klassik“,
in: dies., Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen, 1961, Bd. 1,
S. 333–415.
3 Siehe dazu Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin,
2001, S. 213–250; auch Johannes Birgfeld, „Klopstock, the Art of Declamation and the Reading
Revolution: An Inquiry into One Author’s Remarkable Impact on the Changes and Counter-
Changes in Reading Habits between 1750 and 1800“, in: Journal for Eighteenth-Century
Studies 31/1, 2008, S. 101–117; und Sean Franzel, Connected by the Ear. The Media, Pedagogy
and Politics of the Romantic Lecture, Chicago, 2013. Auch interessant in dieser Hinsicht sind

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_003


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26 Mary Helen Dupree

diesen Studien wird gezeigt, dass die Literatur und vor allem die Lyrik um 1800
vielerorts als Medium für das Ohr rezipiert wurde und dass sich dieses Ver-
ständnis in der Praxis durch Autorenlesungen, Deklamationen professioneller
Schauspieler/innen, Vorlesungen und ähnliche Praktiken durchgesetzt
hatte. Wie kann man den Begriff der ‚Verschriftlichung‘ und das Aufkommen
der akustischen Literaturperformance um 1800 zusammendenken und für
eine Auseinandersetzung mit Praktiken lebendiger Darstellung produktiv
machen? Im folgenden Beitrag wird diese Frage anhand der Selbstdarstellung
sogenannter ‚Deklamatoren‘ des frühen 19. Jahrhunderts erörtert. Diese
‚Rhapsodengeneration‘ ist als Untersuchungsgegenstand besonders ergiebig,
nicht zuletzt weil solche Performer in ihren Auftritten die Konfrontation
zwischen Schrift und Oralität als Prozess der Wiederbelebung stilisiert haben,
in dem der ‚tote Buchstabe‘ durch akustische Mittel noch einmal ins Leben
gerufen wurde. Für die Generation rhapsodischer Deklamator/innen, die etwa
zwischen 1790 und 1830 aktiv waren, ging es bei der Konfrontation zwischen
Schrift und Klang – wenigstens metaphorisch gesehen – um Leben und Tod.
Hier lässt sich allerdings die Frage stellen, ob der Text oder vielmehr die
Stimme als der eigentliche ‚Vampir‘ im Kontext der Deklamationskultur um
1800 verstanden werden sollte. Einerseits wurde die Schrift um 1800 durch den
sehr weit verbreiteten Topos des ‚toten Buchstabens‘ als Toter dargestellt, der
durch den Vortrag wieder verlebendigt bzw. ins Leben gerufen wird.4 In den
sogenannten ‚Schiller-Totenfeiern‘ ab 1800 wurde dieser Prozess sogar mit dem
Impuls verbunden, den toten Dichter durch den lebendigen Vortrag seiner
Texte wiederzubeleben.5 Andererseits könnte die Deklamationspraxis um
1800 als vom Text lebender Parasit oder sogar als Vampir betrachtet werden:
Denn diese Art von Deklamation (so meine These) stellt letztendlich keine
Rückkehr in ein früheres Zeitalter der Oralität dar, sondern ist auch eng mit
der Schriftkultur verbunden, sodass beide nicht länger voneinander getrennt
zu denken sind.

die Überlegungen Karl-Heinz Götterts und Johann-Nikolaus Schneiders zur mündlichen


Performance der Literatur im 18. Jahrhundert: Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme,
München, 1998; Johann-Nikolaus Schneider, Ins Ohr Geschrieben. Lyrik als akustische Kunst
zwischen 1750 und 1800, Göttingen, 2004.
4 Siehe dazu z.B. Karl-Heinz Göttert, „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte
eines Topos“, in: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der
Stimme, hg. von Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel, Berlin, 2008, S. 93–113,
hier S. 104–107.
5 Siehe dazu Norbert Oellers, „Toten- und Gedächtnisfeiern auf der Bühne“, in: ders., Schiller.
Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, 1805–1832, Bonn, 1967, S. 73–82; auch Mary Helen
Dupree, „Early Schiller Memorials (1805–1809) and the Performance of Literary Knowledge“,
in: Performing Knowledge, 1750–1850, hg. von ders. und Sean Franzel, Berlin, 2015, S. 137–165.

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Der Text als Vampir 27

Im Folgenden wird diese These anhand von Dokumenten deklamatorischer


Aufführungen aus dem frühen 19. Jahrhundert, vor allem Deklamierbüchern
und Programmzetteln, erörtert. Diese Programmzettel bieten dem Leser
einen Überblick über die Hauptakteure, das Format, die Räume, und das
kommerzielle Wesen des deklamatorischen Konzerts um 1800. Der Vergleich
zwischen Programmen aus verschiedenen Jahrzehnten bietet Einblicke sowohl
in den historischen Wandel des deklamatorischen Repertoires als auch in die
ebenfalls sich wandelnde Balance zwischen Musik und Literatur.

Die literarische Deklamation um 1800

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird das Wort Deklamation (mit ver-
wandten Wörtern in fast allen europäischen Sprachen) als allgemeine Be-
zeichnung für eine große Vielfalt an Sprechpraktiken in der Öffentlichkeit
verwendet. Der Begriff entstammt der klassischen Rhetorik, in der er eine
Form argumentativer Improvisation kennzeichnet.6 Seit der Aufklärung wird
die Deklamation allerdings nicht mehr in erster Linie als improvisatorische
Praxis verstanden, sondern vielmehr als allgemeine Bezeichnung für das
stilisierte Lautlesen oder die Rezitation selbstverfasster oder fremder Texte
verwendet. In einer durch das Aufkommen der Schrift- und Druckkultur zu-
tiefst geprägten Epoche diente die Deklamation dazu, die emotionale Kraft der
improvisierten Rede für das Lautlesen gedruckter oder geschriebener Texte
wiederzugewinnen. Diese Assoziation lebt im heutigen Sprachgebrauch fort,
in dem das Wort ‚Deklamation‘ oft eine besonders emotionale Argumentation
kennzeichnet. Im aktuellen Duden wird die Deklamation zum Beispiel als
eine „auf Wirksamkeit bedachte, auch pathetisch vorgetragene Äußerung,
Meinung“7 definiert.
Vor allem in den deutschsprachigen Ländern fand um 1800 eine wesent-
liche Transformation der literarischen Deklamation außerhalb des Theaters
statt. Zum Teil von Klopstocks Experimentalpoetik inspiriert, beförderte eine

6 Vgl. George Alexander Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, Princeton, 1994, S. 83f.
7 Vgl. Artikel „Deklamation“, in: Duden – das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mann-
heim, 2012 (online unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Deklamation [letzter
Zugriff: 22.02.2017]). In der aktuellen Begriffsbestimmung ist der Nachhall von Johann
Christoph Adelungs früherer Definition zu hören; für ihn heißt „Declamiren“ in einer Neben-
bedeutung: „Figürlich, mit unnöthiger Feyerlichkeit und Ausführlichkeit vortragen“. Johann
Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1.
Tl.: A–E, Wien, 1811, Sp. 1432 (online unter: http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/
lemma/bsb00009131_6_0_302 [letzter Zugriff: 22.02.2017].

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28 Mary Helen Dupree

weitverbreitete Kultur des literarischen Vortrags im späten 18. Jahrhundert die


Praxis der literarischen Deklamation, hier als – um mit Goethe zu sprechen –
„gesteigerte Rezitation“8 oder als kunstvoller Vortrag von Gedichten und Prosa-
texten verstanden. Die Theorie und Praxis der literarischen Deklamation um
1800 orientierte sich hauptsächlich an einem gebildeten, alphabetisierten,
urbanen Publikum, das dazu bereit war, sich in Theatern, Konzertsälen und
Salons zu treffen und einige Groschen oder Thaler zu bezahlen, um bekannte
Gedichte und Theatermonologe von einem berühmten Rhapsoden vor-
getragen zu hören.9 Einen weiteren, unsichtbaren Teil des Publikums machten
die Leser/innen der Mode- und Theaterzeitschriften aus, die Berichte über
solche Aufführungen konsumierten.
Vor allem im Rahmen der Klopstock-Rezeption im späten 18. Jahrhundert
blühte die Praxis der literarischen Deklamation im deutschen Sprachgebiet
auf. Zur ersten Generation der Deklamator/innen gehörten der Leipziger
Pädagoge Christian Gotthold Schocher (1736–1810) sowie die Erfurter Schau-
spielerin Sophie Albrecht, die 1783 in Mainz eine öffentliche Lesung des
zweiten Gesangs von Klopstocks Messias gab.10 Aus solchen Aufführungen ent-
stand das Genre des ‚deklamatorischen Konzerts‘, in Programmzetteln auch
oft als ‚Deklamatorium‘, ‚Musikalisch-Deklamatorische Unterhaltungen‘ oder
‚deklamatorische Akademie‘ angekündigt. Das Programm eines typischen de-
klamatorischen Konzerts bestand aus Lesungen von literarischen Werken be-
kannter Autor/innen, mit oder ohne musikalische Begleitung. Das Repertoire
der Deklamator/innen entsprach dem Geschmack eines gebildeten Publikums
um 1800 und umfasste eine Vielfalt an Registern, Genres und Stilrichtungen,
von Anakreontik über den Sturm und Drang bis hin zur Romantik. Besonders
beliebt waren Balladen und Gedichte von Schiller, G. A. Bürger und August

8 Johann Wolfgang von Goethe, „Regeln für Schauspieler“, in: ders., Goethes Werke, Abt. I/
Bd. 40: Theater und Schauspielkunst. Literatur. Beiträge zur Jenaischen Allgemeinen
Literaturzeitung und Älteres 1787–1807, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von
Sachsen [WA], Weimar, 1901, S. 139–168, hier S. 146.
9 Siehe dazu auch Mary Helen Dupree, „From ‚Dark Singing‘ to a Science of the Voice:
Gustav Anton von Seckendorff, the Declamatory Concert and the Acoustic Turn Around
1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86/3,
2012, S. 365–396; dies., „Theorie und Praxis der Deklamation um 1800“, in: Handbuch
Literatur und Musik, hg. von Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin, 2017 (= Hand-
bücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 2), S. 362–370.
10 Siehe dazu Seckendorff: „Madame Albrecht, jetzt in Altona (irre ich nicht, so war sie von
Klopstock selbst hierzu aufgemuntert und von ihm geleitet, Anm[erkung] d[es] A[utors])
trat als die erste Deklamatrice auf, und der zweite Gesang der Messiade war es, was sie
zum ersten Male sprach. Nach ihr kamen Schocher und Solbrig“. Seckendorff, Vorlesungen
über Deklamation und Mimik, 2 Bde., Braunschweig, 1816, Bd. 1, S. 14.

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Der Text als Vampir 29

Wilhelm Schlegel; komische Gedichte und ‚Lehr-Gedichte‘ von Pfeffel, Voss


und Tiedge; Passagen aus Ossian oder aus Klopstocks Messias und Monologe
aus Goethes und Schillers Dramen. Obwohl einige Deklamator/innen, wie
Theodor von Sydow oder Elise Bürger, ihre eigenen Texte vortrugen, ging es
hier in der Regel nicht um Autor/innenlesungen. Zu den bekanntesten De-
klamator/innen dieser Epoche zählten sowohl etablierte Schauspieler/innen
wie Henriette Hendel-Schütz als auch Berufsdeklamator/innen wie Gustav
Anton von Seckendorff, der ab etwa 1806 als „Patrik Peale“ mit seiner deutsch-
amerikanischen Frau und mehreren Kindern durch die deutschsprachigen
Länder reiste und tableaux vivants und Deklamatorien veranstaltete.11
Das deklamatorische Konzert wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr-
hunderts so beliebt, dass es zum Gegenstand der Parodie im Unterhaltungs-
theater und in der Literatur wurde, wie etwa in August Klingemanns in
mehreren deutschen Städten aufgeführter und 1812 veröffentlichter Posse in
drei Akten, Schill, oder das Deklamatorium in Krähwinkel, eine Fortführung
von Kotzebues Die deutschen Kleinstädter.12 Im Stück wird das Deklamatorium
zum Anlass einer Verwechslungskomödie: Zwei arbeitslose Schauspieler
terrorisieren einige Kleinstädter, indem sie vorgeben, berüchtigte Räuber
zu sein. Das angekündigte ‚Deklamatorium‘ wird als Kriegsmanöver miss-
verstanden und die Angst der Dorfbewohner steigt, bis erklärt wird, dass es
sich um eine ‚Kunstvorlesung‘ handele, eine Kunstform, die „jetzt in den be-
rühmtesten Städten Deutschlands beliebt“13 sei. Vermutlich durch Klinge-
mann inspiriert veröffentlichte 1816 der Schweizer Autor David Hess eine
Kurzgeschichte mit dem Titel Der wandernde Deklamator, der auf ähnliche
Weise das Missgeschick eines reisenden Deklamators in der Provinz verfolgt.14
Das Schicksal des reisenden Deklamators in der Kleinstadt, der sein Konzert in
einem Schlachthof geben muss, dient als Anlass einer bitteren Satire, in der die
neue Generation der ‚rhapsodischen Künstler‘ mit Bänkelsängern verglichen
wird. In beiden Texten dient die kleinstädtische Kulisse vor allem dazu, die
Deklamation als urbane Praxis zu charakterisieren; die Satire gilt sowohl den

11 Siehe dazu u.a. Henry Smith, Eutin – Heidelberg 1811. Briefwechsel des Studenten Ernst
Hellwag mit seiner Familie in Eutin nebst weiteren Materialien und einem Register aller
Eutiner Hausbesitzer, Eutin, 2009, S. 49f.; auch Dupree, „Dark Singing“.
12 August Klingemann, Schill oder das Declamatorium in Krähwinkel. Eine Posse in drei Acten;
Fortsetzung der deutschen Kleinstädter und das Carolus Magnus, Helmstedt, 1812.
13 Ebd., S. 147.
14 David Hess, „Der wandernde Declamator“, in: Enzyklopädie der deutschen National-
literatur oder biographisches-kritisches Lexikon der deutschen Dichter und Prosais­
ten seit den frühesten Zeiten; nebst Proben aus ihren Werken, 8 Bde., hg. von
Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Leipzig, 1835–1847, Bd. 4, S. 83–88. Die Erzählung ist ur-
sprünglich in David Hess, Scherz und Ernst in Erzählungen, Zürich, 1816 erschienen.

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30 Mary Helen Dupree

künstlerischen Ambitionen der Deklamator/innen als auch der Unwissenheit


und den kulturellen Prätentionen der deutschen Kleinstädter. Hier wird der
Deklamator selbst zum Vampir, der von der Unwissenheit und der mangelnden
Kunstkenntnis seines Publikums lebt und vom Literaturbetrieb profitiert,
ohne selbst etwas dazu beizutragen.

Der literarische Text als akustisches Objekt

Sowohl in den Texten von Hess und Klingemann als auch in Literatur- und
Theaterzeitschriften der Zeit werden die Deklamator/innen oft als ‚stehendes
Heer‘ dargestellt, die dazu bereit waren, die deutschsprachigen Länder zu
überrennen und bis in die kleinsten und abgelegensten Dörfer vorzudringen.
Aus Programmzetteln und Berichten lässt sich allerdings auf einen eher be-
grenzten, sich vor allem in größeren Städten konzentrierenden Wirkungskreis
schließen. Ein vielleicht typisches Beispiel der Gestaltung und des Repertoires
des deklamatorischen Konzerts um 1800 bietet das Programm eines am
18. November 1809 in Düsseldorf stattfindenden deklamatorischen Konzerts
von Elise Bürger.15
Seit ihrer Scheidung von Gottfried August Bürger im Jahre 1792 hatte sich
Elise Bürger als Dichterin und Schauspielerin in Hannover, Hamburg und
Altona, später auch in Dresden und Prag durchgeschlagen. Ihre zwei Ge-
dichtbände16 und eine kurze autobiographische Schrift17 geben Zeugnis von
ihrer langjährigen Karriere als Deklamatorin, die erst durch ihren Tod im
Jahre 1833 beendet wurde.18 Laut eigener Aussage fing Bürger schon 1796 an,

15 Elise Bürger, „Musikalisch-Deklamatorische Akademie“, Düsseldorf, 1809 (online unter:


http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/id/3138288 [letzter Zugriff: 02.04.2018]). Siehe Abb. 2.1.
16 Elise Bürger, Gedichte von Elise Bürger geb. Hahn. Als erster Band ihrer Gedichte, Reise-
Blätter, Kunst- und Lebens-Ansichten, Hamburg, 1812; und dies., Lilien-Blätter und
Zypressenzweige von Theodora, Frankfurt a.M., 1826.
17 Elise Bürger, Ueber meinen Aufenthalt in Hannover gegen den ungenannten Verfasser der
Schicksale einer theatralischen Abenteurerin, Altona, 1801.
18 Zu Bürgers Leben und Werk siehe Karin Wurst, „Spurensicherung: Elise Bürgers Einakter
Die antike Statue aus Florenz (1814) als Beispiel dramatischer Experimente um die Jahr-
hundertwende“, in: Goethe Yearbook 8, 1996, S. 210–327, hier S. 210–213. Die Geschichte
ihrer unglücklichen Ehe mit Gottfried August Bürger wird von Hermann Kinder in
Bürgers Liebe: Dokumente zu Elise Hahns und G. A. Bürgers unglücklichem Versuch, eine
Ehe zu führen, Frankfurt a.M., 1981, ausführlich dokumentiert. Zu Elise Bürgers frühen Ver-
suchen, sich als ‚Deklamatrice‘ zu etablieren, siehe Mary Helen Dupree, „Elise in Weimar:
‚Actress-Writers‘ and the Resistance to Classicism“, in: The Enlightened Eye: Goethe and
Visual Culture, hg. von Evelyn Moore und Patricia Anne Simpson, Amsterdam, 2007,
S. 111–126.

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Der Text als Vampir 31

Abb. 2.1
Elise Bürger, Programmzettel zu einer
„Musikalisch-Deklamatorischen
Akademie“ in Düsseldorf 1809

eigenständige deklamatorische Konzerte zu geben und wurde in dieser Kunst


angeblich vom Leipziger Deklamationslehrer Christian Gotthold Schocher
unterrichtet. Bürgers Konzertprogramm vom 18. November 1809 ist in zwei
Teile gegliedert; im ersten Teil werden Balladen und Gedichte von Weimarer
Autoren vorgetragen, vor allem von Schiller; ein selbstverfasstes Gedicht mit
dem Titel Adalbert und Klara wird hinzugefügt. Im zweiten Teil des Programms
herrscht dagegen ein etwas leichterer Ton. Hier ist eine Ballade des ver-
storbenen Gottfried August Bürger zu finden, wie auch Dialektgedichte und
sogar ein Werk von einer weiteren Schriftstellerin, Caroline Pichler; in dieser
Hinsicht ist Bürgers Konzertprogramm bemerkenswert, denn im Kanon der
Lieblingstexte deutschsprachiger Deklamator/innen um 1800 kommen Texte
von Frauen äußerst selten vor. Die lockere Einteilung des Programms in einen
ernsthaften und einen ‚heiteren‘ oder komischen Teil ist wiederum typisch
für die Deklamationskultur dieser Zeit, sowohl im deklamatorischen Konzert
als auch in deklamatorischen Rezitations-Anthologien. So wird die zweifache
Funktion des deklamatorischen Konzerts in den Vordergrund gerückt: Erstens
als ritualisierte Verlebendigung eines als ‚klassisch‘ verstandenen literarischen

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32 Mary Helen Dupree

Kanons, der sich vor allem an der Gattung Ballade orientierte, und zweitens
als Form kommerzieller Unterhaltung, die an ein gebildetes, bürgerliches
Publikum gerichtet war.
Um das Ziel der ‚Verlebendigung‘ literarischer Texte zu erreichen, mussten
Deklamator/innen um 1800 zu verschiedenen performativen Strategien
greifen. In manchen deklamatorischen Konzerten wurde Deklamation mit
tableaux vivants oder sogar mit Pantomimen kombiniert; in den ab 1805 auf-
geführten ‚Schiller-Totenfeiern‘ z.B. dienten solche visuellen Elemente dazu,
die Erinnerung des Publikums an Schillers Theatererfolge zu aktivieren,
während seine Texte feierlich vorgetragen wurden.19 Andererseits wurde die
akustische Dimension von manchen Deklamator/innen demonstrativ hervor-
gehoben, wie etwa in den Deklamatorien von Seckendorff, dessen Vortragsstil
sich dem Gesang annäherte. Durch seine Auseinandersetzung mit der Ver-
bindung zwischen Musik und Sprache wurde der Text in den Ohren mancher
Zuhörer, wie etwa jenen des Komponisten Johann Friedrich Reichardt, als
akustisches Objekt neugestaltet.20 In diesem Zusammenhang war Bürger auch
wegbereitend. Sich selbst als ‚Professorin der Deklamation‘ stilisierend, ge-
staltete sie ihre Aufführungen als ‚musikalisch-deklamatorische Akademien‘,
wobei das Wort ‚Akademie‘ als allgemeine Bezeichnung für ein Konzert oder
einen Kunstabend verwendet wurde.21 Der Musikteil wird zwar von den ge-
sprochenen Teilen getrennt, aber durch den Einsatz der musikalischen
‚Zwischensätze‘ wird die Aufmerksamkeit des Publikums ausschließlich auf
die akustische Dimension und die actio der Vortragenden konzentriert.
In Bürgers deklamatorischen Konzerten wurde der Status des literarischen
Textes als akustisches Objekt weiterhin programmatisch durch das Lautlesen
ohne Buch inszeniert. Diese Besonderheit von Bürgers deklamatorischen
Konzerten wird im Programm des Konzerts vom 18. November 1809 klar be-
tont. In einer Fußnote steht folgender Hinweis an das Publikum: „Die Zuhörer
werden um ihres eigenen Vergnügens willen ersucht, so stille als möglich ein-
zutreten, wenn es schon angefangen [hat], weil dieser Vortrag aus dem freien
Gedächtnis ohne Buch und Soufleur keine Störung erträgt.“22 Dass Bürger ohne

19 Siehe dazu Anm. 5.


20 Dupree, „Theorie und Praxis der Deklamation“, S. 365.
21 Siehe dazu den Eintrag „Akademie“ in: Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch,
S. 191f.: „An einigen Oberdeutschen Höfen heißt auch die Versammlung bey Hofe,
wo Concert und Spiel ist, eine Akademie; vermuthlich nach dem Italienischen und
Französischen, wo alle öffentliche Örter, wo Musik gehalten, oder in Karten und mit
Würfeln gespielet wird, Akademien genannt werden.” (Online unter: http://lexika.digitale-
sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009131_3_1_1474 [letzter Zugriff: 02.04.2018]).
22 Siehe Abb 2.1 (Anm. 15).

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Der Text als Vampir 33

Buch vortrug, haben auch zeitgenössische Betrachter bestätigt. Schon 1805


äußerte sich ein anonymer Rezensent in August von Kotzebues Zeitschrift Der
Freimüthige zu einem am 6. März im Dresdner Hôtel de Pologne gegebenen
Deklamatorium Bürgers wie folgt:

Schon der Umstand sprach sogleich zu ihrer Gunst, dass sie ganz frei und ohne
Buch, bloß aus dem Gedächtnis deklamierte. Beim Lesen bleibt die Stimme
stets an den todten Buchstaben gebunden, und das beredte Spiel der Minen
und Geberden fällt größtentheils ganz weg. Demungeachtet aber beobachtete
sie in ihrem ganzen körperlichen Ausdruck eine sehr feine Mäßigung, und ver-
gaß nie, dass sie nur deklamiere, nicht spiele. Ihre Stimme war weit weicher, ab-
wechselnder, fließender, als wir sie auf der Bühne zu hören gewohnt sind. Hätte
sie hier und da noch etwas bedeutender zu pausieren und (Ifflands feine Gabe)
auch in den leisen Tönen noch vornehmlich zu artikulieren [gewusst]; so hätte
Momus selbst wenig zu erinnern gefunden. Die herzlichtsten, schmelzendsten
Stellen gelangen ihr vorzüglich. Sie sprach mit tiefer Empfindung und wußte
daher auch dieselbe Empfindung den Hörern, zum Theil selbst wider ihren
Willen, mitzutheilen.23

Durch das Verschwinden des Buchs, so der Autor, wurde die deklamatorische
actio eindeutig in den Vordergrund gerückt. So wird die Rhetorik des toten
Buchstaben als ästhetisches Programm (oder vielleicht genauer gesagt, als Ver-
marktungsstrategie) des deklamatorischen Konzerts eingesetzt.
Die positive Rezension in dem Freimüthigen zeugt darüber hinaus von den
Publikumserwartungen und Aufführungskriterien, mit denen Deklamator/
innen um 1800 konfrontiert wurden. Bürger wird hier für ihre „Mäßigung“ bei
der körperlichen Inszenierung gelobt; eine strenge Trennung wird zwischen
Deklamation und dem theatralischen „Spiel“, also der Verkörperung einer
Rolle, geachtet. Sowohl der Eindruck „tiefer Empfindung“ als auch die sanfte,
fließende Stimme der Deklamatorin werden positiv bewertet. Hier ist das
Urteil des Rezensenten wohl durch geschlechtsspezifische Normen und das
damals noch gängige Ideal der Gefühls- bzw. Empfindungsschauspielerin
bedingt.24 Die Vermutung des Rezensenten, dass die Kommunikation des
Affekts zwischen der Deklamatorin und ihrem Publikum vielleicht wider
ihren Willen geschieht, ist vor dem Hintergrund solcher Diskurse von großem

23 Anonym, „Aus Dresden“, in: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz 3/52, 1805, S. 207.
24 Zum Diskurs der ‚Gefühlsschauspielerin‘ um 1800 siehe Mary Helen Dupree, The Mask and
the Quill. Actress-Writers in Germany from Enlightenment to Romanticism, Bucknell, 2011.
Zu Geschlechterdiskursen im Theater des 18. Jahrhunderts siehe u.a. Wendy Arons, The
Impossible Act. Performance and Femininity in German Women’s Writing, New York, 2006;
und Beate Hochholdinger-Reiterer, Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als
Erfindung der Aufklärung, Göttingen, 2014 (= Das achtzehnte Jahrhundert: Supplemata 18).

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34 Mary Helen Dupree

Interesse. Durch die Hervorhebung des fast spontan wirkenden Gefühlsaus-


tausches zwischen Publikum und Deklamatorin gewinnt die Aufführung
sowohl einen intimen Charakter als auch eine gewisse Kontingenz. Ebenso
wird die Intention der Sprecherin in Frage gestellt: Die ‚Deklamatrice‘ erscheint
nunmehr als akustisches Sprachrohr eines literarischen Diskurses, der durch
die Aufführung wieder ins Leben gerufen wird. Diese ‚Sprachrohr‘-Funktion
wurde auch von Bürger selbst unterstützt; in ihren Gedichten stilisierte sie sich
gern als Künstlerin zweiter Ordnung oder als ‚Sängerin‘, die das literarische
Werk klassischer Dichter ‚belebte‘.25 So gelang es ihr, ihre eigene Tätigkeit als
Deklamatorin zu legitimieren und ihre Funktion innerhalb einer existierenden
literarischen Tradition bzw. eines Kanonisierungsverfahrens zu erleuchten.
In Bürgers Deklamatorien ging die akustische Neubelebung des literarischen
Werks also mit dem Verschwinden des Buches als Objekt einher. Dennoch
ist die Rolle, die die Verschriftlichung bei solchen Aufführungen und ihrer
Rezeption spielt, nicht zu leugnen. Das deklamatorische Konzert wurde von
Leser/innen für Leser/innen konzipiert und aufgeführt; um die Aufführung
ästhetisch bewerten zu können, musste der Zuhörer sich mit den vorgetragenen
Texten einigermaßen bekannt machen, d.h. durch stille Lektüre. Auch wenn
der Text als physisches Objekt im Raum vorhanden war, ging es im Grunde
um seine Interpretation. Der literarische Text im deklamatorischen Konzert
funktionierte als ‚Partitur‘, während der Deklamator einen ähnlichen Status
wie der Sänger in einem Musik-Konzert innehatte. In beiden Fällen handelt
es sich um die akustische Interpretation von Texten, die durch die sich stets
weiterentwickelnde Druckindustrie einem sich fortwährend erweiternden
Publikum zur Verfügung standen, das solche Texte nicht nur durch Lesen
konsumierte, sondern auch in eigene Performances verwandelte.26

Der literarische Text als Partitur

Der Partiturcharakter des zu deklamierenden Textes zeigt sich auch in der


Druckkultur um 1800. Das Aufkommen des deklamatorischen Konzerts wurde
von einer regelrechten Flut an Deklamationshandbüchern oder sogenannten
‚Deklamier-Büchern‘ begleitet. In solchen Texten wurden Theorien der De-
klamation erläutert, Systeme für die visuelle Darstellung von gesprochenen

25 Siehe z.B. Dupree, The Mask and the Quill, S. 145–148.


26 Zur Verschriftlichung im Bereich der Musikkultur siehe z.B. Faulstich, Die bürgerliche
Mediengesellschaft, S. 76f.

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Der Text als Vampir 35

‚Tönen‘ entwickelt und Textsammlungen dem Leser zur Verfügung gestellt.


Wegbereitend in dieser Hinsicht war der 1791 veröffentlichte Aufsatz Christian
Gotthold Schochers Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und
können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht [anschaulich] gemacht, und
nach Art der Tonkunst gezeichnet werden? 27 In diesem kurzen Essay erklärte
Schocher seine Absicht, die Idee einer ‚Sprechtonleiter‘ zu realisieren. In den
darauffolgenden Jahrzehnten wurde erneut versucht, Schochers Vorhaben
auszuführen; der wohl erfolgreichste Versuch erscheint in den Vorlesungen
über Deklamation und Mimik von Seckendorff, der die visuelle Darstellung des
Sprechtons mittels musikalischer Notation realisierte. Solche Versuche blieben
allerdings weitgehend spekulativ und fragmentarisch, nicht nur wegen des
damals noch relativ primitiven Standes der Akustik als Wissenschaft, sondern
auch wegen der grundsätzlichen Ambivalenz des Tonbegriffs. Das zeigt sich
zum Beispiel in der Sprechtonleiter, die von Deklamationstheoretikern wie
z.B. Kerndörffer, Seckendorff und Johann Carl Wötzel entwickelt wurde, wobei
jeder Vokal einem bestimmten Ton und damit einem bestimmten affektiven
Register entspricht.

Abb. 2.2 Musikalische Notation der „Sprachmelodie“ in Gustav Anton von Seckendorffs
Vorlesungen über Deklamation und Mimik (1816)

Es handelt sich hier allerdings um keine messbaren Frequenzen; die Skala


der ‚Töne‘ orientiert sich an dem jeweiligen ‚Grundton‘ des Sprechers bzw. der
Sprecherin, und die Verbindung mit spezifischen affektiven Zuständen bleibt
auch im besten Fall noch subjektiv.

27 Christian Gotthold Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und
können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art der
Tonkunst gezeichnet werden?, Leipzig, 1791.

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36 Mary Helen Dupree

Eine in praktischer Hinsicht vielleicht erfolgreichere Methode, die Sprache


der Deklamation zu vermitteln, stellen die Rezitations-Anthologien des Berufs-
deklamators Carl Friedrich Solbrig (1773–1838) dar.28 Zwischen 1813 und 1828
veröffentlichte Solbrig mehrere Sammlungen kurzer Texte zu Zwecken der
Deklamation, von Gedichten und Balladen bis hin zu Versfabeln, Monologen,
Epigrammen und Texten in lateinischer und französischer Sprache.29 Seine
Gedichtsammlungen richteten sich meistenteils an eine junge Leserschaft und
waren sowohl für den Privatgebrauch von Laien als auch für den pädagogischen
Gebrauch in Schulen gedacht. Für seine Textbeispiele hat Solbrig eine relativ
einfache, überschaubare Methode der Hervorhebung wichtiger Stellen durch
Fettdruck entwickelt.

Abb. 2.3
Auszug aus Friedrich
Lichtwers „Der Kobold“
in Carl Friedrich Solbrigs
Declamations-
Uebungen für Knaben
und Mädchen, Jünglinge
und Jungfrauen (1816)

Bei dieser Methode brauchte der Vortragende bzw. die Vortragende keine
komplizierte Theorie der Sprechtonleiter oder der Vokale zu verinnerlichen,
sondern sie oder er musste sich einfach an den verschiedenen Schriftgrößen

28 Siehe dazu „Solbrig, Karl Friedrich“, in: Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und
bibliographisches Handbuch, 7 Bde., hg. von Wilhelm Kosch und Ingrid Bigler-Marschall,
München, 1953ff., Bd. 4, S. 2226.
29 Siehe u.a. Solbrig, Museum der Declamation (1813–1815); Almanach der Parodien und
Travestien (1816); Gedichte, Fabeln und Erzählungen (Fabelbuch) zu Declamations-Uebungen
für die Jugend. Mit genauer Accentuation der Wörter (1819); Declamationsübungen für
Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen (1822). In späteren Jahren wurde Solbrigs
Name als ‚Warenmarke‘ dem Titel seiner Sammlungen hinzugefügt, wie etwa bei Solbrigs
Tischreden. Eine Auswahl launiger Dichtungen, Anekdoten und Epigramme (1825–1830);
Solbrigs Declamierbuch für Schulen (1826, 1830) und Solbrigs Bellona und Komus. Ein
Taschenbuch zur Unterhaltung für Deutschlands Krieger insbesondere, sowie für Freunde
der Poesie und Declamation überhaupt (1828). Zu Solbrigs Werken siehe auch Karl
Goedeke, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 18 Bde., Berlin
u.a., 1857ff., Bd. 11/I, S. 329.

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Der Text als Vampir 37

orientieren. Dadurch ändert sich der mediale Charakter der Schrift: Die Texte
werden nicht mehr als Lesetexte präsentiert, sondern vielmehr als Hör-Texte
oder Partituren einer deklamatorischen Aufführung. Durch den Einsatz der
verschiedenen Schriftgrößen wird die akustische Dimension bereits im ge-
druckten Text vermittelt.
Durch die Reproduzierbarkeit solcher Texte wurde die Deklamation
auch zum Massen-Unterhaltungsmedium, das sich an ein breites Publikum
richtete. Bei Solbrig geht das mit einer Absage an die frühere Gebundenheit
des Deklamatoriums an einen als ‚klassisch‘ wahrgenommenen literarischen
Kanon einher. Das gilt sowohl für seine Deklamierbücher, bei denen der Unter-
haltungscharakter der Texte als Auswahlkriterium im Mittelpunkt steht, als
auch für seine eigenen Deklamatorien. Im Programm eines am 14. April 1816
von Solbrig in Leipzig gegebenen Deklamatoriums wird die Abendunter-
haltung zum Beispiel wie bei Elise Bürgers Deklamatorien in einen ernsthaften
und einen humoristischen (‚launigten‘) Teil eingeteilt; allerdings widmet sich
der Deklamator nicht mehr den Balladen von Schiller, sondern Unterhaltungs-
gedichten von Autoren wie Kotzebue sowie dem Dresdner Pseudoromantiker
Friedrich Kind.
Goethe ist in Solbrigs Programm nur noch als Gegenstand der Parodie
präsent.30 Darüber hinaus wird der Akzent in den zweiten und dritten Teilen
des Programms auf Dialekthumor verschoben, und zwar nicht nur durch
die Inklusion eines Nürnberger Mundartgedichts, sondern auch durch die
Aufführung einer selbst verfassten Posse antisemitischen Inhalts, Die Juden-
schaft in der Klemme. Als Schauspieler war Solbrig für seine damals als höchst
komisch wahrgenommenen Darstellungen von Juden bekannt, und mehr als
ein solcher Text erschien in den beiden Bänden seiner Dramatischen Possen,
die 1825 und 1826 veröffentlicht wurden. Sie machen uns darauf aufmerk-
sam, dass die ästhetische Praxis der Deklamation auch als Mittel zur Re-
produktion der damals herrschenden gesellschaftlichen und politischen, vor
allem nationalistischen, Diskurse diente und nicht als von solchen Diskursen
unabhängig gesehen werden darf. In dieser Hinsicht ist Karl-Heinz Götterts
mahnende Kritik an dem Diskurs des ‚toten Buchstaben‘ im Hinblick auf die
Instrumentalisierung der Sprechkünste im Dienste des Nationalismus und
der ‚völkischen Ideologie‘ unverändert relevant: Göttert zufolge gehört „der

30 
Goethe- und Schiller-Parodien wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts als Deklamations-
material immer beliebter; kurz vor 1900 machten solche Parodien z.B. den ganzen 44. und
45. Band von Eduard Blochs Original-Deklamatorium, einer der Deklamation gewidmeten
Zeitschrift, aus. Siehe dazu: Eduard Bloch (Hg.), Eduard Blochs Original-Deklamatorium,
Berlin, 1898, Bd. 44: „Parodien Schillerscher Gedichte“ und Bd. 45: „Parodien klassischer
Gedichte“.

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38 Mary Helen Dupree

Abb. 2.4 Programmzettel zu einem Deklamatorium Carl Friedrich Solbrigs im „Klassischen


Saale“ in Leipzig 1816

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Der Text als Vampir 39

Kampf gegen den toten Buchstaben […] in den großen Zusammenhang der
Reaktionen auf den Modernisierungsprozeß.“31 Andererseits ist die Kritik am
‚toten Buchstaben‘ im Kontext der Deklamationskultur um 1800 wohl nicht als
universal geltende philosophische Maxime gemeint, sondern dient eher dazu,
die Selbststilisierung der Deklamator/innen zu unterstützen und dabei die
Notwendigkeit einer lebhaften, auf den Affekt der Zuhörer/innen wirkenden
Deklamationspraxis plakativ zu betonen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Deklamationspraxis um 1800
ein breit angelegtes Programm der ‚Verlebendigung‘ literarischer Texte ver-
folgte, die von einzelnen Akteuren verschiedenartig interpretiert und in Einzel-
aufführungen bearbeitet wurde. Im Laufe dieser inszenierten Verlebendigung
wurde der literarische Text zum akustischen Objekt, während das Buch als
physischer Gegenstand verschwand; durch die Erweiterung von Notations-
und Markierungstechniken in den Deklamierbüchern wurde der literarische
Text zum Drehbuch oder Partitur für die akustische Performance neugestaltet.
Ob eine bewusste literaturästhetische Stellungnahme daraus abzulesen ist,
ist allerdings schwer zu sagen; vielmehr scheint es sich hier um die Heraus-
bildung einer auf Unterhaltung ausgerichteten populären Deklamationskultur
zu handeln, die sowohl Parallelen zur damaligen Musikkultur als auch Züge
eines angehenden Massenmediums aufweist. So machen uns die reichlich vor-
handenen, zunehmend in digitalisiertem Format zugänglichen Quellen zur
Deklamationspraxis darauf aufmerksam, dass die Vielfalt der Lesepraktiken
im 18. und 19. Jahrhundert viel breiter ist, als bisher angenommen wurde: Es
gibt offensichtlich mehr als eine Art, den toten Buchstaben wieder zu beleben.

Literatur

Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen


Mundart, Wien, 1811 (online unter: https://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/
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ting, New York, 2006.
Birgfeld, Johannes, „Klopstock, the Art of Declamation and the Reading Revolution: An
Inquiry into One Author’s Remarkable Impact on the Changes and Counter-Changes
in Reading Habits between 1750 and 1800“, in: Journal for Eighteenth-Century Studies
31/1, 2008, S. 101–117.

31 Göttert, „Wider den toten Buchstaben“, S. 109.

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40 Mary Helen Dupree

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Bürger, Elise, Ueber meinen Aufenthalt in Hannover gegen den ungenannten Verfasser
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Bürger, Elise, „Musikalisch-Declamatorische Akademie“, Düsseldorf, 1809 (online un-
ter: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/id/3138288 [letzter Zugriff: 19.07.2019]).
Bürger, Elise, Gedichte von Elise Bürger geb. Hahn. Als erster Band ihrer Gedichte, Reise-
Blätter, Kunst- und Lebens-Ansichten, Hamburg, 1812.
Bürger, Elise, Lilien-Blätter und Zypressenzweige von Theodora, Frankfurt a.M., 1826.
Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch, 7 Bde.,
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Duden – das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim, 2012 (online unter:
http://www.duden.de [letzter Zugriff: 19.07.2019]).
Dupree, Mary Helen, „Elise in Weimar: ‚Actress-Writers‘ and the Resistance to Classi-
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Patricia Anne Simpson, Amsterdam, 2007, S. 111–126.
Dupree, Mary Helen, The Mask and the Quill. Actress-Writers in Germany from Enlight-
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Faulstich, Werner, Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen, 2002.
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Der Text als Vampir 41

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Hochholdinger-Reiterer, Beate, Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als
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Kennedy, George Alexander, A New History of Classical Rhetoric, Princeton, 1994.
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42 Mary Helen Dupree

Abbildungen

Abb. 2.1: Bürger, Elise, Programmzettel zu einer „Musikalisch-Declamatorischen


Akademie“ in Düsseldorf 1809. Digitale Sammlung der Universitäts- und
Landesbibliothek Düsseldorf, urn:nbn:de:hbz:061:2-41771.
Abb. 2.2: Musikalische Notation der „Sprachmelodie“, in: Seckendorff, Gustav
Anton von, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde.,
Braunschweig, 1816, Bd. 1, S. 161.
Abb. 2.3: Auszug aus Friedrich Lichtwers „Der Kobold“, in: Solbrig, Carl Friedrich,
Declamations-Uebungen für Knaben und Mädchen, Jünglinge und
Jungfrauen, Magdeburg, 1816, S. 162. Digitale Bibliothek der Staatlichen
Bibliothek Regensburg, 999/Paed.526, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11301630-0.
Abb. 2.4: Programmzettel zu einem Deklamatorium Carl Friedrich Solbrigs
im „Klassischen Saale“ in Leipzig 1816. Digitale Sammlung
des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, MT/420/2007,
http://www.stadtmuseum.leipzig.de [letzter Zugriff: 19.07.2019].

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Martin Danneck

Lebendige Rede, tote Buchstaben und die


Normierung des Sprechens im Schrifttum zur
Deklamation um 1800

In seinem Aufsatz Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines


Topos identifiziert Karl-Heinz Göttert die Deklamationsbewegung um 1800
als denjenigen Diskurs, in dem der Kampf gegen die Schrift und für eine
als lebendig beschriebene Kultur der Mündlichkeit auf die Spitze getrieben
wird.1 Auf geradezu plakativ simplifizierende Art und Weise werde von den
Deklamationstheoretikern „die Illusion genährt, eine mündliche Sprache sei
eine substantielle, eine nicht-arbiträre Sprache.“2 Es werde dabei von Autoren
wie Gustav Anton von Seckendorff (1775–1823) keine Mühe gescheut, „die
Stimme gegen das technische Medium zu verteidigen.“3 Auch wenn Götterts
Urteil, dass das Schrifttum zur Deklamation in seiner Propaganda für eine
Praxis der Mündlichkeit „an der Realität vorbei“4 gegangen sei, mindestens in-
sofern einzuschränken ist, als es zwischen ca. 1770 bis in die 20er Jahre des
19. Jahrhunderts durchaus eine sich in vielfältigen Formaten entfaltende und
lebendige Praxis der Deklamation gegeben hat, die zudem in einer engen Be-
ziehung zur Theoriebildung stand,5 so verweist Göttert doch überzeugend auf
die Omnipräsenz des Topos vom toten Buchstaben in den Schriften zur De-
klamation. Ausgehend von diesem Befund möchte ich im vorliegenden Auf-
satz eine Programmschrift zur Deklamationsbewegung analysieren und dabei
aufzeigen, dass der vom Schrifttum zur Deklamation propagierte lebendige
und unmittelbare sprachliche Ausdruck als ein Produkt vielfacher medialer
Vermittlung und ästhetischer Regulierung erscheint.

1 Karl-Heinz Göttert, „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos“, in:
Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, hg. von
Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel, Berlin, 2002, S. 93–114, hier S. 105ff.
2 Ebd. S. 106f.
3 Ebd. S. 107.
4 Ebd.
5 Darauf hat in den letzten Jahren vor allem Mary Helen Dupree in ihren Arbeiten zur De-
klamationsbewegung um 1800 hingewiesen. Exemplarisch: Mary Helen Dupree, „Early
Schiller Memorials (1805–1808) and the Performance of Literary Knowledge“, in: Performing
Knowledge, 1750–1850, hg. von ders. und Sean Franzel, Berlin, 2015, S. 137–164.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_004


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44 Martin Danneck

In einer Rezension von August Wilhelm Ifflands Almanach für’s Theater


auf 1808 durch einen unbekannten Rezensenten im Journal des Luxus und
der Moden (Mai 1808) findet der Privatgelehrte und Deklamationspädagoge
Christian Gotthold Schocher (1736–1810) in einer Art und Weise Erwähnung,
die seine Rolle innerhalb der Deklamationsbewegung um 1800 geradezu
topisch charakterisiert. Iffland scheint, so heißt es in dieser Rezension,

nicht zu wissen, daß die Kunst der Sprache und Declamation bereits zum Rang
einer Wissenschaft erhoben ist, worin das Organische mit höchster Naturwahr-
heit entwickelt, und das Musikalische zu mathematischer Evidenz erhoben ist.
Der Gelehrte, welcher vierzig Jahre lang sein rastloses thätiges Leben der Bildung
dieser Wissenschaft weihte, Herr D. Schocher in Naumburg, lebt unerkannt und
unbelohnt; auf sein Grab erst wird man den schwererrungenen, unfruchtbaren
Lorbeer legen, denn seine Wissenschaft ist gewiß, wie die Mathematik, und un-
umstößlich, wie die Wahrheit der Natur.6

Schocher wird vom Rezensenten als zu Unrecht verkannter Anreger des neu
erstarkten Interesses an der Deklamation gerühmt. Dieses Narrativ wird
von nahezu allen mit der Deklamation befassten Zeitgenossen geteilt und
publizistisch reproduziert. Renatus Gotthelf Löbel beispielsweise, der unter
anderem durch eine einflussreiche Übersetzung von Thomas Sheridans
Lectures on the Art of Reading hervortrat, ist der Meinung, dass Schochers De-
klamiermethode „wie Wahrheit von der Lüge absticht.“7
Schochers Popularität innerhalb der Deklamationsbewegung ist insofern
bemerkenswert, als er 1791 lediglich eine kurze Gelegenheitsschrift von nicht
einmal 20 Seiten zum Thema veröffentlicht unter dem wunderbar ausufernden,
jedoch durchaus zeittypischen Titel Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang
bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaulich ge-
macht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden?8 Eine Erweiterung dieser
ersten Skizze zum Thema kündigt Schocher zwar immer wieder an, sie wird
von ihm jedoch nie realisiert. Einige interessierte Leser, unter ihnen Goethe,
erhoffen sich durch diese angekündigte Erweiterung die Aufklärung von
dunklen Stellen: So schreibt Goethe in einem Brief an Friedrich Schiller am 24.
Juli 1794: „Sie erhalten hiermit die Schochersche Abhandlung mit Danke [sic]

6 J ournal des Luxus und der Moden, Mai 1808, S. 367.


7 Renatus Gotthelf Löbel, Einige Bemerkungen über die Deklamation, Leipzig, 1793, S. 279.
8 Christian Gotthold Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und können
ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich [sic] gemacht, und nach Art der Ton-
kunst gezeichnet werden?, Leipzig, 1791.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 45

zurück; das, was ich davon verstehe, gefällt mir recht wohl, das Uebrige wird er
mit der Zeit ja wohl aufklären!“9
Ein durch sekundäre Quellen einigermaßen gut belegter Grund für
Schochers Stellung innerhalb der Deklamationsbewegung kann in seiner
Unterrichtstätigkeit gesehen werden, wenngleich auch hier nicht ganz ein-
deutig geklärt werden kann, ob Schochers Ruf als Lehrer der Deklamation
größer war als sein tatsächlicher pädagogischer Einfluss. So formuliert bei-
spielsweise der junge Johann Gottlieb Fichte in einem Brief vom 8. Juni 1790
an seine Verlobte Johanna Marie Rahn enthusiastisch seinen Plan, mithilfe
von Privatissima bei Schocher „der Erste in dieser Kunst [d.i. der Deklamation,
MD]“10 werden zu wollen. Schocher, so ist sich Fichte noch vor Beginn des
Unterrichts sicher, habe die „Declamation nach einem hartnäckigen Studio
von 20 Jahren in die Form einer Wissenschaft gebracht, und fast unwandel-
bar auf die Natur der Sache gegründet,“11 um dann wenig später jedoch ein-
räumen zu müssen, dass er von Schocher nichts habe lernen können, was
er nicht ohnehin schon von der Kunst des Vortrags gewusst habe.12 Auch
Friedrich Schlegel, der seine Kenntnisse über Schocher aus zweiter Hand zu
haben scheint, äußert sich wenig begeistert: „Aus Schochers Declamation
besonders im Unterricht wird großes Gewese gemacht. Er hat ein schlechtes
Organ. […] Seine Schrift soll ohne mündlichen Unterricht sehr unverständlich
seyn.“13 Einigermaßen gesichert ist allerdings der Umstand, dass Schocher zu-
mindest einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Lehrer der Deklamation
im deutschsprachigen Raum überhaupt gewesen ist: Bereits in den frühen
1770er Jahren soll, folgt man den Angaben seiner Schüler Carl Friedrich Solbrig
und Johann Carl Wötzel, Schocher damit begonnen haben, Unterricht in De-
klamation zu erteilen sowie öffentliche Deklamatorien abzuhalten.14
Schochers Schrift, die sich weniger mit den theoretischen und praktischen
Details der Deklamationskunst auseinandersetzt, als gewissermaßen das
argumentative Feld absteckt, auf dem in der Folge die Bemühungen um eine

9 Zit. nach Irmgard Weithase, Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst von 1775–1825,
Berlin, 1930, S. 103. Weithase geht an dieser Stelle ausführlicher auf die zeitgenössische
Schocher-Rezeption ein.
10 Immanuel Herrmann Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel,
Sulzbach, 1830, S. 96.
11 Ebd.
12 Vgl. Brief Fichtes an Johanna Rahn vom 5.9.1790, ebd., S. 538.
13 Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. III: Briefe von und an
Friedrich und Dorothea Schlegel, Bd. 23: Bis zur Begründung der romantischen Schule
(15. September 1788–15. Juli 1798), hg. von Ernst Behler, Paderborn, 1987, S. 273.
14 Vgl. Irmgard Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde.,
Tübingen, 1961, Bd. 1, S. 542.

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46 Martin Danneck

theoretisch fundierte Deklamationspraxis stattfinden, weist entschieden einen


programmatischen Charakter auf und sollte nicht als ausgearbeiteter Theorie-
beitrag missverstanden werden. Schließlich wird von einer Vielzahl von
Autoren zum Thema in der Folge immer wieder auf Schochers Text als den die
Debatte um die Deklamation entzündenden Text hingewiesen,15 – ohne dann
freilich en détail auf ihn einzugehen. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte,
propagiert Schocher in seinem Text jedoch nicht nur die Auseinandersetzung
mit der Deklamation als einer eigenständigen Kunstform. Schocher geht es
vielmehr auch darum, die Deklamation als Schauplatz für ein Projekt einzu-
setzen, das die ästhetische Normierung der gesprochenen Sprache zum Ziel
hat. Im Folgenden werde ich auf einige Aspekte der argumentativen Strategie
eingehen, mit der Schocher dieses Projekt bewirbt.
Kernanliegen von Schochers Text ist es, die Deklamation als eine „regel-
mäßige Kunst“ (Schocher 1792, 12) zu etablieren. Er ist davon überzeugt, dass
„die Declamation sich nach Art der Tonkunst zeichnen, und mithin zu einer
regelmäßigen Kunst erheben“ (ebd.) lasse. Schochers persuasiver Ansatz, dass
die Arbeit, die Deklamation zu einer „regelmäßigen Kunst zu erheben“, über-
haupt erst zu leisten sei, begründet er mit der Behauptung, dass die Rede noch
„ein dunkler Gesang“ sei, deren natürliche Gesetzmäßigkeiten, ähnlich den
empirischen Funden der zu dieser Zeit aufblühenden Naturwissenschaften,
erst erforscht, analysiert und systematisiert werden müssten. Schocher ver-
wendet dabei die Begriffe Kunst und Wissenschaft synonym, was in der Um-
bruchszeit am Ende des 18. Jahrhunderts vom universalen Gelehrtentum zum
Spezialistenwissen der modernen Wissenschaften teilweise noch Usus ist.
Von anderen Autoren jedoch, wie zum Beispiel in der weiter oben zitierten
anonymen Rezension von 1808, in der Schocher das Verdienst zugesprochen
wird, „die Kunst der Sprache und Declamation bereits zum Rang einer Wissen-
schaft erhoben“ zu haben, werden die beiden Begriffe bereits unterschied-
lichen Formen des Wissens zugeordnet.
Für die Untersuchung von Schochers Strategien, sein Projekt einer
Regulierung der gesprochenen Sprache zu bewerben, ist die Art und Weise
interessant, wie er sich zur antiken Rhetorik verhält. Der Bezug auf die
Autorität der Antike ist auch am Ende des 18. Jahrhunderts, sozusagen als
historischer Ausläufer der Querelle des Anciens et des Modernes, für einen
Autor wie Schocher fast noch unumgänglich und wird von ihm in typischer

15 Vgl. Mary Helen Dupree, „Theorie und Praxis der Deklamation um 1800“, in: Handbuch
Literatur und Musik, hg. von Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin, 2017 (= Hand-
bücher zur kulturwissenschaftlichen Philosophie 2), S. 362–370, hier S. 363: „Nichts-
destotrotz galten Schochers Theorien als musterhaft für mehrere Generationen von
Deklamatoren um 1800.“

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 47

Weise durchgeführt, indem er seine Schrift mit einem längeren Exkurs auf
Demosthenes und Cicero beginnt. Das klassische Argument in diesem Zu-
sammenhang formuliert Gustav Anton von Seckendorff in seinen Vorlesungen
über die Declamation und Mimik (1816). Darin wird die eigene Gegenwart im
Duktus der beliebten Niedergangsmetaphorik Rousseauscher Prägung als
Letternkultur beschrieben, in der der tote, leblose und kraftlose Buchstabe
regiere, und kontrastierend einer als blühend vorgestellten Antike gegen-
übergestellt, in der das mündliche, lebendige Wort geherrscht habe.16 Dieses
Szenario dient Seckendorff als argumentativer Ausgangpunkt für den Aufruf
nach einer Erneuerung der Redekunst: Der Deklamierende soll „wie ein Sirocco“
die „todte[n] Kohlen“17 der Bücher aufs Neue zur Flamme der lebendigen Rede
entfachen. Bei Schocher weiß die Antike hingegen wenig über die Regeln der
mündlichen Rede: „Hätten die alten Redner etwas Zuverlässiges und Regel-
mäßiges von der Declamation gewußt: so hätten sie es uns gewiß, so wie
andere Wissenschaften, hinterlassen“ (Schocher 1791, 4). Für Schocher hängt
die Unkenntnis der antiken Autoren auf dem Gebiet der pronuntiatio mit ihrer
Unkenntnis auf dem Gebiet der Musik zusammen: „Aber wie konnten sie [die
antiken Autoren, Anm. d. A.] auch etwas mehr, als Unbestimmtes, wissen, da
ihre Kenntnisse von der Tonkunst noch ganz in der Kindheit waren, und sie
also von Tönen und Lauten, woraus doch eigentlich die Sprache besteht, nicht
ausgehen konnten“ (Schocher 1791, 4). Schocher nutzt also den Antikenbezug
als Argument für sein Anliegen, für die Art und Weise des Sprechens Regeln zu
formulieren. Das Nachahmen der antiken Redner, Rhapsoden und Rhetoren
soll ersetzt werden durch die wissenschaftliche, auf rationalen Prinzipien be-
ruhende Erforschung der Rede.18
Dabei kommt der visuellen Veranschaulichung der Prosodie eine Schlüssel-
stellung zu, die ja bereits in der rhetorischen Frage des Titels von Schochers
Text zum Programm wird. Um die Feinheiten der Rede „verstehen und an-
wenden zu können, ist kein ander Mittel, als die Versinnlichung, das ist, sie
dem Auge in Bildern darzustellen, um hierdurch dem Verstande eine Richtung
vorzugeben zu können“ (Schocher 1791, 9). Durch Strategien der Visualisierung
soll der flüchtige, ephemere Klang der gesprochenen Sprache gewisser-
maßen festgehalten und auf Papier gebannt werden. Schocher möchte den

16 Vgl. Göttert, „Wider den toten Buchstaben“.


17 Gustav Anton von Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde., Braun-
schweig, 1816, Bd. 1, S. 9.
18 Vgl. auch Dupree, „Theorie und Praxis der Deklamation um 1800“, S. 363: „Ganz im Sinne
der Aufklärung lehnt Schocher die ‚sklavische‘ Nachahmung antiker Rhapsoden und
Rhetoren ab; sein System der Deklamation sollte auf rationalen, aus der eigenen Er-
fahrung hergeleiteten Prinzipien beruhen.“

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,dunklen Gesang‘ der Prosodie in ein im hellen Licht des Tages lesbares, einer
visuellen Logik gehorchendes Zeichensystem übersetzen, um die Rede ihrer
auditiven Ungreifbarkeit zu berauben und sie auf diese Weise gewissermaßen
domestizierbar zu machen. Die Deklamation, die in Druckform vorliegende
Literatur verlebendigen und die Sprache aus dem Gefängnis der Schrift be-
freien will, manövriert sich mit einem solchen Vorhaben allerdings in eine
problematische Lage: Damit das tote Schriftwort lebendig werden kann,
muss seine prosodische Gestalt in einem zusätzlichen Vermittlungsschritt im
medialen Paradigma des Buchstabens zunächst graphisch vorgeformt, fest-
geschrieben, visuell lesbar und somit analysierbar gemacht werden. Für einen
Deklamator wie Schocher, der sich ja dem Projekt der Verlebendigung von
toter Schriftlichkeit verschreibt, müsste ein solches Vorhaben eigentlich einem
Pakt mit dem Teufel gleichkommen, schließlich würde eine Prosodienotation
die Sprache noch vollständiger als die Buchstabenschrift in ein visuelles
Darstellungssystem zwängen. Es gehört jedoch zu den konstitutiven Wider-
sprüchen der Deklamationsbewegung, dass fast alle ihrer Akteure Schochers
Ideen zu einer Prosodienotation aufgreifen und weiterdenken, ohne sie auch
nur im Ansatz zu problematisieren.
Versuche, die Prosodie mithilfe von graphischen Notationstechniken dar-
zustellen, werden jedoch nicht erst von der Deklamationsbewegung um 1800
unternommen, sondern finden sich in anderen Diskursen bereits im frühen 18.
Jahrhundert. Der langsam ansteigende Bedeutungszuwachs des Deutschen im
öffentlichen Leben, der ab dem Beginn des Jahrhunderts zum Beispiel dazu
führte, dass die deutsche Sprache vereinzelt in die Curricula der Universitäten
Eingang fand, sensibilisierte zunehmend auch für Probleme der Aussprache.
Dabei herrschte vor allem im Literaturdiskurs lange Zeit die Meinung vor, dass
die Buchstabenschrift in der Lage sei, auch die Prosodie der gesprochenen
Sprache darzustellen und – in Analogie zur Musiknotation – dem Lesenden
ausreichende Hinweise an die Hand gäbe, um von ihm adäquat reproduziert
werden zu können. Bei Johann Christoph Gottsched beispielsweise scheint das
Verhältnis von Buchstabenschrift und Aussprache unproblematisch zu sein:

Obgleich alle Sprachen in der Welt eher geredet, als geschrieben worden: so sind
sie doch vor der Erfindung der Buchstaben sehr rauh und unförmig gewesen.
Ihre erste ordentliche Gestalt haben sie der Schrift zu danken gehabt; […] Die
Schrift ist gleichsam die Abbildung der mit dem Munde ausgesprochenen Töne.
Diese verschwinden allemal im Augenblicke, wenn man sie nicht gleichsam
durch die Buchstaben sichtbar und dauerhaft machen kann.19

19 Johann Christoph Gottsched, Vollständigere und neuerläuterte Deutsche Sprachkunst,


Leipzig, 1762, S. 22.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 49

Auch wenn es natürlich stimmt, dass die Buchstabenschrift, vor allem


mittels der Satzzeichen, Aspekte der Prosodie darstellen kann und nicht nur
syntaktische Einheiten markiert, macht es sich Gottsched doch zu leicht, wenn
er die Schrift als eine „Abbildung der mit dem Munde ausgesprochenen Töne“20
bezeichnet. Die Intonation, die Diastematik der Sprachmelodie oder auch
Feinheiten der Zeitgestaltung werden von der Buchstabenschrift ebenso wenig
dargestellt wie die Aussprache der einzelnen Sprachlaute. Auch Klopstock,
der, als einer der prominentesten Verfechter der gesprochenen Sprache in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seine Vorschläge für eine Reform der
Orthographie am Primat der gesprochenen Sprache ausrichtet, traut der Buch-
stabenschrift die Fähigkeit zu, die Feinheiten der Prosodie darzustellen. Seine
Anregungen, wie er sie in Über die deutsche Rechtschreibung 1779 entwickelt,
sind von der Idee geleitet, den Lesenden auf die akustische Dimension der
Sprache aufmerksam zu machen: Die Rechtschreibung solle „ein Ding fürs Ohr,
und nicht fürs Auge“ sein.21
Neben diesem Diskurs, der die Frage der visuellen Darstellbarkeit der Aus-
sprache über die Buchstabenschrift zu klären sucht, finden sich seit dem frühen
18. Jahrhundert aber auch Versuche, die klanglichen Aspekte der Sprache
mithilfe von eigenen Notationssystemen darzustellen. Der französische Ge-
lehrte Jean-Baptiste Dubos (1670–1742) beispielsweise weist 1719 als einer der
ersten auf die Probleme hin, die mit der Übersetzung der Feinheiten der ge-
sprochenen Sprache in ein visuelles Zeichensystem zusammenhängen.22
Dubos’ Vorschlag eines Notationssystems, das sich an der Liniennotation der
Musik orientiert, geht dabei von der Beobachtung aus, dass die Notation der
musikalischen Rezitation in der Oper die Prosodie der Sprache bereits relativ
gut wiedergeben würde. Unter anderem der von der deutschsprachigen De-
klamationsbewegung rezipierte Joshua Steele greift 1775 diese Ideen auf und
entwickelt ein Notationssystem, das unter anderem auch Zeichen enthält, die
einer ikonischen Logik folgen.23
Auch wenn Schocher also nicht als der erste Autor gelten kann, der Ge-
danken zu einer Prosodienotation entwickelt, so formuliert er doch als einer

20 Gottsched, Vollständigere und neuerläuterte Deutsche Sprachkunst, S. 22.


21 Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 7/1: Die
deutsche Gelehrtenrepublik, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin, 1975, S. 126.
22 Jean Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, 3 Bde., Paris, 1740.
23 Joshua Steele, An Essay towards establishing the Melody and Measure of Speech to be
expressed and perpetuated by certain Symbols, London, 1775. Zu ikonischen Zeichen-
systemen in der Musik vgl. Matteo Nanni, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift
des Ephemeren“, in: Die Schrift des Ephemeren. Konzepte musikalischer Notation, hg. von
dems., Basel, 2015, S. 7–14.

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der ersten das für die Deklamation spezifische Anliegen, mithilfe einer solchen
Notationstechnik den ,dunklen Gesang‘ der Sprache erhellen zu können, um
anhand einer solchen Technik Regeln des Sprechens aufstellen zu können.
Von den deutschsprachigen Autoren, die auf Schochers Anregung reagieren,
ist neben anderen der Hildesheimer Pastor Hermann Heimart Cludius (1754–
1835) zu nennen, der in seinem 1792 erscheinenden Deklamationsmanual Über
die körperliche Beredsamkeit ganzen Passagen literarischer Texte musikalische
Noten unterlegt.24 Etwas später entwickeln unter anderem die beiden De-
klamationstheoretiker Gustav Anton von Seckendorff und Heinrich August
Kerndörffer (1769–1846) eigene Systeme der Prosodienotation, bei denen sich
arbiträre mit ikonischen Zeichen mischen.
In seiner Schrift von 1791 bedauert Schocher also das Fehlen eines Zeichen-
systems für die Prosodie: Wenn nur die antiken Autoren sich doch mehr um
die Deklamation gekümmert hätten, „so daß der Verstand, die Regel zu be-
folgen, sich an feste Begriffe hätte halten […] können: so würden sie eine Kunst
auf die Nachwelt gebracht, und uns nicht Anlaß gegeben haben, die Regeln
der Declamation zu bezweifeln, und bey solchem Zweifel eine so vortreff-
liche Kunst völlig liegen zu lassen“ (Schocher 1791, 4). Wie die Musik und die
Sprache, so müsste sich auch die Prosodie mittels eines graphischen Zeichen-
systems lesen lassen können: „Die Musik führt uns durch ihre Tonleiter auf
die Möglichkeit der Ausführung hin, und wir dürfen nur in der Declamation
ebenfalls eine richtige Tonleiter herstellen, und die ganze Sache ist gemacht“
(Schocher 1791, 9). Dabei geht Schocher davon aus, dass die Zeichensysteme
der Sprache und der Musik nicht ein bloß abbildendes Verhältnis zum Gegen-
stand aufweisen, sondern dass sie ihrerseits Auswirkungen auf die Entwicklung
von Sprache und Musik haben: „Denn was würde die Sprache seyn, wenn sie
keine Buchstaben, und die Musik, wenn sie keine Noten hätte? […] Nur durch
das Schreiben war es allein möglich, der Sprache Regeln, Vollkommenheit und
Fortdauer zu geben, so wie auch der Tonkunst durch die Noten“ (Schocher 1791,
13). Einen ähnlichen Effekt erhofft sich Schocher auch für die Deklamation. Zu
diesem Zweck schlägt er ein in seiner Schrift lediglich skizzenhaft angedeutetes
Notationssystem für die Prosodie der gesprochenen Sprache vor, das den An-
spruch erhebt, auf die spezifischen Gegebenheiten der Prosodie zugeschnitten
zu sein. Dabei ordnet Schocher der gesprochenen Sprache „Töne“ (Schocher
1791, 13) zu, die sich ähnlich wie die Töne der Musik auf einer Sprechtonleiter
darstellen lassen sollen. Leider verzichtet Schocher in seinem Text auf eine

24 Hermann Heimart Cludius, Grundris der körperlichen Beredsamkeit, Hamburg, 1792.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 51

solche Darstellung und verweist lediglich auf zukünftige Publikationen zum


Thema.25
Wie weiter oben bereits angedeutet, lese ich Schochers Bemühungen um
die Deklamation auch als Beitrag zu einem Projekt, das sich der ästhetischen
Normierung des Sprechens verschreibt. Schocher versucht zum Beispiel, die
von ihm als „natur- und wahrheitsgemäs“ (Schocher 1791, 17) propagierte Art
des Sprechens von anderen Formen des Sprechens abzugrenzen. Wie nahezu
alle Autoren, die zur Deklamation publizieren, bemüht er dabei die ästhetische
Kategorie der ‚Natürlichkeit‘, um den idealisierten ‚mittleren Ausdruck‘ nach
oben vom affektiert-künstlichen Sprechen des Adels und nach unten vom un-
geschliffenen, groben Dialekt der unteren Schichten abzugrenzen.
Der klassische, gegen den Adel gerichtete Abwehrgestus äußert sich
bei Schocher in einer moralisch getönten Abqualifizierung des höfischen
Sprechens als künstliches Maskenspiel und Trug.26 Dieser höfische Sprechstil
findet für Schocher seine mustergültige Ausprägung im Theater, das ihm als
Ort der „Täuschung, Verstellung“ und „Mummerey“ (Schocher 1791, 4) gilt. Mit
solcherlei müsse man den Deklamator folglich „schlechterdings verschonen“
(ebd.). Ferner scheint ihm der Umstand, dass ein Redner wie Demosthenes
seine Deklamierkunst nicht „von einem öffentlichen Lehrer“, sondern „von
einem Schauspieler erlernet“ habe, der „ganz gewiß ein mehr praktischer, als
theoretischer Redner war,“ (ebd.) als ein Hauptindiz dafür zu gelten, dass „die
Declamation unter den Gelehrten in Griechenland nicht so groß und allgemein
gewesen“ (Schocher 1791, 4) sein könne. Auch wenn Schocher, im Jahre 1791
freilich etwas verspätet, mit seinem Angriff auf das Theater das klassizistische,
französische und in besonderem Maße mit der Aristokratie assoziierte
Theater im Sinn haben mag, ist die Abgrenzung vom Theater, egal ob damit
das klassizistische Drama oder das Bürgerliche Trauerspiel gemeint ist, für
einen Theoretiker der Deklamation zwar in der Sache nicht unproblematisch,
jedoch diskurspolitisch von großer Wichtigkeit. Viele der einem breiteren
Publikum bekannten Declamatricen und Deklamatoren sind selbst Theater-
schauspielerinnen und -schauspieler. Auch einige prominente Publizisten der
Deklamation, allen voran Gustav Anton von Seckendorff, ziehen als reisende
Deklamatoren durchs Land und unterscheiden sich damit nur geringfügig
von reisenden Theaterschauspielerinnen und -schauspielern. Umso wichtiger

25 Schocher verweist auf zukünftige, leider nicht erschienene Publikationen: „Sollten


die Ziffern das Beyspiel noch etwas dunkel lassen; so wird es die Melodiezeichnung in
künftiger Uebersicht desto deutlicher darstellen“ (Schocher 1791, S. 16).
26 Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts,
München, 1999, S. 15f.

