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Praktiken lebendiger Darstellung in Literatur, Kunst
und Wissenschaft um 1800
Wilhelm Fink
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Martin Danneck
Lebendige Rede, tote Buchstaben und die Normierung des Sprechens
im Schrifttum zur Deklamation um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Reinhart Meyer-Kalkus
Dramenvorlesen als Kunst – das Beispiel Ludwig Tiecks . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Sean Franzel
Les Cris de Paris: Lebendigkeit, Neuigkeit und Intermedialität in der
urbanen Tableauliteratur um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Annette Kappeler
„Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammenhange“.
Lebendiges Theaterspiel um die Wende zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 105
Hubert Thüring
Der „Reiz des Lebens“ und der „Tanz“ der „Götter“ – Jakob Michael
Reinhold Lenz’ Poetik der Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Agnes Hoffmann
Zwischen Fragment und Phantasma: Statuenerlebnisse um 1800 . . . . . . . . 169
Arno Schubbach
Leben und Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft. Zwischen
Ästhetik, Epistemologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Janina Wellmann
Bewegung an der Wand. Zur Aufführung von Organismen mit dem
Sonnenmikroskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Um 1800 ist der Begriff der Darstellung im ästhetischen Diskurs des deutsch-
sprachigen Raumes omnipräsent, und er ist eng verflochten mit Vorstellungen
von Lebendigkeit und Leben – ein Interesse, das die Ästhetik mit zeit-
genössischen naturphilosophischen Diskursen und den neu entstehenden
Disziplinen der Lebenswissenschaften teilt. Die lebendige Darstellung wird
dabei zur Zielgröße künstlerischer Praktiken und zu einer Schlüsselfigur der
philosophischen Ästhetik. Sie beerbt ältere Traditionen illusionsstiftender
Veranschaulichung und des lebendigen Vor-Augen-Stellens in Rhetorik
und Poetik, führt die Belebung der Seele und der Sinnesvermögen als neue
wirkungsästhetische Pointe ein und adaptiert und beeinflusst zugleich zeit-
genössische Modelle des Lebendigen aus der Biologie und Anthropologie. Die
Konjunktur dieses neuen Paradigmas1 wurde von der Forschung seit den 1990er
Jahren für das Feld der philosophischen Ästhetik und Kunsttheorie im Detail
herausgearbeitet.2 Deutlich wurde gezeigt, wie mit dem Modell lebendiger
1 Von einem ,neuen Paradigma‘ spricht als Erster Winfried Menninghaus in seinem grund-
legenden Aufsatz: „Darstellung. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Para-
digmas“, in: Was heißt Darstellen?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994,
S. 152–174.
2 Zum Konzept der ,Darstellung‘ in Ästhetik und Kunsttheorie um 1800 vgl. grundlegend Inka
Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ,Dar-
stellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998; Martha B. Helfer, The Retreat of Representation.
The Concept of ,Darstellung‘ in German Critical Discourse, New York, 1996. Zum Begriff der
lebendigen Darstellung in der Rhetorik vor/bis 1800: Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen.
Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Auf die Wirklichkeit Zeigen. Zum Problem
der Evidenz in den Kulturwissenschaften. Ein Reader, hg. von Helmut Lethen, Ludwig Jäger
und Albrecht Koschorke, Frankfurt/New York, 2015, S. 106–136, bes. S. 110–116. Zur klassischen
Tradition künstlerischer Verlebendigung s. den historischen Überblick von Frank Fehren-
bach, „Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder“, in: Animationen/Trans-
gressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. von Ulrich Pfisterer und Anja Zimmermann,
Berlin, 2005 (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 4), S. 1–40. Eine anschauliche
Rekonstruktion der Transformation klassischer Begriffe künstlerischer Lebendigkeit durch
die philosophische Ästhetik bei Baumgarten und Kant unternimmt Winfried Menninghaus,
„‚Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‘. Kants Reformulierung des Topos ,lebhafter Vor-
stellung‘“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von Armen Avanessian,
Jan Völker und Winfried Menninghaus, Zürich/Berlin, 2009, S. 77–94.
Darstellung seit 1770 bei Autoren wie Lessing, Kant, Herder, Klopstock und
anderen eine Idee künstlerischer Repräsentation an Gestalt gewinnt, die
weniger der klassischen Nachahmung lebendiger Handlungen und Gegen-
stände verpflichtet ist, als die ,Lebendigkeit‘ von Kunstwerken primär vom
Akt der Darstellung und ihrer Wirkung her zu begreifen. Dies führt zu einer
bahnbrechenden Neuperspektivierung des klassischen Mimesis-Begriffs, der
nun maßgeblich um die Vorstellung praktischen Vollzugs und ästhetischer
Wirkung ergänzt wird. In Herders Schrift Kalligone (1800) wird die lebendige
Darstellung so zum eigentlichen Substrat der aristotelischen Poetik und ihres
Nachahmungs-Begriffs erklärt – diese gingen, so sein Fazit, „aus keinem als
aus dem Begriff der lebendigen Darstellung selbst hervor, einer Darstellung
(μίμησις), die alle Seelenkräfte in uns beschäftigt, indem sie das Gesehene
vor uns entstehen läßt, und es uns mit inniger Wahrheit zeiget.“3 ,Lebendig‘
sind Bildkunstwerke, Theateraufführungen oder literarische Texte im Para-
digma der lebendigen Darstellung demnach nicht länger allein deswegen,
weil sie Lebendiges mit künstlerischen Mitteln nachahmen und anschaulich
machen, sondern vor allem weil der Darstellung selbst eine schöpferische, ver-
lebendigende Qualität zukommt – sie lässt, so Herder, „das Gesehene vor uns
entstehen“ und „zeiget“ es „mit inniger Wahrheit“.
In der philosophischen Ästhetik und in künstlerischen Praktiken der Zeit
wird dieses schöpferische Potenzial der Darstellung als ein grundsätzlich
performatives Geschehen verstanden: Kaum eine Theorie der Darstellung
kommt um 1800 ohne den illustrativen oder metaphorischen Rekurs auf
Praktiken der Verkörperung, der Aufführung oder der theatralen Darstellung
aus. Menninghaus hat dies in seinem grundlegenden Artikel zum Paradigma
der Darstellung bei Klopstock und Kant betont: „Das Jahrhundert der Lese-
sucht und der Büchervermehrung inthronisiert eine Darstellungstheorie,
deren Paradigma die direkte performance in Tanz und Rede, Deklamation und
Schauspielerei ist.“4 Auch in den bildenden Künsten und der Literatur wird
die performative Belebung von (Zeichen-)Material durch künstlerische Mittel
und Praktiken zu einer Leitidee: Farbe, Klang, Rhythmus, Tanz, Mimik und
Gestik, aber auch der Einsatz optischer Instrumente oder neuartiger musealer
Inszenierungsstrategien werden zu Akteuren in einem Spiel um die Beseelung
der Kunst und die sinnliche Belebung und Überwältigung ihres Publikums.
Wie eng um 1800 der Begriff der Darstellung mit Praktiken der Verkörperung
und der Aufführung verflochten ist, lässt sich exemplarisch am Beispiel von
Theatertheorien nachvollziehen, in denen ‚Darstellung‘ zum Synonym für
3 Johann Gottfried Herder, „Kalligone“, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 22, hg. von Bernhard
Suphan, Berlin, 1880, S. 147.
4 Menninghaus, „Darstellung“, S. 209.
9 Vgl. die einschlägige Definition von Schatzki, der Praktiken als ,organisierte und ver-
knüpfte Handlungen, die sich aus Machen [doings] und Sagen [sayings] zusammen-
setzen‘ bezeichnet („organized nexuses of action […] [composed by] doings and sayings
[…] linked through (1) practical understandings, (2) rules, (3) teleoaffective structure, and
(4) general understandings“; Theodore R. Schatzki, The Site of the Social. A Philosophical
Account of the Constitution of Social Life and Change, Pennsylvania, 2002, S. 77). Schatzki
gehört zu den Mitbegründern einer Erneuerung soziologischer Praxistheorien seit
der Jahrtausendwende, die im Rückgang auf ältere soziologische und philosophische
Theorien der Praxis (u.a. Wittgenstein, Heidegger, Bourdieu, Foucault) die Gesamtheit
aller Praktiken als unhintergehbare Daseins- und Organisationsformen von Sozietät be-
greifen und damit einen regelrechten practical turn in den Cultural Studies initiierten, der
von einer Reihe benachbarter Disziplinen aufgenommen wurde.
10 Vgl. Andreas Reckwitz, der Praktiken als „know-how abhängige und von einem
praktischen ,Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen“ bestimmt. Andreas
Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“, in: Zeitschrift für Soziologie
32/4, 2003, S. 282–301, hier S. 289.
und kollektiv geteiltem Wissen beruhen“11, so gilt das für die in den folgenden
Kapiteln besprochenen Praktiken nur teilweise – tatsächlich treten in den
einzelnen Beiträgen Verfahren, Techniken oder Handlungsweisen in den Blick,
die damals explizit als fortschrittliche Methoden begriffen und im Rahmen
ästhetischer Debatten reflektiert wurden, d.h. also bereits bei ihrem Auf-
kommen weder implizit noch unreflektiert blieben. Auch wenn so ausschließ-
lich Praktiken im Zentrum stehen, die um 1800 im Kontext künstlerischer oder
wissenschaftlicher Darstellungen zum Einsatz kommen, erlaubt die praxeo-
logische Perspektive mit ihrem basalen Ansatz, potenziell unterschiedlichste
Formen von Doings und Sayings im sozialen Raum als Praktiken zu beobachten
und nach ihren übergeordneten Organisationsformen (Diskurse, Akteure,
Institutionen) zu fragen, neue und vielversprechende Einsichten gerade in das
künstlerische Geschehen dieses Zeitraums. Vor dem Hintergrund epistemischer
Umbrüche, die mit der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der
Diskursfelder der Ästhetik und der empirischen Lebenswissenschaften ein-
hergingen und von der bereits erwähnten Entstehung neuer Formen der Dis-
tribution und Popularisierung von Kunst und Wissen begleitet wurden, wird
das Geschehen an der „notorischen Epochenschwelle ,um 1800‘“12 als ein Feld
von zeitgebundenen Praktiken lesbar, die aus praxeologischer Sicht keine bloß
singulären Effekte makrostruktureller Veränderungen (z.B. auf der Ebene von
Diskurs oder Gesellschaft) darstellen, sondern in denen sich in Form einzelner
Tat- oder Sprachhandlungen epochale Veränderungsprozesse mikrostrukturell
realisieren – dynamisch, oftmals durch Zufall und Experiment geprägt,
relational und diskursiv.13
Für einen Zeitraum, der andererseits für die Herausbildung moderner
ästhetischer Leitbegriffe wie die Vorstellung des selbstbezüglichen Kunstwerks
und der Autopoiesis seiner Form steht, sowie – folgt man der einflussreichen
These Niklas Luhmanns – für die Schließung von Kunst als autonomem
und systemisch ausdifferenziertem System innerhalb der Gesellschaft, als
deren Konsequenz sie „im Prozess der Selbstbeobachtung auch die Grenzen
11 Friederike Elias, Albrecht Franz, Henning Murmann und Ulrich Wilhelm Weiser, „Ein-
leitung“, in: Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer
Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von dens., Berlin/New York, 2015
(= Materiale Textkulturen 3), S. 3–12, hier S. 4.
12 So Joseph Vogl in der Einleitung zu: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens, München, 1999,
S. 7.
13 Zur Aufhebung der (in vielen Sozialtheorien entscheidenden) Unterscheidung zwischen
gesellschaftlicher Makro- und Mikrostruktur in der Praxistheorie s. Frank Hillebrandt,
„Begriffe und Paradigmen einer Soziologie der Praxis“, in: ders., Soziologische Praxis-
theorien. Eine Einführung, Wiesbaden, 2014, S. 57–116, bes. S. 87–101.
dieser Autonomie erkennt, nämlich dass die eigenen Ansprüche und Maß-
stäbe nicht mehr gesamtgesellschaftlich generalisierbar sind“14, wird über die
Frage nach Praktiken lebendiger Darstellung somit eine konträre Perspektive
ins Feld geführt: In den Beiträgen des Bandes werden künstlerische Werke,
ihre Entstehung, diskursive Rahmung und Theoretisierung von Praktiken
her verstanden, die im Feld der Kunst und Ästhetik gebräuchlich sind, zu-
gleich aber mit anderen Diskursfeldern geteilt oder aus diesen übernommen
werden können – wie z.B. wenn literarische Texte auf die ,lebendigen Bilder‘
zeitgenössischer Mikroskopierpraktiken anspielen (WELLMANN), wenn
Theatermanuale für die Beschreibung von Proben- und Aufführungspraktiken
auf Begriffe der Biologie rekurrieren (KAPPELER) oder der ästhetische Be-
griff der (lebendigen) Darstellung für die Modellbildung der Mathematik un-
verzichtbar wird (SCHUBBACH).
(III) Die Frage nach den Praktiken lebendiger Darstellung möchte drittens
und letztens die bestehende Forschungsdiskussion zur ,ästhetischen Lebendig-
keit‘ um 1800 durch einen materialen, auf Akten der Verkörperung und per-
formativer (Wieder-)Belebung fußenden Lebensbegriff erweitern.15 Dieser
schließt an Ergebnisse zur oben beschriebenen ,performativen Wende‘ im
rhetorischen Paradigma der lebendigen Darstellung an, rückt jedoch anstelle
begrifflicher Modelle oder Theorien in erster Linie die konkreten Formen der
Realisierung in den Blick: Die ,Lebendigkeit‘ der Darstellung ist aus praxeo-
logischer Perspektive zuallererst eine im historischen Kontext gegenwärtige,
situative, die durch jeweils spezifische Verfahren, Akteure und Institutionen
ermöglicht wird. An verschiedenen Stellen lassen sich dabei in den einzelnen
Aufsätzen Berührungspunkte mit dem Lebensbegriff der zeitgenössischen
Biologie und Anthropologie erkennen – etwa in der zitierten Faszination der
Literatur für Praktiken des Mikroskopierens oder im Aufkommen von Vor-
stellungen organischer Bildung im Kontext von Aufführungspraktiken und
Theaterinstitutionen. Durch den Fokus auf Darstellungspraktiken werden so
interdiskursive Bezüge zwischen Ästhetik und den zeitgenössischen Lebens-
wissenschaften erkennbar, die in der Forschung im Rahmen wissenspoeto-
logischer Studien oder den anglo-amerikanischen Science Studies bereits seit
einiger Zeit beforscht werden. Im Unterschied vor allem zu solchen Ansätzen,
die von einer Übernahme vitalistischer Modelle – z.B. des Bildungstriebs,
14 Thomas Klinkert unter Bezug auf Luhmann in: ders., „Literatur, Wissenschaft und
Wissen – ein Beziehungsdreieck“, in: Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochen-
schwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, hg. von ders. und
Monika Neuhofer, Berlin, 2008 (= spectrum Literaturwissenschaft 15), S. 65–86, hier S. 86.
15 Hierzu ausführlicher in den folgenden Unterkapiteln.
16 Vgl. die ,Pionierstudien‘ in diesem Feld von Maike Arz, Literatur und Lebenskraft.
Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart, 1996; Helmut
Müller-Sievers, Self-Generation. Biology, Philosophy, and Literature around 1800, Stanford,
1997 sowie den Überblick bei Johannes Bierbrodt, Naturwissenschaft und Ästhetik 1750–
1810, Würzburg, 2000.
17 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 2. Teil: Kritik der teleologischen Urteilskraft,
Hamburg, 2009, §65, S. 280.
18 Z.B. Neue Leipziger Literaturzeitung 1, 1806, S. 457.
19 August Klingemann, Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche, Bd. 1, Braun-
schweig, 1819, S. 38.
Lebendiges Theaterspiel
Wie oben bereits angemerkt, gilt das Theater nicht zuletzt deswegen als
Ort der Verlebendigung von Kunstwerken, weil es diese in Proben- und Auf-
führungspraktiken mit Hilfe einer Reihe von um 1800 aufkommenden Schau-
spielpraktiken aktualisiert. Eine dieser Praktiken ist die bereits erwähnte
‚Leseprobe‘, die Ende des 18. Jahrhunderts an vielen Bühnen eingeführt wird,
so u.a. von Friedrich Ludwig Schröder in den 1770er Jahren in Hamburg. Da
Schauspieler/innen bis zu diesem Zeitpunkt oft nur die eigenen Rollentexte
aus Abschriften kennen, soll die Leseprobe ihnen den Theatertext als Ganzes
vor Ohren führen.20 Die Praktik des Gemeinsamen-Laut-Lesens bzw. des Vor-
lesens stellt eine erste Stufe in einem Prozess dar, der den Theatertext von
einem toten in einen lebendigen Zustand versetzen soll.21 Das Vorlesen des
Stückes kann eine gemeinschaftliche Unternehmung der Schauspieler/innen
sein oder von einem ‚Vorleser‘ übernommen werden.22 In beiden Fällen wird
mit der akustischen Vergegenwärtigung des Theatertextes ein Prozess in Gang
gesetzt, der zu einer Bildung eines Netzwerkes von Akteuren führt, die zu
einem ‚Gesamtorganismus‘ zusammenwachsen und das Theaterstück in ihrem
dynamischen Zusammenwirken vor den Augen und Ohren der Zuschauer/
innen in einer Aufführung zu neuem Leben erwecken.23 Die Idee der Lese-
probe weitet die Vorstellung einer lebendigen Darstellung also auf Praktiken
jenseits der Aufführung vor Publikum aus und beschreibt eine prozesshafte
scheint Garant für eine Praxis, die in Verwaltungs-, Proben- und Aufführungs-
praktiken in gruppendynamischen Prozessen einen lebendigen Schauspieler/
innen-Organismus schafft, der allmählich zusammenwächst und sich in
seinen Interaktionsformen immer wieder erneuert. Auf den ersten Blick
scheinen viele Theatergruppen also selbstverwaltet und demokratisch
organisiert zu sein,30 bei genauerem Hinsehen entpuppen sich Regelwerke und
Organisationsformen aber oft als Werkzeuge autoritärer Disziplinierung.31 Die
Gemeinschaft der Theatergruppe mit egalitärer Ordnung, die Kunstwerk und
Gesellschaft als dynamischen Organismus verlebendigen soll, bleibt in den
meisten Fällen Utopie. Die Funktion des Regisseurs als autoritäre Macht setzt
sich im Theaterbetrieb durch, nur vereinzelt wird weiter mit Modellen einer
demokratischeren, selbstorganisierten Theatergemeinschaft experimentiert.32
Lebendige Rede
30 Klaus Schwind, „‚Man lache nicht!‘ Goethes theatrale Spielverbote. Über die schau-
spielerischen Unkosten des autonomen Kunstbegriffs“, in: Internationales Archiv für
Sozialgeschichte der deutschen Literatur 21/2, 1996, S. 66–112, hier S. 74.
31 Peter Hesselmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutscher
Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt a.M., 2002, S. 279.
32 Diese Überlegungen werden im Detail weiter ausgeführt im Beitrag von Annette Kappeler
im vorliegenden Band: „‚Dramatische Darstellung in ihrem organischen Zusammen-
hange‘. Lebendiges Theaterspiel um die Wende zum 19. Jahrhundert“ (s.u., S. 105–125).
33 Vgl. u.a. Johannes Birgfeld, „Klopstock, the Art of Declamation and the Reading Revolution:
An Inquiry into one Author’s Remarkable Impact on the Changes and Counter-Changes
in Reading Habits between 1750 and 1899“, in: Journal for Eighteenth-Century Studies 31/1,
2008, S. 101–117; Johan Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst
zwischen 1750 und 1800, Göttingen, 2004; Joachim Gessinger, Auge & Ohr. Studien zur Er-
forschung der Sprache am Menschen. 1700–1850, Berlin/New York, 1994; Reinhart Meyer-
Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin, 2001, S. 223–225; Karl-Heinz
Göttert, Geschichte der Stimme, München, 1998, S. 373–398; Sean Franzel, Connected by the
Ear: The Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture, Evanston, IL, 2013 sowie
die folgenden Aufsätze von Mary Helen Dupree: „Early Schiller Memorials (1805–1809)
and the Performance of Literary Knowledge“, in: Performing Knowledge, 1750–1850, hg. von
lautes Lesen, Vorlesen, Deklamieren oder der öffentliche Vortrag – all dies wird
um 1800 nicht nur verstärkt individuell praktiziert, sondern auch von nam-
haften Akteuren und Institutionen (wie z.B. Lesegesellschaften) gefördert und
als ein Ensemble von kultivier- und erlernbaren Praktiken verstanden, die
auch zu entsprechenden Wissensformationen gerinnen (z.B. Deklamations-
lehren). Diese Reorientierung kann zum einen als Gegenreaktion auf die
genannte Entwicklung verstanden werden: Man besinnt sich auf das Ver-
gangene und idealisiert es, wie etwa die unten zitierten Texte von Herder und
A.W. Schlegel zeigen, im Kontext zivilisationskritischer Überlegungen, zugleich
als Ursprüngliches, als klingende Erinnerung an eine Zeit der Unmittelbar-
keit, Gemeinschaftlichkeit und Ganzheit. Zugleich hat diese Entwicklung aber
auch mit einer spezifisch klanglichen Codierung des seelischen Innenlebens
(des Einzelnen oder auch des Kollektivs) zu tun, die sich in der empirischen
Ästhetik und Psychologie im späten 18. Jahrhundert Bahn bricht und sich in
der Musikauffassung dieser Zeit ebenso niederschlägt wie in philosophischen
Sprachursprungstheorien und in einer Renaissance der Vorstellung des
Dichter-Sängers.
Caroline Welsh hat diesen Konnex beispielsweise an den Texten des
ästhetischen Theoretikers und empirischen Psychologen Johann Georg Sulzer
überzeugend herausgearbeitet.34 Sulzer steht erstens am Beginn einer psycho-
logischen Theoriebildung des Unbewussten. Er behandelt „‚dunkle Gegenden
der Seele‘, die dem Bewusstsein nicht oder nur schwer zugänglich seien“ und
an deren Schwelle zum bewussten Seelenleben er die Stimmung als „diffuse
emotionale Grundbefindlichkeit“ verortet, die im bewussten Seelenleben als
ein Indiz für unbewusste Prozesse, als ein Hinweis, dass sich im Unbewussten
„etwas zusammenbraut“, zu verstehen sei.35 Und der Begriff der Stimmung
ders. und Sean Franzel, Berlin, 2015, S. 137–164; „Ottilie’s Echo: Vocality in Goethe’s ‚Wahl-
verwandtschaften‘“, in: German Quarterly 87/1, 2014, S. 67–85; „From ‚Dark Singing‘ to a
Science of the Voice: Gustav Anton von Seckendorff, the Declamatory Concert and the
Acoustic Turn Around 1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 86/3, 2012, S. 365–396; „Sophie Albrechts Deklamationen. Schnittstellen
zwischen Musik, Theater und Literatur“, in: Die Albrechts – Erfolgsautor und Bühnenstar.
Aufsätze zu Leben, Werk und Wirkung des Ehepaars Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752–
1814) und Sophie Albrecht (1757–1840), hg. von Rüdiger Schütt, Hannover, 2015, S. 353–368.
34 Caroline Welsh, „Zur psychologischen Traditionslinie ästhetischer Stimmung zwischen
Aufklärung und Moderne“, in: Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie,
hg. von Anna-Katharina Gisbertz, München, 2011, S. 131–155; vgl. für das Folgende: Nicola
Gess, „Narrative akustischer Heimsuchung heute und um 1800: Hören und Erinnerung
in Hoffmanns ,Johannes Kreislers Lehrbrief‘“, in: Wissensgeschichte des Hörens in der
Moderne, hg. vom Netzwerk Hör-Wissen im Wandel, Berlin, 2017, S. 253–288.
35 Welsh, „Zur psychologischen Traditionslinie“, S. 138f.
36 Johann Georg Sulzer , Artikel „Ton (Redende Künste)“, in: ders., Allgemeine Theorie der
Schönen Künste, 2 Bde., Leipzig, 1771–1774, hier Bd. 2, S. 1158, zit. nach Welsh, „Zur psycho-
logischen Traditionslinie“, S. 136.
37 Prägnant findet sich diese Annahme z.B. auch im frühromantischen Ursprachenmythos
wieder, den Sabrina Hausdörfer in ihrem Abstract zum Aufsatz „Die Sprache ist Delphi“
stichwortartig zusammenfasst: „Ursprache als Zugang zum verlorenen und künftigen
Paradies; […] Analogie von Ursprache und Poesie (A.W. Schlegel, Görres); Ursprache/
Poesie als Korrektiv der entfremdeten Allgemeinsprache; Novalis’ Theoreme über Ur-
sprache und Poesie: Bestimmung von Ursprache als Ausdruck eines integren Zusammen-
hangs von Ich und Welt; Musikalität, Kunstcharakter der Ursprache […]“ (Sabrina
Hausdörfer, „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und
Sprach-Utopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin“, in: Theorien vom
Ursprung der Sprache, 2 Bde., hg. von Joachim Gessinger und Wolfert von Rahden, Berlin/
New York, 1989, Bd. 1, S. 468–497).
So gingen in uns als Jünglinge die Gedanken derer über, die am meisten auf uns
gewirkt haben; ihre Töne flossen in uns, wir sahen ihre Gestalten, verehrten ihre
Schatten. […] [Was, Anm. d. A.] im dunkeln Grunde unsres Gedankenmeeres tot
und begraben zu liegen [scheint,] [steiget] zu rechter Zeit […] doch hervor […];
alles […] ist da, daß es zum Leben geweckt werde.40
38 Johann Gottfried Herder, „Ueber die menschliche Unsterblichkeit. Eine Vorlesung“, in:
ders., Werke, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, hg. von Hans Dietrich
Irmscher, Frankfurt a.M, 1998, S. 203–219, hier S. 207.
39 Ebd., S. 209.
40 Ebd., S. 208 u. 209.
41 Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 27f.
42 August Wilhelm Schlegel, „Briefe über Poesie, Silbenmaaß und Sprache“, in: ders.,
Kritische Schriften und Briefe, Bd. 1: Sprache und Poetik, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart,
1962, S. 141–180, hier S. 148.
Anteil“43 gehabt und die „Zeichen der Mitteilung [und das] Bezeichnet[e]“
noch in einem „notwendigen Zusammenhang“ gestanden hätten:44 „Indessen
liegt doch jene innige, unwiderstehliche […] Sprache der Natur in ihnen [d.h.
in den gebildeten Sprachen] verborgen.“45 Es ist die Aufgabe der Poesie, diese
verborgene Sprache in der gegenwärtigen Sprache wieder zu offenbaren: „Der
ist ein Dichter, der die unsichtbare Gottheit nicht nur entdeckt, sondern sie
auch andern zu offenbaren weiß“.46 Das wiederum bedeutet, dass der Dichter
bestrebt sein muss, seine Sprache wieder tönen zu lassen, „Gesang und gleich-
sam Tanz in die Rede zu bringen […]. Dies hängt genau mit ihrem [d.h. der
Poesie] Bestreben zusammen, die Sprache durch eine höhere Vollendung zu
ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen“.47
Vor diesen Hintergründen sind die um 1800 aufblühenden Praktiken des
lauten Lesens, des Vorlesens und des Deklamierens vor Publikum zu verorten,48
mit denen sich – anhand der Besonderheit ganz konkreter Beispiele, aber
auch unter Berücksichtigung verschiedener Schulen und Traditionslinien –
die Beiträge von DUPREE, DANNECK, THÜRING und MEYER-KALKUS
eingehend beschäftigen. Das zivilisationskritische und sentimentalische Be-
mühen, den toten Buchstaben zum Leben zu erwecken, die ‚Stimmen der Toten
wieder hörbar werden‘ zu lassen und mit ihnen einen so unverstellten wie un-
mittelbaren Ausdruck des (Innen-)Lebens des Sprechers/Dichters/Kollektivs
zu ermöglichen wie auch eine direkte Wirkung auf die Nerven und damit
das Seelenleben des Zuhörers zu erzielen, wird in diesen Praktiken in die Tat
umgesetzt. Beliebt ist dabei beispielsweise das Deklamieren von Klopstocks
Lyrik, insbesondere des „Messias“, das Klopstock seit ca. 1770 auch selbst durch
entsprechende Programmschriften und programmatische Gedichte förderte.
Aber auch viele andere Dichter stehen aktiv für das laute Lesen ihrer und
anderer Dichtung ein. Wie präsent die Praxis des öffentlichen Deklamierens
von Gedichten war und was man mit ihr verband, zeigt beispielsweise das Ge-
dicht An die Rhapsodin von August Wilhelm Schlegel, in dem es heißt, dass
die Rhapsodin „kunstlos“ „dem Gedichte Leben“ gebe und so ein „Abbild“ der
„Seele“ des lyrischen (Dichter-)Ichs neu erschaffe. Gleichzeitig entstehen, als
zur Wissensformation geronnene Praxis, zahlreiche Deklamationslehren, die
die Kunst der lebendigen Rede lehren und sich dabei u.a. von der klassischen
Rhetorik und der französischen Bühnendeklamation abzugrenzen suchen.
Autoren wie Schocher (Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben,
1791; vgl. DANNECK) oder Seckendorf (Vorlesungen über Deklamation und
Mimik, 1816) gehen dabei sogar so weit, in ihren Deklamationslehren den Ver-
such einer Notation der Deklamation zu unternehmen, in Anlehnung an die
musikalische Notenschrift.
Lebendige Bilder
Mythos von Pygmalion bestimmt, in dem künstlerisches Handwerk und die Er-
zeugung einer lebendigen Gestalt als zwei Aspekte der ästhetischen Schöpfung
zusammenfallen.52 Victor I. Stoichiță hat etwa am Beispiel französischer Bild-
hauerkunst des 18. Jahrhunderts überzeugend gezeigt, dass sich künstlerische
Bearbeitungen des Pygmalion-Motivs in dieser Zeit nicht nur häufen, sondern
dass in ihren Darstellungen oftmals eine Dialektik von unbelebter/belebter
Materie in Szene gesetzt wird.53
Während die neuartige Lebendigkeit der Bildwerke, die unter dem Para-
digma einer pygmalionischen Kunst seit dem mittleren 18. Jahrhundert für
Theorie und Praxis an Bedeutung gewinnt, einerseits ältere Vorstellungen wie
z.B. das seit der Antike angestrebte Ideal künstlerischen Vor-Augen-Stellens
beerbte, war ihr zugleich ein unübersehbar transgressiver Zug eingeschrieben:
Kunstwerke werden um 1800 als nicht nur scheinbar lebendig begriffen, etwa
im Modus des fiktionalen Als-Ob oder der symbolischen Repräsentation,
sondern, qua ihrer Bestimmung als Schöpfungen künstlerischer Einbildungs-
kraft und sinnlich erfahrbare Artefakte, als buchstäblich lebendig. Innerhalb
des aufklärerischen Diskurses zeichnet sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts damit ein Kunstverständnis ab, das in letzter Konsequenz auf einem
quasi-animistischen Begehren nach der körperlichen, sinnlichen Präsenz
imaginärer Objekte beruht, verbunden mit dem festen Glauben an die Fähig-
keit der Kunst, tote Materie zu verlebendigen.54 Ein sensibles Bewusstsein für
52 Oskar Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der Kunst-
rezeption“, in: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hg. von
Matthias Mayer und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br., 1997, S. 325–370; Viktor I. Stoichiță,
Der Pygmalion-Effekt. Trugbilder von Ovid bis Hitchcock, München, 2011.
53 Beispielsweise wird in Étienne-Maurice Falconets Pygmalion au pied de sa statue, à
l’instant où elle s’anime (1761) die Figur der Statue im Moment des Herabsteigens von
ihrem Sockel gezeigt, wobei das Gewand des neben der Statue knienden Pygmalion sich
in weiten Falten nicht nur über den Sockel im Bildnis breitet, sondern auch die Plinthe
des Bildnisses selbst überzieht, d.h. das Erlebnis der ,Verlebendigung‘ der Galathea
suggestiv in den Raum der Betrachterin überträgt. An Louis Lagrenées malerischer Dar-
stellung der pygmalionischen Statuenverlebendigung (Pigmalion, dont le Vénus anime
le Statue, 1777) macht Stoichiță dagegen anschaulich, wie zwischen den Figuren der
Statue, des Pygmalions und der anwesenden Göttin Venus bildimmanent eine Dynamik
von körperlicher Berührung und Reaktion ins Zentrum gestellt wird, die das ,Leben‘ der
Figuren als Teil einer zwischen belebter und unbelebter Materie sowie zwischen Mensch,
Kunstwerk und Göttin unterschiedslos zirkulierenden Energie darstellt. Vgl. Stoichiță,
Der Pygmalion-Effekt, Kap. IV: Die nervöse Statue, S. 119–166, bes. S. 125–160.
54 Zu Animismus und Fetischismus als Aspekten der Kunstrezeption um 1800 vgl.
Caroline van Eck, Art, Agency and Living Presence. From the Animated Image to the
Excessive Object, Leiden, 2015 (= Studien aus dem Warburg-Haus 16), S. 119–136; sowie all-
gemein zu primitivistisch-magischen Aspekten in der Kunstauffassung der Moderne:
William J. Thomas Mitchell, What Do Pictures Want? The Life and Love of Images, Chicago,
2005, zu Pygmalion als Paradigma S. 28–75.