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erscheint eine Abgrenzung vom Theater, soll sich die Deklamation als eigen-
ständige Kunstform durchsetzen können. Schocher selbst geht zwar in seinem
Text nicht auf die Unterschiede ein, die beispielsweise zwischen der Theater-
deklamation und der Literaturdeklamation bestehen, kann aber auch hier
wieder als Anreger für das spätere Schrifttum zur Deklamation angesehen
werden. Seckendorff zum Beispiel betont 1816 die relative Distanz, die der De-
klamator seinem Gegenstand gegenüber bewahren soll und die im Gegensatz
steht zur Haltung des Schauspielers, der darum bemüht sei, die Realität so weit
wie möglich zu imitieren: „Man nennt denjenigen einen Deklamator, welchem
es leicht wird, im Spiel jede Gemütslage, mit dem Vorbehalt des Spieles und
mit der Absicht lediglicher Analogie mit dem wirklichen Leben (hierunter ist
nicht Nachäffen zu verstehen) sich zu geben.“27
Ein wesentliches Problem, dem sich Schocher in seinem Versuch gegen-
übersieht, die Deklamation als eine Kunstform der Natürlichkeit zu profilieren,
liegt darin, dass die Deklamation vielen Zeitgenossen ganz im Gegenteil als
die Paradedisziplin übertriebener Künstlichkeit schlechthin gilt. Schocher ist
deshalb, wie weiter oben bereits angedeutet, sehr darum bemüht zu betonen,
dass die Künstlichkeit der Deklamation allein auf das fehlende Wissen über
die (Natur-)Gesetze einer richtigen und natürlichen Aussprache zurückzu-
führen sei. Das Theater wird bei Schocher also zu einem Ort der künstlichen
Verstellung, der mit einer Semantik des Höfischen verbunden ist. Im Kontrast
dazu soll die Deklamation als Kunst der Natürlichkeit erscheinen, die sich im
Gegensatz zum Theater rational und empirisch erforschen lasse.
Die Abgrenzung des natürlichen Sprechens nach unten scheint für Schocher
unproblematischer zu sein: Man solle es vermeiden, „monotonisch und im
gemeinen Volkstone“ (Schocher 1791, 13) zu sprechen. Die Sprechweise der
unteren Schichten werde, so Schocher, der Vielfalt der geforderten Ausdrucks-
ebenen der Deklamation nicht gerecht. Es hat also den Anschein, als würde
Schocher die zeittypische ästhetische Faszination für das ‚Volk‘ nicht teilen.
Findet sich seit Herder eine interessante Doppelbewegung der Abgrenzung
von den unteren Schichten bei gleichzeitiger Glorifizierung ihrer Sprache und
Musik, die als rein, unverbildet und unmittelbar klassifiziert wird, so scheint
nicht nur Schocher in der Sprache der Unterschicht eher ein Hindernis für sein

27 Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd. 1, S. 138f. Vgl. auch Mary Helen
Dupree, die auf das Distanzgebot bei Seckendorff ausführlicher eingeht: Mary Helen
Dupree, „From ‚Dark Singing‘ to a Science oft he Voice: Gustav Anton von Seckendorff
and the Declamatory Concert Around 1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte 86/3, 2012, S. 365–396, hier S. 386.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 53

Projekt einer Normierung des Sprechens zu sehen. Dafür spricht möglicher-


weise der Umstand, dass sich die Deklamationspraxis und das sich auf sie
beziehende Schrifttum mit der tatsächlich gesprochenen Sprache befasst. Es
wird zu prüfen sein, inwieweit sich dieser Umstand darauf auswirkte, dass die
Idee einer ästhetisch stilisierten ‚Sprache des Volkes‘, die ja im Grunde nichts
anderes als eine auf die Unterschicht projizierte Erfindung des literarischen
Diskurses war und sich nicht auf die tatsächlichen Sprechkulturen der unteren
Schichten bezog, für die Deklamationsbewegung wenig Anknüpfungspunkte
bereithielt.
Im Zusammenhang mit den diskutierten Distinktionsbemühungen nach
oben und nach unten findet sich die Forderung nach einem natürlichen Aus-
druck. Dieser sucht sich als mittlerer, gemäßigter Ausdruck von den affektiven
Extremen sowohl des Adels als auch der unteren Schichten abzugrenzen, die
beide auf ihre Weise den Leidenschaften hilflos ausgeliefert seien.28 Das hier
zum Tragen kommende Verfahren, die ästhetische Position des mittleren Aus-
drucks als Instrument der sozialen Abgrenzung tugendethisch zu besetzen,
lässt sich bei Schocher anschaulich demonstrieren. Der Mensch, so schreibt
Schocher, zeichne sich „allein durch den Verstand und durch die Herrschaft
über seine Gefühle“ (Schocher 1791, 17) aus. „Menschsein“, so formuliert
Albrecht Koschorke treffend, ist jedoch im Diskurs der Aufklärung „ausdrück-
lich oder auf unausgesprochene Weise, ein Privileg höherer Schichten.“29 Der
natürliche Ausdruck kann in diesem Zusammenhang als Produkt der tugend-
ethischen Selbstdisziplinierung der Gefühle interpretiert werden, derer sich
das gebildete Bürgertum unterzieht. Bei Schocher klingt das so: „Kennt der Ver-
stand die Wirkung der Stimme“, so wird er auch das Gefühl in einer Weise zu
leiten wissen, dass „die Wirkung der Stimme […] die eigenthümliche Sprache
des Gefühls selbst ist“ (Schocher 1791, 16). Die unkontrollierte Empfindung
gilt als gefährlich und muss in einem Prozess der verstandesgeleiteten Übung
und Einübung unschädlich gemacht werden: „Wir müssen mit den Gefühlen
eben so, wie mit Kindern verfahren; erst müssen sie schweigen, und dann
reden lernen“ (Schocher 1791, 19). Der pädagogische Impuls, der aus diesem
Zitat spricht, ist kennzeichnend für die gesamte Deklamationsbewegung
und bereits in ihren Anfängen präsent. Dabei geht es auch immer darum,
Sprechende heranzubilden, um Hörende über das Medium der lebendigen,

28 Vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 15f.


29 Ebd.

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gesprochenen Sprache erziehen zu können.30 Diesem Zusammenhang möchte


ich im Folgenden nachgehen:

Jede Darstellung durch die Sprache ist eigentlich Rede zu nennen, als Ausdruck
von Vorstellungen und zusammenhängenden Begriffen durch die Sprache,
welcher unmittelbar aus dem Inneren des Menschen hervorgeht und durch Laute
der Stimme oder Redetöne auf das Innere Anderer wirkt. Hiernach gründet sich
diese äußere Beredsamkeit hauptsächlich auf die Tonsprache, weshalb sie als die
Beredsamkeit der Tonsprache zu betrachten ist, und insbesondere Declamation
genannt wird.31⁠

Heinrich August Kerndörffer (1769–1846) formuliert hier einen zentralen Ge-


danken, der den Theorien zur Deklamation zugrunde liegt. Sprache wird als
unmittelbarer Ausdruck des „Inneren des Menschen“ vorgestellt, der in das
„Innere Anderer“ eindringt und „durch Laute der Stimme“ wiederum un-
mittelbar auf dieses wirkt. Die einflussreichste Denkfigur, die im Hintergrund
wahrnehmungs- und kommunikationstheoretischer Grundannahmen des De-
klamationsschrifttums steht, ist das so genannte Resonanz-Modell.32 Dieses
ermöglicht es den Deklamationsautoren, Unmittelbarkeit zwischen räumlich
getrennten Körpern zu denken. Ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts gewinnt
dieses Modell in verschiedenen Diskursen an Bedeutung. Es basiert auf dem
akustischen Phänomen des Widerhalls, der entsteht, wenn eine klingende Saite
eine zweite, gleich gestimmte Saite gewissermaßen passiv mitschwingen lässt.
Erstmals findet dieses akustische Phänomen im deutschsprachigen Diskurs
bei Zedler 1744 unter dem Begriff der Sympathie Erwähnung.33⁠ In der Folge
wird es nicht nur in der Physiologie und der sich neu bildenden Nerven-
kunde wichtig, sondern dient insbesondere Untersuchungen als Analogie-
modell, die sich für das Verhältnis von Körper und Seele interessieren. Das

30 Auf die Bedeutung der Mündlichkeit für die Entstehung der universitären Vorlesung
um 1800 hat Sean Franzel aufmerksam gemacht: Sean Franzel, Connected by the Ear. The
Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture, Evanston, IL, 2013.
31 Heinrich August Kerndörffer, Anleitung zur gründlichen Bildung der öffentlichen Bered-
samkeit. Ein Compendium für Schulen, Gymnasien und akademische Vorlesungen, Leipzig,
1833, S. 21.
32 Im folgenden Referat des Resonanz-Modells beziehe ich mich hauptsächlich auf Caroline
Welshs Studie Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik
und Literatur um 1800, Freiburg i.Br., 2003. Siehe auch den Sammelband Karsten Lichau,
Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur,
München, 2009.
33 Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissen-
schaften und Künste, Halle/Leipzig, 1732–1754, Stichwort „Sympathie“. Zit. in Welsh,
Hirnhöhlenpoetiken, S. 29.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 55

Resonanz-Modell liefert in diesem Zusammenhang eine willkommene Ana-


logie, um Prozesse der sinnlich-nervösen Reizübertragung zu veranschau-
lichen. Über die Sinne und deren Nervenbahnen, die im Inneren des Körpers
auf die Seele treffen, unterhält, so die Annahme, die Seele eine direkte Ver-
bindung zur Außenwelt. Dabei wird die Seele zumindest von den Vertretern
des Resonanz-Modells nicht als autonome, vom Körper und der Außenwelt
unabhängige Instanz gesehen, die sich ihrer nervösen Verbindung nach Außen
lediglich zur Informationsbeschaffung bedient, sondern sie befindet sich viel-
mehr in einem sympathetischen Verhältnis zur Außenwelt. Die Seele wird in
diesem Modell von den über die Nerven transportierten Außenreizen also
affiziert und auf diese Weise in ihrer Form verändert.
Für die Theoretiker der Deklamation ist das Resonanz-Modell insofern
von so großer Bedeutung, als im Kontext dieses Modells, das ja von einem
akustischen Phänomen abgeleitet ist, dem Auditiven eine hervorgehobene
Rolle zugeschrieben wird. Der klingende Ton, derjenige der Musik, aber
eben auch der Ton der gesprochenen Sprache, dringen über die Nerven des
Gehörs – unmittelbar – ins Innere des hörenden Menschen ein und affizieren
seine Seele. Der Klang wird zum Träger der Affekte und transportiert diese
über die Nerven in die Seele oder, wie Herder bemerkt: Die Töne werden bei
ihm zum „unmittelbarste[n] Instrument auf die Seele,“34 das Ohr zur „eigent-
liche[n] Tür zur Seele.“35 Als ein wesentliches Merkmal des Resonanz-Modells
wurde die sympathetische Verbindung der Seele zur Außenwelt beschrieben.
Dieser Aspekt wird von einigen Vertretern dieses Modells als Möglichkeit ge-
feiert, über auditive Reize auf das Subjekt pädagogisch einwirken zu können.
Der Begründer der modernen Musikwissenschaft, Johann Nikolaus Forkel
(1749–1818), beispielsweise schreibt in seiner Allgemeine[n] Geschichte der
Musik (1801): „Durch Musik ist unser Geschlecht humanisirt worden; durch
Musik wird es noch humanisirt.“36 Grundlage für eine solche pädagogische
Funktionalisierung der Musik ist die Vorstellung, dass „die Bewegungen des
Nervensystems […] mit jeder Empfindung im Menschen vergesellschaftet
sind“ und dass „in der Seele die leidenschaftlichen Vorstellungen entstehen,
wenn vorher im Körper die verwandten Erschütterungen erregt worden sind.“37
Forkel bezieht sich auf die im Kontext des Resonanz-Modells verbreitete,

34 Johann Gottfried Herder, „Viertes kritisches Wäldchen“, in: ders., Werke in zehn Bänden,
Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt
a.M., 1993, S. 247–442, hier S. 406.
35 Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: ders., Werke
in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M., 1985,
S. 695–810, hier S. 746.
36 Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig, 1801, S. 12.
37 Ebd., S. 10.

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sensualistisch inspirierte Vorstellung, dass jede Nervenfaser des Gehörs auf


einen bestimmten, ihr zugeordneten Ton reagiere und wiederum eine be-
stimmte Empfindung in der Seele zu erregen in der Lage sei. Es sei das „Wesen
der Musik, durch ihre, den mit den menschlichen Empfindungen unzertrenn-
lich verbundenen Nervenerschütterungen entsprechenden Luftbewegungen
auf die Vorstellungen der menschlichen Seele zu wirken.“38 Der menschliche
Organismus wird in diesem Modell zu einem mechanischen Instrument,
dessen Empfindungsklaviatur von außen durch sorgfältig ausgewählte auditive
Reize bespielt werden kann. Die Musik qualifiziert sich für Autoren wie Forkel
deshalb bestens dafür, in ein moralpädagogisches Programm der Aufklärung
eingespannt zu werden.
Wie Caroline Welsh ausführlich gezeigt hat, weisen Autoren wie Schiller,
Kant oder Novalis aus verschiedenen Perspektiven auf die Probleme dieses
Modells hin, treffen sich in ihrer Kritik jedoch in einem Punkt: Das Resonanz-
Modell beraubt den Menschen seiner Gefühls- und Vernunftfreiheit und
macht ihn zum hilflosen Spielball auditiv induzierter Affekte.39 Die Seele ist
den klanglichen Eindrücken ausgeliefert, es fehlt ihr die Möglichkeit, auf ex-
terne Reize autonom und souverän zu reagieren. Auch mit dem Projekt einer
Autonomieästhetik, wie es für die Musik unter anderem vom Forkel-Schüler
Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) propagiert wird, ist das gefühls-
ästhetische Modell einer bloß passiv erleidenden Seele nicht vereinbar.40
Den meisten Autoren der Deklamation ist jedoch die Vorstellung, über die
gesprochene Sprache unmittelbar auf die Seele des Hörenden einwirken zu
können, hochwillkommen. So geht Schocher davon aus, dass die Deklamation
„dem Verstande Richtung und dem Gefühle Anstos zu geben vermag“
(Schocher 1791, 17). Gustav Anton von Seckendorff zeigt sich in der Einleitung
zu seiner Schrift zur Deklamation davon überzeugt, dass das einfache Volk
allein durch das Hören auf das gesprochene Wort gebildet und kultiviert
werden könne: „Was Bücher in Jahren nicht zu bewirken, wohin Bücher die
Kultur in Jahren nicht zu führen vermögen, das ist Rednern in sehr kurzer Zeit
möglich.“41 Insbesondere Heinrich August Kerndörffer befasst sich ausführ-
lich mit den Möglichkeiten, mittels der Deklamation bildend auf das Gemüt
Dritter einwirken zu können. Er zählt die Deklamation zu den „veredelnden
Musenkünsten“ und spricht ihr die Kraft zu, „den Menschen der Knechtschaft
grober Sinnlichkeit und wilder Leidenschaften zu entziehen“ und „ihn durch

38 Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, S. 12.


39 Vgl. Welsh, Hirnhöhlenpoetiken, S. 44ff.
40 Vgl. ebd., S. 50.
41 Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd. 1, S. 10.

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 57

die Kultur seiner vernünftigen Natur zur Selbstbeherrschung zu gewöhnen.“42


Dem im Sinne des aufklärerischen Tugendideals gefestigten Redner dient „das
in den Zuhörern für sich erregte und genährte, lebhafte Interesse für sich und
die Sache dazu, seine Ideen und Gefühle mit Leichtigkeit und Sicherheit, und
mit Hülfe der süßen Magie einer geistigen Verwandtschaft in die Gemüther
der Zuhörer zu verpflanzen.“43 Der Redner trete „mit seinen Zuhörern in
ein eigenes, schönes, trauliches Verhältnis […] des einseitigen Mittheilens
und des Empfangens, indem der Zuhörer, als empfangender Theil, in süß
schmeichelnder Begeisterung […] den Gang gehet, welchen der Mittheilende
ihm vorzeichnet“. Der Hörende entschließe sich in diesem Prozess, „die eigene,
innere Thätigkeit durch die Einwirkung eines Anderen bestimmen zu lassen.“44
Diese Positionen aus dem Umfeld der Deklamationsbewegung zeigen auf, in
welchem Ausmaß Konzepte wie das Resonanz-Modell dem Deklamierenden
die Macht zusprechen, auf sein Publikum unmittelbar affizierend einzu-
wirken. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche Dringlichkeit das ein-
gangs referierte Projekt einer Normierung der gesprochenen Sprache für einen
Autor wie Schocher haben muss: Nur derjenige Deklamierende ist für die ihm
zugedachte pädagogische Rolle prädestiniert, dem das ästhetische Ideal des
mittleren Ausdrucks durch stete Übung Natur geworden ist. Damit ein solches
Einüben des mittleren Ausdrucks überhaupt erst möglich wird, muss diese
Ästhetik des mittleren Ausdrucks zunächst in Form von Ausspracheregeln
definiert werden. Schocher profiliert in diesem Zusammenhang die Wissen-
schaftsfähigkeit der Deklamation und er vertritt die Ansicht, dass sich durch
empirische Verfahren natürliche Gesetze der Aussprache aufspüren lassen
müssten. Damit die einmal formulierten Regeln des Sprechens dann erlern-
bar werden, fordert Schocher in einem zweiten Schritt ein visuelles Dar-
stellungssystem, das die Prosodie der gesprochenen Sprache (ähnlich wie
eine Musikpartitur) lesbar machen soll. Wie deutlich wurde, tut sich dabei
ein Widerspruch auf zwischen dem ästhetischen Ideal einer natürlichen,
lebendigen mündlichen Rede einerseits und andererseits dem Versuch, die
Prosodie im medialen Paradigma des Buchstabens graphisch festzuschreiben
und zu definieren. Dieser Widerspruch wird von Schocher ausgeblendet,
verweist jedoch auf die Kernproblematik des Schocherschen Deklamations-
projektes: Der propagierte lebendige, natürliche und unmittelbare sprach-
liche Ausdruck erweist sich als ein Produkt vielfacher medialer Vermittlung,
ästhetischer Regulierung und sorgfältiger Einübung.

42 Kerndörffer, Anleitung zur gründlichen Bildung der öffentlichen Beredsamkeit, S. 23.


43 Ebd., S. 27.
44 Ebd.

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58 Martin Danneck

In der schwer kontrollierbaren Aufführungssituation gibt sich das Ideal des


mittleren Ausdrucks jedoch selbst dann noch als äußerst prekär zu erkennen.
Es ist jederzeit möglich, dass der Sprechende in die Extreme des aristo-
kratischen Manierismus oder des plebejischen Barbarismus verfällt und auf
diese Weise das bürgerliche Bildungsprojekt ad absurdum führt.

Literatur

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Lebendige Rede, tote Buchstaben 59

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Reinhart Meyer-Kalkus

Dramenvorlesen als Kunst – das Beispiel


Ludwig Tiecks

Dass das Vorlesen literarischer Texte und vor allem von Dramen zu den
genuinen „Praktiken lebendiger Darstellung“ gehört, ist eine der Entdeckungen
der Diskussionen in Ästhetik und Vortragslehre um 1800. Goethe beschrieb
sie am Beispiel von Shakespeare-Dramen: Der Stimme eines womöglich un-
sichtbaren Vorlesers lauschend, ist uns, als ob wir einen Blick in den inneren
Schaffensprozess der Einbildungskraft werfen könnten und Zeuge der Ent-
stehung des Dramas würden. Eine innere Hörbühne baut sich auf, wo wir das
Vorgetragene fast intensiver noch als mit dem leibhaftigen Auge zu verfolgen
meinen.1 Bildschaffender als alle Medien, wirkt die durchs gesprochene Wort
angeregte Phantasie der Zuhörer. Dass diese Entdeckung ausgerechnet von
einem Autor formuliert wird, der 26 Jahre lang selbst als Theaterintendant
tätig war, ist nicht ohne Ironie, als ob sich seine vormals überschwänglichen Er-
wartungen in die Bildungsfunktion der Theaterbühne erschöpft hätten und er
Dramen nun primär wieder als Teil der Literatur, ja der Dichtung betrachtete.2
Eine solche Hochschätzung des akusmatischen Vorlesens dramatischer
Texte setzte sich freilich in Gegensatz zu konventionellen Auffassungen der
Zeit, wonach Dramen allein für die Aufführung auf Theaterbühnen bestimmt
sind. Selbst Hegel entrichtete diesen noch seinen Tribut. Hatte er doch aus
prinzipiellen Gründen keine hohe Wertschätzung fürs laute Vorlesen, dem er
eine geringere „Abstraktions-Fähigkeit“ als dem „tauben“, also stillen Lesen
bescheinigte.3 Für besonders verfehlt hielt er es als Mittel zur Vergegen-
wärtigung von Dramentexten. Denn deren Ziel sei es, „eine gegenwärtige

1 Johann Wolfgang von Goethe, „Shakespeare und kein Ende!“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe,
Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815, hg. von Friedmar
Apel, Frankfurt a.M., 1998, S. 638–639; vgl. ders., „Dramatische Vorlesungen (1828)“, in: ders.,
Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 22: Ästhetische Schriften 1824–
1832: über Kunst und Altertum, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M., 1999, S. 475.
2 In diesem Sinne verstand Tieck Goethes theaterkritische Äußerungen und das Lob des
Vorlesens von Shakespeare-Dramen in den 1820er Jahren: Zwischen der Bühne und der
deutschen Literatur habe sich „eine große Kluft befestigt“. Ludwig Tieck, „Einleitung“, in:
ders., Dramaturgische Blätter, 2 Bde., Breslau, 1826, Bd. 1, S. 2.
3 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundrisse (1830), Teil 3: „Die Philosophie des Geistes; mit den mündlichen Zusätzen“, in:
ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, Frankfurt a.M., 1970, S. 271–277, hier S. 277 (§459).

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_005


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62 Reinhart Meyer-Kalkus

Handlung ihrer Gegenwart und Wirklichkeit nach darzustellen“, es würde „in


Widerspruch mit seinem eigenen Zwecke geraten, wenn es auf die Mittel be-
schränkt bleiben müßte, welche die Poesie als solche zu bieten imstande ist“.4
Hegel meinte sogar, dass Dramen eigentlich nicht gedruckt werden sollten, es
reiche aus, wenn sie wie bei den Alten lediglich als Manuskript für die Bühnen-
praktiker verfügbar wären.5 Das Dramenvorlesen sei „immer nur ein un-
befriedigendes Mittelding zwischen dem anspruchslosen eigenen Lesen, bei
welchem die reale Seite ganz fortfällt und der Phantasie überlassen bleibt, und
der totalen Exekution“.6 An der Vehemenz dieser Polemik lässt sich ablesen,
welche gesellschaftliche Verbreitung und Akzeptanz das Dramenvorlesen in-
zwischen gefunden hatte.
Hegels Prämisse, wonach sich Rede und Gegenrede des Dramas nicht mit der
inneren Vorstellung begnügen dürften, zogen Autoren wie Goethe und Ludwig
Tieck in Zweifel. War nicht auch das Drama ein Werk der Dichtung, und zielte
es nicht, wie jedes dichterische Wort, auf die Affizierung und Aktivierung der
Einbildungskraft? War eine durchs Vorlesen aufgebaute innere Hörbühne nicht
sogar empfänglicher und empfindlicher für Figuren, Bilder und Stimmungen
des Dramas als das Theater?
Ludwig Tieck war in vieler Hinsicht der eigentliche Begründer des Dramen-
vorlesens in Deutschland, auch wenn es dieses Vortragsformat vereinzelt
schon vor ihm gab.7 Er verstand das Dramenvorlesen als eigene, vom Theater-
spiel unabhängige Kunstform. Deren Ziel sei es, die „schaffende Phantasie“
der Zuhörer zum aktiven Mitvollzug anzustacheln. In seinem Aufsatz Über
das Tempo, in welchem auf der Bühne gesprochen werden soll hat er diese Ziel-
setzung begründet und dabei ähnliche ästhetische Prämissen wie Goethe zu-
grunde gelegt8:

4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzig
Bänden, Bd. 15, Frankfurt a.M., 1970, S. 504.
5 Ebd., S. 509.
6 Ebd., S. 510.
7 Vgl. Irmgard Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert. An-
schauungen über das Wesen der Sprechkunst vom Ausgang der deutschen Klassik bis zur Jahr-
hundertwende, Weimar, 1940, S. 181–200.
8 Schon der junge Herder hatte dazu die Stichworte gegeben: „[…] die einzige schöne Wissen-
schaft, die Poesie, wirkt durch Kraft. – Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch
Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist
das Wesen der Poesie […]“ Johann Gottfried Herder, „Kritische Wälder. Erstes Wäldchen“
(1769), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, hg. von
Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M., 1993, S. 194; vgl. den 107. Humanitätsbrief, in: ders., Werke
in zehn Bänden, Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. von Hans Dietrich Irmscher,
Frankfurt a.M., 1991, S. 577f.: „Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft und Gemüt,
das Land der Seelen.“

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Dramenvorlesen als Kunst 63

Die wunderbare Fähigkeit unserer Seele, in der Zeit Eindrücke vermöge der
Worte einen nach dem anderen aufzunehmen und aus ihnen Bilder, Gedanken,
Überzeugungen und Ideen zu bilden und zu finden, hat die redenden Künste,
Poesie, Musik, Beredsamkeit und alle Erscheinungen hervorgebracht, durch
welche die tieffsten und heftigsten Leidenschaften, die seligste Beruhigung,
Thränen der Rührung und Lachen der Lust und Freude, die seltsamsten Vor-
stellungen und die Sprünge der Laune abwechselnd unseren Geist beherrschen.
Es läßt sich vielleicht eine Regel aufstellen, gewiß aber darüber nachdenken, in
welchem Zeitmaß die Worte einander unter gegebenen Bedingungen ablösen
müssen, um den nothwendigen und bezweckten Eindruck hervorzubringen, und
unsere Seele so zu erschließen, daß sie in aufgeregter Kraft durch die schaffende
Phantasie alle die einzelnen Laute, Bilder und Redetheile so zu einem Ganzen
verbindet, damit jene seltsame Täuschung möglich sei, die die Passivität des Zu-
hörers in so große Aktivität verwandelt, daß er mit dem Dichter dichtet und fast
ebensoviel Geist als dieser hinzufügt, um wahrhaft das Kunstwerk, hier und dort
gleichsam zwischen beiden getheilt, zu erschaffen.9

Entscheidend für die darstellenden bzw. redenden Künste ist demnach die
Weckung der „schaffenden Phantasie“ des Zuhörers, die aus Worten und
Tönen Vorstellungen aufbaut und Bilder und Reden zum Ganzen fügt. Waren
die Prämissen dieser Überlegungen schon von Lessing, Herder und Goethe
in die ästhetische Diskussion eingeführt worden, so ist Tiecks Schlusspointe
doch durchaus kühn und originell: Das Kunstwerk wird zwischen dem Dichter
und dem zu höchster Phantasietätigkeit angeregten Zuhörer – „gleichsam
zwischen beiden getheilt“ – geschaffen. Es ist nichts, was ein für alle Mal
für sich selbst besteht, sondern gelangt erst in der Vorstellung der Zuhörer
zur vollen Existenzweise. Durch solche „Täuschung“ könne eine „ächte Be-
geisterung“ geweckt werden, ja es sei möglich, „jene überirdischen Gefühle zu
erregen, jene Anschauungen und Erschütterungen, die dem Ungerührten jen-
seits des menschlichen Vermögens zu liegen scheinen“.10 Das ist der Kern von
Tiecks Konzeption des Dramenvorlesens als Kunstform.
Carl Gustav Carus hat einmal resümiert, was er selber Tiecks Lesungen ver-
dankte: „[…] es sei dadurch in mir das gewirkt worden, was jede echte Lectüre
wirken soll, nämlich ein tieferes Hineinschauen in die eigne Brust und auf
echte Lebenskunst, und ein freieres Hinausschauen auf eine unendliche Welt“.11
Diese Äußerung verdient, als Formel für die Wirkung gelungener literarischer
Vortragskunst in der Romantik festgehalten zu werden. Ihre kunstreligiösen
Obertöne sind nicht zu überhören. Seit Klopstock das literarische Vorlesen als

9 Ludwig Tieck, „Über das Tempo, in welchem auf der Bühne gesprochen werden soll“, in:
ders., Dramaturgische Blätter, Bd. 2, S. 253–271, hier S. 258.
10 Ebd., S. 259.
11 Carl Gustav Carus, Ludwig Tieck. Zur Geschichte seiner Vorlesungen in Dresden, Dresden,
1845, S. 16.

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64 Reinhart Meyer-Kalkus

eine Art von Kunstandacht begründet hatte, waren solche Überformungen


ästhetischer Erfahrungen durch religiöse Konzepte in Deutschland üblich, und
dies zumal im Kontext der romantischen Ironie: im Endlichen sollte Unend-
liches, im Zeitlichen Ewiges aufscheinen.
Tiecks Dramenlesungen in seiner Dresdner Zeit (1819–1844) fanden eine er-
staunlich breite Resonanz.12 Seine Gäste waren Freunde des Hauses und deren
Bekannte, durch die Stadt reisende Gelehrte, bildende Künstler und Schrift-
stellerkollegen.13 Sein Salon, der mit Büsten von Dante, Goethe und ihm selbst
geschmückt war, fasste 30 bis 50 Zuhörer. Im Unterschied zu professionellen
Rezitatoren und Vorlesern, die für ihre Darbietungen vor anonymem
Publikum Eintrittsgeld verlangten, hatten Tiecks Leseabende „eine eigenartige
Mittelstellung zwischen einer Hausgesellschaft und einer öffentlichen Dar-
bietung“14. Sie waren nichtkommerzielle private Veranstaltungen, zugleich
aber öffentliche Ereignisse, die für allgemeines Aufsehen über Dresden hinaus
sorgten und einen „europäischen Ruf“15 erlangten.
Die Regie der Abende unterlag strikten Regeln, deren Einhaltung die Gräfin
Finckenstein überwachte. Sie begannen mit einem etwa zwanzigminütigen
Begrüßungstee, woran sich Tiecks gewöhnlich bis zu drei Stunden dauernde
Lesung anschloss, die er lediglich mit einigen Worten zum jeweiligen Inhalt
des Dramas und zu den handelnden Personen einleitete; beendet wurden
die Abende mit einer Aussprache zwischen dem Vorleser und einigen seiner

12 Vgl. Carus, Ludwig Tieck, S. 16; Rudolf Köpke, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben
des Dichters, 2 Bde., Leipzig, 1855; Max Remy, „Ludwig Tieck als Vorleser und seine Nach-
folger“, in: Mehr Licht!, 1879, Nr. 42, S. 668–671; Nr. 43, S. 686–688; Georg Beutel, „Tiecks
Vorlesungen in Dresden“, in: Dresdner Geschichtsblätter 22, 1913, S. 57–68; Weithase,
Die Geschichte der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert, S. 200–223; dies., Zur
Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen, 1961, Bd. 1, S. 548–551;
Maximilian Weller, Die fünf großen Dramenvorleser (Tieck, Schall, Holtei, Immermann,
Palleske). Zur Stilkunde und Kulturgeschichte des deutschen Dichtungsvortrags von 1800–
1880, Würzburg-Aumühle, 1939, S. 28–77; Roger Paulin, Ludwig Tieck. Eine literarische Bio-
graphie, München, 1988, S. 207–210; Klaus Günzel, „‚Das beste Theater in Deutschland‘.
Literarische Leseabende bei Ludwig Tieck am Dresdner Altmarkt“, in: Ludwig Tieck:
Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, hg. von Walter Schmitz,
Tübingen, 1997, S. 161–167; Janet Boatin, „Der Vorleser“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk –
Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, Berlin/Boston, 2011, S. 177–189.
13 Vgl. Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 67–70. – Unter den auswärtigen Gästen waren u.a. Jean
Paul, Willibald Alexis, Christian Dietrich Grabbe, Ludwig Hauff, Franz Grillparzer, Adolf
Müllner, Friedrich Rückert, Adolf Stahr, Adolf Friedrich von Schack, Peter von Cornelius,
Johann Gottfried Schadow, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, David Strauß, Karl Hase,
Heinrich Abeken, die dänischen Dichter Oehlenschläger und Andersen und der Bild-
hauer Thorwaldsen. Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 65.
14 Weller, Die fünf großen Dramenvorleser, S. 45.
15 Carus, Ludwig Tieck, S. 12.

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Dramenvorlesen als Kunst 65

Zuhörer über das Gehörte.16 Ein solcher Abend konnte von 18.00 bis 22.00 Uhr,
d.h. bis zu vier Stunden dauern.
Anders als etwa in Berliner Salons machte schon das äußere Arrangement
deutlich, dass hier das dramatische Kunstwerk im Mittelpunkt stehen sollte.
Dem Philologen und literarischen Connaisseur Tieck dienten die Lesungen
zur Begegnung oder Wiederbegegnung mit Werken der dramatischen Welt-
literatur, und dies sollte auch für seine Zuhörer gelten. Die übliche gesellige
Konversation, wie sie in anderen Salons gepflegt wurde, war deshalb un-
erwünscht. Den Herren war das Rauchen, den Damen das Stricken untersagt.17
Wer zu spät kam, wurde meistens nicht mehr eingelassen. Tieck nahm an
einem kleinen Tisch in der Mitte des Saals in einem Lehnstuhl Platz, während
sich die Zuhörer im Halbkreis um ihn scharrten, teils sitzend, teils stehend.18
Zeitgenössische Berichte dieser Abende unterstreichen den ergreifenden
Kontrast zwischen der körperlichen Gebrechlichkeit des Vorlesers – infolge
einer Gichterkrankung war er stark gekrümmt – und seinem ausdrucksvollen,
geschmeidigen Stimmorgan.19 Auf alle Gesten verzichtend, konnte er sich
auf seine Stimme und eine andeutende Mimik verlassen. Seine vorzügliche
Sprech- und Atemtechnik sowie die günstigen raumakustischen Verhältnisse
erlaubten ihm, Dramen in ungekürzter Länge, nicht selten auch zwei kleinere
Dramen ohne längere Pause hintereinander vorzulesen. Berichten lässt sich
entnehmen, dass diese Lesungen für unvorbereitete Zuhörer oft zur Gedulds-
probe wurden, gespickt mit Müdigkeitsanfällen und Minutenschlaf.
Im Zentrum der Lesungen standen die Werke von Shakespeare in den gerade
entstandenen neuen Übersetzungen aus Tiecks Freundeskreis, daneben
Dramen von Calderón, Lope de Vega, Goethe, Kleist und von ihm selbst (wie

16 Aus den Erinnerungen Hermann von Friesens, zitiert nach der Auswahl aus Tiecks
theaterkritischen Schriften und Zeugnissen von Zeitgenossen: Hermann Kasack und
Alfred Mohrhenn (Hg.), Die Gefährten, Bd. 2: Ludwig Tieck, Berlin, 1943, S. 258.
17 Helmina von Chézy, Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben, 2 Bde., Leipzig,
1858, Bd. 2, S. 103. C. G. Carus beschreibt die „erzwungene Spannung“ unter den Zuhörern:
„War das Lesen begonnen, so herrschte eine stillschweigende Uebereinkunft Aller, jeder,
auch der kleinsten Störung sich zu enthalten, Späterkommende nahmen auf das leiseste
Platz; Abgerufene […] glitten möglichst unbemerkt durch die nie knarrende Thüre […]“.
Carus, Ludwig Tieck, S. 13.
18 Vgl. Alexander von Sternbergs Zeichnung „Tieck als Vorleser“, die 1861 in der Zeitschrift
Die Gartenlaube erschien, wieder abgedruckt in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung,
Abb. 1.
19 „Sein Organ kam mir noch schöner vor als das Goethes, bei dem doch zuweilen eine ge-
wisse Härte fühlbar wurde, während hier alles ebenso wohltönend und weich wie kräftig
und klangvoll war.“ So charakterisierte Eduard Genast Tiecks Stimme, nachdem er eine
der abendlichen Vorlesungen gehört hatte, in: Eduard Genast, Aus Weimars klassischer
und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers, neu hg. von Robert Kohl-
rausch, Stuttgart, 1905, S. 166.

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66 Reinhart Meyer-Kalkus

Der gestiefelte Kater, Fortunat, Kaiser Octavianus, Der Blaubart und Leben und
Tod der heiligen Genoveva). Um Schillers Dramen machte er hingegen, ab-
gesehen von den Räubern, einen Bogen, da er das Rhetorisch-Deklamatorische
scheute und einen Kampf gegen die Epigonen des ‘klassischen‘ Schiller
führte.20 Natürlich fehlten auch die antiken Dramatiker nicht, doch zog er es
vor, etwa Aristophanes’ Werke wegen ihrer sexuell drastischen Anspielungen
nur in kleiner Herrenrunde außerhalb seines Salons vorzutragen. Auf lyrische
Texte verzichtete er dagegen vollends, während er epische Texte nur verein-
zelt wählte. Einmal trug er das Nibelungenlied an zwei aufeinanderfolgenden
Abenden vor, und Jean Paul, als dieser ihn besuchte, zu dessen Begeisterung
Des Feldpredigers Schmelzles Reise nach Flätz.
Mit dieser Konzentration auf das Drama verfolgte Tieck eine kaum ver-
hohlene Absicht. Gerade in jenen Jahren, als er als Dramaturg am Dresdner
Hoftheater tätig war (offiziell von 1825–1842), schuf er sich hier sein eigenes
„Einmanntheater“21, wo er als Intendant, Regisseur, Dramaturg und Darsteller
in einer Person agieren konnte. Was er am Theater nicht hatte zur Aufführung
bringen können oder was ihm an dessen Inszenierungen missfallen hatte,
konnte er hier in anderer Weise vergegenwärtigen. In vieler Hinsicht waren
seine Dramenlesungen eine „Antwort auf die Zustände am Dresdner Hof-
theater, die der Dramaturg trotz ernsthafter Bemühungen in den zwanziger
Jahren nicht zu ändern vermochte“.22 Wie später für Karl Kraus und andere
Vorleser erfüllte das Dramenvorlesen eine kritische und unterschwellig sogar
polemische Funktion gegenüber dem aktuellen Theaterbetrieb, der ihm nach
eigenem Bekunden „Verdruß“ bereitete.23
Tieck las Autoren und Werke vor, von deren literarischer Qualität er über-
zeugt war und die er bekannter machen wollte, etwa die Dramen Calderóns24,
der im Schatten von Shakespeare stand, oder den fast unbekannten Heinrich
von Kleist, dessen Werke er herausgab.25 Das Dramenvorlesen wurde,

20 Vgl. Ludwig Tieck, „Die Piccolomini. Wallensteins Tod“, in: Dramaturgische Blätter, Bd. 1,
S. 55.
21 Günzel, „‚Das beste Theater in Deutschland‘“, S. 166.
22 Heike Müller-Merten, „Von Tieck bis Wolff – die Entwicklung von Theaterprogrammatik
und Dramaturgie am Dresdner Schauspiel“, in: Dresdner Hefte 22/79, 2004, S. 68–76, hier
S. 70; vgl. Peter Reinkemeier, „Der Dramaturg“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung,
S. 408–423, bes. S. 409f.
23 Vgl. Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 177.
24 So setzte Tieck sich für Calderóns Dame Kobold, die vom Dresdner Theaterpublikum ab-
gelehnt worden war, durchs Vorlesen ein, vgl. Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 62.
25 Karl Wilhelm Ferdinand Solger hat von dieser Kleist-Lesung berichtet: „Tieck las uns beim
Tee einen nachgelassenen Anfang einer Tragödie von Heinrich Kleist, betitelt Robert
Guiscard, vor. Ich hörte das Fragment mit tiefer Bewunderung und ebenso tiefer Trauer

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Dramenvorlesen als Kunst 67

vergleichbar der Literaturkritik, zu einem Instrument, um auf verborgene


oder verkannte Schätze der literarischen Überlieferung oder der Gegenwarts-
literatur aufmerksam zu machen. Tieck wurde damit zum Ahnvater späterer
Vortragskünstler wie Karl Kraus und Ludwig Harth, die mit ihren öffentlichen
Lesungen gezielt in die literarische Kanonbildung eingriffen, um Werke und
Autoren abseits der üblichen Theaterspielpläne und des gymnasialen Schul-
lesestoffs zu Gehör zu bringen.
Vielen zeitgenössischen Zeugen und selbst noch den wenigen modernen
Literaturwissenschaftlern, die sich mit diesen Leseabenden beschäftigten, fiel
es schwer, die Unterschiede von Tiecks Vortragsweise gegenüber einer Theater-
deklamation zu erkennen. Immer wieder wurde beides miteinander identi-
fiziert, als ob das Dramenvorlesen nur eine andere Form des Schauspielens
wäre.26 Dabei ließ es Tieck nicht an entschiedenen Abgrenzungen fehlen. So
betrachtete er das Vorlesen von Dramen keineswegs als Ersatz für die Theater-
bühne, sondern als eigenständige Kunstform mit eigenen Ausdrucksmitteln.
Und auch die ästhetischen Ansprüche, die er mit dem Vorlesen verfolgte,
standen denen des Theaters nicht nach. Der Vorleser könne ein Kunstwerk
schaffen, „welches die Wirkung der Bühne überbiete“, sagte er einmal.27 Wenn
man diese Spannung gegenüber dem zeitgenössischen Theaterbetrieb nicht
berücksichtigt, verkennt man die eigentlichen Absichten, die Tieck mit seinen
Dramenlesungen verfolgte.
Als Vorleser muss Tieck – nach den zeitgenössischen Berichten – ein
kongenialer Interpret literarischer Texte gewesen sein. Für seine Vorlagen
hatte er eine schlafwandlerisch sichere Auffassungsgabe, sowohl für die
Details wie für den Gesamtorganismus und dessen Spannungskurven. Das
Pathetische gelang ihm offenbar ebenso gut wie das Komische, das Heftige
wie das Zarte, das Realistische wie das Phantastische.28 Sein dichterisches
Sensorium und die Intuition für den Formverlauf dramatischer Werke müssen
phänomenal gewesen sein. Eine besondere Begabung hatte er für die Komik

um den Verlust des Ganzen und des Dichters, und wir waren einig, daß es, in gleicher
Schönheit vollendet, nicht allein Kleists Meisterstück, sondern eins der größten Werke
deutscher Kunst geworden sein dürfte.“ K. W. F. Solger an seine Frau am 30.3.1817, zit.
nach: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 1, hg. von Ilse-
Marie Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M., 1991, S. 682.
26 J. Boatin spricht etwa von einer „Parallele zwischen Theater und Autorenlesung“ und
einer „Analogie zum Theaterraum“, vgl. Boatin, „Der Vorleser“, S. 181.
27 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 69.
28 Besucher von Tiecks Vorleseabenden rühmten seine besondere Begabung für das
Phantastische und Humorvolle – etwa bei der Lesung der Elfenszene im Sommernachts-
traum. Vgl. einen entsprechenden Bericht der englischen Schriftstellerin Jameson, zit. bei
Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 211.

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68 Reinhart Meyer-Kalkus

von charakteristischen Stimmregistern und Sprechweisen. Bei Lustspielen und


leichterem Unterhaltungsstoff wie Konversationsstücken konnte er sogar, an-
gestachelt von der Heiterkeit der Zuhörer, mit der Kunst des Extemporierens
brillieren – was er sich bei tragischen Stücken versagte.29 Offenbar besaßen
Tragödien in seiner Wertschätzung einen strengeren Werkcharakter und ver-
langten den unbedingten Respekt vor ihrem Wortlaut.
„So kann nur ein Dichter das Kunstwerk gleichsam aufs neue erzeugen!“,
soll Karl Forster einmal ausgerufen haben.30 Gewiss kannte er die meisten
Werke bereits durch vorangegangene Lektüren, und er pflegte offenbar auch
keine Leseproben zu machen, sondern verließ sich auf Intuition und schnelles
Reaktionsvermögen. Solche Schöpfungen aus dem Augenblick dürften nicht
wenig zum starken Eindruck seines Vortrags beigetragen haben. „Nirgends war
eine gewaltsame Anspannung der Kraft, eine hervorstechende Betonung, ein
Zwang der Stimme oder ein künstlich berechnetes Mienen- und Gebärdenspiel
zu bemerken“, schrieb nach einer Dresdner Lesung der Shakespeare-Forscher
Hermann Freiherr von Friesen in seinen Erinnerungen. „Und doch wußte er in
der Stimme, Betonung und dem Rhythmus so feine und sichere Schattierungen
anzubringen, daß man das Nennen der Namen von den sprechenden Personen
niemals vermißte.“31
Sein Freund Carl Gustav Carus fasste einmal in drei Punkten zusammen,
was Tiecks Vortragskunst auszeichnete:

Erstens die Individualität des Lesenden, die reiche Erfahrung, die ausgebreitete
Gelehrsamkeit, die feine attische Bildung, das sonore, tief innerlich aufklingende
Organ der Rede und die eigene hohe Dichtergabe in ihm. Aus diesen erklärt sich,
warum, wenn er einen Dichter in seinen Werken uns vorführte, wir so leicht in
den Dichter selbst uns zu versenken vermochten, warum wir oft den Lesenden
selbst dabei vergaßen, und nun um so mehr mit ihm in die mächtige Idee des

29 Der Schauspieler Eduard Genast berichtet von einer Lesung von Holbergs Lustspiel Der
Vielgeschäftige: „Zu diesem Stück, das ein flotter Leser, der sich nur an den Text hält,
in zwei Stunden beendet, brauchte er deren drei, denn er war in bester Laune und ex-
temporierte in einem fort so hochgenial und so hochkomisch dazu, daß des Lachens und
der Bewunderung kein Ende war.“ Genast, Aus Weimars klassischer und nachklassischer
Zeit, S. 184.
30 Zit. nach Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 61.
31 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 256 (aus den Erinnerungen Hermann von Friesens).
So auch Heinrich Schmidt: Tiecks stimmliche Differenzierungsfähigkeit sei so groß ge-
wesen, dass er die jeweiligen Dramenfiguren lediglich prosodisch durch die „Nuancierung
des Tons für die verschiedenen Personen und Geschlechter“ bzw. durch „Abstufung
der Stimme“ deutlich zu machen verstand. Heinrich Schmidt, Erinnerungen eines
Weimarischen Veteranen aus dem geselligen, literarischen und Theater-Leben, Leipzig, 1856,
S. 56f. „In der Rolle des Clarin (in Calderóns Das Leben ein Traum) und im Vortrag weib-
licher Partien gab Tieck einen überraschenden Anklang von der Modificationsfähigkeit
seiner Stimme, das Komische und Zarte auszudrücken.“ Ebd., S. 57.

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Dramenvorlesen als Kunst 69

vorgetragenen Werkes eindringen konnten. – Zweitens ein gewisser, bei diesen


Lesungen eingeführter Cultus, eine gewisse Feierlichkeit und Andacht, welche
auch die leiseste Unterbrechung nicht duldete und nur dadurch es möglich
machte, ein ganzes Werk auch wirklich als ein ganzes und nicht als ein Stück-
werk zu fassen. – […] Drittens endlich kam bei diesen Lektüren in Betracht die
Wahl des Vorzutragenden. – Nicht, daß immer nur das allerausnehmendste, das
größte, das geistvollste gewählt worden wäre, auch manches leichte heitere Werk
kaum auf das Repertoire; allein immer blieb entfernt das philisterhaft Leere, das
blos Moderne, das in sich Nichtige […].32

Besonders der zweite Punkt verdient Beachtung: Die im Hause Tieck


herrschende Kultsphäre, „Feierlichkeit und Andacht“ waren eine andere Welt
als die zahllosen geselligen Lesezirkel, die sich in diesen Jahrzehnten in vielen
Salons deutscher Städte herausbildeten, bei denen auch Dramen vorgelesen
wurden. Was Tieck mit seinen Vortragsabenden anstrebte, war ein Zuhören
um der Werke willen, ein ästhetisches Zuhören, abseits aller Gebrauchs-
formen, die zur Unterhaltung oder zur religiösen Erbauung dienten oder vom
Vortragenden zu Zwecken der Selbstdarstellung missbraucht wurden. In der
Geschichte der literarischen Vortragskunst stellen seine Lesungen – gegen-
über der von Klopstock begründeten Kunstandacht – einen weiteren Schritt
auf dem Weg zur Autonomie des Vorlesens als eigener Kunstgattung dar.
Welches waren die stimmlichen Ausdrucksmittel, deren sich Tieck be-
diente? Am 9. Oktober 1828 trat er in der Privatwohnung von Goethes
Schwiegertochter Ottilie in Weimar auf. Er las dort – übrigens in Abwesen-
heit des Dichters – Goethes Clavigo vor. Johann Peter Eckermann hat diese
Dramenlesung so präzise beschrieben, dass man das ganze Arsenal von Tiecks
Kunstmitteln zu erkennen glaubt:

[…] Nachdem jeder es sich in einem weitern Kreis auf Stühlen und Sophas zum
Anhören bequem gemacht, las Tieck den ‚Clavigo‘. Ich hatte das Stück oft ge-
lesen und empfunden, doch jetzt erschien es mir durchaus neu, und tat eine
Wirkung wie fast nie zuvor. Es war mir, als hörte ich es vom Theater herunter,
allein besser; die einzelnen Charaktere und Situationen waren vollkommen ge-
fühlt; es machte den Eindruck einer Vorstellung, in der jede Rolle ganz vortreff-
lich besetzt worden. Man könnte kaum sagen, welche Partien des Stückes Tieck
besser gelesen, ob solche, in denen sich Kraft und Leidenschaft der Männer ent-
wickelt, ob ruhig klare Verstandes-Szenen, oder ob Momente gequälter Liebe.
Zu dem Vortrag letztere Art standen ihm jedoch besondere Mittel zu Gebot.
Die Szene zwischen Marie und Clavigo tönet mir noch immer vor den Ohren;
die gepreßte Brust, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halb
erstickte Worte und Laute, das Hauchen und Seufzen eines in Begleitung von
Tränen heißen Atems, alles dieses ist mir noch vollkommen gegenwärtig und
wird mir unvergeßlich sein. Jedermann war im Anhören versunken und davon

32 Carus, Ludwig Tieck, S. 13f.

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70 Reinhart Meyer-Kalkus

hingerissen […] Tränen in den Augen der Frauen, die immer wieder hervor-
quollen, zeugten von des Stückes tiefer Wirkung, und waren wohl der gefühlteste
Tribut, der dem Vorleser wie dem Dichter gezollt werden konnte.33

Eckermann registriert die reiche Palette von vokalen Ausdrucksmitteln, die


Tieck beim Vorlesen einsetzte: die Individualisierung der einzelnen Dramen-
rollen, und zwar so, dass eine Personen-Angabe gar nicht mehr notwendig war,
die zurückhaltende, aber unzweideutige Charakterisierung der Geschlechter,34
ein Repertoire von Formen leidenschaftlichen Sprechens mit Stockungen und
Zittern der Stimme, Hauchen, Seufzen und tiefem Ein- und Ausatmen, weiter-
hin die Fähigkeit, Situationen oder Szenen in ein treffendes Stimmungslicht
zu tauchen, nicht zuletzt die Gabe, die Zuhörer für die Dauer von mehreren
Stunden zu fesseln und zum Mitvollzug zu veranlassen.
Wie aus Eckermanns Beschreibung zu erkennen ist, pflegte Tieck eine ge-
mäßigte Vortragskunst ohne alle Gestikulation und mit nur andeutendem
Mienenspiel. Er äußerte sich selber einmal dazu:

Obgleich ich im Affecte mit dem jedesmaligen Charakter gewissermaßen Eins


werde, so habe ich mir doch selbst dann so viel Ueberblick zu bewahren gesucht,
daß ich mich im Augenblicke tadeln konnte ein Wort unrichtig betont zu haben.
Das ist die richtige Stimmung für den Vorleser wie für den Schauspieler und
Künstler überhaupt; es ist das hier die Ironie. Der Ton des Vorlesers darf nie die
Grenzen dessen überschreiten, was ich immer den edlern Conversationston ge-
nannt habe. Auch im Tragischen darf das nicht geschehen, sonst wird es falsches
Pathos und Manier, Einzelnes wird herausgerissen, und der Eindruck des Ganzen
geht verloren. Aber auf dieses kommt Alles an. Das Spiel mit stark wechselnder
Stimme zu lesen, oder gar bekannte Schauspieler, wenn auch täuschend, nach-
zuahmen, ist ein Kunstgriff, der für den Augenblick Effect machen kann, aber
doch untergeordnet bleibt.35

Wenn Tieck vom ‚edlern Conversationston‘ spricht, so gebraucht er diesen


Begriff als Gegenbegriff zu dem der Deklamation –, entsprechend dem

33 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in:
Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. II/
Bd. 12, Frankfurt a.M., 1999, S. 284.
34 Tieck habe weibliche Figuren „nicht etwa durch einen höheren Ton und dünnere
Stimme“ bezeichnet, sondern „durch größere Milde“, heißt es in einem zeitgenössischen
Bericht „Tieck als Lesekünstler“, in: Blätter für literarische Unterhaltung 310, 1830; zit. nach
Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 209. Das Fistulieren weiblicher
Stimmen sei ihm hingegen verhasst gewesen.
35 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 179.

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Dramenvorlesen als Kunst 71

zeitgenössischen Sprachgebrauch.36 Er setzt sich damit von der stimmlich


und gestisch-mimisch voll instrumentierten Bühnen-Deklamation ab und
auch von „falschem Pathos und Manier“ einer Darstellung, wie sie Schau-
spieler vereinzelt auch beim Vorlesen von Dramen verwendeten. Allerdings
darf man fragen, ob dieser Begriff hier wirklich angemessen ist. Denn Tieck
gebrauchte beim Vorlesen ja seine Vortragsstimme und -haltung, die durch
größere Gespanntheit, Lautstärke und Überschreitung der mittleren Sprech-
tonlage gekennzeichnet war – was durch den zeitgenössischen Gebrauch des
Begriffs Konversationston nicht gedeckt war.37 Das als Komparativ gebrauchte
Epitheton „edler“ bzw. „edeler“ signalisiert denn auch, dass hier ein Kon-
versationston in Steigerungsform gemeint ist.
Obgleich Tieck diesen Begriff fürs Dramenvorlesen in Abgrenzung von
der Theaterdeklamation prägte, wurde er in den Schauspiellehren des 19.
Jahrhunderts aufgegriffen – ein signifikantes Beispiel für die Wirkungen, die
literarische Vortragskunst oder besser: deren Konzepte auf das Theater haben
konnten. Man ist ja gewohnt, vor allem Wirkungen in umgekehrter Richtung –
vom Theaterschauspiel auf die Vortragskunst – zu registrieren, insofern ist
dieses Beispiel bemerkenswert. So brach der wohl einflussreichste Theater-
theoretiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Heinrich Theodor Rötscher
eine Lanze für den „edleren Conversationston“ auf der Bühne. Er beschrieb ihn
als eine durch Leichtigkeit und Natürlichkeit ausgezeichnete Sprechweise, die
durchaus „mannigfaltigster Modulationen fähig“ sei, sich dabei aber von der
„Declamation“ grundsätzlich unterscheide, denn „die Declamation dringt stets
zerstörend in den Conversationston ein und raubt ihm Leben, Wahrheit und
Leichtigkeit“. Der Konversationston, wie ihn Rötscher versteht, ist der Ton der
feinen Gesellschaft und damit Ausdruck von Bildung und Kultur.38 Diesen Ton

36 Vgl. zum zeitgenössischen Sprachgebrauch von ‚Deklamation‘ und ‚Conversationston‘


Friedrich Rambach, Fragmente über Deklamation. Nebst einer Anweisung zum Gebrauche
des Odeums H. 1, 1800, S. 7.
37 Friedrich Schiller etwa verwendete den Begriff der Konversation, um damit den Naturalis-
mus der Berliner Bühnen zu charakterisieren. Gegenüber seinem Freund Ch. G. Körner
schrieb er einmal über die Maria Stuart-Darstellung der Schauspielerin Unzelmann: „Man
möchte ihr noch etwas mehr Schwung und einen mehr tragischen Stil wünschen. Das
Vorurteil des beliebten Natürlichen beherrscht sie noch zu sehr; ihr Vortrag nähert sich
dem Konversationston, und alles wurde mir zu wirklich in ihrem Munde: Das ist Ifflands
Schule und es mag in Berlin allgemeiner Ton sein. Da wo die Natur graziös und edel ist,
wie bei Mad. Unzelmann, mag man sich’s gefallen lassen, aber bei gemeinen Naturen muß
es unausstehlich sein.“ Brief vom 23. 9.1801, in: Friedrich Schiller, Briefwechsel zwischen
Schiller und Körner, hg. von Klaus L. Berghahn, München, 1973, S. 314.
38 Vgl. Heinrich Theodor Rötscher, „Der Conversationston, seine Bedeutung und seine
Grenzen“, in: ders., Dramaturgische und ästhetische Abhandlungen, hg. von Emilie

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72 Reinhart Meyer-Kalkus

wollte denn auch Heinrich Laube während seiner Intendantenzeit am Wiener


Burgtheater verbindlich machen.
Den Begriff der Ironie lässt Tieck in diesem Zusammenhang nicht von un-
gefähr fallen. Dramatische Szenen im ‚edlern Conversationston‘ vorzulesen
und dabei als Vorleser über dem Ganzen zu schweben und von den dar-
gestellten Affekten unbetroffen zu bleiben, das entsprach zum einen Tiecks
Verständnis der Ironie als einer „Form der Selbstbewältigung, die [er] seinem
Hang zu Stimmungen, seiner Art des Ausgeliefertseins an Erlebnismomente
und der Neigung zum Expressiven wie ein Korrektiv entgegenstellte“39; zum
anderen aber war dies der Stil eines werkbezogenen Vorlesens, das zeit-
genössische Vortragstheoretiker wie Karl Ludwig von Knebel und August
Wilhelm Schlegel entdeckt hatten. Was für Tieck eine Form der Ironie war, be-
schrieb etwa Schlegel als Kunst des „gemäßigten Ausdrucks“.40 Dazu gehörten
nicht nur der Abstand des Vorlesers gegenüber dem Sprachkunstwerk, ein sich
selber kontrollierendes Sprechen und der Verzicht auf alle Effekte, sondern
auch ein Darstellungsverbot der höchsten Affektstufen: „So darf das stärkste
Organ nicht die allerletzte Kraft des Tones aussprechen, weil unser Ohr, auch
beim Mächtigsten, noch etwas Ungeheurers ahnen will“, schrieb Tieck einmal
in seinen Dramaturgischen Blättern.41 Er übertrug damit auf den Vortrag, was
Lessing in seinem Laokoon für die bildenden Künste als Voraussetzung einer
Aktivierung der Einbildungskraft der Betrachter begründet hatte.42 Lessings

Schröder, Leipzig, 1864, S. 174–179, hier S. 178. Rötscher gibt ein aufschlussreiches Bei-
spiel: „So fordert der ‚Tasso‘ Goethe’s den edelsten und feinsten Conversationston, durch
welchen wir uns heimisch fühlen sollen in dem idealen Kreise, in welchen uns das Werk
versetzt, und worin wir doch zugleich keinen pathetischen Vortrag vernehmen wollen,
der uns ganz aus der Illusion einer idealen feinen Gesellschaft herauswerfen würde.“ Ebd.,
S. 176. – Schon in seinem frühen Hauptwerk Die Kunst der dramatischen Darstellung hatte
H. Th. Rötscher den Konversationston als Ideal theatralischer Rede und des Umgangstons
gebildeter Stände beschrieben: „Der freie Konversationston der höhern Stände, der die
markirten und scharfen Accente entschieden verschmäht, ist nur durch jene mühelose
Verknüpfung der Sprachelemente, das leichte Hingleiten des Tons, wodurch alle stark
hervorspringenden Accente beseitigt werden, möglich.“ Heinrich Theodor Rötscher, Die
Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen Zusammenhange wissenschaft-
lich entwickelt, Berlin, 1841, S. 148.
39 Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen,
1977, S. 140; vgl. Markus Ophälders, „Ironie bei Tieck und Solger“, in: Ludwig Tieck. Leben –
Werk – Wirkung, S. 365–376, bes. S. 367 u. 370f.
40 Athenäum-Fragment (Nr. 380), in: Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
Abt. I/Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I, hg. von Hans Eichner, Darmstadt, 1967, S. 235.
41 Ludwig Tieck, „Uebertreibung“, in: ders., Dramaturgische Blätter, Bd. 2, S. 316–319, hier
S. 316f.
42 „Dasjenige allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir
sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto

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Dramenvorlesen als Kunst 73

Konzeption der kreativen Phantasie bzw. Einbildungskraft der Rezipienten als


dem eigentlichen Organ künstlerischer Erfahrungen, das nicht durch höchste
Affektstufen in seiner Freiheit eingeschränkt werden dürfe, war auch für die
darstellenden Künste gültig.
Die Ironie bezeichnete Tieck einmal als „die Kraft, die dem Dichter die Herr-
schaft über den Stoff erhält; er soll sich nicht an denselben verlieren, sondern
über ihm stehen. So bewahrt ihn die Ironie vor Einseitigkeiten und leerem
Idealisieren“.43 Dem entsprach seine Insistenz auf dem Gesamteindruck des
Dramas, auf dem Werkcharakter, den das Vorlesen anstreben müsse. Nur so
könne es zu einer dem Theater ebenbürtigen oder in seiner Wirkung sogar
überlegenen Kunstform werden.44 Aus diesem Grunde widersetzte er sich
auch einem Dramenvorlesen mit verteilten Rollen: „Hier wird das Ganze voll-
ständig zerrissen. Einer liest erträglich, ein anderer ganz schlecht, einer fistulirt,
ein anderer hat einen knarrenden Baß, fast alle verstehen ihre Rollen nicht.“45
Nach Tieck sollten Dramenlesungen wie auch Theateraufführungen als durch-
geformte künstlerische Einheit, als ein Ganzes erscheinen. In der Vorrede zu
seinen Dramaturgischen Blättern beklagte er es deshalb, dass die Einheit des
Kunstwerks durch die Angewohnheit von Schauspielern zerstört werde, aus

mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein
Augenblick der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr
ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel
binden […]“. Gotthold Ephraim Lessing „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei
und Poesie“, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd.5/2: Werke 1766–1769, hg. von
Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 1990, S. 11–206, hier S. 32.
43 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 238f.
44 Darin darf man übrigens ein Echo der Unterweisungen durch seinen Deutschlehrer Fried-
rich Rambach (1767–1826) am Friedrichs-Werderschen Gymnasium in Berlin erblicken,
denn dieser lehrte seine Schüler, dass die Figurencharakteristik den Gesamtzusammen-
hang eines Stücks niemals sprengen dürfe. Vgl. Friedrich Rambach, Fragmente über De-
klamation H. 2, 1803, S. 33f.
45 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 179. Tieck führte u.a. aus: „In Berlin hat Feßler diese Art
des Lesens zuerst in Gang gebracht. Heutigen Tages glaubt Jedermann lesen zu können,
aber die Wenigsten verstehen es, und auch ausgezeichnete Leute täuschen sich oft darin.
Der ältere Schlegel las lyrische Sachen und seine eigenen Gedichte in sehr angenehmer
Weise, Dramatisches dagegen in einem unerträglichen Kanzelton, er glaubte aber sehr
gut zu sein.“ Ebd. – Ignaz Aurelius Feßler (1756–1839) war Schriftsteller, Theologe, Zeit-
schriften-Herausgeber, Freimaurerlogen-Gründer und ab 1800 Rechtskonsulent in geist-
lichen und Schulangelegenheiten Neuostpreußens, ab 1809 dann in Russland tätig (vgl.
die Informationen in der Datenbank des Berliner Klassik-Portals (http://berlinerklassik.
bbaw.de/BK/personen/Biographie.html [letzter Zugriff: 26.10.2013]). Mit dem „älteren
Schlegel“ ist der Dramatiker Johann Elias Schlegel (1719–1749) gemeint, dessen Vortrags-
weise L. Tieck nur aufgrund von Hörensagen kennen konnte.

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74 Reinhart Meyer-Kalkus

„manchem gerühmtem Trauerspiele nichts […] als ein Deklamations=Konzert“


zu machen, indem sie

eine Stelle ganz vereinzelt und aus dem Zusammenhange (reißen), um sie unter
seltsamen Zuckungen dem Parterre entgegen zu schreien, um alle übrigen Mit-
spielenden völlig unbekümmert. Bald darauf tritt dann ein zweiter hervor, der es
auf ähnliche Art wiederholt, und so fort, so daß man völlig Theater und Gedicht
vergißt, und nur noch eine Uebung schreiender Stimmen anhört, wie sie wohl
sonst auf Schulen, oder bei den ersten Anfängern im Deklamiren gewöhnlich
war.46

Schärfer hätte die Kritik am zeitgenössischen Schauspielstil kaum ausfallen


können. Wird der Zusammenhang des Ganzen durch unkoordinierte Dar-
bietungen der Schauspieler oder – bei einer Lesung – durch zu heftigen
Wechsel der Affektstufen oder zu starke individuelle Figuren-Charakterisierung
zerrissen, so kann kein Gesamteindruck entstehen, und die angestrebte
ästhetische Wirkung wird verfehlt.
Tiecks gemäßigte Affektdarstellung beim Dramen-Vorlesen – das, was er als
Ironie bezeichnete – stieß allerdings nicht überall auf ein positives Echo, ge-
schweige denn, dass sie in ihren ästhetischen Prämissen verstanden wurde.
So tadelte gerade August Wilhelm Schlegel sein „einfaches Lesen […], weil es
[…] am tragischen Pathos fehle“, wie Tieck sich selbst erinnerte.47 Und auch
ein später zu Berühmtheit gelangter Rezitator wie Karl von Holtei, der die
wichtigsten Anstöße für seine eigenen Dramen-Lesungen durch Tiecks Lese-
Abende erhalten hatte,48 meinte, dessen Vorlesekunst relativieren zu müssen.
Tieck habe einen kleinen Kreis schweigender Verehrer in seinem Wohnzimmer
als Gäste empfangen, diese seien ihm als Gastgeber zu Dank verpflichtet ge-
wesen und hätten „in gespannter Aufmerksamkeit (sei es oft nur in ängstlich
geheuchelter) keinen Atemzug, keine Bewegung“ gewagt, „die in dem engen

46 Tieck, Dramaturgische Blätter, Bd. 2, S. XVI.


47 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 180. – Der Bruder, Friedrich Schlegel, freilich war voller
Hochachtung für den Vorleser Tieck. Als Helmina von Chézy im Jahre 1808 in Paris einmal
Zeugin wurde, wie F. Schlegel Shakespeares Wie es euch gefällt vorlas, und ihm daraufhin
ein hohes Lob zollte, entgegnete er nur „‚da sollten Sie erst Tieck hören!‘“ H. von Chézy
konnte später selber einer Lesung Tiecks beiwohnen, doch schloss sie sich Schlegels
Wertschätzung nicht an: „Wenn auch Tieck mit größerer Kunstfertigkeit las, wie vielleicht
niemand gelesen hat noch lesen wird, so klang mir dennoch Friedrich Schlegel’s Vortrag
hinreißender.“ Chézy, Unvergessenes, Bd. 1, S. 296.
48 Vgl. Karl von Holtei, Vierzig Jahre, Bd. 3, Berlin, 1844, S. 242; Martin Knust, Sprachvertonung
und Gestik in den Werken Richard Wagners. Einflüsse zeitgenössischer Deklamations- und
Rezitationspraxis, Berlin, 2007, S. 204–206.

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Dramenvorlesen als Kunst 75

Raum nicht bemerkt und durch einen ernsten Blick gezüchtigt“ worden sei;
er selber, von Holtei, habe dagegen „in einem großen Saal“ vorlesen müssen,

vor einer gemischten Masse, aus welcher ein jeder seinen Platz bezahlt, mit
demselben ein Recht zum strengsten Urteil erkauft und die Freiheit mitgebracht
hat, die man bei solchen Gelegenheiten niemals aus der Hand gibt. Einen so
ausgedehnten Kreis zu fesseln und festzuhalten, bedarf es stärkerer, sinnlicher
Mittel.49

Hier der Gastgeber Tieck, der vor Familienangehörigen, Freunden und Be-
kannten vorlas, dort der professionelle Vorleser, der vor anonymem Publikum
in selten adäquaten Vortragssälen gegen Eintrittsgeld seine Kunst produzierte.
Dies ist der Unterschied zwischen einer Liebhaber-Lesung und dem Vor-
trag eines Reise-Vortragskünstlers, eines „Reisevirtuosen“50, wie er mit Karl
von Holtei hervortrat. Emil Palleske machte dementsprechend die treffende
Unterscheidung zwischen Salon- und Saal-Vorleser.51 Tieck konnte sich der
Gewogenheit seiner um den Lesetisch gescharten Zuhörer sicher sein; Holtei
dagegen musste jeden Abend von neuem seine Zuhörer in fremden Räumen
für seine Kunst einzunehmen versuchen, und dazu bedurfte es schlagenderer
Mittel als des „edlern Conversationstons“.
Um die Einbildungskraft der Zuhörer durchs dichterische Wort zu stimulieren,
bedurfte es also eines spezifischen Vortragstils, im Vortragssaal wie auf dem
Theater. An dieser Norm gemessen, konnte Tieck nur Ungenügen mit den zeit-
genössischen Theater- und Vortragsbühnen empfinden. Heinrich Laube gegen-
über soll er einmal gesagt haben: „Unser deutsches Theater geht unter, weil die
deutschen Schauspieler nicht sprechen können.“52 Nur eine einzige Forderung
habe er ans deutschsprachige Theater zu richten, so berichtete Laube weiter:
„‚Nur eine Lehre‘, stöhnte er, ‚nur eine halten Sie aufrecht: sprechen lernen!
Es ist meine letzte Klage, daß unsere Schauspieler nicht sprechen lernen.‘“53
Nach Tiecks Diagnose, die er in seinen Dramaturgischen Blättern aufgrund von

49 Karl von Holtei, zit. nach Weller, Die fünf großen Dramenvorleser, S. 104f.
50 Gustav Manz, Das lebende Wort. Ein Buch der Ratschläge für deutsche Vortragskunst,
Berlin/Leipzig, 1913, S. 23.
51 Emil Palleske, Die Kunst des Vortrags, Stuttgart, 1880, S. 273.
52 Heinrich Laube, Das Wiener Stadt-Theater, Leipzig, 1875, S. 18.
53 Heinrich Laube, Das norddeutsche Theater, Leipzig, 1872, S. 80, zit. nach Weithase, Die
Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 217. – Heinrich Laube sollte sich dieser Klage
in seiner Zeit als Burgtheater-Intendant erinnern und den Sprech- und Vortragslehrer
Alexander Strakosch engagieren, um die Sprechkunst seiner Schauspieler zu verbessern.
Vgl. Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, Bd. 1, S. 525–529.
H. Laube folgte damit im Übrigen einem Vorschlag, den der Dramatiker Adolf Müllner
bereits einige Jahrzehnte zuvor gemacht hatte, als er den Vorleser als unverzichtbar bei

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76 Reinhart Meyer-Kalkus

Reisen durch deutschsprachige Theaterstädte formulierte, dominierten un-


differenziertes Deklamieren und Singeton auf den Bühnen. In seinem Aufsatz
Über das Tempo, in welchem auf der Bühne gesprochen werden soll beklagte er
den Umstand, dass gerade die Einführung des Verses in das deutsche Drama,
sowohl in der Tragödie wie in der Komödie, zu einem generell langsameren und
gedehnteren Sprechtempo geführt habe. Die „Recitierenden“ seien dadurch
irregeleitet worden,

denn sie haben sich durch ihn eine skandirende Singweise angewöhnt, einen
wiederkehrenden Abfall und ein gleichmässiges Aufsteigen der Stimme, daß ich
oft die Geduld der Zuschauer bewundern muß, die eine lange Tragödie sich in
dieser falschen Deklamation zumessen lassen, und dabei ziemlich befriedigt
sind. Wird diese unpassende Feierlichkeit einmal angenommen, und zugleich
jener dumpfe Ton, der sich von dem des gewöhnlichen Lebens entfernen und
einen edleren bedeuten soll, so folgt auch ganz von selbst, daß ein langsames
Tempo eintreten muß, in welchem sich denn dieses hin und hergeschwungene
Recitieren gleichmäßig fort bewegt.54

Diese Beschreibung ist von einer Präzision, dass selbst ein Leser späterer
Zeiten zu verstehen, ja zu hören meint, was hier in Rede steht. Tieck wandte
sich damit vor allem gegen Goethes Bühnenreform am Weimarer Hoftheater,
die Echos auch anderswo gefunden hatte. Goethe hatte Elemente des von
Klopstock eingeführten Dichtungsvortrags auf die Theaterdeklamation von
Versen übertragen, mit der Folge einer langsam getragenen Sprechweise und
einer gewissen Feierlichkeit und Monotonie. Goethes Inszenierung von Kleists
Der Zerbrochene Krug in Weimar 1808 war nur ein Musterbeispiel dieser Vor-
tragsästhetik, bei der der Witz der Verse und die Situationskomik unweiger-
lich verpufften. Tieck entwarf eine Art von Pathologie dieses hohen Singetons,
der sich „zum Würdigen und Edeln erheben will, […] um dem Nüchternen zu
entgegen“, dabei aber „schwülstig und schluchzend wird, oder sich nach und
nach in eine Art von Gesang verwandelt“.55 Man ende bei einer „schülerhaften

der Vorbereitung neuer Theaterinszenierungen bezeichnete, vgl. Adolf Müllner, „Vor-


leser“, in: ders., Vermischte Schriften, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen, 1824, Bd. 1, S.245–254.
54 Tieck, „Über das Tempo“, S. 257.
55 „Ist erst der Grund gelegt, sind Spieler und Hörer erst an diese Manier gewöhnt, so wird
die Unnatur immer stärker, die Recitation wird oft aus dem Scheingesange, bei einem
rauhen Organ und zu großer Anstrengung in ein Heulen ausbrechen, das alsdann auch
seine Bewunderer findet und für den großen tragischen Ton, für das Wunderbare und
Uebermenschliche gilt. In den neuesten Zeiten hat sich hie und da zu diesen Unarten
noch ein plötzlich schreiendes Stoßen und ein übertriebener Accent gesellt, der in
jedem Verse wenigstens Ein Wort übermäßig heraushebt, wodurch es fast unmöglich
gemacht wird, dem Sinne des Autors zu folgen. Werden dann noch die kurzen Sylben

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Dramenvorlesen als Kunst 77

Deklamation“, so diagnostizierte er treffend, wenn man versuche, „nach jedem


Verse eine kleine Pause eintreten [zu] lassen, in der Mitte desselben hinaus,
gegen den Schluß mit der Stimme hinab[zu]schwingen, oder umgekehrt, wie
man es auch wohl hört“.56 Jede „Einförmigkeit“ und „Eintönigkeit“ des Tempos
sei aber zu vermeiden. Im Grunde müssten jedes Schauspiel, jeder Charakter,
jede Szene, jedes Gefühl und jeder Vers ihr „eigenes Zeitmaß“ haben, um natür-
lich zu klingen.57
In diesem Zusammenhang diskutierte Tieck auch die These, dass die Ver-
langsamung der Deklamation vor allem den akustischen Bedingungen großer
Säle geschuldet sei. Er zog dabei eine aufschlussreiche Parallele zur Kanzel-
beredsamkeit in Kirchen, wo sich ähnliche Probleme ergaben. Tatsächlich
hätten sich viele protestantische Prediger einen

eignen langsamen, halb singenden, halb schreienden Ton angewöhnt, um nur


vernehmlich zu bleiben, ohne zu bedenken, daß eine so monotone Deutlich-
keit die Zuhörer ermüden und einschläfern müsse. Es hat sich aber erwiesen,
daß auch die großen Säle, wenn sie nur sonst akustisch gebaut sind, die
schnellwechselnden Töne eben so vernehmlich, als die gedehnten und stark
accentuirten erschallen lassen, und die neuern Geistlichen bestreben sich auch
immer mehr, ihren Vortrag in gewöhnlicher Redeweise zu halten, und nur hier
und da mit feierlichen Klängen die Aufmerksamkeit zu erregen, oder die inhalts-
schwersten Gedanken dadurch heraus zu heben.58

Die Beredsamkeit auf der Kanzel hatte sich also inzwischen gewandelt, doch
die Deklamation auf Theaterbühnen war bei einem „hohlen langsamen Ton“
und feierlichem Sprechgesang geblieben – eben bei dem, was man als Prediger-
oder Kanzelton bezeichnete.59
Tieck skizziert ein differenziertes Tableau der zeitgenössischen Sprech-
kunst auf dem Theater und auf Vortragspodien, indem er drei gleichermaßen
problematische Tendenzen voneinander abgrenzt:
a) ein hoch stilisiertes, zur Monotonie neigendes Deklamieren auf dem
Weimarer Hoftheater und anderswo, es sei dies ein „sich immer wiederholender

nachgeschleppt, oder gar auch als die stärkeren herausgestoßen, wie in Le-bén, Lie-bé,
Schur-ké! – so ist die Unnatur, das Widerwärtige und Abgeschmackte vollendet.“ Tieck,
„Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Friedrich Ludwig Schröder,
1831“, in: ders., Kritische Schriften, 4 Bde., Leipzig, 1848, Bd. 2, S. 313–375, hier S. 341.
56 Tieck, „Über das Tempo“, S. 266.
57 Ebd., S. 263.
58 Ebd., S. 254.
59 Vgl. zu diesem Begriff Theodor Heine, Grundzüge eines Unterrichtsplanes in der Kunst des
mündlichen Vortrags, Dresden, 1859, S. 30f.