55 Peter Brandes, Leben die Bilder bald? Ästhetische Konzepte bildlicher Lebendigkeit
in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg, 2013; Nicola Gess, „Troubled
Resemblances. Portrait and Poetics in Breitinger’s Critische Dichtkunst, Wieland’s Don
Sylvio, Burke’s Enquiry and Radcliffe’s Castle of Udolpho“, in: Modern Language Notes.
Comparative Literature Issue 132/5, 2017, S. 1277–1300.
56 Eine ausführliche Typologie mit vielen Einzelbeispielen gibt: Birgit Jooss, Lebende Bilder.
Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin, 1999.
57 Vgl. ebd., bes. S. 103–115. Die bekannteste Vertreterin der attitudes war Lady Emma
Hamilton, die als Gattin des britischen Diplomaten Sir William Hamilton seit den 1780er
Jahren in Neapel lebte. An ihren Attitüden-Performances nahmen regelmäßig prominente
Vertreterinnen und Vertreter der zeitgenössischen europäischen Kulturszene teil, ins-
besondere Weimarer Autoren, mit denen das Haus Hamilton engen Kontakt pflegte.
Starke Verbreitung fanden neben druckgraphischen Reproduktionen von Ansichten,
welche die Akteurin bei der Aufführung verschiedener Posen zeigten (u.a. von Francesco
Novelli, 1791) auch ihre Beschreibungen in Goethes Italienischer Reise. Vgl. Jooss, Lebende
Bilder sowie Eck, Art, Agency, and Living Presence, S. 168ff.
58 Jooss, Lebende Bilder, S. 38–53.
Dichtkunst und Tonkunst vermählen sich bei solchen Darstellungen sehr gut mit
der malenden Orchestik [sic] wohl am zweckmäßigsten so, daß erst, bevor noch
der deckende Vorhang gelüftet wird, ein Prolog oder sonst gebildeter Sprecher
den Gegenstand dichterisch bezeichnet; dann während das Gemälde sich dar-
stellt, begleitet es Musik, (wäre es auch nur im kleinen Kreise eine Fantasie am
Pianoforte).62
59 Allgemeine Deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände, 12 Bde., Leipzig, 1827,
Bd. 11, S. 3.
60 Jooss, Lebende Bilder, S. 54–82 u. 145–151.
61 Ebd., S. 42–172.
62 Karl August Böttiger, „Tableaux“, in: Abend-Zeitung, Nr. 126, 27.05.1819 (zit. in Jooss,
Lebende Bilder, S. 378f.).
63 Vgl. z.B. Eck über die Reaktionen auf die Hamilton’schen Attitudes: „Within a theatrical
setting Lady Hamilton achieved a changeant effect of representation, embodiment and
Literatur
actual presence that viewers found irresistible and sometimes deeply troubling. The
setting encouraged a willing suspension of disbelief, and created a viewing situation
in which viewers could allow themselves to enjoy a divided consciousness. They could
go along with the fiction of looking at a living, breathing statue, and allow themselves
the behavior that would not be acceptable in either a museum or when looking at Lady
Hamilton when not performing. At the same time they were well aware of the safety
valves offered by its performance character.“ In: dies.: Art, Agency, and Living Presence,
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1 Als entscheidender Schritt in diese theoretische Richtung gilt Friedrich Kittlers These eines
‚Schriftmonopols‘; siehe dazu Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin, 1986, S. 17. Bei
Albrecht Koschorke dagegen ist vom „Schriftverkehr als erweiternde Prothese akustischer
Verständigung“ die Rede; für das empfindsame Subjekt des 18. Jahrhunderts lasse sich die
Orientierung auf Briefkommunikation und Praktiken des stillen Lesens konstatieren. Siehe
dazu Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München,
2003, S. 190–196. Die These der ‚Verschriftlichung‘ wird auch von Werner Faulstich energisch
vertreten; im Rahmen der „bürgerlichen Usurpation“ mündlicher Medien wurden, so die
These, „die früheren Hörer […] tendenziell durch die neuen Leser ersetzt.“ Faulstich, Die
bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen, 2002, S. 75.
2 Siehe z.B. Irmgard Weithase, „Die gesprochene deutsche Sprache im Zeitalter der Klassik“,
in: dies., Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen, 1961, Bd. 1,
S. 333–415.
3 Siehe dazu Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin,
2001, S. 213–250; auch Johannes Birgfeld, „Klopstock, the Art of Declamation and the Reading
Revolution: An Inquiry into One Author’s Remarkable Impact on the Changes and Counter-
Changes in Reading Habits between 1750 and 1800“, in: Journal for Eighteenth-Century
Studies 31/1, 2008, S. 101–117; und Sean Franzel, Connected by the Ear. The Media, Pedagogy
and Politics of the Romantic Lecture, Chicago, 2013. Auch interessant in dieser Hinsicht sind
diesen Studien wird gezeigt, dass die Literatur und vor allem die Lyrik um 1800
vielerorts als Medium für das Ohr rezipiert wurde und dass sich dieses Ver-
ständnis in der Praxis durch Autorenlesungen, Deklamationen professioneller
Schauspieler/innen, Vorlesungen und ähnliche Praktiken durchgesetzt
hatte. Wie kann man den Begriff der ‚Verschriftlichung‘ und das Aufkommen
der akustischen Literaturperformance um 1800 zusammendenken und für
eine Auseinandersetzung mit Praktiken lebendiger Darstellung produktiv
machen? Im folgenden Beitrag wird diese Frage anhand der Selbstdarstellung
sogenannter ‚Deklamatoren‘ des frühen 19. Jahrhunderts erörtert. Diese
‚Rhapsodengeneration‘ ist als Untersuchungsgegenstand besonders ergiebig,
nicht zuletzt weil solche Performer in ihren Auftritten die Konfrontation
zwischen Schrift und Oralität als Prozess der Wiederbelebung stilisiert haben,
in dem der ‚tote Buchstabe‘ durch akustische Mittel noch einmal ins Leben
gerufen wurde. Für die Generation rhapsodischer Deklamator/innen, die etwa
zwischen 1790 und 1830 aktiv waren, ging es bei der Konfrontation zwischen
Schrift und Klang – wenigstens metaphorisch gesehen – um Leben und Tod.
Hier lässt sich allerdings die Frage stellen, ob der Text oder vielmehr die
Stimme als der eigentliche ‚Vampir‘ im Kontext der Deklamationskultur um
1800 verstanden werden sollte. Einerseits wurde die Schrift um 1800 durch den
sehr weit verbreiteten Topos des ‚toten Buchstabens‘ als Toter dargestellt, der
durch den Vortrag wieder verlebendigt bzw. ins Leben gerufen wird.4 In den
sogenannten ‚Schiller-Totenfeiern‘ ab 1800 wurde dieser Prozess sogar mit dem
Impuls verbunden, den toten Dichter durch den lebendigen Vortrag seiner
Texte wiederzubeleben.5 Andererseits könnte die Deklamationspraxis um
1800 als vom Text lebender Parasit oder sogar als Vampir betrachtet werden:
Denn diese Art von Deklamation (so meine These) stellt letztendlich keine
Rückkehr in ein früheres Zeitalter der Oralität dar, sondern ist auch eng mit
der Schriftkultur verbunden, sodass beide nicht länger voneinander getrennt
zu denken sind.
Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wird das Wort Deklamation (mit ver-
wandten Wörtern in fast allen europäischen Sprachen) als allgemeine Be-
zeichnung für eine große Vielfalt an Sprechpraktiken in der Öffentlichkeit
verwendet. Der Begriff entstammt der klassischen Rhetorik, in der er eine
Form argumentativer Improvisation kennzeichnet.6 Seit der Aufklärung wird
die Deklamation allerdings nicht mehr in erster Linie als improvisatorische
Praxis verstanden, sondern vielmehr als allgemeine Bezeichnung für das
stilisierte Lautlesen oder die Rezitation selbstverfasster oder fremder Texte
verwendet. In einer durch das Aufkommen der Schrift- und Druckkultur zu-
tiefst geprägten Epoche diente die Deklamation dazu, die emotionale Kraft der
improvisierten Rede für das Lautlesen gedruckter oder geschriebener Texte
wiederzugewinnen. Diese Assoziation lebt im heutigen Sprachgebrauch fort,
in dem das Wort ‚Deklamation‘ oft eine besonders emotionale Argumentation
kennzeichnet. Im aktuellen Duden wird die Deklamation zum Beispiel als
eine „auf Wirksamkeit bedachte, auch pathetisch vorgetragene Äußerung,
Meinung“7 definiert.
Vor allem in den deutschsprachigen Ländern fand um 1800 eine wesent-
liche Transformation der literarischen Deklamation außerhalb des Theaters
statt. Zum Teil von Klopstocks Experimentalpoetik inspiriert, beförderte eine
6 Vgl. George Alexander Kennedy, A New History of Classical Rhetoric, Princeton, 1994, S. 83f.
7 Vgl. Artikel „Deklamation“, in: Duden – das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mann-
heim, 2012 (online unter: http://www.duden.de/rechtschreibung/Deklamation [letzter
Zugriff: 22.02.2017]). In der aktuellen Begriffsbestimmung ist der Nachhall von Johann
Christoph Adelungs früherer Definition zu hören; für ihn heißt „Declamiren“ in einer Neben-
bedeutung: „Figürlich, mit unnöthiger Feyerlichkeit und Ausführlichkeit vortragen“. Johann
Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1.
Tl.: A–E, Wien, 1811, Sp. 1432 (online unter: http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/
lemma/bsb00009131_6_0_302 [letzter Zugriff: 22.02.2017].
8 Johann Wolfgang von Goethe, „Regeln für Schauspieler“, in: ders., Goethes Werke, Abt. I/
Bd. 40: Theater und Schauspielkunst. Literatur. Beiträge zur Jenaischen Allgemeinen
Literaturzeitung und Älteres 1787–1807, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von
Sachsen [WA], Weimar, 1901, S. 139–168, hier S. 146.
9 Siehe dazu auch Mary Helen Dupree, „From ‚Dark Singing‘ to a Science of the Voice:
Gustav Anton von Seckendorff, the Declamatory Concert and the Acoustic Turn Around
1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 86/3,
2012, S. 365–396; dies., „Theorie und Praxis der Deklamation um 1800“, in: Handbuch
Literatur und Musik, hg. von Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin, 2017 (= Hand-
bücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 2), S. 362–370.
10 Siehe dazu Seckendorff: „Madame Albrecht, jetzt in Altona (irre ich nicht, so war sie von
Klopstock selbst hierzu aufgemuntert und von ihm geleitet, Anm[erkung] d[es] A[utors])
trat als die erste Deklamatrice auf, und der zweite Gesang der Messiade war es, was sie
zum ersten Male sprach. Nach ihr kamen Schocher und Solbrig“. Seckendorff, Vorlesungen
über Deklamation und Mimik, 2 Bde., Braunschweig, 1816, Bd. 1, S. 14.
11 Siehe dazu u.a. Henry Smith, Eutin – Heidelberg 1811. Briefwechsel des Studenten Ernst
Hellwag mit seiner Familie in Eutin nebst weiteren Materialien und einem Register aller
Eutiner Hausbesitzer, Eutin, 2009, S. 49f.; auch Dupree, „Dark Singing“.
12 August Klingemann, Schill oder das Declamatorium in Krähwinkel. Eine Posse in drei Acten;
Fortsetzung der deutschen Kleinstädter und das Carolus Magnus, Helmstedt, 1812.
13 Ebd., S. 147.
14 David Hess, „Der wandernde Declamator“, in: Enzyklopädie der deutschen National-
literatur oder biographisches-kritisches Lexikon der deutschen Dichter und Prosais
ten seit den frühesten Zeiten; nebst Proben aus ihren Werken, 8 Bde., hg. von
Oskar Ludwig Bernhard Wolff, Leipzig, 1835–1847, Bd. 4, S. 83–88. Die Erzählung ist ur-
sprünglich in David Hess, Scherz und Ernst in Erzählungen, Zürich, 1816 erschienen.
Sowohl in den Texten von Hess und Klingemann als auch in Literatur- und
Theaterzeitschriften der Zeit werden die Deklamator/innen oft als ‚stehendes
Heer‘ dargestellt, die dazu bereit waren, die deutschsprachigen Länder zu
überrennen und bis in die kleinsten und abgelegensten Dörfer vorzudringen.
Aus Programmzetteln und Berichten lässt sich allerdings auf einen eher be-
grenzten, sich vor allem in größeren Städten konzentrierenden Wirkungskreis
schließen. Ein vielleicht typisches Beispiel der Gestaltung und des Repertoires
des deklamatorischen Konzerts um 1800 bietet das Programm eines am
18. November 1809 in Düsseldorf stattfindenden deklamatorischen Konzerts
von Elise Bürger.15
Seit ihrer Scheidung von Gottfried August Bürger im Jahre 1792 hatte sich
Elise Bürger als Dichterin und Schauspielerin in Hannover, Hamburg und
Altona, später auch in Dresden und Prag durchgeschlagen. Ihre zwei Ge-
dichtbände16 und eine kurze autobiographische Schrift17 geben Zeugnis von
ihrer langjährigen Karriere als Deklamatorin, die erst durch ihren Tod im
Jahre 1833 beendet wurde.18 Laut eigener Aussage fing Bürger schon 1796 an,
Abb. 2.1
Elise Bürger, Programmzettel zu einer
„Musikalisch-Deklamatorischen
Akademie“ in Düsseldorf 1809
Kanons, der sich vor allem an der Gattung Ballade orientierte, und zweitens
als Form kommerzieller Unterhaltung, die an ein gebildetes, bürgerliches
Publikum gerichtet war.
Um das Ziel der ‚Verlebendigung‘ literarischer Texte zu erreichen, mussten
Deklamator/innen um 1800 zu verschiedenen performativen Strategien
greifen. In manchen deklamatorischen Konzerten wurde Deklamation mit
tableaux vivants oder sogar mit Pantomimen kombiniert; in den ab 1805 auf-
geführten ‚Schiller-Totenfeiern‘ z.B. dienten solche visuellen Elemente dazu,
die Erinnerung des Publikums an Schillers Theatererfolge zu aktivieren,
während seine Texte feierlich vorgetragen wurden.19 Andererseits wurde die
akustische Dimension von manchen Deklamator/innen demonstrativ hervor-
gehoben, wie etwa in den Deklamatorien von Seckendorff, dessen Vortragsstil
sich dem Gesang annäherte. Durch seine Auseinandersetzung mit der Ver-
bindung zwischen Musik und Sprache wurde der Text in den Ohren mancher
Zuhörer, wie etwa jenen des Komponisten Johann Friedrich Reichardt, als
akustisches Objekt neugestaltet.20 In diesem Zusammenhang war Bürger auch
wegbereitend. Sich selbst als ‚Professorin der Deklamation‘ stilisierend, ge-
staltete sie ihre Aufführungen als ‚musikalisch-deklamatorische Akademien‘,
wobei das Wort ‚Akademie‘ als allgemeine Bezeichnung für ein Konzert oder
einen Kunstabend verwendet wurde.21 Der Musikteil wird zwar von den ge-
sprochenen Teilen getrennt, aber durch den Einsatz der musikalischen
‚Zwischensätze‘ wird die Aufmerksamkeit des Publikums ausschließlich auf
die akustische Dimension und die actio der Vortragenden konzentriert.
In Bürgers deklamatorischen Konzerten wurde der Status des literarischen
Textes als akustisches Objekt weiterhin programmatisch durch das Lautlesen
ohne Buch inszeniert. Diese Besonderheit von Bürgers deklamatorischen
Konzerten wird im Programm des Konzerts vom 18. November 1809 klar be-
tont. In einer Fußnote steht folgender Hinweis an das Publikum: „Die Zuhörer
werden um ihres eigenen Vergnügens willen ersucht, so stille als möglich ein-
zutreten, wenn es schon angefangen [hat], weil dieser Vortrag aus dem freien
Gedächtnis ohne Buch und Soufleur keine Störung erträgt.“22 Dass Bürger ohne
Schon der Umstand sprach sogleich zu ihrer Gunst, dass sie ganz frei und ohne
Buch, bloß aus dem Gedächtnis deklamierte. Beim Lesen bleibt die Stimme
stets an den todten Buchstaben gebunden, und das beredte Spiel der Minen
und Geberden fällt größtentheils ganz weg. Demungeachtet aber beobachtete
sie in ihrem ganzen körperlichen Ausdruck eine sehr feine Mäßigung, und ver-
gaß nie, dass sie nur deklamiere, nicht spiele. Ihre Stimme war weit weicher, ab-
wechselnder, fließender, als wir sie auf der Bühne zu hören gewohnt sind. Hätte
sie hier und da noch etwas bedeutender zu pausieren und (Ifflands feine Gabe)
auch in den leisen Tönen noch vornehmlich zu artikulieren [gewusst]; so hätte
Momus selbst wenig zu erinnern gefunden. Die herzlichtsten, schmelzendsten
Stellen gelangen ihr vorzüglich. Sie sprach mit tiefer Empfindung und wußte
daher auch dieselbe Empfindung den Hörern, zum Theil selbst wider ihren
Willen, mitzutheilen.23
Durch das Verschwinden des Buchs, so der Autor, wurde die deklamatorische
actio eindeutig in den Vordergrund gerückt. So wird die Rhetorik des toten
Buchstaben als ästhetisches Programm (oder vielleicht genauer gesagt, als Ver-
marktungsstrategie) des deklamatorischen Konzerts eingesetzt.
Die positive Rezension in dem Freimüthigen zeugt darüber hinaus von den
Publikumserwartungen und Aufführungskriterien, mit denen Deklamator/
innen um 1800 konfrontiert wurden. Bürger wird hier für ihre „Mäßigung“ bei
der körperlichen Inszenierung gelobt; eine strenge Trennung wird zwischen
Deklamation und dem theatralischen „Spiel“, also der Verkörperung einer
Rolle, geachtet. Sowohl der Eindruck „tiefer Empfindung“ als auch die sanfte,
fließende Stimme der Deklamatorin werden positiv bewertet. Hier ist das
Urteil des Rezensenten wohl durch geschlechtsspezifische Normen und das
damals noch gängige Ideal der Gefühls- bzw. Empfindungsschauspielerin
bedingt.24 Die Vermutung des Rezensenten, dass die Kommunikation des
Affekts zwischen der Deklamatorin und ihrem Publikum vielleicht wider
ihren Willen geschieht, ist vor dem Hintergrund solcher Diskurse von großem
23 Anonym, „Aus Dresden“, in: Der Freimüthige oder Ernst und Scherz 3/52, 1805, S. 207.
24 Zum Diskurs der ‚Gefühlsschauspielerin‘ um 1800 siehe Mary Helen Dupree, The Mask and
the Quill. Actress-Writers in Germany from Enlightenment to Romanticism, Bucknell, 2011.
Zu Geschlechterdiskursen im Theater des 18. Jahrhunderts siehe u.a. Wendy Arons, The
Impossible Act. Performance and Femininity in German Women’s Writing, New York, 2006;
und Beate Hochholdinger-Reiterer, Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als
Erfindung der Aufklärung, Göttingen, 2014 (= Das achtzehnte Jahrhundert: Supplemata 18).
Abb. 2.2 Musikalische Notation der „Sprachmelodie“ in Gustav Anton von Seckendorffs
Vorlesungen über Deklamation und Mimik (1816)
27 Christian Gotthold Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und
können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art der
Tonkunst gezeichnet werden?, Leipzig, 1791.
Abb. 2.3
Auszug aus Friedrich
Lichtwers „Der Kobold“
in Carl Friedrich Solbrigs
Declamations-
Uebungen für Knaben
und Mädchen, Jünglinge
und Jungfrauen (1816)
Bei dieser Methode brauchte der Vortragende bzw. die Vortragende keine
komplizierte Theorie der Sprechtonleiter oder der Vokale zu verinnerlichen,
sondern sie oder er musste sich einfach an den verschiedenen Schriftgrößen
28 Siehe dazu „Solbrig, Karl Friedrich“, in: Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und
bibliographisches Handbuch, 7 Bde., hg. von Wilhelm Kosch und Ingrid Bigler-Marschall,
München, 1953ff., Bd. 4, S. 2226.
29 Siehe u.a. Solbrig, Museum der Declamation (1813–1815); Almanach der Parodien und
Travestien (1816); Gedichte, Fabeln und Erzählungen (Fabelbuch) zu Declamations-Uebungen
für die Jugend. Mit genauer Accentuation der Wörter (1819); Declamationsübungen für
Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen (1822). In späteren Jahren wurde Solbrigs
Name als ‚Warenmarke‘ dem Titel seiner Sammlungen hinzugefügt, wie etwa bei Solbrigs
Tischreden. Eine Auswahl launiger Dichtungen, Anekdoten und Epigramme (1825–1830);
Solbrigs Declamierbuch für Schulen (1826, 1830) und Solbrigs Bellona und Komus. Ein
Taschenbuch zur Unterhaltung für Deutschlands Krieger insbesondere, sowie für Freunde
der Poesie und Declamation überhaupt (1828). Zu Solbrigs Werken siehe auch Karl
Goedeke, Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 18 Bde., Berlin
u.a., 1857ff., Bd. 11/I, S. 329.
orientieren. Dadurch ändert sich der mediale Charakter der Schrift: Die Texte
werden nicht mehr als Lesetexte präsentiert, sondern vielmehr als Hör-Texte
oder Partituren einer deklamatorischen Aufführung. Durch den Einsatz der
verschiedenen Schriftgrößen wird die akustische Dimension bereits im ge-
druckten Text vermittelt.
Durch die Reproduzierbarkeit solcher Texte wurde die Deklamation
auch zum Massen-Unterhaltungsmedium, das sich an ein breites Publikum
richtete. Bei Solbrig geht das mit einer Absage an die frühere Gebundenheit
des Deklamatoriums an einen als ‚klassisch‘ wahrgenommenen literarischen
Kanon einher. Das gilt sowohl für seine Deklamierbücher, bei denen der Unter-
haltungscharakter der Texte als Auswahlkriterium im Mittelpunkt steht, als
auch für seine eigenen Deklamatorien. Im Programm eines am 14. April 1816
von Solbrig in Leipzig gegebenen Deklamatoriums wird die Abendunter-
haltung zum Beispiel wie bei Elise Bürgers Deklamatorien in einen ernsthaften
und einen humoristischen (‚launigten‘) Teil eingeteilt; allerdings widmet sich
der Deklamator nicht mehr den Balladen von Schiller, sondern Unterhaltungs-
gedichten von Autoren wie Kotzebue sowie dem Dresdner Pseudoromantiker
Friedrich Kind.
Goethe ist in Solbrigs Programm nur noch als Gegenstand der Parodie
präsent.30 Darüber hinaus wird der Akzent in den zweiten und dritten Teilen
des Programms auf Dialekthumor verschoben, und zwar nicht nur durch
die Inklusion eines Nürnberger Mundartgedichts, sondern auch durch die
Aufführung einer selbst verfassten Posse antisemitischen Inhalts, Die Juden-
schaft in der Klemme. Als Schauspieler war Solbrig für seine damals als höchst
komisch wahrgenommenen Darstellungen von Juden bekannt, und mehr als
ein solcher Text erschien in den beiden Bänden seiner Dramatischen Possen,
die 1825 und 1826 veröffentlicht wurden. Sie machen uns darauf aufmerk-
sam, dass die ästhetische Praxis der Deklamation auch als Mittel zur Re-
produktion der damals herrschenden gesellschaftlichen und politischen, vor
allem nationalistischen, Diskurse diente und nicht als von solchen Diskursen
unabhängig gesehen werden darf. In dieser Hinsicht ist Karl-Heinz Götterts
mahnende Kritik an dem Diskurs des ‚toten Buchstaben‘ im Hinblick auf die
Instrumentalisierung der Sprechkünste im Dienste des Nationalismus und
der ‚völkischen Ideologie‘ unverändert relevant: Göttert zufolge gehört „der
30
Goethe- und Schiller-Parodien wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts als Deklamations-
material immer beliebter; kurz vor 1900 machten solche Parodien z.B. den ganzen 44. und
45. Band von Eduard Blochs Original-Deklamatorium, einer der Deklamation gewidmeten
Zeitschrift, aus. Siehe dazu: Eduard Bloch (Hg.), Eduard Blochs Original-Deklamatorium,
Berlin, 1898, Bd. 44: „Parodien Schillerscher Gedichte“ und Bd. 45: „Parodien klassischer
Gedichte“.
Kampf gegen den toten Buchstaben […] in den großen Zusammenhang der
Reaktionen auf den Modernisierungsprozeß.“31 Andererseits ist die Kritik am
‚toten Buchstaben‘ im Kontext der Deklamationskultur um 1800 wohl nicht als
universal geltende philosophische Maxime gemeint, sondern dient eher dazu,
die Selbststilisierung der Deklamator/innen zu unterstützen und dabei die
Notwendigkeit einer lebhaften, auf den Affekt der Zuhörer/innen wirkenden
Deklamationspraxis plakativ zu betonen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Deklamationspraxis um 1800
ein breit angelegtes Programm der ‚Verlebendigung‘ literarischer Texte ver-
folgte, die von einzelnen Akteuren verschiedenartig interpretiert und in Einzel-
aufführungen bearbeitet wurde. Im Laufe dieser inszenierten Verlebendigung
wurde der literarische Text zum akustischen Objekt, während das Buch als
physischer Gegenstand verschwand; durch die Erweiterung von Notations-
und Markierungstechniken in den Deklamierbüchern wurde der literarische
Text zum Drehbuch oder Partitur für die akustische Performance neugestaltet.
Ob eine bewusste literaturästhetische Stellungnahme daraus abzulesen ist,
ist allerdings schwer zu sagen; vielmehr scheint es sich hier um die Heraus-
bildung einer auf Unterhaltung ausgerichteten populären Deklamationskultur
zu handeln, die sowohl Parallelen zur damaligen Musikkultur als auch Züge
eines angehenden Massenmediums aufweist. So machen uns die reichlich vor-
handenen, zunehmend in digitalisiertem Format zugänglichen Quellen zur
Deklamationspraxis darauf aufmerksam, dass die Vielfalt der Lesepraktiken
im 18. und 19. Jahrhundert viel breiter ist, als bisher angenommen wurde: Es
gibt offensichtlich mehr als eine Art, den toten Buchstaben wieder zu beleben.
Literatur
Stimme, hg. von Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel, Berlin, 2008,
S. 93–113.
Hess, David, Scherz und Ernst in Erzählungen, Zürich, 1816.
Hess, David, „Der wandernde Declamator,“ in: Enzyklopädie der deutschen National-
literatur oder biographisches-kritisches Lexikon der deutschen Dichter und Prosais-
ten seit den frühesten Zeiten; nebst Proben aus ihren Werken, 8 Bde., hg. von Oskar
Ludwig Bernhard Wolff, Leipzig, 1835–1847, Bd. 4, S. 83–88.
Hochholdinger-Reiterer, Beate, Kostümierung der Geschlechter. Schauspielkunst als
Erfindung der Aufklärung, Göttingen, 2014 (= Das achtzehnte Jahrhundert: Supple-
mata 18).
Kennedy, George Alexander, A New History of Classical Rhetoric, Princeton, 1994.
Kinder, Hermann, Bürgers Liebe: Dokumente zu Elise Hahns und G. A. Bürgers unglück-
lichem Versuch, eine Ehe zu führen, Frankfurt a.M., 1981.
Kittler, Friedrich, Grammophon Film Typewriter, Berlin, 1986.
Klingemann, August, Schill oder das Declamatorium in Krähwinkel. Eine Posse in drei
Acten; Fortsetzung der deutschen Kleinstädter und des Carolus Magnus, Helmstedt,
1812.
Koschorke, Albrecht, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts,
München, 2003.
Meyer-Kalkus, Reinhart, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin, 2001.
Oellers, Norbert, „Toten- und Gedächtnisfeiern auf der Bühne“, in: ders., Schiller.
Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, 1805–1832, Bonn, 1967, S. 73–82.
Schneider, Johann Nikolaus, Ins Ohr Geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen
1750 und 1800, Göttingen, 2004.
Schocher, Christian Gotthold, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und
können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art
der Tonkunst gezeichnet werden?, Leipzig, 1791.
Seckendorff, Gustav Anton von, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde.,
Braunschweig, 1816.
Smith, Henry, Eutin – Heidelberg 1811. Briefwechsel des Studenten Ernst Hellwag mit sei-
ner Familie in Eutin nebst weiteren Materialien und einem Register aller Eutiner Haus-
besitzer, Eutin, 2009.
Solbrig, Carl Friedrich, Declamations-Uebungen für Knaben und Mädchen, Jünglinge
und Jungfrauen, Magdeburg, 1816.
Weithase, Irmgard, „Die gesprochene deutsche Sprache im Zeitalter der Klassik“, in:
dies., Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen, 1961,
Bd. 1, S. 333–415.
Wurst, Karin, „Spurensicherung: Elise Bürgers Einakter Die antike Statue aus Florenz
(1814) als Beispiel dramatischer Experimente um die Jahrhundertwende“, in: Goethe
Yearbook 8, 1996, S. 210–327.
Abbildungen
1 Karl-Heinz Göttert, „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos“, in:
Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, hg. von
Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel, Berlin, 2002, S. 93–114, hier S. 105ff.
2 Ebd. S. 106f.
3 Ebd. S. 107.
4 Ebd.
5 Darauf hat in den letzten Jahren vor allem Mary Helen Dupree in ihren Arbeiten zur De-
klamationsbewegung um 1800 hingewiesen. Exemplarisch: Mary Helen Dupree, „Early
Schiller Memorials (1805–1808) and the Performance of Literary Knowledge“, in: Performing
Knowledge, 1750–1850, hg. von ders. und Sean Franzel, Berlin, 2015, S. 137–164.
nicht zu wissen, daß die Kunst der Sprache und Declamation bereits zum Rang
einer Wissenschaft erhoben ist, worin das Organische mit höchster Naturwahr-
heit entwickelt, und das Musikalische zu mathematischer Evidenz erhoben ist.
Der Gelehrte, welcher vierzig Jahre lang sein rastloses thätiges Leben der Bildung
dieser Wissenschaft weihte, Herr D. Schocher in Naumburg, lebt unerkannt und
unbelohnt; auf sein Grab erst wird man den schwererrungenen, unfruchtbaren
Lorbeer legen, denn seine Wissenschaft ist gewiß, wie die Mathematik, und un-
umstößlich, wie die Wahrheit der Natur.6
Schocher wird vom Rezensenten als zu Unrecht verkannter Anreger des neu
erstarkten Interesses an der Deklamation gerühmt. Dieses Narrativ wird
von nahezu allen mit der Deklamation befassten Zeitgenossen geteilt und
publizistisch reproduziert. Renatus Gotthelf Löbel beispielsweise, der unter
anderem durch eine einflussreiche Übersetzung von Thomas Sheridans
Lectures on the Art of Reading hervortrat, ist der Meinung, dass Schochers De-
klamiermethode „wie Wahrheit von der Lüge absticht.“7
Schochers Popularität innerhalb der Deklamationsbewegung ist insofern
bemerkenswert, als er 1791 lediglich eine kurze Gelegenheitsschrift von nicht
einmal 20 Seiten zum Thema veröffentlicht unter dem wunderbar ausufernden,
jedoch durchaus zeittypischen Titel Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang
bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaulich ge-
macht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden?8 Eine Erweiterung dieser
ersten Skizze zum Thema kündigt Schocher zwar immer wieder an, sie wird
von ihm jedoch nie realisiert. Einige interessierte Leser, unter ihnen Goethe,
erhoffen sich durch diese angekündigte Erweiterung die Aufklärung von
dunklen Stellen: So schreibt Goethe in einem Brief an Friedrich Schiller am 24.
Juli 1794: „Sie erhalten hiermit die Schochersche Abhandlung mit Danke [sic]
zurück; das, was ich davon verstehe, gefällt mir recht wohl, das Uebrige wird er
mit der Zeit ja wohl aufklären!“9
Ein durch sekundäre Quellen einigermaßen gut belegter Grund für
Schochers Stellung innerhalb der Deklamationsbewegung kann in seiner
Unterrichtstätigkeit gesehen werden, wenngleich auch hier nicht ganz ein-
deutig geklärt werden kann, ob Schochers Ruf als Lehrer der Deklamation
größer war als sein tatsächlicher pädagogischer Einfluss. So formuliert bei-
spielsweise der junge Johann Gottlieb Fichte in einem Brief vom 8. Juni 1790
an seine Verlobte Johanna Marie Rahn enthusiastisch seinen Plan, mithilfe
von Privatissima bei Schocher „der Erste in dieser Kunst [d.i. der Deklamation,
MD]“10 werden zu wollen. Schocher, so ist sich Fichte noch vor Beginn des
Unterrichts sicher, habe die „Declamation nach einem hartnäckigen Studio
von 20 Jahren in die Form einer Wissenschaft gebracht, und fast unwandel-
bar auf die Natur der Sache gegründet,“11 um dann wenig später jedoch ein-
räumen zu müssen, dass er von Schocher nichts habe lernen können, was
er nicht ohnehin schon von der Kunst des Vortrags gewusst habe.12 Auch
Friedrich Schlegel, der seine Kenntnisse über Schocher aus zweiter Hand zu
haben scheint, äußert sich wenig begeistert: „Aus Schochers Declamation
besonders im Unterricht wird großes Gewese gemacht. Er hat ein schlechtes
Organ. […] Seine Schrift soll ohne mündlichen Unterricht sehr unverständlich
seyn.“13 Einigermaßen gesichert ist allerdings der Umstand, dass Schocher zu-
mindest einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Lehrer der Deklamation
im deutschsprachigen Raum überhaupt gewesen ist: Bereits in den frühen
1770er Jahren soll, folgt man den Angaben seiner Schüler Carl Friedrich Solbrig
und Johann Carl Wötzel, Schocher damit begonnen haben, Unterricht in De-
klamation zu erteilen sowie öffentliche Deklamatorien abzuhalten.14
Schochers Schrift, die sich weniger mit den theoretischen und praktischen
Details der Deklamationskunst auseinandersetzt, als gewissermaßen das
argumentative Feld absteckt, auf dem in der Folge die Bemühungen um eine
9 Zit. nach Irmgard Weithase, Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst von 1775–1825,
Berlin, 1930, S. 103. Weithase geht an dieser Stelle ausführlicher auf die zeitgenössische
Schocher-Rezeption ein.