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78 Reinhart Meyer-Kalkus

Tonfall, der in dieser scheinbar künstlichen Deklamation [die wahre Rezitation]


in falschen, übeltönenden Gesang verwandelt“60,
b) ein naturalistisches, von Nüchternheit und Grobheit nicht freies Sprechen
im bürgerlichen Theater, es sei dies eine „klappernde, gemeine Nüchternheit,
[…] durch welche uns so manche deutsche mißratene Schauspieler verletzen“,
schließlich
c) eine manierierte Nachahmung der französischen Deklamation, wie sie
Iffland mit „dem schwülstigen Aufblasen und Festhalten einzelner Worte und
Phrasen“ praktiziere.61 Obgleich „ein hochbegabter Schauspieler“, habe Iffland
„jene Sophisterei auf die Bühne geführt, die Glück machte, dann blendete, den
Sinn für Wahrheit abstumpfte und eine andere Sekte oder Schule gründete,
durch welche jene bessere in Vergessenheit geraten ist“.62

60 „Jener falsche Gesang herrscht auch jetzt auf unserem deutschen Theater allenthalben,
und die meisten Schauspieler wissen wirklich nicht mehr, wie sie Verse anders als mit
diesem unangenehmen Tonfall vortragen sollen.“ Ludwig Tieck, „Große Schauspieler:
Schröder und Fleck“, in: Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 232.
61 Tieck, „Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Friedrich Ludwig
Schröder, 1831“, S. 345. – Tieck gesteht zu, dass ihn „schon Ifflands langsame Art in seinen
ernsthaften und empfindsamen Rollen ängstigen konnte, und einen jeden ächten Genuß
verkümmern [ließ], indem meine Ungeduld ihnen zuvoreilte, um das Wort und die
Rede zu ergänzen, mit der er oft so quälend zögerte.“ Tieck, „Über das Tempo“, S. 260.
Iffland hätte sich in der Tragödie „einen künstlich klagenden seufzenden und zitternd
unbestimmten Ton“ angewöhnt, „der die höchsten Ausbrüche der Leidenschaft ersetzen
sollte“, schreibt Tieck in „Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Fried-
rich Ludwig Schröder“, S. 342.
62 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 236. – Heinrich Theodor Rötscher wird Ifflands
Manierismen dann als Züge eines Virtuosentums im Schauspiel beschreiben: Der
Virtuose wolle verblüffen „durch das Raffinement des Nüancierens, durch die über-
raschenden Kunstpausen, gleichviel: ob am rechten oder am unrechten Orte, selbst durch
neue, wenn auch die Vernunft der Situation zerstörende Accente zu frappiren.“ Heinrich
Theodor Rötscher, „Das Virtuosentum in der Schauspielkunst“, in: ders., Dramaturgische
und ästhetische Abhandlungen, S. 153–159, hier S. 158. – Tiecks Unterscheidung der ver-
schiedenen Tendenzen der Schauspielkunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
sollte bei Theaterhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts Schule machen. Sie ging etwa
in die ‚Geschichte der deutschen Schauspielkunst‘ von Eduard Devrient ein, der die so-
genannte ‚Berliner‘ von der ‚Weimarer Schule‘ unterschied. Demnach wollten die Berliner
„die Natürlichkeit des Vortrags bewahrt wissen, selbst auf die Gefahr, daß der Vers von
unfähigen Rednern platt getreten würde, die Weimar’sche Schule führte gegen diese Ge-
fahr die Schutzwehr eines gemesseneren, rhythmisch markirteren Vortrages ein, wollte
lieber zunächst an Lebendigkeit einbüßen, um nur, mit Durchsetzung einer rhetorischen
Dressur, die Verbreitung eines idealen Styles anzubahnen. Will man die Unterschiede
scharf spalten, so kann man sagen: in Weimar wurde die Tragödie mehr declamirt als
gespielt, in Berlin mehr gespielt als declamirt.“ Eduard Devrient, Geschichte der deutschen
Schauspielkunst, 2 Bde., Berlin, 1905, Bd. 2, S. 99f.

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Dramenvorlesen als Kunst 79

Im Unterschied zum Berliner Naturalismus und zum Weimarer Singeton,


wie auch im Unterschied zu Ifflands Manierismus trat Tieck für eine vierte
Option ein, die er die „wahre Rezitation“ nannte und die er von Schauspielern
wie Conrad Ekhof (1720–1778), Friedrich Ludwig Schröder (1744–1816) und
Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757–1801) verkörpert sah.63 Diese Schau-
spieler hätten Beispiele für das „Gegenteil aller Deklamation und falschen
Emphase“ gegeben –, „kein singender Vers, keine unnöthigen Pausen oder
falschen Accente“ seien hier zu hören gewesen,64 eine Sprechweise stattdessen
von zweiter Natürlichkeit und Ungezwungenheit – ein artistisch stilisierter
Realismus, wenn man so will, der Tiecks Ideal eines ‚edlern Conversationstons‘
entsprach. Sowohl beim Lustspiel als auch bei der Tragödie sollte der „Rhyth-
mus der Konversationssprache“ zugrunde gelegt werden, wie immer diese
dann auch künstlerisch abgewandelt und veredelt wurde.65 Nur so schien
ihm gewährleistet zu sein, das eigentliche Ziel der darstellenden Künste zu er-
reichen, die Einbildungskraft der Zuschauer durch das dichterische Wort zu
stimulieren.
Nach Tieck bildete die Auseinandersetzung einer solchen „echten Sprech-
weise“ mit „einem gewissen Singsang“, „indem bald dieses, bald jenes auf eine
Zeit den Sieg davontrug, […] die Geschichte aller neueren Theater“.66 Für
eine Geschichte der literarischen Vortragskunst ist diese differenzierte Be-
schreibung zeitgenössischer Vortragsweisen von hohem Wert. Darf sie doch als
Hinweis auf den Pluralismus der damaligen Vortragsstile gelesen werden. Der
Versuch, der Zeit zwischen 1800 und 1830 einen einzigen Sprechstil als über-
greifendes Charakteristikum der Vortragskunst zuzuweisen, wie dies Irmgard
Weithase unternommen hat,67 ist im Ansatz verfehlt. Wir müssen vielmehr
von einer Vielheit sich widerstreitender Stilformen und Vortragsästhetiken

63 Nach Tieck müsse ein tragischer Shakespeare-Schauspieler „viel von Flecks Vortrag und
Darstellung […] haben, denn diese wunderbaren Übergänge, diese Interjektionen, dieses
Anhalten und dann der stürzende Strom der Rede sowie jene zwischengeworfenen
naiven, ja an das Komische grenzenden Naturlaute und Nebengedanken gab er so natür-
lich wahr, daß wir gerade diese Sonderbarkeit des Pathos zuerst verstanden. Sah man ihn
in einer dieser großen Dichtungen auftreten, so umleuchtete ihn etwas Überirdisches, ein
unsichtbares Grauen ging mit ihm […]“. Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 233f.
64 Ludwig Tieck: „Vergleichung der Darstellungsweise in England – Frankreich – Deutsch-
land“, in: ders.: Kritische Schriften, 4 Bde., Leipzig, 1848–1852, Bd. 4, S. 359–363, hier S. 360.
65 Tieck: „Über das Tempo“, S. 261.
66 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 232.
67 Dem Vorleser Tieck weist sie z.B. einen extensiven Vortragsstil beim Gedicht-Vortrag in
der Goethe-Zeit zu, hingegen einen mehr und mehr sich konsolidierenden intensiven
Vortragsstil beim späteren Dramenvorlesen. Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen
deutschen Sprache, Bd. 1, S. 549f.

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80 Reinhart Meyer-Kalkus

ausgehen, wobei wir eine interperformative Dialogizität, also ein unablässiges


Aufeinander-Bezug-Nehmen und Sich-Abgrenzen bei Schauspielern und Vor-
tragskünstlern unterstellen dürfen.
Vor dem Hintergrund seiner vortragsästhetischen Anschauungen wird
deutlich, wie ambitioniert Tiecks Lesungen von Dramen waren. Sie sollten
zeigen, was das zeitgenössische Theater seinen Zuschauern vorenthielt. Sie
hatten aber auch als Lesungen exemplarischen Charakter, denn sie führten
den Zuhörern vor, wie vorzulesen sei, um höchsten Kunstansprüchen gerecht
zu werden.68 Auf diese Weise entzogen sie die Dramen einem problematisch
gewordenen Theaterbetrieb und machten sie wieder zum Teil der Literatur, ja
der Dichtung.

Literatur

Beutel, Georg, „Tiecks Vorlesungen in Dresden“, in: Dresdner Geschichtsblätter 22, 1913,
S. 57–68.
Boatin, Janet, „Der Vorleser“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Claudia
Stockinger und Stefan Scherer, Berlin/Boston, 2011, S. 177–189.
Carus, Carl Gustav, Ludwig Tieck. Zur Geschichte seiner Vorlesungen in Dresden, Dres-
den, 1845.
Chézy, Helmina von, Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben, 2 Bde., Leipzig,
1858.
Devrient, Eduard, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, 2 Bde., Berlin, 1905.
Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in:
Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche,
Abt. II/Bd. 12, Frankfurt a.M., 1999.
Genast, Eduard, Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines
alten Schauspielers, neu hg. von Robert Kohlrausch, Stuttgart, 1905.

68 Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass dieser Vortragsstil weniger unter professionellen
Vorlesern und Rezitatoren als vielmehr unter Schauspielern Anklang fand. Einige Zeit-
genossen haben sogar – und sicher nicht zu Unrecht – behauptet, dass seine Lesungen
„für die Darstellung mancher Rollen von Schauspielern (auf der Bühne) benutzt, ja
gänzlich copirt worden“ seien. Arnold Ruge, Unsre Classiker und Romantiker seit Lessing.
Geschichte der neuesten Poesie und Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1,
Mannheim, 1846, S. 425. Nach Emil Palleske galt dies etwa für die Potsdamer Antigone-In-
szenierung, zu deren Vorbereitung Tieck den Schauspielern das Drama mehrere Male
vorlas. Palleske, Die Kunst des Vortrags, S. 206.

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Dramenvorlesen als Kunst 81

Goethe, Johann Wolfgang von, „Shakespeare und kein Ende!“, in: ders., Sämtliche Wer-
ke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815,
hg. von Friedmar Apel, Frankfurt a.M., 1998, S. 638–639.
Goethe, Johann Wolfgang von, „Dramatische Vorlesungen (1828)“, in: ders., Sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 22: Ästhetische Schriften 1824–
1832: über Kunst und Altertum, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M., 1999,
S. 475.
Günzel, Klaus, „‚Das beste Theater in Deutschland‘. Literarische Leseabende bei Lud-
wig Tieck am Dresdner Altmarkt“, in: Ludwig Tieck: Literaturprogramm und Le-
bensinszenierung im Kontext seiner Zeit, hg. von Walter Schmitz, Tübingen, 1997,
S. 161–167.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundrisse (1830), in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bde. 8–10, Frankfurt a.M., 1970.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwan-
zig Bänden, Bde. 13–15, Frankfurt a.M., 1970.
Herder, Johann Gottfried, „07. Humanitätsbrief“, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 7:
Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt
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Herder, Johann Gottfried, „Kritische Wälder. Erstes Wäldchen“ (1769), in: ders., Werke in
zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E.
Grimm, Frankfurt a.M., 1993.
Holtei, Karl von, Vierzig Jahre, 8 Bde., Berlin, 1844–1850.
Kasack, Hermann und Alfred Mohrhenn (Hg.), Die Gefährten, Bd. 2: Ludwig Tieck,
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Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. von Ilse-Marie
Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M., 1987–1997.
Knust, Martin, Sprachvertonung und Gestik in den Werken Richard Wagners. Einflüsse
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Köpke, Rudolf, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters, 2 Bde., Leipzig,
1855.
Laube, Heinrich, Das norddeutsche Theater, Leipzig, 1872.
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Lessing, Gotthold Ephraim, „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“,
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Barner, Frankfurt a.M., 1990.
Müller-Merten, Heike, „Von Tieck bis Wolff – die Entwicklung von Theaterprogram-
matik und Dramaturgie am Dresdner Schauspiel“, in: Dresdner Hefte 22/79, 2004,
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Müllner, Adolf, Vermischte Schriften, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen, 1824–1826.

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82 Reinhart Meyer-Kalkus

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Rambach, Friedrich, Fragmente über Deklamation, Berlin/Stettin, 1800ff.
Reinkemeier, Peter, „Der Dramaturg“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung, hg. von
Claudia Stockinger und Stefan Scherer, Berlin/Boston, 2011, S. 408–423.
Remy, Max, „Ludwig Tieck als Vorleser und seine Nachfolger“, in: Mehr Licht!, 1879, Nr.
42, S. 668–671; Nr. 43, S. 686–688.
Rötscher, Heinrich Theodor, Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organi-
schen Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, Berlin, 1841.
Rötscher, Heinrich Theodor, „Der Conversationston, seine Bedeutung und seine Gren-
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Tieck, Ludwig, Dramaturgische Blätter, 2 Bde., Breslau, 1826.
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Weithase, Irmgard, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert. An-
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Weithase, Irmgard, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen,
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Weller, Maximilian, Die fünf großen Dramenvorleser (Tieck, Schall, Holtei, Immermann,
Palleske). Zur Stilkunde und Kulturgeschichte des deutschen Dichtungsvortrags von
1800–1880, Würzburg-Aumühle, 1939.

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Sean Franzel

Les Cris de Paris: Lebendigkeit, Neuigkeit und


Intermedialität in der urbanen Tableauliteratur
um 1800

Darstellungen der oft misstönenden Rufe von umherziehenden städtischen


Straßenhändlern und wandernden Zeitungsverkäufern – von sogenannten
crieurs de journaux oder ‚Neuigkeitsschreiern‘ – waren ein äußerst beliebtes
Thema in den europäischen Kulturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus
dem deutschen, französischen und englischen Sprachraum. Straßenschreier
waren schon seit Langem ein attraktives Sujet für die bildenden Künste, für
Kinderbücher und für anspruchsvolle Musikkompositionen gewesen. Um 1800
erfüllen Darstellungen von Straßenhändlern aber zugleich mehrere wichtige
Funktionen, die insbesondere für diesen postrevolutionären Moment typisch
sind. Erstens vermitteln sie den Eindruck einer chaotischen städtischen Land-
schaft und stehen so in ausdrücklichem Kontrast zu der Provinzialität der
deutschen Kleinstadt. Zweitens dienen sie als Mittel, um die Aktualität des täg-
lichen Nachrichtentranfers und -konsums über verschiedene Medien hinweg
zu kommentieren. Drittens spielen sie eine zentrale Rolle in der neuen Gattung
der urbanen Tableauliteratur, einer Gattung, die die thematischen Möglich-
keiten der Stadtbeschreibung vervielfältigte und von dem medialen Format der
Zeitschrift profitierte. Viertens sind sie ein Experimentierfeld für Begegnungen
mit städtischen Klanglandschaften, die die Grenzen der auditiven Erfahrung
und deren Repräsentation über verschiedene Medien hinweg erweitern. Und
fünftens sind diese Darstellungen ein Musterbeispiel für die Intermedialität
des Mediums Zeitschrift und dessen paradigmatischer Mischung von Text und
Bild, die tradierte Vorstellungen von den Unterschieden der bildenden und
poetischen Künste in Frage stellt.
In den 1780er und 1790er Jahren von Louis Sébastien Mercier mit seinem
Le Tableau de Paris und Le Nouveau Paris entwickelt, dient die Gattung der
Momentaufnahme von Stadtszenen als Grundlage für eine bemerkens-
wert reiche Auswahl an literarischen und visuellen Experimenten des 19.
Jahrhunderts.1 Als ‚Tableau‘ stilisiert ist diese Textgattung vorgeblich das

1 Zum Tableau als literarischer Gattung und der Rolle Merciers in deren Entwicklung vgl. Karl-
heinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, 1998; und
Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München, 2004.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_006


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84 Sean Franzel

Produkt eines flanierenden Autors, der Szenen des Stadtlebens beobachtet


und niederschreibt. Diese Gattung entspringt dem Gefühl, dass sich das Stadt-
leben schnell verändert und sich seine Heterogenität am besten durch eine
Serie von oft divergierenden Artikeln auffassen lässt. Das Tableau versteht
sich also als flexibles literarisches Mittel, um immer mehr Geschriebenes
über eine sich ständig verändernde Stadt zu generieren2 und dabei eine der
Grundfunktionen der Kulturzeitschrift vorwegzunehmen, wie sie sich im
19. Jahrhundert entwickelt, nämlich die Aneinanderreihung von einzelnen
Texteinheiten und Bildern – Skizzen, ‚Gemälde‘, ‚Schilderungen‘, Miszellen
usw. –, die die serielle Publikation hervorruft.
Von den vielen deutschsprachigen literarischen Projekten, die sich als Nach-
folger von Mercier verstehen, ist eine Zeitschrift in dieser Hinsicht besonders
bahnbrechend und wird die Basis meiner Studie sein.3 Die Kultur- und Mode-
zeitschrift London und Paris wurde von Friedrich Justin Bertuch in Weimar
zwischen 1798 und 1815 achtmal jährlich publiziert, und von Bertuch und Karl
August Böttiger herausgegeben. Im Folgenden erklären die Herausgeber das
Ziel der Zeitschrift:

diese Gemälde der Menschenmaßen, wie sie während diesen folgenschwangeren


Weltbegebenheiten in London und Paris, von tausend Begierden und Bedürf-
nissen gepeitscht, im buntesten Gewühl sich täglich herumtreiben, eine mit
jedem Morgen der die Gallerie des Louvres und die gothischen Thürme der
Westmünsterabtey röthet, erneuerte Scene des lebendigsten Menschenlebens,

Zu den verschiedenen damit zusammenhängenden Illustrationen vgl. Patricia Mainardi,


Another World: Nineteenth-Century Illustrated Print Culture, New Haven, CT, 2017.
2 Wie Mercier schreibt, „[i]f a thousand people followed the same route, if each one were
observant, each would write a different book on this subject, and there would still be true and
interesting things for someone coming after them to say“. Louis Sébastien Mercier, Panorama
of Paris: Selections from ,Le Tableau de Paris‘, hg. von Jeremy D. Popkin, State College, PA,
1999, S. 24; übersetzt von dems.
3 Obwohl Merciers Einfluss auf die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts schon teilweise
untersucht wurde (besonders im Bezug auf den Bereich des Dramas und der Dramenkritik
im Sturm und Drang; vgl. William Webb Pusey, Louis-Sébastien Mercier in Germany. His
Vogue and Influence in the Eighteenth Century, New York, 1939; und Hermann Hofer, „Mercier
admirateur de l’Allemagne et ses reflets dans le préclassicisme et le classicisme allemands“,
in: Louis-Sébastien Mercier précurseur et sa fortune, hg. von Hermann Hofer, München, 1977,
S. 73–116), ist noch viel zu tun, um den Einfluss von Mercier im frühen und mittleren 19. Jahr-
hundert zu bestimmen. Gute erste Orientierungen geben Stierle, Der Mythos von Paris und
Ingrid Oesterle, „Paris – das moderne Rom?“, in: Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbst-
erfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion, hg.
von Conrad Wiedemann, Stuttgart, 1988, S. 375–419; dies., „Werther in Paris? Heinrich von
Kleists Briefe über Paris“, in: Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hg. von Dirk
Grathoff, Opladen, 1988, S. 97–116.

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Les Cris de Paris 85

kurz ein Tableau mouvant dieser beyden Städte, von geübten Beobachtern an
Ort und Stelle selbst, im Moment der regsten Bewegung aufgefaßt und nieder-
geschrieben, periodisch aufzustellen, und dadurch dem teutschen Zeitungsleser
und Beobachter der laufenden Welthändel in schneller Aufeinanderfolge einen
sich immer aufs neue verjüngenden […] Grundriß der zwey Theater in die Hand
zu geben.4

Diese programmatische Passage suggeriert, dass die serielle Periodizität des


Journals der zeitlichen Abfolge der Ereignisse „im Moment der regsten Be-
wegung“ entspricht, so dass die Zeitschrift annähernd genau das ‚Tableau
mouvant‘ simuliert, das die Korrespondenten vor Ort in Echtzeit beobachten.
Obwohl London und Paris keinesfalls täglich erscheint, beginnt die Aufgabe der
Korrespondenten jeden Tag neu, wenn sie ‚erneut‘ diese zwei Städte erleben.
Hier haben wir es mit Wiederholungen zu tun – jeden Tag geht die Sonne erneut
auf –, aber auch mit Variation und mit einer Sequenz von wuchernden, „sich
immer aufs neue verjüngenden“ Tableaus, die sich im Rhythmus der seriellen
Publikation entfaltet. Die Zeitschrift sei besonders gut dafür geeignet, sich
die chaotische, heterogene Mischung des modernen Lebens – „das bunteste
Gewühl“ – anzueignen, denn das mediale Format der Sammlung vermischten
Inhalts widerspiegle die unterschiedlichen Ereignisse in den beiden Städten.
Darüber hinaus scheint diese Passage klar Lessings bekannte Argumentation
über den Unterschied zwischen bildlichen und sprachlichen künstlerischen
Medien aufzugreifen. Wie Lessing argumentiert, ist das zeitbasierte Medium
der Sprache und der Poesie durch eine zeitliche Abfolge von Wörtern und
Bildern gekennzeichnet, während die räumlichen Bildmedien wie Malerei
und Skulptur statisch sind und immer nur einzelne Bilder zeigen können. In
einer bewundernswerten Metapher sagt Lessing, dass es ein Vorteil der Poesie
sei, dass sie den Leser durch „eine ganze Gallerie von Gemälden führe[n]“
kann – vergleichbar wird genau das auch von der Einleitung zu London und
Paris versprochen. Wie Lessing sagt, sind dichterische Bilder „transitorisch“,
denn sie folgen immer sequentiell aufeinander; so darf die Poesie bestimmte
Objekte darstellen, die die bildenden Künste nicht wiedergeben dürfen, sowie
besonders hässliche, unangenehme oder erschreckende Ereignisse wie den
Schrei des Laokoons. Die Malerei hingegen stellt einen einzigen vorüber-
gehenden Moment dar, gibt diesem Moment aber „unveränderliche Dauer“
und soll es daher vermeiden, das Hässliche und Unangenehme festzuhalten.5

4 Friedrich Justin Bertuch, „Plan und Ankündigung“, in: London und Paris I/1, 1798, S. 3–11, hier
S. 5.
5 Gottfried Ephraim Lessing, Laokoon, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 2007, S. 32.

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86 Sean Franzel

Dagegen möchte ich in meinem Aufsatz zeigen, dass in der Tat manche
ausdrücklich visuellen Bilder aus der Zeitschriftenlandschaft temporale
Strukturen aufweisen, die mit Lessings Idee des einzelnen ‚fruchtbaren‘
Moments brechen. Im Prinzip bricht die inhärent multimediale Zeitschrift
mit dem Imperativ, die Logik der bildlichen und poetischen Künste zu trennen
und umfasst eine Ästhetik der intermedialen Mischung. In dieser Hinsicht
ist die Idee eines ‚Tableau mouvant‘ eine Provokation: Nach Lessing soll sich
das Bild nicht bewegen! Hier sieht man auch, wie Bertuch und Böttiger die
Logik der bildenden Künste mit der des Theaters zusammenbringen. Voraus-
gesetzt wird eine immer schon heterogene Vielfalt von Bildern und Texten,
die sich dem Theater nähert. Wenn die Zeitschrift sich als eine Art inter-
mediales Mischprodukt auffassen lässt, kommt diese Mischung einerseits
durch die serielle Anhäufung und Gegenüberstellung einer Vielfalt von auf-
einander bezogenen Texten und Bildern über das Format der Zeitschrift zu-
stande. Andererseits wird diese Ästhetik der Mischung auch durch Techniken
der multimedialen Wiederholung und Variation ermöglicht, indem ein Objekt
oder Ereignis mehrmals durch ein Ensemble von unterschiedlichen Texten
und Bildern dargestellt wird. Diese Variation führt zur Temporalisierung des
Objekts oder Ereignisses, die sich als Teil eines größeren zeitlichen Rahmens
oder einer temporalen Schichtung vorstellen lassen. Und drittens passiert
diese Mischung auch auf der Ebene der einzelnen Bilder selbst, in die Aspekte
der Medialität der Zeitschrift einbezogen werden, einschließlich der Inklusion
von Musiknotation und Sprache. Diese Verschränkung von Bild und Text ist
eine Art mediale Lösung für das Problem der Differenz zwischen Dichtung
und Malerei, aber sie ist auch Merkmal einer modernen Medienästhetik, die
über die ästhetischen Debatten des späten 18. Jahrhunderts hinausgeht.
Hinsichtlich des Topos der ‚lebendigen Darstellung‘ fällt auch auf, dass die
Literatur des urbanen Tableaus ebensowohl mit dem Ideal der Lebendigkeit
kompatibel ist, wie diese Literatur davon abweicht. Beide Diskurse befassen
sich mit der Vorstellung, dass ein ästhetisches Bild oder Objekt aus gemischten,
heterogenen Teilen besteht, und beide sind sehr an verschiedenen Techniken
interessiert, mit welchen man ein komplexes und lebendiges visuelles
Ensemble schaffen kann. Der Topos der Lebendigkeit zielt jedoch vor allem auf
die Harmonie ab, was Fehrenbach im Sinne von ‚Kohäsion‘ diskutiert, während
die Tableauliteratur der Dissonanz und dem Kontrast gegenüber offener ist.6
Anders gesagt, je mehr die spezifisch ‚lebendige‘ Darstellung sich in die neo-
klassizistische Richtung eines einheitlichen, organischen, notwendigerweise

6 Vgl. Frank Fehrenbach, „Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder“, in:
Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. von Ulrich Pfisterer und
Anja Zimmermann, Berlin, 2005, S. 1–40.

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Les Cris de Paris 87

‚lebendigen‘ Ganzen bewegt, desto mehr wird der Lebendigkeits-Topos eine


Möglichkeit, chaotische, nicht lebhafte Vermischungen oder – wie es sich be-
sonders in der städtischen Geräuschkulisse gehört – klangliche Dissonanz und
Kakophonie abzulehnen. Bei den in diesem Essay diskutierten Beispielen der
Tableauliteratur geht es oft um eine Art von Lärm, die sich dagegen wehrt,
in einem schönen, lebendigen visuellen Ganzen organisiert zu werden.7 Wie
wir sehen werden, arbeitet die Tableauliteratur oft mehr mit der Karikatur-
ästhetik und dem Hässlichen als mit dem Harmonischen und Schönen –
Böttiger spricht zum Beispiel bewundernd von dem Karikaturisten als ‚Zerr-
bildner‘. Wenn, wie Avanessian, Menninghaus und Völker argumentieren, der
Topos der Lebendigkeit auf einer teilweisen Tilgung der Differenz zwischen
dem Realen und der symbolischen Darstellung basiert, und wenn diese Tilgung
den Effekt der Lebendigkeit mit hervorbringt,8 dann tut die Tableauliteratur
genau das Gegenteil, da sie gewöhnlich auf die verschiedenen symbolischen
und medialen Ensembles aufmerksam macht, die eine lebendige Darstellung
des Straßenlebens ermöglichen: Gedruckte Flugschriften, durchdringende
Stimmen, Holzschnitte oder radierte Bilder, Zeitungen, Plakate und An-
zeigen, die die Sinne überwältigen. Dies ist eine Art medialer Schichtung und
Variation, die nicht dem Zweck eines nahtlosen Ganzen dient.

Dissonanzen hören und sehen

Um die Inhalte von London und Paris in aller Kürze zu skizzieren: Eine Aus-
gabe der Zeitschrift besteht zumeist aus vier Teilen, also jeweils aus Ab-
schnitten mit kurzen Artikeln über unterschiedliche Aspekte des Lebens
in den beiden Städten, gefolgt von Beschreibungen von ‚französischen und
englischen Carricaturen‘ und anderen visuellen Darstellungen. Die Stadt-
beschreibungen erinnern an andere Journale und Reiseliteratur der Zeit und
beziehen sich explizit auf das wegweisende Tableau de Paris von Mercier.9

7 Hier baue ich auf wichtige Einsichten von Boutin auf, obwohl ich ihre Meinung nicht ganz
teile, dass „the poetic or pictorial representations of street criers, flâneur-writing in literary
guidebooks, ethnographic, or musicological discourse on Paris all sought to harmonize street
sound in some form or other.“ Aimée Boutin, City of Noise: Sound and the Nineteenth Century,
Urbana, IL, 2015, S. 6. Für eine andere Perspektive auf den Topos des städtischen Lärms, be-
sonders im späteren 19. Jahrhundert, vgl. auch Tyler Whitney, Eardrums: Literary Modernism
as Sonic Warfare, Evanston, IL, 2019.
8 Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker, „Einführung“, in: Vita aesthetica.
Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von dens., Zürich, 2009, S. 7–11, hier S. 8.
9 Boutin benutzt den Schirmbegriff ‚literary guidebooks‘, um diese Tableauliteratur zu be-
schreiben: Boutin, City of Noise, S. 6.; vgl. auch Karlheinz Stierle, „Baudelaire and the Tradition
of the Tableau de Paris“, in: New Literary History 11/2, 1980, S. 345–361.

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88 Sean Franzel

Zu den Themen des Journals gehören Zusammenfassungen des Gelegen-


heitstheaters und vaudevilles; Beschreibungen von aktuellen Festen und
Spektakeln; Darstellungen des öffentlichen Lebens und der sozialen Gewohn-
heiten; Abbildungen von Ankündigungen diverser Veranstaltungen oder
Produkte; Diskussionen von jüngsten politischen Ereignissen, einschließlich
der sich verändernden politischen Lage unter Napoleon; Beschreibungen
von Museen und Geschäften, inklusive Listen der Bestände bzw. der aus-
gestellten Produkte, und Skizzen neuer Bauprojekte. Das Gelegentliche und
das Dauerhafte überschneiden sich in dieser bemerkenswerten Mischung von
Themen; eine Mischung, die durchaus typisch für die zeitgenössische Reise-
literatur ist, welche von historischem Wandel und dem daraus entspringenden
Wunsch geprägt wurde, neue Experimente in der Politik und der Volkskultur
zu dokumentieren.10
Visuelle Darstellungen spielen in fast allen diesen Fällen eine ent-
scheidende Rolle, und hier war gerade Bertuchs Verlag bahnbrechend in der
damaligen deutschen Zeitschriftenlandschaft.11 Dazu gehören Notensätze,
die beliebte Lieder wiedergeben; Bilder von öffentlichen Festen; Karikaturen,
die sich auf aktuelle politische Auseinandersetzungen beziehen; Pläne
kürzlich renovierter Gärten; Abbildungen neu gebauter Sehenswürdig-
keiten und Infrastruktur; Aufrisse von Buchhandlungen und Lesesälen und
vieles mehr. Trotz der Tatsache, dass das Journal eine viel breitere Spanne
hatte (,Karikatur‘ hatte zu dieser Zeit eine allgemeinere Bedeutung und be-
inhaltete alle charakterisierenden graphischen Darstellungen),12 behandelt
die Sekundärliteratur zur visuellen Seite des Journals meist nur die Nach-
drucke der berühmten anti-napoleonischen Karikaturen von James Gilray und
Isaac Cruikshank.13 Bertuch gründete sogar eine Zeichenschule in Weimar,

10 „Spektakuläre Entwicklungen […] führten bereits in den ersten Erscheinungsjahren


des Journals zu derart dynamischen Veränderungen im politischen Koordinatensystem,
daß ein konstanter politischer Standpunkt der Zeitschrift kaum möglich war.“ Werner
Greiling, „Kultur aus den ‚zwei Hauptquellen‘ Europas. Friedrich Justin Bertuchs Journal
London und Paris“, in: Europa in Weimar – Visionen eines Kontinents, Jahrbuch der Klassik
Stiftung Weimar, 2008, S. 138–158, hier S. 152.
11 Zur innovativen Kraft Bertuchs in dieser Hinsicht vgl. Silvy Chakkalakal, Die Welt in
Bildern: Erfahrungen und Evidenz in Friedrich J. Bertuchs ,Bilderbuch für Kinder‘, Göttingen,
2014.
12 Rolf Reichardt und Hubertus Kohle, Visualizing the Revolution. Politics and Pictorial Arts
in Late Eighteenth-Century France, London, 2008, S. 7.
13 Vgl. vor allem Wolfgang Cileßen, Rolf Reichardt und Christian Deuling (Hg.), Napoleons
Neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin, 2006;
Frazer S. Clark, Zeitgeist and Zerrbild. Word, Image, and Idea in German Satire, 1800–1848,
Bern, 2006, S. 33–55; und Christiane Banerji und Diana Donald (Hg.), Gillray Observed.
The Earliest Accounts of his Caricatures in London und Paris, Cambridge, UK, 1999.

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Les Cris de Paris 89

um Graphiker dazu auszubilden, visuelles Material für seine verschiedenen Ver-


lagsprojekte zu schaffen; im Fall von London und Paris wurden Karikaturen aus
dem Ausland geschickt und neu radiert, um im Journal nachgedruckt werden
zu können. Böttiger, der Mitherausgeber der Zeitschrift, verfasste lange Zeit
hindurch die Beschreibungen der englischen Karikaturen und positionierte
sich somit fest in der Tradition von Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren.14 Ich
komme auf Böttiger (und Hogarth) im letzten Teil des Aufsatzes zurück.
London und Paris ist gefüllt mit Berichten über die Verbreitung von Nach-
richten, darunter auch über Zeitungsverkäufer, ‚Neuigkeitsschreier‘ und
mobile Straßenhändler. Dies ist das Thema eines kurzen Artikels aus dem Jahr
1799 mit dem Titel Cris de Paris. Die Straße ist ein Ort, wo Informationen und
Waren zirkulieren und wo mediale Produkte den vorbeigehenden Beobachter
überfluten. Die Schreie der Straßenverkäufer waren schon lange ein beliebtes
literarisches und visuelles Sujet, welches in beiden Fällen von sequenzieller
Logik und heterogener Nebeneinanderstellung beherrscht wurde (d.h. sowohl
durch eine Reihe von Einzelbildern als auch durch ein einziges Bild, das alle
Schreienden nebeneinander darstellt).15 Der Korrespondent stellt fest, dass es
seit Langem beliebt sei, diese Schreie darzustellen, nicht zuletzt in Merciers
Tableau de Paris. Das Werk schließt sich Mercier an und zitiert ihn ausführ-
lich auf französisch, den Gesamteindruck dieser Schreie als „une inexplicable
cacophonie“, ein „discordans [sic] […] ensemble“ von Lauten beschreibend.16
Der Pariser Korrespondent gibt jedoch vor, Mercier (der auf Bilder verzichtete
und grundsätzlich sprachliche Darstellungen von Paris bevorzugte17) zu
überbieten, indem er diese ephemeren Schreie in musikalischer Notation dar-
stellt: „Es wird also gewiß manchem Leser ein Vergnügen machen, diese Dis-
sonanzen auf beyfolgender Tafel notiert zu finden.“18
Diese Tafel ist ein eigenartiges Artefakt, das in die Mitte der Ausgabe ein-
gefügt und nicht am Ende der Ausgabe platziert wird wie die aufwändigeren

14 Vgl. Michael Diers, „Bertuchs Bilderwelt. Zur populären Ikonographie der Aufklärung“, in:
Friedrich Justin Bertuch 1747–1822. Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen
Weimar, hg. von Gerhard Kaiser und Siegfried Seifert, Tübingen, 2000, S. 433–464, hier
S. 435.
15 Vgl. Graczyk, Das literarische Tableau, S. 141–144.
16 „Tous ces cris discordans forment un ensemble, dont on n’a point d’idée lorsqu’on ne l’a
point entendu.“ („Cris de Paris“, in: London und Paris, III/2, 1799, S. 129–134, hier S. 129–130,
Fußnote.)
17 Mercier „considered painting an inferior art because it froze the ever-changing flux of life
into a fixed form, whereas prose could suggest the constant succession of impressions
that was the essence of the urban experience.“ Jeremy D. Popkin, „Editor’s Preface“, in:
Louis-Sebastien Mercier, Panorama of Paris: Selections from Mercier’s ,Tableau de Paris‘,
University Park, PA, 1999, S. 1–20, hier S. 19.
18 „Cris de Paris“, S. 130, Fußnote.

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Abb. 5.1 „Les Cris de Paris“ in der Zeitschrift London und Paris III/2, 1799

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Les Cris de Paris 91

Karikaturen. Sie notiert die Schreie einer Handvoll von Verkäufern und
präsentiert dem Leser einen eher witzigen Versuch, die flüchtigen Geräusche
der Stadt zu archivieren. Diese Tafel ist Teil des größeren Projekts des Sammelns
von Eindrücken der Stadt – sie erfasst diese flüchtigen Schreie in Notenschrift,
und diese harren auf eine zukünftige Revokalisierung/Wiederverlebendigung.
Es ist jedoch etwas unklar, wie man diese Partitur tatsächlich zu benutzen
hat – sollen mehrere Personen die verschiedenen Teile singen? Sollen sie auf
einer Tastatur oder mit mehreren Instrumenten gespielt werden? Die Tat-
sache, dass diese kurzen ‚Lieder‘ mit unterschiedlichen Tonartvorzeichen und
in unterschiedlichen Taktarten vorliegen, lässt Zweifel an der Funktionalität
dieser Tafel als Partitur aufkommen. Es war nicht unüblich, dass damalige
Journale Notenblätter aufnahmen, aber hier scheint es, dass dieses Bild eher
eine witzige Zerstreuung ist als irgendeine Art von Salonunterhaltung, an die
man sich zu Übungszwecken setzen würde.
‚Les Cris de Paris‘ war nicht nur ein populäres bildliches und literarisches
Genre, sondern auch ein beliebtes Motiv für Chanson-Komponisten der
Renaissance, die die Lieder der Verkäufer in eine harmonisierende Partitur
verwandelten – welche, nebenbei bemerkt, die ‚Lieder‘ der Schreier durch
Notation auch bildlich einander gegenüberstellt19 – aber es wird deutlich,
dass diese eher grobe Tafel weder auf das Harmonische noch auf das Schöne
abzielt. Die Übereinanderschichtung der verschiedenen Lieder zielt auf bild-
liche (und klangliche?) Dissonanz ab. Die gedruckte Seite steigert den Prozess,
wobei man sich die Stadt vorstellt, und zwar in Bezug auf eine Schichtung von
flüchtigen Sehenswürdigkeiten und Geräuschen, die sich auf einem Raster von
verschiedenen räumlichen und zeitlichen Koordinaten abspielt.
Diese notierten ‚Dissonanzen‘ bewahren dabei mehr als nur einzelne,
einmalige Verlautbarungen, sondern kehren in vorhersehbaren Intervallen
wieder, wie der Korrespondent uns erinnert:

Ungläubigen zu Gefallen, welche etwa denken, ich hätte obigen Cri de Paris zum
Spaß erdacht, zeige ich an, daß sie das Original dazu täglich zwischen 11 und 1
Uhr durch die Rue de la loi, vormals Rue Richelieu, können gehen hören und
sehen, und daß es so exact in dieser Zeit durch die angezeigte Straße geht, daß es
manchen Leuten dieser Gegend gleichsam zu einer Art Uhr dient, und die Stelle
der alten Sclaven vertritt, die das Zeichen der Sonnenuhr ankündigten.20

19 Zum Beispiel die Kompositionen aus dem 16. Jahrhundert der bekannten französischen
und englischen Komponisten Clément Janequin und Thomas Ravenscroft.
20 „Cris de Paris“, S. 131.

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92 Sean Franzel

Der Korrespondent bittet seine Leser, sich die Beziehung zwischen diesen sich
überlappenden Schreien und ihrer täglichen Wiederholung vorzustellen.21 Die
Ausrufer sorgen also dafür, dass mehrere zeitliche Intervalle gemessen werden:
die Dauer der Ausrufer an einem einzigen Tag, die Wiederholungen von Tag zu
Tag, die Kontinuität zwischen der Antike und der Moderne, die Disjunktion
zwischen vor- und postrevolutionären Epochen (worauf durch die geänderten
Straßennamen hingewiesen wird) und im weiteren Sinne zwischen manueller
und mechanischer Zeitmessung. Es ist zwar klar, dass dieses Stück von einer
ganzen Reihe von Stadtbildern abgeleitet und als solches kaum ungewöhnlich
ist. Nichtsdestotrotz will ich argumentieren, dass dieses Stück charakteristisch
für den Versuch ist, sich die Stadt über eine komplexe zeitliche Schichtung
vorzustellen. Die urbane Geräuschkulisse zeichnet sich nicht nur durch die
Proliferation von Einzelszenen aus, sondern durch die Wiederholung wieder-
kehrender Kakophonien. Wiederholung verspricht Wiederverlebendigung.
Darüber hinaus bringt dieses Stück die Idee der Ephemeralität des städtischen
Lebens sowohl auf der rhetorischen als auch auf der medialen Ebene zur
Geltung: Selbst die visuelle Gestaltung der gedruckten Tafel offenbart die
Schichten, die auf metaphorischer Ebene aufgerufen werden. Auf diese
Weise ermöglichen die Eigenheiten von London und Paris eine Art auditive
Einbildungskraft.

Die Versinnlichung des Hässlichen

Ich möchte mich nun einem zweiten Artikel mit dem Titel Mordgeschichte, wie
sie der Ausrufer erst dem Inhalte nach ausschreyet, und dann in einer kläglichen
Ballade abheult zuwenden. Dieses Stück behandelt ein ähnliches Themenfeld
wie der Artikel zu den „Cris de Paris“, aber es hebt sich zudem dadurch hervor,
dass es die Überarbeitung und Reproduktion von Druckartefakten behandelt.
Zusammen mit der Beschreibung eines grausamen Mordes, der die Aufmerk-
samkeit der Pariser kurz auf sich zog, berichtet das Werk darüber, wie sich die
Nachrichten über dieses Verbrechen verbreiteten. Der Pariser Korrespondent
ist sowohl bestürzt als auch amüsiert von mehreren Quellen, die darum
wetteifern, über den Vorfall zu berichten, und von der Koexistenz mehrerer
Versionen von dieser Nachricht. Dieser Artikel handelt also nicht nur von

21 In einem anderen Artikel werden die Schreier von Paris and London ‚Lebendige Uhren‘
genannt. Siehe „Lebendige Uhren. Notwendigkeit der Zeiteintheilung in Paris“, in: London
und Paris XVIII/6, 1806, S. 146–155.

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Les Cris de Paris 93

dem Verbrechen, sondern auch von dem medialen System, das eine vorüber-
gehende Aufregung erzeugt, bevor es zu etwas Neuem übergeht.
Der vorangehende Artikel kritisiert die Sensationslust der Neuigkei­ten­
schreier, ihre überstürzte Urteilsfällung und ihre Priorisierung der Verkaufs-
zahlen vor Wahrheit und Gerechtigkeit, und der Text zur ‚Mordgeschichte‘
erscheint als eine Ergänzung, eine „Beylage“ dazu: „Ich habe schon einigemal
der brüllenden Stimmen der Crieurs de Journaux, der abentheuerlichen
Formeln, wie sie ihre Curiosa anpreisen […] erwähnt.“22 Dieser Text beschreibt
kurz den Mord und bezieht dann, ‚als Versinnlichung‘ die Reproduktion einer
Broschüre ein, die von einem Neuigkeitenschreier gelesen und gesungen
wurde. Schriftsetzer in Weimar reproduzierten den Text und das Layout des
Originals. Es ist in der Schriftart Antigua verfasst, steht somit im Kontrast zu
der Fraktur im restlichen Teil der Zeitschrift und enthält einen Prosa-Bericht
des Verbrechens und der polizeilichen Vernehmung, gefolgt von dreieinhalb
Seiten in Versen, die das Verbrechen nacherzählen und zu einer beliebten
Melodie gesungen werden sollen.
Darüber hinaus wird der Leser dazu aufgefordert, sich die Szene der ‚crieurs
de journaux‘ vorzustellen, die ihre Waren auf der Straße verkaufen und weitere
mediale Multiplikationen ins Spiel bringen:

Denken Sie sich nun am Pont neuf oder beym Louvre einige dergleichen
Stentorstimmen, die ihnen [sic] diese Ueberschrift in die Ohren brüllen, und
den Vorübergehenden den schönen Holztisch weisen, um Käufer anzulocken,
so haben sie [sic] wenigstens etwas von dem schönen Bilde. Die Schönheit der
Verse entspricht übrigens der Schönheit des Gesangs der meisten Bänkelsänger
vollkommen.23

In all diesen Fällen wird die gleiche Geschichte in einer anderen Form oder
einem anderen Medium (Schlagzeile, Prosa, Vers und Bild) und durch mehrere
Ausrufer wiederholt. Wie beim Artikel Cris de Paris geht es um die Schichtung
unterschiedlicher Klänge, also um das imaginierte auditive Erleben von
mehrschichtigen, dissonanten Klängen aus unterschiedlichen Quellen. Der
Autor dieses Stückes ruft die Leser dazu auf, sich ein chaotisches Bild von
konkurrierenden Verkäufern vorzustellen und äußert sich bezüglich der
„Schönheit“ dieses Bildes ziemlich sarkastisch. Dieses Aufgreifen der Ästhetik
des Hässlichen hat viel mit der Welt der Karikatur zu tun, die in London und
Paris oft zum Vorschein kommt.

22 „Mordgeschichte, wie sie der Ausrufer erst dem Inhalte nach ausschreyet, und dann in
einer kläglichen Ballade abheult“, in: London und Paris I/3, 1798, S. 250–255.
23 Ebd., S. 251.

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94 Sean Franzel

Die gedruckten Bilder des Verbrechens verstärken vielleicht die Wirkung


von Vers, Lied und Prosa, obwohl die Herausgeber betonen, dass sie sich die
Freiheit genommen haben, den hässlichen Holzschnitt, der in der ursprüng-
lichen Broschüre enthalten ist, nicht zu reproduzieren: „Das uns aus Paris
mitgetheilte Original besteht aus einem halben Foliobogen von schmutzig-
gelben [sic] Papier. Oben an paradiert ein Holzschnitt in der geschmack-
losesten Uniform, die uns unsere Leser gewiß gern schenken werden.“24 Das
Verbrechen, die Broschüre, das Papier, auf dem es gedruckt wurde, die
Stimmen der Ausrufer – in allen Fällen ist ein Eindruck der Flüchtigkeit dieser
Stadtszene mit Hässlichkeit verbunden. Das Verbrechen wird bald vergessen
sein, neue Broschüren werden verteilt werden, und dieselben Blätter werden
zusammengeknüllt und dazu verwendet werden, den Ofen anzuzünden.
An dieser Stelle müsste mehr über die Ästhetik des Hässlichen gegenüber
dem schönen Klang und die Assoziation des Schönen mit den Vorstellungen
von Beständigkeit und Dauerhaftigkeit gesagt werden. Es müsste ebenso auch
noch mehr auf die Position des Lesers bzw. Zuhörers eingegangen werden: Ist
es beispielsweise dem deutschen Leser möglich, ein gewisses ästhetisches Ver-
gnügen daran zu finden, auf diese verschiedenen Artefakte zu stoßen, da er oder
sie diesen nicht direkt zuhören kann? Ähnelt dieses Vergnügen der Ästhetik
des Erhabenen, in der man sich am Schrecklichen erfreuen kann, aber nur aus
einer gewissen Distanz, oder ist hier noch etwas anderes im Spiel? Es scheint,
dass sowohl in diesem als auch im ersten Fall das ästhetische Vergnügen an
einer städtischen Szene und ihren Spuren in verschiedenen Medien davon ab-
hängig ist, eine gewisse Distanz und Entfernung zu bewahren. Außerdem fällt
hier auf, dass wir es mit einer Darstellung zu tun haben, die ausdrücklich auf
den Effekt der Wiederholung und Variation zurückgeht. Ich würde außerdem
behaupten, dass die Wiederholung gleichzeitig den Effekt einer Distanz ermög-
licht: Dieses Lied wird sich morgen wieder zur gleichen Zeit wiederholen; oder:
Dieser Vortragende las zuerst, dann sang er die Nachrichtengeschichte, dann
schob er die Broschüre in meine Hand (und wir müssen nicht einmal das Bild
erwähnen) und so weiter. Wenn man der Szene der dissonanten Performance
zu nahekommt, wird die Wiederholung unerträglich. Wenn man sie jedoch aus
einer bestimmten Distanz betrachtet, wird die Variation interessant, weil sie in
eine gewisse Art von identifizierbarer zeitlicher Organisation übergeht.

24 „Mordgeschichte“, S. 251, Notiz.

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Les Cris de Paris 95

‚Der Wiederhall der Stimme‘

Abschließend möchte ich nun auf zwei letzte Darstellungen von Straßen-
schreiern zurückkommen (und in diesem Fall auch auf tatsächliche Bilder
rekurrieren, die Bertuch und Böttiger ihren Lesern anvertrauen, ohne sich
davor zu fürchten, sie durch Geschmacklosigkeit zu verderben!). In diesem
letzten Abschnitt richten wir unseren Blick nach London, dem anderen
Schwerpunkt der Zeitschrift. In einer Ausgabe von 1799 gibt es eine ausführ-
liche Diskussion über einen Hogarth-Druck von 1741, The Enraged Musician,25
der einen übenden Musiker parodiert, der von den Geräuschen der Straßen-
schreier gestört wird – der Musiker ist wahrscheinlich Italiener, ein häufiges
Ziel der Satire in England zu dieser Zeit.

Abb. 5.2 William Hogarth, The Enraged Musician (1741)

25 William Hogarth, The Enraged Musician, Prints, 1741, Kupferstich, 36x36cm, The
Metropolitan Museum of Art, New York (online unter: http://library.artstor.org.proxy.
mul.missouri.edu/asset/SS7731421_7731421_11205808 [letzter Zugriff: 14.08.2018]).

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96 Sean Franzel

Das Bild stellt die vermeintliche Harmonie anspruchsvoller Musik den


Schreien und blasenden Hörnern mobiler Straßenhändler gegenüber – es
gibt einen Messerschleifer, einen Schweinekastrierer, einen Straßenkehrer
(dust man), einen Oboisten, einen Flunderverkäufer sowie eine Balladen-
Sängerin mit einem weinenden Baby.26 Dieses Bild wurde im 18. Jahrhundert
viel kommentiert – wenn auch nicht von Lichtenberg. Es entstand sogar ein
Musiktheaterstück auf der Grundlage dieser Druckgraphik, das 1789 zum
ersten Mal aufgeführt wurde – eine Aufführung, die Lieder beinhaltete und mit
einem tableau vivant nach dem Hogarth-Bild endete.27 In der großen Menge an
Kommentaren zu diesem Bild bleibt der Status der zentralen Figur, der Milch-
verkäuferin, eine offene Frage, fast schon ein Rätsel: Ist dies die einzige Figur,
die nicht grotesk dargestellt ist? Ein Hogarth-Experte hat 1992 argumentiert,
dass wir ihre Stimme als schön betrachten müssten und dass das Milch-
mädchen eine vermittelnde Rolle zwischen ästhetischen Prinzipien sowie
zwischen sozialen Klassen, zwischen hoch und niedrig spiele: „Her carriage,
her expression, her function of distributing milk all imply the sweetness of
her song as a harmonious yet vital alternative to both the artificiality of the
Musician’s Music and the cacophony of the plebians.“28 Andere haben diese
Interpretation mit Skepsis bedacht und behauptet, dass ihre übermäßig
muskulösen Arme dafür sorgen, dass sie nicht vollkommen schön sei usw.
– und natürlich können wir nicht wissen, wie sich ihr Schrei tatsächlich an-
hörte.29 Aber für unsere Zwecke dient der offene Mund hier als deutlicher
Topos der Lebendigkeit und Vitalität.30
Es ist jedoch nicht mein Ziel, eine Schlussfolgerung über die Schönheit des
Milchmädchens zu ziehen. Vielmehr interessieren mich die Resonanzen des
Hogarth-Werkes im Hinblick auf eine spätere Karikatur aus den 1790er Jahren
von Isaac Cruikshank, die in London und Paris abgebildet wurde und Anlass
zur Diskussion von Hogarths Darstellung in der Zeitschrift gab.

26 Vgl. Jeremy Barlow, The Enraged Musician: Hogarth’s Musical Imagery, Burlington, VT,
2005, S. 218.
27 George Colman, Ut Pictura Poesis! Or, the Enraged Musician. A Musical Entertainment
founded on Hogarth, London, 1789.
28 Ronald Paulson, Hogarth, Bd. 2: High Art and Low 1732–1750, New Brunswick, NJ, 1992,
S. 115.
29 Barlow, The Enraged Musician, S. 211–212.
30 Fehrenbach diskutiert in anderem Kontext den Topos des offenen Mundes; vgl. Frank
Fehrenbach, „Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen
Bildes‘ in der frühen Neuzeit“, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den
Künsten der italienischen Renaissance, hg. von Ulrich Pfisterer und Max Seidel, Berlin/
München, 2003, S. 151–170, hier S. 155.

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Abb. 5.3 Nach Isaac Cruikshank, The Enraget Politician or the Sunday Reformer or a Noble
Bellman Crying Stinking Fish (1799)

Dieses spätere Bild und der dazugehörige Kommentar greifen bestimmte


Themen auf, die ich bereits diskutiert habe, einschließlich der Multimedialität
von Darstellungen städtischen Klanges, der Ästhetik von Neuheit und Häss-
lichkeit, der Vergänglichkeit von Ton und Druck, aber auch Strukturen von
Wiederholung und Wiederkehr, die die sich kreuzenden Welten von Straßen-
händlern und gedruckten Zeitschriften hervorrufen.
Wie Böttiger bemerkt, wurde Hogarths Bild im Laufe des 18. Jahrhunderts
häufig nachgedruckt, wobei es nichts von seiner Fähigkeit verloren hat, herz-
liches Lachen hervorzurufen, und im Lauf der Zeit eine Art Klassiker ge-
worden ist.31 Aber anders als der oben zitierte moderne Kommentator scheint
Böttiger die zentrale Figur des Milchmädchens nicht mit einer Vorstellung
von harmonischer Schönheit zu identifizieren und unterscheidet sie nicht

31 Wie Böttiger sagt, ist dieses Bild ,,in England durch hunderfältige Abdrucke und Nach-
bildungen bis auf den heutigen Tag eine unversiegbare Quelle des unsterblichen Ge-
lächters.“ Karl August Böttiger, „Englische Carricatur“, in: London und Paris IV/7, 1799,
S. 246–253, hier S. 247.

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von den anderen Figuren; stattdessen beschreibt er die Gesamtwirkung des


Bildes folgendermaßen: „Man hört und sieht auf jenem Blatte mehr als dreyßig
verschiedene rauhe, scharfe, schneidende, zischende, quickende, heulende,
brummende, kreischende und brüllende Mißtöne in furchtbar mißhelligen
Einklang zusammengepaart.“32 Nach Böttiger haben wir es mit einem Bild zu
tun, das zwar die Koexistenz, nicht aber die Kohäsion dieser verschiedenen
Laute darstellt. Die Aufzählung von quasi-lautmalenden Klangwörtern
(zischend, brummend, etc.) hilft dabei, die Klänge zu simulieren, die wir uns
auf der Grundlage ihrer bildlichen Darstellung vorstellen sollten: „man hört
und sieht auf jenem Blatte […].“33
In der Tat wird die oben diskutierte Idee, dass die Klänge der Straßen-
schreier eine Art von Musik seien, hier fortgesetzt, und es handelt sich noch
einmal deutlich um die Unterscheidung zwischen hoch und niedrig. Zu dem
Cruikshank-Bild übergehend betont Böttiger, dass die beiden Bilder genau
wie auch der größere Diskurs über Straßenschreier musikalische Metaphern
aufgreifen, und er bezeichnet die Gruppe der Ausrufer im Cruikshank-Bild als
„Orchester“: „Das hier concertirende Orchester besteht, alle Köpfe im Hinter-
grunde mitgerechnet, aus vierzehn Virtuosen“34, und die „Primadonna“ ist die
Makrelenhändlerin in der Mitte des Bildes, die uns ihren Rücken zuwendet.35
Auch dieser Verweis auf hohe und niedrige Musikkultur baut auf dem Hogarth-
Werk auf, und Böttiger betont, dass beide Bilder grundsätzlich von ‚Dissonanz‘
geprägt sind.
Allerdings passt Cruikshank die allgemeinere urbane Szene bei Hogarth
einer aktuellen politischen Debatte an, auf die ein Artikel in der gleichen
Ausgabe von London und Paris ausführlicher eingeht und auf die sich auch
Böttiger bezieht: Ein prominenter Londoner Politiker – der ‚Enraged Politician‘
im Fenster – wollte die Sonntagszeitungen verbieten, um die öffentliche Moral
zu verbessern, den Sonntag zu einem Tag der Ruhe und Erholung zu machen
und die Menschen (besonders die Armen) dazu zu ermutigen, in die Kirche
zu gehen. Sonntagszeitungen waren jedoch besonders beliebt, es gab sogar
mehr von ihnen, als es Tageszeitungen während der Arbeitswoche gab, unter
anderem aus dem Grund, dass die Menschen an Sonntagen mehr Zeit zum
Lesen hatten. Der Gesetzesentwurf wurde abgelehnt, die Kakophonie der
Zeitungsverkäufer an Sonntagen setzte sich fort, und Cruikshank schloss diese

32 Böttiger, „Englische Caricatur“, S. 246.


33 Ebd.
34 Ebd., S. 251.
35 Zu den vielen Darstellungen von Fischweibern in England im 18. Jahrhundert vgl.
auch Paula McDowell, The Invention of the Oral: Print Commerce and Fugitive Voices in
Eighteenth-Century Britain, Chicago, 2017, S. 192–228.

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Les Cris de Paris 99

zusätzliche Eigenschaft von Nachrichtenschreiern oder sogenannten ‚News-


men‘ in seine Karikatur ein, die bei Hogarth sechzig Jahre früher nicht erwähnt
wird. Wie es der frühere Artikel über diese politische Debatte und auch Böttiger
erwähnen, trugen die Zeitungsverkäufer ein Horn oder eine Glocke mit sich,
was zum Straßenlärm hinzukam – genau das können wir auch in Cruikshanks
Bild sehen, und zwar zusammen mit den Namen der verschiedenen Zeitungen
und der Art und Weise, wie für diese geworben wurde. Im Vergleich zu dem
Hogarth-Bild, dessen kunstvolle und detailreiche Komposition einem mehr-
fachen Betrachten dient, haftet die Aktualität und Ephemeralität der Welt der
Zeitschriften dem Bild von Cruikshank an, sowohl was das Thema des Bildes
betrifft als auch seine skizzenhafte, zweidimensionale Linienkomposition und
sein Status als Zeitschrifteneinlage.36
Mich interessiert in diesem Zusammenhang besonders, wie bei Cruikshank
der Zeitschriftenkontext die Darstellung der Stimmen der Ausrufer gestaltet
und organisiert. Wir könnten mit der Art und Weise beginnen, wie die Sprech-
blasen die Ausrufe kommunizieren, denn diese Blasen vermitteln als weiße,
rechteckige, zweidimensionale Oberflächen Informationen auf die gleiche
Weise wie die tatsächlichen Druckerzeugnisse, die in den Bildern selbst ab-
gebildet sind: Ob auf den Hüten der Nachrichtenmänner, die zeigen, welche
Zeitungen sie verkaufen; auf den Zeitungen selbst; mit dem Gesetz, das vom
Fenster des Politikers hinunterhängt; oder der Notenschrift auf dem Musik-
ständer im Haus. Hier könnte man sagen, dass die Stimme mit der Mediali-
tät des Druckes durchdrungen wird, d.h. dass die Stimme medialisiert wird.
Darüber hinaus wird das Bewusstsein, dass diese Ausrufe sich wiederholen
und variieren – und zwar jeden Sonntag – durch die verwandte Vorstellung der
Periodizität und Serialität der Zeitungen verstärkt.
Böttiger geht anschließend direkt auf die Frage nach der Darstellung von
Stimmen ein, mit einer längeren spielerischen Passage über die zentrale Figur
mit dem Rücken zum Leser, der „Makrelenkaryatide“ – in der antikisierenden
Architektur ist „Karyatide“ der Terminus für weibliche Figuren, die als archi-
tektonische Stütze dienen (neben der Bearbeitung von führenden Zeit-
schriften wie dem Neuen Teutschen Merkur, dem Journal des Luxus und der
Moden und London und Paris war Böttiger auch ein Klassizist und Antiquar der
höchsten Ordnung und füllte seine Kommentare mit satirischen Anspielungen
auf die Antike). Mit diesem architektonischen Begriff beschreibt Böttiger die
drei zentralen Frauen des Werkes, aber er betont auch die Positionierung der
zentralen Frau, die uns den Rücken zuwendet. Er spekuliert erst darüber, wie

36 Nichtsdestotrotz sind Aktualität und Druckerzeugnisse auch schon Thema im Hogarth-


Bild, welches eine Ankündigung für die Beggar’s Opera an der Wand zeigt.

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100 Sean Franzel

sie aussehen könnte und bringt sie dann mit der zweiten Makrelenhändlerin
in Verbindung, die nur ein „Wiederhall“ der ersten ist, „oder, um mit dem
lyrischen Dichter der Römer zu reden, nur das Bild der Stimme, die von der
Mitte ausgeht und dort an der Wand anprallt.“37 Unter Berufung auf Horaz’
zwölfte Lobes-Ode auf Jupiter, dessen Name durch Wiederholung oder Echo
des Dichters widerhallen soll, wird der zweite Straßenverkäufer als die Wieder-
holung, das Echo der ersten, ja als Reproduktion und Visualisierung der (ver-
mutlich hässlichen) Stimme des ersten charakterisiert. So beschreibt Böttiger
den Körper als visuelle Darstellung des Klanges der Stimme und bezieht
sich dabei auch auf die konkrete Räumlichkeit der Straßenszene, in der die
Stimme buchstäblich von den umgebenden Wänden hallt, was dann durch
die Positionierung der zweiten Frau an der Wand metaphorisiert wird. Neben
der Andeutung, dass der Körper die Stimme genau wie andere Stimmen und
andere Körper in der Szene visualisiert, verweist Böttiger explizit auf einen
Begriff der Darstellung der Stimme, in dem einzelne Stimmen die Kopien,
Echos, Bilder anderer Stimmen sind. Diese Erkenntnis greift die Verdoppelung
dieser verschiedenen Figuren auf, die bei Hogarth fehlte – hier gibt es zwei
Makrelenverkäuferinnen, einen Milchverkäufer und eine Milchverkäuferin
und mehrere Zeitungsverkäufer. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass dieser
Verdopplungs- oder Echoeffekt ebenfalls auf die Positionierung der Sprech-
blasen bezogen werden kann, was eine Vorstellung der von den Wänden ab-
prallenden Klänge erzeugt.
Vorschlagen möchte ich daher, auch diese Verdoppelung mit dem medialen
Kontext der gedruckten Zeitschrift zu verbinden, denn ein Echo kann als
eine Metapher für die Reproduktion gesehen werden, die die visuellen
Assoziationen mit der Welt der Zeitungen suggeriert und erweitert. Auf die
gleiche Weise, wie auch die Nachrichtenmänner ihre Kunden durch den
Wunsch nach den neuesten ‚Bloody News‘ erreichen wollen, wirbt die zentrale
Makrelenverkäuferin mit vermutlich etwas weniger faulen, ‚neuen Makrelen‘.
Die Makrelenverkäuferin verspricht eine Frische und Aktualität, die ebenso
Attribute der Zeitungen sind. Der Fisch ist neu, die Nachrichten sind neu, es ist,
als ob das ganze Orchester der Straße ‚Neu‘ schreit, aber es ist eine vergängliche
Neuheit, denn der Tod lauert an jeder Ecke. Die Nachrichten, die die Straßen-
schreier verkaufen, werden veralten und irrelevant sein: Im Fall der Makrele
werden sie buchstäblich zerfallen, falls sie nicht verkauft werden. Folgendes
ist also meine Behauptung: Dass unsere Versuche, uns diese hier dargestellten
Geräusche vorzustellen, von Metaphern geprägt werden, die mit der Welt des
Druckes in Verbindung stehen, und die sowohl von der Figuralität als auch von

37 Böttiger, „Englische Carricatur“, S. 252.

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Les Cris de Paris 101

der Materialität der Zeitschrift abhängen. Und wie oben wirkt diese Szene wie
eine wiederkehrende: Nach dem Vorbild der Sonntagszeitungen sind diese
Aufrufe des ‚Neuen‘ jeden Sonntag zu hören.
Das Bild von Cruikshank durchdringt die Szene mit einer zeitlichen und
medialen Logik, die in Hogarths Darstellung nicht vorhanden ist und die ein-
deutig aus dem politischen und medialen Moment der 1790er Jahre stammt.
Die Ephemeralität der Straßenschreie ist reziprok mit der vergänglichen
Neuheit der Journale verbunden, ebenso wie mit dem Aufgehen des kako-
phonischen Klanges des gesamten Ensembles in die Luft. Wir haben es hier mit
einem kurzlebigen, ephemeren, aber wiederkehrenden Geräusch zu tun, das
für jedes der drei hier behandelten Beispiele charakteristisch ist. Im Hinblick
auf die Ästhetik der Lebendigkeit greift diese Tableauliteratur auf ein Modell
heterogener Mischung und Schichtung zurück, allerdings auf ein dissonantes
Modell, das nicht kohärent ist. Es ist aber auch ein Modell der Heterogenität,
das durch Wiederholung und Wiederkehr gekennzeichnet ist. Diese Wieder-
holung ist zum Teil ein ethnographisches Detail, das zeigt, wie bestimmte
Praktiken des Handelslebens über lange Zeiträume hinweg bestehen blieben,
aber es ist auch eine Form von Wiederholung, Variation und Schichtung, die
durch die Rhythmen der periodischen Presse durchdrungen wurden.

Literatur

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Abbildungen

Abb. 5.1: „Les Cris de Paris“, in: London und Paris III/2, 1799, Tafel B.
Abb. 5.2: William Hogarth, The Enraged Musician (1741), Kupferstich, 36x36cm. The
Metropolitan Museum of Art, New York (Online unter: http://library.
artstor.org.proxy.mul.missouri.edu/asset/SS7731421_7731421_11205808
[letzter Zugriff: 17.08.2018]).
Abb. 5.3: Nach Isaac Cruikshank, The Enraget Politician or the Sunday Reformer or a
Noble Bellman Crying Stinking Fish, Kupferstich, koloriert, 19x24cm, in:
London und Paris IV/7, 1799, Tafel XIX. Abdruck mit freundlicher Geneh-
migung der Lewis Walpole Library, Yale University.

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Annette Kappeler

„Dramatische Darstellung in ihrem organischen


Zusammenhange“
Lebendiges Theaterspiel um die Wende zum 19. Jahrhundert

Um 1800 sind die Begriffe des Lebendigen und des Organischen in Natur-
forschung, politischer Theorie und Kunstphilosophie allgegenwärtig. Sie werden
mitunter synonym verwendet,1 mitunter klar voneinander abgegrenzt.2 Auch
in Texten zur Schauspieltheorie und -praxis spielen sie eine entscheidende
Rolle: Nicht nur Theateraufführungen werden um 1800 als Organismen be-
zeichnet, die sich in Wechselwirkung zwischen Teilen und Ganzem selbst
hervorbringen. Auch die Probenarbeit wird als organisches Gefüge be-
schrieben, das den Organismus der Aufführung erst hervorbringt. Stimme
und Gebärdenspiel gelten dabei als diejenigen Organe, die die Einheit des auf-
geführten Organismus garantieren können. Der Organismus steht häufig auch
Modell für Organisationsformen des Theaterbetriebs, der um 1800 im Um-
bruch begriffen ist und auf Basis unterschiedlicher soziopolitischer Ansätze
neu strukturiert wird.
Der Begriff der (theatralen) Darstellung steht in Texten zum Theater um
1800 nicht nur für die gesamte Aufführung und die Ausführung einer Rolle,
sondern häufig auch spezifischer für Gestik und Mimik: „Das Geberdenspiel,
insofern sich der Schauspieler desselben bedient, heißt theatralische
Darstellung,“3 liest man in der Neuen deutschen Dramaturgie von 1798. Mimik
und Gestik der Schauspieler/innen gelten als Garant für einen lebendigen
Ausdruck und stehen so häufig stellvertretend für den gesamten Akt der Dar-
stellung. Ich werde hier aber nicht weiter auf den um 1800 so zentralen wie
komplexen Begriff der Darstellung eingehen und mich im Folgenden auf eine

1 Z.B. von Christoph Girtanner. Siehe Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie.
Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 2011, S. 434.
2 So z.B. von Immanuel Kant. Hans Werner Ingensiep hat Kants Differenzierung der Begriffe
deutlich gemacht – sie beruht auf dem Kriterium der Tätigkeit bzw. des Begehrens, das allen
lebendigen, aber nicht allen organischen Körpern eigen ist. Siehe Hans Werner Ingensiep,
„Organismus und Leben bei Kant“, in: Kant-Reader. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was
darf ich hoffen?, hg. von dems., Heike Baranzke und Anne Eusterschulte, Würzburg, 2004,
S. 107–136, hier S. 107.
3 Johann Gottlieb Rhode, Neue deutsche Dramaturgie, Altona, 1798, S. 214.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_007


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106 Annette Kappeler

Auseinandersetzung mit den Begriffen des Lebendigen und des Organischen


im Theaterdiskurs um 1800 beschränken.
Die Quellen meiner Studie sind zwischen 1789 und 1841 publizierte deutsch-
sprachige Texte, die sich mit der Ausbildung von Schauspieler/innen und
Sänger/innen, mit der Probenarbeit, der Organisation von Theatern, mit Gestik,
Mimik, Deklamation und Bühnenausstattung befassen. Viele dieser Texte setzen
mit einer Kritik der herrschenden Schauspielpraxis (bzw. konkreter Theater-
aufführungen) ein und entwerfen in Folge Anweisungen zur Umgestaltung
von Bühnenpraxis, Schauspiel-Ausbildung und Theaterorganisation. Sprech-
theater und Oper, Schauspieler/innen und Sänger/innen werden meist in
einem Atemzug genannt, weswegen mir eine Trennung der Gattungen auch
hier nicht sinnvoll erscheint.

Die Wissenschaft vom Lebendigen

Biologie
Die Naturforschung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist von der Idee
geprägt, ‚lebendige‘ Naturerscheinungen von ‚unbelebten‘ abzugrenzen. Um
1800 formiert sich die Biologie als eigenständige Wissenschaft vom Leben, die
der Besonderheit des Lebendigen gerecht werden möchte.4 Michel Foucault
beschreibt diese Ersetzung der Naturforschung durch eine neu strukturierte
Biologie in Les mots et les choses folgendermaßen:

[W]enn die Biologie [im 18. Jahrhundert] unbekannt war, [gab es] dafür einen
ziemlich einfachen Grund [...]: das Leben selbst existierte nicht. Es existierten
lediglich Lebewesen, die durch einen von der Naturgeschichte gebildeten Denk-
raster erschienen.
Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird eine neue Konfiguration er-
scheinen, die für die modernen Augen den alten Raum der Naturgeschichte end-
gültig trüben wird. [...] [D]as Leben [erreicht] seine Autonomie gegenüber den
Begriffen der Klassifikation.5

Wenn also vor 1800 die Struktur und die Klassifizierung sichtbarer Merkmale
die ‚natürliche‘ Welt organisierten, so ist es nach diesem Zeitpunkt die (innere)

4 André Karliczek, Modelle des Lebendigen. Interaktionen von Physiologie, Biologie und Patho-
logie von Boerhaave bis Meckel, Diss., Jena, 2014, S. 236.
5 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, über-
setzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M., 2009, S. 168 u. 209f. Vgl. ders., Les mots et les choses.
Une archéologie des sciences humaines, Paris, 1966, S. 139, 175f.

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„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange “ 107

Anatomie von Organismen. Der Organismus bildet immer stärker das Leit-
modell der im Entstehen begriffenen Biologie, die Foucault eine „Theorie des
Organismus“6 nennt.
Eine der Publikationen, die den Begriff der Biologie einführen, ist Gottfried
Reinhold Treviranus’ Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur (1802–1822),
die die Notwendigkeit einer Wissenschaft vom Leben u.a. mit ästhetischen
Kriterien begründet: Das Leben, so Treviranus, sei das „Einzige auf Erden, was
Reitz für den Menschen [habe], das Einzige, was den Sinn für Einfalt, Schönheit
und Erhabenheit [nähre] und [erhalte], […] und zugleich für die Einbildungs-
kraft eine unerschöpfliche Quelle der lieblichsten Bilder [sei].“7 Treviranus’
Ausgangspunkt sind also nicht strukturelle Kriterien zur Unterscheidung von
Lebendigem und toter Materie, sondern eine menschliche Neigung für die
Schönheit des Organischen, was die enge Verbindung zwischen Kunsttheorie
und Naturforschung um 1800 veranschaulicht.

Lebenskraft
Um die Besonderheit lebendiger Wesen zu definieren, sucht man im 18. Jahr-
hundert – in Analogie zu Newtons Gravitationskraft, die die ‚unbelebte‘ Welt
strukturiert und Bewegungen ihrer Körper systematisiert – nach einer Kraft, die
spezifische Eigenschaften lebendiger Körper und deren Widerstand gegenüber
grundlegenden Naturgesetzen fassen kann.8 Dabei spielen charakteristische
Bewegungen lebendiger Wesen eine zentrale Rolle: muskuläre Reflexe und
neurophysiologische Reaktionen.9
In diesem Zusammenhang sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispiels-
weise die Arbeiten Albrecht von Hallers sehr einflussreich, die auf Mitte des
Jahrhunderts in der neu gegründeten Universität Göttingen gehaltenen Vor-
trägen basieren. Sie beschreiben die Prinzipien der ‚Irritabilität‘ und der
‚Sensibilität‘ der ‚Muskel-‘ bzw. der ‚Nervenfaser‘ als Grundlage lebendiger Be-
wegungen. Die ‚Faser‘ bildet in Hallers Denksystem die Basis der Bewegung
lebendiger Körper. ‚Irritabilität‘ bezeichnet die Disposition der (Muskel-)Faser
zur Bewegung, die sich bei einer Reizung als Kontraktion zeigt. Diese kann

6 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 189; ders., Les mots et les choses, S. 158.
7 Der Begriff der Biologie wurde außerdem um 1800 u. a. von Jean-Baptiste de Lamarck
in seiner Hydrogéologie (1802) und von Michael Christoph Hanow in seiner Philosophia
naturalis (1766) verwendet. Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 122.
8 Joseph Roach, The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting, London/Toronto, 1985,
S. 94; Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 108.
9 Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in
der Politischen Romantik, Freiburg i.Br., 1999, S. 104.

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108 Annette Kappeler

unabhängig von neurophysiologischen Reizen stattfinden – dem Körper wird


hier eine gewisse Autonomie eingeräumt.10 ‚Sensibilität‘ dagegen bezeichnet
eine neurophysiologische Funktion – die Disposition der ‚Nervenfaser‘ zur Re-
aktion auf innere und äußere Reize. Der Körper ist dabei ein selbstregulativer
Organismus, der von einem Nervensystem gesteuert werden kann.11
Die Prinzipien der ‚Irritabilität‘ und der ‚Sensibilität‘ werden in Nachfolge
Hallers zu Grundprinzipien des Lebens erhoben.12 Um 1800 wird die Reiz-
barkeit der Faser meist nicht mehr als Antrieb, sondern nur als Merkmal des
Lebendigen verstanden, und man sucht nach einer Kraft, die Lebendiges
hervorbringen und erhalten kann.13 Der Begriff der Lebenskraft avanciert so
im deutschsprachigen Raum spätestens mit Friedrich Casimir Medicus’ 1774
publizierter Schrift Von der Lebenskraft zum zentralen Begriff der Natur-
forschung. Sowohl Caspar Friedrich Wolffs 1789 gedruckte Schrift Von der
eigenthümlichen und wesentlichen Kraft der vegetabilischen sowohl als auch
der animalischen Substanz als auch Johann Friedrich Blumenbachs 1781 er-
schienener Band Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte beein-
flussen nicht nur die im Entstehen begriffenen Lebenswissenschaften, sondern
wirken auch auf Philosophie und Kunsttheorie prägend.
Blumenbach nimmt nicht nur eine lebenserhaltende, sondern auch eine
bildende Kraft an, die den Gestaltungsprozess lebendiger Körper vorantreibt:
Ein „besondrer, eingebohrner, Lebenslang thätiger würksamer Trieb“ bringt
Blumenbach zufolge lebendige Wesen dazu, eine „bestimmte Gestalt anzu-
nehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja etwa zerstört worden, wo möglich
wieder herzustellen.“14 Mit der Idee der bildenden Kraft wird die Vorstellung
von der ‚Epigenese‘ lebendiger Körper, die im 17. und 18. Jahrhundert nur von
wenigen Denkern vertreten wurde,15 zu einem weit verbreiteten Denkmodell.
Bei der Entwicklung eines lebendigen Körpers bilden sich diesem zufolge
neue Strukturen heraus, die nicht gleichförmiges Abbild der Ei- oder Samen-
zelle sind, sondern in dieser nur ihre zureichende Ursache haben. Lebewesen

10 Matala de Mazza, Der verfaßte Körper, S. 106.


11 Ebd., S. 107, 115.
12 Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 80.
13 Ebd., S. 227.
14 Johann Friedrich Blumenbach, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte,
Göttingen, 1781, S. 15.
15 U.a. René Descartes, William Harvey, Caspar Friedrich Wolff.