10 Immanuel Herrmann Fichte, Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel,
Sulzbach, 1830, S. 96.
11 Ebd.
12 Vgl. Brief Fichtes an Johanna Rahn vom 5.9.1790, ebd., S. 538.
13 Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. III: Briefe von und an
Friedrich und Dorothea Schlegel, Bd. 23: Bis zur Begründung der romantischen Schule
(15. September 1788–15. Juli 1798), hg. von Ernst Behler, Paderborn, 1987, S. 273.
14 Vgl. Irmgard Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde.,
Tübingen, 1961, Bd. 1, S. 542.
15 Vgl. Mary Helen Dupree, „Theorie und Praxis der Deklamation um 1800“, in: Handbuch
Literatur und Musik, hg. von Nicola Gess und Alexander Honold, Berlin, 2017 (= Hand-
bücher zur kulturwissenschaftlichen Philosophie 2), S. 362–370, hier S. 363: „Nichts-
destotrotz galten Schochers Theorien als musterhaft für mehrere Generationen von
Deklamatoren um 1800.“
Weise durchgeführt, indem er seine Schrift mit einem längeren Exkurs auf
Demosthenes und Cicero beginnt. Das klassische Argument in diesem Zu-
sammenhang formuliert Gustav Anton von Seckendorff in seinen Vorlesungen
über die Declamation und Mimik (1816). Darin wird die eigene Gegenwart im
Duktus der beliebten Niedergangsmetaphorik Rousseauscher Prägung als
Letternkultur beschrieben, in der der tote, leblose und kraftlose Buchstabe
regiere, und kontrastierend einer als blühend vorgestellten Antike gegen-
übergestellt, in der das mündliche, lebendige Wort geherrscht habe.16 Dieses
Szenario dient Seckendorff als argumentativer Ausgangpunkt für den Aufruf
nach einer Erneuerung der Redekunst: Der Deklamierende soll „wie ein Sirocco“
die „todte[n] Kohlen“17 der Bücher aufs Neue zur Flamme der lebendigen Rede
entfachen. Bei Schocher weiß die Antike hingegen wenig über die Regeln der
mündlichen Rede: „Hätten die alten Redner etwas Zuverlässiges und Regel-
mäßiges von der Declamation gewußt: so hätten sie es uns gewiß, so wie
andere Wissenschaften, hinterlassen“ (Schocher 1791, 4). Für Schocher hängt
die Unkenntnis der antiken Autoren auf dem Gebiet der pronuntiatio mit ihrer
Unkenntnis auf dem Gebiet der Musik zusammen: „Aber wie konnten sie [die
antiken Autoren, Anm. d. A.] auch etwas mehr, als Unbestimmtes, wissen, da
ihre Kenntnisse von der Tonkunst noch ganz in der Kindheit waren, und sie
also von Tönen und Lauten, woraus doch eigentlich die Sprache besteht, nicht
ausgehen konnten“ (Schocher 1791, 4). Schocher nutzt also den Antikenbezug
als Argument für sein Anliegen, für die Art und Weise des Sprechens Regeln zu
formulieren. Das Nachahmen der antiken Redner, Rhapsoden und Rhetoren
soll ersetzt werden durch die wissenschaftliche, auf rationalen Prinzipien be-
ruhende Erforschung der Rede.18
Dabei kommt der visuellen Veranschaulichung der Prosodie eine Schlüssel-
stellung zu, die ja bereits in der rhetorischen Frage des Titels von Schochers
Text zum Programm wird. Um die Feinheiten der Rede „verstehen und an-
wenden zu können, ist kein ander Mittel, als die Versinnlichung, das ist, sie
dem Auge in Bildern darzustellen, um hierdurch dem Verstande eine Richtung
vorzugeben zu können“ (Schocher 1791, 9). Durch Strategien der Visualisierung
soll der flüchtige, ephemere Klang der gesprochenen Sprache gewisser-
maßen festgehalten und auf Papier gebannt werden. Schocher möchte den
,dunklen Gesang‘ der Prosodie in ein im hellen Licht des Tages lesbares, einer
visuellen Logik gehorchendes Zeichensystem übersetzen, um die Rede ihrer
auditiven Ungreifbarkeit zu berauben und sie auf diese Weise gewissermaßen
domestizierbar zu machen. Die Deklamation, die in Druckform vorliegende
Literatur verlebendigen und die Sprache aus dem Gefängnis der Schrift be-
freien will, manövriert sich mit einem solchen Vorhaben allerdings in eine
problematische Lage: Damit das tote Schriftwort lebendig werden kann,
muss seine prosodische Gestalt in einem zusätzlichen Vermittlungsschritt im
medialen Paradigma des Buchstabens zunächst graphisch vorgeformt, fest-
geschrieben, visuell lesbar und somit analysierbar gemacht werden. Für einen
Deklamator wie Schocher, der sich ja dem Projekt der Verlebendigung von
toter Schriftlichkeit verschreibt, müsste ein solches Vorhaben eigentlich einem
Pakt mit dem Teufel gleichkommen, schließlich würde eine Prosodienotation
die Sprache noch vollständiger als die Buchstabenschrift in ein visuelles
Darstellungssystem zwängen. Es gehört jedoch zu den konstitutiven Wider-
sprüchen der Deklamationsbewegung, dass fast alle ihrer Akteure Schochers
Ideen zu einer Prosodienotation aufgreifen und weiterdenken, ohne sie auch
nur im Ansatz zu problematisieren.
Versuche, die Prosodie mithilfe von graphischen Notationstechniken dar-
zustellen, werden jedoch nicht erst von der Deklamationsbewegung um 1800
unternommen, sondern finden sich in anderen Diskursen bereits im frühen 18.
Jahrhundert. Der langsam ansteigende Bedeutungszuwachs des Deutschen im
öffentlichen Leben, der ab dem Beginn des Jahrhunderts zum Beispiel dazu
führte, dass die deutsche Sprache vereinzelt in die Curricula der Universitäten
Eingang fand, sensibilisierte zunehmend auch für Probleme der Aussprache.
Dabei herrschte vor allem im Literaturdiskurs lange Zeit die Meinung vor, dass
die Buchstabenschrift in der Lage sei, auch die Prosodie der gesprochenen
Sprache darzustellen und – in Analogie zur Musiknotation – dem Lesenden
ausreichende Hinweise an die Hand gäbe, um von ihm adäquat reproduziert
werden zu können. Bei Johann Christoph Gottsched beispielsweise scheint das
Verhältnis von Buchstabenschrift und Aussprache unproblematisch zu sein:
Obgleich alle Sprachen in der Welt eher geredet, als geschrieben worden: so sind
sie doch vor der Erfindung der Buchstaben sehr rauh und unförmig gewesen.
Ihre erste ordentliche Gestalt haben sie der Schrift zu danken gehabt; […] Die
Schrift ist gleichsam die Abbildung der mit dem Munde ausgesprochenen Töne.
Diese verschwinden allemal im Augenblicke, wenn man sie nicht gleichsam
durch die Buchstaben sichtbar und dauerhaft machen kann.19
der ersten das für die Deklamation spezifische Anliegen, mithilfe einer solchen
Notationstechnik den ,dunklen Gesang‘ der Sprache erhellen zu können, um
anhand einer solchen Technik Regeln des Sprechens aufstellen zu können.
Von den deutschsprachigen Autoren, die auf Schochers Anregung reagieren,
ist neben anderen der Hildesheimer Pastor Hermann Heimart Cludius (1754–
1835) zu nennen, der in seinem 1792 erscheinenden Deklamationsmanual Über
die körperliche Beredsamkeit ganzen Passagen literarischer Texte musikalische
Noten unterlegt.24 Etwas später entwickeln unter anderem die beiden De-
klamationstheoretiker Gustav Anton von Seckendorff und Heinrich August
Kerndörffer (1769–1846) eigene Systeme der Prosodienotation, bei denen sich
arbiträre mit ikonischen Zeichen mischen.
In seiner Schrift von 1791 bedauert Schocher also das Fehlen eines Zeichen-
systems für die Prosodie: Wenn nur die antiken Autoren sich doch mehr um
die Deklamation gekümmert hätten, „so daß der Verstand, die Regel zu be-
folgen, sich an feste Begriffe hätte halten […] können: so würden sie eine Kunst
auf die Nachwelt gebracht, und uns nicht Anlaß gegeben haben, die Regeln
der Declamation zu bezweifeln, und bey solchem Zweifel eine so vortreff-
liche Kunst völlig liegen zu lassen“ (Schocher 1791, 4). Wie die Musik und die
Sprache, so müsste sich auch die Prosodie mittels eines graphischen Zeichen-
systems lesen lassen können: „Die Musik führt uns durch ihre Tonleiter auf
die Möglichkeit der Ausführung hin, und wir dürfen nur in der Declamation
ebenfalls eine richtige Tonleiter herstellen, und die ganze Sache ist gemacht“
(Schocher 1791, 9). Dabei geht Schocher davon aus, dass die Zeichensysteme
der Sprache und der Musik nicht ein bloß abbildendes Verhältnis zum Gegen-
stand aufweisen, sondern dass sie ihrerseits Auswirkungen auf die Entwicklung
von Sprache und Musik haben: „Denn was würde die Sprache seyn, wenn sie
keine Buchstaben, und die Musik, wenn sie keine Noten hätte? […] Nur durch
das Schreiben war es allein möglich, der Sprache Regeln, Vollkommenheit und
Fortdauer zu geben, so wie auch der Tonkunst durch die Noten“ (Schocher 1791,
13). Einen ähnlichen Effekt erhofft sich Schocher auch für die Deklamation. Zu
diesem Zweck schlägt er ein in seiner Schrift lediglich skizzenhaft angedeutetes
Notationssystem für die Prosodie der gesprochenen Sprache vor, das den An-
spruch erhebt, auf die spezifischen Gegebenheiten der Prosodie zugeschnitten
zu sein. Dabei ordnet Schocher der gesprochenen Sprache „Töne“ (Schocher
1791, 13) zu, die sich ähnlich wie die Töne der Musik auf einer Sprechtonleiter
darstellen lassen sollen. Leider verzichtet Schocher in seinem Text auf eine
erscheint eine Abgrenzung vom Theater, soll sich die Deklamation als eigen-
ständige Kunstform durchsetzen können. Schocher selbst geht zwar in seinem
Text nicht auf die Unterschiede ein, die beispielsweise zwischen der Theater-
deklamation und der Literaturdeklamation bestehen, kann aber auch hier
wieder als Anreger für das spätere Schrifttum zur Deklamation angesehen
werden. Seckendorff zum Beispiel betont 1816 die relative Distanz, die der De-
klamator seinem Gegenstand gegenüber bewahren soll und die im Gegensatz
steht zur Haltung des Schauspielers, der darum bemüht sei, die Realität so weit
wie möglich zu imitieren: „Man nennt denjenigen einen Deklamator, welchem
es leicht wird, im Spiel jede Gemütslage, mit dem Vorbehalt des Spieles und
mit der Absicht lediglicher Analogie mit dem wirklichen Leben (hierunter ist
nicht Nachäffen zu verstehen) sich zu geben.“27
Ein wesentliches Problem, dem sich Schocher in seinem Versuch gegen-
übersieht, die Deklamation als eine Kunstform der Natürlichkeit zu profilieren,
liegt darin, dass die Deklamation vielen Zeitgenossen ganz im Gegenteil als
die Paradedisziplin übertriebener Künstlichkeit schlechthin gilt. Schocher ist
deshalb, wie weiter oben bereits angedeutet, sehr darum bemüht zu betonen,
dass die Künstlichkeit der Deklamation allein auf das fehlende Wissen über
die (Natur-)Gesetze einer richtigen und natürlichen Aussprache zurückzu-
führen sei. Das Theater wird bei Schocher also zu einem Ort der künstlichen
Verstellung, der mit einer Semantik des Höfischen verbunden ist. Im Kontrast
dazu soll die Deklamation als Kunst der Natürlichkeit erscheinen, die sich im
Gegensatz zum Theater rational und empirisch erforschen lasse.
Die Abgrenzung des natürlichen Sprechens nach unten scheint für Schocher
unproblematischer zu sein: Man solle es vermeiden, „monotonisch und im
gemeinen Volkstone“ (Schocher 1791, 13) zu sprechen. Die Sprechweise der
unteren Schichten werde, so Schocher, der Vielfalt der geforderten Ausdrucks-
ebenen der Deklamation nicht gerecht. Es hat also den Anschein, als würde
Schocher die zeittypische ästhetische Faszination für das ‚Volk‘ nicht teilen.
Findet sich seit Herder eine interessante Doppelbewegung der Abgrenzung
von den unteren Schichten bei gleichzeitiger Glorifizierung ihrer Sprache und
Musik, die als rein, unverbildet und unmittelbar klassifiziert wird, so scheint
nicht nur Schocher in der Sprache der Unterschicht eher ein Hindernis für sein
27 Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd. 1, S. 138f. Vgl. auch Mary Helen
Dupree, die auf das Distanzgebot bei Seckendorff ausführlicher eingeht: Mary Helen
Dupree, „From ‚Dark Singing‘ to a Science oft he Voice: Gustav Anton von Seckendorff
and the Declamatory Concert Around 1800“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte 86/3, 2012, S. 365–396, hier S. 386.
Jede Darstellung durch die Sprache ist eigentlich Rede zu nennen, als Ausdruck
von Vorstellungen und zusammenhängenden Begriffen durch die Sprache,
welcher unmittelbar aus dem Inneren des Menschen hervorgeht und durch Laute
der Stimme oder Redetöne auf das Innere Anderer wirkt. Hiernach gründet sich
diese äußere Beredsamkeit hauptsächlich auf die Tonsprache, weshalb sie als die
Beredsamkeit der Tonsprache zu betrachten ist, und insbesondere Declamation
genannt wird.31
30 Auf die Bedeutung der Mündlichkeit für die Entstehung der universitären Vorlesung
um 1800 hat Sean Franzel aufmerksam gemacht: Sean Franzel, Connected by the Ear. The
Media, Pedagogy, and Politics of the Romantic Lecture, Evanston, IL, 2013.
31 Heinrich August Kerndörffer, Anleitung zur gründlichen Bildung der öffentlichen Bered-
samkeit. Ein Compendium für Schulen, Gymnasien und akademische Vorlesungen, Leipzig,
1833, S. 21.
32 Im folgenden Referat des Resonanz-Modells beziehe ich mich hauptsächlich auf Caroline
Welshs Studie Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik
und Literatur um 1800, Freiburg i.Br., 2003. Siehe auch den Sammelband Karsten Lichau,
Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur,
München, 2009.
33 Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissen-
schaften und Künste, Halle/Leipzig, 1732–1754, Stichwort „Sympathie“. Zit. in Welsh,
Hirnhöhlenpoetiken, S. 29.
34 Johann Gottfried Herder, „Viertes kritisches Wäldchen“, in: ders., Werke in zehn Bänden,
Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt
a.M., 1993, S. 247–442, hier S. 406.
35 Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: ders., Werke
in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M., 1985,
S. 695–810, hier S. 746.
36 Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig, 1801, S. 12.
37 Ebd., S. 10.
Literatur
Klopstock, Friedrich Gottlieb, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 7/1:
Die deutsche Gelehrtenrepublik, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin, 1975.
Koschorke, Albrecht, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts,
München, 1999.
Lichau, Karsten, Viktoria Tkaczyk und Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer
akustischen Figur, München, 2009.
Löbel, Renatus Gotthelf, Einige Bemerkungen über die Deklamation, Leipzig, 1793.
Nanni, Matteo, „‚Quia scribi non possunt‘. Gedanken zur Schrift des Ephemeren“, in:
Die Schrift des Ephemeren. Konzepte musikalischer Notation, hg. von dems., Basel,
2015, S. 7–14.
Schlegel, Friedrich, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler u.a.,
Paderborn, 1958ff.
Schocher, Christian Gotthold, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und
können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich [sic] gemacht, und
nach Art der Tonkunst gezeichnet werden?, Leipzig, 1791.
Seckendorff, Gustav Anton von, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde.,
Braunschweig, 1816.
Steele, Joshua, An Essay towards establishing the Melody and Measure of Speech to be
expressed and perpetuated by certain Symbols, London, 1775.
Weithase, Irmgard, Anschauungen über das Wesen der Sprechkunst von 1775–1825, Ber-
lin, 1930.
Weithase, Irmgard, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübin-
gen, 1961.
Welsh, Caroline, Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft,
Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg i.Br., 2003.
Zedler, Johann Heinrich (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissen-
schaften und Künste, Halle/Leipzig, 1732–1754.
Dass das Vorlesen literarischer Texte und vor allem von Dramen zu den
genuinen „Praktiken lebendiger Darstellung“ gehört, ist eine der Entdeckungen
der Diskussionen in Ästhetik und Vortragslehre um 1800. Goethe beschrieb
sie am Beispiel von Shakespeare-Dramen: Der Stimme eines womöglich un-
sichtbaren Vorlesers lauschend, ist uns, als ob wir einen Blick in den inneren
Schaffensprozess der Einbildungskraft werfen könnten und Zeuge der Ent-
stehung des Dramas würden. Eine innere Hörbühne baut sich auf, wo wir das
Vorgetragene fast intensiver noch als mit dem leibhaftigen Auge zu verfolgen
meinen.1 Bildschaffender als alle Medien, wirkt die durchs gesprochene Wort
angeregte Phantasie der Zuhörer. Dass diese Entdeckung ausgerechnet von
einem Autor formuliert wird, der 26 Jahre lang selbst als Theaterintendant
tätig war, ist nicht ohne Ironie, als ob sich seine vormals überschwänglichen Er-
wartungen in die Bildungsfunktion der Theaterbühne erschöpft hätten und er
Dramen nun primär wieder als Teil der Literatur, ja der Dichtung betrachtete.2
Eine solche Hochschätzung des akusmatischen Vorlesens dramatischer
Texte setzte sich freilich in Gegensatz zu konventionellen Auffassungen der
Zeit, wonach Dramen allein für die Aufführung auf Theaterbühnen bestimmt
sind. Selbst Hegel entrichtete diesen noch seinen Tribut. Hatte er doch aus
prinzipiellen Gründen keine hohe Wertschätzung fürs laute Vorlesen, dem er
eine geringere „Abstraktions-Fähigkeit“ als dem „tauben“, also stillen Lesen
bescheinigte.3 Für besonders verfehlt hielt er es als Mittel zur Vergegen-
wärtigung von Dramentexten. Denn deren Ziel sei es, „eine gegenwärtige
1 Johann Wolfgang von Goethe, „Shakespeare und kein Ende!“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe,
Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815, hg. von Friedmar
Apel, Frankfurt a.M., 1998, S. 638–639; vgl. ders., „Dramatische Vorlesungen (1828)“, in: ders.,
Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I/Bd. 22: Ästhetische Schriften 1824–
1832: über Kunst und Altertum, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M., 1999, S. 475.
2 In diesem Sinne verstand Tieck Goethes theaterkritische Äußerungen und das Lob des
Vorlesens von Shakespeare-Dramen in den 1820er Jahren: Zwischen der Bühne und der
deutschen Literatur habe sich „eine große Kluft befestigt“. Ludwig Tieck, „Einleitung“, in:
ders., Dramaturgische Blätter, 2 Bde., Breslau, 1826, Bd. 1, S. 2.
3 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundrisse (1830), Teil 3: „Die Philosophie des Geistes; mit den mündlichen Zusätzen“, in:
ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, Frankfurt a.M., 1970, S. 271–277, hier S. 277 (§459).
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzig
Bänden, Bd. 15, Frankfurt a.M., 1970, S. 504.
5 Ebd., S. 509.
6 Ebd., S. 510.
7 Vgl. Irmgard Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert. An-
schauungen über das Wesen der Sprechkunst vom Ausgang der deutschen Klassik bis zur Jahr-
hundertwende, Weimar, 1940, S. 181–200.
8 Schon der junge Herder hatte dazu die Stichworte gegeben: „[…] die einzige schöne Wissen-
schaft, die Poesie, wirkt durch Kraft. – Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch
Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist
das Wesen der Poesie […]“ Johann Gottfried Herder, „Kritische Wälder. Erstes Wäldchen“
(1769), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, hg. von
Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M., 1993, S. 194; vgl. den 107. Humanitätsbrief, in: ders., Werke
in zehn Bänden, Bd. 7: Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. von Hans Dietrich Irmscher,
Frankfurt a.M., 1991, S. 577f.: „Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft und Gemüt,
das Land der Seelen.“
Die wunderbare Fähigkeit unserer Seele, in der Zeit Eindrücke vermöge der
Worte einen nach dem anderen aufzunehmen und aus ihnen Bilder, Gedanken,
Überzeugungen und Ideen zu bilden und zu finden, hat die redenden Künste,
Poesie, Musik, Beredsamkeit und alle Erscheinungen hervorgebracht, durch
welche die tieffsten und heftigsten Leidenschaften, die seligste Beruhigung,
Thränen der Rührung und Lachen der Lust und Freude, die seltsamsten Vor-
stellungen und die Sprünge der Laune abwechselnd unseren Geist beherrschen.
Es läßt sich vielleicht eine Regel aufstellen, gewiß aber darüber nachdenken, in
welchem Zeitmaß die Worte einander unter gegebenen Bedingungen ablösen
müssen, um den nothwendigen und bezweckten Eindruck hervorzubringen, und
unsere Seele so zu erschließen, daß sie in aufgeregter Kraft durch die schaffende
Phantasie alle die einzelnen Laute, Bilder und Redetheile so zu einem Ganzen
verbindet, damit jene seltsame Täuschung möglich sei, die die Passivität des Zu-
hörers in so große Aktivität verwandelt, daß er mit dem Dichter dichtet und fast
ebensoviel Geist als dieser hinzufügt, um wahrhaft das Kunstwerk, hier und dort
gleichsam zwischen beiden getheilt, zu erschaffen.9
Entscheidend für die darstellenden bzw. redenden Künste ist demnach die
Weckung der „schaffenden Phantasie“ des Zuhörers, die aus Worten und
Tönen Vorstellungen aufbaut und Bilder und Reden zum Ganzen fügt. Waren
die Prämissen dieser Überlegungen schon von Lessing, Herder und Goethe
in die ästhetische Diskussion eingeführt worden, so ist Tiecks Schlusspointe
doch durchaus kühn und originell: Das Kunstwerk wird zwischen dem Dichter
und dem zu höchster Phantasietätigkeit angeregten Zuhörer – „gleichsam
zwischen beiden getheilt“ – geschaffen. Es ist nichts, was ein für alle Mal
für sich selbst besteht, sondern gelangt erst in der Vorstellung der Zuhörer
zur vollen Existenzweise. Durch solche „Täuschung“ könne eine „ächte Be-
geisterung“ geweckt werden, ja es sei möglich, „jene überirdischen Gefühle zu
erregen, jene Anschauungen und Erschütterungen, die dem Ungerührten jen-
seits des menschlichen Vermögens zu liegen scheinen“.10 Das ist der Kern von
Tiecks Konzeption des Dramenvorlesens als Kunstform.
Carl Gustav Carus hat einmal resümiert, was er selber Tiecks Lesungen ver-
dankte: „[…] es sei dadurch in mir das gewirkt worden, was jede echte Lectüre
wirken soll, nämlich ein tieferes Hineinschauen in die eigne Brust und auf
echte Lebenskunst, und ein freieres Hinausschauen auf eine unendliche Welt“.11
Diese Äußerung verdient, als Formel für die Wirkung gelungener literarischer
Vortragskunst in der Romantik festgehalten zu werden. Ihre kunstreligiösen
Obertöne sind nicht zu überhören. Seit Klopstock das literarische Vorlesen als
9 Ludwig Tieck, „Über das Tempo, in welchem auf der Bühne gesprochen werden soll“, in:
ders., Dramaturgische Blätter, Bd. 2, S. 253–271, hier S. 258.
10 Ebd., S. 259.
11 Carl Gustav Carus, Ludwig Tieck. Zur Geschichte seiner Vorlesungen in Dresden, Dresden,
1845, S. 16.
12 Vgl. Carus, Ludwig Tieck, S. 16; Rudolf Köpke, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben
des Dichters, 2 Bde., Leipzig, 1855; Max Remy, „Ludwig Tieck als Vorleser und seine Nach-
folger“, in: Mehr Licht!, 1879, Nr. 42, S. 668–671; Nr. 43, S. 686–688; Georg Beutel, „Tiecks
Vorlesungen in Dresden“, in: Dresdner Geschichtsblätter 22, 1913, S. 57–68; Weithase,
Die Geschichte der deutschen Vortragskunst im 19. Jahrhundert, S. 200–223; dies., Zur
Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, 2 Bde., Tübingen, 1961, Bd. 1, S. 548–551;
Maximilian Weller, Die fünf großen Dramenvorleser (Tieck, Schall, Holtei, Immermann,
Palleske). Zur Stilkunde und Kulturgeschichte des deutschen Dichtungsvortrags von 1800–
1880, Würzburg-Aumühle, 1939, S. 28–77; Roger Paulin, Ludwig Tieck. Eine literarische Bio-
graphie, München, 1988, S. 207–210; Klaus Günzel, „‚Das beste Theater in Deutschland‘.
Literarische Leseabende bei Ludwig Tieck am Dresdner Altmarkt“, in: Ludwig Tieck:
Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, hg. von Walter Schmitz,
Tübingen, 1997, S. 161–167; Janet Boatin, „Der Vorleser“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk –
Wirkung, hg. von Claudia Stockinger und Stefan Scherer, Berlin/Boston, 2011, S. 177–189.
13 Vgl. Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 67–70. – Unter den auswärtigen Gästen waren u.a. Jean
Paul, Willibald Alexis, Christian Dietrich Grabbe, Ludwig Hauff, Franz Grillparzer, Adolf
Müllner, Friedrich Rückert, Adolf Stahr, Adolf Friedrich von Schack, Peter von Cornelius,
Johann Gottfried Schadow, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, David Strauß, Karl Hase,
Heinrich Abeken, die dänischen Dichter Oehlenschläger und Andersen und der Bild-
hauer Thorwaldsen. Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 65.
14 Weller, Die fünf großen Dramenvorleser, S. 45.
15 Carus, Ludwig Tieck, S. 12.
Zuhörer über das Gehörte.16 Ein solcher Abend konnte von 18.00 bis 22.00 Uhr,
d.h. bis zu vier Stunden dauern.
Anders als etwa in Berliner Salons machte schon das äußere Arrangement
deutlich, dass hier das dramatische Kunstwerk im Mittelpunkt stehen sollte.
Dem Philologen und literarischen Connaisseur Tieck dienten die Lesungen
zur Begegnung oder Wiederbegegnung mit Werken der dramatischen Welt-
literatur, und dies sollte auch für seine Zuhörer gelten. Die übliche gesellige
Konversation, wie sie in anderen Salons gepflegt wurde, war deshalb un-
erwünscht. Den Herren war das Rauchen, den Damen das Stricken untersagt.17
Wer zu spät kam, wurde meistens nicht mehr eingelassen. Tieck nahm an
einem kleinen Tisch in der Mitte des Saals in einem Lehnstuhl Platz, während
sich die Zuhörer im Halbkreis um ihn scharrten, teils sitzend, teils stehend.18
Zeitgenössische Berichte dieser Abende unterstreichen den ergreifenden
Kontrast zwischen der körperlichen Gebrechlichkeit des Vorlesers – infolge
einer Gichterkrankung war er stark gekrümmt – und seinem ausdrucksvollen,
geschmeidigen Stimmorgan.19 Auf alle Gesten verzichtend, konnte er sich
auf seine Stimme und eine andeutende Mimik verlassen. Seine vorzügliche
Sprech- und Atemtechnik sowie die günstigen raumakustischen Verhältnisse
erlaubten ihm, Dramen in ungekürzter Länge, nicht selten auch zwei kleinere
Dramen ohne längere Pause hintereinander vorzulesen. Berichten lässt sich
entnehmen, dass diese Lesungen für unvorbereitete Zuhörer oft zur Gedulds-
probe wurden, gespickt mit Müdigkeitsanfällen und Minutenschlaf.
Im Zentrum der Lesungen standen die Werke von Shakespeare in den gerade
entstandenen neuen Übersetzungen aus Tiecks Freundeskreis, daneben
Dramen von Calderón, Lope de Vega, Goethe, Kleist und von ihm selbst (wie
16 Aus den Erinnerungen Hermann von Friesens, zitiert nach der Auswahl aus Tiecks
theaterkritischen Schriften und Zeugnissen von Zeitgenossen: Hermann Kasack und
Alfred Mohrhenn (Hg.), Die Gefährten, Bd. 2: Ludwig Tieck, Berlin, 1943, S. 258.
17 Helmina von Chézy, Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben, 2 Bde., Leipzig,
1858, Bd. 2, S. 103. C. G. Carus beschreibt die „erzwungene Spannung“ unter den Zuhörern:
„War das Lesen begonnen, so herrschte eine stillschweigende Uebereinkunft Aller, jeder,
auch der kleinsten Störung sich zu enthalten, Späterkommende nahmen auf das leiseste
Platz; Abgerufene […] glitten möglichst unbemerkt durch die nie knarrende Thüre […]“.
Carus, Ludwig Tieck, S. 13.
18 Vgl. Alexander von Sternbergs Zeichnung „Tieck als Vorleser“, die 1861 in der Zeitschrift
Die Gartenlaube erschien, wieder abgedruckt in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung,
Abb. 1.
19 „Sein Organ kam mir noch schöner vor als das Goethes, bei dem doch zuweilen eine ge-
wisse Härte fühlbar wurde, während hier alles ebenso wohltönend und weich wie kräftig
und klangvoll war.“ So charakterisierte Eduard Genast Tiecks Stimme, nachdem er eine
der abendlichen Vorlesungen gehört hatte, in: Eduard Genast, Aus Weimars klassischer
und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers, neu hg. von Robert Kohl-
rausch, Stuttgart, 1905, S. 166.
Der gestiefelte Kater, Fortunat, Kaiser Octavianus, Der Blaubart und Leben und
Tod der heiligen Genoveva). Um Schillers Dramen machte er hingegen, ab-
gesehen von den Räubern, einen Bogen, da er das Rhetorisch-Deklamatorische
scheute und einen Kampf gegen die Epigonen des ‘klassischen‘ Schiller
führte.20 Natürlich fehlten auch die antiken Dramatiker nicht, doch zog er es
vor, etwa Aristophanes’ Werke wegen ihrer sexuell drastischen Anspielungen
nur in kleiner Herrenrunde außerhalb seines Salons vorzutragen. Auf lyrische
Texte verzichtete er dagegen vollends, während er epische Texte nur verein-
zelt wählte. Einmal trug er das Nibelungenlied an zwei aufeinanderfolgenden
Abenden vor, und Jean Paul, als dieser ihn besuchte, zu dessen Begeisterung
Des Feldpredigers Schmelzles Reise nach Flätz.
Mit dieser Konzentration auf das Drama verfolgte Tieck eine kaum ver-
hohlene Absicht. Gerade in jenen Jahren, als er als Dramaturg am Dresdner
Hoftheater tätig war (offiziell von 1825–1842), schuf er sich hier sein eigenes
„Einmanntheater“21, wo er als Intendant, Regisseur, Dramaturg und Darsteller
in einer Person agieren konnte. Was er am Theater nicht hatte zur Aufführung
bringen können oder was ihm an dessen Inszenierungen missfallen hatte,
konnte er hier in anderer Weise vergegenwärtigen. In vieler Hinsicht waren
seine Dramenlesungen eine „Antwort auf die Zustände am Dresdner Hof-
theater, die der Dramaturg trotz ernsthafter Bemühungen in den zwanziger
Jahren nicht zu ändern vermochte“.22 Wie später für Karl Kraus und andere
Vorleser erfüllte das Dramenvorlesen eine kritische und unterschwellig sogar
polemische Funktion gegenüber dem aktuellen Theaterbetrieb, der ihm nach
eigenem Bekunden „Verdruß“ bereitete.23
Tieck las Autoren und Werke vor, von deren literarischer Qualität er über-
zeugt war und die er bekannter machen wollte, etwa die Dramen Calderóns24,
der im Schatten von Shakespeare stand, oder den fast unbekannten Heinrich
von Kleist, dessen Werke er herausgab.25 Das Dramenvorlesen wurde,
20 Vgl. Ludwig Tieck, „Die Piccolomini. Wallensteins Tod“, in: Dramaturgische Blätter, Bd. 1,
S. 55.
21 Günzel, „‚Das beste Theater in Deutschland‘“, S. 166.
22 Heike Müller-Merten, „Von Tieck bis Wolff – die Entwicklung von Theaterprogrammatik
und Dramaturgie am Dresdner Schauspiel“, in: Dresdner Hefte 22/79, 2004, S. 68–76, hier
S. 70; vgl. Peter Reinkemeier, „Der Dramaturg“, in: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung,
S. 408–423, bes. S. 409f.
23 Vgl. Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 177.
24 So setzte Tieck sich für Calderóns Dame Kobold, die vom Dresdner Theaterpublikum ab-
gelehnt worden war, durchs Vorlesen ein, vgl. Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 62.