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„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange “ 109

haben so die Kraft, aus sich selbst heraus ihre Strukturen zu erhalten und auch
neue hervorzubringen.16

Organismus
Während Kant sich in seinen frühen Schriften der Irritabilitätslehre Hallers
anschließt und die „Muskelfaser als das erste organon der Bewegung des
Lebens“ versteht,17 folgt er später der Blumenbachschen Variante der
Epigenesis-Theorie, der zufolge der „Bildungstrieb“ Materie zu organisierten
Wesen formt.18 Diese begreift Kant als dynamische Gefüge von Teilen und
Ganzem, die nicht nur organisiert sind, sondern sich auch selbst organisieren:

Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich be-
wegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche,
die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine
sich fortpflanzende bildende Kraft welche durch das Bewegungsvermögen allein
(den Mechanism) nicht erklärt werden kann.19

Der Begriff der ‚Organisation‘ wurde zuweilen bereits seit Ende des 17. Jahr-
hunderts für eine Charakterisierung des Lebendigen herangezogen.20 Es
verbreitete sich die Vorstellung, dass das – vorerst oft als statisch gedachte –
wechselseitige Verhältnis der Teile eines Körpers zueinander das sei, was das
Wesen des Lebendigen ausmache.21 Während jedoch im 18. Jahrhundert eine
mechanistische Sichtweise ‚natürlicher‘, ‚organisierter‘ Körper vorherrschend
war,22 und noch Ende des Jahrhunderts Maschinen und Organismen häufig in
Analogie zueinander gedacht wurden,23 bildet sich um 1800 ein antithetisches
Verständnis von Mechanismen und Organismen heraus.24

16 Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn, 1989, S. 312, siehe
auch Jan Völker, Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik, München, 2011, S. 124.
17 Ingensiep, „Organismus und Leben bei Kant“, S. 122.
18 Ebd., S. 115.
19 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg, 2009, §65, S. 280.
20 So u.a. von Georg Ernst Stahl oder Gottfried Wilhelm Leibniz, siehe Toepfer, Historisches
Wörterbuch der Biologie, S. 431.
21 Ebd.
22 Matala de Mazza, Der verfaßte Körper, S. 103f.
23 Georges-Louis Leclerc de Buffon und Charles Bonnet kennen deshalb beispielsweise
‚organische Maschinen‘. Siehe Jürgen Link, „Subjektivitäten als (inter)diskursive Er-
eignisse. Mit einem historischen Beispiel (der Kollektivsymbolik von Maschine vs.
Organismus) als Symptom diskursiver Positionen“, in: Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie
und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, hg. von Reiner Keller, Werner
Schneider und Willy Viehöver, Wiesbaden, 2011, S. 53–67, hier S. 64.
24 Link, „Subjektivitäten“, S. 61.

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Dieses beruht u.a. auf der Vorstellung der Selbstorganisation – während


Maschinen von einer außerhalb derselben liegenden Kraft hergestellt und ge-
lenkt werden, können Organismen sich selber hervorbringen und am Leben
erhalten. Ein Organismus ist so Kant und anderen Denker/innen zufolge ein
sich wechselseitig bildendes und erhaltendes Gefüge von Teilen und Ganzem.25
Kants ‚organologisches‘ Modell wird Anfang des 19. Jahrhunderts von zahllosen
Denker/innen in Naturwissenschaften, Philosophie und Kunsttheorie auf-
genommen und avanciert zu einer bestimmenden Denkform bei der Heraus-
bildung der Lebenswissenschaften.26 Der Organismus wird zum Leitmodell
der sich neu formierenden Biologie:27

Im Übergang zum 19. Jahrhundert entsteht ein äußerst heterogenes Feld des
Wissens um das Lebendige, das im Austausch verschiedenster Disziplinen in der
begrifflichen Konzeption von Organismus und Organisation konvergiert. Dabei
stellt sich der lebendige Organismus in seinen komplexen, interdisziplinären
Zuschreibungen nicht nur als bloße Metapher dar, sondern darüber hinaus als
ein zentrales und universelles Organisationsprinzip, als Realität und Utopie der
Kohärenz dynamischer Systeme in ihren Außen- und Innenrelationen.28

Der Einzelorganismus als Ordnungsprinzip aber stellt die Frage nach der Ab-
grenzung von seiner Umgebung. Mit dem Konzept der ‚Assimilierung‘29 – dem
Prozess der Aneignung außerhalb eines lebendigen Körpers liegender Partikel
in seine innere Ordnung – bzw. des Stoffwechsels30 – wird der Organismus als
dynamisch mit seiner Umwelt interagierender Körper gedacht, der von einer
Polarität von Selbsterhaltung und Wandelbarkeit bestimmt ist.31
Der Einzelorganismus bildet dabei mitunter sowohl das Modell für seine
Teile als auch für den Gesamtorganismus der Natur. Viele Denker/innen
des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gehen davon aus,
dass Strukturen von Teilen (Organen, Zellen), Einzelorganismen und der
gesamten lebendigen Natur sich in Analogie zueinander verhalten.32 Johann

25 Tobias Cheung, „What is an ‚Organism‘? On the Occurrence of a New Term and Its
Conceptual Transformations 1680–1850“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32,
2010, S. 155–194, hier S. 179.
26 Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 199.
27 Link, „Subjektivitäten“, S. 65.
28 Robert Hanulak, Maschine – Organismus – Gesellschaft. Physiologische Aspekte eines
Lebensbegriffs um 1800, Frankfurt a.M., 2009, S. 11.
29 Cheung, „What is an ‚Organism‘?“, S. 170; ders., Organismen. Agenten zwischen Innen- und
Außenwelten 1780–1860, Bielefeld, 2014, S. 49f.
30 Cheung, Organismen, S. 128.
31 Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, S. 438; Cheung, Organismen, S. 75.
32 Cheung, „What is an ‚Organism‘?“, S. 171.

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„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange “ 111

Wolfgang von Goethe beispielsweise beschreibt die Analogie von Mikro- und
Makrokosmos folgendermaßen:

Die Natur, inwiefern sie rastlos neue Erscheinungen ihres innern Lebens hervor-
ruft, ist der Organismus schlechthin (Makrokosmus). Jedes einzelne sich aus
sich selbst entwickelnde Naturwesen, inwiefern es nur im allgemeinen Organis-
mus der Natur bestehen kann, sein Leben nur Ausfluß höhern Urlebens ist, heißt
Teilorganismus, (endlich-individueller Organismus, Mikrokosmus), und seine
Entfaltung ist nur unter Einwirkung des allgemeinen Naturlebens möglich.33

Die Ausdehnung des Organismus-Begriffs auf Erscheinungen außerhalb der


‚belebten Natur‘ wirft Fragen nach der Form der Selbstorganisation auf, die
komplexe Systeme wie ‚die Gesamtnatur‘ oder auch Kunstwerke bestimmen,
und natürlich auch Fragen nach ihrer Interaktion mit außerhalb ihrer selbst
liegenden Entitäten.

Arbeit am Theater

Das Kunstwerk als Organismus


Kant besteht in seiner Bestimmung des Organismus-Begriffes in der Kritik der
Urteilskraft auf dem Element der Selbstorganisation und weist aus diesem
Grund auf die Ungleichheit von Kunstwerk und Organismus hin:

Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei
weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da
denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert
sich vielmehr selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach
einerlei Exemplar im ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen,
die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert.34

Ein Kunstwerk, das als von einem Urheber/einer Urheberin geschaffen ge-
dacht wird, verhält sich also Kant zufolge nicht wie ein Organismus, der sich
eigenständig bildet und erhält.
Der ‚natürliche‘ Organismus steht im beginnenden 19. Jahrhundert aber
entgegen Kants Vorbehalten häufig Modell für das Kunstwerk.35 In der Neuen
Leipziger Literaturzeitung wird 1806 beispielsweise „eine neue ästhetische

33 Johann Wolfgang von Goethe, Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 22 Bänden,
Bd. 19, Stuttgart, 1959, S. 396.
34 Kant, Kritik der Urteilskraft, §65, S. 280.
35 Roach, The Player’s Passion, S. 163. Siehe auch: Lars-Thade Ulrichs, „Das ewig sich bildende
Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800“, in:

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Schule“ ausgerufen, die fordere, Kunstwerke mit „organischen Gebilden [zu]


vergleichen“.36 In den 1820er Jahren ist es beinahe schon ein Gemeinplatz,
Dramentexte, musikalische Kompositionen und Opernpartituren als Organis-
men zu bezeichnen. Es ist in diesem Zusammenhang beispielsweise vom
„poetischen Organismus des Stücks“ oder von der „schwellende[n] Pulsader,
die den dramatischen Organismus mit Glut und Kräftigkeit durchdringt“,
die Rede.37 Die Idee der dynamisch-organischen Ganzheit des Kunstwerks
wird dabei litaneiartig wiederholt: „[D]as Wesen und eigentliche Leben eines
Kunstwerks [besteht] gleich dem eines jeden organischen Wesens in seiner
(unzertrennten) Ganzheit,“ heißt es so in der Kunst des Gesanges von Adolph
Bernhard Marx.38
Die Analogie von Kunstwerk und ‚natürlichem‘ Organismus, die um 1800 so
häufig aufgerufen wird, beruht dabei Kant zufolge auf der folgenden Ähnlich-
keit: Obwohl das Kunstwerk absichtlich hervorgebracht wird, scheint es doch
aus sich selbst heraus ohne Absicht entstanden zu sein – es sieht aus wie ein
natürliches Phänomen. Das Genie aber, das ein solches Kunstwerk geschaffen
hat, ist dem Schöpfergott ähnlich, der ein zweckvolles Ganzes geschaffen hat,
dabei aber hinter seinem Werk unsichtbar bleibt.39 Der Organismus des Uni-
versums kann so parallel zur Schöpfung eines einzelnen Kunstwerks gedacht
werden. Eine außerhalb des Organismus gedachte liegende Kraft, die diesen
hervorbringt (und kontrolliert), ist somit in einem theologischen Denken
eines hinter seinem Werk zurücktretenden Schöpfergottes zu verorten.

Theater-Aufführungen
Noch häufiger aber werden Dramentexte und Kompositionen im beginnenden
19. Jahrhundert als tote Materie beschrieben, die erst in der Aufführung zum
Leben erweckt wird. In der Wochenzeitschrift für Menschenbildung bemerkt
Johann Heinrich Pestalozzi 1815 beispielsweise, dass ein Musikstück während
einer Aufführung zwangsläufig von einer mechanischen Daseinsform in eine
organische erhoben werde:

Mechanismus, der nichts weiter wäre als dies, ist in der Tonkunst, sobald
sie lebendig, d.h. ausgeübt wird, unmöglich. Das ist eben eine ihrer hohen
Eigenthümlichkeiten, daß ihr Mechanismus vor der lebendigen Anschauung
immer organisch ist.40

Ästhetik und Philosophie der Kunst, hg. von Jürgen Stolzenberg und Karl Ameriks, Berlin,
2007 (= Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 4), S. 256–290.
36 Neue Leipziger Literaturzeitung 1, 1806, S. 457.
37 Z.B. Didaskalia oder Blätter für Geist, Gemüth und Publizität 182, 1829, S. 608, 622 u. 1078.
38 Adolph Bernhard Marx, Die Kunst des Gesanges theoretisch-praktisch, Berlin, 1826, S. 277.
39 Ulrichs, „Das ewig sich bildende Kunstwerk“, S. 157f.
40 Johann Heinrich Pestalozzi, Wochenzeitschrift für Menschenbildung 2/3, 1815, S. 41.

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„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange “ 113

Pestalozzi versteht die Aufführung in Anlehnung an antike Beseelungsvor-


stellungen als einen Vorgang, der einen Mechanismus in eine organische
Daseinsform transformiert. Der Begriff des Mechanismus wird dabei – von
jenem des Organismus abgegrenzt – zur Negativfolie der theatralen Dar-
stellung. Er kann keine Einheit mehr stiften, sondern lässt die Aufführung in
ihre Teile zerfallen. Es ist immer häufiger von der „Ohnmacht des Mechanis-
mus“ die Rede, wo „die Geltung des Organismus“ herrschen sollte.41
In den Theaterkritiken des Dramaturgischen Wochenblattes von 1816 ist das
‚Werk‘ dagegen bereits organisierte, allerdings tote Materie: „Ein dramatisches
Werk auf dem Papier ist einem todten Leichnam zu vergleichen, welchen die
Schauspieler wieder auferwecken, und lebendig dem Zuschauer vor Augen
stellen sollen.“42 Der Bezug auf den toten Körper – und nicht etwa auf tote
Materie wie Stein oder von Menschen geschaffene Artefakte – ist in diesem
Zusammenhang von Bedeutung: Ein Leichnam wird zeitgenössischen Vor-
stellungen zufolge nicht (sofort) zu unorganisierter Materie, obwohl ihm die
Lebenskraft fehlt – er bleibt organisiert, ist aber kein Organismus mehr.43 Erst
in der Aufführung wird ein bereits (oder noch) organisiertes Werk mit Lebens-
kraft gefüllt, erst in der Aufführung wirken Teile und Ganzes so zusammen,
dass sie einen Organismus hervorbringen.
Häufig wird dabei auf die Idee der Selbstorganisation von Organismen
Bezug genommen. In seiner Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem
organischen Zusammenhange von 1841 schreibt Heinrich Theodor Rötscher,
in einer guten Aufführung sehe man „ein in sich geschlossenes Ganzes, das
das Gesetz seines Lebens in sich [trage] und nur aus sich selbst heraus be-
griffen werden [könne].“44 Die Aufführung entsteht also ihren eigenen Gesetz-
mäßigkeiten zufolge aus sich selber heraus und kann nur auf Grunde dieser
verstanden werden.
Die einzelnen Schauspieler/innen sind dabei Organe der Aufführung und
müssen sich in deren Ganzheit einfügen. Erst durch das wechselseitige Zu-
sammenwirken von Gliedern und Ganzem entsteht ein Organismus. Rötscher
betont immer wieder die Notwendigkeit eines solchen „gemeinschaftlichen
Zusammenwirkens“ zur „Hervorbringung eines Ganzen“45 und beklagt die
Selbstsucht der Schauspieler/innen, die ein sich wechselseitig bildendes

41 Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen
Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, Berlin, 1841, S. 73.
42 Adolph Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, in: Drama-
turgisches Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin 25,
1816, S. 204.
43 Cheung, Organismen, S. 45.
44 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 96.
45 Ebd., S. 406.

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Gefüge von Teilen und Ganzem mitunter unmöglich machen: „[D]ie Selbst-
sucht des darstellenden Künstlers [beruht] darin, sich zum Mittelpunkt eines
Werkes zu machen, anstatt sich demselben nur als ein Glied des gesammten
Organismus unterzuordnen.“46
Aufführungen werden so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig
als sich dynamisch in Wechselwirkung zwischen Teilen (Organen) und
Ganzem selbst hervorbringende Organismen begriffen, die nicht unbedingt
einer ordnenden Kraft von außen (wie eines Regisseurs) bedürfen, sondern
aus sich heraus organisiert sind. Theateraufführungen sind im Gegensatz zu
toten (niedergeschriebenen) Werken mit einem Leben gefüllt, das auf der
Organisation von Texten beruht, diesen aber in der Aufführung neue Kraft
als Organismus gibt. Während das Kunstwerk als eine Art Bauanleitung ver-
standen wird, die von einem unsichtbaren Schöpfer angefertigt wurde, ergibt
sich seine Verlebendigung in der Aufführung selbsttätig aus dessen Struktur.

Theater-Proben
Dabei bilden sich theatrale Organismen im Diskurs des beginnenden 19. Jahr-
hunderts häufig nicht erst während der Aufführung, sondern bereits allmäh-
lich während der Probenarbeit heraus.
Um 1800 ist die Probenpraxis deutschsprachiger Theatertruppen im Um-
bruch begriffen, verschiedene Theaterformen und Produktionspraktiken ko-
existieren. Neben Wandertruppen etablieren sich stehende Ensembles, die in
festen Theatersälen spielen. Goethe, der in seinen ersten Weimarer Jahren für
ein so genanntes Liebhabertheater verantwortlich ist, entlässt beispielsweise
1792 alle dort beschäftigten Schauspieler/innen und widmet sich fortan einem
festen – ‚professionellen‘ – Ensemble.47
Während in Dokumenten der wandernden Truppen die Probenarbeit
selten erwähnt wird, finden sich beispielsweise in Texten der Weimarer
Schauspieler/innen zahlreiche Probenerinnerungen.48 Dabei kommt es unter
Goethe zu einem Anstieg der Probenzeiten,49 gleichzeitig herrscht jedoch mit-
unter eine kritische Haltung gegenüber deren repetitiver Natur. 1801 schreibt
Schiller beispielsweise an Goethe: „Dann schreckt mich auch die schreck-
liche Empirie des Einlernens, des Behelfens und der Zeitverlust der Proben
davon zurück, den Verlust der guten Stimmung nicht einmal gerechnet.“50 Die

46 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 406.


47 Annemarie Matzke, Arbeit am Theater: Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld, 2012,
S. 132.
48 Ebd., S. 134.
49 Ebd., S. 130.
50 Heinz Amelung (Hg.), Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. 3: 1799–1805,, Berlin,
1805, S. 178.

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„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange “ 115

Probenarbeit wird immer wieder als äußerst konfliktreich beschrieben. Sie


ist von ständig neuen Aushandlungen geprägt und kann erst allmählich ein
harmonisches Ganzes erkennen lassen.51 Erst in der Probenarbeit aber kann
zeitgenössischen Vorstellungen zufolge aus Teilen ein Ganzes entstehen, das
in der Verlebendigung des Werks in einer Aufführung gipfelt: „Überhaupt kann
nur auf den Proben das lebendige wahre Ensemble eingeübt und erreicht
werden, welches die Seele aller dramatischen Darstellungen ist“, heißt es 1810
in den Bremer Theatergesetzen.52
Die Leseprobe spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. An zahl-
reichen Bühnen werden Ende des 18. Jahrhunderts Leseproben eingeführt,
so u.a. von Friedrich Ludwig Schröder in den 1770er Jahren in Hamburg. Auf
dieser Probenpraxis beruhen viele zeitgenössische Schilderungen, nicht zu-
letzt in Goethes Wilhelm Meister, in dem Shakespeares Hamlet einstudiert
und vorerst gemeinsam gelesen wird.53 Da Schauspieler/innen und Sänger/
innen im 18. Jahrhundert häufig nur ihre eigenen Rollentexte aus Abschriften
bekannt sind, soll die Leseprobe ihnen den Theatertext als Ganzes vermitteln:
„Aus einer solchen ausgeschriebenen Rolle kann der Akteur oft kaum den
gramatikalischen Sinn seiner Reden auffassen, geschweige denn den Sinn und
den Gang der ganzen Scene oder gar den Sinn und Inhalt des Stücks“, ist in
einem Auszug aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche von 1816 zu
lesen. Die Leseprobe soll diesem Zustand Abhilfe schaffen.54
Diese wird häufig als Ausgangspunkt eines Entwicklungsprozesses be-
schrieben, der einen Organismus entstehen lässt. August Lewald bezeichnet
diese in einem Text zum In-Scene-Setzen als „das wichtigste Geschäft bei der
Mise en scène“ – den „geheimnisvolle[n] Moment der Krisis, wo das poetische
Kind eigentlich geboren wird.“55 Das szenische Bild kann so im Proben-
prozess immer mehr Leben erhalten und als Ganzes zusammenwachsen.56
Auch August Klingemann beschreibt die Leseprobe als die Entstehung eines
organischen Wesens, die das Verhältnis von Teilen und Ganzem bestimme:

Ihr [der Leseprobe] ist das erste Begründungsgeschäft der ganzen Darstellung
übergeben, und nicht nur das, was man den Styl, oder den durchherrschenden
Hauptton nennt, soll sich in ihr fixieren, sondern auch der Organismus ([d. h.]
das Gliederverhältnis) der dramatischen Composition, muß durch sie völlig

51 August Lewald, „In die Scene setzen“, in: ders. (Hg.), Allgemeine Theater-Revue, Stuttgart/
Tübingen, 1837, S. 249–308, hier S. 256.
52 Gesetze für das Bremer Theater unter der Direction von August Pichler, Bremen, 1820, S. 8.
53 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, 4 Bde., Frankfurt
a.M./Leipzig, 1800–1801, Bd. 3, S. 53.
54 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 204.
55 Lewald, „In die Scene setzen“, S. 266.
56 Ebd., S. 280ff.

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ins Klare gebracht werden; so daß jeder Einzelne sich auf seinem Platze gerade
nicht minder und nicht mehr geltend mache, als es das Ganze […] erfordert.57

Und schließlich ist auch der Vorschlag Adolph Müllners, an einem hypo-
thetischen Theater einen Vorleser anzustellen, der die Deklamation der ersten
Leseprobe übernehmen soll, als auf dem Organismus-Modell basierend zu
verstehen:

Ich will [den Schauspieler/innen] einen tüchtigen Vorleser halten. Der soll mir
das neue Stück einige Wochen lang tüchtig durchstudieren, und soll es dann
vor der Leseprobe dem Personal vorlesen, auf daß es eingehe in selbiges als ein
dramatisch lebendes Ganzes, dem zum theatralischen Leben nichts weiter ab-
geht, als verschiedene Stimmen [und] sich bewegende Gestalten.58

Rede und Bewegung


Es ist kein Zufall, dass Müllner in diesem Zusammenhang Stimmen und sich
bewegende Gestalten als zur Verlebendigung des Dramentextes unerlässlich
nennt. Rede und Gestik bzw. Mimik werden in Anweisungen zur Schauspiel-
kunst immer wieder als diejenigen ‚Organe‘ bezeichnet, die den Organismus
der Aufführung hervorbringen bzw. am Leben erhalten. Bereits Lessing weist
in seiner Hamburgischen Dramaturgie darauf hin, dass erst die Pantomime
der Aufführung „Wahrheit und Leben“ gebe.59 Rötscher benennt das „stumme
Spiel“ in seiner Kunst der dramatischen Darstellung als dasjenige „Organ“, das
in der Aufführung Zusammenhang stifte und ohne das es nur vereinzelte Teile
gäbe: „Die Organe, vermittelst welcher der Schauspieler gestaltet, sind Ton und
Gebärde.“60
Die Bedeutung der Elemente des Textvortrags und der körperlichen Dar-
stellung beruht auf den Kategorien der pronuntiatio und der actio aus der
antiken Rhetorik.61 Die Schauspieltheorie ist um 1800 Reinhard Meyer-Kalkus
zufolge immer noch „Seitentrieb“ der Rhetorik-Lehren62 und bezieht sich
in ihren Argumenten ebenso auf diese wie auf neue Erkenntnisse aus den

57 August Klingemann, Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche, Bd. 1, Braun-
schweig, 1819, S. 38.
58 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 205.
59 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Ersther Theil, in: ders., Sämmtliche
Schriften, Bd. 24, Berlin, 1805, S. 33.
60 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 100 u. 389.
61 Reinhart Meyer-Kalkus, „Goethe als Vorleser, Sprecherzieher und Theoretiker der Vor-
tragskunst“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
90/4, 2016, S. 529–565, hier S. 540.
62 Ebd.

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Lebenswissenschaften. Die beiden Elemente sind den antiken Rhetoriklehren


zufolge für den Effekt der enargeia, des lebhaften Vor-Augen-Stellens, von ent-
scheidender Bedeutung.63
Stimme und Bewegung sind zudem seit jeher mit Vorstellungen des
Lebendigen verbunden: Eigenständige Bewegung gilt seit der Antike als (wenn
auch nicht ausreichendes) Merkmal des Lebens.64 Körperbewegung wird auch
im 18. Jahrhundert häufig als Ausdruck des Lebensprinzips der Irritabilität
bzw. Sensibilität im Sinne Hallers verstanden. Johann Gottlieb Rhode erläutert
beispielsweise in seinen Briefen über Schauspielkunst 1798, die reichere und
lebendigere Gebärdensprache des „schönen Geschlechts“ sei direkt auf dessen
reizbarere Nervenfasern zurückzuführen.65 Mimik und Gestik scheinen um
1800 geeignet, auf der Bühne das Prinzip des Lebendigen auszustellen und Zu-
sammenhang zu stiften, sie gelten als „im Aeußern selbst erscheinende sicht-
bare Aeußerung des Lebens.“66
Die Stimme (als Erscheinungsform des Atems) wiederum gilt seit der
Antike als Trägerin des Lebens.67 Im 18. Jahrhundert wird sie mitunter als
Musterbeispiel der Übertragung von Reizen verstanden – jeder Reiz kann als
von Vibrationen in den Körperfasern hervorgerufener gedacht werden. So
wie Töne die Luft in Schwingungen versetzen, das menschliche Trommelfell
erreichen und den Menschen in Bewegung versetzen, so kann jeder andere
Reiz die Fasern des menschlichen Körpers berühren und Bewegungen in ihm
hervorrufen.68
Bewegung und Rede sind also im Theater-Diskurs des beginnenden 19. Jahr-
hunderts nötig, um in Probenarbeit und Aufführung ein dynamisches Ganzes
entstehen zu lassen: „Rede und Geberde muessen sich bei der Darstellung als
Mittel zu einem Zwecke wechselseitig unterstützen“.69 Erst in der Wechsel-
wirkung beider Elemente entsteht organisches Leben: „[D]ie Recitationen
und die körperliche Beredsamkeit [durchdringen einander] zu einem schönen
organischen Leben.“70 Beide bringen in Probenarbeit und Aufführung das
hervor, was dem Werk – auf Papier, Leinwand oder in Stein gemeißelt – nicht

63 Heinrich F. Plett, Enargeia in Classical Antiquity and the Early Modern Age. The Aesthetics
of Evidence, Leiden/Boston, 2012, S. 33. Die Stimme kann dabei in der antiken Rhetorik
auch Teil der actio sein.
64 Toepfer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 3, S. 237.
65 Johann Gottlieb Rhode, Briefe über Schauspielkunst, Theater und Theaterwesen in Deutsch-
land, Altona, 1798, S. 31.
66 Marx, Die Kunst des Gesanges, S. 242.
67 Siehe Karl-Heinz Leven (Hg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München, 2005, S. 15.
68 Roach, The Player’s Passion, S. 104.
69 Rhode, Neue deutsche Dramaturgie, S. 215.
70 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 101.

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118 Annette Kappeler

gelingt: Sie verkörpern Prinzipien des Lebens und lassen ein sich wechselseitig
bedingendes Gefüge von Teilen und Ganzem – einen Organismus – entstehen,
der keines außer ihm liegenden regulierenden Wesens bedarf.
Während der Begriff des Organismus in Theaterdiskursen um 1800 häufig
das Modell für ein sich selbstregulierendes ahierarchisch strukturiertes System
(zum Teil mit unsichtbarem Schöpfer im Hintergrund) bildet, wird er in Staats-
theorie und Theaterpolitik aber oftmals als Modell für eine autoritär durch ein
Oberhaupt regierte Gemeinschaft verwendet.

Der Theaterstaat

Der Staat als Organismus


Der Organismus als Staatsmodell ist um 1800 allgegenwärtig. Während der Be-
griff in Frankreich u.a. als Modell für eine Vertragstheorie im Sinne Rousseaus
verwendet wird,71 bildet er im deutschsprachigen Raum häufig die Vorlage für
anti-liberalistische, ‚antikontraktionelle‘ Staatstheorien:72

[Die] Vorstellung vom Staat als Organismus muss bei Zeitgenossen solche tief-
reichenden Evidenz-Erfahrungen ausgelöst haben, dass er in kurzer Zeit zur
beinahe unumstrittenen Leit-Metapher der politiktheoretischen Verständigung
und Selbstverständigung avancierte. […] In der Organismus-Metaphorik [drückt
sich die] Ablehnung von vertragstheoretischer Staatsbegründung […] aus.73

Dabei wird der Legitimationsbedarf von Staatlichkeit abgelehnt: National-


staaten sind – Organismen ähnlich – ‚natürlich‘ entstanden und entfalten sich
nach ihnen inhärenten Gesetzmäßigkeiten. Auch ihre Gesellschafts-Modelle
sind ‚gewachsen‘ und tragen zum Funktionieren des Gesamtsystems bei,
die/der Einzelne ist harmonisch in eine gemeinschaftsfördernde Ordnung
eingebunden:74

Im Sinne einer romantisch-naturtheoretischen Organismuslehre ist der Staat,


in Abkehrung vom individualistischen Ausgangspunkt und von der Zweck-
argumentation des Vernunftrecht, naturhaft gewachsene, organische Ge-
meinschaft und nicht durch Herrschaftsvertrag konstituiert und legitimiert.
Organische Ganzheit bzw. organisches Leben werden zu Oppositionsbegriffen
gegen die Ideen der Französischen Revolution […]. Die Lehre vom Staat als

71 Matala de Mazza, Der verfaßte Körper, S. 122.


72 Miriam Rose, Schleiermachers Staatslehre, Tübingen, 2011, S. 66.
73 Ebd.
74 Ebd., S. 90.

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naturhaftem Organismus […] wendet sich gegen die Ordnung des willentlich
Gemachten und Gesetzten, die als mechanisch erscheint.75

Im Gegensatz zu mittelalterlichen Vorstellungen vom Staat als Körper steht


dabei nicht die Beziehung von Gliedern und Ganzem im Zentrum, sondern –
auf Kant aufbauend – diejenige der Glieder untereinander in ihrer Beziehung
zum Ganzen.76 Die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft kann so neu
definiert werden, ohne diesem weitreichende Freiheitsrechte zuzugestehen.77
Einer der ambitioniertesten deutschsprachigen Entwürfe einer auf dem
Organismus-Modell basierenden Staatstheorie ist Adam Müllers Über das
Ganze der Staatswissenschaft von 1808/1809. Müllers Staatskörper ist ein
Organismus, der auf nervösen Impulsen und muskulären Reflexen beruht.78
Es handelt sich bei diesem aber nicht um einen liberalen, funktional
differenzierten Staat, sondern (als Gegenmodell zu zeitgenössischen Lese-
weisen Adam Smiths) um eine Gemeinschaft mit hoher staatlicher Kontrolle.79
Johann Niblers auf dem Organismus-Modell basierende Staatstheorie Der
Staat aus dem Organismus des Universums entwickelt von 1805 baut sogar auf
der Idee eines in einer Person vereinigten Herrschers auf, der Garant für das
Funktionieren jeder Gemeinschaft ist:

Jeder Organismus bedarf eines Vereinigungspunkts in der Person des Herrschers,


welche nur eine physische Person seyn kann, denn sobald es mehrere Personen
wären, müssten sie einen höheren Vereinigungspunkt haben, um organisch zu
seyn.80

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts vermitteln auf dem Organismus-Modell auf-
bauende politische Theorien häufiger zwischen staatlicher – teils autoritärer –
Kontrolle und ‚liberalen‘ – also die Freiheitsrechte Einzelner oder kleinerer
Gruppen betonender – Anliegen.81 Carl von Rotteck kritisiert in seinem Staats-
lexikon von 1848 die Verneinung konstitutiver Freiheitsrechte für Einzelne

75 Simone Schmon, Machtspruch und Gesetzesherrschaft. Das Staatsverständnis in Heinrich


von Kleists „Prinz Friedrich von Homburg“, Köln/Weimar/Wien, 2007, S. 16.
76 Rose, Schleiermachers Staatslehre, S. 67.
77 Ebd., S. 66f. Die Vorlage für ein Modell, das den Einzelnen in Bezug auf die Gemeinschaft
eine entscheidende Rolle zuweist, bilden Kants Beobachtungen zu soziopolitischen Um-
gestaltungen im Frankreich der Revolutionszeit.
78 Matala, de Mazza, Der verfaßte Körper, S. 270.
79 Ebd., S. 271; Volker Müller, Staatstätigkeit in den Staatstheorien des 19. Jahrhunderts,
Opladen, 1991, S. 191.
80 Johann Baptiste Nibler, Der Staat aus dem Organismus des Universums entwickelt, Lands-
hut, 1805, S. 13.
81 Rose, Schleiermachers Staatslehre, S. 89.

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und Vereine in autoritären Staatsmodellen und plädiert für eine Einbindung


des Theaterschaffens in den „Staatsorganismus“ – nicht wie bisher im Sinne
einer polizeistaatlichen Überwachung, sondern im Sinne einer aktiven Rolle
im staatlichen Gemeinwesen. Erst indem Einzelne oder Gruppen – also Teile
des Organismus – aktive Mitglieder der Gesellschaft sind, können sie Teil des
Gesamtorganismus werden:

Wir deuteten oben bereits an, das Ziel des Theaters, als eines Kunstinstituts,
müsse sein, als ein Moment in den Staatsorganismus aufgenommen zu werden.
Dadurch daß ein Institut in einem Staate besteht und tolerirt wird, ist es noch
nicht vom Staate als zu seinem Leben gehörig erklärt. Auch Gauklern, Taschen-
spielern und Kunstreitern verweigert die Obrigkeit nicht, ihre Künste zu
produciren, sie sind aber deshalb doch nur geduldet und haben nur eine Be-
ziehung zum Polizeistaate, nicht zum Staat, als einem sittlichen und geistigen
Organismus. Aber so ist es fast mit dem Theater heut zu Tage noch bestellt. Seine
Einrichtung und Beaufsichtigung fällt nur dem Polizeistaate anheim […]. Aber
darin liegt die mehr als stiefmütterliche Stellung, welche der Staat als geistiges
Gemeinwesen gegen das Theater eingenommen hat.82

Theaterorganisation
Die Frage der (staatlichen) Kontrolle und Organisation von öffentlichen und
privaten Theatern ist um 1800 im deutschsprachigen Raum eine heiß diskutierte.
An vielen Orten wird eine strenge staatliche Kontrolle ausgeübt – Theatervereine
gelten als Horte politischer Radikalität, sie müssen eine Bewilligung einholen,
die ihnen in vielen Fällen verweigert wird, bei Verstößen gegen staatliche Auf-
lagen werden Theatermaterialien konfisziert und Theater geschlossen.83 Bei der
Diskussion um Organisationsformen von Theatern geht es letztendlich um die
Frage, wer die Kontrolle über Darstellungsformen und dargestellte Inhalte hat –
eine (staatlich kontrollierte) Theaterleitung wie ein Regisseur oder die Gemein-
schaft der Schauspieler als selbstorganisiertes Ganzes.84
Die deutschsprachige Theaterlandschaft ist zu diesem Zeitpunkt wie bereits
erwähnt in einer Umbruchphase: Es etablieren sich viele ‚professionelle‘
feste Ensembles, aber auch Liebhabergruppen aus verschiedenen sozialen
Schichten; in den stehenden Theatern entstehen verschiedene Berufsgruppen
wie diejenige des Souffleurs oder des Lichtputzers.85 Die neuen Theatertruppen

82 Carl von Rotteck und Carl Welcker (Hg.), Das Staatslexikon. Encyklopaedie der Staats-
wissenschaften für alle Stände, Bd. 12, Altona, 1848, S. 566.
83 Uta Motschmann, „Die private Öffentlichkeit. Privattheater in Berlin um 1800“, in: Der
gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, hg. von Klaus Gerlach,
Berlin, 2009, S. 61–84, hier S. 66.
84 Matzke, Arbeit am Theater, S. 155.
85 Valeska Valipour, La pratique théâtrale dans l’Allemagne de la seconde moitié du dix-
huitième siècle (1760–1805). Musique, musicologie et arts de la scène, Diss., Paris, 2011, S. 250.

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geben sich seit den 1770er Jahren häufig eigene, z.T. in Zeitschriften publizierte
Theatergesetze.86 Die meisten der privaten Theatergruppen sind als Vereine
organisiert, Mitglieder und Vorstände werden durch Mehrheitsbeschlüsse ge-
wählt, Statuten legen ihre Organisationsweise fest.87 Ab 1787 werden die ersten
Verträge für feste Schauspieler/innen ausgestellt.88
Auf den ersten Blick scheinen viele Theatergruppen ‚selbstorganisiert‘
zu sein, ihre Regelwerke scheinen auf mehr oder weniger demokratischen
Prinzipen zu beruhen:

[D]ie Herzogl. Hof-Schauspieler-Gesellschaft zu Weimar findet es […] vorteil-


haft und nöthig, […] folgende zum Wohl und Endzweck des Theaters abzielende
Gesezze unter sich freundschaftlich zu schließen [und] mit Ihrer Namens-
Unterschrift zu bekräftigen,89

heißt es beispielsweise am Anfang der 1793 erlassenen Weimarer Theater-


gesetze. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese aber häufig als die
staatliche Kontrolle verstärkende Instrumente von Pflicht und Strafe.90 Die
Arbeit der Theaterschaffenden wird als ein zu organisierender Prozess
verstanden,91 der zu ihrer Disziplinierung verhelfen soll.92 Die Schauspieler/
innen selber werden dabei nicht unbedingt in Entscheidungsprozesse ein-
bezogen, Regelwerke erscheinen häufig von nicht zum Ensemble gehörigen
Autoritäten aufoktroyiert.93 So lassen sich die Weimarer Theatergesetze als
Geste der Unterwerfung unter autoritäre Strukturen begreifen:94

Im Dienste der ‚Kunst‘ fungieren Goethes ‚Theatergesetze‘ als paradigmatische


Disziplinierungsmaßnahme, dessen codifizierte Bewegungs- und Wahrneh­
mungsanleitungen über die Schriftsprache in den Körper-Ausdruck der Schau-
spieler mit ‚Gewalt‘ eingeschrieben werden sollen.95

86 Die Privattheatergesellschaft Urania wird beispielsweise 1792 gegründet, 1796 Melpo-


mene und Thalia, 1797 Minerva, 1798 Apollo, 1800 Polhymnia. Motschmann, „Die private
Öffentlichkeit“, S. 62.
87 Ebd., S. 69.
88 Valipour, La pratique théâtrale, S. 199.
89 Klaus Schwind, „‚Man lache nicht!‘ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schau-
spielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs“, in: Internationales Archiv für
Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21/2, 1996, S. 66–112, hier S. 74.
90 Matzke, Arbeit am Theater, S. 146.
91 Ebd., S. 150.
92 Peter Hesselmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutscher
Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt a.M., 2002, S. 279.
93 Matzke, Arbeit am Theater, S. 146.
94 Schwind, „‚Man lache nicht!‘“, S. 76.
95 Ebd., S. 67.

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Johann Peter Eckermann berichtet in seinen Gesprächen mit Goethe, dieser


habe eingeräumt, seine Theatergesetze hätten viele Strafbestimmungen ent-
halten, aber keinerlei Erlässe, die der Ermunterung der Schauspieler/innen
dienten.96
Die unter Friedrich Ludwig Schröder erlassenen Hamburger Theater-
gesetze dagegen entwerfen eine selbstbestimmtere Ordnung.97 Im Sinne
von Rousseaus contrat social resultiert hier – zumindest theoretisch – aus
den Interessen der Theater-Gemeinschaft eine volonté générale, der sich alle
Einzelpersonen beugen, weil sie selber an der Willensbildung beteiligt sind.
Schauspieler/innen sind in diesem Entwurf selber die gesetzgebende Gewalt:
„Gesetze müssen Dämme seyn gegen Despotie, Unordnung, Uebereilung und
Heftigkeit der Direktion,“98 heißt es zu Beginn der Gesetze des Hamburgischen
Deutschen Theaters. Neue Gesetze müssen dem zufolge von zwei Dritteln
der Mitglieder gutgeheißen werden, sie gelten für alle – auch die Direktion –
gleichermaßen, für die Altersvorsorge der Schauspieler/innen wird mit einem
nach Höhe der Gehälter gestaffelten Einzahlungssystem gesorgt.99
Im deutschsprachigen Raum scheint sich aber seit den 1770er Jahren das
Modell des von einem Direktor bzw. einem Regisseur geführten Theater-
betriebs durchzusetzen.100 Um 1800 wird in vielen Theatern ein Regisseur als
für die künstlerische Leitung Verantwortlicher genannt – im 18. Jahrhundert
war ein solcher häufig für die Überwachung der Proben angestellt, hatte aber
keinerlei künstlerische Funktion.101 Die neuen Regisseur-Figuren sind in
Probenerinnerungen sehr unterschiedlich beschrieben.102 Goethe wird bei-
spielsweise als autokratischer Herrscher über Theaterkonventionen gesehen.103
Regisseure bleiben meist bis zu einem gewissen Grad Außenstehende, die die
Theaterschaffenden mittels eines beobachtenden Blicks einer bestimmten
Ordnung unterwerfen. So beschreibt August Lewald 1837 in seinem Aufsatz
In die Scene setzen eine ideale Leseprobe:

96 Johann Peter Eckermann und Gustav Moldenhauer (Hg.), Gespräche mit Goethe in den
letzten Jahren seines Lebens, Leipzig, 1827, S. 66.
97 Matzke, Arbeit am Theater, S. 154.
98 Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer, Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des
Menschen und des Künstlers, 2 Bde., Hamburg, 1819, Bd. 2, S. 232.
99 Meyer, Friedrich Ludwig Schröder, S. 241.
100 Der „Prinzipal“ der fahrenden Truppen wird durch einen Direktor ersetzt. Valipour, La
pratique théâtrale, S. 236.
101 Matzke, Arbeit am Theater, S. 137.
102 Ebd., S. 136.
103 Schwind, „‚Man lache nicht!‘“, S. 68.

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An einer langen Tafel sehen wir nun die Hauptpersonen des Drama sitzen, die
kleinen Partien im Kreise rings umher; der Regisseur präsidiert, ihm gegenüber
sitzt der Soufleur, welcher in dem für ihn zum souflieren bestimmten Buche
nachliest, alle Anmerkungen und scenischen Vorschriften des Autors laut ver-
kündet, ehe ein Akt oder eine Scene beginnt, damit sie dann Gegenstand der
Berathschlagung werden.104

In Lewalds Modell hat – im Gegensatz zu Vorstellungen eines selbst-


regulierenden Organismus – ein Regisseur die gesamte Mise en scène im Blick
und wirkt während der Proben von außen auf die Gemeinschaft der Akteure
und der übrigen Theaterschaffenden ein, so dass in der Theater-Aufführung
ein Gesamtorganismus entstehen kann.105
Die Ende des 18. Jahrhunderts in Schriften zum Theater als Modell einer
selbstregulierten künstlerischen Produktion eingeführten Organismus-Vor-
stellungen werden so häufig im Sinne konservativer Staatstheorien als Form
der Regulierung des Theaterbetriebs umgedeutet. Die Funktion des Regisseurs
setzt sich als den Theaterbetrieb ordnende Instanz durch, die in Form von
Theatergesetzen einen Katalog von Pflichten und (meist pekuniären) Strafen
vorschreibt. Nur vereinzelt wird noch mit Modellen einer demokratischeren,
selbstorganisierten Theatergemeinschaft experimentiert.

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letzten Jahren seines Lebens, Leipzig, 1827.
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1966.

104 Lewald, „In die Scene setzen“, S. 268.


105 Ebd., S. 278.

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Hans-Christian von Herrmann

Lebenszeichen
Literatur und Theater um 1800

Die Frage nach den Praktiken lebendiger Darstellung im Theater um 1800


ist zunächst eine literarästhetische und wissensgeschichtliche. Denn die
literarische und damit auch die dramatische Rede unterliegt im 18. Jahr-
hundert einer Umwandlung, die von einer Poetik der rhetorischen Mittel und
Wirkungen zu einer Beobachtung und Protokollierung von Affektsymptomen
verläuft.1 Diese neuartige Verknüpfung von Sprache und Körper, die von der
Redesituation zum Ausdruck übergeht, impliziert zugleich eine neue Münd-
lichkeit, die die Sprache von der statischen Visualität der Schrift löst und in
Bewegung versetzt. Die ‚Oralisierung‘, die die Sprache im 18. Jahrhundert er-
greift, ist keine Rückkehr in vorschriftliche und vorgeschichtliche Zeiten,
sondern es handelt sich dabei um eine neue Stufe europäischer Texthörigkeit,
die das Sprechen nicht mehr im Sinne der Rhetorik als auf die schriftliche Aus-
arbeitung der Rede folgende actio begreift, sondern als fundamentale Tätigkeit
eines Subjekts, dessen „Sein“, wie es in Hegels Ästhetik heißt, die „Zeit“ ist.2 Als
„Metapher des Subjekts“3 kann daher die schwingende Saite dienen, über die
zugleich auch die Musik als „Tilgen nicht nur der einen Raumdimension [d.h.
wie es in der Malerei geschieht, Anm. d. A.], sondern der totalen Räumlich-
keit überhaupt“ definierbar ist.4 Die „Aufhebung des Räumlichen“ in der Musik
„besteht“, so Hegel,

darin, daß ein bestimmtes sinnliches Material sein ruhiges Außereinander auf-
gibt, in Bewegung gerät, doch so in sich erzittert, daß jeder Teil des kohärierenden

Dieser Aufsatz fasst Überlegungen zusammen aus: Hans-Christian von Herrmann, Das
Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München, 2005,
sowie ders. und Bernhard Siegert, „Beseelte Statuen – zuckende Leichen. Medien der Ver-
lebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne“, in: Kaleidoskopien 3/384, 2000,
S. 66–99.
1 Vgl. Rüdiger Campe, „Rhetorik und Physiognomik oder Die Zeichen der Literatur“, in:
Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 9, 1990, S. 68–83.
2 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin, 1955, S. 822.
3 Friedrich A. Kittler, „Musik als Medium“, in: Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen
zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller, Berlin, 1995, S. 83–99,
hier S. 90.
4 Hegel, Ästhetik, S. 806.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_008


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128 Hans-Christian von Herrmann

Körpers seinen Ort nicht nur verändert, sondern auch sich in den vorigen Zu-
stand zurückzuversetzen strebt. Das Resultat dieses schwingenden Zitterns ist
der Ton, das Material der Musik.5

Der zitternde, schwingende Ton nun, den Hegels Ästhetik als reine Zeitlichkeit
fasst, ist auch das äußerliche Material des sprachlichen Kunstwerks.6 Wurde
das Sein der Sprache im 17. Jahrhundert, wie Michel Foucault in Les mots et les
choses erläutert hat, etwa in der Grammatik von Port Royal, über den „Buch-
staben“ bestimmt, so geschieht dies um 1800 über die „Folge von distinkten
Lauten“.

Das ganze Sein der Sprache ist jetzt lautlich. […] Man sucht die Sprache sehr
nahe bei dem, was sie ist: im Sprechen, jenem Sprechen, das die Schrift aus-
trocknet und auf dem Blatt festheftet. […] In seiner vorübergehenden und tiefen
Klanghaftigkeit wird das Sprechen souverän. […] Die Sprache […] hat eine
vibrierende Natur angenommen, die sie vom sichtbaren Zeichen löst, um sie der
Musiknote anzunähern.7

Dieser Übergang von Sichtbarkeit zu Zeitlichkeit trennt Sprache und Schrift


aber nur, um stattdessen ein ‚Aufschreibesystem‘ (Fr. Kittler) zu etablieren,
das nicht mehr, nach den Regeln der Rhetorik und des Kommentars, Texte
aus Texten generiert, sondern Texte als sprachliche Artikulation von Sinnlich-
keiten. Hegels Phänomenologie des Geistes beginnt dementsprechend mit einer
sinnlichen Gewissheit als der „Unmittelbarkeit meines Sehens, Hörens usf.“, die
unwiderruflich dem „Verschwinden“ geweiht ist.8 Das „sinnliche Diese, das ge-
meint wird“, ist

der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, un-
erreichbar […]. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher
vermodern; die seine Beschreibung angefangen, könnten sie nicht vollenden,
sondern müßten sie anderen überlassen, welche von einem Dinge zu sprechen,
das nicht ist, zuletzt selbst eingestehen würden.9

Das Problem, mit dem die Sprache, insofern sie sich auf die menschlichen
Sinne verwiesen sieht, also zu kämpfen hat, ist die zeitliche und räumliche

5 Hegel, Ästhetik, S. 807.


6 Vgl. ebd., S. 870.
7 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers.
von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M., 1974, S. 348f.
8 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig
Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.M., 1970, S. 86.
9 Ebd., S. 92.

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Lebenszeichen 129

Haltlosigkeit dessen, was sie zu notieren sucht. Ein aufgeschriebenes ‚Jetzt‘


ist schon im nächsten Moment nicht mehr wahr10, ebenso wenig ein auf-
geschriebenes ‚Hier‘.11 Um die Kluft zwischen diesem lebendigen Fluss sinn-
licher Gewissheiten und der Totenstarre der Schrift überwinden zu können,
braucht die Sprache den Menschen als „allgemeine[s] Medium“12, in dem
sich die „Bewegung des Aufzeigens“ als „Entfaltung und Unterscheidung der
Momente“13 am sinnlich Gegebenen vollzieht. Das heißt, die Sprache ist um
1800

nicht mehr ein System von Repräsentationen, das die Kraft hat, andere
Repräsentationen zu zerlegen und zu rekomponieren. Sie bezeichnet in ihren
konstantesten Wurzeln [d.h. den Verben und Personalpronomen, Anm. d. A.]
Handlungen, Zustände, Willen. Eher als das, was man sieht, bedeutet sie im Ur-
sprung das, was man tut oder was man erleidet. Und wenn sie schließlich die
Dinge wie mit dem Finger zeigt, dann insofern, als sie das Resultat oder der
Gegenstand oder das Instrument dieser Handlung sind. […] Man spricht, weil
man handelt, und nicht, weil man beim Wiedererkennen erkennt.14

Hatte die Sprache als Repräsentation die Dinge vom ‚Platz des Königs‘ aus einer
klassifizierenden Ordnung unterworfen, so wird sie nun, als differenzierende
Artikulation von Gegenständen, zur Tätigkeit eines Subjekts.
Dass eine solche Freisetzung der Sprache das gesamte Verhältnis der Künste
zueinander verschiebt, belegt bereits Gotthold Ephraim Lessings Schrift
Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, die die Kunsttheorie von
der Repräsentation räumlicher Verhältnisse auf die Reproduktion zeitlicher
Abläufe umstellt. „Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters,
so wie der Raum das Gebiete des Malers.“15 Ziel dieser Grenzziehung ist dabei

10 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 84: „Auf die Frage: was ist das Jetzt? antworten
wir zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit
zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine
Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie
aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so
werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.“
11 Vgl. ebd., S. 85: „Das Hier ist z.B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit
verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das hier ist nicht ein Baum,
sondern vielmehr ein Haus.“
12 Ebd., S. 99.
13 Ebd., S. 93.
14 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 353.
15 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2: Werke 1766–1769,
hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 1990, S. 11–206, hier S. 130.

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weniger ein auf der Materialität ihrer Zeichen gegründetes System der Künste16
als vielmehr die Formulierung einer neuen Ästhetik des transitorischen Reizes,
die als „Schönheit in Bewegung“ definiert wird:

Reiz ist Schönheit in Bewegung, und eben darum dem Maler weniger bequem
als dem Dichter. Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat
aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Folglich wird der Reiz bei ihm zur
Grimasse. Aber in der Poesie bleibt er, was er ist; ein transitorisches Schönes, das
wir wiederholt zu sehen wünschen.17

Die Definition der Schönheit als ‚Reiz‘ markiert dabei über die Homonymie
zugleich eine Differenz, nämlich die zwischen dem irritablen, seelenlos
zuckenden Körper, wie ihn die zeitgenössische Experimentalphysiologie in
ihren Reiz- und Läsionsversuchen beobachtete,18 und dem ästhetischen Reiz
lebendiger Bewegung in der Poesie.19 Dass sich Lessings Erläuterung der für
seine kunsttheoretische Schrift titelgebenden antiken Skulpturengruppe
allein auf die Frage der Darstellung des Schmerzes konzentriert, ist eben die
Entfaltung dieses Unterschieds.
Malerei und Poesie, so Lessing, „stellen uns abwesende Dinge als gegen-
wärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung
gefällt.“20 Während dem Maler zu diesem Zwecke „natürliche Zeichen“ zur Ver-
fügung stehen, ist die Dichtung auf die „willkürliche[n]“ Zeichen der Sprache
verwiesen,21 denen sie eine besondere Kraft verleiht. Denn anders als der
„Prosaist“ „will“ der „Poet“ „nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen
sollen nicht bloß klar und deutlich sein“, sondern

er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Ge-
schwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden
glauben, und in diesem Augenblick der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu
anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören.22

16 Vgl. Lessing, „Laokoon“, S. 114: „Doch ich will mich in dergleichen Exempel nicht verlieren,
aus welchen man am Ende doch wohl nicht viel mehr lernet, als daß die Farben keine
Töne, und die Ohren keine Augen sind.“
17 Ebd., S. 155.
18 Vgl. Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin,
1997, S. 33–39.
19 Zur Überkreuzung der Diskurse von Ästhetik und Physiologie im Gebrauch des Wortes
,Reiz‘ vgl. Simon Richter, „Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert:
Herder und Haller über Reiz“, in: Lessing Yearbook 25, 1993, S. 83–95.
20 Lessing, „Laokoon“, S. 13.
21 Ebd., S. 61.
22 Ebd., S. 124.

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Dichtung ist also bei Lessing eine Verschriftlichung von Sinnlichkeiten, die
dann vom Leser bei der Lektüre den Worten wiederum substituiert werden,
was das Lesen zu einem künstlichen Träumen werden lässt: „Was wir poetische
Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasien, wie man sich aus dem Longin
erinnern wird. Und was wir die Illusion, das Täuschende dieser Gemälde
heißen, hieß bei ihnen die Enargie.“23
Im Namen der Phantasie wird die Dichtung von Lessing auf eine einzige
rhetorische Figur reduziert und im Subjekt und seinen Sinnen verankert: Aus
der phantasia, der rhetorischen Figur der Vergegenwärtigung von Absentem,
die zugleich ein Verfahren der Selbstaffektion bezeichnete, mit dem der Redner
sich durch Vorstellung einer nicht gegenwärtigen Situation oder eines Objekts
in den Affekt seiner Wahl versetzte,24 werden „Träume der Wachenden“25 oder
lebendige Täuschungen. Zugleich wird im rhetorischen Begriff der Enargie
(enargeia) die Funktion der poetischen Rede ganz allgemein als ein Vor-Augen-
Stellen bestimmt.26 Die Phantasie rückt also bei Lessing dadurch ins Zentrum
seiner Ästhetik der lebendigen Bewegung, dass sie, von aller rhetorischen
Figürlichkeit befreit, zur Chiffre für ein poetisches Schreiben und Lesen wird,
das die Wörter über den vorgestellten Bildern vergisst.
Damit aber gewinnt zugleich das Verhältnis von literarischem Text und
Theater eine neue Kontur. „Der Dichter“, schreibt 1797 Friedrich Hildebrand
von Einsiedel, herzoglich Sachsen-Weimarischer Hofrat, in seinen Grund-
linien zu einer Theorie der Schauspielkunst, „vollendet allein, ohne Beystand
des Spielers, sein Kunstwerk, die Fantasie des Lesers macht alle Rollen darin
so rein und so vollständig, wie die schwierigern des Heldengedichtes und des
längern Romans.“27 Was zugleich für das Theater heißt: „[D]er Dichter giebt den

23 Lessing, „Laokoon“, S. 113f., Anm. 2.


24 Vgl. Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17.
und 18. Jahrhundert, Tübingen, 1990, S. 34.
25 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 114.
26 Inka Mülder-Bach kommt zu dem Schluß, dass, „was im Laokoon unter Hinweis auf den
rhetorischen enargeia-Begriff ‚Täuschung‘ heißt, der aristotelischen energeia sehr viel
näher“ steht. Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die
Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998, S. 136. Auch Dilthey
spricht im Hinblick auf die Einbildungskraft von einer „energische[n] Beseelung der
Bilder“ durch den Dichter. Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Die geistige Welt.
Einleitung in die Philosophie des Lebens Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und
Pädagogik, Stuttgart, 1962, S. 136. Zur schwierigen, durch Verwechslungen geprägten Be-
griffsgeschichte von energeia/enargeia vgl. Campe, Affekt und Ausdruck, S. 230, Anm. 22.
27 Friedrich Wilhelm von Einsiedel, Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. Nebst
der Analyse einer komischen und tragischen Rolle Falstaf und Hamlet von Shakespeare,
Leipzig, 1797, S. 19f.

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Umriß des Gemäldes, und der Schauspieler theilt durch seine Darstellung dem
Zuschauer alles dasjenige mit, was die Fantasie des Lesers gern und auf eine
ihr wohlgefällige Weise darein gelegt haben würde.“28 Die Aufführung hat ihr
Modell also in einer halluzinatorischen Lektüre, so wie umgekehrt die Lektüre
eine innere Theaterinszenierung ist. Im Übergang vom barocken Welttheater
zum neuen Bildungstheater der lebendigen Individualität wird die Bühne im
späten 18. Jahrhundert somit zum emphatischen Ort einer Offenbarung und
sinnlichen Einübung einer neuen Lektüretechnik. Wenn Lessing die „Kunst
des Schauspielers“ in der Hamburgischen Dramaturgie als „zwischen den
bildenden Künsten und der Poesie“ stehend definiert, wird sie gleichsam zur
Brücke, über die der Zuschauer den Weg zur unmittelbaren Anschaulichkeit
der Dichtung finden soll:

Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr [d.h. der Kunst des Schau-
spielers, Anm. d. A.] höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei
braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten
Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines
Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr all das Aus-
drückende, welches ihm eigentümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das
es in den bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß
sie nicht allzulang darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden
Bewegungen allmählich vorbereiten, und durch die darauf folgenden wiederum
in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle
die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann.29

Als Zusammenführung von Malerei und Dichtung auf dem Schauplatz


des menschlichen Körpers besteht die Kunst des Schauspielers in der „Her-
stellung“ eines „Bewegungsbildes“.30 Dabei verleiht er den barocken Affekt-
zeichen durch Motivierung einen psychologischen Rahmen, der sicherstellt,
dass der Körper auf der Bühne niemals die gestalthafte Einheit verliert, die das
Theater um 1800 vom physiologischen Experiment im Labor unterscheidet.31
Wie bei Lessing so erweisen sich auch in Hegels Ästhetik die Zeitkünste
den Raumkünsten gegenüber als überlegen, insofern sie dem Lebendigen

28 Einsiedeln, Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst, S. 24.


29 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 6, S. 210f.
30 Claudia Jeschke, „Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen,
Praxis, Autoren, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart, 1992, S. 85–111, hier S. 101.
31 Eine detaillierte Analyse der kulturellen und ästhetischen Konstruktion dieses
imaginären Bühnenkörpers im Zusammenwirken von Literatur und Schauspieltechnik
findet sich bei Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und
Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel, 2000.

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näherstehen. Musik und Dichtung ist es gemeinsam, dass sie „mit ihrem
flüchtigen Vorüberrauschen schon wieder verschwinden“ und daher der „stets
wiederholten Reproduktion“ oder Aufführung bedürfen, während „Bauwerke,
Statuen, Gemälde für sich einen dauernden Bestand haben“.32 „Die Werke der
Poesie“, so Hegel,

müssen gesprochen, gesungen, vorgetragen, durch lebendige Subjekte selber


dargestellt werden, wie die Werke der Musik. Wir sind zwar gewohnt, epische,
und lyrische Gedichte zu lesen und nur dramatische gesprochen zu hören und
von Gebärden begleitet zu sehen; aber die Poesie ist ihrem Begriffe nach wesent-
lich tönend, und dies Erklingen darf ihr, wenn sie vollständig als Kunst heraus-
treten soll, um so weniger fehlen, als es ihre einzige Seite ist, nach welcher sie mit
der äußeren Existenz in realen Zusammenhang kommt. Denn gedruckte oder
geschriebene Buchstaben sind freilich auch noch äußerlich vorhanden, jedoch
nur gleichgültige Zeichen für Laute und Wörter.33

Wie die Musik so bedarf auch die Dichtung des lebendigen Menschen, um von
der toten Schriftlichkeit zur sinnlichen Gegenwart und Wirklichkeit als Kunst-
werk zu kommen, sei es durch eine innere vorgestellte, sei es durch eine äußere
körperliche Stimme. Als Zeitkunst „drängt“, wie der Hegel-Schüler Heinrich
Theodor Rötscher 1841 in seiner schauspieltheoretischen Fortschreibung der
Ästhetik betont, die „Kunst der dramatischen Darstellung […], ihrer Natur nach,
zur sinnlichen Erscheinung, zur Verkörperung der dichterischen Anschauung,“34
und benötigt daher entsprechend gebildete Schauspieler, die die Dichtung zur
Aufführung bringen.

Die Schauspielkunst verwandelt […] die geistig konkreten Gestalten der


dramatischen Rede in Fleisch und Blut, und haucht ihnen dasjenige Leben
ein, wodurch sie zur vollsten sinnlichen Gegenwart kommen. Diese Kunst läßt
gleichsam die vor der Phantasie schwebenden Dichtergestalten von dem Blute
in der homerischen Unterwelt trinken, wodurch sie als volle ganze Menschen
vor uns einherwandeln und uns in diejenige Illusion versetzen, in welcher wir
eine ganze sinnlich sichtbare Welt des menschlichen Lebens und Handelns vor
uns geöffnet schauen, welche dennoch nur ein Produkt der freien Phantasie ist.
So zaubert uns die dramatische Darstellung eine Welt der Phantasie als eine
Welt der sinnlichen Wirklichkeit hin und erhebt uns dadurch zugleich aus der
letztern in das freie und mangellose Reich der ersteren.35

32 Hegel, Ästhetik, S. 823.


33 Ebd., S. 933f.
34 Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung. Mit einem Geleit-
wort von Oskar Walzel, Berlin, 1919, S. 74.
35 Ebd., S. 2f.

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Gerade aufgrund der „Notwendigkeit“ der „szenische[n] Darstellung“ er-


scheint das Drama bei Hegel, ganz anders als bei Aristoteles, dem sie als „das
Kunstloseste“36 am Theater galt, als „höchste Stufe der Poesie und der Kunst
überhaupt“.37 Denn in der „wahrhafte[n] Lebendigkeit“ und „unmittelbare[n]
Gegenwärtigkeit“38 der theatralen Aufführung gewinnt die Dichtung die Sinn-
lichkeit zurück, die sie als „absolute, wahrhafte Kunst des Geistes und seiner
Äußerung als Geist“39 zunächst hinter sich lassen muss.

Unter allen Künsten entbehrt nur die Poesie der vollen, auch sinnlichen Realität
äußerer Erscheinung. Indem nun das Drama nicht etwa [d.h. wie der Roman,
Anm. d. A.] vergangene Taten für die geistige Anschauung erzählt oder [d.h. wie
die Lyrik, Anm. d. A.] die innere subjektive Welt für die Vorstellung und das Ge-
müt ausspricht, sondern eine gegenwärtige Handlung ihrer Gegenwart und Wirk-
lichkeit nach darzustellen bemüht ist, so würde es in Widerspruch mit seinem
eigenen Zwecke geraten, wenn es auf die Mittel beschränkt bleiben müßte,
welche die Poesie als solche zu bieten imstande ist. Denn die gegenwärtige
Handlung gehört zwar ganz dem Innern an und läßt sich nach dieser Seite voll-
ständig durch das Wort ausdrücken; umgekehrt aber bewegt sich das Handeln
auch zur äußeren Realität heraus und erfordert den ganzen Menschen in seinem
auch leiblichen Dasein, Tun, Benehmen, in seiner körperlichen Bewegung und
seinem physiognomischen Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften –
sowohl für sich als auch in der Einwirkung des Menschen auf den Menschen und
der Reaktionen, die hierdurch entstehen können.40

Erst in der transitorischen Aufführung findet das Drama seine ästhetische Er-
füllung im Sinne einer wirklichen und gegenwärtigen Handlung. Schauspiel-
technisch besteht die Differenz zur Antike dabei darin, „daß bei den Griechen,
da ihre Schauspieler Masken trugen, das Mienenspiel ganz fortblieb“. Die „Ge-
sichtszüge“ gaben somit

ein unveränderliches Skulpturbild, dessen Plastik den vielbeweglichen Aus-


druck partikulärer Seelenstimmungen ebensowenig in sich aufnahm als die
handelnden Charaktere, welche ein festes allgemeines Pathos in seinem drama­
tischen Kampfe durchfochten und die Substanz dieses Pathos sich weder zur
Innigkeit des modernen Gemüts vertiefen noch zur Besonderheit heutiger

36 Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart,


1994, 1450b.
37 Hegel, Ästhetik, S. 1038f. Dies gilt nur in systematischer Hinsicht, denn in ihrer voll-
endeten Form rückt sie historisch zugleich in eine ferne – antike – Vergangenheit. Der
„bereits zur Prosa geordnete[n] Wirklichkeit“ (ebd., S. 983) des frühen 19. Jahrhunderts
entspricht stattdessen die Gattung des Romans.
38 Ebd., S. 1038.
39 Ebd., S. 588.
40 Ebd., S. 1058f.

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dramatischer Charaktere ausbreiten ließen. Ebenso einfach war die Aktion, wes-
halb wir auch nichts von berühmten griechischen Mimen wissen.41

Statt bloß statuenhafte Träger einer Stimme zu sein, treten die Schauspieler in
der Moderne als „Skulpturbilder beseelt“42 auf die Bühne, wobei das Gesicht
zum eigentlichen Schauplatz der Aufführung wird. Der Unterschied zwischen
antikem und modernem Theater liegt also vor allem in den Bewegungen der
Physiognomie, die die dramatische Rede begleiten und dem Schauspieler zu-
gleich ein eigenes Aktionsfeld eröffnen, das dann das ganze 19. Jahrhundert
über seinen Ruhm ausmachen sollte.
Besonders folgenreich musste diese neue Theatralität des lebendigen
Körpers auch für den Bühnentanz sein, der um 1700 ganz im Licht choreo-
graphischer Schriften und ihrer Kodifizierungsleistung gestanden hatte. Die
unter Ludwig XIV. gegründete Pariser Académie royale de danse hatte den
Tanz institutionell von der Musik getrennt und seine Bewegungen in ein
Chorégraphie genanntes Tableau von Elementen überführt, das es ermöglichte,
die Arm- und Beinbewegungen der Tänzer als Positionen im Raum zu notieren
und mit der Zeitachse der Musik zu verknüpfen.43 In der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts wird der Tanz demgegenüber als Ausdruck lebendiger
seelischer Bewegung begriffen, die sich unmittelbar im Körper abzeichnet.
„[D]ie Choregraphie tödtet das Genie“, stellt Jean Georges Noverre in seinen
zuerst 1760 erschienenen und von Lessing bereits 1769 übersetzten Lettres sur
la danse et sur les ballets entsprechend fest, „sie schwächt und verdirbt den
Geschmack des Kompositeurs, der sich ihrer bedient; er wird steif und schwer-
fällig, unfähig zum Erfinden; aus einem Schöpfer, der er war, oder hätte werden
können, wird ein bloßer Plagiarius; seine Imagination ist erstorben“.44 Anders
hingegen verhält es sich, wenn die „Gebehrden“ des Tänzers „blos das Werk
der Seele, und die unmittelbare Eingebung ihrer Regungen“45 sind. Statt als
Repräsentation von Affekten und Kombination von bereitliegenden Figuren
wird die Bewegung des Körpers auf der Bühne nun als spontaner Ausdruck

41 Hegel, Ästhetik, S. 1063f.


42 Ebd., S. 1059.
43 Vgl. Claudia Jeschke, Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Dar-
stellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall, 1983,
S. 73–76; vgl. auch dies., „Körperkonzepte des Barock – Inszenierungen des Körpers und
durch den Körper“, in: Tanz und Bewegung in der barocken Oper, hg. von Sibylle Dahms
und Stephanie Schroedter, Innsbruck/Wien, 1996, S. 85–105.
44 Jean Georges Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, übers. von Joachim
Christoph Bode, G. E. Lessing (= Documenta Choreologica 15), Neudruck, Leipzig, 1977,
S. 293.
45 Ebd., S. 15.

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begriffen, der sich zudem auch weniger in Armen und Beinen als vor allem im
Gesicht abspielt. Bei Noverre legt der Tänzer daher die im höfischen Ballett
übliche allegorische Maske ab, um die Zuschauer am Spiel seiner Mimik teil-
haben zu lassen. So heißt es in Noverres Briefen:

Auf dem Gesichte ist es, wie Sie wissen, mein Herr, wo der Mensch sehen läßt,
was in seiner Seele vorgeht, wo man seine Affecten und Leidenschaften lesen,
und wechselweise Ruhe, Unruhe, Vergnügen, Schmerz, Furcht und Hoffnung
abgebildet finden kann. Sein Ausdruck ist hundertmal wärmer, lebhafter und
bestimmter, als das Resultat der feurigsten Rede. Einen Gedanken durch Worte
vorzustellen, dazu gehört gewisse Zeit, die Gebehrden zeigen ihn auf einmal
mit Nachdruck; es ist ein Blitz, der aus dem Herzen fährt, in den Augen flammt,
alle Gesichtszüge hell macht, den Knall der Leidenschaften verkündigt, und
uns gleichsam die Seele nackend sehen läßt. Alle unsere übrigen Bewegungen
sind bloß mechanisch und sagen nichts, wenn das Gesicht dabey stumm bleibt,
und ihnen nicht Seele und Leben giebt. Wir haben also kein nützlicher Werk-
zeug zum Ausdruck in unserer Gewalt, als die Physiognomie; warum denn ver-
steckt man sie auf dem Theater hinter eine Maske, und zieht die plumpe Kunst
der schönen Natur vor? Womit soll der Tänzer mahlen, wenn man ihm seine
nothwendigsten Farben wegnimmt? Wie will er die Bewegungen seiner eigenen
Seele in die Seelen der Zuschauer übertragen, wenn er sich des Hülfsmittels be-
raubt, wenn er sich mit einem Stück Pappe, mit einem gemahlten, mienenlosen
Gesichte bedeckt. Das Gesicht ist das Sprachwerkzeug der stummen Scene […].46

Die Psychologisierung des Bühnentanzes vollzieht sich als Vertreibung der


barocken Masken mit ihren „scheusliche[n], verzerrte[n] Gesichter[n]“47 und
als Demaskierung der bewegten Physiognomie, über die der Tänzer – unter-
stützt durch die vierte Wand – mit dem Zuschauer in Verbindung tritt.48 Zur

46 Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 147f.
47 Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Teile, Nachdruck, Darmstadt, 1968, Teil 1,
S. 150.
48 „Erst um 1800“, so Erich Schön, „setzt sich die Rampe als unüberschreitbare Grenze zweier
Wirklichkeiten endgültig durch; und erst damit hat das Betreten der Bühne als Zuschauer-
platz, zum Mitagieren oder zur handgreiflichen Auseinandersetzung mit Schauspielern
ein Ende. Es verschwinden auch Artikulationsformen wie das Werfen von Gegenständen
(z.B. Blumen oder aber faule Äpfel), das Dazwischen-Rufen, Unterbrechen, Nicht-Aus-
reden-Lassen eines Schauspielers, Rufe wie ‚Bravo‘ oder ‚Fort!‘ […] [,] Pfeifen, Zischen und
Pochen mit dem Stock auf den Boden (bzw., da Juden oft keine Stöcke tragen durften,
bei dieser Gruppe das Scharren mit den Füßen). Das Klatschen mit den Händen setzte
sich durch als eine situationstypische symbolische Interaktionsweise.“ Erich Schön, Der
Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800
(= Sprache und Geschichte 12), Stuttgart, 1987, S. 84. Vgl. auch Johannes Friedrich Lehmann,
Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei
Diderot und Lessing (= Rombach Wissenschaften, Reihe Cultura 12), Freiburg i.Br., 2000,
S. 97: „Die Beobachtungsrelation zwischen den Zuschauern, die vorgeblich gar nicht da

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Veranschaulichung dieser Wirkung wählt Noverre „das Bild des elektrischen


Funkens; es ist ein Feuer, daß [!] sich höchst schnell mittheilt, die Imagination
der Zuschauer plötzlich entflammt, ihre Seelen erschüttert, und ihre Herzen
zwingt, zu fühlen.“49 An die Stelle einer Visualisierung von Affekten durch
Rede- und Tanzfiguren treten die körperlichen Zeichen der Leidenschaften in
ihrer Plötzlichkeit und Transitorik. Sie sind wie „eine Menge Blitze, die schnell
auf einander folgen; die Gemählde, die daraus entstehen, sind voller Feuer, sie
dauren nur einen Augenblick und machen alsobald andern Platz.“50 Damit
hört die Bühne auf, ein Ort festlicher Repräsentation zu sein, um stattdessen,
mit Schiller zu sprechen, ein „gemeinschaftliche[r] Kanal“51 zu werden,
der von Seele zu Seele verläuft. Vor diesem Hintergrund ist die von bürger-
lichen Trauerspielen wie Lessings Emilia Galotti geschaffene Ikone der durch
Verführung bedrohten jungfräulichen Unschuld auch als emblematisches
Element eines Theaterprogramms zu begreifen, das in polemischer Wendung
gegen die Bühne des Absolutismus auf die Praktiken theatraler Täuschung ver-
zichtet, um stattdessen die Illusion unverstellter Natürlichkeit zu erzeugen.52
Während der Dichter seinen Körper am Schreibtisch ebenso ruhigstellt wie
der stille Leser und der Zuschauer im Parkett,53 verleiht der Schauspieler ihm
Zeichen affektiver Zustände, womit seine lebendige Darstellung desto natür-
licher erscheint, je distanzierter und virtuoser sie ausgeführt wird. „Schau-
spieler machen Eindruck auf das Publikum“, heißt es bei Diderot, „nicht wenn
sie rasend sind, sondern dann, wenn sie die Raserei gut spielen.“54 Auf vorbild-
liche Weise vermochte dies etwa der englische Schauspieler und langjährige
Leiter des Londoner Drury Lane Theatre, David Garrick:

Garrick steckt seinen Kopf durch eine Türspalte, und sein Mienenspiel geht
innerhalb von vier bis fünf Sekunden von toller Freude zu maßvoller Freude

sind, und den Schauspielern, die (der Fiktion nach) unbeobachtet sind, durchschneidet
zunächst die bis dahin übliche Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum.“
49 Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 215.
50 Ebd., S. 319.
51 Friedrich Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in:
ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Gerhard Fricke
und Herbert G. Göpfert, München, 1989, S. 818–831, hier S. 828.
52 Diese Paradoxie eines antitheatralischen Theaters entfaltet und analysiert die Studie von
Christopher J. Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte
der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br., 2003, v.a. S. 263–356.
53 Zur Immobilisierung des Lesers und des Theaterzuschauers im 18. Jahrhundert vgl. Schön,
Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 81–97.
54 Denis Diderot, „Das Paradox über den Schauspieler“, in: ders., Ästhetische Schriften, Bd. 2,
hg. von Friedrich Bassenge, übers. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, Frankfurt
a.M., 1968, S. 481–539, hier S. 537.

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über, von dieser zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Über-
raschung zum Erstaunen, vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Nieder-
geschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zur Furcht, von der Furcht zum
Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung und kehrt dann von dieser tiefsten
Stufe wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.55

Noverre nannte Garrick den „Protheus unserer Zeit“ und „das Muster, das ich
aufstellen will“.56 „Glauben Sie nicht“, so betonte er, „daß dieser große Akteur
niedrig und gemein sey, oder Grimassen mache; er ist ein getreuer Nachahmer
der Natur und weiß aus derselben allemal das Schönste zu wählen“.57
Solche Praktiken lebendiger Darstellung gründen in dem besonderen Ver-
hältnis von Literatur und Theater um 1800. Der dramatische Text stellt eine Ab-
folge physiognomischer Zeichen zur Aufführung bereit, die vom Schauspieler
in seinen Körper zurückübersetzt werden. Was daraus entspringt, ist das Para-
dox einer Darstellung, die lebendige Natur und theatralische Täuschung zu-
gleich ist. Die Abgrenzung gegenüber dem toten mechanischen Automaten ist
dabei ein fester Topos, der Theater58 und Literatur gleichermaßen als Kunst
der Verlebendigung hervortreten lässt:

Schon die Verbindung des Menschen mit toten, das Menschliche in Bildung und
Bewegung nachäffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich
etwas Drückendes, Unheimliches, ja Entsetzliches. Ich kann mir es denken, daß
es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes
gar künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßten diese mit Menschen
gemeinschaftlich einen Tanz aufführen und sich in allerlei Touren wenden und
drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne Tänzerin faßte und sich
mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute
lang ertragen?59

Wenn die Automaten in Hoffmanns Erzählung die Menschen heimsuchen, ge-


schieht dies vor dem Hintergrund des historischen Ruhms der Meisterwerke
Vaucansons und Jaquet-Droz’ sowie ihrer mechanistischen Implikationen.60

55 Diderot, „Das Paradox über den Schauspieler“, S. 500f.


56 Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 157.
57 Ebd., S. 158f.
58 Vgl. Diderot, „Das Paradox über den Schauspieler“, Bd. 2, S. 496: „In unseren Tagen haben
die Clairon und Molé, als sie anfingen, beinahe wie Automaten gespielt, sich später aber
als echte Schauspieler erwiesen.“
59 E.T.A. Hoffmann, „Die Automate“, in: ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Die
Serapions-Brüder, hg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a.M., 2001, S. 396–429, hier S. 418.
60 Vgl. Literatur im Industriezeitalter. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im
Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar (= Marbacher Kataloge 42/1), 2 Bde., hg.
von Ulrich Ott, Marbach, 1987, Bd. 1, S. 13–42.

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Lebenszeichen 139

Und es dient dem einen Ziel, für die Literatur den Anspruch zu erheben, einen
tiefergehenden Zugang zu den Geheimnissen der Natur zu besitzen als die
Mechanik. Das Theater um 1800 partizipiert an diesem von Hoffmann in der
Figur des Professor X chiffrierten literarischen Wissen vom Lebendigen, indem
es die Körper der Schauspieler ganz in den Dienst des dramatischen Textes
stellt und sie damit zur Bühne der lebendigen Darstellung werden lässt.

Literatur

Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart,


1994.
Campe, Rüdiger, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17.
und 18. Jahrhundert, Tübingen, 1990.
Campe, Rüdiger, „Rhetorik und Physiognomik oder Die Zeichen der Literatur“, in: Rhe-
torik. Ein internationales Jahrbuch 9, 1990, S. 68–83.
Diderot, Denis, Ästhetische Schriften, 2 Bde., hg. von Friedrich Bassenge, übers. von
Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, Frankfurt a.M., 1968.
Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bd. 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Phi-
losophie des Lebens Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik,
Stuttgart, 1962.
Einsiedel, Friedrich Wilhelm von, Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst.
Nebst der Analyse einer komischen und tragischen Rolle. Falstaf und Hamlet von
Shakespeare, Leipzig, 1797.
Engel, Johann Jakob, Ideen zu einer Mimik, 2 Teile, Nachdruck, Darmstadt, 1968.
Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,
übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M., 1974.
Hagner, Michael, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin,
1997.
Heeg, Günther, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im
Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel, 2000.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin, 1955.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwan-
zig Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.M., 1970.
Herrmann, Hans-Christian von und Bernhard Siegert, „Beseelte Statuen – zuckende
Leichen. Medien der Verlebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchen-
ne“, in: Kaleidoskopien 3/384, 2000, S. 66–99.
Herrmann, Hans-Christian von, Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters
und seiner Wissenschaft, München, 2005.

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140 Hans-Christian von Herrmann

Hoffmann, E.T.A., „Die Automate“, in: ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Die
Serapions-Brüder, hg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a.M., 2001, S. 396–429.
Jeschke, Claudia, Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstel-
lung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall, 1983.
Jeschke, Claudia, „Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grund-
lagen, Praxis, Autoren, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart, 1992, S. 85–111.
Jeschke, Claudia, „Körperkonzepte des Barock – Inszenierungen des Körpers und
durch den Körper“, in: Tanz und Bewegung in der barocken Oper, hg. von Sibylle
Dahms und Stephanie Schroedter, Innsbruck/Wien, 1996, S. 85–105.
Kittler, Friedrich A., „Musik als Medium“, in: Wahrnehmung und Geschichte. Markie-
rungen zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller, Berlin,
1995, S. 83–99.
Lehmann, Johannes Friedrich, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theater-
zuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing (= Rombach Wissenschaften,
Reihe Cultura 12), Freiburg i.Br., 2000.
Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner,
Frankfurt a.M., 1985–2003.
Literatur im Industriezeitalter. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im
Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar (= Marbacher Kataloge 42/1), 2 Bde.,
hg. von Ulrich Ott, Marbach, 1987.
Mülder-Bach, Inka, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung
der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998.
Noverre, Jean Georges, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, übers. von Joa-
chim Christoph Bode und G. E. Lessing (= Documenta Choreologica 15), Neudruck,
Leipzig, 1977.
Richter, Simon, „Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert: Herder
und Haller über Reiz“, in: Lessing Yearbook 25, 1993, S. 83–95.
Rötscher, Heinrich Theodor, Die Kunst der dramatischen Darstellung. Mit einem Ge-
leitwort von Oskar Walzel, Berlin, 1919.
Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert,
5 Bde., München, 1958ff.
Schön, Erich, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentali-
tätswandel um 1800 (= Sprache und Geschichte 12), Stuttgart, 1987.
Wild, Christopher J., Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Ge-
schichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br., 2003.

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Hubert Thüring

Der „Reiz des Lebens“ und der „Tanz“ der „Götter“


Jakob Michael Reinhold Lenz’ Poetik der Lebendigkeit

Im Andenken an Reimar Klein (1942–2018)

Im Urteil seiner Zeitgenossenschaft, vor allem des zeitweiligen Freundes


Johann Wolfgang Goethe, ist der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz mit
seinem Leben und Schaffen gescheitert. 1814 attestierte ihm Goethe in Dichtung
und Wahrheit ein „Talent“, das „[a]us wahrhafter Tiefe, aus unerschöpflicher
Produktivität“ heraus schaffe, doch „seinen Neigungen und Abneigungen“
„suche er“ „[d]urch die verkehrtesten Mittel […] Realität zu geben, und ver-
nichtete sein Werk immer wieder selbst“. Das Kapitel ‚Lenz‘ glaubt Goethe des-
halb auch mit dem bekannten vernichtenden ‚poetischen‘ Verdikt schließen
zu können oder zu müssen, dass Lenz, „als ein vorübergehendes Meteor, […]
nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin[zog] und
[…] plötzlich [verschwand], ohne im Leben eine Spur zurückzulassen“.1 Die
Ausführlichkeit, Nachdrücklichkeit und geradezu Sorgfalt, mit der Goethe
Lenz’ Wesen und Wirken zu fassen sucht, steht in merkwürdigem Widerspruch
zur finalen damnatio memoriae, mit der er gleichsam einen Ungeist zu bannen
sucht. Goethe scheint damit eingeräumt zu haben, dass man dereinst Lenz
anders beurteilen könnte und dass er auch in dieser Hinsicht schon erkannt
hatte, dass in Lenz’ fortwährender Zerstörung des Werks mehr produktive
Methode stecken könnte, als er ihm nun mit dem klassischen Maßstab des
gelungenen Werks im Sinn eines abgeschlossenen, harmonischen Ganzen zu-
zugestehen bereit war. Und natürlich wusste Goethe, wovon er sprach, hatte er
mit Werther die Lenz’sche Schaffensweise bis zu einem gewissen Grad selbst
experimentell durchgespielt und für sich verworfen.

1 Johann Wolfgang Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (1811–1814, 1833), in:
ders., Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 10: Autobiographische Schriften 2,
hg. von Erich Trunz, München, 1994, S. 8 u. 12. Zu Lenz’ Weimarer Zeit vgl. Heinrich Bosse,
„Lenz in Weimar“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2014, S. 112–149.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_009


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142 Hubert Thüring

Auf den von Goethe selbst gebildeten Zusammenhang zwischen einer ‚un-
erschöpflichen Produktivität‘ und der ‚Vernichtung des Werks‘ war für ihn
keine Ästhetik zu gründen, weil darin die Spannung, auf der jede Ästhetik
seit der Antike aufbaute, sich als Aporie offenbart: nämlich die Spannung
zwischen dem Anspruch der lebendigen oder lebhaften Nachahmung und der
Notwendigkeit, die Nachahmung in einer Form oder Gestalt zu fixieren und
damit gewissermaßen zu mortifizieren. Während die Ästhetiken in der Regel
nicht bis in jene Zone vorstoßen, wo die Spannung des Widerstreits im Paradox
verhärtet und als Aporie aufbricht, sondern die technischen Belange (was, wie,
womit) der Nachahmung diskutieren und regeln, hat der Pygmalion-Mythos
die Aporie mit der wunscherfüllenden Erzählung produktiv überformt. Weit
häufiger aber ergeht die fruchtlose platonische Klage, dass das Zeichen die
Idee verdunkle, dass der Körper die Seele mortifiziere, worauf der Pygmalion-
Mythos sozusagen als Gegenzauber antwortet. Er formuliert implizit den
Grenzwert einer Ästhetik, nach der Kunst Lebendiges nicht nur nachahme
und/oder lebendig darstelle, sondern selbst Lebendiges schaffe. Georg Büchner
wird seine Lenz-Figur diesen aporetischen Anspruch formulieren und dann
mit der Konsequenz des Wahnsinns ausagieren lassen:

Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir
haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass
Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige
Kriterium in Kunstsachen,2

so fordert die Lenz-Figur im sogenannten Kunstgespräch, um dann über dem


scheiternden Versuch, ein totes Mädchen zum Leben zu erwecken und – ver-
kehrterweise, wie Goethe es ausdrückte – aus dem Kunstanspruch heraus
Leben zu schaffen, vollends durchzudrehen.
Der Pygmalionismus scheint gerade von der Mitte des 18. Jahrhunderts an,
als Eigenart und Beziehung der Künste von Grund auf neu bestimmt werden
sollen, verhältnismäßig häufig literarisch und poetologisch thematisiert
worden zu sein. Jedenfalls hat Inka Mülder-Bach in ihrer Monographie Im
Zeichen Pygmalions (1998) untersucht, wie Johann Gottfried Herder, Gotthold
Ephraim Lessing und Friedrich Gottlieb Klopstock die Ästhetik und Poetik neu
formulieren: Anstelle des Vergleichs auf der Basis der Mimesis, der Illusion und
der Repräsentation treten der empfindende und sich bewegende Körper des
Produzenten und Rezipienten im Verhältnis zur materiellen und semiotischen

2 Georg Büchner, „Lenz“ (1835–36/1839), in: ders., Sämtliche Werke und Schriften, historisch-
kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar, Bd. 5, hg. von Burghard Dedner
und Hubert Gersch, Darmstadt, 2001, S. 29–49 (emendierter Text), S. 37.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 143

Eigentümlichkeit des Mediums in den Vordergrund. Beide Aspekte, der


körperlich-sensuelle und der medial-semiotische, finden sich im dadurch neu
bestimmten Begriff der ‚Darstellung‘ verbunden, der vom Theater her auch
das dynamisch-performative Moment zu erfassen vermag. Den starken – bei
Herder exzessiven – Gebrauch der Begrifflichkeit und Bildlichkeit des Lebens
scheint Mülder-Bach größtenteils in der Tradition der pygmalionischen
Metaphorik oder dann in der poetisch-rhetorischen Tradition zu verbuchen, in
der die Forderung der Lebhaftigkeit oder Lebendigkeit des Ausdrucks zwecks
Persuasion oder Anregung der Phantasie, zum topischen Bestand gehört.3 Ihre
Orientierung an der anthropologisch und medial orientierten Forschung der
Empfindsamkeit verbleibt im engeren Bereich der Ästhetik, ohne nach mög-
lichen Anknüpfungspunkten des Lebensbegriffs in den naturwissenschaft-
lichen Diskursen der Zeit zu fragen.4
Das, was man trotz Goethe als Lenz’ Werk bezeichnen mag, ist ein eminenter
Ort für die Erforschung des Lebensbegriffs in der Literatur, Poetik und Philo-
sophie in ihrer diskursiven Vernetzung um 1770, wie das vor allem Heinrich
Bosse und Johannes Lehmann schon mehrfach gezeigt haben.5 Denn neben
Herder hat wohl kein Dichter-Philosoph im deutschsprachigen Diskurs der
Zeit den Lebensbegriff so vielfältig und eingehend literarisiert und traktiert
wie Lenz. Allerdings stößt man bei den konkreten Nachweisen von Quellen
auch bald an Grenzen, was zum einen der Besonderheit der ‚wissenschaft-
lichen‘ Kommunikation der Zeit, zum anderen aber auch der Eigentümlichkeit

3 Vgl. Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der
„Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München, 1998, S. 69f.
4 Überhaupt kam in der anthropologischen Literaturwissenschaft vom ‚Ganzen Menschen‘
der 1990er Jahre der Lebensbegriff ebenso wenig in den Blick wie in der ‚Mediologie‘; vgl.
Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahr­hundert,
DFG-Symposion 1992, Stuttgart, 1994 und Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftver-
kehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München, 1999.
5 Vgl. Johannes Friedrich Lehmann und Heinrich Bosse, „Sublimierung bei J.M.R. Lenz“,
in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neu-
zeit, hg. von Christian Begemann und David Wellbery, Freiburg i.Br., 2001, S. 177–203;
Johannes F. Lehmann, „Sexualität und Ästhetik bei J.M.R. Lenz und J.G. Herder“, in: Die
Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen,
Borgards Roland und Johannes F. Lehmann, Würzburg, 2001, S. 15–36; ders., „Energie und
Literatur bei J.M.R. Lenz“, in: „Die Wunde Lenz“. J.M.R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, hg.
von Inge Stephan und Hans-Gerd Winter, Bern u.a., 2003, S. 285–305; ders., „Energie, Gesetz
und Leben um 1800“, in: Sexualität – Recht – Leben. Zur Entstehung eines Dispositivs um 1800,
hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring, München,
2005, S. 41–66; ders., „Materialistische Anthropologie im Sturm und Drang. J.R.M. Lenz’ ‚Die
Soldaten‘ und ‚Zerbin‘“, in: Sturm und Drang. Epochen – Autoren – Werke, hg. von Matthias
Buschmeiner und Kai Kauffmann, Darmstadt, 2013, S. 180–202.

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144 Hubert Thüring

von Lenz’ Schaffensweise geschuldet ist.6 Dass diese Schaffensweise, die


Goethe im Widerstreit von ‚unerschöpflicher Produktivität‘ und ‚Vernichtung
des Werks‘ verortet und die man als konstitutive ‚Unfertigkeit‘ bezeichnen
kann, selbst mit der neuen Lebenskonzeption zu tun hat, soll zunächst (II) an-
hand eines kleinen Textes dargelegt werden, dessen essayistisches Genre von
dem geprägt ist, wovon er handelt. Daraus werde ich nacheinander die Züge
einer vitalistischen, pragmatischen und performativen Ästhetik im Kontext von
Herders Erkenntnistheorie und Ästhetik herausarbeiten und diese in einem
theoretischen Zwischenstück (III) mit dem Begriff der lebendigen Darstellung
zusammenführen. Die poetische Probe leistet (IV) eine eingehende Analyse
des Lenz-Gedichts „Lied zum teutschen Tanz“ (1776), das zugleich mit der
Handschrift neu ediert erscheint. Hier wird auch zu erwägen sein, inwiefern
die These der ‚Unfertigkeit‘ bis in Textgenese und Schreibprozess hinein ver-
folgt werden kann. Ein letzter Abschnitt (V) fügt die Erkenntnisse der Gedicht-
analyse in den Kontext der Theorie und der herausgearbeiteten Ästhetik ein.

II

Lenz hat vergleichsweise viele kürzere bis mittlere theoretisch-essayistische


Texte hinterlassen, die in der Ausgabe der Werke und Briefe als moral-
theologische, ästhetische und gesellschaftspolitische ‚Schriften‘ rubriziert
sind, rund vierzig an der Zahl, etwa je zehn moraltheologische und gesell-
schaftspolitische und zwanzig ästhetische, wobei die disziplinären Grenzen
teils fließend sind. Wegen ihrer Bedeutung in der Rezeption können von den
ästhetischen Texten die „Anmerkungen übers Theater“ (1774)7 hervorgehoben
werden, welche die aristotelischen Kategorien von der Nachahmung bis zu
den Einheiten kritisch umarbeiten. In Bezug auf den Lebensdiskurs müssen
neben der gesellschaftspolitischen Reformschrift „Über die Soldatenehen“8
von den moraltheologischen oder moralphilosophischen vor allem die 1780

6 Vgl. Hubert Thüring, Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, München,
2012, S. 83–138.
7 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Anmerkungen übers Theater“ (1774), in: ders., Werke und
Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften, hg. von
Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 641–671.
8 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über die Soldatenehen“ (1773–76/1913), in: ders., Werke und
Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften, hg. von
Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 787–827; und ders., Schriften zur Sozialreform.
Das Berkaer Projekt, 2 Teile, hg. von Elystan Griffiths und David Hill, unter Mitwirkung von
Heribert Tommek, Frankfurt a.M. u.a., 2007.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 145

anonym veröffentlichten und erst 1985 als Lenz-Schriften wiederentdeckten


Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen als spektakulär gelten.9
Lenz unternimmt eine revolutionäre Reformulierung der theologischen Erb-
sünde als Sexualethik auf der Basis der neuen materialistischen und bio-
logischen Theorien, die er wissenschaftlich und zugleich moraltheologisch zu
relativieren sucht.
Die meisten dieser Texte hat er als Vorträge verfasst und zwischen 1771 und
1776 vor der Straßburger Société de Philosophie et des Belles Lettres, später von
ihm als Deutsche Gesellschaft neu begründet, wohl auch gehalten, so u.a. den
kurzen Text mit dem vermutlich nicht von ihm gesetzten Titel „Über Götz von
Berlichingen“, der zwischen 1773 und 1775 entstanden sein dürfte. Ich wähle
ihn nicht nur wegen der relativen Bekanntheit und handlichen Kürze aus,
sondern weil er einige zentrale Eigentümlichkeiten von Lenz’ Poetik kompakt
und pointiert darbietet, wobei der titelgebende Gegenstand, Goethes 1773
erschienenes Drama Götz von Berlichingen, viel mehr Anlass als Grund und
unmittelbares Anschauungs- oder Untersuchungsobjekt ist. Ich werde ausführ-
licher zitieren und die einzelnen Passagen dazwischen jeweils kommentieren:

Wir werden geboren – unsere Eltern geben uns Brot und Kleid – unsere Lehrer
drücken in unser Hirn Worte, Sprachen, Wissenschaften – irgend ein artiges
Mädchen drückt in unser Herz den Wunsch es eigen zu besitzen, es in unsere
Arme als unser Eigentum zu schließen, wenn sich nicht gar ein tierisch Bedürfnis
mit hineinmischt – es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen –
unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen uns glücklich hinein –
wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder und
stoßen und treiben – bis wir wenn’s noch so ordentlich geht abgestumpft sind
und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen – das ist, meine
Herren! ohne Ruhm zu melden unsere Biographie – und was bleibt nun der
Mensch noch anders als eine vorzüglich künstliche kleine Maschine, die in die
große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser
oder schlimmer hineinpaßt.10

Der Text hebt mit der Beschreibung eines Normlebenslaufs an, deren ironisch-
kritische Absicht sowohl motivisch als auch rhetorisch bald merkbar und mit
der Apostrophe der Zuhörer und dem Begriff der ‚Maschine‘ auch erkennbar
wird. Die Kritik am aufklärerischen Rationalismus und Mechanismus ist gewiss

9 Jakob Michael Reinhold Lenz, Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (1771–
1774/1780), Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780, mit einem Nachwort
und hg. von Christoph Weiß, St. Ingbert, 1994.
10 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über Götz von Berlichingen“ (1773–1775/1901), in: ders.,
Werke und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische
Schriften, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 637–641, hier S. 637.

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146 Hubert Thüring

topisch und konventionell, aber in ihrer narrativ-stilistischen Pointiertheit doch


auch auffallend. Das Hauptargument der Kritik besteht in der mechanischen
Äußerlichkeit und Gewaltsamkeit der Erziehung und Sozialisation. Dass von
Kunst hier keine Rede ist, kann als performatives Kalkül der Rede selbst be-
trachtet werden, das auf ein Konzept der Übertragung und Übergängigkeit
von Kunst und Existenz zielt. Im nächsten Abschnitt wird die Kritik mit Ex-
klamationen und Interrogationen expliziert und auf den Begriff des Lebens
gebracht, über den die Negativkonzeption in eine positive Konzeption trans-
formiert wird, indem die Rede zwischendurch auch sich selbst und ihre Über-
zeugungswirkung zum Argument erklärt:

Kein Wunder, daß die Philosophen so philosophieren, wenn die Menschen


so leben. Aber heißt das gelebt? heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbst-
ständige Existenz, den Funken von Gott? Ha er muß in was Besserm stecken,
der Reiz des Lebens: denn ein Ball anderer zu sein, ist ein trauriger nieder-
drückender Gedanke, eine ewige Sklaverei, eine nur künstlichere, eine ver-
nünftige aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft. Was lernen wir
hieraus? Das soll keine Deklamation sein, ihr Herren, wenn Ihr Gefühl Ihnen
nicht sagt, daß ich recht habe, so verwünscht ich alle Rednerkünste, die Sie auf
meine Partei neigten, ohne Sie überzeugt zu haben. Was lernen wir hieraus?
Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht ge-
nießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähn-
lich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich
ergötzt: das lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser
höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper mit allen seinen Sinnlichkeiten
und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz den wahren Wert
gebe, daß ohne denselben all unser Genuß all unsere Empfindungen, all unser
Wissen doch nur ein Leiden, doch nur ein aufgeschobener Tod sind. Das lernen
wir daraus, daß diese unsre handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse
zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz
zu handeln: Guter Gott Platz zu handeln und wenn es ein Chaos wäre das du
geschaffen, wüste und leer, aber Freiheit wohnte nur da und wir könnten dir
nachahmend drüber brüten, bis was herauskäme ‒ Seligkeit! Seligkeit! Götter-
gefühl das!11

Der ‚Reiz des Lebens‘ ist der zentrale Begriff eines Zusammenhangs, aus dem
Lenz die Züge einer Ästhetik gewinnt, die man als vitalistisch-pragmatische
Ästhetik anschreiben kann, wobei pragmatisch hier ‚auf das Handeln, die Praxis
bezogen‘ meint. Die pragmatische Ästhetik enthält auch einen ethisch-
moralischen Zug, der sich aus der – von Lenz auch anderweitig geknüpften12 –

11 Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, S. 638.


12 Vgl. vor allem Jakob Michael Reinhold Lenz, „Versuch über das erste Principium der
Moral“ (1771–72/1874), in: ders., Werke und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 147

Verbindung materialistischer und christlicher Komponenten ergibt: einer-


seits die materialistischen Axiome, dass das Leben materiell ist und sich
stets in Bewegung befindet und andererseits die existenzielle Maxime der
Imitatio Christi und die genieästhetische Imitatio Dei. Die ideologischen
Konsequenzen des Materialismus, dass Seele und Geist selbst nur Wirkungen
materieller Vorgänge und vergänglich sind, versucht Lenz hier wie anderswo
zu vermeiden oder dann jeweils pragmatisch damit umzugehen, indem er die
Seele als belebendes Prinzip in der ‚Lebenskraft‘ oder im ‚Lebensgeist‘ aufhebt,
die zeitgenössisch als Tertium zur Dualität von Körper und Seele gehandelt
werden.13 Nie aber würde Lenz, der von seinem Pastorenhaus aus stark religiös
imprägniert war und neben Philosophie bei Immanuel Kant auch Theologie
studierte, die Dualität leugnen. Das hindert ihn wiederum nicht, Seele und
Geist genetisch in den biologisch-sensuellen Lebensprozess einzubeziehen:
Die Bewegung entspringt dem Reiz des Lebens und pflanzt sich, indem sie
sich vervielfältigt und verstärkt, über die Sinnlichkeiten und Empfindungen
sowie die körperlichen und geistigen Bewegungen und Handlungen fort bis
zum göttlichen bzw. quasi-göttlichen Schaffen. In diesem Sinn kann von einer
vitalistischen Ästhetik die Rede sein.
Die psychophysiologische Konzeption des ‚Reizes des Lebens‘ als Lebens-
reiz, der natürlich eine breite Konnotationsstreuung aufweist, kennt Lenz
vermutlich von Herder. Sein Reiz-Konzept gewinnt Herder in Vom Erkennen
und Empfinden der menschlichen Seele (1774/1778) aus der damals breit und
kontrovers diskutierten Lehre der Reizbarkeit und Empfindlichkeit (Irritabili-
tät und Sensibilität) Albrecht von Hallers (die Lehre muss wegen ihrer großen
Bekanntheit nicht direkt einer Schrift des Autors entnommen sein).14 Sie
liegt zum guten Teil bereits der Abhandlung über den Ursprung der Sprache
von 1770 zugrunde, in der Herder erstmals ganz explizit und entschieden
genetisch, physiologisch und vitalistisch argumentiert. In Erkennen und
Empfinden allerdings offenbart sich Herders produktives Missverstehen von
Hallers Konzeption in der begrifflichen und argumentativen Substanz und

Prosadichtungen. Theoretische Schriften, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig,


1992, S. 499–514.
13 Thüring, Das neue Leben, S. 301–442.
14 Vgl. Natalie Binczek, „‚Im Abgrunde des Reizes‘. Zu Herders ‚Vom Erkennen und
Empfinden der menschlichen Seele‘“, in: Sexualität – Recht – Leben. Zur Entstehung eines
Dispositivs um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes Friedrich Lehmann und
Hubert Thüring, München, 2005, S. 91–111; und Hubert Thüring, „Sprache als Rhetorik
des Lebens. Zu den Anfängen einer fundamentalen Differenz von Herder und Kant“, in:
Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts, hg. von Ralf Simon, Heidelberg, 2014,
S. 157–173.

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148 Hubert Thüring

Struktur: Indem er entgegen Hallers strikter dualistischer Trennung der reiz-


baren (muskulären und bloß körperlichen) Sphäre und der empfindlichen
(nervlichen und seelisch-geistigen) Sphäre die Empfindung dem Reiz ein-
verleibt bzw. den Reiz sensibilisiert und Reiz und Empfindung als gleich ur-
sprünglich denkt, schöpft er ein unvordenkliches differenzielles Moment, in
dem physisches und psychisches Vermögen immer schon gleich ursprünglich
angelegt sind und aus dem sie sich analog zur epigenetischen und organischen
Generation und Formation herausbilden: „Tiefer können wir wohl die
Empfindung in ihrem Werden nicht hinabbegleiten, als zu dem sonderbaren
Phänomenon, das Haller ‚Reiz‘ genannt hat.“ Und: „Im Abgrunde des Reizes
und solcher dunklen Kräfte liegt in Menschen und Tieren der Same zu aller
Leidenschaft und Unternehmung.“15
Bis zu einem gewissen Grad liegt diese Konzeption schon jener expliziten
Ästhetik zugrunde, die Herder bereits Ende der 1760er Jahre zu entwickeln
beginnt, aber erst 1778 in der Abhandlung über Plastik. Einige Wahrnehmungen
über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume veröffentlicht: Die
produktive und rezeptive Ästhetik wurzelt im Dunkel des Tastsinns, des
„Gefühl[s]“:

Nun aber wissen wir alle, das Gefühl ist zu dieser betrachtenden Kontemplation
und Ideenweckung der dunkelste, langsamste, trägste Sinn; da er doch im
Empfinden der schönen Form der Erste und Richter sein muß. Er, Ideen und
Nachahmung vergessend, fühlt nur, was er fühlt; dies regt seine innere Sympathie
dunkel aber um so tiefer.16

Auch Sprache konzipiert Herder genetisch von einer „Sprache der Empfindung“
her, als eine sensible Semiotik, über deren Anlage auch die Tiere verfügen, die
sich im Menschen in besonderer Weise ausgeformt hat: „Schon als Tier, hat
der Mensch Sprache“, so beginnt Herder die Abhandlung über den Ursprung

15 Johann Gottfried Herder, „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Be-
merkungen und Träume“ (1774/1778), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4: Schriften
zur Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, hg. von Jürgen Brummack und Martin
Bollacher, Frankfurt a.M., 1994, S. 327–393, hier S. 339.
16 Johann Gottfried Herder, „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus
Pygmalions bildendem Traume“ (1768–1770/1778), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4,
S. 243–326, hier S. 272; vgl. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 85f.: „Wie der Begriff
der Illusion, so ist der Begriff der plastischen Darstellung bei Herder darauf angelegt, die
Opposition von Kunst und Leben nicht etwa progressiv zu überwinden, sondern vom
Ursprung her zu unterlaufen. […] Die ‚körperliche Darstellung‘ ist wahr und lebendig zu-
gleich, denn sie spricht zu einem Sinn, der seine Erfahrungen am ‚dunklen‘ Indifferenz-
punkt von Zeichen und Bezeichnetem sammelt, wo Nachahmung und Natur, Kunst und
Leben (fast) in eins fallen.“

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 149

der Sprache, indem er Tier und Mensch zugleich verbindet und trennt.17 Der
Empfindung eines wiederholt wahrgenommenen auditiven „Merkmal[s]“, so
führt Herder den Sprachursprung am Beispiel des Schafeblökens szenisch vor
Augen, entspringt spontan ein „Merkwort“, zu dem sich auch die visuellen und
haptischen Eindrücke assoziieren.18 Das Merkwort entspringt spontan als Reiz-
wort, Sprache ist ursprünglich Träger und Vermittler von Empfindungsreizen.19
Mit Herder denkt Lenz seine vitalistisch-pragmatische Ästhetik radikal
vom psychophysischen Reiz des dunklen Gefühls aus und unterscheidet
nicht zwischen Produktion und Rezeption: Etwas Geschaffenes kann nur
wahrgenommen und empfunden werden, wenn es zugleich wieder oder
weiter geschaffen wird. Die Kommunikation zwischen dem Produzenten und
Rezipienten erfolgt durch die „Sympathie“ des Reizes,20 den das Kunstwerk
überträgt. Wenn Lenz für die Wahrhaftigkeit seiner Rede und die Richtigkeit
des Gesagten an das ‚Gefühl‘ seiner Zuhörer appelliert, dann meint er damit
wohl nicht direkt den Tastsinn, aber auch nicht das Gefühl als reine Gemüts-
oder Seelenregung, sondern eben jene unmittelbare Gewissheit und ‚Begriffen-
heit‘, die Herder zufolge dem Tastsinn eignet.
Nachdem Lenz die pragmatische Maxime des fortgesetzten Lernens und
Handelns aus dem ‚Geiste des Lebensreizes‘ entwickelt hat, spricht er endlich
aus, dass diese vitalistisch-pragmatischen Maximen immer schon als theatrale,
performative Ästhetik zu denken gewesen sind und bezieht dies gleich auch
auf seine eigene Rede:

Verzeihn Sie meinen Enthusiasmus! Man kann nicht [zu] enthusiastisch von
den Sachen sprechen; da unsere Gegner soviel Feuer verschwenden, uns das
Leiden süß und angenehm vorzustellen, sollen wir nicht aus Himmel und Hölle
Feuer zusammenraffen um das Tun zu empfehlen? Da stehn unsre heutigen
Theaterhelden und verseufzen ihre letzte Lebenskraft einer bis über die Ohren
geschminkten Larve zu gefallen – Schurken und keine Helden! was habt ihr
getan, daß ihr Helden heißt?
Ich will mich bestimmter erklären. Unsre heutigen Schaubühnen wimmeln
von lauter Meisterstücken, die es aber freilich nur in den Köpfen der Meister
selber sind. […] Laßt uns aber einen andern Weg einschlagen, meine Brüder,
Schauspiele zu beurteilen, laßt uns einmal auf ihre Folgen sehen, auf die
Wirkung die sie im Ganzen machen. Das denk ich ist doch gewiß wohl der

17 Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1770/1772), in:
ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften, 1764–1772, Frankfurt a.M., 1985, S. 695–
810, hier S. 697f.
18 Ebd., S. 723f.
19 Vgl. ebd., S. 771: „[…] so ist die Genesis der Sprache ein so inneres Dringnis, wie der Drang
des Embryons zur Geburt bei dem Moment seiner Reife.“
20 Zum physiologischen Begriff der Sympathie vgl. Thüring, Das neue Leben, S. 410–422.

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150 Hubert Thüring

sicherste Weg. Wenn ihr einen Stein ins Wasser werft, so beurteilt ihr die Größe
Masse und Gewicht des Steins nach den Zirkeln die er im Wasser beschreibt.
Also sei unsere Frage bei jedem neuen herauskommenden Stück das große, das
göttliche Cui bono? Cui bono schuf Gott das Licht: daß es leuchte und wärme, cui
bono die Planeten: daß sie uns Zeiten und Jahre einrichteten, und so geht es un-
aufhörlich in der Natur, nichts ohne Zweck, alles seinen großen vielfachen nie
von menschlichem Visierstab […]. Und wo fände der Genius ein anderes,
höheres, tieferes, größeres, schöneres Modell als Gott und seine Natur?
Also cui bono? was für Wirkung? die Produkte all der tausend französischen
Genies auf unsern Geist, auf unser Herz, auf unsre ganze Existenz? Behüte mich
der Himmel, ungerecht zu sein. Wir nehmen ein schönes wonnevolles süßes Ge-
fühl mit nach Hause, so gut als ob wir eine Bouteille Champagner ausgeleert –
aber das ist auch alles. Eine Nacht drauf geschlafen und alles ist wieder vertilgt.
Wo ist der lebendige Eindruck, der sich in Gesinnungen, Taten und Handlungen
hernach einmischt, der prometheische Funken der sich so unvermerkt in unsere
innerste Seele hineingestohlen, daß er wenn wir ihn nicht durch gänzliches
Stilliegen in sich selbst wieder verglimmen lassen, unser ganzes Leben beseligt;
das also sei unsre Gerichtswaage nach der wir auch mit verbundenen Augen
den wahren Wert eines Stücks bestimmen. Welches wiegt schwerer, welches hat
mehr Gewicht Macht und Eindruck auf unsre Meinungen und Handlungen?
Und nun entscheiden Sie über Götz.21

Anschließend geht Lenz auf den Inhalt des Götz ein, lobt sein vorbildliches
Wesen und Wirken und ruft die versammelten „Herren“ auf, die Probe aufs
Exempel gleich hier zu veranstalten, es braucht „[w]eder Theater noch Kulisse
noch Dekoration – es kommt alles auf die Handlung an. […] und dann ein-
geladen alles was noch einen lebendigen Odem in sich spürt – das heißt Kraft
Geist und Leben um mit Nachdruck zu handeln“, so unterstreicht Lenz im
Schlusssatz noch einmal den interventionistischen Impetus seiner vitalistisch-
pragmatisch-performativen Ästhetik, wie sie nun zu nennen wäre.
In der zitierten Passage greift Lenz durchaus auf die Nachahmungsbegriffe
der aristotelischen Poetik und Physik zurück. Doch sowohl bei der poetischen
Mimesis der Handlung als auch bei der physischen Mimesis der Form, die mit
dem göttlichen Modell der Natur angesprochen wird, rückt die Wirkung im
Sinn einer Anreizung durch den lebendigen Eindruck zum Wieder-Erschaffen
oder Weiter-Erschaffen mit Einwirkung oder Fortwirkung in der Wirklich-
keit in den Vordergrund. Über die nähere Art und Weise, was und wie – von
der Produktion her betrachtet – vom Lebensreiz bis zur dargestellten Hand-
lung und – auf die Rezeption hin betrachtet – von der dargestellten Hand-
lung zum lebendigen Eindruck übertragen wird, erfährt man indes nichts
Genaueres. Eine theoretisch-technische Analyse, wie man sie bei Herder in

21 Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, S. 638f.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 151

unterschiedlicher begrifflich-metaphorischer Mischung und in unterschied-


licher Dichte und Reichweite in den genannten Schriften und weiteren findet,
erhält man auch in Lenz’ Anmerkungen übers Theater, seiner ausführlichsten
ästhetischen Schrift, nicht, auch wenn sich mit genügend Einlassung der
eine oder andere Zug herausarbeiten ließe. Ich möchte aber einen anschau-
licheren Weg einschlagen und das Verhältnis von Reiz-Empfindung und Wort-
Bewegung und Handlung an einem Gedicht betrachten, vorbereitet von ein
paar knappen theoretischen Überlegungen.

III

Das Verhältnis von Reiz-Empfindung und Wort-Bewegung oder Handlung


kann auch als Verhältnis von Affekt und Ausdruck gedacht werden, wie es
Rüdiger Campe in seiner Studie mit dem gleichnamigen Titel gründlich unter-
sucht hat. Demnach kann ein Wort bzw. eine Wortkombination einen Affekt
auf zwei Arten ausdrücken: Entweder wird innerhalb eines Syntagmas eine
Empfindung oder ein Verhalten geschildert, die dann explizit mit diesem oder
jenem Affekt (Schmerz, Freude, Zorn) bezeichnet werden. Hier findet ein Be-
zeichnungsvorgang statt, indem das Beschriebene, das man als Objektebene
betrachten kann, quasibegrifflich, also wie von einer Metaebene aus, benannt
wird. Oder das Wort bzw. das Syntagma kommuniziert mittels Metrum und
Rhythmus oder rhetorisch mittels Wortfiguren und Tropen den Affekt direkt.22
Hier wird eine Bedeutung quasimimetisch als Konnotation evoziert. Konkret
finden sich die beiden Verfahren, die quasibegriffliche Signifikation und die
quasimimetische Evokation, meistens ineinander verschränkt, sodass sie als
Selbstreferenzialität oder Performativität gelesen werden können.
Diese beiden Verfahren kann man mit den beiden rhetorisch-stilistischen
Verfahren zur Erzeugung von Lebendigkeit bzw. von Leben kombinieren,
die meistens im Begriff der evidentia zusammenlaufen, der enargeia der
hellenistisch-römischen Rhetorik und der energeia bei Aristoteles.23 Während
die enargeia in der lebhaften (anschaulichen, ausführlichen, detaillierten)

22 Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18.
Jahrhundert, Tübingen, 1990, S. 224f.
23 Vgl. Rüdiger Campe, „Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuration“, in: Figur
und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. von Gottfried Boehm, Gabriele
Brandstetter und Achatz von Müller, Paderborn, 2007, S. 163–182; und ders., „Form und
Leben in der Theorie des Romans“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit,
hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker. Zürich/Berlin, 2009,
S. 193–211.

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152 Hubert Thüring

Beschreibung (Ekphrasis) besteht, betrifft die energeia das Beleben von etwas
Unbelebtem oder das Bewegen von Unbewegtem im Sinn von Wirklichwerden
(energeia, Akt) des Möglichen (dynamis, Potenz) mittels Metapher (so legt das
Beispiel bei Aristoteles nahe). Weil sich hier die Rhetorik mit der Metaphysik be-
rührt, könne man, so Campe, „soweit gehen, in der metaphorischen Ersetzung
die Umschreibung des philosophischen Begriffs vom Leben zu sehen“.24 Ent-
sprechend kann man die metaphorische ‚Urbewegung‘ als Begründung des
Verhältnisses von Leben und Zeichen bzw. Sprache denken, wie sie Herder
im physisch-semiotischen Verhältnis von Reiz und Merkwort umschreibt,
das nicht in einer Ähnlichkeit von Reiz und Merkwort besteht, sondern in
einem Sprung zwischen zwei heterogenen Sphären.25 Es liefert zum einen das
paradigmatische Modell für Neu- oder Analogbildungen (wie sie Aristoteles
in der Poetik mit der Verhältnisgleichung A : B = C : D erklärt)26 gemäß der
energeia, zum anderen den Anfang für syntagmatische Erweiterungen und
Verkettungen, welche die Bewegungen im Sinn der enargeia fortpflanzen.
Diese schon bei Aristoteles angelegte theoretische Verbindung von Leben
und Zeichen ist für die biologisch-sensuelle Ästhetik Herders und seiner
Zeit in dreierlei Hinsicht elementar: Zum einen ist es im Kontext der schon
von Aristoteles fundierten epigenetischen Lebenskonzeption, die Caspar
Friedrich Wolff mit seiner Theoria generationis (1759) in Absetzung von der
mimetistischen Präformationslehre der Haller-Schule neu entdeckt, empirisch
belegt und theoretisch begründet hat, möglich, ästhetische Zeichen nicht in
mimetisch-analogischer Relation zur Referenz zu denken (wie die Präformation
nahelegt), sondern als subjektiv und intersubjektiv zu konstituierende Relation
von Zeichen und Bedeutung, die ‚sympathisch‘ in der psychophysischen Reiz-
Affektion wie im äußeren Welt-Handeln wirken. Zum anderen erlaubt es der
Konnex zur Rhetorik, die ‚lebenschaffende‘ Kraft der energeia-Zeichen in
ihrer fortgesetzten oder verstärkten Wirkung in den enargeia-Syntagmen zu
denken. Und drittens lässt sich in Kombination mit den beiden Verfahren des
Affekt-Ausdrucks erkennen, wie Lebendigkeit als bestimmte Affektivität oder
Emotionalität und diese ihrerseits lebendig wirken kann.
Inka Mülder-Bach hat dargelegt, dass Lessing in seiner Laokoon-Theorie
der Einsicht, dass die Worte keine Ähnlichkeit mit den Referenten der Vor-
stellungen haben, Rechnung trägt und stattdessen die „Übereinstimmung

24 Campe, „Form und Leben in der Theorie des Romans“, S. 204.


25 Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens (1995), Basel/
Frankfurt a.M., 2008, S. 11f., 209f., 256–259.
26 Aristoteles, Poetik: griechisch/deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart,
1982, S. 69.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 153

[…] zwischen der Struktur der Signifikate und der Ordnung der Signifikanten“
in den Blick der poetischen Arbeit stellt.27 In diese Richtung noch weiter
gegangen ist Klopstock in seiner verspoetischen Darstellungskonzeption
der 1770er Jahre, wie ebenfalls Mülder-Bach zeigt: Angeregt von Herders
biologisch-sensueller Ästhetik versucht Klopstock den Affektausdruck noch
enger in die Signifikantenkette hineinzudenken: „Wortfüsse“ nennt Klopstock
die „eigentlichen“, das heißt bedeutenden „Theile des Verses“, während die
„Versfüsse“ bloß „künstlich“ sind.28 Sie bilden die kleinste lyrische Einheit,
die mehr umfasst als ein Versfuß und mittels „Zeitausdruck“29 (basierend
auf der Silbendauer) und „Tonverhalt“30 (basierend auf der Silbenstärke)
ein rhythmisch „individuelles Bewegungsprofil“31 darbietet, das er auch be-
stimmten Affekten zuzuordnen versucht, was natürlich misslingt, weil auch
Affekt und Ausdruck historisch determiniert sind. Diese strukturierende Be-
wegung steht in einem Verhältnis zur gleichzeitig mitlaufenden semantischen
Ebene der Vorstellung, zu der sie in ein mimetisches bzw. pseudomimetisches
Verhältnis der Analogie oder des Kontrasts tritt. Klopstock denkt seine Poetik
also möglichst konsequent von den rhythmischen Wortgebärden aus, die den
Körper direkt affizieren, während die bildhaften Vorstellungen die Vernunft
beschäftigen, die als Affektkontrolle fungieren kann. Konsequenterweise, so
Mülder-Bach, gilt Klopstock statt der Malerei der Tanz als Schwesternkunst der
Poesie, was auch durch seine Wiederbelebung der griechischen Verskunst (u.a.
der ‚tanzbaren‘ Dithyrambik) motiviert ist.
Wie fast alle zeitgenössischen Dichter verehrte natürlich auch Lenz
Klopstock. Was er über die frühe Lektüre des Messias hinaus von ihm kannte
und ob er im Speziellen auch seine theoretische Verskunst rezipierte, ist bis-
lang noch nicht erforscht worden. Indes möchte ich an einem Gedicht ein-
gehender beobachten, wie Lenz’ lyrische Poesie und ihre Wirkung von der
rhythmischen Bewegung her wahrzunehmen ist und wie diese, da es sich um
ein Tanzlied handelt, mit dem semantischen (denotativen und konnotativen)
Gehalt korrespondiert.

27 Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 118.


28 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Vom deutschen Hexameter“ (1779), zit. nach: Hans-
Heinrich Hellmuth, Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, München,
1973, S. 70; vgl. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 160.
29 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Vom Sylbemaasse“ (1770), zit. nach: Hellmuth, Metrische
Erfindung, S. 223.
30 Klopstock, „Vom deutschen Hexameter“, S. 223.
31 Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 160f.

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154 Hubert Thüring

IV

Das „Lied zum teutschen Tanz“ ist vermutlich 1776 entstanden, aber erst 1891
zum ersten Mal veröffentlicht worden:32

Lied zum teutschen Tanz

1 O Angst! o tausendfach Leben ˅–˅–˅˅–˅


2 O Mut den Busen geschwellt ˅–˅–˅˅–
3 Zu taumeln zu wirbeln zu schweben ˅–˅˅–˅˅–˅
4 Als ging’s so fort aus der Welt ˅–˅–˅˅–
5 Kürzer die Brust –˅˅–
6 Athmet die Lust –˅˅–
7 Alles verschwunden –˅˅–˅
8 Was uns gebunden –˅˅–˅
9 Frei wie der Wind –˅˅–
10 Götter wir sind. –˅˅–

In der bislang ausführlichsten Interpretation ordnet Mathias Bertram das


„Lied zum teutschen Tanz“ in die Lyrik von Lenz ein, die überwiegend „von
individuellen Leidens- und Krisenerfahrung“ bestimmt sei, indem er zu-
gleich seinen „besondere[n] Stellenwert“ hervorhebt.33 Seien die Gedichte,
die „glückhafte[] Erfahrungen“ und „Augenblicke“ thematisieren, insgesamt
schon selten, so erstaune es umso mehr, dass das vielleicht schon 1774 oder
1775 begonnene, aber erst 1776 in Weimar beendete „Lied“ eine Erfahrung des
„Glücks und der Erfülltheit als konkrete Utopie einer ungebundenen, von
äußeren und inneren Zwängen befreiten Existenz“ vermittle, wo sich zu dieser
Zeit doch „Hoffnungslosigkeit, Resignation und Verzweiflung“ ausbreite.34
Dieser zentralen These arbeitet die Analyse von verschiedenen Seiten zu. Zu-
nächst bestimmt er das „Lied“ als „Musterbeispiel eines Erlebnisgedichts“ (mit

32 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Lied zum teutschen Tanz“ (vermutlich 1776/1891), in: ders.,
Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig,
1992, S. 191; vgl. ders., Gedichte, mit Benutzung des Nachlasses Wendelins von Maltzahn, hg.
von Karl Weinhold, Berlin, 1891, S. 120f. Der Text wird hier zunächst nach der maßgeb-
lichen Ausgabe der Werke und Briefe zitiert (D), weil sich auch die referierte Forschung
darauf bezieht. Weiter unten wird dann für die erweiterte Interpretation die Handschrift
(H) in einer hierfür erarbeiteten Neuedition hinzugezogen (s. Anm. 46).
33 Mathias Bertram, Lenz als Lyriker. Zum Weltverhältnis und Struktur seiner lyrischen Selbst-
reflexion, St. Ingbert, 1994, S. 205–216, hier S. 212.
34 Ebd., S. 205f., vgl. S. 213f.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 155

Verweis auf Goethes „Auf dem See“, 1775), das die „Vergegenwärtigung“, das
heißt das scheinbare Zusammenfallen von „Erlebnis‑ und Sprechsituation“,
„durch den sukzessiven Nachvollzug der Wahrnehmungen, Empfindungen der
Tanzenden“ mit einer „höchst artifizielle[n] lyrische[n] Reflexion“ über die
„Erfahrung des Walzertanzens“ realisiere.35
Denn ein Walzer ist gemeint mit dem „teutschen Tanz“. Im Hinblick auf
die emanzipatorischen Aspekte des Gedichts zeichnet Bertram ein paar Züge
der historischen Karriere des Walzers nach. Neben den ‚disziplinarischen‘
höfischen Tänzen entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
der als wild und ungezügelt geltende Hüpf- und Drehtanz der „plebejischen
Schichten“, der wegen seiner schädlichen Wirkungen auf Moral und Gesund-
heit verpönt oder gar verboten war, bis er 1800 zum verbreiteten und zu-
nehmend konventionalisierten „Lieblingstanz aller kultivierten Nationen“
wurde. Die nationale Kennzeichnung des Tanzes zählt Bertram zu den Be-
strebungen des Sturm und Drang, eine eigene nationale Volksnatur der „Ein-
fachheit, Natürlichkeit und Ungezwungenheit“ zu entdecken und gegen die
„zivilisatorischen Verfeinerungen“ der von Adel und Bürgertum adaptierten
französischen Kultur abzugrenzen.36
Die diskurshistorischen Implikationen ließen sich von Lenz her ver-
mehren und vertiefen. In der vermutlichen Entstehungszeit des Gedichts in
der Weimarer Zeit von Anfang April bis Anfang Dezember 1776 bittet Lenz
Johann Daniel Salzmann in Straßburg, nach Möglichkeit „einige der neuesten

35 Bertram, Lenz als Lyriker, S. 206.


36 Ebd., S. 209–211. Im Zusammenhang mit der baldigen Konventionalisierung ist das Ge-
dicht „Der Tanz“ (1795) von Friedrich Schiller bemerkenswert (Sämtliche Werke, Bd. 1:
Gedichte. Dramen I, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Darmstadt, 1987,
S. 237f.): Weder Titel noch Text weisen den Tanz als Walzer aus, aber mehrere Indizien
deuten darauf hin, unter anderem: „Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende
Schöpfung, / Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel.“ Die ganze 32-zeilige
Elegie thematisiert die Spannung von Chaos und Ordnung, Freiheit und Gesetz, Wild-
heit und Zähmung usw., zunächst beschreibend, dann reflektierend. Diese Spannung
wird von der Spannung zwischen der strengen Form der Elegie und dem tendenziell ent-
fesselnden Walzer performativ getragen. Schiller kann Lenz’ „Lied zum teutschen Tanz“
nicht durch einen Druck gekannt haben, allenfalls durch eine Lenz’sche Handschrift oder
eine fremde Abschrift im Besitz von Goethe oder seines Umfeldes. Zur Geschichte des
Walzers vgl. auch Gabriele Klein, „‚Wenn das Blut in Wallung kommt …‘ Vom Menuett zum
Walzer oder: Zum Wandel der Tanzformen im Prozeß der Zivilisierung“, in: Gesellschaft-
liche Prozesse und individuelle Praxis. Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisations-
theorie, hg. von Hermann Korte, Frankfurt a.M., 1990, S. 197–215 und Gerhard Neumann,
„‚Tanzen muß man sie sehen!‘ Der Walzer in Goethes Werther“, in: Kulturwissenschaftliche
Hermeneutik. Interpretieren nach dem Poststrukturalismus, hg. von Gerhard Neumann,
Freiburg i.Br., 2014, S. 479–499.

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Allemanden in Straßburg abgeschrieben her[zu]bekommen“.37 Anscheinend


hat sich Lenz intensiver mit dem Phänomen beschäftigt, vielleicht auch in
historischer Perspektive. Die Bezeichnung ‚neuste Allemande‘ verweist auf die
teils sich berührende, teils separate Entwicklung der höfischen Allemande und
des im Volk verbreiteten Walzers, der erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts unter
diesem Namen verbreitet und zuvor wegen seiner vermuteten Abkunft vom
bayrisch-österreichischen Ländler, einem paarweise, zunächst gesprungenen
oder gehüpften Drehtanz, auch ‚deutscher Tanz‘ genannt wurde.38 Der Walzer
wurde wohl schon nach 1750 schleifend oder gleitend in enger Umfassung ge-
tanzt. Die berauschende Wirkung des Drehens und Beschleunigens, die Nähe
der Körper, die kollektive Ausübung mit der Aufhebung der Grenze zwischen
Agierenden und Zuschauenden lieferten Gründe genug, um den Walzer als
vielfältiges und weittragendes ‚Anti-Ritual‘ zur rituellen Körperdisziplinierung
und Machtrepräsentation höfischer Tänze wie Menuett, Contretanz,
Allemande und Anglaise zu verstehen.39 Und man kann versucht sein, die
historische Gleichzeitigkeit oder Überlagerung und Ablösung im Rhythmus-
wechsel des „Lieds“ performiert zu sehen, wie weiter unten gezeigt wird.
Mit dem Exkurs zur Geschichte des Walzers und dem Verweis auf die be-
rühmte Walzer-Szene im Werther (1774) unterstreicht Bertram, dass der Walzer
(wie die Tanz-Geschichte überhaupt) ein geradezu ideales Erfahrungsfeld für
die literarische Problematisierung der sozialen, moralischen, sinnlichen und
ästhetischen Emanzipationsbewegung der jungen Generation eröffnet und
dass das „Lied“ diese Dynamik und Komplexität in den wenigen Zeilen darzu-
stellen und zugleich vorzuführen vermag. Die Bewegung von den beengenden
Zwängen („Angst“) über die (Selbst-)Überwindung („Mut“) zur Befreiung
(„Frei“) mündeten jedoch nicht in eine quasi-transzendente („fort aus der
Welt“) Absolutheit („alles verschwunden“, „Götter“), so argumentiert Bertram
gegen eine ältere Interpretation von Heinz Kindermann:

Gerade die Irrealität des Als-Ob-Vergleichs belegt ja, dass sich die Tanzenden
trotz ihres Enthusiasmus der Bedingtheit der gelingenden Selbstüberwindung
und der Begrenztheit der in dieser Situation spielerisch-ästhetischen Weltver-
haltens errungenen Freiheit und Glückseligkeit bewußt sind.40

37 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Brief an Johann Daniel Salzmann, Kochberg, 23. Oktober
1776“, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt
a.M./Leipzig, 1992, S. 504f.
38 Vgl. Rudolf Flotzinger, „Walzer“ (1998), in: Musik in Geschichte und Gegenwart/MGG On-
line, hg. von Laurenz Lütteken, New York, 2016ff. (online unter: https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/15018 [letzter Zugriff: 19.06.2018]).
39 Vgl. Neumann, ‚Tanzen muß man sie sehen!‘, S. 492.
40 Bertram, Lenz als Lyriker, S. 213f.

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 157

Die poetisch-rhetorische Textualität analysiert Bertram nur in Ansätzen, indem


er mit Kindermann die dynamisch gestaltete Mimesis des Walzerdreitaktes be-
merkt, die „‚rhythmische Kurve des tanzenden Menschen‘“ „umschreibt“ und von
einem gewissen Punkt an die „‚rasende Tanzgeschwindigkeit‘“ „symbolisiert“.41
Mehrmals kommt Bertram auf die Körperlichkeit und (erotische) „Sinnlich-
keit“ in ihrer Spannung zur „asketischen Verdrängung“ zu sprechen,42 die von
ebenso unmittelbar verinnerlichten wie theologisch reflektierten Moralvor-
stellungen befördert wird. Wie sehr Lenz gerade dieses Spannungsverhältnis
in seiner vitalistisch-pragmatisch-performativen Ästhetik produktiv wirksam
werden lässt, konnte Bertram 1992 noch nicht ermessen, da die für die Sexual-
moral und die ästhetische Produktivität wichtigen Philosophischen Vorlesungen
für empfindsame Seelen erst zum Teil bekannt waren und weil die Lyrik auch
nicht zu den für die Erforschung dieser Problematik privilegierten Gattungen
gehört. Bertram betont, dass die tänzerische Aktivierung sich „nicht auf den
psychisch-geistigen Innenraum beschränkt“ und

Leidenschaftlichkeit […] sich in diesen Versen nicht in einem rhetorischen


Enthusiasmus [erschöpft], sondern […] tatsächlich dazu bei[trägt], zu einem
aktiven und darüber hinaus auch zu einem für Lenzens Lyrik ungewöhnlich
sinnlichen und genießenden Weltverhältnis zu gelangen.43

Es sei dahingestellt, welchen ‚Beitrag‘ die poetisch-rhetorische Gestaltung


in anderen Lenz-Gedichten zur Aussage leistet. Doch gerade hier, wo das
Gedicht in seiner sprachlich-textuellen Gestalt selbst als der (utopische)
Zeit-Ort erscheinen soll, an dem aus der körpersinnlichen Bewegung die
Überwindung der äußeren und inneren Widerstände zur selbstbestimmten
„Aktivität“ augenblickshaft – in der bewussten Bedingtheit – gelinge,44 muss
der rhetorisch-poetischen Gestaltung des Textes mehr Beachtung geschenkt
werden. Denn auf diese Weise lässt sich das Gedicht (und ließe sich auch die
Lyrik insgesamt) dichter mit Lenz’ Ästhetik und Philosophie vernetzen. – In
diesem Sinn sollen hier noch einige poetisch-rhetorische Aspekte des Ge-
dichts besonders analysiert, entsprechend interpretiert und abschließend in
die vitalistisch-pragmatisch-performative Ästhetik integriert werden.

41 Bertram, Lenz als Lyriker, S. 206 (Zitat im Zitat: Heinz Kindermann, Lenz und die deutsche
Romantik. Ein Kapitel aus der Entwicklungsgeschichte romantischen Wesens und Schaffens,
Wien/Leipzig, 1925, S. 187), vgl. auch S. 207f.
42 Ebd., S. 208, vgl. S. 215.
43 Ebd., S. 208, vgl. S. 215.
44 Ebd., S. 215.

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158 Hubert Thüring

Das „Lied zum teutschen Tanz“ ist durch eine einzige Handschrift (H) über-
liefert, die auch dem oben zitierten Text (D) der Werke und Briefe zugrunde
liegt.45 Die hier mit Faksimile und diplomatisch-topologischer Umschrift bei-
gegebene Edition erlaubt es, Genese und den Schreibprozess bis zu einem
gewissen Grad zu rekonstruieren.46 Sie zeigt, dass Lenz in diesen wenigen
Zeilen einiges an Arbeit investiert hat, die den Doppeleffekt der Spontanei-
tät und Reflektiertheit erhellen kann. Es wird im Folgenden nur auf einige der
Befunde eingegangen, die für die Thesen der lebendigen Darstellung relevant
sind. – Das Gedicht hebt an mit drei Exklamationen, die semantisch eine
innere Bewegung des Zögerns, markiert durch das Ausrufezeichen – das ein-
zige Satzzeichen –, und des Überwindens beschreiben. Die Bewegung geht von
innen nach außen, manifestiert sich körperlich („Busen geschwellt“) (V. 1–2/Z.

45 Laut Kommentar der Werke und Briefe (Anm. 7) wurde der Text (D) „[n]ach der Hand-
schrift in Berlin“ ediert (Bd. 3, S. 807). Als „ursprüngliche[r] Schluß ab V. 7“ wird Folgendes
zitiert: „Was uns noch bindet/Alles verschwindet/Und wir sind Götter tun was uns ge-
fällt“ (S. 807). Die Orthographie ist wie in der gesamten Ausgabe modernisiert. Die
Grundlage des Erstdrucks von 1891 (Gedichte von J. M. R. Lenz, S. 120f. [Text] und S. 274f.
[Kommentar]) ist im Stellenkommentar nicht eindeutig ausgewiesen; in der „Einleitung“
(S. III–XXII), die auch einen Teil der Geschichte des Lenz-Nachlasses berichtet, erläutert
Weinhold den editorischen Umgang mit den Handschriften, u.a. die ‚stillschweigende
Verbesserung‘ der Orthografie, „wo der Sinn dadurch gestört ward“ (S. VII). Jedenfalls
weist der Text des Erstdrucks gegenüber der Handschrift größere Differenzen auf, vor
allem in der Interpunktion, während der Wort- und Versbestand bis auf das fehlende „o“
vor „tausendfach“ identisch ist. Als „durchstrichene[] Verse“ nach „Z. 10“ werden zitiert:
„Freyer als Wind/Ach wir nun sind“ (S. 275). Wenn im Folgenden nicht nach dem Druck
der Werke und Briefe (D), sondern nach der Handschrift (H) zitiert wird (s. Anm. 46), dann
wird (anstatt auf Verse) auf Zeilen (Z.) verwiesen, weil die Textteile (gemeint sind damit
sämtliche Schriftaufträge: Sätze, Wörter, Buchstaben, Satzzeichen) nicht zum Vornherein
als Verse bezeichnet werden können; zusätzlich steht hinter den Zeilenzahlen ein H für
‚Handschrift‘, z.B. Z. 3–5H.
46 Die Handschrift befindet sich im Nachlaß Jakob Michael Reinhold Lenz, Bd. 2, Staats-
bibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Die Transkription erfolgt diplomatisch
und in topologischem Verhältnis zum Manuskript. Die vermutlich frühere Niederschrift
erscheint in größerer, die vermutlich spätere in kleinerer Schrift, die wegen des dichten
Schreibmittelauftrags unsichere Entzifferung kursiviert. Der den unteren Teil des Ge-
dichts umgebende kopfstehende Text in lateinischer Schrift und französischer Sprache ist
die Fortsetzung des die ganze Rückseite füllenden Textes. Er wird hier nicht transkribiert
und konnte bis anhin noch nicht zugeordnet werden. Er scheint inhaltlich nicht un-
mittelbar mit dem Gedicht in Verbindung zu stehen. Das Gedicht ist größtenteils wohl
vor dem unteren Text niedergeschrieben worden. Eine textgenetische Edition mit Fak-
simile von Gert Vonhoff findet sich unter: http://people.exeter.ac.uk/gvonhoff/HKALenz/
Lyrik/LiedteuT/LiedtTHV.htm [19.06.2018]. Für die Druckgenehmigung der Handschrift
danke ich der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, für Hinweise zum
Standort der Handschrift Gert Vonhoff (Exeter), für Hilfe bei der Entzifferung und Druck-
einrichtung Beat Röllin und René Stockmar (beide Basel).

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 159

2–4H) und kann zugleich körperlich und seelisch verstanden werden (V. 3/Z.
5H). Die Streichung und Ersetzung von „Von Liebe“ durch „O Muth“ kann von
einer Semantik der Steigerung her plausibilisiert werden, aber auch durch eine
größere metonymische Nähe und dadurch, dass Angst, Leben(skraft) und Mut
gleichermaßen physisch wie psychisch determiniert sind. Die ‚Liebe‘ scheint
vorausliegender Movens oder Effekt des ganzen Gedichts, nicht aber sein
Thema zu sein. Die doppelte, psycho-physische Determination gilt auch für die
drei asyndetisch gereihten Bewegungsverben, die einen durchgehenden Takt
suchen. Sie unterstreichen die Beobachtung, dass der Dreiertakt des Daktylus
von Anfang an da ist, in V. 1–2 (Z. 2–4H) eingefasst von jambischen Versfüßen.
In V. 3 (Z. 5H) versucht er sich mit zwei Daktylen durchzusetzen, V. 4 (Z. 6H)
kehrt noch einmal zum dominanten Rhythmus von V. 1–2 (Z. 2–4H) zurück.
Gleichzeitig mindert der Konjunktiv die Transzendenz, welche die Semantik
der asyndetischen Reihung von ‚taumeln‘, ‚wirbeln‘, ‚schweben‘ vollzieht. Sehr
wohl kann der Konjunktiv im Sinn von Bertram als augenblickshafte poetische
Bedingtheit aufgefasst werden; doch man kann ebenso das Festhalten am
Körpersinnlichen akzentuieren, das dann tendenziell dominiert.
Die Handschrift gibt kein räumliches Indiz für einen Strophenwechsel nach
Z. 6H; eine Leerzeile ist erst nach Z. 14H erkennbar, sofern man von der wahr-
scheinlichen Annahme ausgeht, dass die Z. 15–16H erst nach den Z. 17ff.H ge-
schrieben wurden. Dagegen ist der Wechsel des Rhythmus ab V. 5 markant,
von drei zu zwei Hebungen bzw. Längen und von einem jambischen zu
einem daktylischen Auftakt, das heißt zu einem Dreiertakt, der auch über die
stumpfen Kadenzen (V. 5–6/Z. 7–10H und V. 9–10/Z. 19/21H) hinaus durch zwei
leere Schläge und über die klingenden Kadenzen (V. 7–8/Z. 15–16H) hinaus
durch einen leeren Schlag erhalten bleibt (metrisch ausgedrückt handelt es
sich um einfache und doppelte Katalexen). Mit den Leerschlägen gibt der Text
dem durch die Anstrengung gesteigerten Atmen der Tanzenden Raum. Die
‚Übergängigkeit‘ zwischen Zweier- und Dreiertakt und die in der Transkription
(mittels kleinerer Schrift) ausgedrückte textgenetische Vermutung, dass der
Titel erst nach der Niederschrift des Großteils der Verse dazugekommen ist,
ließen die Hypothese zu, dass das Gedicht nicht von Vornherein als ‚teutscher
Tanz‘ im Sinn des Walzers beabsichtigt gewesen sein muss, sondern erst im
Schreibprozess dazu geworden ist. Die ‚Unfertigkeit‘, unter der das Gedicht
durch die genetische Nachträglichkeit des Titels erschiene, thematisiert auch
das Genre des ‚Liedes‘ mit seiner flüchtigen musikalischen Medialität.
Wie oben angesprochen kann der Übergang vom Zweier- zum Dreier-
takt zudem als historischer Übergang von der höfischen Allemande zum
deutschen Walzer betrachtet werden: Die Allemande setzt sich aus einem
langsamen Schreittanz im Viervierteltakt und einem schnellen Hüpftanz im

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160 Hubert Thüring

Abb. 8.1 Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (Manuskript vermutlich
1776)

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 161

Abb. 8.2 Jakob Michael Reinold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (diplomatische
Transkription des Manuskripts von 1776); s. Anm. 46

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162 Hubert Thüring

Dreivierteltakt mit Ländler-Figuren zusammen. Der anfängliche Wechsel


zwischen geradem und ungeradem Takt würde demnach der Komposition
der höfischen Allemande entsprechen, die dann in den ‚deutschen Tanz‘ mit
beschleunigtem und gleitendem Dreiertakt übergeht. Die Beschleunigung
artikulieren die V. 5–6 (Z. 7–10H) explizit und ermöglichen zugleich eine
grammatikalisch-rhetorische Ambivalenz: „Kürzer die Brust / Athmet die Lust“
kann syntaktisch entweder konventionell aufgeschlüsselt werden, dass die
‚Brust‘ Subjekt und die ‚Lust‘ Objekt des Satzes ist (die Brust atmet die Lust),
wobei der transitive Gebrauch von ‚atmen‘ mit ‚Lust‘ ungewöhnlich ist und
man paranomastisch ‚Luft‘ mithört bzw. -liest. Grammatikalisch möglich ist
aufgrund der buchstäblichen Identität von Nominativ und Akkusativ auch
die Umkehrung: ‚die Lust atmet die Brust‘, was semantisch unkonventionell,
aber spannungsvoll ist. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, ‚Brust‘ und ‚Lust‘
beide als Subjekte zweier paralleler Syntagmen zu lesen, die sich beide auf
‚atmet‘ beziehen, das somit als grammatikalisches und semantisches Zeugma
zu lesen ist: ‚Kürzer [atmet] die Brust / [Kürzer] atmet die Lust‘.
Diese gesteigerte Ambi- oder Polyvalenz kann man durchaus als Steigerung
der Lebendigkeit betrachten. Die Handschrift gibt zu sehen, dass die Lebendig-
keit keiner spontanen Aktion entspringt, sondern dass die Expressivität und
Performativität das Resultat eines Prozesses der Poiesis mit Versuchen und
Scheitern, Überlegen und Ausführen in der Reflexion auf die körperliche und
soziale Praxis und Geschichte des Tanzes und auf den Textprozess selbst ist.
Die Ersetzung von „Freÿer“ durch „Kürzer“ und die Vertauschung von „Lust“ und
„Brust“ bekräftigen über die Arbeit an der Polyvalenz hinaus den Primat der
Körperlichkeit: Es ist die im Tanz und Lied vollzogene Entfesselung des Körpers,
die das Selbst- und Kollektivgefühl der Freiheit erzeugt. Die in die Überwindung
der Bindung investierte Energie (V. 7–8/Z. 13–14H), die in der Bewegung frei-
gesetzt wird und in eine neue, göttliche Seinssphäre führt (V. 9–10/Z. 16–17H),
kann man auch in der handschriftlichen ‚Arbeit‘ erkennen: Erst nach den zahl-
reichen Versuchen der Z. 11–30H wird die ‚Lösung‘ gefunden, die, weil ‚gött-
lich‘, auch als ‚Erlösung‘ verstanden werden kann. Der Vergleich des ‚Freiseins‘
mit dem „Wind“ (V. 9/Z. 19H) ist physisch, betont aber das antigrave Moment
und bildet die Schwelle zum Körper- und Schwerelosen, auf der sich die
Transzendenz und Transfiguration zum Göttlichen vollzieht, die der letzte Vers
(10/Z. 21H) mit dem inversen Nominalsatz quittiert. Der Widerhall zu Werthers
Walzer-Bericht – „Ich war kein Mensch mehr“ – kann hier mitgehört werden.47

47 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther (1774), in: ders., Goethes Werke,
Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen 2, S. 7–124, hier S. 25: „Nie
ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 163

Die Handschrift bietet kein ‚fertiges‘ Gedicht dar, sondern einen Entwurf,
denn sonst müssten die nicht gestrichenen Textteile ebenfalls dazu gezählt
werden: „Freÿer als Wind Ach wir nun sind“ (Z. 22–24H) und „Ach wir Götter
thun was uns gefällt“ (Z. 26–27H). Geht man in textgenetischer Perspektive
davon aus, dass die Z. 15–16H („Alles verschwunden/Was uns gebunden“) und
Z. 19/21H („Freÿ wie der Wind/Götter wir sind“) nach Z. 17ff.H entstanden sind,
muss man annehmen, dass nach dem durchgestrichenen Textteil von Z. 11–14H
eine Leerzeile oder zumindest ein größerer Abstand zu Z. 18H („Was … band“)
entstanden ist. So betrachtet scheinen vor allem der Rhythmus und der Reim
den Schreibprozess zu motivieren, aber auch der Wechsel vom Präsens (Z. 11–
12H: „bindet“/„verschwindet“, Z. 18/20: „bindt“/„verschwindt“) ins Präteritum
(Z. 18H: „band“) und dann ins Perfekt (Z. 15–16H: „verschwunden“, „ge-
bunden“): Rhetorisch ermöglicht der Wechsel ins Perfekt die Ellipsen („Alles
[ist] verschwunden/Was uns gebunden [hat]“), die als Beschleunigungsver-
stärkung interpretiert werden können, ebenso wie die Vorwegnahme des Ver-
schwundenseins vor dem Gebundensein (Hysteron proteron).

Auf der Basis der philologischen, metrischen, rhetorischen und semantischen


Befunde und Indizien ist die bisherige Edition (D) vertretbar, zumal der
Kommentar die ‚Restverse‘ ausweist. Doch gerade diese ‚Reste‘ erhalten das Ge-
dicht in einer Potenzialität, die einerseits mit der relativen kompositorischen
Geschlossenheit und der poetischen Gestaltung kontrastiert, andererseits
aber mit der metrisch, rhetorisch und semantisch erzeugten Lebendigkeit
harmoniert. Geht man nicht von einem normativen Begriff des ‚fertigen‘
oder ‚ganzen Textes‘ aus,48 so wird der verlebendigende und bewegende
energeia-Effekt des Gedichts im Sinn des Wirklichwerdens des Möglichen
(Aktualisierung des Potenziellen) dadurch nicht beeinträchtigt. Im Gegen-
teil macht die (laut Goethe Lenz-typische) textuelle ‚Unfertigkeit‘ deutlich,
inwiefern gerade die nicht ausgeschöpfte, nicht verwirklichte Potenzialität
(dynamis) zur Lebendigkeit beiträgt. Denn auch bei ‚fertigen‘ Texten ist es
gerade die Unabschließbarkeit der Interpretation, die von ihrem ‚Leben‘ zeugt.

Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings
umher verging […].“
48 Vgl. Hubert Thüring, „Philologische Produktivität“, in: Handbuch Archiv. Geschichte, Auf-
gaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart, 2016, S. 258–271,
hier S. 263–269.

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164 Hubert Thüring

Unter dem Aspekt der energeia/enargeia kann man die bereits rhythmisch
und rhetorisch analysierte Lebendigkeit und Lebhaftigkeit exemplarisch etwa
in der initialen Reihe der Affekte „Angst“, „Muth“ und „Leben“ (V. 1–2) be-
obachten: Während die Exklamationen selbst primär Leben und Bewegungen
schaffen im Sinn der energeia, bewirkt ihre Akkumulation eine (in der be-
schränkten Ausdehnung der Lyrik) räumlich nicht ausgeprägte Lebhaftigkeit.
Umgekehrt wirkt das Asyndeton „Zu taumeln zu wirbeln zu schweben“ (V. 3) im
Sinn der Ausführlichkeit ausgesprochen lebhaft, während der energeia-Effekt
zurücktritt, wie auch die folgenden eher deskriptiv als evokativ verfahren, bis
dann die letzten Verse (V. 9–10/Z. 19/21H) mit dem Wind-Vergleich und der
Selbst-Apotheose noch einmal ‚energisch‘ agieren. Die unmittelbare wie ver-
tiefende Wirkung der Lebendigkeit speist sich jedoch aus dem Zusammenspiel
dieser beiden Modi mit dem Rhythmus, der die Körper motiviert, die Sinne
affiziert und eine eigene Semantik generiert. Diese greift die rhetorischen
und kulturellen Codes auf, erweitert sie, bricht sie, schreibt sie um und be-
zieht sich im Sinn der Selbstreferenz zurück auf die Formen und Verfahren des
Textes. Klopstocks Bestreben gemäß (wenn auch nicht bis auf den „Wortfuß“)
korrespondieren auf diese Weise die buchstäblich-lautliche Signifikanz und
Bewegung und Empfindung aufs Engste miteinander, ohne eine mimetisch-
referenzielle Illusion zu beanspruchen.
Das „Lied zum teutschen Tanz“ erweist sich so als eminentes Exempel
der vitalistisch-pragmatisch-performativen Ästhetik, die aus „Über Götz
von Berlichingen“ herausgearbeitet worden ist. Die vitalistischen Impulse
kommen vielfältig zum Zug: thematisch im Tanz, in der Bewegungssemantik,
in der Nennung des Lebens und der elementaren Affekte; rhetorisch-
performativ in der quasimimetischen Vorführung der Sprachgenese vom Reiz
über die Empfindung und das Merkwort bis zum Satz, enggeführt mit der
rhythmischen Generierung der Tanzbewegung. Die pragmatische Dimension
thematisiert den Tanz als Handlung, die von der engeren individuellen, paar-
weisen und kollektiven Empfindungs- und Bewegungspraxis in das soziale
und politische Feld hineinreicht und dort als antimoralische und antihöfische
Intervention wirken kann. Die performative Dimension überschneidet sich
mit der pragmatischen in der Thematisierung der appellierenden Handlung,
betont jedoch die spezifische Performanz des Tanzes, bei der sich im Fall des
Walzers die Grenze zwischen Vorführenden und Zuschauenden tendenziell
auflöst. Ausgesprochen intensiv ist die Performativität im engeren, poetisch-
selbstreferentiellen Sinn, indem Semantik, Rhetorik und Rhythmus dicht ver-
flochten sind und der Text das tut, was er sagt.
„Über Götz von Berlichingen“ und „Das Lied zum teutschen Tanz“
thematisieren und performieren eine Steigerung der Kräfte mit tendenzieller

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 165

Sublimierung und Transzendierung vom Körperlichen zum Seelischen


und zum göttlichen Geist in einem offenen Prozess, in dem das Leben als
Lebendiges immer noch zu verwirklichen bleibt, ohne sich im Werk zu voll-
enden. Man ahnt, dass dieser Vitalismus eine existenzielle Kehrseite hat, die
in Verausgabung und Erschöpfung münden kann. Ästhetisch betrachtet aber
weiß man, dass und warum der Meteor Lenz immer wiederkehrt auf seiner
Bahn, ohne dass dies der Fixstern Goethe zu verhindern vermag.

Literatur

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Der „Reiz des Lebens “ und der „Tanz “ der „Götter “ 167

Lenz, Jakob Michael Reinhold, Gedichte, mit Benutzung des Nachlasses Wendelins von
Maltzahn, hg. von Karl Weinhold, Berlin, 1891.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Anmerkungen übers Theater“ (1774), in: ders., Werke
und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schrif-
ten, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 641–671.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Brief an Johann Daniel Salzmann, Kochberg, 23. Ok-
tober 1776“, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm,
Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 504–505.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Lied zum teutschen Tanz“ (vermutlich 1776/1891), in:
ders., Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./
Leipzig, 1992, S. 191.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Über die Soldatenehen“ (1773–76/1913), in: ders., Werke
und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schrif-
ten, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 787–827.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Über Götz von Berlichingen“ (1773–1775/1901), in: ders.,
Werke und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische
Schriften, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 637–641.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, „Versuch über das erste Principium der Moral“ (1771–
72/1874), in: ders., Werke und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadich-
tungen. Theoretische Schriften, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992,
S. 499–514.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen
(1771–1774/1780), Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780, mit ei-
nem Nachwort und hg. von Christoph Weiß, St. Ingbert, 1994.
Lenz, Jakob Michael Reinhold, Schriften zur Sozialreform. Das Berkaer Projekt, 2 Teile,
hg. von Elystan Griffiths und David Hill, unter Mitwirkung von Heribert Tommek,
Frankfurt a.M u.a., 2007.
Mülder-Bach, Inka, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung
der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München, 1998.
Neumann, Gerhard, „‚Tanzen muß man sie sehen!‘ Der Walzer in Goethes Werther“, in:
Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Interpretieren nach dem Poststrukturalismus,
hg. von Gerhard Neumann, Freiburg i.Br., 2014, S. 479–499.
Schiller, Friedrich, „Der Tanz“ (1795), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte. Dramen
I, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Darmstadt, 1987, S. 237–238.
Schings, Hans-Jürgen (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahr-
hundert, DFG-Symposion 1992, Stuttgart, 1994.
Thüring, Hubert, Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, Mün-
chen, 2012.
Thüring, Hubert, „Sprache als Rhetorik des Lebens. Zu den Anfängen einer fundamen-
talen Differenz von Herder und Kant“, in: Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahr-
hunderts, hg. von Ralf Simon, Heidelberg, 2014, S. 157–173.

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168 Hubert Thüring

Thüring, Hubert, „Philologische Produktivität“, in: Handbuch Archiv. Geschichte,


Aufgaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart, 2016,
S. 258–271.

Abbildungen

Abb. 8.1: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (Manuskript
vermutlich 1776). Manuskript im Nachlass Jakob Michael Reinhold Lenz,
Bd. 2, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.
Abb. 8.2: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (diplomatische
Transkription des Manuskripts von 1776).

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Agnes Hoffmann

Zwischen Fragment und Phantasma:


Statuenerlebnisse um 1800

Um 1800 sind Statuenerlebnisse ein zentrales Thema der ästhetischen


Theoriebildung. In zahlreichen kunstphilosophischen Abhandlungen und
Kunstkritiken der Zeit werden Fragen nach den Gesetzen der Kunst und den
Regeln ihrer Produktion und Wirkung am Beispiel antiker Bildwerke und ihrer
lebendigen Wirkung verhandelt.1 Im philosophischen Diskurs wird in diesem
Zusammenhang ab den 1780er Jahren der Begriff der ,lebendigen Darstellung‘
bedeutsam, wie die grundlegenden Studien von Inka Mülder-Bach, Winfried
Menninghaus oder auch Arno Schubbach im vorliegenden Band überzeugend
gezeigt haben2: Bei Autoren von Kant und Herder bis Heinse und Klopstock
avanciert er zur Leitvorstellung, wenn es gilt, die Erfahrung von Kunstwerken,
deren handwerkliche Produktion oder das ästhetische Urteil im Allgemeinen
begreiflich zu machen. Wie der vorliegende Beitrag zeigen möchte, bleibt das
Interesse an der ,lebendigen Darstellung‘ in der Statuenästhetik um 1800 dabei
nicht auf Begriffsbildungen beschränkt, sondern im selben Zeitraum lässt
sich in der Theoriebildung eine neue Aufmerksamkeit für ,verlebendigende‘

1 Zur Bedeutung antiker Plastik für die ästhetische Theoriebildung um 1800 und insbesondere
für den Begriff der ,lebendigen Darstellung‘ vgl. die unverändert grundlegenden Studien von
Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der
‚Darstellung‘ um 1800, München, 1998; Winfried Menninghaus, „Darstellung. Zur Emergenz
eines neuen Paradigmas bei Friedrich Gottlieb Klopstock“, in: Was heißt Darstellen?, hg.
von Christiaan Haart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994, S. 205–226; Oskar Bätschmann, „Be-
lebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der Kunstrezeption“, in: Pygmalion. Die
Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hg. von Mathias Mayer und Gerhard
Neumann, Freiburg i.Br., 1997 (= Rombach Litterae 45), S. 325–370; Helmut Pfotenhauer, Um
1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Berlin/Boston, 1991 (= Unter-
suchungen zur deutschen Literaturgeschichte 59), darin insbes. die Beiträge zu Heinse,
Herder, Schiller und Kant; sowie Peter Brandes, „Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und
Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800“, in: Leitmedien. Konzepte –
Relevanz – Geschichte, 2 Bde., hg. von Daniel Müller, Annemone Ligensa und Peter Gendolla,
Bielefeld, 2009 (= Medienumbrüche 32), Bd. 2, S. 177–200; Dimitri Liebsch, Die Geburt der
ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen
Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg, 2001.
2 S. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions; Winfried Menninghaus, „Darstellung“; Arno
Schubbach, „Leben und Darstellung in Kants ,Kritik der Urteilskraft‘. Zwischen Ästhetik,
Epistemologie und Ethik“ im vorliegenden Band, S. 191–228.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_010


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170 Agnes Hoffmann

Strategien der Ausstellung und Inszenierung von Statuen beobachten sowie


für die Kunsterlebnisse, die dadurch ermöglicht wurden. Die Frage nach der
,lebendigen Darstellung‘ der antiken Plastik stellt sich für Autoren wie Johann
Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Herder und Karl Philipp Moritz
damit nicht zuletzt als eine der Praktiken ihrer Darstellung durch moderne
Institutionen und Ausstellungskontexte, wie der vorliegende Artikel zeigen
möchte.
Dieses neue Interesse lässt sich unter anderem als ein Effekt der in den
vorangehenden Jahrzehnten entflammten deutschen Statuenbegeisterung
verstehen: Eine Generation nachdem Johann Joachim Winckelmann den
Statuen des vatikanischen Belvedere mit seinen Beschreibungen „Leben und
Bewegung“3 eingehaucht hatte, ist der pygmalionische Impuls seines Werks
um 1800 längst in diskursive Praktiken eingewandert. War Winckelmann noch
darauf angewiesen gewesen, durch berufliche und private Netzwerke Zugang
zu seinen Studienobjekten zu erhalten, sind Statuenbetrachtungen zu diesem
Zeitpunkt zur regelrechten Kulturtechnik geworden, die in ganz Europa von
einem antikenbegeisterten Publikum in öffentlichen Galerien oder Abguss-
sammlungen gepflegt wird; oftmals mit Winckelmanns Schriften in der Hand
oder zumindest auf seinen Spuren.4 Nur in den seltensten Fällen dürfte dies
die Form einer so hingebungsvollen Statuenanbetung angenommen haben,
wie es als Vorfall aus dem Pariser Musée Napoléon überliefert ist, wo 1807 eine
Frau aus der Provence einen Götzendienst mitsamt Blumenschmuck, Weih-
rauch und ekstatischer Entrückung an der Statue des belvederischen Apoll
verrichtet haben soll.5 Doch auch für säkularere Formen der lebensnahen
Statuenbegegnung war um 1800 mehr Gelegenheit gegeben als noch eine

3 Zitiert nach Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 2 Bde.,
Leipzig, 1764, Bd. 2, S. 393; nach der Beschreibung der Statue des sog. belvederischen Apoll
heißt es dort: „[…] mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions
Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben.“
4 Die Bedeutung Winckelmanns als geistigem Cicerone der antiken Kunst für die nach-
folgenden Generationen ist bekannt; zur Ausstellungskultur um 1800 im Allgemeinen und
zur Bedeutung Winckelmanns siehe etwa James H. Sheehan, Geschichte der deutschen Kunst-
museen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München, 2002, S. 15–
128; zu Rom und den römischen Sammlungen vgl. Adelheid Müller, „Reisende der Grand
Tour in den Sammlungen Roms: Winckelmann als Cicerone“, in: ,Außer Rom ist fast nichts
schöner als die Welt‘ – Römische Antikensammlungen um 1800, Ausstellungskatalog, Winckel-
mann-Museum, Wörlitz/Stendal, 1998, S. 155–178.
5 Diese Anekdote findet sich unter den ,Chronicles‘ im britischen ,Annual Register‘ von 1807:
Annual Register, or a VIEW of the History, Politics, and Literature for the Year 1807, London,
1809, S. 431ff. Zum Fetischcharakter der Kunstbetrachtung um 1800 allgemein: Caroline van
Eck, Art, Agency, And The Living Presence. From the Animated Image to the Excessive Object,
Boston, 2015 (= Studien aus dem Warburg-Haus 16).

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Zwischen Fragment und Phantasma 171

Generation zuvor – sei es im Rahmen öffentlicher Ausstellungen mit ihrer


systematischen Choreographie, die sich in vielen Fällen an die von Winckel-
mann eingeführten Unterscheidungen verschiedener Phasen und Stile der
griechischen Kunst anlehnte und die von ihm besonders wertgeschätzten
Werke als Höhepunkte strategisch exponierte,6 oder bei spektakulären In-
szenierungen von Bildwerken zu besonderen Anlässen – wie im bekannten Fall
der nächtlichen Kunstbetrachtungen bei Fackelschein, die sich seit den 1780er
Jahren zwischen Rom, Paris und Weimar großer Beliebtheit erfreuten.7 Auch
im privaten Rahmen bildeten sich neue Formen für ein leibhaft-lebendiges Er-
leben klassischer Bildwerke heraus, z.B. die mimetische Nachstellung einzel-
ner Werke durch lebende Personen; etwa im Fall der verbreiteten Tradition der
tableaux vivants oder der bekannten attitudes der Lady Hamilton in Neapel.8
Noch um die Jahrhundertmitte war die realräumliche Erfahrung von Statuen
mehr oder weniger Einzelpersonen vorbehalten gewesen, denen – aufgrund
von Herkunft, sozialem Stand, Profession oder günstigen Umständen – Zu-
gang zu Sammlungen und Archiven vorbehalten war,9 während ein Großteil
der Öffentlichkeit hierfür auf bildliche und textliche Reproduktionsmedien
angewiesen blieb. Wenige Jahrzehnte später stand nun bereits eine ganze
Reihe von eigens eingerichteten Institutionen, spezifischen Praktiken der

6 Die Sonderstellung einzelner Skulpturen wie insbesondere der Statuen des Belvederehofs
galt zwar schon vor Winckelmann, zeitigte aber erst im Rahmen seiner Texte und nach-
folgend in der Architektur und im Aufbau der Ausstellung ihre praktischen Konsequenzen.
Für die römischen Sammlungen zuletzt ausführlich: Louis A. Ruprecht, Winckelmann and
the Vatican’s First Profane Museum, New York, 2011; zu Paris/Musée Napoléon vgl. Steffi
Roettgen, „Vom ,Aggregat der Zufälligkeiten‘ zum ,organischen Ganzen‘. Kunstgeschichtliche
Entwürfe zwischen Winckelmann und Rumohr“, in: Johann Heinrich Meyer. Kunst und Wissen
im klassischen Weimar, hg. von Alexander Rosenbaum, Johannes Rössler und Harald Tausch,
Göttingen, 2013, S. 119–140. Zum generellen Einfluss vgl. Sheehan, Geschichte der deutschen
Kunstmuseen.
7 Vgl. Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“, S. 355–361 sowie Claudia Mattos, „The
Torchlight Visit. Guiding the Eye Through Late Eighteenth- and Early Nineteenth-Century
Antique Sculpture Galleries“, in: RES Anthropology and Aesthetics 49/50, 2006, S. 139–150.
8 Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf Statuenerlebnisse in öffentlichen Institutionen,
Galerien und Museumssammlungen; zu Praktiken im privaten oder halbprivaten Kreis vgl.
Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“; zu einzelnen Praxisformen: Birgit Jooss,
Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin, 1999; mit
einem Schwerpunkt auf Goethes Werk: Fritz Breithaupt, Jenseits der Bilder. Goethes Politik der
Wahrnehmung, Freiburg i.Br., 2000 (= Rombach Litterae 73).
9 Tatsächlich begannen fürstliche und kirchliche Sammlungen seit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts zunächst in Großbritannien und Frankreich allmählich damit, ihre Räume an
einzelnen Tagen auch für die Allgemeinheit zu öffnen. S. Sheehan, Geschichte der deutschen
Kunstmuseen, S. 40ff.; Ruprecht, Winckelmann and the Vatican’s First Profane Museum,
S. 45–58.

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172 Agnes Hoffmann

Präsentation und Inszenierung zur Verfügung, die das Erlebnis von Bildwerken
um 1800 zu einer regelrechten kulturellen Praxis machten, die nunmehr
größeren Teilen der Bevölkerung zumindest in den größeren europäischen
Städten offenstand.
Dies fand seinen Widerhall auch in der ästhetischen Theoriebildung.
Bei nicht wenigen Autoren zwischen Berliner Aufklärung und Weimarer
Klassik bildete um 1800 der Rekurs auf klassische Statuenkunst – zumeist
vermittelt über Winckelmanns Schriften – einen ebenso „unverzichtbaren
Argumentationsbestandteil“10, wie auch der Einbezug von Ausstellungs-
situationen oder musealen Inszenierungsstrategien wichtiger wurde, wenn
es darum ging, die ,Lebendigkeit‘ von Kunst und Kunsterfahrung am Beispiel
antiker Plastik produktions- und wirkungsästhetisch zu bestimmen. Diesen
Bezug der Theoriebildung auf zeitgenössische Ausstellungspraktiken möchte
der vorliegende Artikel in einschlägigen Texten der genannten Autoren
(Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Herder und Karl Philipp
Moritz) aufzeigen. Im Zentrum der Überlegungen steht vor allem der Erleb-
nischarakter der Statuenrezeption, der in diesem Zusammenhang von be-
sonderem Interesse ist: In den untersuchten Beschreibungen tritt die konkrete
zeitliche und räumliche Situierung der Kunstbetrachtung verstärkt in den
Vordergrund, und das ,Leben‘ der antiken Bildwerke wird in ihren Schriften
so einerseits in der künstlerischen Gestaltung und der Einbildungskraft ihrer
Betrachterinnen oder Betrachter gesucht, aber unübersehbar auch in den
institutionellen Kontexten der Rezeption, d.h. den modernen Ausstellungs-
praktiken selbst, verankert.11

Zum Kontext: Statuen erleben um 1800

Bis Winckelmann 1755 seine Stelle als Archivar und Bibliothekar in Rom antrat,
hatte er die Gegenstände seiner Forschung vornehmlich über Reproduktionen,
d.h. über Abgüsse, Beschreibungen und bildliche Darstellungen studiert. Und

10 Thomas Franke, „Winckelmann-Apologien um 1800“, in: Winckelmann, hg. von Elisabeth


Décultôt und Friedrich Vollhardt, Hamburg, 2015 (= Aufklärung 27), S. 75–102, hier S. 76.
11 Neben der unter Fußnote 1 aufgelisteten Literatur sind für den vorliegenden Artikel ins-
besondere solche Beiträge relevant, die institutionale Praktiken der Ausstellung und
Kunstbetrachtung ins Zentrum stellen. Vgl. Joos, „Lebende Bilder“, Bätschmann, „Be-
lebung durch Bewunderung“; Michael Diers, „(Nach-)Lebende Bilder. Praxisformen
Klassizistischer Kunsttheorie“, in: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mytho-
logie in Literatur und Kunst um 1800, hg. von Dieter Burdorf und Wolfgang Schweickard,
Tübingen, 1998, S. 175–296.

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Zwischen Fragment und Phantasma 173

auch vor Ort waren viele der Kunstgegenstände, denen sein Interesse galt,
zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich oder, wo sie es waren, teilweise in
schlechtem Zustand und unvorteilhaft aufgestellt.12 Tatsächlich hat Winckel-
mann viele der Bildwerke, denen er sein Werk gewidmet hat, wahrschein-
lich niemals bei guter Beleuchtung und von allen Seiten gesehen.13 Erst nach
seinem Tod, aber geprägt durch sein Wirken in Rom, wurde dies ab den 1770er
Jahren endlich möglich: Seit 1773 war die vatikanische Antikensammlung mit
der Eröffnung des Museo Pio Clementino einer breiten Öffentlichkeit zugäng-
lich, wie es bereits seit den 1760er Jahren geplant gewesen war.14 Die Skulpturen
präsentierten sich nun, teilweise umfangreich restauriert, in systematischer
Aufstellung, die Winckelmanns Einteilung von historisch gewachsenen Schul-
bildungen und Stilen folgte. Insbesondere waren die von ihm und anderen als
Hauptstücke der Sammlung bewunderten Werke im Statuenhof des Belvedere
architektonisch in Szene gesetzt, darunter die Laokoon-Gruppe, der ideal-
schöne ,belvederische Apoll‘, der Torso oder die sogenannte ,Venus Felix‘, die
allesamt zuvor in verschlossenen und nur zu ausgewählten Anlässen (oder
gegen Bestechung eines Wärters) geöffneten Nischen ihr Dasein gefristet
hatten.15 Im Rahmen der Choreographie des neuen Museums bildete der
Cortile Ottagone nun den End- und Höhepunkt eines Rundgangs, der seine Be-
sucherinnen und Besucher ausgehend von den christlichen Kunstschätzen zu

12 Winckelmann bekam in Rom im Frühjahr 1756 erstmals Zutritt zu den Vatikanischen


Sammlungen und berichtete in Briefen nach Deutschland enthusiastisch von seinen
Begegnungen mit den Kunstwerken des Statuenhofs; auf Einwirken seines Förderers
Kardinal Alessandro Albani hatte er ab 1761 dauerhaften Zugang zu den Sammlungen,
bevor er 1763 selbst zum Präfekten der Vatikanischen Sammlungen ernannt wurde. Zu
Winckelmanns Tätigkeit in Rom s. die entsprechenden Ausführungen von Steffi Roettgen
im Winckelmann-Handbuch: Steffi Roettgen, „Winckelmann in Italien“, in: Winckelmann-
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Martin Disselkamp und Fausto Testa,
Stuttgart, 2017, S. 18–47, bes. S. 18–21 u. 29–40.
13 Simon Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain. Winckelmann, Lessing, Herder,
Moritz, Goethe, Detroit, 1992, S. 24f.
14 Zur Konzeption der Ausstellung und Winckelmanns Rolle bei der Entstehung des Museo
Pio Clementino vgl. ausführlich Ruprecht, Winckelmann and the Vatican’s First Profane
Museum, bes. S. 27–42. Wie gewichtig seine Rolle als Kustos dieses Museo Profano tat-
sächlich war, dessen Eröffnung er nach seinem gewaltsamen Tod 1769 nicht mehr mit-
erlebte, ist allerdings umstritten. So schätzt Roettgen Winckelmanns Bedeutung für die
konkrete Realisierung des Museo Profano ausgehend von Selbstäußerungen Winckel-
manns in Abgrenzung von Ruprecht eher gering ein; s. ihren Beitrag „Winckelmann in
Italien“, S. 33f.
15 Zur Situation des Statuenhofs vor sowie nach Winckelmanns Zeit siehe ausführlich: Steffi
Roettgen, „Begegnungen mit Apollo. Zur Rezeptionsgeschichte des Apollo vom Belvedere
im 18. Jahrhundert“, in: Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan, hg.
von Matthias Winner, Mainz, 1998, S. 253–274.

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174 Agnes Hoffmann

den Bildwerken der heidnischen Antike leitete. Die Ordnung der Ausstellung
bildete fortan den Maßstab für viele große Antikensammlungen außerhalb
Roms. Ihre enorme Popularität für eine breite Öffentlichkeit ist u.a. durch
die Verbreitung von Reproduktionsgraphiken, Sammlungsführern sowie ihre
Schilderung in Reisebeschreibungen und anderen Texten bezeugt.16
Neben der konventionellen Statuenbetrachtung gehörte zu den beliebten
Spielarten der Rezeption um 1800 in Rom und anderswo auch der nächtliche
Besuch von Sammlungen, bei dem antike Bildwerke durch Fackelschein effekt-
voll in Szene gesetzt wurden. Ursprünglich in der künstlerischen Ausbildung
als Technik eingesetzt, um das Zeichnen im Dunklen unter besonderen Be-
leuchtungsbedingungen zu praktizieren, sowie auch seit der Renaissance ver-
einzelt als ,belebende‘ Lichtregie für die Betrachtung von Gemälden genutzt,17
wurde die Fackelbeleuchtung von Statuen seit den 1780er Jahren bekanntlich
in vielen Institutionen zu einer publikumswirksamen Inszenierungsstrategie,
die von Besucherinnen und Besuchern in zahlreichen Reiseberichten,
journalistischen oder literarischen Publikationen beschrieben wurde. Autoren
wie Goethe, Herder, Moritz und viele mehr schilderten z.B. ihre Erlebnisse vor
Ort in den römischen Sammlungen; andere wie etwa E.T.A. Hoffmann und
Jean Paul verarbeiteten und kommentierten die Praxis in ihrem literarischen
Werk.18 Der Nutzen der effektvollen Beleuchtung wurde dabei von den
jeweiligen Personen ganz unterschiedlich bewertet. In seinem Artikel Die

16 Ein verbreiteter zeitgenössischer Sammlungsführer war etwa der zweisprachige Band von
Paschal Massi de Cesène, Indicazione antiquaria del Pontificio Museo Pio-Clementino in
Vaticane. Catalogue indicatif des antiquités composant le Musèe Pie-Clèmentin au Vatican,
Rom, 1792; zu deutschen Reisebeschreibungen vgl. Heinrich August Ottokar Reichard,
Handbuch für Reisende aus allen Ständen: Nebst zwey Postkarten, zur großen Reise durch
Europa, von Frankreich nach England; und einer Karte der Schweiz und der Gletscher von
Faucigny, Leipzig, 1784, S. 304–305. Johann Heinrich Merck veröffentlichte im Teutschen
Merkur 1776 (3:2) ein fiktives Kunstgespräch zwischen Burke und Hogarth im Cortile del
Belvedere im Angesicht des Vatikanischen Apoll (ebd., S. 131–141).
17 Vgl. zur Geschichte der Praxis: Mattos, „The Torchlight Visit“, S. 145ff.
18 Ebd., S. 139; Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“, S. 355–361. Auch in Paris, wohin
die Statuen des Belvedere von 1797 bis 1815 nach dem Friedensschluss von Tolentino als
Kriegsbeute transportiert wurden, scheint es zu besonderen Anlässen Fackelbeleuchtung
gegeben zu haben (die Staats und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen
Correspondenten, Nr. 119 vom 27. Juli 1804 beschreibt Fackelbeleuchtung anlässlich eines
Besuchs von Napoleon), jedoch wurden sie offensichtlich nicht so regelmäßig angeboten
wie in Rom (vgl. Joseph Reichhardts Vertraute Briefe aus Paris geschrieben in den Jahren
1802 und 1803, [Hamburg, 1805], wo nicht nur von einer teilweise ungünstigen, weil zu
engen Aufstellung der Belvedere-Statuen an ihrem neuen Standort im Musée Napoléon
berichtet wird, sondern auch von ihrer ungenügenden Beleuchtung, die nur durch Tages-
licht erfolgte und künstliches Fackellicht wünschenswert machte; ebd., S. 132ff.).

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Zwischen Fragment und Phantasma 175

Dresdner Antiken-Gallerie mit Fackelbeleuchtung gesehen, den 25. August 1798


schwärmt Carl August Böttiger, der Verwalter der dortigen Antikensammlung,
z.B. von der sinnlichen Wirkung der Fackelbeleuchtung, die mit dem starken
Sinneseindruck zugleich Erkenntnis fördere:

Wir besahen die Antikengallerie bei Fackelschein. Ein Kreis von Kunstfreunden
hatte sich schon einige Tage darauf gefreuet und zubereitet. Man kann eine
solche Beleuchtung mit der Berührung einer Prometheus-Fackel vergleichen.
Sie ist belebend und – trennend. Wie lebendig quillt alles Ächte hervor! Wie
häßlich und plump erscheint alles ungeflickte Machwerk!19

Die Beleuchtung wird hier als Instrument einer prometheischen Schöpfung


beschrieben, das den antiken Bildwerken buchstäblich Leben verleiht – so
jedenfalls erscheint es den erwartungsvollen ,Kunstfreunden‘, die sich extra
für dieses Erlebnis eingefunden haben. Die verlebendigende Wirkung des
Fackellichts, dessen visuelle Effekte die steinernen Skulpturen zu animieren
scheinen, wird in vielen Berichten über solche nächtlichen Galeriebesuche be-
schrieben. Mit der Praxis der Fackelbeleuchtung wurde dabei, folgt man den
Darstellungen, nicht nur ein interessanter ästhetischer Effekt erzielt, sondern
mit diesem auch ein neuer Wahrnehmungshorizont erschlossen. Denn alte
Kunst und moderne Betrachtung wurden in einem sinnlich-atmosphärischen
Kontinuum mühelos aufeinander bezogen, wie Horst Bredekamp herausstellt:

Die Licht- und Schattenwirkung des Flackerns der Leuchten verlieh den antiken
Bildwerken den Schein von Bewegung und verwandelte die Entrücktheit der
Skulpturen in aktive Nähe, so daß ein diffuses Kontinuum von Skulptur und Be-
trachter, Antike und Gegenwart entstand.20

Andere Kommentare betonten dagegen den technischen Charakter und den


vorwiegend kunsthistorischen Nutzen der Beleuchtung. Goethes Freund
Heinrich Meyer, dessen ursprünglich für eine Ausgabe der Propyläen geplanter
Artikel Über das Betrachten der Statuen bei der Fackel im zweiten Teil von
Goethes Italienischer Reise in längeren Passagen zitiert wird, hielt beispiels-
weise nüchtern die Vor- und Nachteile dieser Lichtregie fest und beschrieb sie

19 Carl August Böttinger, „Die Dresdner Antiken-Gallerie mit Fackelbeleuchtung gesehen,


den 25. August 1798“, in: Prometheus, eine Zeitschrift, hg. von Leo v. Seckendorff und
Joseph Ludwig Stoll, Bd. 1, Wien, 1808, S. 3–9, hier S. 3; zitiert nach Diers, „(Nach-)Lebende
Bilder“, S. 183.
20 Horst Bredekamp, „Antikensehnsucht und Maschinenglauben“, in: Forschungen zur Villa
Albani. Antike Kunst und die Epoche der Aufklärung, hg. von Herbert Beck und Peter C. Bol,
Berlin, 1982, S. 507–559, hier S. 509.

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176 Agnes Hoffmann

als ein gutes Hilfsmittel für die angemessene Beleuchtung antiker Bildwerke in
den Museumssälen, vor allem an solchen Stellen, wo normalerweise nicht ge-
nügend Tageslicht einfiel. Das Fackellicht ermögliche eine genaue Betrachtung
sämtlicher Details der antiken Plastik, dabei löse es die einzelnen Werke aus
dem Kontext der umgebenden Sammlung, bzw. fördere – so Meyers Argument
– die Konzentration der Besucherinnen und Besucher auf das Einzelwerk und
seine gestalterischen Merkmale:

Jedes Stück wird nur einzeln, abgeschlossen von allen übrigen, betrachtet und
die Aufmerksamkeit des Beschauers bleibt lediglich auf dasselbe gerichtet;
dann erscheinen in dem gewaltigen wirksamen Fackellicht alle zarten Nuancen
der Arbeit weit deutlicher, alle störenden Widerscheine (zumal bei glänzend
polierten Statuen beschwerlich) hören auf, die Schatten werden entschiedener,
die beleuchteten Teile treten heller hervor. […] So konnte man zum Beispiel den
Laokoon, in der Nische, wo er stand, nur bei Fackellicht recht sehen, weil kein
unmittelbares Licht auf ihn fiel.21

Meyers Beschreibung betont den durch die Beleuchtung entstehenden Mehr-


wert, wobei er nicht auf Stimmungsqualitäten o.ä. eingeht wie Böttiger in seinem
Bericht, und sich der Schwärmerei und des Enthusiasmus enthält. Auch stellt er
fest, dass die Fackelbeleuchtung bei einzelnen Werken auch Nachteile habe bzw.
eine künstliche Betrachtungssituation schaffe, da die Zeugnisse älterer Kunst-
perioden teilweise nicht auf die Wirkung von Licht und Schatten hin konzipiert
worden seien. Am Ende bleibt Fackelbeleuchtung für Meyer, wie Michael Diers
bemerkt, so „in erster Linie ein kennerschaftlich-kunsthistorisches Erkenntnis- ,
kein Erlebniswerkzeug“22 – was ihn nicht davon abhält, den ästhetischen
Genuss der in der Sammlung befindlichen Werke „aus allerbesten Zeiten“ z.B.
bei der Betrachtung des Torso vom Belvedere („das Wunder der Kunst, der nie
genug zu preisende Torso“23) zu betonen.
Für Goethe bedeuteten Meyers Erläuterungen eine sinnvolle Ergänzung zu
seiner eigenen, weniger auf konkrete Details gerichteten Erinnerung an den
nächtlichen Gang durch die vatikanischen Sammlungen – so jedenfalls stellt
er es in seiner Einleitung zu den entsprechenden Passagen in der Italienischen
Reise dar:

21 Heinrich Meyer, zit. nach: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, Teil I, in: ders.,
Sämtliche Werke in 40 Bänden, Abt. I, Bd. 15.1, hg. von Christoph Michel und Hans-Georg
Dewitz u.a., Frankfurt a.M., 1993, S. 470f.
22 Diers, „(Nach-)Lebende Bilder“, S. 182.
23 Meyer nach Goethe, Italienische Reise, S. 471.

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Zwischen Fragment und Phantasma 177

Als wir nun einen von allen Fremden, Künstlern, Kennern und Laien gleich ge-
wünschten Besuch bei Fackelschein dem Museum sowohl des Vatikans als auch
des Kapitols abzustatten Anstalt machten, so gesellte er [Heinrich Meyer, Anm.
d. A.] sich uns zu; und ich finde unter meinen Papieren einen seiner Aufsätze,
wodurch ein solcher genußreicher Umgang durch die herrlichsten Reste der
Kunst, welcher meistenteils wie ein entzückender, nach und nach verlöschender
Traum vor der Seele schwebt, auch in seinen vorteilhaften Einwirkungen auf
Kenntnis und Einsicht eine bleibende Bedeutung erhält.24

Seine Eindrücke vom Gang durch die fackelbeleuchteten „herrlichsten Reste


der Kunst“ sind ihm nur wie ein „nach und nach verlöschender Traum“ er-
halten, doch wird seinen Impressionen durch den Artikel des Freundes
„bleibende Bedeutung“ verliehen, gar „Kenntnis und Einsicht“ ermöglicht. Die
Fackelbeleuchtung fördert für ihn also einerseits den sinnlichen Genuss der
Bildwerke und bildet zugleich den Ausgangspunkt jener vertiefenden Detail-
beobachtungen und Erkenntnisse, die Meyer in seinem Bericht festgehalten
hatte. Vergleichbar hatte auch Böttiger die Fackelbeleuchtung einerseits als
Steigerung der sinnlich-atmosphärischen Qualitäten der Betrachtungssituation
und andererseits als Bedingung für eine trennscharfe Analyse des Gesehenen
(die Scheidung des ,Ächten‘ vom ,ungeflickten Machwerk‘) beschrieben. Er-
zeugte die Fackelbeleuchtung einerseits einen Wahrnehmungsraum, in dem
die antike Kunst ihren modernen Betrachtern als lebendiges Erlebnis erschien,
wie Bredekamp es beschreibt, so beinhaltet die Beschreibung zumindest bei
den drei hier zitierten Autoren zugleich die Registrierung dessen, was diesem
Anschein widerstrebt, aus dem Eindruck der Lebendigkeit herausfällt oder die
eigene Sinnestäuschung sichtbar macht. Der perfekte Schein der belebenden
Beleuchtung lenkt den Blick auf das ,ungeflickte Machwerk‘ (Böttiger)
mancher Teile, die Beleuchtung macht ,Nuancen‘ und bei gewöhnlichem Licht
schlecht erkennbare Details überhaupt erst sichtbar, ebenso wie sie zeigt, dass
manch ein Kunstwerk nicht auf die Wirkung von Licht und Schatten hin ge-
arbeitet war (Meyer); die zauberische Atmosphäre erscheint letztlich wie ein
flüchtiger Traum, ein bloßer Schein für die Sinne, der ,nach und nach verlöscht‘
(Goethe) und den modernen Betrachter am Ende wieder in seinem schnöden
Jetzt zurücklässt. Der Anschein des Lebendigen und der unmittelbaren Präsenz
der Statuen, den die zitierten Betrachter in den Ausstellungen erleben, ist in
diesem Sinne gekoppelt an die Wahrnehmung seiner Scheinhaftigkeit, mit
der zugleich auch das Unvollkommene, Fragmentarische und Unwirkliche
an den betrachteten antiken Skulpturen mit in den Blick tritt. Dies ist, wie
gleich noch näher ausgeführt wird, ein Topos moderner Antikenrezeption seit

24 Goethe, Italienische Reise, S. 470.

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Winckelmann: In seinen Schriften bildet das Wechselspiel von analytischer


Genauigkeit und phantasmagorischer Einbildungskraft eine Grundspannung,
die für ihn die moderne Wahrnehmung antiker Kunst generell auszeichnet
und nur mit erheblichem rhetorischem und konzeptuellem Aufwand be-
wältigt werden kann. Eine vergleichbare Aufladung der Statuenerlebnisse,
die zugleich von der Materialität der Bildwerke wie auch der Einbildungskraft
ihrer Betrachter her verstanden werden, rückt in den Beschreibungen der
nachfolgenden Generation sehr viel offener und weniger ambivalent in den
Blick, nämlich als ein Effekt von modernen Ausstellungssituationen und In-
szenierungsstrategien, welche das Kunsterlebnis praktisch formen.

Vorgeschichte: Fragmente und Gespenster

Während Winckelmann selbst bei seinen Beschreibungen antiker Bildwerke


einerseits eine quasi-wissenschaftliche Klassifikation anstrebte und hierfür
eine genaue Beschreibung des Zustands und der materiellen Beschaffenheit
seiner Gegenstände ins Zentrum stellte, steht in seinem Werk grundsätz-
lich die Erlebnisqualität der Kunstrezeption und die starke Beteiligung der
individuellen Einbildungskraft außer Frage. Exemplarisch macht dies etwa die
folgende, oft zitierte Passage aus der Beschreibung des belvederischen Apoll
aus den sogenannten Pariser Nachlassheften anschaulich, die der Autor im
Rahmen seiner ersten Besuche im Statuenhof des Belvedere verfasste:

Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie die-
jenige, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle
mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne, Orte, welche Apollo
mit seiner Gegenwart beehrete: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu
bekommen wie des Pygmalions Schönheit.25

Die erhabene Wirkung der Statue wird hier als enthusiastische Entrückung
ihres modernen Betrachters geschildert; die tatsächliche Gestalt des Kunst-
werks selbst ist an dieser Stelle fast nebensächlich geworden, bis hin zu einer
phantasmagorischen Übertragung von Objektqualitäten auf das Subjekt der
Beobachtung – im Prozess der Betrachtung ist dem Betrachtenden zumute, als
würde der mythologische Kontext des Halbgotts Apoll und die Physiognomie
der Statue regelrecht auf ihn übergehen. Der Text selbst benennt das Statuen-
erlebnis als einen pygmalionischen Akt der Verlebendigung und unterscheidet
dabei aus guten Gründen nicht, ob ‚Leben und Bewegung‘ des ‚Bildes‘ hier

25 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 393.

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Zwischen Fragment und Phantasma 179

das lebendige Aussehen der marmornen Figur, das überzeitliche Leben des
Mythos, der durch die Beschreibung in ein (Sprach-)Bild gesetzt wird, oder
am Ende das (Selbst-)Bild des modernen Betrachters meinen, der durch den
eigenen Enthusiasmus wundersam vitalisiert wird.26 Deutlich wird in dieser
Überblendung von Kunstbeschreibung und der metaphernreichen Nach-
erzählung affektiver und assoziativer Resonanzen auf der Rezipientenseite,
dass in einer derart angelegten Beschreibungsrhetorik mehr auf dem Spiel
steht als das bloße Vor-Augen-Stellen von Form- und Gestaltqualitäten eines
künstlerischen Bildwerks. Vielmehr wird hier ein antikes Bildwerk in gleich
mehrfacher Hinsicht in der Gegenwart verankert: Es wird in der Beschreibung
insgesamt als historisches und künstlerisches Objekt beschrieben und klassi-
fiziert, zusätzlich wird ein mythologischer Rahmen eingeblendet, der die
inhaltliche und ikonologische Deutung der Figur leitet, und zugleich wird
das Kunstwerk mitsamt seiner gestalterischen und semantischen Aspekte als
individuelles Wahrnehmungserlebnis vergegenwärtigt.27
Dieser subjektiven Dimension wird in Winckelmanns Hauptwerk, der
Geschichte der Kunst des Alterthums, eine klare Funktion zugewiesen. Grund-
sätzlich ist hier das detaillierte und informierte Studium der antiken Bild-
werke und ihre Beschreibung eingebettet in eine Geschichte von Verfall und
Niedergang – die überlieferten Kunstschätze mögen als Einzelwerke ihre
modernen Betrachter ,entrücken‘, zugleich aber steht ihr Erlebnis stets vor dem
Hintergrund des Verlustes ihres einstigen kulturellen Kontextes: Den „schlecht
abgefundene[n] Erben“28 der Moderne sind nichts als die Überreste eines sehr
viel reicheren Kunst- und Kulturlebens geblieben, von dem, wie es am Ende der
Geschichte der Kunst heißt, allenfalls ein „Schattenriß“29 auf den Horizont der

26 Zum Pygmalion-Mythos bei Winckelmann vgl. insbes. Mülder-Bach, Im Zeichen


Pygmalions, S. 20–48; Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“; Liebsch, Die Geburt
der ästhetischen Bildung, S. 57–76.
27 Zum (Spannungs-)Verhältnis von normativer Ästhetik und Kunstgeschichtsschreibung
bei Winckelmann zuletzt: Elisabeth Décultôt, „Zwischen Norm und Geschichte: Winckel-
manns Kunsthistoriographie und der Begriff des Klassischen“, in: Publications of the
English Goethe Society 87/1, 2018, S. 15–23. Allgemein zu den Funktionen der Statuen-
beschreibung und spezifischen Formen der Ekphrasis bei Winckelmann vgl. z.B.
Gabriella Catalano, „Winckelmanns Kunstbeschreibungen und die Traditionen der Be-
schreibungsliteratur“, in: Winckelmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von
Martin Disselkamp und Fausto Testa, Stuttgart, 2017, S. 140–145; Helmut Pfotenhauer,
„Winckelmann und Heinse. Die Typen der Beschreibungskunst im 18. Jahrhundert“, in:
Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg.
von Gottfried Boehm, München, 1995, S. 313–340.
28 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 431.
29 Ebd., S. 430.

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eigenen Zeit fällt. Bei aller kunsthistorischen und archäologischen Genauig-


keit des Studiums bleibt die moderne Wahrnehmung der antiken Kunst bei
Winckelmann daher grundsätzlich ein Projekt mit einem phantasmagorischen
Kern – die Vertrautheit mit den fragmentarischen Überresten der Antike führt
nach seiner Darstellung zu einer erhöhten Bereitschaft, die historische Kluft
mit Projektionen zu füllen. In diesem Sinn bestimmt er die eigene Perspektive
auf die vergangene historische Epoche – in einem unterwürfigen Gestus der
Zurücknahme der zuvor auf mehreren hundert Seiten entfalteten Befunde –
als sentimentales Wunschbild, das sich auf die Antike richtet, „wie eine Ge-
liebte am Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung
ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolgt, und in dem entfernten
Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt.“30 Eine Chimäre, vor deren
Täuschungspotenzialen Winckelmann warnt: Nur allzu verlockend sei es, das
imaginierte ,Bild‘ der geliebten Antike an die Stelle von fachkundigem Urteil
und tatsächlicher Kenntnis treten zu lassen – „Der Name des Alterthums ist
zum Vorurteil geworden“, bemerkt er dazu und mahnt, bei allem Enthusiasmus
die Macht von Einbildungskraft und Projektionsgabe nicht zu unterschätzen,
denn „[e]s geht uns hiermal, wie Leuten, die Gespenster kennen wollen, und
zu sehen glauben, wo nichts ist.“ Antikenbegeisterung als Gespensterglaube:
Rhetorisch baut Winckelmann am Ende seines Hauptwerks einen Popanz der
Projektionen, Imaginationen und sentimentalen Verzerrungen der modernen
Wahrnehmung der Antike auf, um sein Argument letztlich in einem Appell an
die ausgewogene Urteilsbildung und wissenschaftliche Genauigkeit münden
zu lassen. Denn gerade solche Wunschvorstellungen von der Antike seien in
der Moderne „nicht ohne Nutzen“, insofern sie das Begehren nach Erfahrung
und Wissen steigern. Eine entscheidende Umwertung – die Vorstellungen,
die aus dem „Schattenriß“ der Antike resultieren, werden zwar einerseits als
sentimental und phantasmagorisch bestimmt, bilden für ihn am Ende aber als
solche die entscheidende Motivation für ein überlegtes und genaues Studium:

Man stelle sich allzeit vor, viel zu finden, damit man viel suche, um Etwas zu
erblicken. […] [W]ir kehren jeden Stein um, und durch Schlüsse von vielen
Einzelnen, gelangen wir wenigstens zu einer muthmaßlichen Versicherung, die
lehrreicher werden kann, als die von den Alten hinterlassenen Nachrichten, die
[…] bloß historisch sind.31

Die Einbildungskraft, die einen Überfluss an Vorstellung produziert (indem


sie „viel“ vorstellt), erzeugt zugleich die Begierde, „viel“ zu suchen, um am

30 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 430.


31 Ebd., S. 431.

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Zwischen Fragment und Phantasma 181

Ende „durch Schlüsse von vielen Einzelnen“ immerhin „Etwas“ zu sehen.


Eine begehrensgesteuerte Suche nach Befunden über die Antike, welche der
Projektionen und Imaginationen als ihrer Antriebskraft wesentlich bedarf. Hier
schließt sich der Zirkel zu den Statuenbeschreibungen, die in der Geschichte
der Kunst einen so großen Stellenwert besitzen. Die von Winckelmann be-
schriebenen Kunsterlebnisse, in denen Objektqualitäten und subjektive
Einbildungskraft in ein Wechselverhältnis treten, bilden demnach eine not-
wendige Ergänzung zum rational vorgehenden und auf historische Genauig-
keit und akribische Gelehrsamkeit setzenden Quellenstudium, das er von
einer modernen Altertumswissenschaft grundsätzlich fordert. Die affektiven
Reaktionen, mäandernden Assoziationen oder fantastischen Verkehrungen
von Subjekt-Objekt-Verhältnissen – wie sie an der Beschreibung des Apoll bei-
spielhaft zu beobachten sind – gehören strukturell zu jener bei Winckelmann
von der Einbildungskraft erzeugten imaginativen Fülle, die dem Wunsch nach
Wissen über die Antike letztlich seine Legitimität und seine Orientierung ver-
leiht. Besonders deutlich wird dies neben der Rhetorik der Apoll-Beschreibung
z.B. auch an seiner Ekphrasis des Torso vom Belvedere, der bei ihm trotz seines
rudimentären Zustands als Inbegriff der antiken Kunst und Kultur erscheint,
und der daher als eine „Geburt der Kunstgeschichte aus dem Geiste des Frag-
ments“ beschrieben wurde.32
So besehen, lassen sich die nächtlichen Rundgänge bei Fackelschein um
1800 als eine Fortführung des bei Winckelmann aufscheinenden Ansatzes be-
schreiben. Innerhalb eines institutionellen Rahmens und befördert durch die
besondere Inszenierungsweise gehören die individuelle Wirkung der Kunst-
werke und die kritische Anamnese ihres Zustands oder gestalterischer Details
auch bei den späteren Autoren zum Gesamteindruck eines Kunsterlebnisses.

32 So argumentiert auch Helmut Pfotenhauer in: ders., „Zerstückelung und phantasma-
tische Ganzheit. Grundmuster ästhetischer Argumentation in Klassizismus und Anti-
klassizismus um 1800 (Winckelmann, Moritz, Goethe, Jean Paul)“, in: Der fragile
Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, hg. von Elena Agazzi und
Eva Koczisky, Göttingen, 2005, S. 121–132, hier S. 122. Vergleiche ebenfalls das Argu-
ment Jacques Rancières, für den Winckelmanns Torso-Beschreibung, insofern sie ein
dekontextualisiertes und nur als Fragment erhaltenes Kunstwerk zum absoluten In-
begriff des Schönen erhebt, eine untilgbare Differenz von Werk und dem Kontext seiner
Hervorbringung in den modernen Begriff der Kunst einträgt: Der Torso, so Rancière, kann
nur deswegen als Verkörperung des Schönen begriffen werden, weil sein Kunstcharakter
bereits von seinem antiken Entstehungs- und Verwendungszusammenhang abstrahiert
wurde. Für Rancière stellt Winckelmanns Torso-Beschreibung damit eine Ur-Szene des
modernen Kunstverständnisses dar, dessen weitere Geschichte er am Beispiel Schillers
und Hegels verfolgt. Siehe ders., „Die gespaltene Schönheit“, in: ders., Aisthesis. Vierzehn
Szenen, Wien, 2013, S. 23–46.

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182 Agnes Hoffmann

Die spezifische Form des ästhetischen Erlebnisses selbst ist dabei anders als
noch bei Winckelmann nicht länger erklärungsbedürftig bzw. bedarf keiner
Einordnung in den Überbau eines geschichtsphilosophischen Modells
mehr. Dass es sich hierbei genau genommen um die Ablösung eines älteren
durch neuere theoretische Modelle der Kunst- oder konkreter: der Statuen-
erfahrung handelte, die maßgeblich durch den oben beschriebenen Prozess
der Institutionalisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt
wurden, soll nun in einem letzten Schritt am Beispiel von Herders und Moritz’
Statuenerlebnissen bzw. ihrer Kritik an Winckelmanns rhetorischer Über-
formung des nachantiken, d.h. modernen Betrachtungskontextes veranschau-
licht werden.

Verortungen: Herder und Moritz vor dem belvederischen Apoll

Vom immensen Einfluss Winckelmanns auf den Kunstgeschmack und auch die
Ausstellungskultur der Folgezeit war bereits die Rede. Insbesondere die Topik
seiner Beschreibungen prägte eine ganze Generation von Autoren, deren Über-
legungen zur Kunst im Allgemeinen und zur Statuenrezeption im Besonderen
ausgehend von den eindrücklichen Textzeugnissen eigene Argumentationen
entwickeln.33 Den Modellcharakter seines Werks kann die Folgegeneration
nicht oft genug hervorheben. So befindet beispielsweise Herder, in dessen
Werk der ältere Autor seit den 1760er Jahren einen kontinuierlichen Bezugs-
punkt bildet, 1769 in seinem Ersten Kritischen Wäldchen: „Winckelmanns
Stil ist wie ein Kunstwerk der Alten. Gebildet in allen Teilen, tritt jeder Ge-
danke hervor, und stehet da, edel, einfältig, erhaben, vollendet: er ist.“34 Die
Initiation der deutschen Statuenästhetik wird hier metaphorisch selbst zum
bildhaften Kunstwerk erklärt, eine dauerhafte Präsenz im kulturellen Bewusst-
sein. Auch in Goethes 1805 veröffentlichter Monographie Winkelmann und sein
Jahrhundert ist die bleibende Bedeutung des Werks für die Folgegeneration
zentral; so sei „alles, was [Winckelmann] uns hinterlassen, als Lebendiges

33 Zum Rückgriff auf Winckelmanns Texte als Argument im Rahmen der eigenen Theorie-
bildung bei Autoren um 1800 vgl. Thomas Franke, „Winckelmann-Apologien um 1800“; zur
Winckelmann-Kritik als Figur der Abgrenzung vgl. im selben Band Helmut Pfotenhauer,
„Winckelmann-Kritik als Ursprung einer Autonomie-Ästhetik – Karl Philipp Moritz“,
in: Winckelmann, hg. von Elisabeth Décultôt und Friedrich Vollhardt, Hamburg, 2015,
S. 55–74.
34 Johann Gottfried Herder, „Erstes Kritisches Wäldchen zur Ästhetik“, in: ders., Sämmtliche
Werke, Bd. 3, hg. von Bernhard Suphan, Berlin, 1878, S. 1–188, hier S. 1.

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Zwischen Fragment und Phantasma 183

für die Lebendigen […] geschrieben.“35 In seinen Schriften zeige sich gar „ein
Leben selbst“ – Dauer und Lebendigkeit; zwei Pole die auch die von Winckel-
mann angestoßene Diskussion um die antike Plastik bestimmt hatten.
Angesichts der enormen Popularität Winckelmanns verwundert es nicht,
dass sein Werk nicht selten für kunstphilosophische Neuerungen der Nach-
folgegeneration zum Ansatzpunkt wurde, um neue Denkweisen durch
argumentative Abgrenzung von seinen Schriften in den Diskurs einzuführen.
Dies gilt z.B. für Herders Entwurf einer anthropologischen Ästhetik, die er
in verschiedenen Schriften entwickelte und vornehmlich in seinem Vierten
Kritischen Wäldchen (1768) sowie Plastik – Einige Wahrnehmung über Form und
Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778) systematisch ausformulierte.
Dass sich Herder während der Ausarbeitung seiner Ideen intensiv mit Winckel-
mann beschäftigte, ist bekannt; neben Referenzen in seinen Schriften und in
Briefen, in denen er u.a. auch von eigenen Besuchen im römischen Belvedere
berichtet, fertigte er auch längere Exzerpte zu einigen Texten Winckelmanns
an.36 In zentralen Passagen seiner Schriften lässt sich bis in die Wortwahl und
einzelne Denkfiguren hinein der Einfluss Winckelmanns erkennen; an einer
Kernstelle des Vierten Kritischen Wäldchens bezieht er sich beispielsweise auf
die oben zitierte Beschreibung des belvederischen Apoll, um – unter Bezug auf
die räumliche Situierung der Statue im modernen Sammlungskontext – diese
im Sinne seiner eigenen ästhetischen Programmatik umzudeuten. Winckel-
manns Beschreibung wird ihm dabei zu einer unvollständigen Wiedergabe des
Wahrnehmungsprozesses: Aus dem sprachlichen Nachvollzug des Konturs der
Statue, der über den gesamten Text der Originalbeschreibung hinweg durch
eine Reihe von Metaphern des Fließens und der wellenförmigen Bewegung
evoziert wird (etwa wenn die Gestalt als Resultat eines ,ausgegossenen‘
schöpferischen Geistes umschrieben wird – „ein Himmlischer Geist, der sich
wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser
Figur erfüllt“37),38 ist bei Herder die Erzählung eines sinnesphysiologischen

35 Johann Wolfgang von Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen,
Tübingen, 1805, S. 423.
36 Vor allem zu den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
und Bildhauerkunst“ (1756) und der „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung
des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte derselben“ (1763). Die entsprechenden
Notizen Herders finden sich unter den posthum als „Entwürfe und Vorarbeiten zur
,Plastik‘“ zusammengestellten losen Blättern. Siehe Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 8, hg.
von Bernhard Suphan, Berlin, 1892, S. 88–114.
37 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 392.
38 Zum Kontur bei Winckelmann vgl. ausführlich: Charlotte Kurbjuhn, Kontur. Geschichte
einer ästhetischen Denkfigur, Berlin/Boston, 2014 (= Quellen und Forschungen zur
Literatur- und Kulturgeschichte 81), S. 195–251.

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184 Agnes Hoffmann

Prozesses geworden. Er zieht Winckelmanns Beschreibung als paradigmatische


Nacherzählung einer Statuenbetrachtung heran, um nach ihrer konkreten
körperlichen und räumlichen Verankerung zu fragen. Die Beschreibung des
Apoll lässt sich, so Herder, als ,Operation des Auges‘ lesen, das selbst – gemäß
seiner Aufwertung des Tastsinns als dem ästhetischen Sinn schlechthin – be-
müht ist, „sich an die Stelle des Gefühls zu setzen; zu sehen, als ob man tastete
und griffe“39. Der ideale Betrachter aus Winckelmanns Statuenbeschreibung
wird bei ihm so zu einem räumlich und körperlich vor dem Bildwerk verorteten
Kunstkenner, der durch ,tastende‘ Betrachtung versucht, die Abstraktions-
leistung des Sehsinns auszugleichen:

Bemerket jenen stillen, tiefsinnigen Betrachter am Vatikanischen Apoll: er


scheint auf einem ewigen Punkte zu stehen, und nichts ist weniger; er nimmt
sich eben so viel Gesichtspunkte, als er kann, und verändert jeden in jedem
Augenblick, um sich gleichsam durchaus keine scharfe, bestimmte Fläche zu
geben. Zu diesem Zweck gleitet er nur in der Umfläche des Körpers sanft umhin,
verändert seine Stellung, geht und kommt wieder; er folgt der in sich selbst
umherlaufenden Linie, die einen Körper und die hier mit ihren sanften Abfällen
das Schöne des Körpers bildet. Er gibt sich alle Mühe, jeden Absatz, jeden Bruch,
jedes Flächenartige zu zerstören und soviel als möglich das vielwinkelichte
körperliche Polygon, das ihm sein Auge so zerstückte, in die schöne Ellipse
wiederherzustellen, die als solche nur für sein Gefühl gleichsam hervorgeblasen
war.40

Herders Relektüre Winckelmanns, die er im Rahmen seiner eigenen Modell-


bildung unternimmt, zeigt jene Verschiebung der Koordinaten, auf die weiter
oben verwiesen wurde – wie bereits Winckelmann legt auch Herder sein Augen-
merk auf einen phantasmagorischen Kern des Statuenerlebnisses, wenn er die
substitutive Leistung der beteiligten Sinnesvermögen analysiert: Der Sehsinn
zergliedert demnach einerseits die Statue und ist zugleich bemüht, das Objekt
in seiner Körperlichkeit phantasmatisch zu rekonstruieren, als ob er es ertaste.
Die Spannung von (gegebenen) Fragmenten und (imaginierter) Ganzheit,
die bei Winckelmann ein Hauptmotiv bildete, wird hier genau genommen
nicht mehr als Resultat eines Wechselverhältnisses zwischen betrachtendem
Subjekt und Kunstobjekt verhandelt, sondern erscheint in Herders Be-
schreibungen letztlich internalisiert, als produktive Leitdifferenz der sinn-
lichen Vermögen. Die Wahrnehmung als solche, bei Herder die allgemeine

39 Johann Gottfried Herder, „Viertes Kritisches Wäldchen“, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 4,
hg. von Bernhard Suphan, Berlin, 1878, S. 3–197, hier S. 65.
40 Ebd., S. 65f.

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Zwischen Fragment und Phantasma 185

Responsivität des ,Gefühls‘41, erschafft sich demnach körperliche, lebendige


Gegenstände – weder ist sie dafür wie bei Winckelmann auf aufklärerische Ge-
spensterkunde und geschichtsphilosophische Behelfskonstrukte angewiesen,
noch auf ,verlebendigende‘ Inszenierungstechniken wie Fackelbeleuchtung
etc. Nicht nur in der Rückbindung der ästhetischen Wahrnehmung an sinnes-
physiologische Modelle, sondern auch in der Verortung der Statuenerfahrung
in einem musealen Betrachtungsszenario weist sich Herders Beschreibung
dabei als Produkt ihrer Zeit aus. So steht das Subjekt, das hier im Zentrum
steht, in seiner kontemplativen Haltung einem geübten Galeriebesucher des
ausgehenden 18. Jahrhunderts grundsätzlich näher als der von der idealen
Schönheit des Apoll überwältigte Betrachter Winckelmanns.
In seinem Bericht der Reisen eines Deutschen in Italien (1786–1788) benutzt
Karl Philipp Moritz Winckelmanns Beschreibung des Apoll ebenfalls, um die
Parameter des modernen Statuenerlebnisses gemäß seiner eigenen Ästhetik
davon abzusetzen. Auch er imaginiert einen Gang ins Museum, um die tat-
sächliche Begegnung mit dem Bildnis der Winckelmannschen Beschreibung
entgegenzuhalten und diese als rhetorische Überformung des Kunsterleb-
nisses zu kritisieren. Wer „mit dem Winkelmann in der Hand den Apollo be-
trachtet“42 und die Rhetorik der Beschreibung „lieset“, werde „viel zu sehr
dadurch gestört, und auf Nebendinge geführt, als daß die reine Schönheit des
Ganzen ihn noch rühren könnte.“43 – Gerade die bildreiche, von Assoziationen
und wilden Imaginationen durchsetzte Statuenbeschreibung Winckelmanns,
die im Rahmen seines Gesamtwerks eine besondere Vergegenwärtigung der
griechischen Kunst leisten sollte, beschreibt Moritz dreißig Jahre später als
eine künstliche und dadurch den Gegenstand verunklärende Darstellung:
„Winkelmanns Beschreibung des Apollo in Belvedere scheint mir für ihren
Gegenstand viel zu zusammengesetzt und gekünstelt.“44
Genau wie Herder setzt auch Moritz in seiner Kritik bei Winckelmanns
rhetorischen Kunstgriffen an, die seine Beschreibung in seinen Augen
revisionsbedürftig machen. War es bei Herder die produktive, gegenstands-
konstitutive Leistung der sinnlichen Wahrnehmung, die er rückwirkend in die
ältere Schilderung des Statuenerlebnisses eingetragen wissen wollte, so steht

41 Herder unterscheidet durchweg nicht zwischen verschiedenen Bezugsbereichen des


Empfindungsvermögens, wie etwa haptischem und seelischem Spür-Sinn, sondern be-
zeichnet alles als ,Gefühl‘ oder auch ,Tastsinn‘.
42 Moritz, Karl Philipp, Reisen eines Deutschen in Italien, in: ders., Werke in zwei Bänden,
Bd. 2: Popularphilosophie/Reisen/Ästhetische Theorie, hg. von Heide Hollmer und Albert
Meier, Frankfurt a.M., 1997, S. 411–848, hier S. 753.
43 Ebd., S. 754.
44 Ebd.

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186 Agnes Hoffmann

bei Moritz die Sprachkunst Winckelmanns selbst unter Verdacht, die Wahr-
nehmung des Kunstwerks gleichsam zu verstellen. Dies führt er in seinem
Essay In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? (1788/1789) näher aus:

Winckelmanns Beschreibung vom Apoll im Belvedere zerreißt daher das Ganze


dieses Kunstwerks, sobald sie unmittelbar darauf angewandt, und nicht viel-
mehr als eine bloß poetische Beschreibung des Apollo selbst betrachtet wird,
die dem Kunstwerke gar nichts angeht. Diese Beschreibung hat daher auch der
Betrachtung dieses erhabenen Kunstwerks mehr geschadet, als genutzt, weil sie
den Blick vom Ganzen abgezogen, und auf das Einzelne geheftet hat, welches
doch bei der nähern Betrachtung immermehr verschwinden, und in das Ganze
sich verlieren soll.
Auch macht die Winckelmannsche Beschreibung aus dem Apollo eine
Komposition aus Bruchstücken, indem sie ihm eine Stirn des Jupiters, Augen
der Juno, u.s.w. zuschreibt; wodurch die Einheit der erhabnen Bildung ent-
weihet, und ihr wohlthätiger Eindruck zerstört wird. […] Wenn über Werke
der bildenden Künste, und überhaupt über Kunstwerke etwas Würdiges gesagt
werden soll, so muß es keine bloße Beschreibung derselben nach ihren einzel-
nen Theilen seyn, sondern es muß uns einen nähern Aufschluß über das Ganze
und die Nothwendigkeit seiner Theile geben.45

Gerade nicht die sehnsüchtig begehrte, durch Phantasie und Studium nach
Möglichkeit rekonstruierte ,Ganzheit‘ der Antike, die bei Winckelmann die
virtuelle Bezugsgröße der Statuenbeschreibungen darstellt, ist nach Moritz
seinen Nachfolgern beschert, die seine Schriften als Hilfestellung der eigenen
Statuenbetrachtung heranziehen. Sondern im Gegenteil: Durch die Be-
schreibungsrhetorik der bekannten Texte werde eine Irritation des Blicks
auf das Ganze und eine Ablenkung aufs Detail verursacht, die „Einheit“ des
Bildwerks „entweihet“ und der „Eindruck“ des Kunstwerks „zerstört“. Der
phantasmatische Kern der Beschreibungen Winckelmanns leistet in dieser
Lektüre nicht eine Erweiterung der Wahrnehmung der antiken Kunstwerke,
indem er ihre sinnliche Gegenwart im Kunsterlebnis mit allen Mitteln nach-
vollzieht, sondern wird als strategische Zusammenstückelung von „Bruch-
stücken“ beschrieben, wie ein rhetorischer Taschenspielertrick, in dem die
künstlerische Gestaltung der Werke zwar kunstvoll beschrieben, in ihrer
Singularität und ihren Gesetzmäßigkeiten aber nicht einsichtig wird. Moritz’
Lektüre steht damit quer zu solchen Stimmen, die wie Herder und Goethe vor
allem den Pioniergeist und die bleibende Bedeutung Winckelmanns betonten

45 Karl Philipp Moritz, „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?“, in: ders.,
Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Popularphilosophie/Reisen/Ästhetische Theorie, hg. von Heide
Hollmer und Albert Meier, Frankfurt a.M., 1997, S. 992–1003, hier S. 1002f.

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Zwischen Fragment und Phantasma 187

– was anderen als besondere Leistung des Älteren galt, nämlich die Suggestivi-
tät der sprachlichen Darstellung und ihre virtuelle Vergegenwärtigung von
Kunstwerken durch Szenarien der enthusiastischen Betrachtung, wird bei
Moritz zum Stein des Anstoßes, um im Rahmen seiner eigenen Ästhetik eine
deutliche Entkoppelung der Kunstbeschreibung von jeglichen Intentionen
und mythologischen Referenzen zu fordern, welche seine Wahrnehmung als
autonomes ästhetisches Objekt verstellt und die immanente Ableitung von
Struktur- und Formqualitäten verhindert.
Erneut sind dabei auch bei Moritz Vorstellungen von Fragment und Ganz-
heit, analytischem Studium und Phantasmagorie im Zusammenhang der
Statuenbetrachtung untrennbar aufeinander bezogen, und auch hier wird –
wie bei Herder und in den Szenarien der Fackelbeleuchtung – die genaue
Anamnese der ästhetischen Erfahrung möglich vor dem Hintergrund ihrer
Verortung in einem institutionellen musealen Setting mit seinen eigenen
Spielregeln: Im Rahmen der distanzierten Kunstbetrachtung einer Aus-
stellung, die ihn – Winckelmanns prägende Topik im Kopf und in negativer
Abgrenzung der eigenen Erfahrung von dieser – ein Erlebnis der klassischen
Werke und ihrer „erhabnen Bildung“ als „wohlthätige[n] Eindruck“ erwarten
lässt. Dass sich Moritz damit einreiht in die Verfechter einer zeitgenössischen
Ausstellungskultur, für die die neue Zugänglichkeit antiker Plastiken und ihr
Erlebnis vermittels moderner Praktiken der Präsentation und Beleuchtung
einen bedeutsamen Zuwachs an ,Lebendigkeit‘ der ästhetischen Erfahrung be-
deutete, machen seine Kommentare zu eigenen Besuchen beim Belvedere bei
Fackelschein deutlich, die er ebenfalls in den Reisen eines Deutschen in Italien
beschreibt:

Es ist hier allezeit ein Fest für uns, wenn eine Gesellschaft sich vereinigt, um
die Statüen in Belvedere des Abends bei Fackelschein zu betrachten. – Man ver-
säumt diese Gelegenheit nie, weil einem jede dieser Betrachtungen ein sichrer
Gewinn und Erwerb für den Geist ist, der einem nachher durch nichts geraubt
werden kann.

Das persönliche Statuenerlebnis beim abendlichen Besuch der Sammlungen


ermöglicht laut Moritz einen ,sicheren Gewinn und Erwerb für den Geist‘,
der über Fehldeutungen und andere Phantasmagorien antiker Kunst augen-
scheinlich erhaben ist. Eine Generation nach Winckelmann erscheinen die
Fragmente der Antike, die um 1750 in ihrem rudimentären Charakter erst er-
schlossen und der historischen wie ästhetischen Einordnung zugänglich ge-
macht werden mussten, eingebettet in eine institutionell und diskursiv fest
verortete kulturelle Praxis.

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188 Agnes Hoffmann

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190 Agnes Hoffmann

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Arno Schubbach

Leben und Darstellung in Kants


Kritik der Urteilskraft
Zwischen Ästhetik, Epistemologie und Ethik

Der Begriff der lebendigen Darstellung stellt eine Herausforderung dar.1 Ein
alltägliches Wort wie Darstellung ist nicht ohne Weiteres terminologisch zu
fassen, seine Kombination mit dem Begriff des Lebendigen befördert die
Klarheit mitnichten. Denn ‚Leben‘ eröffnet vielleicht mehr noch als ‚Dar-
stellung‘ so zahlreiche wie unterschiedliche systematische und historische
Kontexte, sodass sich die Möglichkeiten zur Deutung nur zu vervielfältigen
scheinen. Mit Blick auf den Begriff der Darstellung stellt sich die Lage um
1800 jedoch etwas anders dar. Denn die Semantik des ‚Darstellens‘, die uns
heute so unauffällig wie unscharf vorkommt, hatte sich gerade erst heraus-
gebildet, und der Begriff der Darstellung stellte eine theoretische Innovation
dar, deren systematischer Einsatz heute noch verständlich zu machen ist. In
seinem bahnbrechenden Aufsatz zu „Klopstocks Eröffnung eines neuen Para-
digmas“ von 1994 deutet Winfried Menninghaus den Begriff der Darstellung
so als Zeichen einer „theoriegeschichtlichen Umwälzung“.2 Das Denken der
Repräsentation, das von Vorstellungen mitsamt ihren Gegenständen ausging,
um zugleich ihre mehr oder minder transparente Kommunikation durch
Zeichen zu reflektieren, wurde demnach abgelöst durch das Interesse an Dar-
stellungsprozessen, in denen sich in der Bewegung materieller Zeichen Gegen-
stände präsentieren, die nicht unabhängig davon gegeben und bloß noch zu
bezeichnen wären.
Ich möchte mich der Frage nach der lebendigen Darstellung daher über den
Begriff der Darstellung nähern, wie er sich in Immanuel Kants kritischer Philo-
sophie ausgearbeitet findet. Dieser Darstellungsbegriff wurde vor allem in der
Literaturwissenschaft behandelt, wobei jedoch meist angenommen wurde,
dass sich die terminologische Bedeutung des Begriffs und seine theoretische

1 Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen des durch den Schweizerischen Nationalfonds ge-
förderten Projekts Begriffe und Praktiken der Darstellung in Philosophie, Chemie und Malerei
um 1800 entstanden.
2 Vgl. Winfried Menninghaus, „‚Darstellung‘. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines
neuen Paradigmas“, in: Was heißt „Darstellen“?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt
a.M., 1994, S. 205–226, hier S. 205; vgl. auch ebd., S. 205f., 209f., 212f. und, mit Bezug auf
Kant, S. 216–219.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_011


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192 Arno Schubbach

Sprengkraft allein einem ästhetischen Kontext verdankt.3 Diese Annahme


zeigt sich in polemischer Zuspitzung wiederum in Menninghaus’ Beitrag. Er
deutet Kants Begriff der Darstellung nämlich nicht nur in chronologischer
und systematischer Abhängigkeit von Friedrich Gottlieb Klopstocks poeto-
logischer Prägung des Begriffs, sondern verortet ihn auch in einer rhetorischen
Tradition, die die Philosophie seit ihren Anfängen auszuschließen versucht
habe und dank Kants gutgläubigem Einsatz des Begriffs wieder in die Philo-
sophie eingedrungen sei.4 Diese polemische Pointe setzt offenbar voraus, dass
der Begriff der Darstellung in einer ästhetischen, poetischen oder rhetorischen
Tradition wurzelt, nimmt damit aber eine fragwürdige Vereindeutigung des
kantischen Begriffs der Darstellung und der mit ihm verbundenen Sach- und
Problemlagen vor, wie ich im folgenden Beitrag zeigen möchte. Denn Kants
Begriff der Darstellung erweist sich – wie auch sein Begriff des Lebens – als
zu vielschichtig, als dass er sich dazu eignen würde, ihn gegen die Erkenntnis
auszuspielen. Dieser Begriff lässt sich zum einen nicht in einer ästhetischen

3 Vgl. Ernst Ludwig Stahl, „Darstellung“, in: Gestaltprobleme der Dichtung, hg. von Richard
Alewyn, Hans-Egon Hass und Clemens Heselhaus, Bonn, 1957, S. 283–298; Fritz Heuer,
Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst, Köln/Wien, 1970;
Rodolphe Gasché, „Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant“, in: Was heißt „Dar-
stellen“?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994, S. 152–174; Martha B. Helfer,
The Retreat of Representation. The Concept of Darstellung in German Critical Discourse, Albany,
NY, 1996; Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“,
in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard
Neumann, Stuttgart/Weimar, 1997, S. 208–225; Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions.
Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München,
1998; Dieter Schlenstedt, „Darstellung“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörter-
buch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius,
Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Stuttgart/Weimar, 2000,
S. 831–875.
4 „[D]er poetische Darstellungsbegriff schmuggelt in seinem subversiven Gepäck zugleich
eine mächtige rhetorische Dimension, die an seinem Ursprung steht, in die anti-rhetorische
Philosophie ein. Nicht nur führt ein Begriff der Poetik also zu einer Reformulierung der
Philosophie, er ist sogar derart durchschlagend, daß er der Philosophie – mit nachhaltigem
Erfolg – etwas einimpft, das sie seit Platos Kritik der sophistischen Rhetorik von sich fern-
halten wollte. Fast könnte man sagen: die Philosophie hat sich an diesem ebenso unauf-
fälligen wie unverdaulichen Begriff der Poetik verschluckt, und es gibt spätestens seitdem
nur noch eine poetisch kontaminierte Philosophie, die mindestens ebensosehr Gegenstand
der Poetik und Literaturgeschichte wie der reinen Liebe zur Weisheit ist.“ (Menninghaus,
„‚Darstellung‘“, S. 222.) Es geht mir im Folgenden nicht darum, zu bestreiten, dass Philosophie
auch als Literatur zu lesen ist (was im Übrigen keinesfalls nach sich ziehen muss, ihr jeden
Anspruch auf Erkenntnis oder Wissen abzusprechen). Ich möchte lediglich zeigen, dass
Kants Begriff der Darstellung der Rhetorik kaum als Einfallstor in die Philosophie dienen
kann, weil er bei Kant im epistemischen Kontext eingeführt wird und in der dritten Kritik
ästhetische, epistemische und ethische Aspekte verbinden soll.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 193

Tradition verankern, da er in der Kritik der reinen Vernunft zuallererst eine


epistemische Prägung erfährt. Seine Erweiterungen und Umbildungen in der
Kritik der Urteilskraft verleihen ihm zum anderen eine inhärente Komplexität,
da Kant ihn nutzt, um ästhetische, epistemische und ethische Dimensionen
der Erfahrung unauflösbar miteinander zu verweben: In der dritten Kritik
ist der Begriff der Darstellung gerade deshalb so wichtig, weil Kant auf ihn
zurückgreift, um die in den ersten beiden Kritiken jeweils herausgearbeiteten
und scharf unterschiedenen Perspektiven von theoretischer Philosophie
(Epistemologie) und praktischer Philosophie (Ethik) im ästhetischen Feld
wiederum aufeinander zu beziehen.
Der folgende Beitrag soll also aufzeigen, wie der kantische Darstellungs-
begriff epistemische, ethische und ästhetische Dimensionen der Erfahrung ins
Verhältnis setzt. Ich werde in einem ersten einleitenden Abschnitt zunächst
von der Kritik der Urteilskraft ausgehen und ihren Verweis auf den Darstellungs-
begriff aus der Kritik der reinen Vernunft herausarbeiten, um zu zeigen, dass es
sich bei der ‚Darstellung‘ auch in dieser dritten Kritik keineswegs um einen
genuin ästhetischen Begriff handelt. Im zweiten Abschnitt gehe ich diesem
Verweis nach und skizziere den Begriff der Darstellung in der Mathematik
nach der Kritik der reinen Vernunft, da er den epistemischen Ausgangspunkt für
die spätere Entwicklung des Begriffs darstellt.5 Der folgende dritte Abschnitt
geht detaillierter auf die verschiedenen Formen der Darstellungen in der Kritik
der Urteilskraft ein und versucht sie als Erweiterungen und Vertiefungen des
Begriffs verständlich zu machen. Ich möchte also zeigen, wie vor allem das
Schöne und das Erhabene als Formen der Darstellung zu begreifen sind und an
die Bestimmungen des Begriffs aus der Kritik der reinen Vernunft anschließen,
um zugleich über deren epistemischen Horizont hinauszugehen. Diese spezi-
fischen Formen der Darstellung bewegen sich jenseits der Erkenntnis und
sind in gewisser Hinsicht als ästhetische zu charakterisieren, sie entfalten ihre
systematische Tragweite aber nur, wenn sie im Zusammenhang der Problem-
lagen von Kants theoretischer und praktischer Philosophie gesehen werden.
Dieser inhärenten Komplexität des kantischen Darstellungsbegriffs zeigt
sich jeder Versuch, den Begriff der Darstellung der ästhetischen, rhetorisch-
poetischen Tradition zuzuschlagen und ihn polemisch gegen die Philosophie
selbst in Stellung zu bringen, nicht gewachsen. Eine solche Vereindeutigung
und Vereinfachung erweist sich insbesondere für die Frage nach der

5 Ich werde mich dabei auf meinen Aufsatz „Kants Konzeption der geometrischen Dar-
stellung. Zum mathematischen Gebrauch der Anschauung“, in: Kant-Studien 108, 2017, S. 19–
54, stützen, in dem diese Deutung weiter ausgeführt ist und auch in Auseinandersetzung mit
der Forschungsliteratur begründet wird.