25 Karl Wilhelm Ferdinand Solger hat von dieser Kleist-Lesung berichtet: „Tieck las uns beim
Tee einen nachgelassenen Anfang einer Tragödie von Heinrich Kleist, betitelt Robert
Guiscard, vor. Ich hörte das Fragment mit tiefer Bewunderung und ebenso tiefer Trauer
um den Verlust des Ganzen und des Dichters, und wir waren einig, daß es, in gleicher
Schönheit vollendet, nicht allein Kleists Meisterstück, sondern eins der größten Werke
deutscher Kunst geworden sein dürfte.“ K. W. F. Solger an seine Frau am 30.3.1817, zit.
nach: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 1, hg. von Ilse-
Marie Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M., 1991, S. 682.
26 J. Boatin spricht etwa von einer „Parallele zwischen Theater und Autorenlesung“ und
einer „Analogie zum Theaterraum“, vgl. Boatin, „Der Vorleser“, S. 181.
27 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 69.
28 Besucher von Tiecks Vorleseabenden rühmten seine besondere Begabung für das
Phantastische und Humorvolle – etwa bei der Lesung der Elfenszene im Sommernachts-
traum. Vgl. einen entsprechenden Bericht der englischen Schriftstellerin Jameson, zit. bei
Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 211.
Erstens die Individualität des Lesenden, die reiche Erfahrung, die ausgebreitete
Gelehrsamkeit, die feine attische Bildung, das sonore, tief innerlich aufklingende
Organ der Rede und die eigene hohe Dichtergabe in ihm. Aus diesen erklärt sich,
warum, wenn er einen Dichter in seinen Werken uns vorführte, wir so leicht in
den Dichter selbst uns zu versenken vermochten, warum wir oft den Lesenden
selbst dabei vergaßen, und nun um so mehr mit ihm in die mächtige Idee des
29 Der Schauspieler Eduard Genast berichtet von einer Lesung von Holbergs Lustspiel Der
Vielgeschäftige: „Zu diesem Stück, das ein flotter Leser, der sich nur an den Text hält,
in zwei Stunden beendet, brauchte er deren drei, denn er war in bester Laune und ex-
temporierte in einem fort so hochgenial und so hochkomisch dazu, daß des Lachens und
der Bewunderung kein Ende war.“ Genast, Aus Weimars klassischer und nachklassischer
Zeit, S. 184.
30 Zit. nach Beutel, „Tiecks Vorlesungen“, S. 61.
31 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 256 (aus den Erinnerungen Hermann von Friesens).
So auch Heinrich Schmidt: Tiecks stimmliche Differenzierungsfähigkeit sei so groß ge-
wesen, dass er die jeweiligen Dramenfiguren lediglich prosodisch durch die „Nuancierung
des Tons für die verschiedenen Personen und Geschlechter“ bzw. durch „Abstufung
der Stimme“ deutlich zu machen verstand. Heinrich Schmidt, Erinnerungen eines
Weimarischen Veteranen aus dem geselligen, literarischen und Theater-Leben, Leipzig, 1856,
S. 56f. „In der Rolle des Clarin (in Calderóns Das Leben ein Traum) und im Vortrag weib-
licher Partien gab Tieck einen überraschenden Anklang von der Modificationsfähigkeit
seiner Stimme, das Komische und Zarte auszudrücken.“ Ebd., S. 57.
[…] Nachdem jeder es sich in einem weitern Kreis auf Stühlen und Sophas zum
Anhören bequem gemacht, las Tieck den ‚Clavigo‘. Ich hatte das Stück oft ge-
lesen und empfunden, doch jetzt erschien es mir durchaus neu, und tat eine
Wirkung wie fast nie zuvor. Es war mir, als hörte ich es vom Theater herunter,
allein besser; die einzelnen Charaktere und Situationen waren vollkommen ge-
fühlt; es machte den Eindruck einer Vorstellung, in der jede Rolle ganz vortreff-
lich besetzt worden. Man könnte kaum sagen, welche Partien des Stückes Tieck
besser gelesen, ob solche, in denen sich Kraft und Leidenschaft der Männer ent-
wickelt, ob ruhig klare Verstandes-Szenen, oder ob Momente gequälter Liebe.
Zu dem Vortrag letztere Art standen ihm jedoch besondere Mittel zu Gebot.
Die Szene zwischen Marie und Clavigo tönet mir noch immer vor den Ohren;
die gepreßte Brust, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halb
erstickte Worte und Laute, das Hauchen und Seufzen eines in Begleitung von
Tränen heißen Atems, alles dieses ist mir noch vollkommen gegenwärtig und
wird mir unvergeßlich sein. Jedermann war im Anhören versunken und davon
hingerissen […] Tränen in den Augen der Frauen, die immer wieder hervor-
quollen, zeugten von des Stückes tiefer Wirkung, und waren wohl der gefühlteste
Tribut, der dem Vorleser wie dem Dichter gezollt werden konnte.33
33 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in:
Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. II/
Bd. 12, Frankfurt a.M., 1999, S. 284.
34 Tieck habe weibliche Figuren „nicht etwa durch einen höheren Ton und dünnere
Stimme“ bezeichnet, sondern „durch größere Milde“, heißt es in einem zeitgenössischen
Bericht „Tieck als Lesekünstler“, in: Blätter für literarische Unterhaltung 310, 1830; zit. nach
Weithase, Die Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 209. Das Fistulieren weiblicher
Stimmen sei ihm hingegen verhasst gewesen.
35 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 179.
Schröder, Leipzig, 1864, S. 174–179, hier S. 178. Rötscher gibt ein aufschlussreiches Bei-
spiel: „So fordert der ‚Tasso‘ Goethe’s den edelsten und feinsten Conversationston, durch
welchen wir uns heimisch fühlen sollen in dem idealen Kreise, in welchen uns das Werk
versetzt, und worin wir doch zugleich keinen pathetischen Vortrag vernehmen wollen,
der uns ganz aus der Illusion einer idealen feinen Gesellschaft herauswerfen würde.“ Ebd.,
S. 176. – Schon in seinem frühen Hauptwerk Die Kunst der dramatischen Darstellung hatte
H. Th. Rötscher den Konversationston als Ideal theatralischer Rede und des Umgangstons
gebildeter Stände beschrieben: „Der freie Konversationston der höhern Stände, der die
markirten und scharfen Accente entschieden verschmäht, ist nur durch jene mühelose
Verknüpfung der Sprachelemente, das leichte Hingleiten des Tons, wodurch alle stark
hervorspringenden Accente beseitigt werden, möglich.“ Heinrich Theodor Rötscher, Die
Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen Zusammenhange wissenschaft-
lich entwickelt, Berlin, 1841, S. 148.
39 Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen,
1977, S. 140; vgl. Markus Ophälders, „Ironie bei Tieck und Solger“, in: Ludwig Tieck. Leben –
Werk – Wirkung, S. 365–376, bes. S. 367 u. 370f.
40 Athenäum-Fragment (Nr. 380), in: Friedrich Schlegel, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
Abt. I/Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I, hg. von Hans Eichner, Darmstadt, 1967, S. 235.
41 Ludwig Tieck, „Uebertreibung“, in: ders., Dramaturgische Blätter, Bd. 2, S. 316–319, hier
S. 316f.
42 „Dasjenige allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir
sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto
mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein
Augenblick der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr
ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel
binden […]“. Gotthold Ephraim Lessing „Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei
und Poesie“, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd.5/2: Werke 1766–1769, hg. von
Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 1990, S. 11–206, hier S. 32.
43 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 238f.
44 Darin darf man übrigens ein Echo der Unterweisungen durch seinen Deutschlehrer Fried-
rich Rambach (1767–1826) am Friedrichs-Werderschen Gymnasium in Berlin erblicken,
denn dieser lehrte seine Schüler, dass die Figurencharakteristik den Gesamtzusammen-
hang eines Stücks niemals sprengen dürfe. Vgl. Friedrich Rambach, Fragmente über De-
klamation H. 2, 1803, S. 33f.
45 Köpke, Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 179. Tieck führte u.a. aus: „In Berlin hat Feßler diese Art
des Lesens zuerst in Gang gebracht. Heutigen Tages glaubt Jedermann lesen zu können,
aber die Wenigsten verstehen es, und auch ausgezeichnete Leute täuschen sich oft darin.
Der ältere Schlegel las lyrische Sachen und seine eigenen Gedichte in sehr angenehmer
Weise, Dramatisches dagegen in einem unerträglichen Kanzelton, er glaubte aber sehr
gut zu sein.“ Ebd. – Ignaz Aurelius Feßler (1756–1839) war Schriftsteller, Theologe, Zeit-
schriften-Herausgeber, Freimaurerlogen-Gründer und ab 1800 Rechtskonsulent in geist-
lichen und Schulangelegenheiten Neuostpreußens, ab 1809 dann in Russland tätig (vgl.
die Informationen in der Datenbank des Berliner Klassik-Portals (http://berlinerklassik.
bbaw.de/BK/personen/Biographie.html [letzter Zugriff: 26.10.2013]). Mit dem „älteren
Schlegel“ ist der Dramatiker Johann Elias Schlegel (1719–1749) gemeint, dessen Vortrags-
weise L. Tieck nur aufgrund von Hörensagen kennen konnte.
eine Stelle ganz vereinzelt und aus dem Zusammenhange (reißen), um sie unter
seltsamen Zuckungen dem Parterre entgegen zu schreien, um alle übrigen Mit-
spielenden völlig unbekümmert. Bald darauf tritt dann ein zweiter hervor, der es
auf ähnliche Art wiederholt, und so fort, so daß man völlig Theater und Gedicht
vergißt, und nur noch eine Uebung schreiender Stimmen anhört, wie sie wohl
sonst auf Schulen, oder bei den ersten Anfängern im Deklamiren gewöhnlich
war.46
Raum nicht bemerkt und durch einen ernsten Blick gezüchtigt“ worden sei;
er selber, von Holtei, habe dagegen „in einem großen Saal“ vorlesen müssen,
vor einer gemischten Masse, aus welcher ein jeder seinen Platz bezahlt, mit
demselben ein Recht zum strengsten Urteil erkauft und die Freiheit mitgebracht
hat, die man bei solchen Gelegenheiten niemals aus der Hand gibt. Einen so
ausgedehnten Kreis zu fesseln und festzuhalten, bedarf es stärkerer, sinnlicher
Mittel.49
Hier der Gastgeber Tieck, der vor Familienangehörigen, Freunden und Be-
kannten vorlas, dort der professionelle Vorleser, der vor anonymem Publikum
in selten adäquaten Vortragssälen gegen Eintrittsgeld seine Kunst produzierte.
Dies ist der Unterschied zwischen einer Liebhaber-Lesung und dem Vor-
trag eines Reise-Vortragskünstlers, eines „Reisevirtuosen“50, wie er mit Karl
von Holtei hervortrat. Emil Palleske machte dementsprechend die treffende
Unterscheidung zwischen Salon- und Saal-Vorleser.51 Tieck konnte sich der
Gewogenheit seiner um den Lesetisch gescharten Zuhörer sicher sein; Holtei
dagegen musste jeden Abend von neuem seine Zuhörer in fremden Räumen
für seine Kunst einzunehmen versuchen, und dazu bedurfte es schlagenderer
Mittel als des „edlern Conversationstons“.
Um die Einbildungskraft der Zuhörer durchs dichterische Wort zu stimulieren,
bedurfte es also eines spezifischen Vortragstils, im Vortragssaal wie auf dem
Theater. An dieser Norm gemessen, konnte Tieck nur Ungenügen mit den zeit-
genössischen Theater- und Vortragsbühnen empfinden. Heinrich Laube gegen-
über soll er einmal gesagt haben: „Unser deutsches Theater geht unter, weil die
deutschen Schauspieler nicht sprechen können.“52 Nur eine einzige Forderung
habe er ans deutschsprachige Theater zu richten, so berichtete Laube weiter:
„‚Nur eine Lehre‘, stöhnte er, ‚nur eine halten Sie aufrecht: sprechen lernen!
Es ist meine letzte Klage, daß unsere Schauspieler nicht sprechen lernen.‘“53
Nach Tiecks Diagnose, die er in seinen Dramaturgischen Blättern aufgrund von
49 Karl von Holtei, zit. nach Weller, Die fünf großen Dramenvorleser, S. 104f.
50 Gustav Manz, Das lebende Wort. Ein Buch der Ratschläge für deutsche Vortragskunst,
Berlin/Leipzig, 1913, S. 23.
51 Emil Palleske, Die Kunst des Vortrags, Stuttgart, 1880, S. 273.
52 Heinrich Laube, Das Wiener Stadt-Theater, Leipzig, 1875, S. 18.
53 Heinrich Laube, Das norddeutsche Theater, Leipzig, 1872, S. 80, zit. nach Weithase, Die
Geschichte der deutschen Vortragskunst, S. 217. – Heinrich Laube sollte sich dieser Klage
in seiner Zeit als Burgtheater-Intendant erinnern und den Sprech- und Vortragslehrer
Alexander Strakosch engagieren, um die Sprechkunst seiner Schauspieler zu verbessern.
Vgl. Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache, Bd. 1, S. 525–529.
H. Laube folgte damit im Übrigen einem Vorschlag, den der Dramatiker Adolf Müllner
bereits einige Jahrzehnte zuvor gemacht hatte, als er den Vorleser als unverzichtbar bei
denn sie haben sich durch ihn eine skandirende Singweise angewöhnt, einen
wiederkehrenden Abfall und ein gleichmässiges Aufsteigen der Stimme, daß ich
oft die Geduld der Zuschauer bewundern muß, die eine lange Tragödie sich in
dieser falschen Deklamation zumessen lassen, und dabei ziemlich befriedigt
sind. Wird diese unpassende Feierlichkeit einmal angenommen, und zugleich
jener dumpfe Ton, der sich von dem des gewöhnlichen Lebens entfernen und
einen edleren bedeuten soll, so folgt auch ganz von selbst, daß ein langsames
Tempo eintreten muß, in welchem sich denn dieses hin und hergeschwungene
Recitieren gleichmäßig fort bewegt.54
Diese Beschreibung ist von einer Präzision, dass selbst ein Leser späterer
Zeiten zu verstehen, ja zu hören meint, was hier in Rede steht. Tieck wandte
sich damit vor allem gegen Goethes Bühnenreform am Weimarer Hoftheater,
die Echos auch anderswo gefunden hatte. Goethe hatte Elemente des von
Klopstock eingeführten Dichtungsvortrags auf die Theaterdeklamation von
Versen übertragen, mit der Folge einer langsam getragenen Sprechweise und
einer gewissen Feierlichkeit und Monotonie. Goethes Inszenierung von Kleists
Der Zerbrochene Krug in Weimar 1808 war nur ein Musterbeispiel dieser Vor-
tragsästhetik, bei der der Witz der Verse und die Situationskomik unweiger-
lich verpufften. Tieck entwarf eine Art von Pathologie dieses hohen Singetons,
der sich „zum Würdigen und Edeln erheben will, […] um dem Nüchternen zu
entgegen“, dabei aber „schwülstig und schluchzend wird, oder sich nach und
nach in eine Art von Gesang verwandelt“.55 Man ende bei einer „schülerhaften
Die Beredsamkeit auf der Kanzel hatte sich also inzwischen gewandelt, doch
die Deklamation auf Theaterbühnen war bei einem „hohlen langsamen Ton“
und feierlichem Sprechgesang geblieben – eben bei dem, was man als Prediger-
oder Kanzelton bezeichnete.59
Tieck skizziert ein differenziertes Tableau der zeitgenössischen Sprech-
kunst auf dem Theater und auf Vortragspodien, indem er drei gleichermaßen
problematische Tendenzen voneinander abgrenzt:
a) ein hoch stilisiertes, zur Monotonie neigendes Deklamieren auf dem
Weimarer Hoftheater und anderswo, es sei dies ein „sich immer wiederholender
nachgeschleppt, oder gar auch als die stärkeren herausgestoßen, wie in Le-bén, Lie-bé,
Schur-ké! – so ist die Unnatur, das Widerwärtige und Abgeschmackte vollendet.“ Tieck,
„Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Friedrich Ludwig Schröder,
1831“, in: ders., Kritische Schriften, 4 Bde., Leipzig, 1848, Bd. 2, S. 313–375, hier S. 341.
56 Tieck, „Über das Tempo“, S. 266.
57 Ebd., S. 263.
58 Ebd., S. 254.
59 Vgl. zu diesem Begriff Theodor Heine, Grundzüge eines Unterrichtsplanes in der Kunst des
mündlichen Vortrags, Dresden, 1859, S. 30f.
60 „Jener falsche Gesang herrscht auch jetzt auf unserem deutschen Theater allenthalben,
und die meisten Schauspieler wissen wirklich nicht mehr, wie sie Verse anders als mit
diesem unangenehmen Tonfall vortragen sollen.“ Ludwig Tieck, „Große Schauspieler:
Schröder und Fleck“, in: Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 232.
61 Tieck, „Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Friedrich Ludwig
Schröder, 1831“, S. 345. – Tieck gesteht zu, dass ihn „schon Ifflands langsame Art in seinen
ernsthaften und empfindsamen Rollen ängstigen konnte, und einen jeden ächten Genuß
verkümmern [ließ], indem meine Ungeduld ihnen zuvoreilte, um das Wort und die
Rede zu ergänzen, mit der er oft so quälend zögerte.“ Tieck, „Über das Tempo“, S. 260.
Iffland hätte sich in der Tragödie „einen künstlich klagenden seufzenden und zitternd
unbestimmten Ton“ angewöhnt, „der die höchsten Ausbrüche der Leidenschaft ersetzen
sollte“, schreibt Tieck in „Die geschichtliche Entwicklung der neueren Bühne und Fried-
rich Ludwig Schröder“, S. 342.
62 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 236. – Heinrich Theodor Rötscher wird Ifflands
Manierismen dann als Züge eines Virtuosentums im Schauspiel beschreiben: Der
Virtuose wolle verblüffen „durch das Raffinement des Nüancierens, durch die über-
raschenden Kunstpausen, gleichviel: ob am rechten oder am unrechten Orte, selbst durch
neue, wenn auch die Vernunft der Situation zerstörende Accente zu frappiren.“ Heinrich
Theodor Rötscher, „Das Virtuosentum in der Schauspielkunst“, in: ders., Dramaturgische
und ästhetische Abhandlungen, S. 153–159, hier S. 158. – Tiecks Unterscheidung der ver-
schiedenen Tendenzen der Schauspielkunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
sollte bei Theaterhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts Schule machen. Sie ging etwa
in die ‚Geschichte der deutschen Schauspielkunst‘ von Eduard Devrient ein, der die so-
genannte ‚Berliner‘ von der ‚Weimarer Schule‘ unterschied. Demnach wollten die Berliner
„die Natürlichkeit des Vortrags bewahrt wissen, selbst auf die Gefahr, daß der Vers von
unfähigen Rednern platt getreten würde, die Weimar’sche Schule führte gegen diese Ge-
fahr die Schutzwehr eines gemesseneren, rhythmisch markirteren Vortrages ein, wollte
lieber zunächst an Lebendigkeit einbüßen, um nur, mit Durchsetzung einer rhetorischen
Dressur, die Verbreitung eines idealen Styles anzubahnen. Will man die Unterschiede
scharf spalten, so kann man sagen: in Weimar wurde die Tragödie mehr declamirt als
gespielt, in Berlin mehr gespielt als declamirt.“ Eduard Devrient, Geschichte der deutschen
Schauspielkunst, 2 Bde., Berlin, 1905, Bd. 2, S. 99f.
63 Nach Tieck müsse ein tragischer Shakespeare-Schauspieler „viel von Flecks Vortrag und
Darstellung […] haben, denn diese wunderbaren Übergänge, diese Interjektionen, dieses
Anhalten und dann der stürzende Strom der Rede sowie jene zwischengeworfenen
naiven, ja an das Komische grenzenden Naturlaute und Nebengedanken gab er so natür-
lich wahr, daß wir gerade diese Sonderbarkeit des Pathos zuerst verstanden. Sah man ihn
in einer dieser großen Dichtungen auftreten, so umleuchtete ihn etwas Überirdisches, ein
unsichtbares Grauen ging mit ihm […]“. Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 233f.
64 Ludwig Tieck: „Vergleichung der Darstellungsweise in England – Frankreich – Deutsch-
land“, in: ders.: Kritische Schriften, 4 Bde., Leipzig, 1848–1852, Bd. 4, S. 359–363, hier S. 360.
65 Tieck: „Über das Tempo“, S. 261.
66 Kasack/Mohrhenn, Die Gefährten, S. 232.
67 Dem Vorleser Tieck weist sie z.B. einen extensiven Vortragsstil beim Gedicht-Vortrag in
der Goethe-Zeit zu, hingegen einen mehr und mehr sich konsolidierenden intensiven
Vortragsstil beim späteren Dramenvorlesen. Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen
deutschen Sprache, Bd. 1, S. 549f.
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Genast, Eduard, Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines
alten Schauspielers, neu hg. von Robert Kohlrausch, Stuttgart, 1905.
68 Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass dieser Vortragsstil weniger unter professionellen
Vorlesern und Rezitatoren als vielmehr unter Schauspielern Anklang fand. Einige Zeit-
genossen haben sogar – und sicher nicht zu Unrecht – behauptet, dass seine Lesungen
„für die Darstellung mancher Rollen von Schauspielern (auf der Bühne) benutzt, ja
gänzlich copirt worden“ seien. Arnold Ruge, Unsre Classiker und Romantiker seit Lessing.
Geschichte der neuesten Poesie und Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1,
Mannheim, 1846, S. 425. Nach Emil Palleske galt dies etwa für die Potsdamer Antigone-In-
szenierung, zu deren Vorbereitung Tieck den Schauspielern das Drama mehrere Male
vorlas. Palleske, Die Kunst des Vortrags, S. 206.
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1 Zum Tableau als literarischer Gattung und der Rolle Merciers in deren Entwicklung vgl. Karl-
heinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München, 1998; und
Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München, 2004.
kurz ein Tableau mouvant dieser beyden Städte, von geübten Beobachtern an
Ort und Stelle selbst, im Moment der regsten Bewegung aufgefaßt und nieder-
geschrieben, periodisch aufzustellen, und dadurch dem teutschen Zeitungsleser
und Beobachter der laufenden Welthändel in schneller Aufeinanderfolge einen
sich immer aufs neue verjüngenden […] Grundriß der zwey Theater in die Hand
zu geben.4
4 Friedrich Justin Bertuch, „Plan und Ankündigung“, in: London und Paris I/1, 1798, S. 3–11, hier
S. 5.
5 Gottfried Ephraim Lessing, Laokoon, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 2007, S. 32.
Dagegen möchte ich in meinem Aufsatz zeigen, dass in der Tat manche
ausdrücklich visuellen Bilder aus der Zeitschriftenlandschaft temporale
Strukturen aufweisen, die mit Lessings Idee des einzelnen ‚fruchtbaren‘
Moments brechen. Im Prinzip bricht die inhärent multimediale Zeitschrift
mit dem Imperativ, die Logik der bildlichen und poetischen Künste zu trennen
und umfasst eine Ästhetik der intermedialen Mischung. In dieser Hinsicht
ist die Idee eines ‚Tableau mouvant‘ eine Provokation: Nach Lessing soll sich
das Bild nicht bewegen! Hier sieht man auch, wie Bertuch und Böttiger die
Logik der bildenden Künste mit der des Theaters zusammenbringen. Voraus-
gesetzt wird eine immer schon heterogene Vielfalt von Bildern und Texten,
die sich dem Theater nähert. Wenn die Zeitschrift sich als eine Art inter-
mediales Mischprodukt auffassen lässt, kommt diese Mischung einerseits
durch die serielle Anhäufung und Gegenüberstellung einer Vielfalt von auf-
einander bezogenen Texten und Bildern über das Format der Zeitschrift zu-
stande. Andererseits wird diese Ästhetik der Mischung auch durch Techniken
der multimedialen Wiederholung und Variation ermöglicht, indem ein Objekt
oder Ereignis mehrmals durch ein Ensemble von unterschiedlichen Texten
und Bildern dargestellt wird. Diese Variation führt zur Temporalisierung des
Objekts oder Ereignisses, die sich als Teil eines größeren zeitlichen Rahmens
oder einer temporalen Schichtung vorstellen lassen. Und drittens passiert
diese Mischung auch auf der Ebene der einzelnen Bilder selbst, in die Aspekte
der Medialität der Zeitschrift einbezogen werden, einschließlich der Inklusion
von Musiknotation und Sprache. Diese Verschränkung von Bild und Text ist
eine Art mediale Lösung für das Problem der Differenz zwischen Dichtung
und Malerei, aber sie ist auch Merkmal einer modernen Medienästhetik, die
über die ästhetischen Debatten des späten 18. Jahrhunderts hinausgeht.
Hinsichtlich des Topos der ‚lebendigen Darstellung‘ fällt auch auf, dass die
Literatur des urbanen Tableaus ebensowohl mit dem Ideal der Lebendigkeit
kompatibel ist, wie diese Literatur davon abweicht. Beide Diskurse befassen
sich mit der Vorstellung, dass ein ästhetisches Bild oder Objekt aus gemischten,
heterogenen Teilen besteht, und beide sind sehr an verschiedenen Techniken
interessiert, mit welchen man ein komplexes und lebendiges visuelles
Ensemble schaffen kann. Der Topos der Lebendigkeit zielt jedoch vor allem auf
die Harmonie ab, was Fehrenbach im Sinne von ‚Kohäsion‘ diskutiert, während
die Tableauliteratur der Dissonanz und dem Kontrast gegenüber offener ist.6
Anders gesagt, je mehr die spezifisch ‚lebendige‘ Darstellung sich in die neo-
klassizistische Richtung eines einheitlichen, organischen, notwendigerweise
6 Vgl. Frank Fehrenbach, „Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder“, in:
Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. von Ulrich Pfisterer und
Anja Zimmermann, Berlin, 2005, S. 1–40.
Um die Inhalte von London und Paris in aller Kürze zu skizzieren: Eine Aus-
gabe der Zeitschrift besteht zumeist aus vier Teilen, also jeweils aus Ab-
schnitten mit kurzen Artikeln über unterschiedliche Aspekte des Lebens
in den beiden Städten, gefolgt von Beschreibungen von ‚französischen und
englischen Carricaturen‘ und anderen visuellen Darstellungen. Die Stadt-
beschreibungen erinnern an andere Journale und Reiseliteratur der Zeit und
beziehen sich explizit auf das wegweisende Tableau de Paris von Mercier.9
7 Hier baue ich auf wichtige Einsichten von Boutin auf, obwohl ich ihre Meinung nicht ganz
teile, dass „the poetic or pictorial representations of street criers, flâneur-writing in literary
guidebooks, ethnographic, or musicological discourse on Paris all sought to harmonize street
sound in some form or other.“ Aimée Boutin, City of Noise: Sound and the Nineteenth Century,
Urbana, IL, 2015, S. 6. Für eine andere Perspektive auf den Topos des städtischen Lärms, be-
sonders im späteren 19. Jahrhundert, vgl. auch Tyler Whitney, Eardrums: Literary Modernism
as Sonic Warfare, Evanston, IL, 2019.
8 Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker, „Einführung“, in: Vita aesthetica.
Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von dens., Zürich, 2009, S. 7–11, hier S. 8.
9 Boutin benutzt den Schirmbegriff ‚literary guidebooks‘, um diese Tableauliteratur zu be-
schreiben: Boutin, City of Noise, S. 6.; vgl. auch Karlheinz Stierle, „Baudelaire and the Tradition
of the Tableau de Paris“, in: New Literary History 11/2, 1980, S. 345–361.
14 Vgl. Michael Diers, „Bertuchs Bilderwelt. Zur populären Ikonographie der Aufklärung“, in:
Friedrich Justin Bertuch 1747–1822. Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen
Weimar, hg. von Gerhard Kaiser und Siegfried Seifert, Tübingen, 2000, S. 433–464, hier
S. 435.
15 Vgl. Graczyk, Das literarische Tableau, S. 141–144.
16 „Tous ces cris discordans forment un ensemble, dont on n’a point d’idée lorsqu’on ne l’a
point entendu.“ („Cris de Paris“, in: London und Paris, III/2, 1799, S. 129–134, hier S. 129–130,
Fußnote.)
17 Mercier „considered painting an inferior art because it froze the ever-changing flux of life
into a fixed form, whereas prose could suggest the constant succession of impressions
that was the essence of the urban experience.“ Jeremy D. Popkin, „Editor’s Preface“, in:
Louis-Sebastien Mercier, Panorama of Paris: Selections from Mercier’s ,Tableau de Paris‘,
University Park, PA, 1999, S. 1–20, hier S. 19.
18 „Cris de Paris“, S. 130, Fußnote.
Abb. 5.1 „Les Cris de Paris“ in der Zeitschrift London und Paris III/2, 1799
Karikaturen. Sie notiert die Schreie einer Handvoll von Verkäufern und
präsentiert dem Leser einen eher witzigen Versuch, die flüchtigen Geräusche
der Stadt zu archivieren. Diese Tafel ist Teil des größeren Projekts des Sammelns
von Eindrücken der Stadt – sie erfasst diese flüchtigen Schreie in Notenschrift,
und diese harren auf eine zukünftige Revokalisierung/Wiederverlebendigung.
Es ist jedoch etwas unklar, wie man diese Partitur tatsächlich zu benutzen
hat – sollen mehrere Personen die verschiedenen Teile singen? Sollen sie auf
einer Tastatur oder mit mehreren Instrumenten gespielt werden? Die Tat-
sache, dass diese kurzen ‚Lieder‘ mit unterschiedlichen Tonartvorzeichen und
in unterschiedlichen Taktarten vorliegen, lässt Zweifel an der Funktionalität
dieser Tafel als Partitur aufkommen. Es war nicht unüblich, dass damalige
Journale Notenblätter aufnahmen, aber hier scheint es, dass dieses Bild eher
eine witzige Zerstreuung ist als irgendeine Art von Salonunterhaltung, an die
man sich zu Übungszwecken setzen würde.
‚Les Cris de Paris‘ war nicht nur ein populäres bildliches und literarisches
Genre, sondern auch ein beliebtes Motiv für Chanson-Komponisten der
Renaissance, die die Lieder der Verkäufer in eine harmonisierende Partitur
verwandelten – welche, nebenbei bemerkt, die ‚Lieder‘ der Schreier durch
Notation auch bildlich einander gegenüberstellt19 – aber es wird deutlich,
dass diese eher grobe Tafel weder auf das Harmonische noch auf das Schöne
abzielt. Die Übereinanderschichtung der verschiedenen Lieder zielt auf bild-
liche (und klangliche?) Dissonanz ab. Die gedruckte Seite steigert den Prozess,
wobei man sich die Stadt vorstellt, und zwar in Bezug auf eine Schichtung von
flüchtigen Sehenswürdigkeiten und Geräuschen, die sich auf einem Raster von
verschiedenen räumlichen und zeitlichen Koordinaten abspielt.
Diese notierten ‚Dissonanzen‘ bewahren dabei mehr als nur einzelne,
einmalige Verlautbarungen, sondern kehren in vorhersehbaren Intervallen
wieder, wie der Korrespondent uns erinnert:
Ungläubigen zu Gefallen, welche etwa denken, ich hätte obigen Cri de Paris zum
Spaß erdacht, zeige ich an, daß sie das Original dazu täglich zwischen 11 und 1
Uhr durch die Rue de la loi, vormals Rue Richelieu, können gehen hören und
sehen, und daß es so exact in dieser Zeit durch die angezeigte Straße geht, daß es
manchen Leuten dieser Gegend gleichsam zu einer Art Uhr dient, und die Stelle
der alten Sclaven vertritt, die das Zeichen der Sonnenuhr ankündigten.20
19 Zum Beispiel die Kompositionen aus dem 16. Jahrhundert der bekannten französischen
und englischen Komponisten Clément Janequin und Thomas Ravenscroft.
20 „Cris de Paris“, S. 131.
Der Korrespondent bittet seine Leser, sich die Beziehung zwischen diesen sich
überlappenden Schreien und ihrer täglichen Wiederholung vorzustellen.21 Die
Ausrufer sorgen also dafür, dass mehrere zeitliche Intervalle gemessen werden:
die Dauer der Ausrufer an einem einzigen Tag, die Wiederholungen von Tag zu
Tag, die Kontinuität zwischen der Antike und der Moderne, die Disjunktion
zwischen vor- und postrevolutionären Epochen (worauf durch die geänderten
Straßennamen hingewiesen wird) und im weiteren Sinne zwischen manueller
und mechanischer Zeitmessung. Es ist zwar klar, dass dieses Stück von einer
ganzen Reihe von Stadtbildern abgeleitet und als solches kaum ungewöhnlich
ist. Nichtsdestotrotz will ich argumentieren, dass dieses Stück charakteristisch
für den Versuch ist, sich die Stadt über eine komplexe zeitliche Schichtung
vorzustellen. Die urbane Geräuschkulisse zeichnet sich nicht nur durch die
Proliferation von Einzelszenen aus, sondern durch die Wiederholung wieder-
kehrender Kakophonien. Wiederholung verspricht Wiederverlebendigung.
Darüber hinaus bringt dieses Stück die Idee der Ephemeralität des städtischen
Lebens sowohl auf der rhetorischen als auch auf der medialen Ebene zur
Geltung: Selbst die visuelle Gestaltung der gedruckten Tafel offenbart die
Schichten, die auf metaphorischer Ebene aufgerufen werden. Auf diese
Weise ermöglichen die Eigenheiten von London und Paris eine Art auditive
Einbildungskraft.
Ich möchte mich nun einem zweiten Artikel mit dem Titel Mordgeschichte, wie
sie der Ausrufer erst dem Inhalte nach ausschreyet, und dann in einer kläglichen
Ballade abheult zuwenden. Dieses Stück behandelt ein ähnliches Themenfeld
wie der Artikel zu den „Cris de Paris“, aber es hebt sich zudem dadurch hervor,
dass es die Überarbeitung und Reproduktion von Druckartefakten behandelt.
Zusammen mit der Beschreibung eines grausamen Mordes, der die Aufmerk-
samkeit der Pariser kurz auf sich zog, berichtet das Werk darüber, wie sich die
Nachrichten über dieses Verbrechen verbreiteten. Der Pariser Korrespondent
ist sowohl bestürzt als auch amüsiert von mehreren Quellen, die darum
wetteifern, über den Vorfall zu berichten, und von der Koexistenz mehrerer
Versionen von dieser Nachricht. Dieser Artikel handelt also nicht nur von
21 In einem anderen Artikel werden die Schreier von Paris and London ‚Lebendige Uhren‘
genannt. Siehe „Lebendige Uhren. Notwendigkeit der Zeiteintheilung in Paris“, in: London
und Paris XVIII/6, 1806, S. 146–155.
dem Verbrechen, sondern auch von dem medialen System, das eine vorüber-
gehende Aufregung erzeugt, bevor es zu etwas Neuem übergeht.
Der vorangehende Artikel kritisiert die Sensationslust der Neuigkeiten
schreier, ihre überstürzte Urteilsfällung und ihre Priorisierung der Verkaufs-
zahlen vor Wahrheit und Gerechtigkeit, und der Text zur ‚Mordgeschichte‘
erscheint als eine Ergänzung, eine „Beylage“ dazu: „Ich habe schon einigemal
der brüllenden Stimmen der Crieurs de Journaux, der abentheuerlichen
Formeln, wie sie ihre Curiosa anpreisen […] erwähnt.“22 Dieser Text beschreibt
kurz den Mord und bezieht dann, ‚als Versinnlichung‘ die Reproduktion einer
Broschüre ein, die von einem Neuigkeitenschreier gelesen und gesungen
wurde. Schriftsetzer in Weimar reproduzierten den Text und das Layout des
Originals. Es ist in der Schriftart Antigua verfasst, steht somit im Kontrast zu
der Fraktur im restlichen Teil der Zeitschrift und enthält einen Prosa-Bericht
des Verbrechens und der polizeilichen Vernehmung, gefolgt von dreieinhalb
Seiten in Versen, die das Verbrechen nacherzählen und zu einer beliebten
Melodie gesungen werden sollen.
Darüber hinaus wird der Leser dazu aufgefordert, sich die Szene der ‚crieurs
de journaux‘ vorzustellen, die ihre Waren auf der Straße verkaufen und weitere
mediale Multiplikationen ins Spiel bringen:
Denken Sie sich nun am Pont neuf oder beym Louvre einige dergleichen
Stentorstimmen, die ihnen [sic] diese Ueberschrift in die Ohren brüllen, und
den Vorübergehenden den schönen Holztisch weisen, um Käufer anzulocken,
so haben sie [sic] wenigstens etwas von dem schönen Bilde. Die Schönheit der
Verse entspricht übrigens der Schönheit des Gesangs der meisten Bänkelsänger
vollkommen.23
In all diesen Fällen wird die gleiche Geschichte in einer anderen Form oder
einem anderen Medium (Schlagzeile, Prosa, Vers und Bild) und durch mehrere
Ausrufer wiederholt. Wie beim Artikel Cris de Paris geht es um die Schichtung
unterschiedlicher Klänge, also um das imaginierte auditive Erleben von
mehrschichtigen, dissonanten Klängen aus unterschiedlichen Quellen. Der
Autor dieses Stückes ruft die Leser dazu auf, sich ein chaotisches Bild von
konkurrierenden Verkäufern vorzustellen und äußert sich bezüglich der
„Schönheit“ dieses Bildes ziemlich sarkastisch. Dieses Aufgreifen der Ästhetik
des Hässlichen hat viel mit der Welt der Karikatur zu tun, die in London und
Paris oft zum Vorschein kommt.
22 „Mordgeschichte, wie sie der Ausrufer erst dem Inhalte nach ausschreyet, und dann in
einer kläglichen Ballade abheult“, in: London und Paris I/3, 1798, S. 250–255.
23 Ebd., S. 251.
Abschließend möchte ich nun auf zwei letzte Darstellungen von Straßen-
schreiern zurückkommen (und in diesem Fall auch auf tatsächliche Bilder
rekurrieren, die Bertuch und Böttiger ihren Lesern anvertrauen, ohne sich
davor zu fürchten, sie durch Geschmacklosigkeit zu verderben!). In diesem
letzten Abschnitt richten wir unseren Blick nach London, dem anderen
Schwerpunkt der Zeitschrift. In einer Ausgabe von 1799 gibt es eine ausführ-
liche Diskussion über einen Hogarth-Druck von 1741, The Enraged Musician,25
der einen übenden Musiker parodiert, der von den Geräuschen der Straßen-
schreier gestört wird – der Musiker ist wahrscheinlich Italiener, ein häufiges
Ziel der Satire in England zu dieser Zeit.
25 William Hogarth, The Enraged Musician, Prints, 1741, Kupferstich, 36x36cm, The
Metropolitan Museum of Art, New York (online unter: http://library.artstor.org.proxy.
mul.missouri.edu/asset/SS7731421_7731421_11205808 [letzter Zugriff: 14.08.2018]).
26 Vgl. Jeremy Barlow, The Enraged Musician: Hogarth’s Musical Imagery, Burlington, VT,
2005, S. 218.
27 George Colman, Ut Pictura Poesis! Or, the Enraged Musician. A Musical Entertainment
founded on Hogarth, London, 1789.
28 Ronald Paulson, Hogarth, Bd. 2: High Art and Low 1732–1750, New Brunswick, NJ, 1992,
S. 115.
29 Barlow, The Enraged Musician, S. 211–212.
30 Fehrenbach diskutiert in anderem Kontext den Topos des offenen Mundes; vgl. Frank
Fehrenbach, „Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen
Bildes‘ in der frühen Neuzeit“, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den
Künsten der italienischen Renaissance, hg. von Ulrich Pfisterer und Max Seidel, Berlin/
München, 2003, S. 151–170, hier S. 155.
Abb. 5.3 Nach Isaac Cruikshank, The Enraget Politician or the Sunday Reformer or a Noble
Bellman Crying Stinking Fish (1799)
31 Wie Böttiger sagt, ist dieses Bild ,,in England durch hunderfältige Abdrucke und Nach-
bildungen bis auf den heutigen Tag eine unversiegbare Quelle des unsterblichen Ge-
lächters.“ Karl August Böttiger, „Englische Carricatur“, in: London und Paris IV/7, 1799,
S. 246–253, hier S. 247.
sie aussehen könnte und bringt sie dann mit der zweiten Makrelenhändlerin
in Verbindung, die nur ein „Wiederhall“ der ersten ist, „oder, um mit dem
lyrischen Dichter der Römer zu reden, nur das Bild der Stimme, die von der
Mitte ausgeht und dort an der Wand anprallt.“37 Unter Berufung auf Horaz’
zwölfte Lobes-Ode auf Jupiter, dessen Name durch Wiederholung oder Echo
des Dichters widerhallen soll, wird der zweite Straßenverkäufer als die Wieder-
holung, das Echo der ersten, ja als Reproduktion und Visualisierung der (ver-
mutlich hässlichen) Stimme des ersten charakterisiert. So beschreibt Böttiger
den Körper als visuelle Darstellung des Klanges der Stimme und bezieht
sich dabei auch auf die konkrete Räumlichkeit der Straßenszene, in der die
Stimme buchstäblich von den umgebenden Wänden hallt, was dann durch
die Positionierung der zweiten Frau an der Wand metaphorisiert wird. Neben
der Andeutung, dass der Körper die Stimme genau wie andere Stimmen und
andere Körper in der Szene visualisiert, verweist Böttiger explizit auf einen
Begriff der Darstellung der Stimme, in dem einzelne Stimmen die Kopien,
Echos, Bilder anderer Stimmen sind. Diese Erkenntnis greift die Verdoppelung
dieser verschiedenen Figuren auf, die bei Hogarth fehlte – hier gibt es zwei
Makrelenverkäuferinnen, einen Milchverkäufer und eine Milchverkäuferin
und mehrere Zeitungsverkäufer. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass dieser
Verdopplungs- oder Echoeffekt ebenfalls auf die Positionierung der Sprech-
blasen bezogen werden kann, was eine Vorstellung der von den Wänden ab-
prallenden Klänge erzeugt.
Vorschlagen möchte ich daher, auch diese Verdoppelung mit dem medialen
Kontext der gedruckten Zeitschrift zu verbinden, denn ein Echo kann als
eine Metapher für die Reproduktion gesehen werden, die die visuellen
Assoziationen mit der Welt der Zeitungen suggeriert und erweitert. Auf die
gleiche Weise, wie auch die Nachrichtenmänner ihre Kunden durch den
Wunsch nach den neuesten ‚Bloody News‘ erreichen wollen, wirbt die zentrale
Makrelenverkäuferin mit vermutlich etwas weniger faulen, ‚neuen Makrelen‘.
Die Makrelenverkäuferin verspricht eine Frische und Aktualität, die ebenso
Attribute der Zeitungen sind. Der Fisch ist neu, die Nachrichten sind neu, es ist,
als ob das ganze Orchester der Straße ‚Neu‘ schreit, aber es ist eine vergängliche
Neuheit, denn der Tod lauert an jeder Ecke. Die Nachrichten, die die Straßen-
schreier verkaufen, werden veralten und irrelevant sein: Im Fall der Makrele
werden sie buchstäblich zerfallen, falls sie nicht verkauft werden. Folgendes
ist also meine Behauptung: Dass unsere Versuche, uns diese hier dargestellten
Geräusche vorzustellen, von Metaphern geprägt werden, die mit der Welt des
Druckes in Verbindung stehen, und die sowohl von der Figuralität als auch von
der Materialität der Zeitschrift abhängen. Und wie oben wirkt diese Szene wie
eine wiederkehrende: Nach dem Vorbild der Sonntagszeitungen sind diese
Aufrufe des ‚Neuen‘ jeden Sonntag zu hören.
Das Bild von Cruikshank durchdringt die Szene mit einer zeitlichen und
medialen Logik, die in Hogarths Darstellung nicht vorhanden ist und die ein-
deutig aus dem politischen und medialen Moment der 1790er Jahre stammt.
Die Ephemeralität der Straßenschreie ist reziprok mit der vergänglichen
Neuheit der Journale verbunden, ebenso wie mit dem Aufgehen des kako-
phonischen Klanges des gesamten Ensembles in die Luft. Wir haben es hier mit
einem kurzlebigen, ephemeren, aber wiederkehrenden Geräusch zu tun, das
für jedes der drei hier behandelten Beispiele charakteristisch ist. Im Hinblick
auf die Ästhetik der Lebendigkeit greift diese Tableauliteratur auf ein Modell
heterogener Mischung und Schichtung zurück, allerdings auf ein dissonantes
Modell, das nicht kohärent ist. Es ist aber auch ein Modell der Heterogenität,
das durch Wiederholung und Wiederkehr gekennzeichnet ist. Diese Wieder-
holung ist zum Teil ein ethnographisches Detail, das zeigt, wie bestimmte
Praktiken des Handelslebens über lange Zeiträume hinweg bestehen blieben,
aber es ist auch eine Form von Wiederholung, Variation und Schichtung, die
durch die Rhythmen der periodischen Presse durchdrungen wurden.
Literatur
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Abbildungen
Abb. 5.1: „Les Cris de Paris“, in: London und Paris III/2, 1799, Tafel B.
Abb. 5.2: William Hogarth, The Enraged Musician (1741), Kupferstich, 36x36cm. The
Metropolitan Museum of Art, New York (Online unter: http://library.
artstor.org.proxy.mul.missouri.edu/asset/SS7731421_7731421_11205808
[letzter Zugriff: 17.08.2018]).
Abb. 5.3: Nach Isaac Cruikshank, The Enraget Politician or the Sunday Reformer or a
Noble Bellman Crying Stinking Fish, Kupferstich, koloriert, 19x24cm, in:
London und Paris IV/7, 1799, Tafel XIX. Abdruck mit freundlicher Geneh-
migung der Lewis Walpole Library, Yale University.
Um 1800 sind die Begriffe des Lebendigen und des Organischen in Natur-
forschung, politischer Theorie und Kunstphilosophie allgegenwärtig. Sie werden
mitunter synonym verwendet,1 mitunter klar voneinander abgegrenzt.2 Auch
in Texten zur Schauspieltheorie und -praxis spielen sie eine entscheidende
Rolle: Nicht nur Theateraufführungen werden um 1800 als Organismen be-
zeichnet, die sich in Wechselwirkung zwischen Teilen und Ganzem selbst
hervorbringen. Auch die Probenarbeit wird als organisches Gefüge be-
schrieben, das den Organismus der Aufführung erst hervorbringt. Stimme
und Gebärdenspiel gelten dabei als diejenigen Organe, die die Einheit des auf-
geführten Organismus garantieren können. Der Organismus steht häufig auch
Modell für Organisationsformen des Theaterbetriebs, der um 1800 im Um-
bruch begriffen ist und auf Basis unterschiedlicher soziopolitischer Ansätze
neu strukturiert wird.
Der Begriff der (theatralen) Darstellung steht in Texten zum Theater um
1800 nicht nur für die gesamte Aufführung und die Ausführung einer Rolle,
sondern häufig auch spezifischer für Gestik und Mimik: „Das Geberdenspiel,
insofern sich der Schauspieler desselben bedient, heißt theatralische
Darstellung,“3 liest man in der Neuen deutschen Dramaturgie von 1798. Mimik
und Gestik der Schauspieler/innen gelten als Garant für einen lebendigen
Ausdruck und stehen so häufig stellvertretend für den gesamten Akt der Dar-
stellung. Ich werde hier aber nicht weiter auf den um 1800 so zentralen wie
komplexen Begriff der Darstellung eingehen und mich im Folgenden auf eine
1 Z.B. von Christoph Girtanner. Siehe Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie.
Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 2011, S. 434.
2 So z.B. von Immanuel Kant. Hans Werner Ingensiep hat Kants Differenzierung der Begriffe
deutlich gemacht – sie beruht auf dem Kriterium der Tätigkeit bzw. des Begehrens, das allen
lebendigen, aber nicht allen organischen Körpern eigen ist. Siehe Hans Werner Ingensiep,
„Organismus und Leben bei Kant“, in: Kant-Reader. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was
darf ich hoffen?, hg. von dems., Heike Baranzke und Anne Eusterschulte, Würzburg, 2004,
S. 107–136, hier S. 107.
3 Johann Gottlieb Rhode, Neue deutsche Dramaturgie, Altona, 1798, S. 214.
Biologie
Die Naturforschung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist von der Idee
geprägt, ‚lebendige‘ Naturerscheinungen von ‚unbelebten‘ abzugrenzen. Um
1800 formiert sich die Biologie als eigenständige Wissenschaft vom Leben, die
der Besonderheit des Lebendigen gerecht werden möchte.4 Michel Foucault
beschreibt diese Ersetzung der Naturforschung durch eine neu strukturierte
Biologie in Les mots et les choses folgendermaßen:
[W]enn die Biologie [im 18. Jahrhundert] unbekannt war, [gab es] dafür einen
ziemlich einfachen Grund [...]: das Leben selbst existierte nicht. Es existierten
lediglich Lebewesen, die durch einen von der Naturgeschichte gebildeten Denk-
raster erschienen.
Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird eine neue Konfiguration er-
scheinen, die für die modernen Augen den alten Raum der Naturgeschichte end-
gültig trüben wird. [...] [D]as Leben [erreicht] seine Autonomie gegenüber den
Begriffen der Klassifikation.5
Wenn also vor 1800 die Struktur und die Klassifizierung sichtbarer Merkmale
die ‚natürliche‘ Welt organisierten, so ist es nach diesem Zeitpunkt die (innere)
4 André Karliczek, Modelle des Lebendigen. Interaktionen von Physiologie, Biologie und Patho-
logie von Boerhaave bis Meckel, Diss., Jena, 2014, S. 236.
5 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, über-
setzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M., 2009, S. 168 u. 209f. Vgl. ders., Les mots et les choses.
Une archéologie des sciences humaines, Paris, 1966, S. 139, 175f.
Anatomie von Organismen. Der Organismus bildet immer stärker das Leit-
modell der im Entstehen begriffenen Biologie, die Foucault eine „Theorie des
Organismus“6 nennt.
Eine der Publikationen, die den Begriff der Biologie einführen, ist Gottfried
Reinhold Treviranus’ Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur (1802–1822),
die die Notwendigkeit einer Wissenschaft vom Leben u.a. mit ästhetischen
Kriterien begründet: Das Leben, so Treviranus, sei das „Einzige auf Erden, was
Reitz für den Menschen [habe], das Einzige, was den Sinn für Einfalt, Schönheit
und Erhabenheit [nähre] und [erhalte], […] und zugleich für die Einbildungs-
kraft eine unerschöpfliche Quelle der lieblichsten Bilder [sei].“7 Treviranus’
Ausgangspunkt sind also nicht strukturelle Kriterien zur Unterscheidung von
Lebendigem und toter Materie, sondern eine menschliche Neigung für die
Schönheit des Organischen, was die enge Verbindung zwischen Kunsttheorie
und Naturforschung um 1800 veranschaulicht.
Lebenskraft
Um die Besonderheit lebendiger Wesen zu definieren, sucht man im 18. Jahr-
hundert – in Analogie zu Newtons Gravitationskraft, die die ‚unbelebte‘ Welt
strukturiert und Bewegungen ihrer Körper systematisiert – nach einer Kraft, die
spezifische Eigenschaften lebendiger Körper und deren Widerstand gegenüber
grundlegenden Naturgesetzen fassen kann.8 Dabei spielen charakteristische
Bewegungen lebendiger Wesen eine zentrale Rolle: muskuläre Reflexe und
neurophysiologische Reaktionen.9
In diesem Zusammenhang sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispiels-
weise die Arbeiten Albrecht von Hallers sehr einflussreich, die auf Mitte des
Jahrhunderts in der neu gegründeten Universität Göttingen gehaltenen Vor-
trägen basieren. Sie beschreiben die Prinzipien der ‚Irritabilität‘ und der
‚Sensibilität‘ der ‚Muskel-‘ bzw. der ‚Nervenfaser‘ als Grundlage lebendiger Be-
wegungen. Die ‚Faser‘ bildet in Hallers Denksystem die Basis der Bewegung
lebendiger Körper. ‚Irritabilität‘ bezeichnet die Disposition der (Muskel-)Faser
zur Bewegung, die sich bei einer Reizung als Kontraktion zeigt. Diese kann
6 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 189; ders., Les mots et les choses, S. 158.
7 Der Begriff der Biologie wurde außerdem um 1800 u. a. von Jean-Baptiste de Lamarck
in seiner Hydrogéologie (1802) und von Michael Christoph Hanow in seiner Philosophia
naturalis (1766) verwendet. Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 122.
8 Joseph Roach, The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting, London/Toronto, 1985,
S. 94; Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 108.
9 Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in
der Politischen Romantik, Freiburg i.Br., 1999, S. 104.
haben so die Kraft, aus sich selbst heraus ihre Strukturen zu erhalten und auch
neue hervorzubringen.16
Organismus
Während Kant sich in seinen frühen Schriften der Irritabilitätslehre Hallers
anschließt und die „Muskelfaser als das erste organon der Bewegung des
Lebens“ versteht,17 folgt er später der Blumenbachschen Variante der
Epigenesis-Theorie, der zufolge der „Bildungstrieb“ Materie zu organisierten
Wesen formt.18 Diese begreift Kant als dynamische Gefüge von Teilen und
Ganzem, die nicht nur organisiert sind, sondern sich auch selbst organisieren:
Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich be-
wegende Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche,
die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine
sich fortpflanzende bildende Kraft welche durch das Bewegungsvermögen allein
(den Mechanism) nicht erklärt werden kann.19
Der Begriff der ‚Organisation‘ wurde zuweilen bereits seit Ende des 17. Jahr-
hunderts für eine Charakterisierung des Lebendigen herangezogen.20 Es
verbreitete sich die Vorstellung, dass das – vorerst oft als statisch gedachte –
wechselseitige Verhältnis der Teile eines Körpers zueinander das sei, was das
Wesen des Lebendigen ausmache.21 Während jedoch im 18. Jahrhundert eine
mechanistische Sichtweise ‚natürlicher‘, ‚organisierter‘ Körper vorherrschend
war,22 und noch Ende des Jahrhunderts Maschinen und Organismen häufig in
Analogie zueinander gedacht wurden,23 bildet sich um 1800 ein antithetisches
Verständnis von Mechanismen und Organismen heraus.24
16 Peter McLaughlin, Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn, 1989, S. 312, siehe
auch Jan Völker, Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik, München, 2011, S. 124.
17 Ingensiep, „Organismus und Leben bei Kant“, S. 122.
18 Ebd., S. 115.
19 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg, 2009, §65, S. 280.
20 So u.a. von Georg Ernst Stahl oder Gottfried Wilhelm Leibniz, siehe Toepfer, Historisches
Wörterbuch der Biologie, S. 431.
21 Ebd.
22 Matala de Mazza, Der verfaßte Körper, S. 103f.
23 Georges-Louis Leclerc de Buffon und Charles Bonnet kennen deshalb beispielsweise
‚organische Maschinen‘. Siehe Jürgen Link, „Subjektivitäten als (inter)diskursive Er-
eignisse. Mit einem historischen Beispiel (der Kollektivsymbolik von Maschine vs.
Organismus) als Symptom diskursiver Positionen“, in: Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie
und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, hg. von Reiner Keller, Werner
Schneider und Willy Viehöver, Wiesbaden, 2011, S. 53–67, hier S. 64.
24 Link, „Subjektivitäten“, S. 61.
Im Übergang zum 19. Jahrhundert entsteht ein äußerst heterogenes Feld des
Wissens um das Lebendige, das im Austausch verschiedenster Disziplinen in der
begrifflichen Konzeption von Organismus und Organisation konvergiert. Dabei
stellt sich der lebendige Organismus in seinen komplexen, interdisziplinären
Zuschreibungen nicht nur als bloße Metapher dar, sondern darüber hinaus als
ein zentrales und universelles Organisationsprinzip, als Realität und Utopie der
Kohärenz dynamischer Systeme in ihren Außen- und Innenrelationen.28
Der Einzelorganismus als Ordnungsprinzip aber stellt die Frage nach der Ab-
grenzung von seiner Umgebung. Mit dem Konzept der ‚Assimilierung‘29 – dem
Prozess der Aneignung außerhalb eines lebendigen Körpers liegender Partikel
in seine innere Ordnung – bzw. des Stoffwechsels30 – wird der Organismus als
dynamisch mit seiner Umwelt interagierender Körper gedacht, der von einer
Polarität von Selbsterhaltung und Wandelbarkeit bestimmt ist.31
Der Einzelorganismus bildet dabei mitunter sowohl das Modell für seine
Teile als auch für den Gesamtorganismus der Natur. Viele Denker/innen
des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gehen davon aus,
dass Strukturen von Teilen (Organen, Zellen), Einzelorganismen und der
gesamten lebendigen Natur sich in Analogie zueinander verhalten.32 Johann
25 Tobias Cheung, „What is an ‚Organism‘? On the Occurrence of a New Term and Its
Conceptual Transformations 1680–1850“, in: History and Philosophy of the Life Sciences 32,
2010, S. 155–194, hier S. 179.
26 Karliczek, Modelle des Lebendigen, S. 199.
27 Link, „Subjektivitäten“, S. 65.
28 Robert Hanulak, Maschine – Organismus – Gesellschaft. Physiologische Aspekte eines
Lebensbegriffs um 1800, Frankfurt a.M., 2009, S. 11.
29 Cheung, „What is an ‚Organism‘?“, S. 170; ders., Organismen. Agenten zwischen Innen- und
Außenwelten 1780–1860, Bielefeld, 2014, S. 49f.
30 Cheung, Organismen, S. 128.
31 Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, S. 438; Cheung, Organismen, S. 75.
32 Cheung, „What is an ‚Organism‘?“, S. 171.
Wolfgang von Goethe beispielsweise beschreibt die Analogie von Mikro- und
Makrokosmos folgendermaßen:
Die Natur, inwiefern sie rastlos neue Erscheinungen ihres innern Lebens hervor-
ruft, ist der Organismus schlechthin (Makrokosmus). Jedes einzelne sich aus
sich selbst entwickelnde Naturwesen, inwiefern es nur im allgemeinen Organis-
mus der Natur bestehen kann, sein Leben nur Ausfluß höhern Urlebens ist, heißt
Teilorganismus, (endlich-individueller Organismus, Mikrokosmus), und seine
Entfaltung ist nur unter Einwirkung des allgemeinen Naturlebens möglich.33
Arbeit am Theater
Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisierten Produkten bei
weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt; denn da
denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert
sich vielmehr selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach
einerlei Exemplar im ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen,
die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert.34
Ein Kunstwerk, das als von einem Urheber/einer Urheberin geschaffen ge-
dacht wird, verhält sich also Kant zufolge nicht wie ein Organismus, der sich
eigenständig bildet und erhält.
Der ‚natürliche‘ Organismus steht im beginnenden 19. Jahrhundert aber
entgegen Kants Vorbehalten häufig Modell für das Kunstwerk.35 In der Neuen
Leipziger Literaturzeitung wird 1806 beispielsweise „eine neue ästhetische
33 Johann Wolfgang von Goethe, Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 22 Bänden,
Bd. 19, Stuttgart, 1959, S. 396.
34 Kant, Kritik der Urteilskraft, §65, S. 280.
35 Roach, The Player’s Passion, S. 163. Siehe auch: Lars-Thade Ulrichs, „Das ewig sich bildende
Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800“, in:
Theater-Aufführungen
Noch häufiger aber werden Dramentexte und Kompositionen im beginnenden
19. Jahrhundert als tote Materie beschrieben, die erst in der Aufführung zum
Leben erweckt wird. In der Wochenzeitschrift für Menschenbildung bemerkt
Johann Heinrich Pestalozzi 1815 beispielsweise, dass ein Musikstück während
einer Aufführung zwangsläufig von einer mechanischen Daseinsform in eine
organische erhoben werde:
Mechanismus, der nichts weiter wäre als dies, ist in der Tonkunst, sobald
sie lebendig, d.h. ausgeübt wird, unmöglich. Das ist eben eine ihrer hohen
Eigenthümlichkeiten, daß ihr Mechanismus vor der lebendigen Anschauung
immer organisch ist.40
Ästhetik und Philosophie der Kunst, hg. von Jürgen Stolzenberg und Karl Ameriks, Berlin,
2007 (= Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 4), S. 256–290.
36 Neue Leipziger Literaturzeitung 1, 1806, S. 457.
37 Z.B. Didaskalia oder Blätter für Geist, Gemüth und Publizität 182, 1829, S. 608, 622 u. 1078.
38 Adolph Bernhard Marx, Die Kunst des Gesanges theoretisch-praktisch, Berlin, 1826, S. 277.
39 Ulrichs, „Das ewig sich bildende Kunstwerk“, S. 157f.
40 Johann Heinrich Pestalozzi, Wochenzeitschrift für Menschenbildung 2/3, 1815, S. 41.
41 Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen
Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, Berlin, 1841, S. 73.
42 Adolph Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, in: Drama-
turgisches Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin 25,
1816, S. 204.
43 Cheung, Organismen, S. 45.
44 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 96.
45 Ebd., S. 406.
Gefüge von Teilen und Ganzem mitunter unmöglich machen: „[D]ie Selbst-
sucht des darstellenden Künstlers [beruht] darin, sich zum Mittelpunkt eines
Werkes zu machen, anstatt sich demselben nur als ein Glied des gesammten
Organismus unterzuordnen.“46
Aufführungen werden so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig
als sich dynamisch in Wechselwirkung zwischen Teilen (Organen) und
Ganzem selbst hervorbringende Organismen begriffen, die nicht unbedingt
einer ordnenden Kraft von außen (wie eines Regisseurs) bedürfen, sondern
aus sich heraus organisiert sind. Theateraufführungen sind im Gegensatz zu
toten (niedergeschriebenen) Werken mit einem Leben gefüllt, das auf der
Organisation von Texten beruht, diesen aber in der Aufführung neue Kraft
als Organismus gibt. Während das Kunstwerk als eine Art Bauanleitung ver-
standen wird, die von einem unsichtbaren Schöpfer angefertigt wurde, ergibt
sich seine Verlebendigung in der Aufführung selbsttätig aus dessen Struktur.
Theater-Proben
Dabei bilden sich theatrale Organismen im Diskurs des beginnenden 19. Jahr-
hunderts häufig nicht erst während der Aufführung, sondern bereits allmäh-
lich während der Probenarbeit heraus.
Um 1800 ist die Probenpraxis deutschsprachiger Theatertruppen im Um-
bruch begriffen, verschiedene Theaterformen und Produktionspraktiken ko-
existieren. Neben Wandertruppen etablieren sich stehende Ensembles, die in
festen Theatersälen spielen. Goethe, der in seinen ersten Weimarer Jahren für
ein so genanntes Liebhabertheater verantwortlich ist, entlässt beispielsweise
1792 alle dort beschäftigten Schauspieler/innen und widmet sich fortan einem
festen – ‚professionellen‘ – Ensemble.47
Während in Dokumenten der wandernden Truppen die Probenarbeit
selten erwähnt wird, finden sich beispielsweise in Texten der Weimarer
Schauspieler/innen zahlreiche Probenerinnerungen.48 Dabei kommt es unter
Goethe zu einem Anstieg der Probenzeiten,49 gleichzeitig herrscht jedoch mit-
unter eine kritische Haltung gegenüber deren repetitiver Natur. 1801 schreibt
Schiller beispielsweise an Goethe: „Dann schreckt mich auch die schreck-
liche Empirie des Einlernens, des Behelfens und der Zeitverlust der Proben
davon zurück, den Verlust der guten Stimmung nicht einmal gerechnet.“50 Die
Ihr [der Leseprobe] ist das erste Begründungsgeschäft der ganzen Darstellung
übergeben, und nicht nur das, was man den Styl, oder den durchherrschenden
Hauptton nennt, soll sich in ihr fixieren, sondern auch der Organismus ([d. h.]
das Gliederverhältnis) der dramatischen Composition, muß durch sie völlig
51 August Lewald, „In die Scene setzen“, in: ders. (Hg.), Allgemeine Theater-Revue, Stuttgart/
Tübingen, 1837, S. 249–308, hier S. 256.
52 Gesetze für das Bremer Theater unter der Direction von August Pichler, Bremen, 1820, S. 8.
53 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, 4 Bde., Frankfurt
a.M./Leipzig, 1800–1801, Bd. 3, S. 53.
54 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 204.
55 Lewald, „In die Scene setzen“, S. 266.
56 Ebd., S. 280ff.
ins Klare gebracht werden; so daß jeder Einzelne sich auf seinem Platze gerade
nicht minder und nicht mehr geltend mache, als es das Ganze […] erfordert.57
Und schließlich ist auch der Vorschlag Adolph Müllners, an einem hypo-
thetischen Theater einen Vorleser anzustellen, der die Deklamation der ersten
Leseprobe übernehmen soll, als auf dem Organismus-Modell basierend zu
verstehen:
Ich will [den Schauspieler/innen] einen tüchtigen Vorleser halten. Der soll mir
das neue Stück einige Wochen lang tüchtig durchstudieren, und soll es dann
vor der Leseprobe dem Personal vorlesen, auf daß es eingehe in selbiges als ein
dramatisch lebendes Ganzes, dem zum theatralischen Leben nichts weiter ab-
geht, als verschiedene Stimmen [und] sich bewegende Gestalten.58
57 August Klingemann, Kunst und Natur. Blätter aus meinem Reisetagebuche, Bd. 1, Braun-
schweig, 1819, S. 38.
58 Müllner, „Aus Müllner’s ungedrucktem Theater-Wörterbuche“, S. 205.
59 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Ersther Theil, in: ders., Sämmtliche
Schriften, Bd. 24, Berlin, 1805, S. 33.
60 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 100 u. 389.
61 Reinhart Meyer-Kalkus, „Goethe als Vorleser, Sprecherzieher und Theoretiker der Vor-
tragskunst“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
90/4, 2016, S. 529–565, hier S. 540.
62 Ebd.
63 Heinrich F. Plett, Enargeia in Classical Antiquity and the Early Modern Age. The Aesthetics
of Evidence, Leiden/Boston, 2012, S. 33. Die Stimme kann dabei in der antiken Rhetorik
auch Teil der actio sein.
64 Toepfer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. 3, S. 237.
65 Johann Gottlieb Rhode, Briefe über Schauspielkunst, Theater und Theaterwesen in Deutsch-
land, Altona, 1798, S. 31.