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194 Arno Schubbach

lebendigen Darstellung als verhängnisvoll. Denn Kant verknüpft Darstellung


und Leben in erster Linie, wo es ihm um die Verbindungen der ästhetischen,
epistemischen und ethischen Dimensionen der Erfahrung geht. Er begreift
ästhetische Darstellungen so wiederholt als belebend, weil sie vermittels der
Belebung von Anschauung, Verstand und Vernunft mit der Wirklichkeit der
Erkenntnis und des Sollens verbunden werden können. Um nach Kants Ver-
ständnis von ‚lebendiger Darstellung‘ zu fragen und zugleich auch die Grenzen
dieses Verständnisses zu diskutieren, erweist es sich daher als unabdingbar, die
Entwicklung des Begriffs in der kritischen Philosophie einzubeziehen und die
vielfältigen spezifischen Formen der Darstellung in der Kritik der Urteilskraft
herauszuarbeiten.

Der Rekurs der Kritik der Urteilskraft auf die Kritik der reinen Vernunft

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, bei der Kritik der Urteilskraft
handle es sich um Kants Ästhetik im Sinne einer Kunstphilosophie.6 Schon bei
rascher Lektüre wird offensichtlich, dass es hier um mehr und anderes geht
als um die schönen Künste. Daher kann es kaum überraschen, dass sich Kants
Begriff der Darstellung keineswegs vorrangig auf künstlerische Darstellungen
bezieht und er sich ebenso wenig in eine Theorie der ästhetischen Erfahrung
einhegen lässt. Vielmehr gibt Kant an vielen Stellen zu erkennen, dass der Be-
griff auch in der Kritik der Urteilskraft noch die erkenntnistheoretischen und
wissenschaftsphilosophischen Fragestellungen der ersten Kritik aufnimmt.
Bereits in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft wird die „Darstellung
(exhibitio)“ terminologisch eingeführt und erläutert als das „Geschäft“ der
Urteilskraft, „dem Begriffe eine correspondirende Anschauung zur Seite zu
stellen“.7 Dieses Geschäft erinnert insofern an die Aufgabe der Erkenntnis, als
allgemein gesprochen Begriff und Anschauung zusammenkommen müssen,
damit Erkenntnis zustande kommen kann, denn: „Gedanken ohne Inhalt sind

6 Vgl. für eine prägnante Klarstellung Wolfgang Wieland, „Die Erfahrung des Urteils. Warum
Kant keine Ästhetik begründet hat“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte 64, 1990, S. 604–623.
7 Die Werke Kants werden wie in der Forschungsliteratur üblicher nach der Ausgabe Kants ge-
sammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin,
1900ff., nachgewiesen, hier Bd. 5: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft,
Berlin, 1913, S. 192. Bei wiederholten Referenzen benutze ich die übliche Sigle ‚AA‘ mit An-
gabe des Bandes und der Seitenzahl, hier also AA 05, 192. Ergänzend gebe ich unter der Sigle
‚KU, B‘ auch die Seitenzahl der zweiten Ausgabe der Kritik der Urteilskraft von 1793 an, sodass
die zitierten Stellen in den meisten Ausgaben des Textes leicht aufzufinden sein sollten, hier
KU, B XLIX.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 195

leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“8 Tatsächlich bezieht Kant jenes
Geschäft der Urteilskraft auch umstandslos auf den Zweck einer „Erkennt-
nis in der Darstellung (exhibitio)“.9 Jedoch ist diese Erkenntnis von einer
besonderen Struktur. Statt wie die objektive Erkenntnis eine gegebene An-
schauung unter einen Begriff zu subsumieren und dadurch den Gegenstand
begrifflich zu bestimmen, zielt die ‚Erkenntnis in der Darstellung‘ auf den Be-
griff ab, indem sie ihn veranschaulicht. Die Urteilskraft soll ihm nämlich eine
‚correspondirende Anschauung zur Seite stellen‘, wie Kant formuliert, womit
er direkt auf die Theorie der mathematischen Darstellung aus der Kritik der
reinen Vernunft zurückgreift. Dort hatte Kant den Begriff der Darstellung ein-
geführt und mit Blick auf die „Construction der Begriffe“ in der Mathematik
und Geometrie wie folgt bestimmt: „Einen Begriff aber construiren, heißt: die
ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen.“10 Dieses Verhältnis der
Korrespondenz von Begriff und Anschauung muss von der Subsumtion der
Anschauung unter den Begriff unterschieden werden, soll Kants Begriff der
Darstellung ein klares systematisches Profil erhalten.
Wie die Kritik der Urteilskraft an diesen Ausgangspunkt anschließt, um
zugleich eine entschiedene Erweiterung und Vertiefung des Begriffs der Dar-
stellung vorzunehmen, zeigt die Anmerkung I zu Paragraph 57. Im Zentrum
der dortigen Erläuterung des Darstellungsbegriffs steht erneut die Mathematik
und ihre Praxis der Demonstration. Ähnlich wie in der Kritik der reinen Vernunft
reduziert er die mathematische Praxis nicht auf den logisch-deduktiven Beweis
von Sätzen, sondern betont mit Blick auf den geometrisch-konstruktiven Be-
weis die Unverzichtbarkeit der Anschauung und erläutert die Demonstration
daher ganz im Sinne seiner früheren Überlegungen als Darstellung eines

8 K ants gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, hg. von
der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1911, S. 75, bzw. unter
Verwendung der Sigle AA 03, 75. Auch im Falle der Kritik der reinen Vernunft gebe ich er-
gänzend die Seitenzahl der zweiten Ausgabe von 1787 unter Verwendung der Sigle ‚KrV,
B‘ an, hier KrV, B 75. Auf die Unterschiede der ersten und zweiten Auflage kommt es im
Zusammenhang des vorliegenden Beitrags nicht an, da die „Transzendentale Methoden-
lehre“ keine Überarbeitung erfahren hat.
9 A A 05, 192/KU, B XLIX.
10 A A 03, 469/KrV, B 741. Wie das Zitat andeutet, bleibt diese Form der Darstellung und
Konstruktion der Philosophie verwehrt. Auch dies wird in der diskutierten Passage aus
der Kritik der Urteilskraft wiederholt: „Man bedient sich in der Logik der Ausdrücke des
Demonstrabeln oder Indemonstrabeln gemeiniglich nur in Ansehung der Sätze: da die
ersteren besser durch die Benennung der nur mittelbar, die zweiten der unmittelbar-
gewissen Sätze könnten bezeichnet werden; denn die reine Philosophie hat auch Sätze
von beiden Arten, wenn darunter beweisfähige und beweisunfähige Sätze verstanden
werden. Allein aus Gründen a priori kann sie als Philosophie zwar beweisen, aber nicht
demonstrieren […]“ (AA 05, 343/KU, B 241).

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196 Arno Schubbach

Begriffs. Diesen Rückgriff verbindet Kant aber sogleich mit einer Erweiterung.
Denn neben der mathematisch-konstruktiven Darstellung führt Kant nun
zugleich empirische Formen der Darstellung an und nennt als Beispiel die
Präparation von Organen in der Anatomie:

[W]enn man nicht ganz und gar von der Wortbedeutung abgehen will, nach
welcher demonstriren (ostendere, exhibere) so viel heißt, als […] seinen Begriff
zugleich in der Anschauung darstellen: welche, wenn sie Anschauung a priori
ist, das Construiren desselben heißt, wenn sie aber auch empirisch ist, gleich-
wohl die Vorzeigung des Objects bleibt, durch welche dem Begriffe die objective
Realität gesichert wird. So sagt man von einem Anatomiker: er demonstrire das
menschliche Auge, wenn er den Begriff, den er vorher discursiv vorgetragen hat,
vermittelst der Zergliederung dieses Organs anschaulich macht.11

Kant greift hier somit auf seinen eigenen, an der Geometrie orientierten Be-
griff der Darstellung zurück, um ihn zunächst innerhalb des epistemischen
Kontextes durch empirische Formen der Darstellung zu erweitern, in denen
die ‚korrespondierende Anschauung‘ nicht durch Konstruktion, sondern durch
die ‚Vorzeigung des Objekts‘ bereitgestellt werden soll.
Diese Erörterung von Darstellungen zum Zwecke des Erkennens steht im
Kontext der Anmerkung I zu Paragraph 57 der Kritik der Urteilskraft jedoch
unter den Vorzeichen einer sehr viel radikaleren Erweiterung und Vertiefung
des Begriffs der Darstellung.12 Denn gleich in den ersten Zeilen dieser An-
merkung führt Kant einen Begriff ein, der nach der Terminologie der ersten
Kritik von vornherein auf die Grenzen der Erkenntnis und eine Sphäre jenseits
der Erkenntnis bezogen ist, den Begriff der Idee: „Ideen in der allgemeinsten
Bedeutung sind […] auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen, sofern
sie doch nie eine Erkenntnis desselben werden können.“13 Ideen ermöglichen
keine Erkenntnis, weil Begriff und Anschauung in ihnen nicht zusammen-
finden. Insbesondere gilt für die „Vernunftidee“, dass sie einen „Begriff (vom
Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben

11 A A 05, 343/KU, B 241.


12 Diese Erweiterung ist darin motiviert, dass die vorangehende „Auflösung der Antinomie
des Geschmacks“ (so der Titel des Paragraphen 57) darauf beruht, dass das Geschmacks-
urteil einerseits nicht auf einem bestimmten Begriff beruhen kann, da es sonst seinen
Gegenstand beurteilen und über eine Regel verfügen würde; dass es andererseits aber
einen „an sich unbestimmt[en] und zugleich unbestimmbar[en]“ Begriff (AA 05, 339/
KU, B 235) voraussetzen soll, da es durch den Anspruch auf subjektive Allgemeingültig-
keit ausgezeichnet ist, vgl. AA 05, 339–341/KU, B 234–239. Ein solcher Begriff ist aber eine
Idee, deren Darstellbarkeit daher im Anschluss diskutiert wird.
13  A A 05, 342/KU, B 239.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 197

werden kann“.14 Da die Formen der Darstellung, die wir bislang erwähnt
haben, sich stets einer Anschauung bedienen, die dem darzustellenden Begriff
‚korrespondiert‘, liegt also der Schluss nah, dass Ideen auch keiner Darstellung
fähig sind. Die Pointe von Kants Überlegung weist aber genau in die entgegen-
gesetzte Richtung: Wir müssen die Konzeption der Darstellung so erweitern,
dass Darstellungen auch dort möglich sind, wo Begriff und Anschauung nicht
mehr – wie bislang angenommen – einander korrespondieren, aber doch so
aufeinander bezogen werden können, dass wir – wenn auch jenseits der Er-
kenntnis – durch die Anschauung Aufschluss erhalten über den Begriff.
Nach Paragraph 57 der Kritik der Urteilskraft haben wir es also mit zwei unter-
schiedlichen Formen der Darstellung zu tun. Die erste Form der Darstellung in
Mathematik und empirischen Wissenschaften beruht auf der Korrespondenz
von Begriffen und Anschauungen. Wie ich noch an der mathematischen
Darstellung zeigen werde, kommen als korrespondierende Anschauungen
dabei nur solche Anschauungen in Frage, deren Gegenstände durch den dar-
zustellenden Begriff bestimmt sind, sodass beispielsweise die Anschauung
eines Dreiecks den allgemeinen Begriff des Dreiecks darstellen kann. Die Dar-
stellung eines Begriffs vermittels korrespondierender Anschauung setzt daher
voraus, dass der Begriff zwar allgemein ist, aber doch einzelne Anschauungen
bestimmen kann.15 Diese Voraussetzung ist in der zweiten und neuen Form
der Darstellung von Ideen jedoch nicht gewährleistet. Denn Ideen können wie
die ‚Vernunftideen‘ zwar auch Begriffe sein, vermögen aber keine einzelnen

14 A A 05, 342/KU, B 240.


15 Eine Darstellung vermittels korrespondierender Anschauung hält Kant daher im Falle
der Verstandesbegriffe noch für möglich, wie er in der behandelten Anmerkung er-
klärt: „Verstandesbegriffe müssen als solche jederzeit demonstrabel sein (wenn unter
demonstriren, wie in der Anatomie bloß das Darstellen verstanden wird); d.i. der
ihnen correspondirende Gegenstand muß jederzeit in der Anschauung (reinen oder
empirischen) gegeben werden können: denn dadurch allein können sie Erkenntnisse
werden.“ (AA 05, 342/KU, B 240) Es scheint hier zunächst darum zu gehen, dass sich die
Verstandesbegriffe auf Gegenstände beziehen können. Wie in der mathematischen Dar-
stellung geht es jedoch eher um eine Erkenntnis der Verstandesbegriffe selbst, wenn Kant
im Folgenden darauf eingeht, wie Verstandesbegriffe an einem ‚Beispiel‘ veranschaulicht
werden können: „Der Begriff der Größe kann in der Raumesanschauung a priori, z.B. einer
geraden Linie usw., gegeben werden; der Begriff der Ursache an der Undurchdringlichkeit,
dem Stoße der Körper, usw. Mithin können beide durch eine empirische Anschauung
belegt, d.i. der Gedanke davon an einem Beispiele gewiesen (demonstrirt, aufgezeigt)
werden; und dieses muß geschehen können: widrigenfalls man nicht gewiß ist, ob der
Gedanke nicht leer, d.i. ohne alles Object sei.“ (AA 05, 342f./KU, B 240) Es geht somit auch
hier um die Erkenntnis von Begriffen durch ihre Darstellung in der Anschauung.

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198 Arno Schubbach

Gegenstände der Anschauung zu bestimmen.16 In der Konsequenz legen sie


auch keine Korrespondenz mit einer Anschauung fest, so dass es gänzlich offen
scheint, welche Anschauungen hier zur Darstellung geeignet sein könnten.
Eine Idee kann in der Kritik der Urteilskraft zudem nicht nur ein Begriff,
sondern auch eine Anschauung sein, insofern Letztere keine Korrespondenz
mit einem Begriff erlaubt. In diesem Fall spricht Kant von einer „ästhetischen
Idee“, die nichts anderes als „eine Anschauung (der Einbildungskraft) ist, der
niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann“.17 Eine Idee kann in der
Kritik der Urteilskraft daher sowohl ein Begriff als auch eine Anschauung sein,
sie verunmöglicht aber per definitionem eine Korrespondenz von Anschauung
und Begriff. Sie bewegt sich an den Grenzen oder jenseits der Erkenntnis und
motiviert die grundsätzliche Erweiterung des Begriffs der Darstellung in der
Kritik der Urteilskraft, soll sie doch durch die Darstellung zugänglich und in
ihrer Darstellung fassbar werden.
Um eine solche Darstellung von Ideen möglichst präzise zu fassen, ist es
jedoch notwendig, zuvor auf solche Formen der Darstellung zurückzugehen,
die wie die mathematische Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft eine
mögliche ‚Korrespondenz‘ von Anschauung und Begriff voraussetzen. Dieser
Rückgang ist nicht nur deshalb notwendig, weil wir es hier mit einem Begriff
zu tun haben, der sich von der ersten zur dritten Kritik entfaltet und nur im
Nachvollzug dieser Entwicklung präzise zu fassen wäre. Er ist auch und vor
allem deshalb unabdingbar, weil die systematischen Konturen von Kants Be-
griff der Darstellung sich zuallererst aus dem Zusammenhang mit der An-
nahme ergeben, dass Anschauungen Begriffen ‚korrespondieren‘ können.
Genauer gesagt besteht dieser Zusammenhang darin, dass Kant den Begriff
der Darstellung in der ersten Kritik zuallererst einführt, um diese Annahme zu-
mindest für die mathematische Praxis zu rechtfertigen. Denn die Behauptung,
dass Begriff und Anschauung einander ‚korrespondieren‘ können, ist aufgrund
der Voraussetzungen der kritischen Philosophie so problematisch, dass sie nur
mit Hilfe einer anspruchsvollen Konzeption der Darstellung überhaupt ge-
rechtfertigt werden kann.

16 „So wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den ge-
gebenen Begriff nicht erreicht: so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch
seine Begriffe nie die ganz innere Anschauung der Einbildungskraft, welche sie mit einer
gegebenen Vorstellung verbindet.“ (AA 05, 343/KU, B 242)
17 Diese Unterscheidung von Vernunft- und ästhetischer Idee hatte Kant ganz ähnlich, aber
eher beiläufig bereits in §49 der Kritik der Urteilskraft eingeführt, vgl. AA 05, 313f./KU,
B 192f. Ich werde darauf zurückkommen.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 199

Kants epistemischer Begriff der Darstellung in der


Kritik der reinen Vernunft

Kants Überlegungen zur Mathematik in der Kritik der reinen Vernunft und
damit auch sein Herangehen an den Begriff der Darstellung sind in dreier-
lei Hinsicht zu rahmen. Erstens ist eine textuelle Rahmung vorzunehmen:
Im Zusammenhang der die erste Kritik beschließenden Transzendentalen
Methodenlehre geht es Kant nicht primär um die Mathematik, sondern um
die Philosophie. Er bestreitet nämlich den alten Anspruch der Philosophie,
ihre Behauptungen im Stile der Mathematik beweisen zu können, und ver-
sucht daher das Vorgehen der Philosophie von dem der Mathematik abzu-
grenzen. Er geht so zwar davon aus, dass die Mathematik wie die Philosophie
auf die Erkenntnis von Begriffen abziele, billigt aber allein der Mathematik das
Privileg zu, ihre Begriffe zu diesem Zweck in der Anschauung ‚darzustellen‘:
„Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die
mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren,
heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen.“18 Zweitens
müssen wir eine ideengeschichtliche Rahmung in Rechnung stellen: Kant
geht hier – wie bei der bereits zitierten Überlegung zur Demonstration in
der Mathematik aus der dritten Kritik – davon aus, dass die mathematische
Praxis sich nicht auf die formal-logische Deduktion reduziert, sondern wesent-
lich auf der Konstruktion ihrer Begriffe in der Anschauung beruht. Offenbar
bezieht er sich paradigmatisch auf die geometrische Tradition, die mit dem
Namen Euklids verbunden ist und in der Frühen Neuzeit gegenüber dem
aristotelischen Syllogismus eine Aufwertung erfahren hat.19 Es ist also die geo-
metrische Praxis des mathematischen Beweisens vermittels anschaulicher

18 A A 03, 469/KrV, B 741.


19 Vgl. Hermann Schüling, Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden
17. Jahrhundert (Wandlung der Wissenschaftsauffassung), Hildesheim/New York, 1969,
S. 41–60 u. 110–112. Natürlich bezieht sich Kant dabei auf die Euklidischen Verfahren
in ihrer zeitgenössischen Deutung, vgl. Lisa A. Shabel, Mathematics in Kant’s Critical
Philosophy. Reflections of Mathematical Practice, New York/London, 2003, S. 9–90. Da der
kantische Darstellungsbegriff mit Bezug auf Euklidische Verfahren konzipiert wird, setzt
er sich aber nicht nur von formallogisch-syllogistischen Verfahren ab, sondern auch von
den Kalkülen der Arithmetik oder Algebra, vgl. Hans Werner Arndt, Methodo scientifica
pertractum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theoriebildung
des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New York, 1971, S. 1–13. In den vorkritischen Schriften
orientierte sich Kants Bild der Mathematik im Anschluss an Leibniz und Wolff noch an
Arithmetik und Algebra, in der Kritik der reinen Vernunft konzipiert er die Darstellung
dagegen im entschiedenen Bezug auf die Geometrie und den Euklidischen Beweis, vgl.
Schubbach, „Kants Konzeption der geometrischen Darstellung“, S. 41–50.

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200 Arno Schubbach

Konstruktion, die Kant mit seinem Begriff der Darstellung philosophisch


zu fassen versucht und die in die spezifisch epistemische Prägung des Dar-
stellungsbegriffs in der Kritik der reinen Vernunft eingeht. Diese beiden
Rahmungen ergeben auf gewisse Weise eine Forderung an den Begriff der Dar-
stellung: Mathematische Begriffe sollen in der Anschauung dargestellt werden,
um bestimmte Eigenschaften dieser Begriffe respektive allgemeine Aussagen
über ihre Gegenstände zu beweisen. Woran Kant hier denkt, wird durch sein
Beispiel klar. Der Mathematiker konstruiert beispielsweise ein Dreieck, um
allgemeine Eigenschaften von Dreiecken zu beweisen, wie den Satz, dass die
Summe der Innenwinkel eines Dreiecks stets gleich zwei rechten Winkeln ist
bzw. 180 Grad beträgt.20
Dieses Beispiel mag auf den ersten Blick banal erscheinen. Es zeigt aber die
systematische Herausforderung auf, die den kantischen Begriff der Darstellung
prägen wird, sobald auch die dritte Rahmung von Kants kleiner Theorie der
Mathematik in Rechnung gestellt wird: Kant geht in seiner kritischen Philo-
sophie davon aus, dass Begriffe stets allgemein sind und Anschauungen singulär,
da sie einzelne Gegenstände vorstellig machen.21 Wir haben es also – im Bei-
spiel gesprochen – auf der einen Seite mit dem allgemeinen Begriff des Drei-
ecks und auf der anderen mit einem einzelnen, arbiträren Dreieck zu tun, so
dass es geradezu unmöglich scheint, zu einem Begriff eine ‚korrespondierende
Anschauung‘ zu finden.22 Wäre dies Kant letztes Wort, dann würde er mit John

20 Das von Kant gewählte Beispiel des Beweises des Satzes von der Winkelsumme im Drei-
eck zeigt, dass es ihm im Grunde um eine Theorie des material-anschaulichen Schließens
im reflektierenden Vollzug der Konstruktion geht, das von der formal-logischen Form der
Deduktion zu unterscheiden wäre. Daher betont Kant auch, dass sich in der Konstruktion
„eine Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden
und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage“ (AA 03, 471/KrV, B 744f.) ergebe, vgl. in
der Kritik der Urteilskraft auch AA 05, 343/KU, B 241. Diese These plane ich in einem aus-
führlichen Essay zum philosophischen Beispiel des Dreiecks von Descartes bis Hegel
auszuführen.
21 Vgl. die klassische Definition in Kants Logik, in: Kants gesammelte Schriften, Bd. 9: Logik.
Physische Geographie. Pädagogik, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Berlin/Leipzig, 1923, S. 91. Neben der Singularität führt Kant an anderen
Stellen auch die Unmittelbarkeit als Charakteristikum der Anschauung an, vgl. AA 03, 49/
KrV, B 33. Ich gehe auf die Unmittelbarkeit, die sich auf die Gebung des Gegenstands der
Anschauung bezieht, hier nicht weiter ein, weil die Darstellung nicht so sehr auf diesem
Bezug auf den Gegenstand, sondern auf der Reflexion und Vermittlung der Anschauung
beruht.
22 Scheinbar behauptet Kant im sogenannten Schematismus-Kapitel genau dies: „Dem Be-
griffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein.
Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser
für alle, recht- oder schiefwinklichte ec., gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser
Sphäre eingeschränkt sein.“ (AA 03, 136/KrV, B 180). Die Forschungsliteratur hat darin

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 201

Locke und George Berkeley folgern müssen, dass der Mathematiker zuallererst
Erkenntnisse über einzelne anschauliche Gegenstände wie dieses eine Dreieck
gewinnt, die in einem zweiten Schritt zu verallgemeinern wären.23 Ganz im
Gegenteil behauptet Kant jedoch, dass der Mathematiker insofern allgemeine
Aussagen in der Anschauung beweisen kann, als er sich zu seinen Begriffen
‚korrespondierende Anschauungen‘ verschaffen kann, indem er sie kurzer-
hand selbst konstruiert. Dem Mathematiker soll es so gelingen, zwischen dem
allgemeinen Begriff und der einzelnen Anschauung zu vermitteln. Und zwar
nicht in dem Sinne, dass ein allgemeiner Begriff auf eine einzelne Anschauung
angewandt und beispielsweise eine geometrische Figur als Dreieck bestimmt
wird. Vielmehr muss die Allgemeinheit des Begriffs veranschaulicht und in
einer einzelnen Anschauung gleichsam greifbar werden:

Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung er-
fordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Objekt ist, aber nichts desto-
weniger, als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung)
Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Be-
griff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.24

Dem Mathematiker soll damit gelingen, was nach den Voraussetzungen von
Kants kritischer Philosophie prima facie unmöglich scheint, „das Allgemeine
im Besonderen, ja gar im Einzelnen“25 zu sehen.
Um zu erklären, wie dies möglich ist, führt Kant den Begriff der Darstellung
ein, der in der Kritik der reinen Vernunft noch weitgehend mit der Konstruktion
gleichgesetzt wird. Der für Kants Konzeption der Darstellung zentrale Satz
lautet – verkürzt zitiert – wie folgt: „Die einzelne hingezeichnete Figur ist

immer wieder einen Widerspruch zu Kants Konzeption der Darstellung des Begriffs des
Dreiecks gesehen. Jedoch löst sich dieser vermeintliche Widerspruch auf, wenn die Dar-
stellung des Begriffs in der Anschauung unterschieden wird von der Bestimmung der An-
schauung durch den Begriff, von der das Schematismus-Kapitel handelt.
23 Locke nimmt einen Prozess der ‚Habitualisierung‘ der Erkenntnis durch die faktische
Wiederholung und eine schließlich eintretende Erwartung der Evidenz im Einzelfall an,
um die Allgemeinheit der mathematischen Erkenntnis zu erklären, wohingegen Berkeley
zu diesem Zweck auf einen Zeichenbegriff setzt, der die Abstraktion von den singulären
Eigenschaften dieses einen Dreiecks begründen soll, vgl. John Locke, An Essay Concerning
Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford, 1975, S. 527–530 bzw. Book IV,
Chapter 1, Section 8–9 und The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, Bd. 2: The
Principles of Human Knowledge […], hg. von A.A. Luce und T. E. Jessop, London/New York,
1949, S. 33–35 bzw. Introduction, §15–16. Ich werde diesen Argumentationen in dem ge-
planten Essay zum philosophischen Beispiel des Dreiecks detaillierter nachgehen.
24 A A 03, 469/KrV, B 741.
25 Ebd., KrV, B 742.

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202 Arno Schubbach

empirisch und dient gleichwohl, den Begriff unbeschadet seiner Allgemein-


heit auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung immer nur auf
die Handlung der Construktion des Begriffs […] gesehen“26 wird. Offenbar
ist es für Kant also entscheidend, dass Begriff und Anschauung hier nicht
losgelöst voneinander gegeben sind und sich unvermittelt gegenüberstehen;
vielmehr haben wir es mit einem Prozess der Konstruktion zu tun, innerhalb
dessen die Anschauung des einzelnen Dreiecks betrachtet wird und ihre all-
gemeine Bedeutung gewinnen kann.27 Es finden dabei zwei Prozesse zugleich
statt: Unter Voraussetzung eines mathematischen Begriffs bringt der Geo-
meter eine Anschauung hervor, die unter diesen Begriff fällt, und konstruiert
also beispielsweise ausgehend vom allgemeinen Begriff ein konkretes Dreieck.
Durch eine solche Herstellung einer Anschauung würde der Begriff jedoch nur
instanziiert und nicht dargestellt, denn es bliebe unerklärlich, wie der Geo-
meter anhand dieses einzelnen Dreiecks eine allgemeine Aussage über Drei-
ecke beweisen kann. Es kommt daher auf die Verknüpfung mit einem zweiten
Prozess an, auf den reflektierenden Vollzug, der das im Entstehen begriffene
Dreieck auf die ‚Handlung der Konstruktion‘ und zugleich auf ihre allgemeine
Regel bezieht. Im reflektierenden Vollzug der Konstruktion stellt sich so im
einzelnen Dreieck sein allgemeiner Begriff dar.
Der Begriff der Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft geht so mit drei
entscheidenden Akzentuierungen einher. Kant nimmt erstens eine spezifische
Prozessualisierung des Begriffs vor, den er hier nicht mehr vorrangig als eine
allgemeine Vorstellung auffasst, die sich vermittels einiger weniger Attribute
auf viele Gegenstände bezieht. Mit Blick auf die mathematische Praxis begreift
Kant den Begriff stattdessen als Regel zur Konstruktion einer Figur, die tatsäch-
lich ausgeführt werden muss, wenn wir etwas über den Begriff herausfinden
möchten. Dieser Operationalisierung des Begriffs entspricht, zweitens, eine
veränderte Auffassung der Anschauung. Sie gibt nun nicht mehr einfach einen
einzelnen Gegenstand, der unter einen allgemeinen Begriff zu subsumieren
wäre, sondern soll im Zuge ihrer Konstruktion diesen Begriff „unbeschadet
seiner Allgemeinheit“28 veranschaulichen. Es ist letztlich ein spezifischer Ge-
brauch der Anschauung, durch den ein allgemeiner Begriff vor Augen geführt
werden kann, der selbst als operationale Regel zu verstehen ist. Drittens be-
ruht diese Darstellung des Begriffs aber auf einer Operationalisierung von Be-
griff und Anschauung, die zugleich als ein reflexiver Vollzug zu verstehen ist:
Eine allgemeine Regel zur Konstruktion von Figuren kann in einer einzelnen,

26 Ebd., KrV, B 741f.


27 So auch Shabel, Mathematics in Kant’s Critical Philosophy, S. 94.
28 A A 03, 469/KrV, B 742.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 203

in Konstruktion befindlichen Anschauung nur vor Augen geführt werden, in-


sofern im Vollzuge der Konstruktion zugleich auf ihre Regel reflektiert wird.
Ohne den reflektierenden Vollzug oder zumindest Nachvollzug der Konstruktion
sehen wir nämlich lediglich dieses Dreieck, das unter den allgemeinen Begriff
des Dreiecks fallen mag, ihn aber keineswegs darstellt.
Der Begriff der Darstellung konzipiert in der Kritik der reinen Vernunft so
auf anspruchsvolle Weise eine komplexe mathematische Praxis. Dabei zeigt
er gewisse Gemeinsamkeiten mit Menninghaus’ Verständnis des Begriffs.
Darstellung ist schon im epistemischen Kontext der Kritik der reinen Ver-
nunft konstitutiv durch ihren reflexiven Grundzug gekennzeichnet, sodass
hier bereits angelegt scheint, was Menninghaus mit Bezug auf die geradezu
topische Darstellung des Undarstellbaren in der Kritik der Urteilskraft als „Fort-
setzung oder potenzierende Erweiterung um neue reflexive Dimensionen“29
versteht, die sich im klopstockschen Begriff allenfalls andeuten. Aber auch
Menninghaus’ These eines ‚Paradigmenwechsels‘ von der aufklärerischen
Semiotik zur Konzeption der Darstellung hat bereits für die Kritik der reinen
Vernunft durchaus große Plausibilität. ‚Darstellung‘ meint schließlich keine
Repräsentation einer Vorstellung durch ein Zeichen. Am Beispiel gesprochen
repräsentiert dieses einzelne Dreieck nicht wie ein beliebiges Zeichen einen
Begriff, mit dem es nichts gemein hat. Es ist selbst ein Dreieck und instanziiert
den Begriff, es veranschaulicht ihn aber darüber hinaus und stellt in sich
dar, was den Begriff ausmacht. Die Darstellung ist daher keine arbiträre Be-
zeichnung, sondern eine Verkörperung des Begriffs.30
Die kantische Konzeption der Darstellung begründet so, wie sich der
Mathematiker derart der Anschauungen bedienen kann, dass sie seinen
allgemeinen Begriffen ‚korrespondieren‘. Kant setzt dabei voraus, dass
mathematische Begriffe als allgemeine Regeln zur Konstruktion von einzelnen
Anschauungen fungieren, die sie instanziieren, vermittels eines reflektierenden
Vollzugs der Konstruktion aber zugleich auch in ihrer Allgemeinheit darzu-
stellen vermögen. Unter den Vorzeichen der Korrespondenz geht Kant also

29 Menninghaus, „‚Darstellung‘“, S. 216.


30 Allerdings benennt Kant diese systematische Differenz erst in der Kritik der Urteils-
kraft, wenn er die Hypotyposen erläutert als „Darstellungen (exhibitiones): nicht bloße
Charakterismen, d.i. Bezeichnungen der Begriffe durch die begleitende sinnliche Zeichen,
die gar nichts zu der Anschauung des Objects Gehöriges enthalten, sondern nur jenen
nach dem Gesetze der Association der Einbildungskraft, mithin in subjectiver Absicht
zum Mittel der Reproduction dienen“ (AA 05, 352/KU, B 255). Diese systematische
Differenz zwischen Darstellung und Bezeichnung ist schon deshalb wichtig, weil der
Mathematiker über diejenigen „Eigenschaften, die in diesem Begriffe nicht liegen, aber
doch zu ihm gehören“ (AA 03, 472/KrV, B 746), nur durch die Verkörperung des Begriffs in
seiner Darstellung belehrt werden kann.

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204 Arno Schubbach

von einer ausgesprochen engen Verzahnung des Allgemeinen und des Be-
sonderen aus. Es ist diese Annahme, die die Kritik der Urteilskraft, wie wir im
ersten Abschnitt gesehen haben, nicht mehr teilt und teilen kann, wenn es ihr
um Begriffe und Ideen geht, die keinen ähnlich engen Bezug zur einzelnen An-
schauung haben. Woran Kant aber festhalten wird, ist der Grundgedanke, dass
„das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen“31 angeschaut werden
kann, wenn wir die einzelne Anschauung in einem reflektierten Vollzug ins
Verhältnis setzen zu allgemeinen Begriffen.

Darstellung und Leben in der Kritik der Urteilskraft

Im Folgenden möchte ich also zeigen, wie Kant den Begriff der Darstellung in
der Kritik der Urteilskraft ausgehend von den Grundbestimmungen der Kritik
der reinen Vernunft entfaltet. Ich werde daher nachweisen, wie die ästhetischen
Formen der Darstellung an den älteren Begriff zum einen anschließen und ihn
zum anderen erweitern und vertiefen. Der gemeinsame Zug aller Formen der
Darstellung wird dabei stets der reflektierte Vollzug sein, durch den die An-
schauung etwas Allgemeines oder einen Begriff darstellen kann. Ein erster
Unterschied wird dagegen sein, dass die Formen der Darstellung, die die Kritik
der Urteilskraft analysiert, nicht mehr wie die mathematische Darstellung
von einem Begriff ausgehen, der zugleich die Konstruktion der im Zentrum
stehenden Anschauung anleitet, sondern von Anschauungen, die zualler-
erst eine „reflectirte Wahrnehmung“32 anregen und so auf einen Begriff hin-
führen sollen, als dessen Darstellung sie schließlich erfahren werden. Kant
konzipiert dabei Formen der Reflexion, die nicht nur keinen ‚konstruktiven
Begriff‘ voraussetzen, sondern auch hinführen können auf Ideen, bei denen
jede ‚Korrespondenz‘ zu einer Anschauung per se unmöglich ist. In diesem
Sinne hatte Kant in Anmerkung I zu Paragraph 57 die Erweiterung des Begriffs
der Darstellung vorgezeichnet, diese systematische Perspektive prägt aber
auch schon die vorangehenden Analytiken des Schönen und des Erhabenen,
die Kant daher auch so zusammenfasst, dass „das Schöne für die Darstellung
eines unbestimmten Verstandesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen
Vernunftbegriffs genommen“33 werden kann.
Diese Formulierung ist aus dem Zusammenhang gerissen kaum verständlich
zu machen. Sie weist aber doch auf einige Grundzüge des Darstellungsbegriffs

31 A A 03, 469/KrV, B 742.


32 
A A 05, 191/KU, B XLVI.
33 
A A 05, 244/KU, B 75.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 205

in der Kritik der Urteilskraft voraus, die ich zur Orientierung über das Folgende
kurz benennen möchte. Der erste wichtige Aspekt ist nochmals darin zu
sehen, dass die Darstellung hier über die Grenzen der Erkenntnis hinausgeht.
Denn ein ‚unbestimmter‘ Begriff ermöglicht offenbar keine Erkenntnis, da er –
selbst unbestimmt – weder eine Anschauung zu bestimmen vermag, noch
in Korrespondenz zu einer Anschauung stehen kann. Diese Ausweitung des
Darstellungsbegriffs über die Erkenntnis hinaus ist jedoch mit Bedacht zu
verstehen. Denn Kant behauptet keineswegs, diese Formen der Darstellung
hätten nichts mehr mit Erkenntnis zu tun. Die Beschreibung, dass sich im
Schönen und Erhaben, wenn auch unbestimmte, Verstandes- und Vernunft-
begriffe darstellen, deutet doch vielmehr darauf hin, dass diese Darstellungen
einen Bezug zwischen den Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit, Verstand und
Vernunft herstellen, und nimmt vorweg, dass das Schöne und das Erhabene
zwar zu keiner Erkenntnis führen, deshalb aber noch keineswegs ohne jeden
Bezug zur Erkenntnis überhaupt sind. Bei genauerer Betrachtung wird sich
sogar zeigen lassen, dass sie eine recht enge Verbindung zur Erkenntnis haben.
Der zweite wichtige Aspekt ist darin zu sehen, dass diese Verbindung gerade
darauf beruht, dass das Schöne und das Erhabene nicht die Struktur der
objektiven Erkenntnis, sondern die eines reflektierenden Urteils haben. Kant
betont immer wieder, dass das ästhetische Urteil über das Schöne oder das Er-
habene nicht wie ein Erkenntnisurteil zuallererst ein Urteil über ein Objekt ist,
das wir wahrnehmen oder imaginieren. Wie die mathematische Darstellung
ist das ästhetische Urteil in seinem Kern vielmehr ein reflektierter Vollzug auf
die Tätigkeit des Erkenntnissubjekts. Die Reflexion auf die „Handlung“34, von
der Kant schon mit Bezug auf die mathematische Darstellung sprach, kann
im Falle der ästhetischen Formen der Darstellung jedoch keiner Handlung
gelten, die wie die ‚Konstruktion des Begriffs‘ durch einen bestimmten Begriff
angeleitet ist. Vielmehr kann die Anschauung in Ermangelung eines voraus-
gesetzten Begriffs reflektierend lediglich in Bezug zur allgemeinen Tätigkeits-
form von Verstand und Vernunft gesetzt werden, die Kant in der zitierten
Formulierung als unbestimmten Verstandes- respektive Vernunftbegriff fasst.35

34 A A 03, 469/KrV, B 742.


35 Dass hier nicht einzelne Vorstellungen, Anschauungen oder Begriffe, sondern die Tätig-
keitsformen der Erkenntnisvermögen aufeinander bezogen werden, hat Kant vielleicht
zu der fragwürdigen Formulierung verleitet, es würden hier Vermögen ‚subsumiert‘:
„[D]er Geschmack als subjective Urtheilskraft enthält ein Princip der Subsumtion, aber
nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder
Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d.i. den Ver-
stand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zu-
sammenstimmt“ (AA 05, 287/KU, B 146).

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206 Arno Schubbach

Das ästhetische Urteil begründet sich nur im Bezug einer Anschauung auf die
allgemeine Tätigkeitsform der Erkenntniskräfte sowie ihre wechselseitigen
Verhältnisse untereinander. Im Schönen als Darstellung eines unbestimmten
Verstandesbegriffs erfahren wir insbesondere, dass Anschauung und Verstand
zusammenpassen, was natürlich jede empirische Erkenntnis voraussetzen
muss. Insofern belehrt uns das Schöne nach Kants Analyse über eine wesent-
liche subjektive Bedingung der Erkenntnis.36
Schieben wir die Frage auf, warum eine solche Belehrung vor dem Hinter-
grund der Kritik der reinen Vernunft überhaupt nötig sein sollte, dann sind
wir bei einem leitenden Gedanken der Kritik der Urteilskraft angelangt, der
insbesondere für die Definition der ästhetischen Formen der Darstellung ent-
scheidend ist. Als ‚ästhetisch‘ kennzeichnet Kant ganz allgemein dasjenige an
Vorstellungen, das wir auf das Subjekt und seine Vermögen beziehen können,
das aber nichts zur objektiven Erkenntnis des Gegenstands der Vorstellungen
beizutragen vermag:

Was an der Vorstellung eines Objects bloß subjectiv ist, d.i. ihre Beziehung auf
das Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Beschaffen-
heit derselben; was aber an ihr zur Bestimmung des Gegenstandes (zum Er-
kenntnisse) dient oder gebraucht werden kann, ist ihre logische Gültigkeit.37

Ganz in diesem Sinne ist die Erweiterung des Darstellungsbegriffs um


ästhetische Formen der Darstellung zu verstehen: Indem die Anschauungen
reflektiert und auf die Tätigkeitsformen von Verstand und Vernunft bezogen
werden, werden Vorstellungen gerade nicht auf Objekte, sondern auf das
Subjekt bezogen, sodass die Begriffe, die sich in der Anschauung darstellen,

36 Mit Blick auf die mathematische bzw. geometrische Darstellung sei angemerkt, dass auch
sie auf eine Bedingung der Erkenntnis abzielt, insofern im Vollzuge der Konstruktion
von Figuren nicht nur auf deren spezifische Regel, sondern auch auf das ‚Medium‘ ihrer
Ausführung reflektiert werden kann. Nur in dieser Form können wir also den Raum, der
selbst weder Begriff noch Gegenstand, sondern eine Form der Anschauung und als solche
eine Bedingung aller Erkenntnis ist, fassen, vgl. Schubbach, „Kants Konzeption der geo-
metrischen Darstellung“, S. 52f.
37 A A 05, 188f./KU, B XLII, vgl. auch AA 05, 203/KU, B 4. Bereits in der Kritik der reinen
Vernunft spricht Kant von „Transzendentaler Ästhetik“, wo er die Beziehung des Gegen-
stands auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit behandelt. Jedoch versteht er die Formen
der Anschauungen, Raum und Zeit, als Bedingungen der empirischen Erkenntnis und
ihrer Gegenstände, sodass hier nicht – wie in der Kritik der Urteilskraft – als ‚ästhetisch‘
bezeichnet wird, was nichts zur Bestimmung des Gegenstands der Erkenntnis beitragen
kann. Vgl. zu diesen „two senses of ‚aesthetic‘“ auch Paul Guyer, Kant and the Claims of
Taste, Cambridge, MA/London, 1979, S. 71f.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 207

letztlich Aufschluss geben über unsere Vermögen und das wechselseitige Ver-
hältnis ihrer Tätigkeiten.
Die Erweiterung des Darstellungsbegriffs in der Kritik der Urteilskraft hat
daher wenig zu tun mit einem inhaltlichen Übergang von den Wissenschaften
zu den schönen Künsten, wobei die Struktur der gegenständlichen Erfahrung
beibehalten würde und ästhetische Erfahrung als solche von schönen Gegen-
ständen zu spezifizieren wäre. Aus Kants Sicht ist vielmehr entscheidend, dass
es sich bei Darstellungen um Formen der Erfahrung handelt, die – im Unter-
schied zur objektiven Erkenntnis – durch ihren reflektierenden Grundzug
ausgezeichnet sind und sich dadurch auf das Subjekt der Erfahrung und seine
Vermögen beziehen. Mit den ästhetischen Formen der Darstellung handelt
Kant also nicht von äußeren, öffentlich wahrnehmbaren Repräsentations-
formen der schönen Künste, wie theatralen Aufführungen, gemalten Bildern
oder literarischen Texten, sondern von selbstbezüglichen Formen der Er-
fahrung, die zwar von der Wahrnehmung ihren Ausgang nehmen, die uns aber
letztlich mit uns selbst konfrontieren.

Das Schöne

Kants Formulierung, das Schöne könne als ‚Darstellung eines unbestimmten


Verstandesbegriffs‘ verstanden werden, habe ich einleitend bereits dahin-
gehend interpretiert, dass im reflektierenden Vollzug der Wahrnehmung von
Schönem erfahren wird, dass die Anschauung zur Tätigkeitsform des Verstandes
passt. Warum dies gerade vor dem Hintergrund der Kritik der reinen Vernunft
keine Trivialität ist, wird aber nur verständlich, wenn der systematische Aus-
gangspunkt der Kritik der Urteilskraft benannt wird. Bereits in der Kritik der
reinen Vernunft nimmt die Urteilskraft die Aufgabe wahr, zwischen Verstand
und Sinnlichkeit zu vermitteln, indem sie Begriffe auf die Anschauungen und
ihre einzelnen Gegenstände anwendet. Kant geht dabei wie selbstverständlich
davon aus, dass der Urteilskraft die anzuwendenden Begriffe durch den Ver-
stand gegeben sind, und zeigt, dass die allgemeinsten Begriffe des Verstandes
nicht nur Bedingungen der subjektiven Tätigkeit, sondern auch Bedingungen
der objektiven Gegenstände der Erkenntnis sind.38 Die Kritik der Urteilskraft
führt neben dieser Tätigkeit der ‚bestimmenden Urteilskraft‘ die Aufgabe der

38 Die viel zitierte Formulierung Kants lautet: „[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Er-
fahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Er-
fahrung und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori“
(AA 03, 145/KrV, B 197).

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208 Arno Schubbach

‚reflektierenden Urteilskraft‘ ein: Ihr sind keine Begriffe vorgegeben, so dass


sie die Begriffe, die sie auf gegebene Anschauungen anwenden kann, ge-
zwungenermaßen zuallererst finden muss.39 Dies ist deshalb möglich und not-
wendig, weil sie nicht wie die bestimmende Urteilskraft auf die Gegenstände
der Erkenntnis überhaupt abzielt, sondern von den konkreten und spezifischen
Gegenständen ausgeht, mit denen es die empirische Erkenntnis zu tun hat. Um
diese Gegenstände zu begreifen und zu erkennen, bedarf es auch allgemeiner
Begriffe, die aber nicht wie die allgemeinsten Begriffe für Gegenstände der
Erkenntnis überhaupt vorausgesetzt, sondern als empirische und spezifische
Begriffe für bestimmte Erkenntnisgegenstände zuallererst gefunden und aus-
gewiesen werden müssen. Die reflektierende Urteilskraft bewegt sich anders
formuliert so zwar innerhalb des transzendentalen Rahmens der Erkenntnis
überhaupt, stellt sich aber der Herausforderung der verschiedenen Formen
der empirischen Erkenntnis und ihrer jeweils spezifischen Gegenstände.40
Diese auf den ersten Blick weithergeholte Beobachtung ist wesentlich
für ein angemessenes Verständnis der Analytik des Schönen. Denn mit der
Konzeption des Schönen versucht Kant eine Antwort auf die philosophische
Herausforderung zu finden, die er in der Aufgabe der reflektierenden Urteils-
kraft gegeben sieht. Kant hält es prinzipiell für nicht beweisbar, dass wir stets
angemessene allgemeine Begriffe finden können, um die empirischen Dinge
zu begreifen, weil eben nur die allgemeinsten Begriffe des Verstandes als not-
wendige Bedingungen der Erkenntnis und ihrer Gegenstände gerechtfertigt
werden können.41 Der reflektierenden Urteilskraft bleibt daher in ihrer Tätig-
keit nichts anderes übrig als anzunehmen, dass sie stets empirische Begriffe
finden kann, um die besonderen empirischen Gegenstände zu erkennen, ohne
davon ausgehen zu können, dass es solche Begriffe geben muss. Diese Annahme
nennt Kant das „Princip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnißvermögen“,42
weil er als ‚zweckmäßig‘ solche empirischen Gegenstände bezeichnet, für
die die Urteilskraft angemessene empirische Begriffe zu finden vermag.43
Bei diesem Prinzip handelt es sich insofern um ein „subjectives Princip“

39 Vgl. den locus classicus in AA 05, 179/KU, B XXVf.


40 Vgl. AA 05, 181–186/KU, B XXIX–XXXVIII sowie zur Erläuterung dieses systematischen
wie historischen Zusammenhangs unter Einbeziehung von Kants Verständnis des
Schönen: Arno Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst
Cassirers Kulturphilosophie, Hamburg, 2016, S. 147–206.
41 Vgl. AA 05, 186f./KU B XXXVIIIf.
42 A A 05, 184/KU, B XXXIV.
43  Ich führe den Terminus der ‚Zweckmäßigkeit‘ ein, ohne auf die verschiedenen
systematischen Zusammenhänge eingehen zu können, die für Kants Begriff und Semantik
des Zwecks prägend sind, vgl. zum Beispiel AA 05, 219f./KU, 32–34.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 209

oder eine „Maxime“44, als es – wie erläutert – eine Bedingung der Tätigkeit
der reflektierenden Urteilskraft ist, aber keine notwendige Bedingung der
Gegenstände der Erkenntnis. Letztere könnten sich daher prinzipiell dem be-
grifflichen Verständnis entziehen und dadurch eine Kluft zwischen der An-
schauung empirischer Gegenstände und dem Verstand sowie seinen Begriffen
aufreißen. Es ist diese drohende Kluft, die Kant in der Analytik des Schönen
überbrücken will. Programmatisch erklärt er daher bereits in der Einleitung zur
Kritik der Urteilskraft, dass „wir die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs
der formalen (bloß subjectiven) […] Zweckmäßigkeit ansehen“45 können, also
als Darstellung desjenigen Begriffs, den die reflektierende Urteilskraft in ihren
Bemühungen um die Erkenntnis empirischer Gegenstände annehmen muss.
Die Aufgabe der Analytik des Schönen ist damit umrissen, es muss nun
jedoch dargelegt werden, wie sich die Darstellung des Schönen vollzieht und
wie sie den Begriff der Darstellung aus der Kritik der reinen Vernunft aufgreift
und weiter entfaltet. Der reflektierende Grundzug der Darstellung lässt sich
dabei unschwer als Dreh- und Angelpunkt von Kants Analyse des „Reflexions-
Geschmacks“46 erkennen. Der Ausgangspunkt ist die „reflectirte Wahr-
nehmung“47, die zunächst die Einbildungskraft, die alle wahrgenommenen
Formen synthetisiert, dann aber auch den Verstand involviert.48 Der Verstand
übernimmt jedoch nicht die Federführung. Er enthält sich der Anwendung
von bestimmten Begriffen auf die Anschauung, sodass diese Erfahrung nicht
die Struktur einer auf Gegenstände gerichteten Erkenntnis annimmt. Statt-
dessen bleibt die Reflexion vorherrschend, und es kommt zu einem „freien
Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie unter einander, wie
es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen)“.49
Das „ästhetische Urtheil über die Zweckmäßigkeit des Objects“50 bezieht sich
daher auch nicht zuallererst auf das Objekt als solches, da es vielmehr „eine
Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie sich
nach unserer Art sie aufzunehmen richtet“.51
Diese rasche Skizze bestätigt, dass die Erfahrung des Schönen wesent-
lich auf einem reflektierenden Vollzug beruht und das mit ihr verbundene

44 A A 05, 184/KU, B XXXIV.


45  A A 05, 193/KU, B L.
46  A A 05, 214/KU, B 22.
47  A A 05, 191/KU, B XLVI.
48 Vgl. AA 03, 119f./KrV, B 150–152.
49  A A 05, 218/KU, B 29.
50  A A 05, 190/KU, B XLIV.
51  A A 05, 282/KU, B 136.

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210 Arno Schubbach

ästhetische Urteil als ein „Reflexionsurtheil“52 zu begreifen ist. Dies zeigt sich
negativ darin, dass der geschilderte Prozess gerade nicht in eine Vorstellung
münden soll, die zuallererst auf ihren Gegenstand bezogen wäre: Weder ist
die Erfahrung des Schönen eine Anschauung von etwas Schönem noch eine
Erkenntnis von einem Schönen. Positiv gesprochen ist die Erfahrung des
Schönen ein reflektierender Vollzug auf das Verhältnis der Tätigkeiten von
Einbildungskraft und Verstand, das „vermittelst des Anlasses der gegebenen
Vorstellung“53 zwar auf die Wahrnehmung bezogen, in ihr allerdings nicht
mehr, wenn auch nicht weniger als ihren Anlass haben kann.54 An Stelle einer
Vorstellung von Gegenständen kann so ein Wohlgefallen erlebt werden, das
allein im fruchtbaren Zusammenspiel der Erkenntniskräfte ihren Grund hat
und wiederum zur Aufrechterhaltung dieses Spiels der Kräfte motivieren wird.
Auch dieses Wohlgefallen ist somit vom reflektierenden Grundzug dieser Er-
fahrung gekennzeichnet. Es wird von Kant daher scharf vom Wohlgefallen am
Angenehmen unterschieden, dem etwas – wie im sinnlichen Genuss – „un-
mittelbar gefällt“55. Das Wohlgefallen am Schönen ist „nicht eine Lust des
Genusses aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion“.56
Trotz ihres grundsätzlich reflektierenden Charakters führt diese Lust
jedoch nicht in einen rein selbstzweckhaften Genuss der eigenen Tätigkeit.
Vielmehr eröffnet sich gerade in der Reflexion eine Beziehung zur Erkenntnis.
Da die Lust darauf beruht, dass die Tätigkeiten der Einbildungskraft und des

52  A A 05, 244/KU, B 74.


53  A A 05, 219/KU, B 31.
54 Diese Deutung wäre nicht nur genauer an Kants Text auszuweisen, als es hier möglich ist,
sondern auch im Zusammenhang der Debatten über Kants Verständnis des ästhetischen
Urteils zu rechtfertigen und zu präzisieren, wofür im Rahmen des vorliegenden Bei-
trags nicht genügend Raum zur Verfügung steht. Es scheint aber offensichtlich, dass die
Annäherung an die dritte Kritik unter den Vorzeichen des Begriffs der Darstellung ge-
wisse Verschiebungen mit sich bringt gegenüber der traditionellen Konzentration der
Forschungsliteratur auf das ästhetische Urteil und seinen Anspruch auf intersubjektive
Allgemeinheit. Insbesondere sollte eine nuanciertere Bewertung des ‚Anlasses‘ des
ästhetischen Urteils möglich werden. Denn es kann sich bei diesem ‚Anlass‘ der Dar-
stellung zum einen nicht um die Ursache einer psychischen ‚aesthetic response‘ handeln,
die im Sinne von Guyers Zwei-Stufen-Modell Ausgangs- und Bezugspunkt des an sie an-
schließenden ästhetischen Urteils wäre, vgl. Guyer, Kant and the Claims of Taste, S. 110–119,
denn jeder Anlass muss im Zusammenhang des reflektierenden Vollzugs der Darstellung
bereits vermittelt erscheinen. Zum anderen verliert der Anlass keineswegs jegliche Be-
deutung, was bei Hannah Ginsborgs aus der Kritik an Guyer in aller Schärfe heraus-
gearbeiteten Selbstbezüglichkeit des ästhetischen Urteils und seiner Geltung der Fall zu
sein scheint, vgl. Hannah Ginsborg, The Role of Taste in Kant’s Theory of Cognition, New
York/London, 1990, S. 28 und 195ff.
55 A A 05, 208/KU, B 12.
56  A A 05, 306/KU, B 179.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 211

Verstandes reflektierend miteinander in Bezug gesetzt werden, kann sich in ihr


auch äußern, dass diese beiden Erkenntniskräfte einander angemessen sind,
dass die Gegenstände der Anschauung zweckmäßig sind für den Verstand und
unsere Begriffe angemessen für dieselben Gegenstände: „Das Wohlgefallen am
Schönen muß von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgend einem
Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhängen“.57 Wir erfahren und be-
urteilen so als schön, was sich als prinzipiell begriffsfähig erweist, ohne dass
es auf einen Begriff gebracht würde.58 Das Schöne ist so zwar kein Gegenstand
der Erkenntnis, es belehrt uns aber über eine subjektive notwendige Annahme
der reflektierenden Urteilskraft und bestätigt die Maxime ihrer Tätigkeit zu-
mindest am exemplarischen Fall.59 Die Erfahrung des Schönen ist somit auch
in dem Sinne reflektierend, dass sie Aufschluss gewährt über die subjektiven
Bedingungen der empirischen Erkenntnis.
Kants Analyse des Schönen schließt somit insofern an den Begriff der Dar-
stellung aus der Kritik der reinen Vernunft an, als sie den reflektierenden Voll-
zug dieser Erfahrung als konstitutiv begreift. Doch zugleich entwickelt sie den
Begriff der Darstellung dahingehend weiter, dass sie einen reflektierenden
Bezug von Verstand und Einbildungskraft beschreibt, der keinen bestimmten
Begriff voraussetzt. Im Falle der mathematischen Darstellung gibt der Ver-
stand den Begriff vor, der die Einbildungskraft zur Konstruktion einer Figur
anleitet, deren Reflexion sich zu jenem Begriff zurückwendet. Verstand und
Einbildungskraft sind so eng verzahnt in der Reflexion einer Anschauung, die
jenen Begriff geradezu verkörpert und daher seine Eigenschaften darzulegen
hilft, die schließlich auch für alle Gegenstände, die sich ihm subsumieren
lassen, gelten müssen. Im Falle des Schönen ist kein Begriff vorgegeben und
führt der reflektierende Bezug der Anschauung auch nicht auf einen be-
stimmten Begriff. Vielmehr werden hier die Tätigkeit von Einbildungskraft
und Verstand aufeinander bezogen, also die Formen der figurativen Synthesis
und die Formen der begrifflichen Synthesis.60 Der reflektierende Vollzug führt

57 A A 05, 207/KU, B 11.


58 „Das Schöne erfordert […] die Vorstellung einer gewissen Qualität des Objects, die sich
auch verständlich machen und auf Begriffe bringen läßt (wiewohl es im ästhetischen
Urtheile darauf nicht gebracht wird)“ (AA 05, 266/KU, B 113).
59 Kant spricht in diesem Sinne auch von der „zweckmäßigen Übereinstimmung eines
Gegenstandes […] mit dem Verhältniß der Erkenntnißvermögen unter sich, die zu jedem
empirischen Erkenntniß erfordert werden (der Einbildungskraft und des Verstandes)“
(AA 05, 191/KU, B XLVII).
60 Es wäre auch im Falle des Schönen zu präzisieren, dass es tatsächlich nur im Vollzug zu-
stande kommt. Dies betont Kant auch deshalb, weil es keinen Begriff und keine Regel
gibt, die uns erlauben würden, über das Schöne zu urteilen, ohne „den Gegenstand un-
mittelbar an mein Gefühl der Lust und Unlust [zu] halten“ (AA 05, 215/KU, B 24). Anders

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212 Arno Schubbach

so zu einem vom Begriff freien und in diesem Sinne offenen Zusammenspiel


von Verstand und Einbildungskraft, in dem sich nicht ein bestimmter Begriff,
sondern die Form des Begrifflichen gegenüber der Anschauung als angemessen
oder vice versa diese Anschauung sich als begriffsfähig oder zweckmäßig für
jene Form respektive den ‚unbestimmten Verstandesbegriff‘ erweisen kann.
Genauer stellt sich in der Anschauung dar, worauf sich ihr reflektierender Voll-
zug an Stelle eines bestimmten Begriffs zurückwendet, was mit Blick auf das
Zusammenspiel von Verstand und Anschauung wiederum sowohl mit Bezug
auf den Begriff als auch mit Blick auf die Wahrnehmung ausgedrückt werden
kann. Daher findet Kants Behauptung, dass „das Schöne für die Darstellung
eines unbestimmten Verstandesbegriffs […] genommen“61 werden kann, ihre
komplementäre Ergänzung in der eher auf die Wahrnehmung bezogenen Re-
formulierung, dass „wir die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs der
formalen (bloß subjectiven) […] Zweckmäßigkeit ansehen“62 können.

Die ‚Belebung der Erkenntniskräfte‘ im Schönen

Kants Analyse des Schönen nimmt somit die Grundzüge des Darstellungs-
begriffs aus der Kritik der reinen Vernunft auf, um diesen Begriff zugleich zu
erweitern und zu vertiefen. Es stellt sich im Zusammenhang des vorliegenden
Bandes jedoch die Frage, inwiefern es diese Deutung erlaubt, das Schöne als
eine lebendige Darstellung zu verstehen. Zur Beantwortung dieser Frage ist
zuallererst festzustellen, dass Kant in der Analytik des Schönen nur an einigen
wenigen Stellen die Semantik des ‚Lebens‘ bemüht. Dennoch erwecken seine
Beschreibungen immer wieder den Eindruck, dass das zentrale Zusammen-
spiel von Verstand und Einbildungskraft als ein lebendiges geschildert wird.
Und zwar in dem Sinne, dass der reflektierende Vollzug der Darstellung hier
gerade nicht auf einer engen Verzahnung eines bestimmten Begriffs und
einer einzelnen Anschauung beruht, was in Kants Text oft eher mechanische
Assoziationen nahelegt, sondern vielmehr auf einem „freien Spiele der

gesagt: „[I]ch muß unmittelbar an der Vorstellung desselben die Lust empfinden, und
sie kann mir durch keine Beweisgründe angeschwatzt werden.“ (AA 05, 285/KU, B 143)
Wenn Kant in beiden Zitaten nicht nur den Vollzug der Erfahrung, sondern auch die
Unmittelbarkeit des Bezugs auf den Gegenstand betont, dann ist damit gemeint, dass
dieser Bezug durch keinen Begriff vermittelt ist. Dies widerspricht nicht der Analyse,
dass die Erfahrung des Schönen und die Lust am Gegenstand wie in jeder Darstellung
reflektierend sind.
61 
A A 05, 244/KU, B 75.
62 
A A 05, 193/KU, B L.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 213

Einbildungskraft und des Verstandes“63, das von Kant mit dem Leben und
dem Lebendigen assoziiert wird. Denn dieses ‚Spiel‘ ist nicht nur durch die
Freiheit von den Vorgaben eines Begriffs und der Absicht auf die Produktion
einer gegenständlichen Vorstellung gekennzeichnet. Es eröffnet den Vermögen
auch die Freiheit zur Betätigung in einem offenen Verhältnis gegen- und mit-
einander, die Kant zufolge eine „Belebung der Erkenntnißkräfte“64 nach sich
zieht und mit einem „Gefühl der Beförderung des Lebens“65 einhergeht. Die
Darstellung ist für Kant also, wenn vielleicht nicht lebendig, so doch be-
lebend, was sich wiederum in ihrem reflexiven Vollzug begründet und zugleich
auch das Bestreben um dessen Aufrechterhaltung motiviert: „Wir weilen bei
der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und
reproducirt“.66
Diese belebende, sich selbst erhaltende Darstellung mag dem heutigen Leser
die Vorstellung einer kontemplativen, sich selbst vertiefenden ästhetischen Er-
fahrung aufdrängen. Man sollte sich jedoch davor hüten, dieser Assoziation
in der Deutung Kants zu folgen. Kant bezieht das Schöne, wie schon mehr-
mals betont, nicht nur paradigmatisch auf die Natur statt auf die Kunst.67 Die
Erfahrung des Schönen führt trotz ihres strikt reflektierenden Vollzugs auch
über die selbstzweckhafte Kontemplation eines Kunstwerks hinaus. Denn
sie wird sich in Kants Sicht nicht zuletzt für die Erkenntnis selbst als förder-
lich erweisen, insofern sie mit einer ‚Belebung der Erkenntniskräfte‘ einher-
geht, genauer mit der „Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und
des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der ge-
gebenen Vorstellung einhelliger Thätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem
Erkenntniß überhaupt gehört“.68 Das Schöne ist somit zum einen nur mög-
lich, sofern das Ziel der Erkenntnis vorläufig ausgesetzt wird und die Freiheit
vom Begriff ein offenes Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand
erlaubt. Es ist der Erkenntnis zum anderen aber auch förderlich, weil es nicht
nur die Annahme der reflektierenden Urteilskraft am Einzelfall bekräftigt,
sondern auch eine ‚Belebung der Erkenntniskräfte‘ mit sich bringt. Der Be-
griff des Lebens verbindet so die ästhetische Form der Darstellung mit der
epistemischen Dimension der Erfahrung.

63 A A 05, 218/KU, B 29.


64 A A 05, 222/KU, B 37.
65 A A 05, 244/KU, B 75.
66 A A 05, 222/KU, B 37. Einige Zeilen zuvor spricht Kant in dieser Hinsicht auch von einer
„inneren Causalität“ der Lust.
67 Vgl. mit Bezug auf das Schöne AA 05, 236, Anm./KU, B 61, Anm. und mit Bezug auf das
Erhabene AA 05, 252f./KU, B 88–90.
68  A A 05, 219/KU, B 31.

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214 Arno Schubbach

Das Erhabene

Kants schon zitierte Formulierung, derzufolge „das Schöne für die Darstellung
eines unbestimmten Verstandesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen
Vernunftbegriffs genommen“69 werden könne, legt nah, das Erhabene weit-
gehend parallel zum Schönen zu deuten. Tatsächlich bestätigt sich rasch, dass
die Erfahrung des Erhabenen wiederum auf einem reflektierten Vollzug be-
ruht, der zunächst von Anschauung und Einbildungskraft ausgeht und sodann
eines der höheren Erkenntnisvermögen involviert, dessen Tätigkeitsform sich
schließlich in Gestalt eines unbestimmten Begriffs darzustellen vermag. Vor
dem Hintergrund dieser gemeinsamen Struktur müssen die verschiedenen
Momente der Darstellung des Erhabenen jedoch zugleich scharf vom Schönen
unterschieden werden.
Bereits die ‚reflektierte Wahrnehmung‘ nimmt im Falle des Erhabenen eine
andere Form an als beim Schönen. Genauer nimmt die Wahrnehmung keine
bestimmte Form an, weil die Einbildungskraft es im Falle des Erhabenen mit
Gegenständen zu tun hat, die „schlechthin groß“70 sind, sodass sie bei ihrem
Versuch, die Gestalt des Wahrgenommenen zu synthetisieren, an Grenzen ge-
rät: „[E]s ist hier ein Gefühl der Unangemessenheit seiner Einbildungskraft
für die Idee eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft
ihr Maximum erreicht“.71 Anders als im Schönen scheitert die Einbildungs-
kraft letztlich, da sich zu große Gegenstände für ihre synthetische Tätigkeit als
‚zweckwidrig‘ erweisen, sodass auch kein Zusammenspiel mit dem Verstand
zustande kommen kann, das die Form des angeschauten Gegenstands voraus-
setzen würde.
Das Scheitern der Einbildungskraft wäre jedoch eine bloße Sackgasse,
würde es nicht ein anderes Erkenntnisvermögen involvieren und also
wiederum Teil eines reflektierenden Vollzugs über die bloße Wahrnehmung
hinaus sein. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die ‚Idee eines Ganzen‘. Denn die
Einbildungskraft scheitert daran, einen Gegenstand der Wahrnehmung im
Ganzen zu synthetisieren und anzuschauen, den die Vernunft unter Maßgabe
ihrer eigenen Ideen aber doch als Ganzes denken kann. So erweist sich die

69 
A A 05, 244/KU, B 75. Wie Kant auch erläutert, liegt in beiden somit ein „Reflexionsurtheil“
vor, in dem das Wohlgefallen „auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen wird;
mithin das Wohlgefallen an der bloßen Darstellung oder dem Vermögen derselben ge-
knüpft ist, wodurch das Vermögen der Darstellung oder die Einbildungskraft bei einer
gegebenen Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe des Verstandes oder der Vernunft,
als Beförderung der letztern, in Einstimmung betrachtet wird.“ (AA 05, 244/KU, B 74)
70 A A 05, 248/KU, B 80.
71  A A 05, 252/KU, B 88.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 215

„Unzweckmäßigkeit des Vermögens der Einbildungskraft doch für Vernunft-


ideen und deren Erweckung als zweckmäßig“.72 Das Scheitern der Einbildungs-
kraft bildet also den angemessenen Einsatz für das Vorhaben der Vernunft,
das Ganze und Unbedingte der Erfahrung zu denken. Im Falle des Erhabenen
geht es so wie beim Schönen nicht um eine gegenständliche Erfahrung, die
von der ‚reflektierten Wahrnehmung‘ gleichsam ausgelöst würde. Vielmehr
fungiert der Gegenstand der Einbildungskraft, im Scheitern wie im Gelingen,
im konstitutiv reflektierenden Vollzug der Darstellung als Mittel dieser Dar-
stellung. Im Falle des Erhabenen betont Kant so, dass der für die Einbildungs-
kraft „unzweckmäßige Gegenstand“ mit Bezug auf die Tätigkeit der Vernunft
„subjectiv-zweckmäßig gebraucht“ wird.73 Dadurch kommt es schließlich zur
Darstellung eines ‚unbestimmten Vernunftbegriffs‘ respektive der „Ideen der
Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist,
eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege
gemacht und ins Gemüth gerufen werden“.74 Es bestätigt sich also, dass der
reflektierende Vollzug der Darstellung entscheidend ist, damit sich in der An-
schauung allgemeine, wenn auch unbestimmte Begriffe darstellen können,

72  A A 05, 260/KU, B 101. Ausführlich schildert Kant: „[S]o wie die Einbildungskraft und
Verstand in der Beurtheilung des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Ein-
bildungskraft und Vernunft hier durch ihren Widerstreit subjective Zweckmäßigkeit der
Gemüthskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben,
oder ein Vermögen der Größenschätzung, dessen Vorzüglichkeit durch nichts anschaulich
gemacht werden kann, als durch die Unzulänglichkeit desjenigen Vermögens, welches in
Darstellung der Größen (sinnlicher Gegenstände) selbst unbegränzt ist“ (AA 05, 258/KU,
B 99).
73 A A 05, 280/KU, B 133. Dass die Anschauung als Mittel ‚gebraucht‘ wird, spiegelt sich auch
darin wider, dass ihr Gegenstand für die Aufgabe der Darstellung geeignet sein muss,
dass in Kants Worten „der Gegenstand zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die
im Gemüthe angetroffen werden kann“ (AA 05, 245/KU, B 76). Dass Darstellungen von
einer geeigneten Anschauung Gebrauch machen, ist ein durchgängiges Charakteristikum
der Darstellung bei Kant. Ich habe dies bereits für die geometrische Darstellung in der
Kritik der reinen Vernunft zu zeigen versucht, vgl. Schubbach, „Kants Konzeption der
geometrischen Darstellung“, S. 30f. Und Kant selbst deutet für das Schöne – im Unter-
schied zum Angenehmen – an, „daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst
mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme,
um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack“ (AA 05, 205/KU, B 6).
Insofern setzt das Schöne die „Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der
Lust zu machen“ (AA 05, 210/KU, B 15), voraus.
74 
A A 05, 245/KU, B 77. Anders gesagt müssen „unsere Einbildungskraft in ihrer ganzen
Gränzlosigkeit und mit ihr die Natur als gegen die Ideen der Vernunft, wenn sie eine
ihnen angemessene Darstellung verschaffen soll, verschwindend vor[ge]stellt“ (AA 05,
257/KU, B 96) werden.