66 Marx, Die Kunst des Gesanges, S. 242.
67 Siehe Karl-Heinz Leven (Hg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München, 2005, S. 15.
68 Roach, The Player’s Passion, S. 104.
69 Rhode, Neue deutsche Dramaturgie, S. 215.
70 Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung, S. 101.
gelingt: Sie verkörpern Prinzipien des Lebens und lassen ein sich wechselseitig
bedingendes Gefüge von Teilen und Ganzem – einen Organismus – entstehen,
der keines außer ihm liegenden regulierenden Wesens bedarf.
Während der Begriff des Organismus in Theaterdiskursen um 1800 häufig
das Modell für ein sich selbstregulierendes ahierarchisch strukturiertes System
(zum Teil mit unsichtbarem Schöpfer im Hintergrund) bildet, wird er in Staats-
theorie und Theaterpolitik aber oftmals als Modell für eine autoritär durch ein
Oberhaupt regierte Gemeinschaft verwendet.
Der Theaterstaat
[Die] Vorstellung vom Staat als Organismus muss bei Zeitgenossen solche tief-
reichenden Evidenz-Erfahrungen ausgelöst haben, dass er in kurzer Zeit zur
beinahe unumstrittenen Leit-Metapher der politiktheoretischen Verständigung
und Selbstverständigung avancierte. […] In der Organismus-Metaphorik [drückt
sich die] Ablehnung von vertragstheoretischer Staatsbegründung […] aus.73
naturhaftem Organismus […] wendet sich gegen die Ordnung des willentlich
Gemachten und Gesetzten, die als mechanisch erscheint.75
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts vermitteln auf dem Organismus-Modell auf-
bauende politische Theorien häufiger zwischen staatlicher – teils autoritärer –
Kontrolle und ‚liberalen‘ – also die Freiheitsrechte Einzelner oder kleinerer
Gruppen betonender – Anliegen.81 Carl von Rotteck kritisiert in seinem Staats-
lexikon von 1848 die Verneinung konstitutiver Freiheitsrechte für Einzelne
Wir deuteten oben bereits an, das Ziel des Theaters, als eines Kunstinstituts,
müsse sein, als ein Moment in den Staatsorganismus aufgenommen zu werden.
Dadurch daß ein Institut in einem Staate besteht und tolerirt wird, ist es noch
nicht vom Staate als zu seinem Leben gehörig erklärt. Auch Gauklern, Taschen-
spielern und Kunstreitern verweigert die Obrigkeit nicht, ihre Künste zu
produciren, sie sind aber deshalb doch nur geduldet und haben nur eine Be-
ziehung zum Polizeistaate, nicht zum Staat, als einem sittlichen und geistigen
Organismus. Aber so ist es fast mit dem Theater heut zu Tage noch bestellt. Seine
Einrichtung und Beaufsichtigung fällt nur dem Polizeistaate anheim […]. Aber
darin liegt die mehr als stiefmütterliche Stellung, welche der Staat als geistiges
Gemeinwesen gegen das Theater eingenommen hat.82
Theaterorganisation
Die Frage der (staatlichen) Kontrolle und Organisation von öffentlichen und
privaten Theatern ist um 1800 im deutschsprachigen Raum eine heiß diskutierte.
An vielen Orten wird eine strenge staatliche Kontrolle ausgeübt – Theatervereine
gelten als Horte politischer Radikalität, sie müssen eine Bewilligung einholen,
die ihnen in vielen Fällen verweigert wird, bei Verstößen gegen staatliche Auf-
lagen werden Theatermaterialien konfisziert und Theater geschlossen.83 Bei der
Diskussion um Organisationsformen von Theatern geht es letztendlich um die
Frage, wer die Kontrolle über Darstellungsformen und dargestellte Inhalte hat –
eine (staatlich kontrollierte) Theaterleitung wie ein Regisseur oder die Gemein-
schaft der Schauspieler als selbstorganisiertes Ganzes.84
Die deutschsprachige Theaterlandschaft ist zu diesem Zeitpunkt wie bereits
erwähnt in einer Umbruchphase: Es etablieren sich viele ‚professionelle‘
feste Ensembles, aber auch Liebhabergruppen aus verschiedenen sozialen
Schichten; in den stehenden Theatern entstehen verschiedene Berufsgruppen
wie diejenige des Souffleurs oder des Lichtputzers.85 Die neuen Theatertruppen
82 Carl von Rotteck und Carl Welcker (Hg.), Das Staatslexikon. Encyklopaedie der Staats-
wissenschaften für alle Stände, Bd. 12, Altona, 1848, S. 566.
83 Uta Motschmann, „Die private Öffentlichkeit. Privattheater in Berlin um 1800“, in: Der
gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, hg. von Klaus Gerlach,
Berlin, 2009, S. 61–84, hier S. 66.
84 Matzke, Arbeit am Theater, S. 155.
85 Valeska Valipour, La pratique théâtrale dans l’Allemagne de la seconde moitié du dix-
huitième siècle (1760–1805). Musique, musicologie et arts de la scène, Diss., Paris, 2011, S. 250.
geben sich seit den 1770er Jahren häufig eigene, z.T. in Zeitschriften publizierte
Theatergesetze.86 Die meisten der privaten Theatergruppen sind als Vereine
organisiert, Mitglieder und Vorstände werden durch Mehrheitsbeschlüsse ge-
wählt, Statuten legen ihre Organisationsweise fest.87 Ab 1787 werden die ersten
Verträge für feste Schauspieler/innen ausgestellt.88
Auf den ersten Blick scheinen viele Theatergruppen ‚selbstorganisiert‘
zu sein, ihre Regelwerke scheinen auf mehr oder weniger demokratischen
Prinzipen zu beruhen:
96 Johann Peter Eckermann und Gustav Moldenhauer (Hg.), Gespräche mit Goethe in den
letzten Jahren seines Lebens, Leipzig, 1827, S. 66.
97 Matzke, Arbeit am Theater, S. 154.
98 Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer, Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des
Menschen und des Künstlers, 2 Bde., Hamburg, 1819, Bd. 2, S. 232.
99 Meyer, Friedrich Ludwig Schröder, S. 241.
100 Der „Prinzipal“ der fahrenden Truppen wird durch einen Direktor ersetzt. Valipour, La
pratique théâtrale, S. 236.
101 Matzke, Arbeit am Theater, S. 137.
102 Ebd., S. 136.
103 Schwind, „‚Man lache nicht!‘“, S. 68.
An einer langen Tafel sehen wir nun die Hauptpersonen des Drama sitzen, die
kleinen Partien im Kreise rings umher; der Regisseur präsidiert, ihm gegenüber
sitzt der Soufleur, welcher in dem für ihn zum souflieren bestimmten Buche
nachliest, alle Anmerkungen und scenischen Vorschriften des Autors laut ver-
kündet, ehe ein Akt oder eine Scene beginnt, damit sie dann Gegenstand der
Berathschlagung werden.104
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Lebenszeichen
Literatur und Theater um 1800
darin, daß ein bestimmtes sinnliches Material sein ruhiges Außereinander auf-
gibt, in Bewegung gerät, doch so in sich erzittert, daß jeder Teil des kohärierenden
Dieser Aufsatz fasst Überlegungen zusammen aus: Hans-Christian von Herrmann, Das
Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München, 2005,
sowie ders. und Bernhard Siegert, „Beseelte Statuen – zuckende Leichen. Medien der Ver-
lebendigung vor und nach Guillaume Benjamin Duchenne“, in: Kaleidoskopien 3/384, 2000,
S. 66–99.
1 Vgl. Rüdiger Campe, „Rhetorik und Physiognomik oder Die Zeichen der Literatur“, in:
Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 9, 1990, S. 68–83.
2 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Berlin, 1955, S. 822.
3 Friedrich A. Kittler, „Musik als Medium“, in: Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen
zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller, Berlin, 1995, S. 83–99,
hier S. 90.
4 Hegel, Ästhetik, S. 806.
Körpers seinen Ort nicht nur verändert, sondern auch sich in den vorigen Zu-
stand zurückzuversetzen strebt. Das Resultat dieses schwingenden Zitterns ist
der Ton, das Material der Musik.5
Der zitternde, schwingende Ton nun, den Hegels Ästhetik als reine Zeitlichkeit
fasst, ist auch das äußerliche Material des sprachlichen Kunstwerks.6 Wurde
das Sein der Sprache im 17. Jahrhundert, wie Michel Foucault in Les mots et les
choses erläutert hat, etwa in der Grammatik von Port Royal, über den „Buch-
staben“ bestimmt, so geschieht dies um 1800 über die „Folge von distinkten
Lauten“.
Das ganze Sein der Sprache ist jetzt lautlich. […] Man sucht die Sprache sehr
nahe bei dem, was sie ist: im Sprechen, jenem Sprechen, das die Schrift aus-
trocknet und auf dem Blatt festheftet. […] In seiner vorübergehenden und tiefen
Klanghaftigkeit wird das Sprechen souverän. […] Die Sprache […] hat eine
vibrierende Natur angenommen, die sie vom sichtbaren Zeichen löst, um sie der
Musiknote anzunähern.7
der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, un-
erreichbar […]. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher
vermodern; die seine Beschreibung angefangen, könnten sie nicht vollenden,
sondern müßten sie anderen überlassen, welche von einem Dinge zu sprechen,
das nicht ist, zuletzt selbst eingestehen würden.9
Das Problem, mit dem die Sprache, insofern sie sich auf die menschlichen
Sinne verwiesen sieht, also zu kämpfen hat, ist die zeitliche und räumliche
nicht mehr ein System von Repräsentationen, das die Kraft hat, andere
Repräsentationen zu zerlegen und zu rekomponieren. Sie bezeichnet in ihren
konstantesten Wurzeln [d.h. den Verben und Personalpronomen, Anm. d. A.]
Handlungen, Zustände, Willen. Eher als das, was man sieht, bedeutet sie im Ur-
sprung das, was man tut oder was man erleidet. Und wenn sie schließlich die
Dinge wie mit dem Finger zeigt, dann insofern, als sie das Resultat oder der
Gegenstand oder das Instrument dieser Handlung sind. […] Man spricht, weil
man handelt, und nicht, weil man beim Wiedererkennen erkennt.14
Hatte die Sprache als Repräsentation die Dinge vom ‚Platz des Königs‘ aus einer
klassifizierenden Ordnung unterworfen, so wird sie nun, als differenzierende
Artikulation von Gegenständen, zur Tätigkeit eines Subjekts.
Dass eine solche Freisetzung der Sprache das gesamte Verhältnis der Künste
zueinander verschiebt, belegt bereits Gotthold Ephraim Lessings Schrift
Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, die die Kunsttheorie von
der Repräsentation räumlicher Verhältnisse auf die Reproduktion zeitlicher
Abläufe umstellt. „Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters,
so wie der Raum das Gebiete des Malers.“15 Ziel dieser Grenzziehung ist dabei
10 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 84: „Auf die Frage: was ist das Jetzt? antworten
wir zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit
zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine
Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie
aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so
werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.“
11 Vgl. ebd., S. 85: „Das Hier ist z.B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit
verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das hier ist nicht ein Baum,
sondern vielmehr ein Haus.“
12 Ebd., S. 99.
13 Ebd., S. 93.
14 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 353.
15 Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5/2: Werke 1766–1769,
hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a.M., 1990, S. 11–206, hier S. 130.
weniger ein auf der Materialität ihrer Zeichen gegründetes System der Künste16
als vielmehr die Formulierung einer neuen Ästhetik des transitorischen Reizes,
die als „Schönheit in Bewegung“ definiert wird:
Reiz ist Schönheit in Bewegung, und eben darum dem Maler weniger bequem
als dem Dichter. Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat
aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Folglich wird der Reiz bei ihm zur
Grimasse. Aber in der Poesie bleibt er, was er ist; ein transitorisches Schönes, das
wir wiederholt zu sehen wünschen.17
Die Definition der Schönheit als ‚Reiz‘ markiert dabei über die Homonymie
zugleich eine Differenz, nämlich die zwischen dem irritablen, seelenlos
zuckenden Körper, wie ihn die zeitgenössische Experimentalphysiologie in
ihren Reiz- und Läsionsversuchen beobachtete,18 und dem ästhetischen Reiz
lebendiger Bewegung in der Poesie.19 Dass sich Lessings Erläuterung der für
seine kunsttheoretische Schrift titelgebenden antiken Skulpturengruppe
allein auf die Frage der Darstellung des Schmerzes konzentriert, ist eben die
Entfaltung dieses Unterschieds.
Malerei und Poesie, so Lessing, „stellen uns abwesende Dinge als gegen-
wärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung
gefällt.“20 Während dem Maler zu diesem Zwecke „natürliche Zeichen“ zur Ver-
fügung stehen, ist die Dichtung auf die „willkürliche[n]“ Zeichen der Sprache
verwiesen,21 denen sie eine besondere Kraft verleiht. Denn anders als der
„Prosaist“ „will“ der „Poet“ „nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen
sollen nicht bloß klar und deutlich sein“, sondern
er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Ge-
schwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden
glauben, und in diesem Augenblick der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu
anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören.22
16 Vgl. Lessing, „Laokoon“, S. 114: „Doch ich will mich in dergleichen Exempel nicht verlieren,
aus welchen man am Ende doch wohl nicht viel mehr lernet, als daß die Farben keine
Töne, und die Ohren keine Augen sind.“
17 Ebd., S. 155.
18 Vgl. Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin,
1997, S. 33–39.
19 Zur Überkreuzung der Diskurse von Ästhetik und Physiologie im Gebrauch des Wortes
,Reiz‘ vgl. Simon Richter, „Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert:
Herder und Haller über Reiz“, in: Lessing Yearbook 25, 1993, S. 83–95.
20 Lessing, „Laokoon“, S. 13.
21 Ebd., S. 61.
22 Ebd., S. 124.
Dichtung ist also bei Lessing eine Verschriftlichung von Sinnlichkeiten, die
dann vom Leser bei der Lektüre den Worten wiederum substituiert werden,
was das Lesen zu einem künstlichen Träumen werden lässt: „Was wir poetische
Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasien, wie man sich aus dem Longin
erinnern wird. Und was wir die Illusion, das Täuschende dieser Gemälde
heißen, hieß bei ihnen die Enargie.“23
Im Namen der Phantasie wird die Dichtung von Lessing auf eine einzige
rhetorische Figur reduziert und im Subjekt und seinen Sinnen verankert: Aus
der phantasia, der rhetorischen Figur der Vergegenwärtigung von Absentem,
die zugleich ein Verfahren der Selbstaffektion bezeichnete, mit dem der Redner
sich durch Vorstellung einer nicht gegenwärtigen Situation oder eines Objekts
in den Affekt seiner Wahl versetzte,24 werden „Träume der Wachenden“25 oder
lebendige Täuschungen. Zugleich wird im rhetorischen Begriff der Enargie
(enargeia) die Funktion der poetischen Rede ganz allgemein als ein Vor-Augen-
Stellen bestimmt.26 Die Phantasie rückt also bei Lessing dadurch ins Zentrum
seiner Ästhetik der lebendigen Bewegung, dass sie, von aller rhetorischen
Figürlichkeit befreit, zur Chiffre für ein poetisches Schreiben und Lesen wird,
das die Wörter über den vorgestellten Bildern vergisst.
Damit aber gewinnt zugleich das Verhältnis von literarischem Text und
Theater eine neue Kontur. „Der Dichter“, schreibt 1797 Friedrich Hildebrand
von Einsiedel, herzoglich Sachsen-Weimarischer Hofrat, in seinen Grund-
linien zu einer Theorie der Schauspielkunst, „vollendet allein, ohne Beystand
des Spielers, sein Kunstwerk, die Fantasie des Lesers macht alle Rollen darin
so rein und so vollständig, wie die schwierigern des Heldengedichtes und des
längern Romans.“27 Was zugleich für das Theater heißt: „[D]er Dichter giebt den
Umriß des Gemäldes, und der Schauspieler theilt durch seine Darstellung dem
Zuschauer alles dasjenige mit, was die Fantasie des Lesers gern und auf eine
ihr wohlgefällige Weise darein gelegt haben würde.“28 Die Aufführung hat ihr
Modell also in einer halluzinatorischen Lektüre, so wie umgekehrt die Lektüre
eine innere Theaterinszenierung ist. Im Übergang vom barocken Welttheater
zum neuen Bildungstheater der lebendigen Individualität wird die Bühne im
späten 18. Jahrhundert somit zum emphatischen Ort einer Offenbarung und
sinnlichen Einübung einer neuen Lektüretechnik. Wenn Lessing die „Kunst
des Schauspielers“ in der Hamburgischen Dramaturgie als „zwischen den
bildenden Künsten und der Poesie“ stehend definiert, wird sie gleichsam zur
Brücke, über die der Zuschauer den Weg zur unmittelbaren Anschaulichkeit
der Dichtung finden soll:
Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr [d.h. der Kunst des Schau-
spielers, Anm. d. A.] höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei
braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten
Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines
Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr all das Aus-
drückende, welches ihm eigentümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das
es in den bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß
sie nicht allzulang darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden
Bewegungen allmählich vorbereiten, und durch die darauf folgenden wiederum
in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle
die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann.29
näherstehen. Musik und Dichtung ist es gemeinsam, dass sie „mit ihrem
flüchtigen Vorüberrauschen schon wieder verschwinden“ und daher der „stets
wiederholten Reproduktion“ oder Aufführung bedürfen, während „Bauwerke,
Statuen, Gemälde für sich einen dauernden Bestand haben“.32 „Die Werke der
Poesie“, so Hegel,
Wie die Musik so bedarf auch die Dichtung des lebendigen Menschen, um von
der toten Schriftlichkeit zur sinnlichen Gegenwart und Wirklichkeit als Kunst-
werk zu kommen, sei es durch eine innere vorgestellte, sei es durch eine äußere
körperliche Stimme. Als Zeitkunst „drängt“, wie der Hegel-Schüler Heinrich
Theodor Rötscher 1841 in seiner schauspieltheoretischen Fortschreibung der
Ästhetik betont, die „Kunst der dramatischen Darstellung […], ihrer Natur nach,
zur sinnlichen Erscheinung, zur Verkörperung der dichterischen Anschauung,“34
und benötigt daher entsprechend gebildete Schauspieler, die die Dichtung zur
Aufführung bringen.
Unter allen Künsten entbehrt nur die Poesie der vollen, auch sinnlichen Realität
äußerer Erscheinung. Indem nun das Drama nicht etwa [d.h. wie der Roman,
Anm. d. A.] vergangene Taten für die geistige Anschauung erzählt oder [d.h. wie
die Lyrik, Anm. d. A.] die innere subjektive Welt für die Vorstellung und das Ge-
müt ausspricht, sondern eine gegenwärtige Handlung ihrer Gegenwart und Wirk-
lichkeit nach darzustellen bemüht ist, so würde es in Widerspruch mit seinem
eigenen Zwecke geraten, wenn es auf die Mittel beschränkt bleiben müßte,
welche die Poesie als solche zu bieten imstande ist. Denn die gegenwärtige
Handlung gehört zwar ganz dem Innern an und läßt sich nach dieser Seite voll-
ständig durch das Wort ausdrücken; umgekehrt aber bewegt sich das Handeln
auch zur äußeren Realität heraus und erfordert den ganzen Menschen in seinem
auch leiblichen Dasein, Tun, Benehmen, in seiner körperlichen Bewegung und
seinem physiognomischen Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften –
sowohl für sich als auch in der Einwirkung des Menschen auf den Menschen und
der Reaktionen, die hierdurch entstehen können.40
Erst in der transitorischen Aufführung findet das Drama seine ästhetische Er-
füllung im Sinne einer wirklichen und gegenwärtigen Handlung. Schauspiel-
technisch besteht die Differenz zur Antike dabei darin, „daß bei den Griechen,
da ihre Schauspieler Masken trugen, das Mienenspiel ganz fortblieb“. Die „Ge-
sichtszüge“ gaben somit
dramatischer Charaktere ausbreiten ließen. Ebenso einfach war die Aktion, wes-
halb wir auch nichts von berühmten griechischen Mimen wissen.41
Statt bloß statuenhafte Träger einer Stimme zu sein, treten die Schauspieler in
der Moderne als „Skulpturbilder beseelt“42 auf die Bühne, wobei das Gesicht
zum eigentlichen Schauplatz der Aufführung wird. Der Unterschied zwischen
antikem und modernem Theater liegt also vor allem in den Bewegungen der
Physiognomie, die die dramatische Rede begleiten und dem Schauspieler zu-
gleich ein eigenes Aktionsfeld eröffnen, das dann das ganze 19. Jahrhundert
über seinen Ruhm ausmachen sollte.
Besonders folgenreich musste diese neue Theatralität des lebendigen
Körpers auch für den Bühnentanz sein, der um 1700 ganz im Licht choreo-
graphischer Schriften und ihrer Kodifizierungsleistung gestanden hatte. Die
unter Ludwig XIV. gegründete Pariser Académie royale de danse hatte den
Tanz institutionell von der Musik getrennt und seine Bewegungen in ein
Chorégraphie genanntes Tableau von Elementen überführt, das es ermöglichte,
die Arm- und Beinbewegungen der Tänzer als Positionen im Raum zu notieren
und mit der Zeitachse der Musik zu verknüpfen.43 In der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts wird der Tanz demgegenüber als Ausdruck lebendiger
seelischer Bewegung begriffen, die sich unmittelbar im Körper abzeichnet.
„[D]ie Choregraphie tödtet das Genie“, stellt Jean Georges Noverre in seinen
zuerst 1760 erschienenen und von Lessing bereits 1769 übersetzten Lettres sur
la danse et sur les ballets entsprechend fest, „sie schwächt und verdirbt den
Geschmack des Kompositeurs, der sich ihrer bedient; er wird steif und schwer-
fällig, unfähig zum Erfinden; aus einem Schöpfer, der er war, oder hätte werden
können, wird ein bloßer Plagiarius; seine Imagination ist erstorben“.44 Anders
hingegen verhält es sich, wenn die „Gebehrden“ des Tänzers „blos das Werk
der Seele, und die unmittelbare Eingebung ihrer Regungen“45 sind. Statt als
Repräsentation von Affekten und Kombination von bereitliegenden Figuren
wird die Bewegung des Körpers auf der Bühne nun als spontaner Ausdruck
begriffen, der sich zudem auch weniger in Armen und Beinen als vor allem im
Gesicht abspielt. Bei Noverre legt der Tänzer daher die im höfischen Ballett
übliche allegorische Maske ab, um die Zuschauer am Spiel seiner Mimik teil-
haben zu lassen. So heißt es in Noverres Briefen:
Auf dem Gesichte ist es, wie Sie wissen, mein Herr, wo der Mensch sehen läßt,
was in seiner Seele vorgeht, wo man seine Affecten und Leidenschaften lesen,
und wechselweise Ruhe, Unruhe, Vergnügen, Schmerz, Furcht und Hoffnung
abgebildet finden kann. Sein Ausdruck ist hundertmal wärmer, lebhafter und
bestimmter, als das Resultat der feurigsten Rede. Einen Gedanken durch Worte
vorzustellen, dazu gehört gewisse Zeit, die Gebehrden zeigen ihn auf einmal
mit Nachdruck; es ist ein Blitz, der aus dem Herzen fährt, in den Augen flammt,
alle Gesichtszüge hell macht, den Knall der Leidenschaften verkündigt, und
uns gleichsam die Seele nackend sehen läßt. Alle unsere übrigen Bewegungen
sind bloß mechanisch und sagen nichts, wenn das Gesicht dabey stumm bleibt,
und ihnen nicht Seele und Leben giebt. Wir haben also kein nützlicher Werk-
zeug zum Ausdruck in unserer Gewalt, als die Physiognomie; warum denn ver-
steckt man sie auf dem Theater hinter eine Maske, und zieht die plumpe Kunst
der schönen Natur vor? Womit soll der Tänzer mahlen, wenn man ihm seine
nothwendigsten Farben wegnimmt? Wie will er die Bewegungen seiner eigenen
Seele in die Seelen der Zuschauer übertragen, wenn er sich des Hülfsmittels be-
raubt, wenn er sich mit einem Stück Pappe, mit einem gemahlten, mienenlosen
Gesichte bedeckt. Das Gesicht ist das Sprachwerkzeug der stummen Scene […].46
46 Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 147f.
47 Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, 2 Teile, Nachdruck, Darmstadt, 1968, Teil 1,
S. 150.
48 „Erst um 1800“, so Erich Schön, „setzt sich die Rampe als unüberschreitbare Grenze zweier
Wirklichkeiten endgültig durch; und erst damit hat das Betreten der Bühne als Zuschauer-
platz, zum Mitagieren oder zur handgreiflichen Auseinandersetzung mit Schauspielern
ein Ende. Es verschwinden auch Artikulationsformen wie das Werfen von Gegenständen
(z.B. Blumen oder aber faule Äpfel), das Dazwischen-Rufen, Unterbrechen, Nicht-Aus-
reden-Lassen eines Schauspielers, Rufe wie ‚Bravo‘ oder ‚Fort!‘ […] [,] Pfeifen, Zischen und
Pochen mit dem Stock auf den Boden (bzw., da Juden oft keine Stöcke tragen durften,
bei dieser Gruppe das Scharren mit den Füßen). Das Klatschen mit den Händen setzte
sich durch als eine situationstypische symbolische Interaktionsweise.“ Erich Schön, Der
Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800
(= Sprache und Geschichte 12), Stuttgart, 1987, S. 84. Vgl. auch Johannes Friedrich Lehmann,
Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei
Diderot und Lessing (= Rombach Wissenschaften, Reihe Cultura 12), Freiburg i.Br., 2000,
S. 97: „Die Beobachtungsrelation zwischen den Zuschauern, die vorgeblich gar nicht da
Garrick steckt seinen Kopf durch eine Türspalte, und sein Mienenspiel geht
innerhalb von vier bis fünf Sekunden von toller Freude zu maßvoller Freude
sind, und den Schauspielern, die (der Fiktion nach) unbeobachtet sind, durchschneidet
zunächst die bis dahin übliche Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum.“
49 Noverre, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 215.
50 Ebd., S. 319.
51 Friedrich Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in:
ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Gerhard Fricke
und Herbert G. Göpfert, München, 1989, S. 818–831, hier S. 828.
52 Diese Paradoxie eines antitheatralischen Theaters entfaltet und analysiert die Studie von
Christopher J. Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte
der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br., 2003, v.a. S. 263–356.
53 Zur Immobilisierung des Lesers und des Theaterzuschauers im 18. Jahrhundert vgl. Schön,
Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 81–97.
54 Denis Diderot, „Das Paradox über den Schauspieler“, in: ders., Ästhetische Schriften, Bd. 2,
hg. von Friedrich Bassenge, übers. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke, Frankfurt
a.M., 1968, S. 481–539, hier S. 537.
über, von dieser zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Über-
raschung zum Erstaunen, vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Nieder-
geschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zur Furcht, von der Furcht zum
Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung und kehrt dann von dieser tiefsten
Stufe wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.55
Noverre nannte Garrick den „Protheus unserer Zeit“ und „das Muster, das ich
aufstellen will“.56 „Glauben Sie nicht“, so betonte er, „daß dieser große Akteur
niedrig und gemein sey, oder Grimassen mache; er ist ein getreuer Nachahmer
der Natur und weiß aus derselben allemal das Schönste zu wählen“.57
Solche Praktiken lebendiger Darstellung gründen in dem besonderen Ver-
hältnis von Literatur und Theater um 1800. Der dramatische Text stellt eine Ab-
folge physiognomischer Zeichen zur Aufführung bereit, die vom Schauspieler
in seinen Körper zurückübersetzt werden. Was daraus entspringt, ist das Para-
dox einer Darstellung, die lebendige Natur und theatralische Täuschung zu-
gleich ist. Die Abgrenzung gegenüber dem toten mechanischen Automaten ist
dabei ein fester Topos, der Theater58 und Literatur gleichermaßen als Kunst
der Verlebendigung hervortreten lässt:
Schon die Verbindung des Menschen mit toten, das Menschliche in Bildung und
Bewegung nachäffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich
etwas Drückendes, Unheimliches, ja Entsetzliches. Ich kann mir es denken, daß
es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes
gar künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßten diese mit Menschen
gemeinschaftlich einen Tanz aufführen und sich in allerlei Touren wenden und
drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne Tänzerin faßte und sich
mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute
lang ertragen?59
Und es dient dem einen Ziel, für die Literatur den Anspruch zu erheben, einen
tiefergehenden Zugang zu den Geheimnissen der Natur zu besitzen als die
Mechanik. Das Theater um 1800 partizipiert an diesem von Hoffmann in der
Figur des Professor X chiffrierten literarischen Wissen vom Lebendigen, indem
es die Körper der Schauspieler ganz in den Dienst des dramatischen Textes
stellt und sie damit zur Bühne der lebendigen Darstellung werden lässt.
Literatur
Hoffmann, E.T.A., „Die Automate“, in: ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Die
Serapions-Brüder, hg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a.M., 2001, S. 396–429.
Jeschke, Claudia, Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstel-
lung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall, 1983.
Jeschke, Claudia, „Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grund-
lagen, Praxis, Autoren, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart, 1992, S. 85–111.
Jeschke, Claudia, „Körperkonzepte des Barock – Inszenierungen des Körpers und
durch den Körper“, in: Tanz und Bewegung in der barocken Oper, hg. von Sibylle
Dahms und Stephanie Schroedter, Innsbruck/Wien, 1996, S. 85–105.
Kittler, Friedrich A., „Musik als Medium“, in: Wahrnehmung und Geschichte. Markie-
rungen zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard J. Dotzler und Ernst Müller, Berlin,
1995, S. 83–99.
Lehmann, Johannes Friedrich, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theater-
zuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing (= Rombach Wissenschaften,
Reihe Cultura 12), Freiburg i.Br., 2000.
Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner,
Frankfurt a.M., 1985–2003.
Literatur im Industriezeitalter. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im
Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar (= Marbacher Kataloge 42/1), 2 Bde.,
hg. von Ulrich Ott, Marbach, 1987.
Mülder-Bach, Inka, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung
der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998.
Noverre, Jean Georges, Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, übers. von Joa-
chim Christoph Bode und G. E. Lessing (= Documenta Choreologica 15), Neudruck,
Leipzig, 1977.
Richter, Simon, „Medizinischer und ästhetischer Diskurs im 18. Jahrhundert: Herder
und Haller über Reiz“, in: Lessing Yearbook 25, 1993, S. 83–95.
Rötscher, Heinrich Theodor, Die Kunst der dramatischen Darstellung. Mit einem Ge-
leitwort von Oskar Walzel, Berlin, 1919.
Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert,
5 Bde., München, 1958ff.
Schön, Erich, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentali-
tätswandel um 1800 (= Sprache und Geschichte 12), Stuttgart, 1987.
Wild, Christopher J., Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Ge-
schichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br., 2003.
1 Johann Wolfgang Goethe, „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (1811–1814, 1833), in:
ders., Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 10: Autobiographische Schriften 2,
hg. von Erich Trunz, München, 1994, S. 8 u. 12. Zu Lenz’ Weimarer Zeit vgl. Heinrich Bosse,
„Lenz in Weimar“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 2014, S. 112–149.
Auf den von Goethe selbst gebildeten Zusammenhang zwischen einer ‚un-
erschöpflichen Produktivität‘ und der ‚Vernichtung des Werks‘ war für ihn
keine Ästhetik zu gründen, weil darin die Spannung, auf der jede Ästhetik
seit der Antike aufbaute, sich als Aporie offenbart: nämlich die Spannung
zwischen dem Anspruch der lebendigen oder lebhaften Nachahmung und der
Notwendigkeit, die Nachahmung in einer Form oder Gestalt zu fixieren und
damit gewissermaßen zu mortifizieren. Während die Ästhetiken in der Regel
nicht bis in jene Zone vorstoßen, wo die Spannung des Widerstreits im Paradox
verhärtet und als Aporie aufbricht, sondern die technischen Belange (was, wie,
womit) der Nachahmung diskutieren und regeln, hat der Pygmalion-Mythos
die Aporie mit der wunscherfüllenden Erzählung produktiv überformt. Weit
häufiger aber ergeht die fruchtlose platonische Klage, dass das Zeichen die
Idee verdunkle, dass der Körper die Seele mortifiziere, worauf der Pygmalion-
Mythos sozusagen als Gegenzauber antwortet. Er formuliert implizit den
Grenzwert einer Ästhetik, nach der Kunst Lebendiges nicht nur nachahme
und/oder lebendig darstelle, sondern selbst Lebendiges schaffe. Georg Büchner
wird seine Lenz-Figur diesen aporetischen Anspruch formulieren und dann
mit der Konsequenz des Wahnsinns ausagieren lassen:
Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir
haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass
Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige
Kriterium in Kunstsachen,2
2 Georg Büchner, „Lenz“ (1835–36/1839), in: ders., Sämtliche Werke und Schriften, historisch-
kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar, Bd. 5, hg. von Burghard Dedner
und Hubert Gersch, Darmstadt, 2001, S. 29–49 (emendierter Text), S. 37.
3 Vgl. Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der
„Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München, 1998, S. 69f.
4 Überhaupt kam in der anthropologischen Literaturwissenschaft vom ‚Ganzen Menschen‘
der 1990er Jahre der Lebensbegriff ebenso wenig in den Blick wie in der ‚Mediologie‘; vgl.
Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert,
DFG-Symposion 1992, Stuttgart, 1994 und Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftver-
kehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München, 1999.
5 Vgl. Johannes Friedrich Lehmann und Heinrich Bosse, „Sublimierung bei J.M.R. Lenz“,
in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neu-
zeit, hg. von Christian Begemann und David Wellbery, Freiburg i.Br., 2001, S. 177–203;
Johannes F. Lehmann, „Sexualität und Ästhetik bei J.M.R. Lenz und J.G. Herder“, in: Die
Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen,
Borgards Roland und Johannes F. Lehmann, Würzburg, 2001, S. 15–36; ders., „Energie und
Literatur bei J.M.R. Lenz“, in: „Die Wunde Lenz“. J.M.R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, hg.
von Inge Stephan und Hans-Gerd Winter, Bern u.a., 2003, S. 285–305; ders., „Energie, Gesetz
und Leben um 1800“, in: Sexualität – Recht – Leben. Zur Entstehung eines Dispositivs um 1800,
hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring, München,
2005, S. 41–66; ders., „Materialistische Anthropologie im Sturm und Drang. J.R.M. Lenz’ ‚Die
Soldaten‘ und ‚Zerbin‘“, in: Sturm und Drang. Epochen – Autoren – Werke, hg. von Matthias
Buschmeiner und Kai Kauffmann, Darmstadt, 2013, S. 180–202.
II
6 Vgl. Hubert Thüring, Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750–1938, München,
2012, S. 83–138.
7 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Anmerkungen übers Theater“ (1774), in: ders., Werke und
Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften, hg. von
Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 641–671.
8 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über die Soldatenehen“ (1773–76/1913), in: ders., Werke und
Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften, hg. von
Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 787–827; und ders., Schriften zur Sozialreform.
Das Berkaer Projekt, 2 Teile, hg. von Elystan Griffiths und David Hill, unter Mitwirkung von
Heribert Tommek, Frankfurt a.M. u.a., 2007.
Wir werden geboren – unsere Eltern geben uns Brot und Kleid – unsere Lehrer
drücken in unser Hirn Worte, Sprachen, Wissenschaften – irgend ein artiges
Mädchen drückt in unser Herz den Wunsch es eigen zu besitzen, es in unsere
Arme als unser Eigentum zu schließen, wenn sich nicht gar ein tierisch Bedürfnis
mit hineinmischt – es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen –
unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen uns glücklich hinein –
wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder und
stoßen und treiben – bis wir wenn’s noch so ordentlich geht abgestumpft sind
und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen – das ist, meine
Herren! ohne Ruhm zu melden unsere Biographie – und was bleibt nun der
Mensch noch anders als eine vorzüglich künstliche kleine Maschine, die in die
große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser
oder schlimmer hineinpaßt.10
Der Text hebt mit der Beschreibung eines Normlebenslaufs an, deren ironisch-
kritische Absicht sowohl motivisch als auch rhetorisch bald merkbar und mit
der Apostrophe der Zuhörer und dem Begriff der ‚Maschine‘ auch erkennbar
wird. Die Kritik am aufklärerischen Rationalismus und Mechanismus ist gewiss
9 Jakob Michael Reinhold Lenz, Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (1771–
1774/1780), Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780, mit einem Nachwort
und hg. von Christoph Weiß, St. Ingbert, 1994.
10 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über Götz von Berlichingen“ (1773–1775/1901), in: ders.,
Werke und Briefe, Bd. 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische
Schriften, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig, 1992, S. 637–641, hier S. 637.
Der ‚Reiz des Lebens‘ ist der zentrale Begriff eines Zusammenhangs, aus dem
Lenz die Züge einer Ästhetik gewinnt, die man als vitalistisch-pragmatische
Ästhetik anschreiben kann, wobei pragmatisch hier ‚auf das Handeln, die Praxis
bezogen‘ meint. Die pragmatische Ästhetik enthält auch einen ethisch-
moralischen Zug, der sich aus der – von Lenz auch anderweitig geknüpften12 –
Nun aber wissen wir alle, das Gefühl ist zu dieser betrachtenden Kontemplation
und Ideenweckung der dunkelste, langsamste, trägste Sinn; da er doch im
Empfinden der schönen Form der Erste und Richter sein muß. Er, Ideen und
Nachahmung vergessend, fühlt nur, was er fühlt; dies regt seine innere Sympathie
dunkel aber um so tiefer.16
Auch Sprache konzipiert Herder genetisch von einer „Sprache der Empfindung“
her, als eine sensible Semiotik, über deren Anlage auch die Tiere verfügen, die
sich im Menschen in besonderer Weise ausgeformt hat: „Schon als Tier, hat
der Mensch Sprache“, so beginnt Herder die Abhandlung über den Ursprung
15 Johann Gottfried Herder, „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Be-
merkungen und Träume“ (1774/1778), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4: Schriften
zur Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, hg. von Jürgen Brummack und Martin
Bollacher, Frankfurt a.M., 1994, S. 327–393, hier S. 339.
16 Johann Gottfried Herder, „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus
Pygmalions bildendem Traume“ (1768–1770/1778), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 4,
S. 243–326, hier S. 272; vgl. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions, S. 85f.: „Wie der Begriff
der Illusion, so ist der Begriff der plastischen Darstellung bei Herder darauf angelegt, die
Opposition von Kunst und Leben nicht etwa progressiv zu überwinden, sondern vom
Ursprung her zu unterlaufen. […] Die ‚körperliche Darstellung‘ ist wahr und lebendig zu-
gleich, denn sie spricht zu einem Sinn, der seine Erfahrungen am ‚dunklen‘ Indifferenz-
punkt von Zeichen und Bezeichnetem sammelt, wo Nachahmung und Natur, Kunst und
Leben (fast) in eins fallen.“
der Sprache, indem er Tier und Mensch zugleich verbindet und trennt.17 Der
Empfindung eines wiederholt wahrgenommenen auditiven „Merkmal[s]“, so
führt Herder den Sprachursprung am Beispiel des Schafeblökens szenisch vor
Augen, entspringt spontan ein „Merkwort“, zu dem sich auch die visuellen und
haptischen Eindrücke assoziieren.18 Das Merkwort entspringt spontan als Reiz-
wort, Sprache ist ursprünglich Träger und Vermittler von Empfindungsreizen.19
Mit Herder denkt Lenz seine vitalistisch-pragmatische Ästhetik radikal
vom psychophysischen Reiz des dunklen Gefühls aus und unterscheidet
nicht zwischen Produktion und Rezeption: Etwas Geschaffenes kann nur
wahrgenommen und empfunden werden, wenn es zugleich wieder oder
weiter geschaffen wird. Die Kommunikation zwischen dem Produzenten und
Rezipienten erfolgt durch die „Sympathie“ des Reizes,20 den das Kunstwerk
überträgt. Wenn Lenz für die Wahrhaftigkeit seiner Rede und die Richtigkeit
des Gesagten an das ‚Gefühl‘ seiner Zuhörer appelliert, dann meint er damit
wohl nicht direkt den Tastsinn, aber auch nicht das Gefühl als reine Gemüts-
oder Seelenregung, sondern eben jene unmittelbare Gewissheit und ‚Begriffen-
heit‘, die Herder zufolge dem Tastsinn eignet.
Nachdem Lenz die pragmatische Maxime des fortgesetzten Lernens und
Handelns aus dem ‚Geiste des Lebensreizes‘ entwickelt hat, spricht er endlich
aus, dass diese vitalistisch-pragmatischen Maximen immer schon als theatrale,
performative Ästhetik zu denken gewesen sind und bezieht dies gleich auch
auf seine eigene Rede:
Verzeihn Sie meinen Enthusiasmus! Man kann nicht [zu] enthusiastisch von
den Sachen sprechen; da unsere Gegner soviel Feuer verschwenden, uns das
Leiden süß und angenehm vorzustellen, sollen wir nicht aus Himmel und Hölle
Feuer zusammenraffen um das Tun zu empfehlen? Da stehn unsre heutigen
Theaterhelden und verseufzen ihre letzte Lebenskraft einer bis über die Ohren
geschminkten Larve zu gefallen – Schurken und keine Helden! was habt ihr
getan, daß ihr Helden heißt?
Ich will mich bestimmter erklären. Unsre heutigen Schaubühnen wimmeln
von lauter Meisterstücken, die es aber freilich nur in den Köpfen der Meister
selber sind. […] Laßt uns aber einen andern Weg einschlagen, meine Brüder,
Schauspiele zu beurteilen, laßt uns einmal auf ihre Folgen sehen, auf die
Wirkung die sie im Ganzen machen. Das denk ich ist doch gewiß wohl der
17 Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1770/1772), in:
ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften, 1764–1772, Frankfurt a.M., 1985, S. 695–
810, hier S. 697f.
18 Ebd., S. 723f.
19 Vgl. ebd., S. 771: „[…] so ist die Genesis der Sprache ein so inneres Dringnis, wie der Drang
des Embryons zur Geburt bei dem Moment seiner Reife.“
20 Zum physiologischen Begriff der Sympathie vgl. Thüring, Das neue Leben, S. 410–422.
sicherste Weg. Wenn ihr einen Stein ins Wasser werft, so beurteilt ihr die Größe
Masse und Gewicht des Steins nach den Zirkeln die er im Wasser beschreibt.
Also sei unsere Frage bei jedem neuen herauskommenden Stück das große, das
göttliche Cui bono? Cui bono schuf Gott das Licht: daß es leuchte und wärme, cui
bono die Planeten: daß sie uns Zeiten und Jahre einrichteten, und so geht es un-
aufhörlich in der Natur, nichts ohne Zweck, alles seinen großen vielfachen nie
von menschlichem Visierstab […]. Und wo fände der Genius ein anderes,
höheres, tieferes, größeres, schöneres Modell als Gott und seine Natur?
Also cui bono? was für Wirkung? die Produkte all der tausend französischen
Genies auf unsern Geist, auf unser Herz, auf unsre ganze Existenz? Behüte mich
der Himmel, ungerecht zu sein. Wir nehmen ein schönes wonnevolles süßes Ge-
fühl mit nach Hause, so gut als ob wir eine Bouteille Champagner ausgeleert –
aber das ist auch alles. Eine Nacht drauf geschlafen und alles ist wieder vertilgt.
Wo ist der lebendige Eindruck, der sich in Gesinnungen, Taten und Handlungen
hernach einmischt, der prometheische Funken der sich so unvermerkt in unsere
innerste Seele hineingestohlen, daß er wenn wir ihn nicht durch gänzliches
Stilliegen in sich selbst wieder verglimmen lassen, unser ganzes Leben beseligt;
das also sei unsre Gerichtswaage nach der wir auch mit verbundenen Augen
den wahren Wert eines Stücks bestimmen. Welches wiegt schwerer, welches hat
mehr Gewicht Macht und Eindruck auf unsre Meinungen und Handlungen?
Und nun entscheiden Sie über Götz.21
Anschließend geht Lenz auf den Inhalt des Götz ein, lobt sein vorbildliches
Wesen und Wirken und ruft die versammelten „Herren“ auf, die Probe aufs
Exempel gleich hier zu veranstalten, es braucht „[w]eder Theater noch Kulisse
noch Dekoration – es kommt alles auf die Handlung an. […] und dann ein-
geladen alles was noch einen lebendigen Odem in sich spürt – das heißt Kraft
Geist und Leben um mit Nachdruck zu handeln“, so unterstreicht Lenz im
Schlusssatz noch einmal den interventionistischen Impetus seiner vitalistisch-
pragmatisch-performativen Ästhetik, wie sie nun zu nennen wäre.
In der zitierten Passage greift Lenz durchaus auf die Nachahmungsbegriffe
der aristotelischen Poetik und Physik zurück. Doch sowohl bei der poetischen
Mimesis der Handlung als auch bei der physischen Mimesis der Form, die mit
dem göttlichen Modell der Natur angesprochen wird, rückt die Wirkung im
Sinn einer Anreizung durch den lebendigen Eindruck zum Wieder-Erschaffen
oder Weiter-Erschaffen mit Einwirkung oder Fortwirkung in der Wirklich-
keit in den Vordergrund. Über die nähere Art und Weise, was und wie – von
der Produktion her betrachtet – vom Lebensreiz bis zur dargestellten Hand-
lung und – auf die Rezeption hin betrachtet – von der dargestellten Hand-
lung zum lebendigen Eindruck übertragen wird, erfährt man indes nichts
Genaueres. Eine theoretisch-technische Analyse, wie man sie bei Herder in
III
22 Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18.
Jahrhundert, Tübingen, 1990, S. 224f.
23 Vgl. Rüdiger Campe, „Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuration“, in: Figur
und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. von Gottfried Boehm, Gabriele
Brandstetter und Achatz von Müller, Paderborn, 2007, S. 163–182; und ders., „Form und
Leben in der Theorie des Romans“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit,
hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker. Zürich/Berlin, 2009,
S. 193–211.
Beschreibung (Ekphrasis) besteht, betrifft die energeia das Beleben von etwas
Unbelebtem oder das Bewegen von Unbewegtem im Sinn von Wirklichwerden
(energeia, Akt) des Möglichen (dynamis, Potenz) mittels Metapher (so legt das
Beispiel bei Aristoteles nahe). Weil sich hier die Rhetorik mit der Metaphysik be-
rührt, könne man, so Campe, „soweit gehen, in der metaphorischen Ersetzung
die Umschreibung des philosophischen Begriffs vom Leben zu sehen“.24 Ent-
sprechend kann man die metaphorische ‚Urbewegung‘ als Begründung des
Verhältnisses von Leben und Zeichen bzw. Sprache denken, wie sie Herder
im physisch-semiotischen Verhältnis von Reiz und Merkwort umschreibt,
das nicht in einer Ähnlichkeit von Reiz und Merkwort besteht, sondern in
einem Sprung zwischen zwei heterogenen Sphären.25 Es liefert zum einen das
paradigmatische Modell für Neu- oder Analogbildungen (wie sie Aristoteles
in der Poetik mit der Verhältnisgleichung A : B = C : D erklärt)26 gemäß der
energeia, zum anderen den Anfang für syntagmatische Erweiterungen und
Verkettungen, welche die Bewegungen im Sinn der enargeia fortpflanzen.
Diese schon bei Aristoteles angelegte theoretische Verbindung von Leben
und Zeichen ist für die biologisch-sensuelle Ästhetik Herders und seiner
Zeit in dreierlei Hinsicht elementar: Zum einen ist es im Kontext der schon
von Aristoteles fundierten epigenetischen Lebenskonzeption, die Caspar
Friedrich Wolff mit seiner Theoria generationis (1759) in Absetzung von der
mimetistischen Präformationslehre der Haller-Schule neu entdeckt, empirisch
belegt und theoretisch begründet hat, möglich, ästhetische Zeichen nicht in
mimetisch-analogischer Relation zur Referenz zu denken (wie die Präformation
nahelegt), sondern als subjektiv und intersubjektiv zu konstituierende Relation
von Zeichen und Bedeutung, die ‚sympathisch‘ in der psychophysischen Reiz-
Affektion wie im äußeren Welt-Handeln wirken. Zum anderen erlaubt es der
Konnex zur Rhetorik, die ‚lebenschaffende‘ Kraft der energeia-Zeichen in
ihrer fortgesetzten oder verstärkten Wirkung in den enargeia-Syntagmen zu
denken. Und drittens lässt sich in Kombination mit den beiden Verfahren des
Affekt-Ausdrucks erkennen, wie Lebendigkeit als bestimmte Affektivität oder
Emotionalität und diese ihrerseits lebendig wirken kann.
Inka Mülder-Bach hat dargelegt, dass Lessing in seiner Laokoon-Theorie
der Einsicht, dass die Worte keine Ähnlichkeit mit den Referenten der Vor-
stellungen haben, Rechnung trägt und stattdessen die „Übereinstimmung
[…] zwischen der Struktur der Signifikate und der Ordnung der Signifikanten“
in den Blick der poetischen Arbeit stellt.27 In diese Richtung noch weiter
gegangen ist Klopstock in seiner verspoetischen Darstellungskonzeption
der 1770er Jahre, wie ebenfalls Mülder-Bach zeigt: Angeregt von Herders
biologisch-sensueller Ästhetik versucht Klopstock den Affektausdruck noch
enger in die Signifikantenkette hineinzudenken: „Wortfüsse“ nennt Klopstock
die „eigentlichen“, das heißt bedeutenden „Theile des Verses“, während die
„Versfüsse“ bloß „künstlich“ sind.28 Sie bilden die kleinste lyrische Einheit,
die mehr umfasst als ein Versfuß und mittels „Zeitausdruck“29 (basierend
auf der Silbendauer) und „Tonverhalt“30 (basierend auf der Silbenstärke)
ein rhythmisch „individuelles Bewegungsprofil“31 darbietet, das er auch be-
stimmten Affekten zuzuordnen versucht, was natürlich misslingt, weil auch
Affekt und Ausdruck historisch determiniert sind. Diese strukturierende Be-
wegung steht in einem Verhältnis zur gleichzeitig mitlaufenden semantischen
Ebene der Vorstellung, zu der sie in ein mimetisches bzw. pseudomimetisches
Verhältnis der Analogie oder des Kontrasts tritt. Klopstock denkt seine Poetik
also möglichst konsequent von den rhythmischen Wortgebärden aus, die den
Körper direkt affizieren, während die bildhaften Vorstellungen die Vernunft
beschäftigen, die als Affektkontrolle fungieren kann. Konsequenterweise, so
Mülder-Bach, gilt Klopstock statt der Malerei der Tanz als Schwesternkunst der
Poesie, was auch durch seine Wiederbelebung der griechischen Verskunst (u.a.
der ‚tanzbaren‘ Dithyrambik) motiviert ist.
Wie fast alle zeitgenössischen Dichter verehrte natürlich auch Lenz
Klopstock. Was er über die frühe Lektüre des Messias hinaus von ihm kannte
und ob er im Speziellen auch seine theoretische Verskunst rezipierte, ist bis-
lang noch nicht erforscht worden. Indes möchte ich an einem Gedicht ein-
gehender beobachten, wie Lenz’ lyrische Poesie und ihre Wirkung von der
rhythmischen Bewegung her wahrzunehmen ist und wie diese, da es sich um
ein Tanzlied handelt, mit dem semantischen (denotativen und konnotativen)
Gehalt korrespondiert.
IV
Das „Lied zum teutschen Tanz“ ist vermutlich 1776 entstanden, aber erst 1891
zum ersten Mal veröffentlicht worden:32
32 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Lied zum teutschen Tanz“ (vermutlich 1776/1891), in: ders.,
Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt a.M./Leipzig,
1992, S. 191; vgl. ders., Gedichte, mit Benutzung des Nachlasses Wendelins von Maltzahn, hg.
von Karl Weinhold, Berlin, 1891, S. 120f. Der Text wird hier zunächst nach der maßgeb-
lichen Ausgabe der Werke und Briefe zitiert (D), weil sich auch die referierte Forschung
darauf bezieht. Weiter unten wird dann für die erweiterte Interpretation die Handschrift
(H) in einer hierfür erarbeiteten Neuedition hinzugezogen (s. Anm. 46).
33 Mathias Bertram, Lenz als Lyriker. Zum Weltverhältnis und Struktur seiner lyrischen Selbst-
reflexion, St. Ingbert, 1994, S. 205–216, hier S. 212.
34 Ebd., S. 205f., vgl. S. 213f.
Verweis auf Goethes „Auf dem See“, 1775), das die „Vergegenwärtigung“, das
heißt das scheinbare Zusammenfallen von „Erlebnis‑ und Sprechsituation“,
„durch den sukzessiven Nachvollzug der Wahrnehmungen, Empfindungen der
Tanzenden“ mit einer „höchst artifizielle[n] lyrische[n] Reflexion“ über die
„Erfahrung des Walzertanzens“ realisiere.35
Denn ein Walzer ist gemeint mit dem „teutschen Tanz“. Im Hinblick auf
die emanzipatorischen Aspekte des Gedichts zeichnet Bertram ein paar Züge
der historischen Karriere des Walzers nach. Neben den ‚disziplinarischen‘
höfischen Tänzen entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
der als wild und ungezügelt geltende Hüpf- und Drehtanz der „plebejischen
Schichten“, der wegen seiner schädlichen Wirkungen auf Moral und Gesund-
heit verpönt oder gar verboten war, bis er 1800 zum verbreiteten und zu-
nehmend konventionalisierten „Lieblingstanz aller kultivierten Nationen“
wurde. Die nationale Kennzeichnung des Tanzes zählt Bertram zu den Be-
strebungen des Sturm und Drang, eine eigene nationale Volksnatur der „Ein-
fachheit, Natürlichkeit und Ungezwungenheit“ zu entdecken und gegen die
„zivilisatorischen Verfeinerungen“ der von Adel und Bürgertum adaptierten
französischen Kultur abzugrenzen.36
Die diskurshistorischen Implikationen ließen sich von Lenz her ver-
mehren und vertiefen. In der vermutlichen Entstehungszeit des Gedichts in
der Weimarer Zeit von Anfang April bis Anfang Dezember 1776 bittet Lenz
Johann Daniel Salzmann in Straßburg, nach Möglichkeit „einige der neuesten
Gerade die Irrealität des Als-Ob-Vergleichs belegt ja, dass sich die Tanzenden
trotz ihres Enthusiasmus der Bedingtheit der gelingenden Selbstüberwindung
und der Begrenztheit der in dieser Situation spielerisch-ästhetischen Weltver-
haltens errungenen Freiheit und Glückseligkeit bewußt sind.40
37 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Brief an Johann Daniel Salzmann, Kochberg, 23. Oktober
1776“, in: ders., Werke und Briefe, Bd. 3: Gedichte. Briefe, hg. von Sigrid Damm, Frankfurt
a.M./Leipzig, 1992, S. 504f.
38 Vgl. Rudolf Flotzinger, „Walzer“ (1998), in: Musik in Geschichte und Gegenwart/MGG On-
line, hg. von Laurenz Lütteken, New York, 2016ff. (online unter: https://www.mgg-online.
com/mgg/stable/15018 [letzter Zugriff: 19.06.2018]).
39 Vgl. Neumann, ‚Tanzen muß man sie sehen!‘, S. 492.
40 Bertram, Lenz als Lyriker, S. 213f.
41 Bertram, Lenz als Lyriker, S. 206 (Zitat im Zitat: Heinz Kindermann, Lenz und die deutsche
Romantik. Ein Kapitel aus der Entwicklungsgeschichte romantischen Wesens und Schaffens,
Wien/Leipzig, 1925, S. 187), vgl. auch S. 207f.
42 Ebd., S. 208, vgl. S. 215.
43 Ebd., S. 208, vgl. S. 215.
44 Ebd., S. 215.
Das „Lied zum teutschen Tanz“ ist durch eine einzige Handschrift (H) über-
liefert, die auch dem oben zitierten Text (D) der Werke und Briefe zugrunde
liegt.45 Die hier mit Faksimile und diplomatisch-topologischer Umschrift bei-
gegebene Edition erlaubt es, Genese und den Schreibprozess bis zu einem
gewissen Grad zu rekonstruieren.46 Sie zeigt, dass Lenz in diesen wenigen
Zeilen einiges an Arbeit investiert hat, die den Doppeleffekt der Spontanei-
tät und Reflektiertheit erhellen kann. Es wird im Folgenden nur auf einige der
Befunde eingegangen, die für die Thesen der lebendigen Darstellung relevant
sind. – Das Gedicht hebt an mit drei Exklamationen, die semantisch eine
innere Bewegung des Zögerns, markiert durch das Ausrufezeichen – das ein-
zige Satzzeichen –, und des Überwindens beschreiben. Die Bewegung geht von
innen nach außen, manifestiert sich körperlich („Busen geschwellt“) (V. 1–2/Z.
45 Laut Kommentar der Werke und Briefe (Anm. 7) wurde der Text (D) „[n]ach der Hand-
schrift in Berlin“ ediert (Bd. 3, S. 807). Als „ursprüngliche[r] Schluß ab V. 7“ wird Folgendes
zitiert: „Was uns noch bindet/Alles verschwindet/Und wir sind Götter tun was uns ge-
fällt“ (S. 807). Die Orthographie ist wie in der gesamten Ausgabe modernisiert. Die
Grundlage des Erstdrucks von 1891 (Gedichte von J. M. R. Lenz, S. 120f. [Text] und S. 274f.
[Kommentar]) ist im Stellenkommentar nicht eindeutig ausgewiesen; in der „Einleitung“
(S. III–XXII), die auch einen Teil der Geschichte des Lenz-Nachlasses berichtet, erläutert
Weinhold den editorischen Umgang mit den Handschriften, u.a. die ‚stillschweigende
Verbesserung‘ der Orthografie, „wo der Sinn dadurch gestört ward“ (S. VII). Jedenfalls
weist der Text des Erstdrucks gegenüber der Handschrift größere Differenzen auf, vor
allem in der Interpunktion, während der Wort- und Versbestand bis auf das fehlende „o“
vor „tausendfach“ identisch ist. Als „durchstrichene[] Verse“ nach „Z. 10“ werden zitiert:
„Freyer als Wind/Ach wir nun sind“ (S. 275). Wenn im Folgenden nicht nach dem Druck
der Werke und Briefe (D), sondern nach der Handschrift (H) zitiert wird (s. Anm. 46), dann
wird (anstatt auf Verse) auf Zeilen (Z.) verwiesen, weil die Textteile (gemeint sind damit
sämtliche Schriftaufträge: Sätze, Wörter, Buchstaben, Satzzeichen) nicht zum Vornherein
als Verse bezeichnet werden können; zusätzlich steht hinter den Zeilenzahlen ein H für
‚Handschrift‘, z.B. Z. 3–5H.
46 Die Handschrift befindet sich im Nachlaß Jakob Michael Reinhold Lenz, Bd. 2, Staats-
bibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Die Transkription erfolgt diplomatisch
und in topologischem Verhältnis zum Manuskript. Die vermutlich frühere Niederschrift
erscheint in größerer, die vermutlich spätere in kleinerer Schrift, die wegen des dichten
Schreibmittelauftrags unsichere Entzifferung kursiviert. Der den unteren Teil des Ge-
dichts umgebende kopfstehende Text in lateinischer Schrift und französischer Sprache ist
die Fortsetzung des die ganze Rückseite füllenden Textes. Er wird hier nicht transkribiert
und konnte bis anhin noch nicht zugeordnet werden. Er scheint inhaltlich nicht un-
mittelbar mit dem Gedicht in Verbindung zu stehen. Das Gedicht ist größtenteils wohl
vor dem unteren Text niedergeschrieben worden. Eine textgenetische Edition mit Fak-
simile von Gert Vonhoff findet sich unter: http://people.exeter.ac.uk/gvonhoff/HKALenz/
Lyrik/LiedteuT/LiedtTHV.htm [19.06.2018]. Für die Druckgenehmigung der Handschrift
danke ich der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, für Hinweise zum
Standort der Handschrift Gert Vonhoff (Exeter), für Hilfe bei der Entzifferung und Druck-
einrichtung Beat Röllin und René Stockmar (beide Basel).
2–4H) und kann zugleich körperlich und seelisch verstanden werden (V. 3/Z.
5H). Die Streichung und Ersetzung von „Von Liebe“ durch „O Muth“ kann von
einer Semantik der Steigerung her plausibilisiert werden, aber auch durch eine
größere metonymische Nähe und dadurch, dass Angst, Leben(skraft) und Mut
gleichermaßen physisch wie psychisch determiniert sind. Die ‚Liebe‘ scheint
vorausliegender Movens oder Effekt des ganzen Gedichts, nicht aber sein
Thema zu sein. Die doppelte, psycho-physische Determination gilt auch für die
drei asyndetisch gereihten Bewegungsverben, die einen durchgehenden Takt
suchen. Sie unterstreichen die Beobachtung, dass der Dreiertakt des Daktylus
von Anfang an da ist, in V. 1–2 (Z. 2–4H) eingefasst von jambischen Versfüßen.
In V. 3 (Z. 5H) versucht er sich mit zwei Daktylen durchzusetzen, V. 4 (Z. 6H)
kehrt noch einmal zum dominanten Rhythmus von V. 1–2 (Z. 2–4H) zurück.
Gleichzeitig mindert der Konjunktiv die Transzendenz, welche die Semantik
der asyndetischen Reihung von ‚taumeln‘, ‚wirbeln‘, ‚schweben‘ vollzieht. Sehr
wohl kann der Konjunktiv im Sinn von Bertram als augenblickshafte poetische
Bedingtheit aufgefasst werden; doch man kann ebenso das Festhalten am
Körpersinnlichen akzentuieren, das dann tendenziell dominiert.
Die Handschrift gibt kein räumliches Indiz für einen Strophenwechsel nach
Z. 6H; eine Leerzeile ist erst nach Z. 14H erkennbar, sofern man von der wahr-
scheinlichen Annahme ausgeht, dass die Z. 15–16H erst nach den Z. 17ff.H ge-
schrieben wurden. Dagegen ist der Wechsel des Rhythmus ab V. 5 markant,
von drei zu zwei Hebungen bzw. Längen und von einem jambischen zu
einem daktylischen Auftakt, das heißt zu einem Dreiertakt, der auch über die
stumpfen Kadenzen (V. 5–6/Z. 7–10H und V. 9–10/Z. 19/21H) hinaus durch zwei
leere Schläge und über die klingenden Kadenzen (V. 7–8/Z. 15–16H) hinaus
durch einen leeren Schlag erhalten bleibt (metrisch ausgedrückt handelt es
sich um einfache und doppelte Katalexen). Mit den Leerschlägen gibt der Text
dem durch die Anstrengung gesteigerten Atmen der Tanzenden Raum. Die
‚Übergängigkeit‘ zwischen Zweier- und Dreiertakt und die in der Transkription
(mittels kleinerer Schrift) ausgedrückte textgenetische Vermutung, dass der
Titel erst nach der Niederschrift des Großteils der Verse dazugekommen ist,
ließen die Hypothese zu, dass das Gedicht nicht von Vornherein als ‚teutscher
Tanz‘ im Sinn des Walzers beabsichtigt gewesen sein muss, sondern erst im
Schreibprozess dazu geworden ist. Die ‚Unfertigkeit‘, unter der das Gedicht
durch die genetische Nachträglichkeit des Titels erschiene, thematisiert auch
das Genre des ‚Liedes‘ mit seiner flüchtigen musikalischen Medialität.
Wie oben angesprochen kann der Übergang vom Zweier- zum Dreier-
takt zudem als historischer Übergang von der höfischen Allemande zum
deutschen Walzer betrachtet werden: Die Allemande setzt sich aus einem
langsamen Schreittanz im Viervierteltakt und einem schnellen Hüpftanz im
Abb. 8.1 Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (Manuskript vermutlich
1776)
Abb. 8.2 Jakob Michael Reinold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (diplomatische
Transkription des Manuskripts von 1776); s. Anm. 46
47 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther (1774), in: ders., Goethes Werke,
Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen 2, S. 7–124, hier S. 25: „Nie
ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste
Die Handschrift bietet kein ‚fertiges‘ Gedicht dar, sondern einen Entwurf,
denn sonst müssten die nicht gestrichenen Textteile ebenfalls dazu gezählt
werden: „Freÿer als Wind Ach wir nun sind“ (Z. 22–24H) und „Ach wir Götter
thun was uns gefällt“ (Z. 26–27H). Geht man in textgenetischer Perspektive
davon aus, dass die Z. 15–16H („Alles verschwunden/Was uns gebunden“) und
Z. 19/21H („Freÿ wie der Wind/Götter wir sind“) nach Z. 17ff.H entstanden sind,
muss man annehmen, dass nach dem durchgestrichenen Textteil von Z. 11–14H
eine Leerzeile oder zumindest ein größerer Abstand zu Z. 18H („Was … band“)
entstanden ist. So betrachtet scheinen vor allem der Rhythmus und der Reim
den Schreibprozess zu motivieren, aber auch der Wechsel vom Präsens (Z. 11–
12H: „bindet“/„verschwindet“, Z. 18/20: „bindt“/„verschwindt“) ins Präteritum
(Z. 18H: „band“) und dann ins Perfekt (Z. 15–16H: „verschwunden“, „ge-
bunden“): Rhetorisch ermöglicht der Wechsel ins Perfekt die Ellipsen („Alles
[ist] verschwunden/Was uns gebunden [hat]“), die als Beschleunigungsver-
stärkung interpretiert werden können, ebenso wie die Vorwegnahme des Ver-
schwundenseins vor dem Gebundensein (Hysteron proteron).
Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings
umher verging […].“
48 Vgl. Hubert Thüring, „Philologische Produktivität“, in: Handbuch Archiv. Geschichte, Auf-
gaben, Perspektiven, hg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff, Stuttgart, 2016, S. 258–271,
hier S. 263–269.
Unter dem Aspekt der energeia/enargeia kann man die bereits rhythmisch
und rhetorisch analysierte Lebendigkeit und Lebhaftigkeit exemplarisch etwa
in der initialen Reihe der Affekte „Angst“, „Muth“ und „Leben“ (V. 1–2) be-
obachten: Während die Exklamationen selbst primär Leben und Bewegungen
schaffen im Sinn der energeia, bewirkt ihre Akkumulation eine (in der be-
schränkten Ausdehnung der Lyrik) räumlich nicht ausgeprägte Lebhaftigkeit.