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216 Arno Schubbach

die als solche selbst niemals unmittelbare Gegenstände der Anschauung sein
können.
Der reflektierende Aspekt des Erhabenen ist wie beim Schönen aber auch
dahingehend zu verstehen, dass es letztlich die Vermögen und deren Be-
ziehungen sind, über die das Subjekt in einer solchen Darstellung Aufschluss
erhält. Im Falle des Schönen steht das in jeder Erkenntnis vorausgesetzte
Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand im Zentrum und damit
letztlich der Bezug des Subjekts zu den empirischen Gegenständen seiner Er-
kenntnis, was Kant im Nachlass in folgenden Worten fasst: „Die Schöne Dinge
zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der
Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.“75 Im Erhabenen findet
sich der Mensch dagegen noch stärker auf sich selbst und seine Vermögen ver-
wiesen, genauer auf die Vernunft als dasjenige Vermögen, das den Menschen
traditionell als nicht bloß sinnliches Wesen auszeichnet: „Erhaben ist, was auch
nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab
der Sinne übertrifft. [Hvh. i. O.]“76 Es geht im Erhabenen daher weniger um die
Erkenntnis und das Verhältnis des Menschen zur Natur als um seine Fähigkeit,
sich nicht durch das Sinnliche bestimmen zu lassen, sondern über das Sinn-
liche hinauszugreifen. Die Vernunft kommt damit vor allem im ‚mathematisch
Erhabenen‘ als theoretisches Vermögen ins Spiel, das über das Erkennbare
hinaus auf die Totalität und das Unbedingte abzielt.77 Vor allem im ‚dynamisch
Erhabenen‘ rückt die Vernunft dagegen als praktisches Vermögen und damit
als Fähigkeit zur Selbstbestimmung unseres Handelns ins Zentrum.78 Es ist
letztlich also die traditionell mit der Vernunft verbundene Alleinstellung oder
Würde des Menschen gegenüber der Natur, auf die die „erhabene Darstellung“79
zurückführt.
Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, das ‚Erhabene‘ würde
dazu führen, dass der Mensch sich von der Natur abwende. Vielmehr erschließt
es ein neues Verständnis der Natur: „Man kann das Erhabene so beschreiben:
es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüth bestimmt,
sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken.

75  ants gesammelte Schriften, Bd. 16: Logik (= Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlaß,
K
Bd. 3), hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig,
1924, S. 127.
76 A A 05, 250/KU, B 85.
77 Vgl. AA 05, 255–260/KU, B 93–102.
78 Vgl. AA 05, 261f./KU, B 104f.
79 A A 05, 273/KU, B 123.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 217

[Hvh. i. O.]“80 Weil das Erhabene eine Form der Darstellung ist, führt sein
reflektierender Vollzug somit nicht auf ein rein subjektives Vermögen zurück,
sondern rückt das sinnliche Medium der Darstellung unter die Vorzeichen
der Vernunft. Anders als die Kritik der reinen Vernunft überführt die Kritik der
Urteilskraft die transzendenten Ansprüche der Vernunft also nicht in deren
regulativ-hypothetischen Gebrauch zum Zwecke der Systematisierung der Er-
kenntnisse. Vielmehr kann sie aufgrund ihrer Theorie der Darstellung darauf
beharren, dass wir uns im ‚Erhabenen‘ nicht nur der Größe unserer eigenen
theoretischen oder praktischen Vernunft bewusst werden, sondern uns diese
Größe auch in einer neuen Auffassung der Natur anschaulich machen.

Vitales, moralisches und kulturelles Leben im Erhabenen

Die Pointe dieser ästhetischen Form der Darstellung ist daher die Öffnung des
Sinnlichen gegenüber der praktischen Dimension der menschlichen Existenz,
was noch deutlicher wird, wenn wir auch die ‚erhabene Darstellung‘ auf ihre
Beziehung zum Begriff des Lebens hin befragen. Kant begreift sie wie schon
das Schöne eher als belebend denn als lebendig, wobei er jedoch verschiedene
Lebensbegriffe entwirft. Ein erster Aspekt betrifft wie beim Schönen eine ge-
wisse Vitalität des ‚Gemüts‘ und seiner Vermögen. Gegenüber der Belebung der
Erkenntniskräfte im harmonischen Zusammenspiel von Einbildungskraft und
Verstand erweist sich die ‚erhabene Darstellung‘ jedoch als wechselhaft und
daher heftiger. Im Umschlag von der Zweckwidrigkeit der Wahrnehmung für
die Einbildungskraft zu ihrer Zweckmäßigkeit für die Vernunft schlägt nämlich
die Unlust, die mit dem Scheitern der Einbildungskraft einhergeht, in die Lust
um, die das Übertreffen der Sinnlichkeit durch die Vernunftideen erregt.81 Es

80 A A 05, 268/KU, B 115. An anderer Stelle heißt es: „Buchstäblich genommen und logisch
betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden. Aber wenn wir unser empirisches Vor-
stellungsvermögen […] für die Anschauung der Natur erweitern: so tritt unausbleiblich
die Vernunft hinzu, als Vermögen der Independenz der absoluten Totalität, und bringt
die, obzwar vergebliche, Bestrebung des Gemüths hervor, die Vorstellung der Sinne
diesen angemessen zu machen. Diese Bestrebung und das Gefühl der Unerreichbarkeit
der Idee durch die Einbildungskraft ist selbst eine Darstellung der subjectiven Zweck-
mäßigkeit unseres Gemüths im Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche
Bestimmung und nöthigt uns, subjectiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung
von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objectiv zu Stande bringen
zu können.“ (AA 05, 268/KU, B 115f.)
81 „Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit
der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die
Vernunft und eine dabei zugleich erweckte Lust aus der Übereinstimmung eben dieses

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218 Arno Schubbach

resultiert daraus „das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebens-


kräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung derselben“.82
Auch im Erhabenen haben wir es insofern mit einer Darstellung zu tun,
die eine Lebendigkeit erfahrbar und bewusst macht, die Kant letztlich im
Subjekt oder im ‚Gemüt‘ verortet und als eine spezifische Vitalität seiner Ver-
mögen fasst.
Kant kommt es jedoch keineswegs auf eine Vitalität an, die in ihrem
Selbstgenuss verharrt. Die ‚erhabene Darstellung‘ zielt vielmehr wie bereits
angedeutet auf eine Verbindung der Sinnlichkeit mit der Vernunft als Selbst-
bestimmung des Menschen ab. Daher gewinnt der Lebensbegriff im Zu-
sammenhang der ‚erhabenen Darstellung‘ noch einen weiteren, praktischen
Sinn. Durch die „negative Darstellung“ im Erhabenen wird, so Kant, „die Seele
erweitert“,83 und zwar in dem Sinne, dass die Naturanschauung nicht mehr
wie in der Kritik der reinen Vernunft strikt zurückgeführt scheint auf das in den
Sinnen Gegebene und seine Synthese durch Einbildungskraft und Verstand.
Stattdessen soll die Synthese durch die Einbildungskraft nun darauf aus-
gerichtet werden, dass das Anschauliche in sich die Grenzen der Erkenntnis
oder die Ideen der Vernunft darstellen kann. Die Einbildungskraft behandelt
so „die Natur als ein Schema für die letzteren [die Ideen, Anm. d. A.]“.84 Diese
Überlegungen Kants können im Zusammenhang einer allgemeinen Ent-
wicklung der Naturanschauung gesehen werden, die bald über den engen
und leblosen Mechanismus, der auch in der Kritik der reinen Vernunft noch
vorherrscht, hinweggehen und eine organisch-lebendige Natur entwerfen
wird. Im Zusammenhang der Frage nach der Darstellung zeigen Kants Über-
legungen jedoch noch etwas anderes, sofern die angedeutete ‚Erweiterung der
Seele‘ denn als eine belebende Darstellung zu verstehen ist. Es eröffnet sich
hier nämlich ein Weg zu einer Lebendigkeit in der Perspektive der praktischen

Urtheils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen,


sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist.“ (AA 05, 257/KU, B 97)
82 A A 05, 245/KU, B 75.
83 A A 05, 274/KU, B 124.
84 Nochmals im Zusammenhang zitiert: „Die Stimmung des Gemüths zum Gefühl des Er-
habenen erfordert eine Empfänglichkeit desselben für Ideen; denn eben in der Unan-
gemessenheit der Natur zu den letztern, mithin nur unter der Voraussetzung derselben,
und der Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema für die letztern zu
behandeln, besteht das Abschreckende für die Sinnlichkeit, welches doch zugleich an-
ziehend ist: weil es eine Gewalt ist, welche die Vernunft auf jene ausübt, nur um sie ihrem
eigentlichen Gebiete (dem praktischen) angemessen zu erweitern, und sie auf das Un-
endliche hinaussehen zu lassen, welches für jene ein Abgrund ist. In der That wird ohne
Entwicklung sittlicher Ideen das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nennen, dem
rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen.“ (AA 05, 265/KU, B 110f.)

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 219

Philosophie – also die Sicht auf ein Leben, das auf Moralität in Kants Sinne
beruht und in der Selbstbestimmung des Menschen besteht.85 Ein solches
praktisches Leben der Moralität kann sich jedoch nur Geltung verschaffen,
wenn es sich gegen die Sinnlichkeit durchsetzt, indem es sich die Sinnlichkeit
zu Nutze macht, sie kultiviert und damit gegen ihre eigenen Bedürfnisse neu
ausrichtet auf die Absicht der Vernunft, sich aus Freiheit selbst zu bestimmen.
Dieses Leben ist es, auf das uns die ‚erhabene Darstellung‘ letztlich hinführen
soll, indem sie die Einbildungskraft dazu anleitet, ‚die Natur als Schema für die
Ideen‘ zu nehmen.
In der ‚erhabenen Darstellung‘ wird die Natur also zum Medium der Dar-
stellung von Ideen und letztlich der Selbstbestimmung durch die Vernunft.
Eine solche Darstellung darf jedoch nicht selbstverständlich oder gar als dem
Menschen natürlich vorausgesetzt werden, wie Kant betont, sondern bedarf
einer Kultivierung, die die „Empfänglichkeit desselben [des Gemüths, Anm.
d. A.] für Ideen“86 befördert. Sie ist aber zugleich Treibmittel einer solchen
Kultivierung, zu der der Mensch prinzipiell in der Lage ist, ohne dass sie
schlechthin angenommen werden kann.87 Die ‚erhabene Darstellung‘ ist folg-
lich im Zusammenhang eines Prozesses der Kultivierung zu begreifen, die an
der Sinnlichkeit oder Animalität des Menschen ansetzt, um sie zum Mittel und
Medium seiner Moralität und Selbstbestimmung zu machen.88
In diesem Zusammenhang können Formulierungen Kants, die den Be-
griff der Darstellung prima facie unscharf fassen, bei genauerer Betrachtung
auch dahingehend gedeutet werden, dass sie die Konsequenzen einer solchen

85 In der Kritik der praktischen Vernunft wird Leben in der Perspektive der praktischen
Philosophie wie folgt definiert: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen
des Begehrungsvermögens zu handeln.“ (AA 05, 9, Anm.) Vgl. auch Kants gesammelte
Schriften, Bd. 6: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik
der Sitten, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1914,
S. 211.
86 A A 05, 265/KU, B 110.
87 Vgl. den ganzen Paragraphen 29 in der Kritik der Urteilskraft AA 05, 264–266/KU, B 110–
113, besonders AA 05, 265/KU, B 111f.: „Darum aber, weil das Urtheil über das Erhabene der
Natur Cultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von
der Cultur zuerst erzeugt und etwa bloß conventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt;
sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur und zwar demjenigen, was
man mit dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern
kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen.“
88 Der Kulturbegriff Kants ist geradezu definiert als ein solcher Prozess der Kultivierung
des Animalischen, durch das es geeignet gemacht wird zur Moralität, vgl. dazu Wolfgang
Bartuschat, „Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit“, in: Naturplan und Verfalls-
kritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer,
Frankfurt a.M., 1984, S. 69–93.

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220 Arno Schubbach

Konzeption der Kultivierung auf den Punkt bringen. Von ‚Darstellung‘


spricht Kant nämlich nicht nur mit Bezug auf die bislang diskutierte Form
der reflektierten Wahrnehmungs- und Erfahrungsvollzüge, die sich von der
Struktur der Erfahrung von Gegenständen unterscheidet. Vielmehr bezeichnet
er mitunter auch – wie in manchem bereits angeführten Zitat – die bloße, un-
mittelbare Präsentation eines anschaulichen Gegenstands als ‚Darstellung‘
und nennt daher auch die Einbildungskraft das „Vermögen der Darstellung“.89
Eine solche Formulierung scheint insofern begrifflich unscharf, als sie die
im vorliegenden Beitrag diskutierten reflektierten Vollzugsformen der Dar-
stellung nicht unterscheidet von der basalen Ebene der figurativen Synthesis
der Anschauung durch die Einbildungskraft. Vor dem skizzierten Hintergrund
der Kultivierung des Menschen und seiner Naturanschauung kann dieselbe
Formulierung aber auch so gedeutet werden, dass die Synthese des sinn-
lichen Gegenstands, die in jeder Wahrnehmung vorausgesetzt ist, unter die
Vorzeichen ihrer Kultivierung durch die ‚erhabene Darstellung‘ gerückt wird.
Selbst die basalste Ebene der Erfahrung wäre demnach im Zusammenhang
ihrer Kultivierung zu sehen: Bereits an den Grundlagen von Wahrnehmung
und Erfahrung setzt ein Prozess der Kultivierung an, der sich in der Belebung
der Erkenntniskräfte der Animalität bedient und das Gemüt auf ein Leben der
Moralität hin orientiert. Insofern die ‚erhabene Darstellung‘ dieser Kultivierung
ebenso bedarf, wie sie sie vorantreibt, kann sie auch als eine belebende Dar-
stellung verstanden werden, die das vitale Leben auf ein praktisches Leben hin
nur orientieren kann, insofern sie sich die Ressourcen und Zeithorizonte eines
kulturellen Lebens zu Nutze macht.

Schluss

Unter dem Begriff der Darstellung analysiert Kant Formen von Erfahrung, in
denen nicht der Bezug auf den Gegenstand der Erfahrung dominant ist, sondern
ihr reflektierender Vollzug, der von der Anschauung ausgeht und zugleich Ver-
stand oder Vernunft involviert. Dadurch kann sich in der Anschauung im Falle
des Schönen ein unbestimmter Verstandesbegriff, im Falle des Erhabenen da-
gegen ein unbestimmter Vernunftbegriff darstellen. Diese ästhetischen Formen
der Darstellung eröffnen damit aber zugleich unterschiedliche Beziehungen zu
epistemischen und ethischen Dimensionen der Erfahrung: Im Schönen zeigt
sich die Zweckmäßigkeit der natürlichen Dinge für die Erkenntnisvermögen
des Subjekts – und stellt sich der Begriff der subjektiven Zweckmäßigkeit der

89 
A A 05, 244/KU, B 74.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 221

Natur dar; im Erhabenen erfahren wir gegenüber der Natur die Größe unserer
eigenen Vernunft – und werden dazu ermuntert, ‚die Natur als ein Schema‘
zur Darstellung der Ideen und letztlich unserer Freiheit zu betrachten. Für
diese Verbindungen der ästhetischen Formen der Darstellung zur Erkenntnis
und zur Selbstbestimmung des Handelns hat sich als bedeutsam erwiesen,
dass ästhetische Darstellungen eine Belebung mit sich bringen, die das vitale,
praktische und kulturelle Leben des Gemüts gleichermaßen einschließt.
Dreh- und Angelpunkt dieser Formen der Darstellung ist aber nicht der
Gegenstand, sondern der reflektierende Vollzug der Anschauung. Die Gegen-
stände der Anschauung erfahren daher nur insofern Aufmerksamkeit, als sie
zum Zwecke der jeweiligen Form der Darstellung geeignet sein müssen. Im
Zusammenhang der Analytiken des Schönen und des Erhabenen scheint der
Begriff der Darstellung daher geradezu systematisch auszuschließen, ins-
besondere künstlerische Werke nicht nur als Anlässe für ihre Erfahrung zu
verstehen, die die Form einer Darstellung annimmt, sondern sie selbst als
Darstellungen zu verstehen, deren inhärente und konkrete Verfasstheit von
prägender Bedeutung ist für ihre Erfahrung. Kants Beitrag zur Reflexion auf
die lebendige Darstellung, insofern sie sich auf die schönen Künste und die
ästhetische Erfahrung bezieht, scheint daher zumindest in dieser Hinsicht von
durchaus begrenzter Reichweite.
Diese Vermutung stützt sich allerdings allein auf die behandelten
Analytiken des Schönen und des Erhabenen. Es muss daher abschließend
geprüft werden, inwieweit die zwei Formen der Darstellung, die Kant mit
Bezug auf die Literatur und ihre „lebhafte Darstellung in Beispielen“90, die
„malerische Darstellung“91 oder die „körperliche Darstellung“92 in der Plastik
einführt, einen anderen Befund ergeben. Auf die schönen Künste geht Kant
erst in der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“ sowie in der „Dialektik
der ästhetischen Urteilskraft“ ein und diskutiert in diesem Zusammenhang die
„Darstellung ästhetischer Ideen“93 sowie die „Hypotypose (Darstellung, subiecto
sub adspectum)“94. Mit diesen beiden Formen der Darstellung verbindet Kant

90 
A A 05, 327/KU, B 217. Wo Kant meines Wissens das einzige Mal von ‚lebendiger Dar-
stellung‘ spricht, handelt es sich wohl um keine trennscharfe Formulierung. Denn die
„lebendige Darstellung der moralischen Gesinnung an Beispielen“ (AA 05, 160) meint
wohl nichts anderes als die gerade zitierte ‚lebhafte Darstellung in Beispielen‘. Letztlich
scheinen mir beide Stellen im Sinne meiner obigen Ausführung eher eine ‚belebende
Darstellung‘ denn eine ‚lebendige Darstellung‘ zu bezeichnen.
91 
A A 05, 325/KU, B 213.
92 
A A 05, 322/KU, B 208.
93 
A A 05, 314/KU, B 192. Die schönen Künste spielen jedoch auch bereits in Paragraph 17
„Vom Ideale der Schönheit“ eine zentrale Rolle, vgl. AA 05, 231–236/KU, B 53–61.
94 A A 05, 351/KU, B 255.

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222 Arno Schubbach

eine Produktionsperspektive, da hier – wie schon in der mathematischen Dar-


stellung der Kritik der reinen Vernunft – eine Anschauung gezielt zum Zwecke
der Darstellung eingesetzt wird.95 Dennoch analysiert Kant diese Formen der
künstlerischen Darstellung wie alle anderen Formen zuvor als eine Erfahrung,
die von einer Anschauung ausgeht und auf reflektierenden Vollzügen be-
ruht. Eine weitere Kontinuität ist darin zu sehen, dass auch die ‚Darstellung
ästhetischer Ideen‘ und die ‚Hypotypose‘ ihre Pointe wiederum darin haben,
dass sie Verbindungen zum Epistemischen und zum Ethischen schlagen: Wie
das Schöne unterhalten die ästhetischen Ideen Bezüge zur Erkenntnis, auch
wenn sie sich selbst der Erkenntnis entziehen; wie am Erhabenen interessiert
Kant an der Hypotypose vor allem die Beziehung zur Moralität, insofern sie
erfahrbar und wirksam werden soll. Im Folgenden beschränke ich mich auf
die ‚Darstellung ästhetischer Ideen‘, weil für deren Bezug zur Erkenntnis der
Begriff des Lebens zentral ist. Dagegen beruht der Bezug der Hypotypose zum
Sollen auf dem Begriff des Symbols, was eine Belebung durch diese Darstellung
letztlich ausschließt.96 Mit Blick auf die Frage nach der lebendigen Darstellung

95 Die kantische Produktionsperspektive ist im Falle der Kunst jedoch ungewöhnlich, da es


nicht auf die Absicht des Künstlers und die Zwecke der künstlerischen Praxis ankommt.
Vielmehr „muß die Zweckmäßigkeit im Producte der schönen Kunst, ob sie zwar absicht-
lich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein,
ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist.“ (AA 05, 306f./KU, B 180) Dies führt direkt in
Kants Genietheorie hinein, auf die ich nicht weiter eingehen kann.
96 Ich kann eine Begründung für diese Behauptung nur in aller Kürze andeuten. Bei der
‚symbolischen Hypotypose‘ haben wir es insofern mit „indirecten Darstellungen des Be-
griffs“ (AA 05, 352 / KU, B 256) zu tun, als die als Symbol fungierende Anschauung wie
ein Zeichen nichts mit dem darzustellenden Begriff gemein haben muss. Sie soll aber
anders als das Zeichen eine Reflexion auf den Zusammenhang ihrer Bestandteile in Gang
setzen, die schließlich auf den darzustellenden Begriff und seine Momente analogisch
‚übertragen‘ wird. In diesem Sinne spricht Kant von „der Übertragung der Reflexion über
einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine
Anschauung direct correspondiren kann“ (AA 05, 352f./KU, B 257). Als Beispiel nennt
Kant die Handmühle als symbolische Darstellung eines monarchischen Staats, „wenn er
durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird“ (AA 05, 352/KU, B 256). Dieses
viel diskutierte Beispiel ist so zu verstehen, dass die Vorstellung der Handmühle uns
auf das Verhältnis zwischen Kurbel und Mahlwerk reflektieren lässt, das wir als strenge
kausale Abhängigkeit des Mechanismus von der bewegenden Ursache denken müssen –
ein Verhältnis, das wir auf das Verhältnis von Herrscherwillen und monarchischem Staat
übertragen. Wie dieses Beispiel zeigt, sind das der Anschauung und dem Begriff Ge-
meinsame die „Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectiren“ (AA 05, 352/KU,
B 256). Anders gesagt operiert die symbolische Hypotypose mit Regeln, da sie „die bloße
Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem
der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“ (AA 05, 352/KU, B 256) unternimmt. Damit
ist eine belebende Darstellung im kantischen Sinne aber ausgeschlossen, da er Belebung
nur für möglich hält, wo der reflektierende Vollzug weder durch einen Begriff noch eine

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 223

übergehe ich daher die Hypotypose, auch wenn sie vor allem in der literatur-
wissenschaftlichen Forschung so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Die ‚ästhetische Idee‘, wie sie in Paragraph 49 eingeführt und in dem
bereits behandelten Paragraphen 57 nochmals diskutiert wird, ist zunächst
in Analogie und als Komplement zur ‚Vernunft-‘ oder „intellectuellen Idee“97
definiert: Beide sind als Ideen nicht der Erkenntnis zugänglich, weil sie eine
Synthese von Begriff und Anschauung unmöglich machen, was im Falle der
‚intellektuellen Idee‘ jedoch daran liegt, dass sie ein Begriff ist, dem keine An-
schauung korrespondieren kann, während wir es im Falle der ‚ästhetischen
Idee‘ mit einer Anschauung zu tun haben, die durch keinen Begriff gefasst
werden kann. Kant versteht sie so als „Vorstellung der Einbildungskraft, die
viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke,
d.i. Begriff, adäquat sein kann“.98 Wo eine unmittelbare Korrespondenz von
Begriff und Anschauung nicht möglich ist, setzt auch hier der Begriff der
Darstellung ein. Es geht Kant jedoch nicht darum, zu der ästhetischen Idee,
der kein Begriff angemessen sein kann, doch wieder einen Begriff zu finden,
der die Anschauung in irgendeinem Sinne darstellen würde. Vielmehr hält
er an der Konzeption der Darstellung fest, derzufolge sie Begriffe anschau-
lich macht, und betrachtet den Umstand, dass der ästhetischen Idee kein
Begriff angemessen sein kann, als mögliches Mittel für eine neue Form der
„Darstellung eines gegebenen Begriffs“.99 Es geht ihm dabei nicht wie in der
Mathematik um Begriffe, die qua Konstruktion durch korrespondierende An-
schauungen dargestellt werden können, sondern vielmehr um solche Begriffe,
die wie die ‚Vernunftideen‘ selbst unbestimmt sind und daher „nicht adäquat
dargestellt werden“100 können. Indem sie mit einer Anschauung verbunden
werden, die über jeden Begriff hinausgeht, wird ihnen durch die „Nebenvor-
stellungen der Einbildungskraft“101 ein ganzes Feld von sinnlichen Attributen
hinzugefügt, durch die jene Ideen veranschaulicht werden sollen. Die Unmög-
lichkeit, die ästhetische Idee durch einen Begriff zu fassen, erscheint so als die
Möglichkeit, einen Begriff respektive eine ‚Vernunftidee‘ „ästhetisch erweitert“

Regel gebunden ist und daher ein freies Zusammenspiel von Anschauung, Verstand und
Vernunft zustande kommen kann.
97  A A 05, 314/KU, B 193.
98  A A 05, 314/KU, B 192f.
99 Wie sehr Kant die ästhetische Idee von der ‚Darstellung eines gegebenen Begriffs‘ her
fasst, wird in den Beispielen und Schilderungen von Paragraph 49 deutlich, vgl. AA 05,
314–318/KU, B 194–200.
100 
A A 05, 315/KU, B 195.
101 
A A 05, 315/KU, B 194f.

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224 Arno Schubbach

darzustellen.102 Eine solche Darstellung wird aber kaum möglich sein ohne
den reflektierenden Vollzug im Ausgang von der Anschauung. Die ‚ästhetische
Idee‘ muss eine Reflektion in Gang setzen, die auf einen zumindest teilweise
unbestimmten Begriff abzielt und Aspekte der ‚Nebenvorstellungen der Ein-
bildungskraft‘ auf ihn überträgt. Um welchen Begriff oder welche ‚Vernunftidee‘
es sich dabei handelt, wird letztlich nicht wie im Schönen oder Erhabenen aus
einer Konstellation der Erkenntnisvermögen, sondern aus dem Zusammen-
hang eines Kunstwerks oder einer Dichtung zu bestimmen sein.
Diese Form der Darstellung versteht Kant wiederum als belebend, weil sie
die Vermögen ohne Voraussetzung eines bestimmten Begriffs miteinander
in Beziehung setzt. Statt Begriffe und Anschauungen miteinander zu ver-
zahnen und zu einer gegenständlichen Vorstellung zu verbinden, setzt die
‚Darstellung ästhetischer Ideen‘ – wie das Schöne und das Erhabene – einen
vom Begriff freien und in diesem Sinne offeneren reflektierenden Vollzug
von Einbildungskraft, Verstand und Vernunft voraus, der letztlich wiederum
zur Tätigkeit anregen soll. Diese Darstellung zielt vielleicht mehr noch als auf
eine ‚Vernunftidee‘ auf die Belebung der Erkenntnisvermögen ab, bezieht sich
Kant doch auf „eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer
Darstellung dient, eigentlich aber um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm
die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“.103
Diese Belebung schließt wie schon beim Schönen die Erkenntniskräfte ein und
befördert daher mittelbar auch die Erkenntnis: Die ästhetische Idee dient in
diesem Sinne „nicht sowohl objectiv zum Erkenntnisse, als subjectiv zur Be-
lebung der Erkenntnißkräfte, indirect also doch auch zu Erkenntnissen“.104
Der Begriff des Lebens beziehungsweise die Charakterisierung der be-
lebenden Darstellung schlägt somit erneut eine Verbindung vom Ästhetischen
und genauer vom Künstlerischen zum Epistemischen. Die Belebung verdankt
sich also nicht mehr einem Zusammenspiel der Erkenntniskräfte, das in der
Wahrnehmung lediglich seinen Anlass hätte. Vielmehr ist es nun eine künst-
lerische Praxis, die eine solche Belebung hervorruft, indem sie einen freien

102 Im Zusammenhang zitiert: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungs-
kraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu
denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt,
mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungs-
kraft hiebei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft)
in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu
dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden
kann.“ (AA 05, 314f./KU, B 194f.)
103 A A 05, 315/KU, B 195.
104 A A 05, 317/KU, B 198.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 225

reflektierenden Vollzug auf den darzustellenden Begriff erfordert, ihn durch


die ‚Nebenvorstellungen der Einbildungskraft‘ bereichert und ihn für ‚ein
unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen‘ öffnet:

Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe bei-
gesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltig-
keit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist,
daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden
werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt,
dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem
Buchstaben, Geist verbindet.105

Die Belebung durch die Darstellung mit Hilfe einer ‚ästhetischen Idee‘ geht also
vom Kunstwerk aus und hängt von seinem ‚freien Gebrauche‘ einer ‚Mannig-
faltigkeit‘ von ‚Teilvorstellungen‘ ab, unterhält als Belebung der Erkenntnis-
kräfte aber doch eine mittelbare Beziehung auf die epistemische Dimension
der Erfahrung.
Die Darstellung ästhetischer Ideen nähert sich so einer lebendigen Dar-
stellung an. Nicht nur bringt sie den reflektierenden Vollzug der Darstellung
eng mit dem Leben der Erkenntniskräfte zusammen. Sie bezieht sich auch
anders als das Schöne oder das Erhabene auf die schönen Künste und weist
die mit ihr einhergehende Belebung zumindest teilweise auch dem Kunstwerk
zu, das nicht nur als Anlass eines freien Zusammenspiels der Erkenntniskräfte
fungiert, sondern durch den ‚freien Gebrauche‘ einer ‚Mannigfaltigkeit‘ von
‚Teilvorstellungen‘ auch einen konkreten Raum zur Belebung der Erkenntnis-
kräfte aufzuspannen vermag, ohne sie gleich an einen bestimmten Begriff oder
durch eine Regel zu binden. Die ‚Darstellung ästhetischer Ideen‘ weist so einen
Weg auf, der eigenen Verfasstheit des Kunstwerks und ihrer Bedeutung für die
Erfahrung zumindest insofern Rechnung zu tragen, als sie das semantische
‚Feld verwandter Vorstellungen‘ im Kunstwerk einbezieht.
Dennoch stellt sich die Frage, ob der Versuch, Kants Konzeption der Dar-
stellung auf die Frage der lebendigen Darstellung zu beziehen, nicht doch auf
Grenzen stößt. Insbesondere scheint Kants durchgängige Annahme, der Zu-
sammenhang von Darstellung und Leben sei letztlich dahingehend zu fassen,
dass Darstellungen in ihrem reflektierenden Vollzug belebend auf die Erkennt-
niskräfte wirken, zumindest einen scharfen Unterschied zu einer Pointe des
Begriffs der lebendigen Darstellung zu markieren. Denn die Belebung, von der
Kant spricht, geht stets vom Leben des Gemüts aus und bezieht sich auf das in
sich vielfältige Leben der Erkenntniskräfte. Alle Darstellung könnte demnach

105 
A A 05, 316/KU, B 197.

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226 Arno Schubbach

nur ein Leben freisetzen und anregen, das letztlich in der Tätigkeit der Ver-
mögen und in der Empfindung des Gemüts wurzelt. Der Begriff der lebendigen
Darstellung um 1800 kann jedoch gerade auch dahingehend zugespitzt werden,
dass der Darstellung ein Eigenleben zukommt, das nicht zurückzubinden
ist an die Tätigkeit der Vermögen.106 In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts
wird diese Thematik – folgt man Inka Mülder-Bach – exemplarisch an der
Geschichte des Bildhauers Pygmalion diskutiert, dessen Statue mit der Fertig-
stellung lebendig wird und selbst von ihrem Piedestal herabsteigt: Diese Ver-
lebendigung verdanke sich gerade nicht der Einbildungskraft und Imagination
Pygmalions, sondern dem Eigenleben seiner Darstellung.107 Anders formuliert
hat die Darstellung ein eigenes Leben, insofern sie aus sich hervortreten lässt,
was sie darstellt, statt auf die Tätigkeiten der Vermögen und insbesondere die
Einbildungskraft angewiesen zu sein, die sich in ihrem reflektierenden Vollzug
etwas anschaulich darstellen.
Eine lebendige Darstellung in diesem Sinne kennt Kant meines Erachtens
nicht, da er jede Darstellung als einen reflektierenden Vollzug der Vermögen
versteht, der idealiter wiederum dieselben Vermögen beleben wird. Es ist
innerhalb der Philosophiegeschichte vielmehr Hegel, der nicht zuletzt in der
gleichzeitigen Kritik und Fortentwicklung von Kants Konzeption der Dar-
stellung für die Philosophie selbst eine Form der lebendigen Darstellung in
Anspruch nimmt. Die „speculative Darstellung“108 soll in dem Sinne tatsäch-
lich lebendig sein, dass sie ein Leben zum Ausdruck bringt, das nicht auf das
Bewusstsein zurückgeht, sondern es in seiner historischen Entwicklung um-
greift. Für Hegel handelt es sich dabei um das „eigne Leben des Begriffs“109,
der zwar wie im Wissen auch in der Kunst und der Religion seinen Ausdruck
findet, aber letztlich doch das Begreifen und die Erkenntnis privilegiert.
Darstellung und Leben gehen in der Philosophie um 1800 so eine enge Ver-
bindung ein und beziehen sich dabei immer wieder auch auf die schönen
Künste. Es liegt jedoch die Vermutung nah, dass die Philosophie sich selbst
dann, wenn sie wie bei Hegel eine Konzeption lebendiger Darstellung im

106 Vgl. Menninghaus, „‚Darstellung‘“, S. 214–216.


107 Vgl. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 71–75 mit Bezug auf Herder und S. 175–179
mit Bezug auf Klopstock.
108 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 9: Phänomenologie des Geistes,
in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. von der Rheinisch-
Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg, 1968, S. 43; im Folgenden wie
üblich unter dem Sigle GW 9 zitiert. Vgl. zum Folgenden auch Arno Schubbach, „Der ‚Be-
griff der Sache‘. Kants und Hegels Konzeptionen der Darstellung zwischen Philosophie,
geometrischer Konstruktion und chemischem Experiment“, in: Hegel-Studien 51, 2017,
121–162.
109 G W 9, 38.

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Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft 227

pointierten Sinne entwickelt, jedem Versuch verweigert, ästhetische und


ethische Traditionen gegen die Erkenntnis auszuspielen. Dies hat nicht vor-
rangig damit zu tun, dass die Philosophie der Erkenntnis alles unterordnen
würde, sondern begründet sich mehr noch darin, dass sie Darstellung und
Leben als in sich vielfältige begreift, als in sich differenzierte Vollzüge und
Prozesse, die kaum vor sich gehen können, ohne zwischen ihren verschiedenen
Dimensionen und insbesondere ästhetischen, epistemischen und ethischen
Gesichtspunkten Verbindungen zu schlagen.

Literatur

Arndt, Hans Werner, Methodo scientifica pertractum. Mos geometricus und Kalkülbe-
griff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New
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T. E. Jessop, 9 Bde., London/New York, 1948–1957.
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1990.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deut-
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228 Arno Schubbach

Menninghaus, Winfried, „‚Darstellung‘. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines


neuen Paradigmas“, in: Was heißt „Darstellen“?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig,
Frankfurt a.M., 1994, S. 205–226.
Mülder-Bach, Inka, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung
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buch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Mar-
tin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel,
Stuttgart/Weimar, 2000, S. 831–875.
Schubbach, Arno, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers
Kulturphilosophie, Hamburg, 2016.
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Schüling, Hermann, Die Geschichte der axiomatischen Methode im 16. und beginnenden
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Shabel, Lisa A., Mathematics in Kant’s Critical Philosophy. Reflections of Mathematical
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Alewyn, Hans-Egon Hass und Clemens Heselhaus, Bonn, 1957, S. 283–298.
Wieland, Wolfgang, „Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet
hat“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
64, 1990, S. 604–623.

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Janina Wellmann

Bewegung an der Wand


Zur Aufführung von Organismen mit dem Sonnenmikroskop

Das Sonnenmikroskop erzeugt sein Bild anders als das klassische Mikroskop
nicht im Auge eines einzelnen Betrachters, sondern auf der Wand eines ab-
gedunkelten Raumes. Das Licht der Sonne bringt im Dunkeln das stark ver-
größerte Abbild kleinster oder mit bloßem Auge unsichtbarer Objekte im
eigentlichen Wortsinne zum Leuchten. Zahlreiche noch erhaltene Exemplare
in europäischen Sammlungen zeugen von der enormen Verbreitung und Be-
liebtheit des Instruments im 18. Jahrhundert.1 In der Zeit der Aufklärung
erfüllten Sonnenmikroskope das Ideal von nützlichem Zeitvertreib und
gentleman science, von gelehrter Unterhaltung und kunstvoller Wissenschaft
in besonderer Weise, da sie mikroskopisches Wissen öffentlich demonstrierten
und einem Publikum zur Diskussion stellten.2 Sie sind Teil einer ,sozialen
Geschichte‘ der Mikroskopie3 ebenso wie der Zeit des Rokoko, einer Epoche,
in der Geselligkeit, höfisches Leben und kultivierte Sinnlichkeit Signum der
Kultur, aber nicht weniger ihrer Wissenschaft waren. Unzählige Mikroskopier-
bücher, populäre Schriften und wissenschaftliche Traktate berichten von
dem Instrument und seinem Gebrauch. Zu den bekanntesten, mehrfach auf-
gelegten und in viele Sprachen übersetzten Werken dieser Zeit gehören die
Mikroskopischen Gemüths- und Augen-Ergötzung von Martin Frobenius Leder-
müller (1719–1769), die Insecten-Belustigungen Johann Rösel von Rosenhofs

1 Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in Luisa Feiersinger (Hg.), Scientific Fiction. In-
szenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion, Berlin, 2018 (= Bildwelten
des Wissens 14), S. 10–20. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des De
Gruyter Verlages. Peter Heering, „The Enlightened Microscope: Re-enactment and Analysis
of Projections with Eighteenth-Century Solar Microscopes“, in: The British Journal for the
History of Science 41/3, 2008, S. 345–367. Heering zählt allein 83 Exemplare in den großen
europäischen Sammlungen und Museen.
2 Vgl. zur Wissenschaft der Aufklärung: William Clark, Jan Golinski und Simon Schaffer (Hg.),
The Sciences in Enlightened Europe, Chicago/London, 1999; Roy Porter (Hg.), The Cambridge
History of Science, Bd. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge, 2003; Ulrich Johannes
Schneider, Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Göttingen, 2008; Barbara Maria Stafford,
Artful Science. Enlightenment, Entertainment, and the Eclipse of Visual Education, Cambridge,
1994.
3 Jim Bennett, „The Social History of the Microscope“, in: Journal of Microscopy 155/3, 1989,
S. 267–280.

© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846762929_012


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230 Janina Wellmann

(1705–1759) und Das Neueste aus dem Reich der Pflanzen des Wilhelm Friedrich
von Gleichen-Rußworm (1717–1783).4
Die folgenden Überlegungen widmen sich einer unbeachtet gebliebenen
Seite der Sonnenmikroskopie, die gleichwohl in ihrem Zentrum steht: Auf-
führungen mit dem Sonnenmikroskop waren performative Handlungen.
Sie waren Akte des Zeigens und Sichtbarmachens unter der besonderen Be-
dingung der Darstellung auf einer illuminierten Bildfläche.5 Zur Zeit der
Aufklärung entfalteten optische Instrumente erstmals eine breite, vielfältige
wissenschaftliche und soziale Wirkmächtigkeit. Mit ihnen erwuchs ein neues
‚Bildungsideal‘, das sich an der Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit des
Menschen orientierte.6 Die Instrumente waren gleichermaßen die ‚optische
Ergänzung‘ zu den gelehrten Bibliotheken: Sie führten das „trockene und dia-
grammatische“ Wissen aus Handbüchern und Lexika in „theatralischen Auf-
führungen“ schwungvoll vor Augen.7 Worum es im Folgenden geht, sind indes
weder die gelehrten Diskussionen, die das gemeinsame Schauen begleiteten,8

4 Martin Frobenius Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung. Bestehend in


Ein Hundert nach der Natur gezeichneten und mit Farben erleuchteten Kupfertafeln, sammt
deren Erklärung, Nürnberg, 1760–1762; zur Geschichte des Sonnenmikroskops s. S. 40–46;
August Johann Rösel von Rosenhof, Der monatlich herausgegebenen Insecten-Belustigung,
Nürnberg, 1736–1752; Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen gen. Rußworm, Das Neueste
aus dem Reiche der Pflanzen, oder Mikroskopische Untersuchungen und Beobachtungen der
geheimen Zeugungstheile der Pflanzen in ihren Blüten, und der in denselben befindlichen Insekten
[…]; herausgegeben, verlegt und mit den nöthigen in Kupfer gestochenen und illuminirten Ab-
bildungen versehen, von Johann Christoph Keller, Maler in Nürnberg, Nürnberg, 1764.
5 Zu frühmodernen Projektionstechniken vgl. Olaf Breidbach, Kerrin Klinger und André
Karliczek (Hg.), Natur im Kasten. Lichtbild, Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck
um 1800, Jena, 2010; zur Vorgeschichte des Films sei nur genannt Friedrich von Zglinicki,
Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer, Berlin, 1956;
zum Phantasmatischen der Projektion im frühen 19. Jahrhundert vgl. Lauper, Anja, „‚Der
Lebensproceß im Blute‘. Zu Carl Heinrich Schultz’ Mikroskop-Phantastik“, in: Transfusionen.
Blutbilder und Biopolitik der Neuzeit, hg. von Anja Lauper, Zürich, 2005, S. 139–155.
6 Vgl. Angela Fischel, „Optik und Utopie. Mikroskopische Bilder als Argument im 18. Jahr-
hundert“, in: Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechen-
barkeit der Welt, hg. von Horst Bredekamp und Pablo Schneider, München, 2006, S. 253–266,
hier S. 262.
7 „These attractive machines were part of an inviting range of instruments […] the optical
complement to the tome-lined library: They energetically enacted the dry and diagrammatic
natural philosophy buried in manuals and dictionaries, metamorphosing them into theatrical
productions“, Barbara Maria Stafford, Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment
Art and Medicine, Cambridge, MA, 1991, S. 360.
8 Siehe dazu Heering, „Enlightened Microscope“, der dies durch das Re-Enactment von
sonnenmikroskopischen Vorführungen stützt; auch Marc J. Ratcliff, The Quest for the In-
visible. Microscopy in the Enlightenment, London, 2009.

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Bewegung an der Wand 231

noch das Spektakuläre der Aufführungen.9 In den Aufführungen verband sich


vielmehr die optische Apparatur mit einer spezifischen sinnlichen Erfahrung.
In der dunklen Kammer eröffnete die Aufführung einen außergewöhnlichen
Blick auf die mikroskopische Welt, den das Sonnenmikroskop, und nur dies,
in dieser Form lieferte: die Erfahrung von Bewegung. Die Sichtbarmachung
und das Sinnlich-Erfahrbar-, genauer, das durch die Projektion sozusagen
Greifbar-Machen der Bewegungen der organischen Welt waren die hervor-
stechenden Eigenschaften der Sonnenmikroskopie, die hier untersucht
werden sollen.
Die Forschung zur Bildwelt der Sonnenmikroskopie reduziert sich bisher
weitgehend auf die Kupferstiche und die großen illuminierten Tafeln, die das
Mikroskop als Instrument hervorbrachte.10 In den Stichen der Nürnberger
Werke ist die ikonographische Nähe zu Ornamenten und Mustern deutlich:
In den Bildern eines Ledermüllers (vgl. Abb. 11.3 u. 11.4) dominieren Geo-
metrie, Symmetrie und Iteration ebenso wie eine flächige Organisation. In den
„kontraststarken Stichen der Mikroskopierbücher“ verbildlichte sich die Natur
als „visuelle Utopie“, deren Wachstum, etwa in den Tafeln zum Polypen, ihre
Entsprechung in der Formensprache der Ornamentik fand.11
Die Erfahrung der bewegten Welt dagegen schlug sich kaum in den Tafeln
nieder. Gleichwohl handelte es sich in vielen Fällen bei den projizierten
Objekten um lebende Präparate und damit um bewegte Bilder. Was sich an
der Wand zeigte, war eine Welt von wuchtiger Dynamik, voller Chaos und
Unberechenbarkeit. Hier versetzten die Bilder von menschengroßen Flöhen,
Spinnennetzen und baumstarken Filamenten die Betrachtenden in den Stand

9 Vgl. Stafford, Body Criticism; vgl. auch dies., Artful Science; sowie dies. und Frances Terpak,
Devices of Wonder. From the World in a Box to Images on a Screen, Los Angeles, 2001.
10 Vgl. Fischel, „Optik und Utopie“; vgl. auch dies. (Hg.), Instrumente des Sehens, Berlin, 2004
(= Bildwelten des Wissens, Bd. 2/2); Friedrich Klemm, „Martin Frobenius Ledermüller. Aus
der Zeit der Salon-Mikroskopie des Rokoko“, in: Optische Rundschau 45–48, 1927, S. 535–
537, 552–554, 568–569, 580–582; zum Kontext der Buchtradition der Stadt Nürnberg, die
im 18. Jahrhundert das deutsche Zentrum und neben London der bedeutendste Verlagsort
des naturwissenschaftlichen Buchhandels und der naturgeschichtlichen Buchillustration
war und in der namhafte Künstlerfamilien und Wissenschaftler wirkten, vgl. Heidrun
Ludwig, Nürnberger naturhistorische Malerei im 17. und 18. Jahrhundert, Diss., Berlin, 1993;
Wilhelm Schwemmer, Nürnberger Kunst im 18. Jahrhundert, Nürnberg, 1974; Claus Nissen,
Die botanische Buchillustration, 3 Bde., Stuttgart, 1966; Thomas Schnalke, Natur im Bild.
Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew, Aus-
stellungskatalog, Erlangen, 1995; Richard Wegner, „Christoph Jacob Trew (1695–1769). Ein
Führer zur Blütezeit naturwissenschaftlicher Abbildungswerke in Nürnberg im 18. Jahr-
hundert“, in: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der
Technik 39, 1940, S. 218–228.
11 Vgl. Fischel, „Optik und Utopie“, S. 257 u. 259.

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232 Janina Wellmann

der Unsicherheit. Sonnenmikroskop und Dunkelkammer brachten das Un-


gewisse und Fremde, Täuschung und Illusion in den Blick. Sie warfen den
Zweifel an den eigenen Wahrnehmungs- und Denkräumen gleichsam an
die Wand der dunklen Kammer und tauchten sie in grelles Licht. Deshalb
wurde die mikroskopische Bilderwelt des 18. Jahrhunderts auch in die Nähe
zu „visueller Quacksalberei“ und „Wahrnehmungspathognomie“ gerückt: Sie
war verwirrend und verblüffend, erregend und zusammengeflickt wie ein
„prächtiges Monster“.12 Entsprechend achtete die wissenschaftshistorische
Forschung die Mikroskopie der Aufklärung lange Zeit gering. Weder die Ent-
deckung von Antoni van Leeuwenhoeks Spermien oder Robert Hookes Floh
noch von Theodor Schwanns Zellen oder Robert Kochs Bakterien fielen in
das 18. Jahrhundert. Das Jahrhundert erschien daher kaum mehr als eine
hinzunehmende Etappe zwischen den großen Entdeckungen des 17. und den
Neuerungen des 19. Jahrhunderts.13 Erst recht wissenschaftlich marginal, vom
Rang eines Spielzeugs, erschien das Sonnenmikroskop.
Tatsächlich stellte der Mikrokosmos unter der Linse jedoch den Betrachter
vor ernst zu nehmende Herausforderungen: Er offenbarte eine Welt voller
Mehrdeutigkeit, des vagen Dazwischen und des Weder/Noch, eine Welt, die
„visuelle Verzweiflung“ und Verzauberung hervorrief.14 Die Lektüre der Traktate
zeigt, dass gerade die Wahrnehmung der Bewegtheit dieser Welt wesentlich zu
diesem Eindruck beitrug. Die ebenso irritierende wie unterhaltende, unver-
standene wie deutlich zu sehende und gleichwohl nicht abbildbare Qualität
der Bewegung war ein zentrales Sujet in den Schriften der Zeit. Um Bewegung
zu begreifen, bedurfte es hingegen eigener Analogien und Metaphern, und
zwar solcher, wie sie das Schauspiel, die Bühne und das Theater boten.
Bühne, Tanz, Theater oder Oper waren aber nicht nur metaphorische
Welten für die Belustigungen, die die bewegten Szenen an der Wand boten.
Diese Metaphorik, so die Behauptung, war grundlegend für das Verstehen

12 Stafford, Body Criticism, S. 362.


13 Vgl. klassische Abhandlungen wie Savile Bradbury, The Evolution of the Microscope, Oxford,
1967. Zur Korrektur dieses Bildes vgl. insbesondere Ratcliff, Quest for the Invisible; ders.,
„Wonders, Logic, and Microscopy in the Eighteenth Century. A History of the Rotifer“, in:
Science in Context 13/1, 2000, S. 93–119; ders., „Temporality, Sequential Iconography and
Linearity in Figures. The Impact of the Discovery of Division in Infusoria“, in: History
and Philosophy of the Life Sciences 21/3, 1999, S. 255–292 sowie James Elkins, „On Visual
Desperation and the Bodies of Protozoa“, in: Representations 40, 1992, S. 33–55.
14 Vgl. Barbara Maria Stafford, „Images of Ambiguity: Eighteenth-Century Microscopy and
the Neither/Nor“, in: Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, hg.
von David Philip Miller und Hanns Peter Reill, Cambridge, 1996, S. 230–257; Zitat Elkins,
„On Visual Desperation“.

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Bewegung an der Wand 233

der biologischen Welt. Die Kleinstlebewesen warfen essentielle Fragen auf:


Wo verliefen angesichts der Erscheinungen unter der Linse die Grenzen
zwischen Mensch und Tier, Tier und Pflanze, tot und lebendig? Wie konnte
Getrocknetes wieder lebendig, ein Kristall wieder beweglich, ein Tropfen
Regenwasser zum Hort sich rasend vermehrender Tierchen werden? Das
Sonnenmikroskop eröffnete den Mikroskopisten einen Imaginationsraum,
um sich dieser unbekannten und unverstandenen biologischen Welt anzu-
nähern. Ästhetisch-sinnliche Wahrnehmung und epistemologisches Durch-
dringen dieser Welt gingen dabei einher: Das Begreifen des Spektakels unter
der Linse fand Ausdruck im Spektakel der Projektion (vgl. Abb. 11.1 u. 11.2). Die
Tafeln aus Ledermüllers Gemüths- und Augen-Ergötzung zeigen die theatrale
Aufführungssituation: Das Objekt wird durch das von einem Spiegel durch
das Sonnenmikroskop geleitete Sonnenlicht auf die gegenüberliegende Wand
des verdunkelten Raumes (oder auf die durchsichtige Scheibe einer Box)
projiziert. Vorhänge, Bestuhlung, Betrachterposition und Verdunklung unter-
streichen die Bühneninszenierung.

Abb. 11.1
Tab. I „Das Cuffsche
Sonnenmikroskop, nebst der
finsteren Kammer“ (1762),
Kupferstich von A. W.
Winterschmidt

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234 Janina Wellmann

Abb. 11.2
Tab. XXI „Ein besonderes
Kästchen zum
Sonnenmikroskop“ (1762),
Kupferstich von A.W.
Winterschmidt

Von Flöhen, Rauch und Sand. Komödien unter dem Deckglas

Der Floh gehört seit Robert Hookes Abbildung in der Micrographia von 1665
zu den vermutlich bekanntesten mikroskopischen Bildsujets überhaupt. Seine
Darstellung ist ein Sinnbild für die Macht der Vergrößerung. Auch Martin
Frobenius Ledermüller illustriert die Leistung seines Sonnenmikroskops an
diesem Beispiel.15 Obwohl „die weiße Wand, woran ich die Objecta zu werfen
pflege, […] über vier und eine halbe Ele hoch“ sei, „langt sie nicht hin […], den
Floh aufrecht […] dahin zu bringen“. Mit den entsprechenden Linsengrößen
jedoch lässt er sich „nach allen seinen äußerlichen und innerlichen Theilen,
vollkommen hell, klar und durchsichtig, betrachten“.16 Die Größe eines zu

15 Zu Ledermüller vgl. Karl Wilhelm Naumann, Ledermüller und von Gleichen-Russworm.
Zwei deutsche Mikroskopisten der Zopfzeit, Leipzig, 1926; Klemm, „Ledermüller“; Emil
Reicke (Hg.), Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius
Ledermüller und dessen seltsame Lebensschicksale, Leipzig, 1923; Ratcliff, Quest for the
Invisible, S. 184–188; ders., Genèse d’une découverte. La division des infusoires (1765–1766),
Paris, 2016.
16 Martin Frobenius Ledermüller, Physicalische Beobachtungen derer Saamenthiergens,
durch die allerbesten Vergrößerungs-Gläser und bequemlichsten Microscope betrachtet; und

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Bewegung an der Wand 235

kaum vorstellbaren Maßen angewachsenen Insekts ist jedoch nur eine Wahr-
nehmung; seine Bewegung eine andere. Bewegung aber gehört zu den hervor-
stechendsten Merkmalen von Insekten:

Ein Blick in den Saal verriet dem jungen Pepusch sogleich die Ursache des
fürchterlichen Entsetzens, daß die Leute fortgetrieben. Alles lebte darin, ein
ekelhaftes Gewirr der scheußlichsten Kreaturen erfüllte den ganzen Raum.
Das Geschlecht der Pucerons, der Käfer, der Spinnen, der Schlammtiere bis
zum Übermaß vergrößert, streckte seine Rüssel aus, schritt daher auf hohen
haarichten Beinen, und die greulichen Ameisenräuber faßten, zerquetschten
mit ihren zackichten Zangen die Schnacken, die sich wehrten und um sich
schlugen mit den langen Flügeln, und dazwischen wanden sich Essigschlangen,
Kleisteraale, hundertarmichte Polypen durcheinander und aus allen Zwischen-
räumen kuckten Infusionstiere mit verzerrten menschlichen Gesichtern. Ab-
scheulicheres hatte Pepusch nie geschaut.17

Der Aufruhr im Saal ist das Werk eines Sonnenmikroskops, die Darstellung
wiederum eine literarische Imagination, erzählt 1822 von E.T.A. Hoffmann
in seiner Geschichte Meister Floh. Das Bild des Schreckens, erzeugt durch
Vergrößerung und Bewegung, wird in der Metaphorik des Schauspiels in
Worte gefasst. Der winzige Floh erscheint nicht nur monströs vergrößert,
verschiedenste Insekten strecken und schreiten, winden und schlagen sich
durch den Bildraum, alles ist Gewirr und Durcheinander, alles ist verzerrt und
lebendig.18
Tafel LXXV (Abb. 11.3) der Gemüths- und Augen-Ergötzung zeigt als „Fig. 1“
ebenfalls ein Insekt, den „Arlequin“, ein „Schlammwasser Inseckt“. Das Tier ist
fein und präzise gezeichnet. Die obere Bildhälfte zeigt seine Anatomie und Er-
scheinung in hoher Vergrößerung und markanter Farbigkeit. Zugleich zeigt sie
in Figur 1a entlang des oberen Bildrandes in einer Folge von kleinsten Bildern
das natürliche Insekt, einer roten Schleife gleich, sich krümmen und winden,
schlängeln und aufrollen. Sternchen dienen zur Markierung der Bewegungen.

mit einer unpartheyischen Untersuchung und Gegeneinanderhaltung derer Buffonischen


und Leuwenhoeckischen Experimenten in einem Sendschreiben mit denen hierzu ge-
hörigen Figuren und Kupfern einem Liebhaber der Natur-Kunde und Warheit mitgetheilet,
Nürnberg, 1756, S. 21–22. Die Elle als historisches Maß wird von der Länge des Unterarmes
abgeleitet. Obgleich die Längen erheblich variierten, gibt Ledermüllers Angabe einen
Eindruck von der enormen Größe der Projektion.
17 E.T.A. Hoffmann, Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde, Zürich/
Düsseldorf, 1998, S. 39.
18 Zur Bedeutung optischer Instrumente im Werk von E.T.A. Hoffmann vgl. Ulrich Stadler,
„Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Ge-
brauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen“, in: E.T.A. Hoffmann. Deutsche
Romantik im europäischen Kontext, hg. von Hartmut Steinecke, Berlin, 1993, S. 91–105.

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236 Janina Wellmann

Abb. 11.3
Tab. LXXV „Der Arlequin, ein
Schlammwasser Inseckt“ (1761),
Kupferstich von G. P. Nußbiegel

Gleichwohl gibt die Folge nur ein schwaches Bild dessen, was Ledermüller
beobachtete:

Ob in dem Reiche der Schlammthierchen Komödien gespielet werden, werde ich


wohl niemalen bejahen, ob ich schon Begebenheiten und Heldenthaten unter
ihnen mit angesehen, welche Stof zu den schönsten Stücken auf die Schau-
bühne geben könnten; wie ich dann erst neuerlich einen einigen [sic!] tapfern
Polypen, […] auf dem Schlachtfelde als einen Sieger über viele hundert seiner
Feinde, mit Vergnügen betrachtet habe. Indessen ist es doch gewiß, daß unter
ihnen ein Geschöpfe lebet, welches in gar vielen Stücken, der poßirlichen Figur
eines Arlequins gleichet. Sein schwarzer Kopf, sein scheckicht gefärbter Leib,
und seine lächerlichen Sprünge und hüpfenden Verdrehungen und Wendungen,
deren einige mit Sternchen bey der 1. Figur dieser fünf und siebenzigsten
Kupfertafel angemerket sind, haben viel ähnliches mit dieser lustigen Person
der italienischen Schaubühne: Denn bald steht dieses Inseckt auf dem Kopf […],
bald aber auf seinem mit breiten Floßfedern gezierten Schwanze, gerad in der
Höhe; bald liegt es nach der Länge gestreckt, ganz stille, fährt aber hernach wie
ein Blitz zusammen und springt wie eine Schlange, weit vor sich hin. Zuweilen
ist es wie ein Ballen zusammengerollt, siehet mit seinem schwarzen Kopf heim-
tückisch, gleich einem Scapin aus seinem Mantel, hervor, macht sodann mit ein-
mal einen Sprung in die Höhe, krümmet sich endlich wie ein gespannter halber
Bogen, und gehet ganz bedächtlich in dieser Positur, als eine Spannerraupe, auf
dem Wasser fort, auf welchem es sich allemal, sowohl in der Tiefe als auf der

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Bewegung an der Wand 237

Fläche und dem Grunde des Wassers, im Gleichgewichte, wie ein Fisch, zu er-
halten weiß.19

Es finden sich bei Ledermüller zahlreiche solcher Beschreibungen. Sie stehen


den literarischen von Hoffmann in nichts nach. So schreibt er von Bewegungen,
„ungemein leicht, munter“, mit „einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit“, „im
Zirkel herum“ oder „geradewegs“,20 von Insekten, die „rudern“, „so geschwinde
als ein Pfeil […] in die Höhe, Tiefe, Breite, Quere und Runde“21 und von Salzen
und Kristallen, deren „geschwinde Operation und Konfiguration“ er „an der
Wand zum öfftern beobachtet“ hat, „welche iedoch sich nur sehen, keines-
wegs aber nachbilden lassen“.22 Meeressand erweist sich unter der Linse als
„ein vollkommenes Luftfeuerwerk auf dem Wasser“: „Wie angezündet“ zeigen
sich Kugeln „gleichwie ein Ball oder eine eiserne Kugel“ in die Höhe spritzend,
„herumgeschleudert und gestossen“, einem „Lustspiel“ gleich.23 Aber auch der
Anblick der Haut eines Fingers (Abb. 11.4), gezeichnet mit all ihren „Linien,
Rissen oder Spalten, Schweislöchern und Schuppen“, birgt unter dem Sonnen-
mikroskop weitaus mehr: Hier kann man „die Ausdünstung der Hände, an der
weissen erleuchteten Wand, wie einen starken Rauch aus denen fünf Fingern
in die Höhe steigen sehen“.24 Während die Tafel also akribisch die Struktur zu
erfassen sucht, entgeht ihr gleichwohl die Lebendigkeit, das Atmen der Haut.
Was die Tafeln nicht zeigen konnten, ließ sich an der Wand direkt betrachten.
Die Bewegung betritt bei der Sonnenmikroskopie im wahrsten Sinne den Zu-
schauerraum, gleichermaßen in Augenhöhe. Mikro- und Makrowelt treffen in
der dunklen Kammer in einem eigens geschaffenen Raum aufeinander, nicht
mehr wie üblich durch das Instrument deutlich voneinander geschieden.25

Lebensvolle Bewegung

Die Bewegung, die das Sonnenmikroskop sichtbar machte, beflügelte jedoch


nicht allein die Fantasie. Sie taugte auch als wissenschaftliches Argument:
Auf sie stützte sich Ledermüller, als er sich gegen Georges Buffon, eine der

19 Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung, S. 145.


20 Ebd., S. 76.
21 Ebd., S. 146.
22 Ebd., S. 48.
23 Ebd., S. 169.
24 Eine lange Passage ist der Untersuchung der Haut gewidmet, vgl. ebd., S. 105 u. 107.
25 Vgl. Heering, „The Enlightened Microscope“, S. 363–364.

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238 Janina Wellmann

Abb. 11.4
Tab. LV „Die Menschenhaut und
deren Schweißlöcher“ (1761),
Kupferstich von G. P. Nußbiegel

größten naturhistorischen Autoritäten seiner Zeit, stellte. Ledermüller führte


die Bewegung der Spermien, welche er mit dem Sonnenmikroskop aufs
Genaueste beobachtet hatte, gegen Buffon ins Feld, um für ihre Lebendigkeit
zu argumentieren, die dieser bestritt.26 Ledermüller nutzte ein „Cuffisches
Sonnen-Microscop“, mit dem er „hundert- ja wohl tausendfache Versuche“
anstellte.27 Schon als er „den ersten Blick in das Glas richtete“, sah er die
Samentierchen unmittelbar bewegt und „mit Schwänzgens versehen“: „Sie
[…] schwammen wie die jungen Frösche, munter und frisch herum“.28 Wenn
Buffon dagegen keine Bewegungen der Spermien gesehen habe, dann müsse

26 Zur Geschichte der Spermien vgl. Francis Joseph Cole, Early Theories of Sexual Generation,
Oxford, 1930; Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française du XVIIIe siècle.
La génération des animaux de Descartes à l’Encyclopédie, Paris, 1963; Florence Vienne,
„Organic Molecules, Parasites, ‚Urthiere‘: the Contested Nature of Spermatic Animalcules,
1749–1841“, in: Gender, Race and Reproduction. Philosophy and the Early Life Sciences in
Context, hg. von Susanne Lettow, Albany, 2014, S. 45–64.
27 Ledermüller, Physicalische Beobachtungen, S. 21–22.
28 Ebd., S. 11, vgl. auch ebd., S. 22; siehe auch ders., Versuch einer gründlichen Vertheidigung
derer Saamengethiergen: nebst einer kurzen Beschreibung der Leeuwenhoeckischen
Mikroskopien und einem Entwurf zu einer vollständigern Geschichte des Sonnenmikroskops
als der besten Rechtfertigung der Leeuwenhoeckischen Beobachtungen, Nürnberg, 1758,
S. 21.

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Bewegung an der Wand 239

entweder das von ihm benutzte Sperma bereits „zu alt und zu glutinos […]
gewesen seyn“. Zu trockenes Sperma sei wie eine „klebrige Masse“, die „ihre
Schwänzgen [der Spermien, Anm. d. A.] wie angeleimt“ festhielte.29 Oder aber
Buffon könne schlicht kein Sonnenmikroskop benutzt haben.30
Spermien waren nur eine Erscheinung innerhalb einer ganzen Gruppe
schwer zu deutender Phänomene, die in Aufgüssen unter dem Mikroskop
sichtbar wurden und für die es so zahlreiche Namen wie animalcula, dierken,
fish, protozoa, infusoria, Urtierchen und andere gab.31 Das Sonnenmikro-
skop erlaubte es Ledermüller, in allen möglichen „kleinen Waßer-Insecten“,
„Regenwasser-Würme[n]“, „Wasserflöhe[n], Boucerons, Radthiere[n]“ und
„Schlänglein“ „die Bewegung der innersten Eingeweyde, den Pulsschlag, das
Auf- und Absteigen derer Lebens-Säffte und des Geblütes, das Absterben aller
Glieder etc. sehr groß und deutlich [zu] zeigen“.32
Inspiriert von Ledermüllers Gemüths- und Augen-Ergötzung wandte sich der
adelige Wilhelm Friedrich von Gleichen gen. Rußworm ebenfalls der Mikro-
skopie zu.33 Nach dem Neuesten aus dem Reich der Pflanzen veröffentlichte er
1778 die Abhandlung über die Saamen- und Infusionsthierchen. Immer wieder
vergleicht auch er darin den Samen mit den Fröschen. So wie schlüpfende
Kaulquappen, „die das wahre Schauspiel im Großen vorstellen“, sind es die
Samen „im Kleinen“, die „unter dem Vergrößerungsglase“ nicht „einen Augen-
blick“ Anlass zum Zweifel gäben, „daß diese Thierchen eine selbständige (aus
ihnen selbst herkommende) oder freiwillige Bewegung haben“ (vgl. Abb. 11.5).34

29 Ledermüller, Physicalische Beobachtungen, S. 12 u. 11. Ledermüller selbst sah Sperma


„nicht länger als zwey Stunden mit lebendigen Creaturen“, ebd., S. 15.
30 Martin Frobenius Ledermüller, Nachleese seiner mikroskopischen Gemüths- und Augen-Er-
götzung, Nürnberg, 1762. Umgekehrt schließt er, dass Leeuwenhoek bereits eines benutzt
haben müsse, vgl. auch Ledermüller, Versuch einer gründlichen Vertheidigung, S. 45–46.
31 Zum Hintergrund der intensiven Diskussion um Kleinstorganismen, der hier nicht
weiter ausgeführt werden kann, vgl. Ratcliff, Quest for the Invisible sowie ders., Genèse
d’une découverte; zu ihrer Rolle in Zeugungstheorien vgl. John Farley, The Spontaneous
Generation Controversy from Descartes to Oparin, Baltimore/London, 1979; zur Diskussion
in Frankreich vgl. Paula Gottdenker, „Three Clerics in Pursuit of ‚Little Animals‘“, in: Clio
medica 14/3/4, 1980, S. 213–224 sowie Shirley Roe, „The Life Sciences“, in: Porter (Hg.),
Cambridge History of Science, S. 397–416.
32 Ledermüller, Physicalische Beobachtungen, S. 21.
33 Zu Gleichen-Rußworms Leben vgl. Melchior A. Weikard, Biographie des Herrn Wilhelm
Friedrich v. Gleichen genannt Rußworm Herrn auf Greifenstein, Bonnland und Ezelbach,
o.O., 1783.
34 Wilhelm Friedrich von Gleichen-Rußworm, Abhandlung ueber die Samen- und Infusions-
tierchen und ueber die Erzeugung. Nebst mikroskopischen Beobachtungen des Samens der
Tiere und verschiedener Infusionen, Nürnberg, 1778, S. 6, vgl. auch S. 10 u. 68.

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240 Janina Wellmann

Abb. 11.5
Tab. XXVI „Infusionen von
Hanfsaamen“ (1778),
Kupferstich von A. W.
Winterschmidt

Gleichen-Rußworm setzte sich in seiner Abhandlung grundsätzlich mit dem


Wesen von Bewegung auseinander. Infusionstiere entstünden im Wasser,
dem „Anfang alle Dinge“. Hier überführe die Natur „die Materie in das Leben“,
indem sie durch Wärme und Gärung Bewegung stiftet.35 Bewegung ist aber
nicht gleich Bewegung, und nicht alle Bewegung ist ein Zeichen von Lebendig-
keit. Gleichen-Rußworm unterscheidet die „lebensvolle Bewegung“ von der
„mechanischen“ oder „mechanisch-organischen“. Letztere ist überall anzu-
treffen, denn sie ist „ein allgemeines Naturgesetz“.36 Das macht sie allerdings
noch nicht zu lebendiger Bewegung. Diese lässt sich indes für ein „durch das
Mikroskop zu sehen gewohntes Auge“ leicht erkennen. Weder in chemischen
Flüssigkeiten lasse sich „etwas belebtes“ sehen, noch könne man in Pflanzen-
säften die bewegten Teilchen für „Thierchen“ halten, „weil sie gerade vor sich
weggestoßen werden, und nicht wie die Saamenthierchen in schwanken­
den Wendungen, den ganzen Gesichtskreis durchfahren, und einander aus-
weichen“.37 Lebensvolle Bewegungen sind „unerwartete“, also solche, „die von
keiner mechanischen Triebfeder herrühren, mithin freie Handlungen sind“.

35 Gleichen-Rußworm, Abhandlung ueber die Samen- und Infusionstierchen, S. 74.


36 Ebd., S. 98.
37 Ebd., S. 6.

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Bewegung an der Wand 241

Unvorhersehbarkeit, Freiheit und Freiwilligkeit werden zum Kennzeichen der


lebendigen Bewegung. Diese ist das „untrügliche Kennzeichen der Animalität“
und zeichnet auch die Infusionstiere aus:

Sie haben die Kraft, mitten in ihrer Fahrt Halt zu machen, sich um, und von
einer Seite zur anderen, zu werfen und zu wenden […]; einen anderen Weg zu
nehmen; das Vermögen sich den hindernden Schleimtheilchen zu widersetzen,
sie zu bewegen und fortzustoßen; Ueberlegung, ihren Körper zusammen zu
ziehen; […] sich zu krümmen […] endlich Leidenschaften zu erkennen zu geben,
wenn sie sich Truppenweis versammeln, gesellschaftlich miteinander fortgehen,
und sich wieder trennen […] oder sich paarweis vereinigen.38

Fazit

In Regentropfen und Pflanzenschäften, Schlamm und Organen, im durch-


sichtigen Innern und den äußerlichen Rädern und Schaufeln der Tiere: Be-
wegung war überall. Das Mikroskop machte sie zum ersten Mal sichtbar, das
Sonnenmikroskop dagegen überführte sie in die Welt des Betrachters. Was
die frühen Mikroskopisten sahen, ließ keinen Zweifel daran, dass Lebens-
bewegungen mehr als physikalische und chemische Bewegungen waren.
Gleichwohl blieben sie ein großes Rätsel. Wenn Ledermüllers Schlamminsekt
sich wie der Arlecchino aus der italienischen Comedia dell’Arte bewegte, dann
nicht nur, weil seine Bewegungen so lustig, lächerlich oder heldenhaft wie
auf dem Theater, sondern weil sie von so überraschender, ungeahnter Vielfalt
und Komplexität waren. Die Erfahrung von Bewegung verlangte, dass das Ge-
sehene begriffen und das Begriffene gesehen werden musste. All die zitternden
und schwankenden, rotierenden, rasenden und stockenden Körperchen, das
Gewimmel und Geschwärme, das einerseits Chaotische, andererseits Ko-
ordinierte: An der Wand wurde diese Welt groß und ihre Bewegungen Fiktion.

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38 Ebd., S. 98–99.

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theile der Pflanzen in ihren Blüten, und der in denselben befindlichen Insekten […];
herausgegeben, verlegt und mit den nöthigen in Kupfer gestochenen und illuminirten
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Bewegung an der Wand 243

Buffonischen und Leuwenhoeckischen Experimenten in einem Sendschreiben mit


denen hierzu gehörigen Figuren und Kupfern einem Liebhaber der Natur-Kunde und
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Abbildungen

Abb. 11.1: Winterschmidt, A. W., „Das Cuffsche Sonnenmikroskop, nebst der


finsteren Kammer“, in: Ledermüller, Nachleese seiner mikroskopischen
Gemüths- und Augen-Ergötzung, Tab. I. Digitale Bibliothek der Staats- und
Stadtbibliothek Augsburg, 4 Nat 221-3, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220473-6.
Abb. 11.2: Winterschmidt, A. W., „Ein besonderes Kästchen zum Sonnenmikroskop“,
in: Ledermüller, Nachleese seiner mikroskopischen Gemüths- und
Augen-Ergötzung, Tab. XXI. Digitale Bibliothek der Staats- und Stadtbib-
liothek Augsburg, 4 Nat 221-3, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220473-6.
Abb. 11.3: Nußbiegel, G. P., „Der Arlequin, ein Schlammwasser Inseckt“, in: Leder-
müller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung, Tab. LXXV. Digi-
tale Bibliothek der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 4 NVE 38,
urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220259-3.

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Bewegung an der Wand 245

Abb. 11.4: Nußbiegel, G. P., „Die Menschenhaut und deren Schweißlöcher“, in:
Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung, Tab. LV.
Digitale Bibliothek der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 4 NVE 38,
urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220259-3.
Abb. 11.5: Winterschmidt, A. W., „Infusionen und Hanfsaamen“, in: Gleichen-
Rußworm, Abhandlung ueber die Samen- und Infusionsthierchen,
Tab. XXVI. Digitale Bibliothek der Bayerischen Staatsbibliothek, 4 Zool.
143, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10231404-0.

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Verzeichnis der Beitragenden

Danneck, Martin, Doktorand am Deutschen Seminar der Universität Basel


und Stipendiat der eikones Graduate School, Basel.

Dupree, Mary Helen, Professorin für German Studies am Department of


German an der Georgetown University, Washington D.C.

Franzel, Sean, Professor für German Studies am Department of German


and Russian Studies an der University of Missouri.

Gess, Nicola, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am


Deutschen Seminar der Universität Basel.

Herrmann, Hans-Christian von, Professor für Literaturwissenschaft am


Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der
TU Berlin.

Hoffmann, Agnes, Wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar


der Universität Basel.

Kappeler, Annette, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Bratschistin


und Leiterin des Studiengangs Musikpädagogik der Kalaidos University of
Applied Sciences Switzerland, Zürich.

Meyer-Kalkus, Reinhart, Außerplanmäßiger Professor am Institut für


Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Uni-
versität Potsdam.

Schubbach, Arno, Oberassistent am Lehrstuhl für Philosophie an der ETH


Zürich und Leiter des Forschungsprojekts „Begriffe und Praktiken der Dar-
stellung in Philosophie, Chemie und Malerei um 1800“.

Thüring, Hubert, Titularprofessor und Universitätsdozent für Neuere


deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel.

Wellmann, Janina, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Kolleg-


Forschergruppe „Medienkulturen der Computersimulation“ an der Leuphana
Universität Lüneburg.

Nicola Gess, Agnes Hoffmann, und Annette Kappeler - 978-3-8467-6292-9


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via Staatsbibliothek zu Berlin

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