Umgekehrt wirkt das Asyndeton „Zu taumeln zu wirbeln zu schweben“ (V. 3) im
Sinn der Ausführlichkeit ausgesprochen lebhaft, während der energeia-Effekt
zurücktritt, wie auch die folgenden eher deskriptiv als evokativ verfahren, bis
dann die letzten Verse (V. 9–10/Z. 19/21H) mit dem Wind-Vergleich und der
Selbst-Apotheose noch einmal ‚energisch‘ agieren. Die unmittelbare wie ver-
tiefende Wirkung der Lebendigkeit speist sich jedoch aus dem Zusammenspiel
dieser beiden Modi mit dem Rhythmus, der die Körper motiviert, die Sinne
affiziert und eine eigene Semantik generiert. Diese greift die rhetorischen
und kulturellen Codes auf, erweitert sie, bricht sie, schreibt sie um und be-
zieht sich im Sinn der Selbstreferenz zurück auf die Formen und Verfahren des
Textes. Klopstocks Bestreben gemäß (wenn auch nicht bis auf den „Wortfuß“)
korrespondieren auf diese Weise die buchstäblich-lautliche Signifikanz und
Bewegung und Empfindung aufs Engste miteinander, ohne eine mimetisch-
referenzielle Illusion zu beanspruchen.
Das „Lied zum teutschen Tanz“ erweist sich so als eminentes Exempel
der vitalistisch-pragmatisch-performativen Ästhetik, die aus „Über Götz
von Berlichingen“ herausgearbeitet worden ist. Die vitalistischen Impulse
kommen vielfältig zum Zug: thematisch im Tanz, in der Bewegungssemantik,
in der Nennung des Lebens und der elementaren Affekte; rhetorisch-
performativ in der quasimimetischen Vorführung der Sprachgenese vom Reiz
über die Empfindung und das Merkwort bis zum Satz, enggeführt mit der
rhythmischen Generierung der Tanzbewegung. Die pragmatische Dimension
thematisiert den Tanz als Handlung, die von der engeren individuellen, paar-
weisen und kollektiven Empfindungs- und Bewegungspraxis in das soziale
und politische Feld hineinreicht und dort als antimoralische und antihöfische
Intervention wirken kann. Die performative Dimension überschneidet sich
mit der pragmatischen in der Thematisierung der appellierenden Handlung,
betont jedoch die spezifische Performanz des Tanzes, bei der sich im Fall des
Walzers die Grenze zwischen Vorführenden und Zuschauenden tendenziell
auflöst. Ausgesprochen intensiv ist die Performativität im engeren, poetisch-
selbstreferentiellen Sinn, indem Semantik, Rhetorik und Rhythmus dicht ver-
flochten sind und der Text das tut, was er sagt.
„Über Götz von Berlichingen“ und „Das Lied zum teutschen Tanz“
thematisieren und performieren eine Steigerung der Kräfte mit tendenzieller
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Abbildungen
Abb. 8.1: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (Manuskript
vermutlich 1776). Manuskript im Nachlass Jakob Michael Reinhold Lenz,
Bd. 2, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.
Abb. 8.2: Jakob Michael Reinhold Lenz: „Lied zum teutschen Tanz“ (diplomatische
Transkription des Manuskripts von 1776).
1 Zur Bedeutung antiker Plastik für die ästhetische Theoriebildung um 1800 und insbesondere
für den Begriff der ,lebendigen Darstellung‘ vgl. die unverändert grundlegenden Studien von
Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der
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Herder, Schiller und Kant; sowie Peter Brandes, „Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und
Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800“, in: Leitmedien. Konzepte –
Relevanz – Geschichte, 2 Bde., hg. von Daniel Müller, Annemone Ligensa und Peter Gendolla,
Bielefeld, 2009 (= Medienumbrüche 32), Bd. 2, S. 177–200; Dimitri Liebsch, Die Geburt der
ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen
Diskurs zwischen 1750 und 1800, Hamburg, 2001.
2 S. Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions; Winfried Menninghaus, „Darstellung“; Arno
Schubbach, „Leben und Darstellung in Kants ,Kritik der Urteilskraft‘. Zwischen Ästhetik,
Epistemologie und Ethik“ im vorliegenden Band, S. 191–228.
3 Zitiert nach Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 2 Bde.,
Leipzig, 1764, Bd. 2, S. 393; nach der Beschreibung der Statue des sog. belvederischen Apoll
heißt es dort: „[…] mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions
Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben.“
4 Die Bedeutung Winckelmanns als geistigem Cicerone der antiken Kunst für die nach-
folgenden Generationen ist bekannt; zur Ausstellungskultur um 1800 im Allgemeinen und
zur Bedeutung Winckelmanns siehe etwa James H. Sheehan, Geschichte der deutschen Kunst-
museen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München, 2002, S. 15–
128; zu Rom und den römischen Sammlungen vgl. Adelheid Müller, „Reisende der Grand
Tour in den Sammlungen Roms: Winckelmann als Cicerone“, in: ,Außer Rom ist fast nichts
schöner als die Welt‘ – Römische Antikensammlungen um 1800, Ausstellungskatalog, Winckel-
mann-Museum, Wörlitz/Stendal, 1998, S. 155–178.
5 Diese Anekdote findet sich unter den ,Chronicles‘ im britischen ,Annual Register‘ von 1807:
Annual Register, or a VIEW of the History, Politics, and Literature for the Year 1807, London,
1809, S. 431ff. Zum Fetischcharakter der Kunstbetrachtung um 1800 allgemein: Caroline van
Eck, Art, Agency, And The Living Presence. From the Animated Image to the Excessive Object,
Boston, 2015 (= Studien aus dem Warburg-Haus 16).
6 Die Sonderstellung einzelner Skulpturen wie insbesondere der Statuen des Belvederehofs
galt zwar schon vor Winckelmann, zeitigte aber erst im Rahmen seiner Texte und nach-
folgend in der Architektur und im Aufbau der Ausstellung ihre praktischen Konsequenzen.
Für die römischen Sammlungen zuletzt ausführlich: Louis A. Ruprecht, Winckelmann and
the Vatican’s First Profane Museum, New York, 2011; zu Paris/Musée Napoléon vgl. Steffi
Roettgen, „Vom ,Aggregat der Zufälligkeiten‘ zum ,organischen Ganzen‘. Kunstgeschichtliche
Entwürfe zwischen Winckelmann und Rumohr“, in: Johann Heinrich Meyer. Kunst und Wissen
im klassischen Weimar, hg. von Alexander Rosenbaum, Johannes Rössler und Harald Tausch,
Göttingen, 2013, S. 119–140. Zum generellen Einfluss vgl. Sheehan, Geschichte der deutschen
Kunstmuseen.
7 Vgl. Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“, S. 355–361 sowie Claudia Mattos, „The
Torchlight Visit. Guiding the Eye Through Late Eighteenth- and Early Nineteenth-Century
Antique Sculpture Galleries“, in: RES Anthropology and Aesthetics 49/50, 2006, S. 139–150.
8 Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf Statuenerlebnisse in öffentlichen Institutionen,
Galerien und Museumssammlungen; zu Praktiken im privaten oder halbprivaten Kreis vgl.
Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“; zu einzelnen Praxisformen: Birgit Jooss,
Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin, 1999; mit
einem Schwerpunkt auf Goethes Werk: Fritz Breithaupt, Jenseits der Bilder. Goethes Politik der
Wahrnehmung, Freiburg i.Br., 2000 (= Rombach Litterae 73).
9 Tatsächlich begannen fürstliche und kirchliche Sammlungen seit der Mitte des 18. Jahr-
hunderts zunächst in Großbritannien und Frankreich allmählich damit, ihre Räume an
einzelnen Tagen auch für die Allgemeinheit zu öffnen. S. Sheehan, Geschichte der deutschen
Kunstmuseen, S. 40ff.; Ruprecht, Winckelmann and the Vatican’s First Profane Museum,
S. 45–58.
Präsentation und Inszenierung zur Verfügung, die das Erlebnis von Bildwerken
um 1800 zu einer regelrechten kulturellen Praxis machten, die nunmehr
größeren Teilen der Bevölkerung zumindest in den größeren europäischen
Städten offenstand.
Dies fand seinen Widerhall auch in der ästhetischen Theoriebildung.
Bei nicht wenigen Autoren zwischen Berliner Aufklärung und Weimarer
Klassik bildete um 1800 der Rekurs auf klassische Statuenkunst – zumeist
vermittelt über Winckelmanns Schriften – einen ebenso „unverzichtbaren
Argumentationsbestandteil“10, wie auch der Einbezug von Ausstellungs-
situationen oder musealen Inszenierungsstrategien wichtiger wurde, wenn
es darum ging, die ,Lebendigkeit‘ von Kunst und Kunsterfahrung am Beispiel
antiker Plastik produktions- und wirkungsästhetisch zu bestimmen. Diesen
Bezug der Theoriebildung auf zeitgenössische Ausstellungspraktiken möchte
der vorliegende Artikel in einschlägigen Texten der genannten Autoren
(Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottfried Herder und Karl Philipp
Moritz) aufzeigen. Im Zentrum der Überlegungen steht vor allem der Erleb-
nischarakter der Statuenrezeption, der in diesem Zusammenhang von be-
sonderem Interesse ist: In den untersuchten Beschreibungen tritt die konkrete
zeitliche und räumliche Situierung der Kunstbetrachtung verstärkt in den
Vordergrund, und das ,Leben‘ der antiken Bildwerke wird in ihren Schriften
so einerseits in der künstlerischen Gestaltung und der Einbildungskraft ihrer
Betrachterinnen oder Betrachter gesucht, aber unübersehbar auch in den
institutionellen Kontexten der Rezeption, d.h. den modernen Ausstellungs-
praktiken selbst, verankert.11
Bis Winckelmann 1755 seine Stelle als Archivar und Bibliothekar in Rom antrat,
hatte er die Gegenstände seiner Forschung vornehmlich über Reproduktionen,
d.h. über Abgüsse, Beschreibungen und bildliche Darstellungen studiert. Und
auch vor Ort waren viele der Kunstgegenstände, denen sein Interesse galt,
zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich oder, wo sie es waren, teilweise in
schlechtem Zustand und unvorteilhaft aufgestellt.12 Tatsächlich hat Winckel-
mann viele der Bildwerke, denen er sein Werk gewidmet hat, wahrschein-
lich niemals bei guter Beleuchtung und von allen Seiten gesehen.13 Erst nach
seinem Tod, aber geprägt durch sein Wirken in Rom, wurde dies ab den 1770er
Jahren endlich möglich: Seit 1773 war die vatikanische Antikensammlung mit
der Eröffnung des Museo Pio Clementino einer breiten Öffentlichkeit zugäng-
lich, wie es bereits seit den 1760er Jahren geplant gewesen war.14 Die Skulpturen
präsentierten sich nun, teilweise umfangreich restauriert, in systematischer
Aufstellung, die Winckelmanns Einteilung von historisch gewachsenen Schul-
bildungen und Stilen folgte. Insbesondere waren die von ihm und anderen als
Hauptstücke der Sammlung bewunderten Werke im Statuenhof des Belvedere
architektonisch in Szene gesetzt, darunter die Laokoon-Gruppe, der ideal-
schöne ,belvederische Apoll‘, der Torso oder die sogenannte ,Venus Felix‘, die
allesamt zuvor in verschlossenen und nur zu ausgewählten Anlässen (oder
gegen Bestechung eines Wärters) geöffneten Nischen ihr Dasein gefristet
hatten.15 Im Rahmen der Choreographie des neuen Museums bildete der
Cortile Ottagone nun den End- und Höhepunkt eines Rundgangs, der seine Be-
sucherinnen und Besucher ausgehend von den christlichen Kunstschätzen zu
den Bildwerken der heidnischen Antike leitete. Die Ordnung der Ausstellung
bildete fortan den Maßstab für viele große Antikensammlungen außerhalb
Roms. Ihre enorme Popularität für eine breite Öffentlichkeit ist u.a. durch
die Verbreitung von Reproduktionsgraphiken, Sammlungsführern sowie ihre
Schilderung in Reisebeschreibungen und anderen Texten bezeugt.16
Neben der konventionellen Statuenbetrachtung gehörte zu den beliebten
Spielarten der Rezeption um 1800 in Rom und anderswo auch der nächtliche
Besuch von Sammlungen, bei dem antike Bildwerke durch Fackelschein effekt-
voll in Szene gesetzt wurden. Ursprünglich in der künstlerischen Ausbildung
als Technik eingesetzt, um das Zeichnen im Dunklen unter besonderen Be-
leuchtungsbedingungen zu praktizieren, sowie auch seit der Renaissance ver-
einzelt als ,belebende‘ Lichtregie für die Betrachtung von Gemälden genutzt,17
wurde die Fackelbeleuchtung von Statuen seit den 1780er Jahren bekanntlich
in vielen Institutionen zu einer publikumswirksamen Inszenierungsstrategie,
die von Besucherinnen und Besuchern in zahlreichen Reiseberichten,
journalistischen oder literarischen Publikationen beschrieben wurde. Autoren
wie Goethe, Herder, Moritz und viele mehr schilderten z.B. ihre Erlebnisse vor
Ort in den römischen Sammlungen; andere wie etwa E.T.A. Hoffmann und
Jean Paul verarbeiteten und kommentierten die Praxis in ihrem literarischen
Werk.18 Der Nutzen der effektvollen Beleuchtung wurde dabei von den
jeweiligen Personen ganz unterschiedlich bewertet. In seinem Artikel Die
16 Ein verbreiteter zeitgenössischer Sammlungsführer war etwa der zweisprachige Band von
Paschal Massi de Cesène, Indicazione antiquaria del Pontificio Museo Pio-Clementino in
Vaticane. Catalogue indicatif des antiquités composant le Musèe Pie-Clèmentin au Vatican,
Rom, 1792; zu deutschen Reisebeschreibungen vgl. Heinrich August Ottokar Reichard,
Handbuch für Reisende aus allen Ständen: Nebst zwey Postkarten, zur großen Reise durch
Europa, von Frankreich nach England; und einer Karte der Schweiz und der Gletscher von
Faucigny, Leipzig, 1784, S. 304–305. Johann Heinrich Merck veröffentlichte im Teutschen
Merkur 1776 (3:2) ein fiktives Kunstgespräch zwischen Burke und Hogarth im Cortile del
Belvedere im Angesicht des Vatikanischen Apoll (ebd., S. 131–141).
17 Vgl. zur Geschichte der Praxis: Mattos, „The Torchlight Visit“, S. 145ff.
18 Ebd., S. 139; Bätschmann, „Belebung durch Bewunderung“, S. 355–361. Auch in Paris, wohin
die Statuen des Belvedere von 1797 bis 1815 nach dem Friedensschluss von Tolentino als
Kriegsbeute transportiert wurden, scheint es zu besonderen Anlässen Fackelbeleuchtung
gegeben zu haben (die Staats und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen
Correspondenten, Nr. 119 vom 27. Juli 1804 beschreibt Fackelbeleuchtung anlässlich eines
Besuchs von Napoleon), jedoch wurden sie offensichtlich nicht so regelmäßig angeboten
wie in Rom (vgl. Joseph Reichhardts Vertraute Briefe aus Paris geschrieben in den Jahren
1802 und 1803, [Hamburg, 1805], wo nicht nur von einer teilweise ungünstigen, weil zu
engen Aufstellung der Belvedere-Statuen an ihrem neuen Standort im Musée Napoléon
berichtet wird, sondern auch von ihrer ungenügenden Beleuchtung, die nur durch Tages-
licht erfolgte und künstliches Fackellicht wünschenswert machte; ebd., S. 132ff.).
Wir besahen die Antikengallerie bei Fackelschein. Ein Kreis von Kunstfreunden
hatte sich schon einige Tage darauf gefreuet und zubereitet. Man kann eine
solche Beleuchtung mit der Berührung einer Prometheus-Fackel vergleichen.
Sie ist belebend und – trennend. Wie lebendig quillt alles Ächte hervor! Wie
häßlich und plump erscheint alles ungeflickte Machwerk!19
Die Licht- und Schattenwirkung des Flackerns der Leuchten verlieh den antiken
Bildwerken den Schein von Bewegung und verwandelte die Entrücktheit der
Skulpturen in aktive Nähe, so daß ein diffuses Kontinuum von Skulptur und Be-
trachter, Antike und Gegenwart entstand.20
als ein gutes Hilfsmittel für die angemessene Beleuchtung antiker Bildwerke in
den Museumssälen, vor allem an solchen Stellen, wo normalerweise nicht ge-
nügend Tageslicht einfiel. Das Fackellicht ermögliche eine genaue Betrachtung
sämtlicher Details der antiken Plastik, dabei löse es die einzelnen Werke aus
dem Kontext der umgebenden Sammlung, bzw. fördere – so Meyers Argument
– die Konzentration der Besucherinnen und Besucher auf das Einzelwerk und
seine gestalterischen Merkmale:
Jedes Stück wird nur einzeln, abgeschlossen von allen übrigen, betrachtet und
die Aufmerksamkeit des Beschauers bleibt lediglich auf dasselbe gerichtet;
dann erscheinen in dem gewaltigen wirksamen Fackellicht alle zarten Nuancen
der Arbeit weit deutlicher, alle störenden Widerscheine (zumal bei glänzend
polierten Statuen beschwerlich) hören auf, die Schatten werden entschiedener,
die beleuchteten Teile treten heller hervor. […] So konnte man zum Beispiel den
Laokoon, in der Nische, wo er stand, nur bei Fackellicht recht sehen, weil kein
unmittelbares Licht auf ihn fiel.21
21 Heinrich Meyer, zit. nach: Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, Teil I, in: ders.,
Sämtliche Werke in 40 Bänden, Abt. I, Bd. 15.1, hg. von Christoph Michel und Hans-Georg
Dewitz u.a., Frankfurt a.M., 1993, S. 470f.
22 Diers, „(Nach-)Lebende Bilder“, S. 182.
23 Meyer nach Goethe, Italienische Reise, S. 471.
Als wir nun einen von allen Fremden, Künstlern, Kennern und Laien gleich ge-
wünschten Besuch bei Fackelschein dem Museum sowohl des Vatikans als auch
des Kapitols abzustatten Anstalt machten, so gesellte er [Heinrich Meyer, Anm.
d. A.] sich uns zu; und ich finde unter meinen Papieren einen seiner Aufsätze,
wodurch ein solcher genußreicher Umgang durch die herrlichsten Reste der
Kunst, welcher meistenteils wie ein entzückender, nach und nach verlöschender
Traum vor der Seele schwebt, auch in seinen vorteilhaften Einwirkungen auf
Kenntnis und Einsicht eine bleibende Bedeutung erhält.24
Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie die-
jenige, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle
mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne, Orte, welche Apollo
mit seiner Gegenwart beehrete: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu
bekommen wie des Pygmalions Schönheit.25
Die erhabene Wirkung der Statue wird hier als enthusiastische Entrückung
ihres modernen Betrachters geschildert; die tatsächliche Gestalt des Kunst-
werks selbst ist an dieser Stelle fast nebensächlich geworden, bis hin zu einer
phantasmagorischen Übertragung von Objektqualitäten auf das Subjekt der
Beobachtung – im Prozess der Betrachtung ist dem Betrachtenden zumute, als
würde der mythologische Kontext des Halbgotts Apoll und die Physiognomie
der Statue regelrecht auf ihn übergehen. Der Text selbst benennt das Statuen-
erlebnis als einen pygmalionischen Akt der Verlebendigung und unterscheidet
dabei aus guten Gründen nicht, ob ‚Leben und Bewegung‘ des ‚Bildes‘ hier
das lebendige Aussehen der marmornen Figur, das überzeitliche Leben des
Mythos, der durch die Beschreibung in ein (Sprach-)Bild gesetzt wird, oder
am Ende das (Selbst-)Bild des modernen Betrachters meinen, der durch den
eigenen Enthusiasmus wundersam vitalisiert wird.26 Deutlich wird in dieser
Überblendung von Kunstbeschreibung und der metaphernreichen Nach-
erzählung affektiver und assoziativer Resonanzen auf der Rezipientenseite,
dass in einer derart angelegten Beschreibungsrhetorik mehr auf dem Spiel
steht als das bloße Vor-Augen-Stellen von Form- und Gestaltqualitäten eines
künstlerischen Bildwerks. Vielmehr wird hier ein antikes Bildwerk in gleich
mehrfacher Hinsicht in der Gegenwart verankert: Es wird in der Beschreibung
insgesamt als historisches und künstlerisches Objekt beschrieben und klassi-
fiziert, zusätzlich wird ein mythologischer Rahmen eingeblendet, der die
inhaltliche und ikonologische Deutung der Figur leitet, und zugleich wird
das Kunstwerk mitsamt seiner gestalterischen und semantischen Aspekte als
individuelles Wahrnehmungserlebnis vergegenwärtigt.27
Dieser subjektiven Dimension wird in Winckelmanns Hauptwerk, der
Geschichte der Kunst des Alterthums, eine klare Funktion zugewiesen. Grund-
sätzlich ist hier das detaillierte und informierte Studium der antiken Bild-
werke und ihre Beschreibung eingebettet in eine Geschichte von Verfall und
Niedergang – die überlieferten Kunstschätze mögen als Einzelwerke ihre
modernen Betrachter ,entrücken‘, zugleich aber steht ihr Erlebnis stets vor dem
Hintergrund des Verlustes ihres einstigen kulturellen Kontextes: Den „schlecht
abgefundene[n] Erben“28 der Moderne sind nichts als die Überreste eines sehr
viel reicheren Kunst- und Kulturlebens geblieben, von dem, wie es am Ende der
Geschichte der Kunst heißt, allenfalls ein „Schattenriß“29 auf den Horizont der
Man stelle sich allzeit vor, viel zu finden, damit man viel suche, um Etwas zu
erblicken. […] [W]ir kehren jeden Stein um, und durch Schlüsse von vielen
Einzelnen, gelangen wir wenigstens zu einer muthmaßlichen Versicherung, die
lehrreicher werden kann, als die von den Alten hinterlassenen Nachrichten, die
[…] bloß historisch sind.31
32 So argumentiert auch Helmut Pfotenhauer in: ders., „Zerstückelung und phantasma-
tische Ganzheit. Grundmuster ästhetischer Argumentation in Klassizismus und Anti-
klassizismus um 1800 (Winckelmann, Moritz, Goethe, Jean Paul)“, in: Der fragile
Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, hg. von Elena Agazzi und
Eva Koczisky, Göttingen, 2005, S. 121–132, hier S. 122. Vergleiche ebenfalls das Argu-
ment Jacques Rancières, für den Winckelmanns Torso-Beschreibung, insofern sie ein
dekontextualisiertes und nur als Fragment erhaltenes Kunstwerk zum absoluten In-
begriff des Schönen erhebt, eine untilgbare Differenz von Werk und dem Kontext seiner
Hervorbringung in den modernen Begriff der Kunst einträgt: Der Torso, so Rancière, kann
nur deswegen als Verkörperung des Schönen begriffen werden, weil sein Kunstcharakter
bereits von seinem antiken Entstehungs- und Verwendungszusammenhang abstrahiert
wurde. Für Rancière stellt Winckelmanns Torso-Beschreibung damit eine Ur-Szene des
modernen Kunstverständnisses dar, dessen weitere Geschichte er am Beispiel Schillers
und Hegels verfolgt. Siehe ders., „Die gespaltene Schönheit“, in: ders., Aisthesis. Vierzehn
Szenen, Wien, 2013, S. 23–46.
Die spezifische Form des ästhetischen Erlebnisses selbst ist dabei anders als
noch bei Winckelmann nicht länger erklärungsbedürftig bzw. bedarf keiner
Einordnung in den Überbau eines geschichtsphilosophischen Modells
mehr. Dass es sich hierbei genau genommen um die Ablösung eines älteren
durch neuere theoretische Modelle der Kunst- oder konkreter: der Statuen-
erfahrung handelte, die maßgeblich durch den oben beschriebenen Prozess
der Institutionalisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt
wurden, soll nun in einem letzten Schritt am Beispiel von Herders und Moritz’
Statuenerlebnissen bzw. ihrer Kritik an Winckelmanns rhetorischer Über-
formung des nachantiken, d.h. modernen Betrachtungskontextes veranschau-
licht werden.
Vom immensen Einfluss Winckelmanns auf den Kunstgeschmack und auch die
Ausstellungskultur der Folgezeit war bereits die Rede. Insbesondere die Topik
seiner Beschreibungen prägte eine ganze Generation von Autoren, deren Über-
legungen zur Kunst im Allgemeinen und zur Statuenrezeption im Besonderen
ausgehend von den eindrücklichen Textzeugnissen eigene Argumentationen
entwickeln.33 Den Modellcharakter seines Werks kann die Folgegeneration
nicht oft genug hervorheben. So befindet beispielsweise Herder, in dessen
Werk der ältere Autor seit den 1760er Jahren einen kontinuierlichen Bezugs-
punkt bildet, 1769 in seinem Ersten Kritischen Wäldchen: „Winckelmanns
Stil ist wie ein Kunstwerk der Alten. Gebildet in allen Teilen, tritt jeder Ge-
danke hervor, und stehet da, edel, einfältig, erhaben, vollendet: er ist.“34 Die
Initiation der deutschen Statuenästhetik wird hier metaphorisch selbst zum
bildhaften Kunstwerk erklärt, eine dauerhafte Präsenz im kulturellen Bewusst-
sein. Auch in Goethes 1805 veröffentlichter Monographie Winkelmann und sein
Jahrhundert ist die bleibende Bedeutung des Werks für die Folgegeneration
zentral; so sei „alles, was [Winckelmann] uns hinterlassen, als Lebendiges
33 Zum Rückgriff auf Winckelmanns Texte als Argument im Rahmen der eigenen Theorie-
bildung bei Autoren um 1800 vgl. Thomas Franke, „Winckelmann-Apologien um 1800“; zur
Winckelmann-Kritik als Figur der Abgrenzung vgl. im selben Band Helmut Pfotenhauer,
„Winckelmann-Kritik als Ursprung einer Autonomie-Ästhetik – Karl Philipp Moritz“,
in: Winckelmann, hg. von Elisabeth Décultôt und Friedrich Vollhardt, Hamburg, 2015,
S. 55–74.
34 Johann Gottfried Herder, „Erstes Kritisches Wäldchen zur Ästhetik“, in: ders., Sämmtliche
Werke, Bd. 3, hg. von Bernhard Suphan, Berlin, 1878, S. 1–188, hier S. 1.
für die Lebendigen […] geschrieben.“35 In seinen Schriften zeige sich gar „ein
Leben selbst“ – Dauer und Lebendigkeit; zwei Pole die auch die von Winckel-
mann angestoßene Diskussion um die antike Plastik bestimmt hatten.
Angesichts der enormen Popularität Winckelmanns verwundert es nicht,
dass sein Werk nicht selten für kunstphilosophische Neuerungen der Nach-
folgegeneration zum Ansatzpunkt wurde, um neue Denkweisen durch
argumentative Abgrenzung von seinen Schriften in den Diskurs einzuführen.
Dies gilt z.B. für Herders Entwurf einer anthropologischen Ästhetik, die er
in verschiedenen Schriften entwickelte und vornehmlich in seinem Vierten
Kritischen Wäldchen (1768) sowie Plastik – Einige Wahrnehmung über Form und
Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1778) systematisch ausformulierte.
Dass sich Herder während der Ausarbeitung seiner Ideen intensiv mit Winckel-
mann beschäftigte, ist bekannt; neben Referenzen in seinen Schriften und in
Briefen, in denen er u.a. auch von eigenen Besuchen im römischen Belvedere
berichtet, fertigte er auch längere Exzerpte zu einigen Texten Winckelmanns
an.36 In zentralen Passagen seiner Schriften lässt sich bis in die Wortwahl und
einzelne Denkfiguren hinein der Einfluss Winckelmanns erkennen; an einer
Kernstelle des Vierten Kritischen Wäldchens bezieht er sich beispielsweise auf
die oben zitierte Beschreibung des belvederischen Apoll, um – unter Bezug auf
die räumliche Situierung der Statue im modernen Sammlungskontext – diese
im Sinne seiner eigenen ästhetischen Programmatik umzudeuten. Winckel-
manns Beschreibung wird ihm dabei zu einer unvollständigen Wiedergabe des
Wahrnehmungsprozesses: Aus dem sprachlichen Nachvollzug des Konturs der
Statue, der über den gesamten Text der Originalbeschreibung hinweg durch
eine Reihe von Metaphern des Fließens und der wellenförmigen Bewegung
evoziert wird (etwa wenn die Gestalt als Resultat eines ,ausgegossenen‘
schöpferischen Geistes umschrieben wird – „ein Himmlischer Geist, der sich
wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser
Figur erfüllt“37),38 ist bei Herder die Erzählung eines sinnesphysiologischen
35 Johann Wolfgang von Goethe, Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen,
Tübingen, 1805, S. 423.
36 Vor allem zu den „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
und Bildhauerkunst“ (1756) und der „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung
des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte derselben“ (1763). Die entsprechenden
Notizen Herders finden sich unter den posthum als „Entwürfe und Vorarbeiten zur
,Plastik‘“ zusammengestellten losen Blättern. Siehe Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 8, hg.
von Bernhard Suphan, Berlin, 1892, S. 88–114.
37 Winckelmann, Geschichte der Kunst, S. 392.
38 Zum Kontur bei Winckelmann vgl. ausführlich: Charlotte Kurbjuhn, Kontur. Geschichte
einer ästhetischen Denkfigur, Berlin/Boston, 2014 (= Quellen und Forschungen zur
Literatur- und Kulturgeschichte 81), S. 195–251.
39 Johann Gottfried Herder, „Viertes Kritisches Wäldchen“, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 4,
hg. von Bernhard Suphan, Berlin, 1878, S. 3–197, hier S. 65.
40 Ebd., S. 65f.
bei Moritz die Sprachkunst Winckelmanns selbst unter Verdacht, die Wahr-
nehmung des Kunstwerks gleichsam zu verstellen. Dies führt er in seinem
Essay In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? (1788/1789) näher aus:
Gerade nicht die sehnsüchtig begehrte, durch Phantasie und Studium nach
Möglichkeit rekonstruierte ,Ganzheit‘ der Antike, die bei Winckelmann die
virtuelle Bezugsgröße der Statuenbeschreibungen darstellt, ist nach Moritz
seinen Nachfolgern beschert, die seine Schriften als Hilfestellung der eigenen
Statuenbetrachtung heranziehen. Sondern im Gegenteil: Durch die Be-
schreibungsrhetorik der bekannten Texte werde eine Irritation des Blicks
auf das Ganze und eine Ablenkung aufs Detail verursacht, die „Einheit“ des
Bildwerks „entweihet“ und der „Eindruck“ des Kunstwerks „zerstört“. Der
phantasmatische Kern der Beschreibungen Winckelmanns leistet in dieser
Lektüre nicht eine Erweiterung der Wahrnehmung der antiken Kunstwerke,
indem er ihre sinnliche Gegenwart im Kunsterlebnis mit allen Mitteln nach-
vollzieht, sondern wird als strategische Zusammenstückelung von „Bruch-
stücken“ beschrieben, wie ein rhetorischer Taschenspielertrick, in dem die
künstlerische Gestaltung der Werke zwar kunstvoll beschrieben, in ihrer
Singularität und ihren Gesetzmäßigkeiten aber nicht einsichtig wird. Moritz’
Lektüre steht damit quer zu solchen Stimmen, die wie Herder und Goethe vor
allem den Pioniergeist und die bleibende Bedeutung Winckelmanns betonten
45 Karl Philipp Moritz, „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?“, in: ders.,
Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Popularphilosophie/Reisen/Ästhetische Theorie, hg. von Heide
Hollmer und Albert Meier, Frankfurt a.M., 1997, S. 992–1003, hier S. 1002f.
– was anderen als besondere Leistung des Älteren galt, nämlich die Suggestivi-
tät der sprachlichen Darstellung und ihre virtuelle Vergegenwärtigung von
Kunstwerken durch Szenarien der enthusiastischen Betrachtung, wird bei
Moritz zum Stein des Anstoßes, um im Rahmen seiner eigenen Ästhetik eine
deutliche Entkoppelung der Kunstbeschreibung von jeglichen Intentionen
und mythologischen Referenzen zu fordern, welche seine Wahrnehmung als
autonomes ästhetisches Objekt verstellt und die immanente Ableitung von
Struktur- und Formqualitäten verhindert.
Erneut sind dabei auch bei Moritz Vorstellungen von Fragment und Ganz-
heit, analytischem Studium und Phantasmagorie im Zusammenhang der
Statuenbetrachtung untrennbar aufeinander bezogen, und auch hier wird –
wie bei Herder und in den Szenarien der Fackelbeleuchtung – die genaue
Anamnese der ästhetischen Erfahrung möglich vor dem Hintergrund ihrer
Verortung in einem institutionellen musealen Setting mit seinen eigenen
Spielregeln: Im Rahmen der distanzierten Kunstbetrachtung einer Aus-
stellung, die ihn – Winckelmanns prägende Topik im Kopf und in negativer
Abgrenzung der eigenen Erfahrung von dieser – ein Erlebnis der klassischen
Werke und ihrer „erhabnen Bildung“ als „wohlthätige[n] Eindruck“ erwarten
lässt. Dass sich Moritz damit einreiht in die Verfechter einer zeitgenössischen
Ausstellungskultur, für die die neue Zugänglichkeit antiker Plastiken und ihr
Erlebnis vermittels moderner Praktiken der Präsentation und Beleuchtung
einen bedeutsamen Zuwachs an ,Lebendigkeit‘ der ästhetischen Erfahrung be-
deutete, machen seine Kommentare zu eigenen Besuchen beim Belvedere bei
Fackelschein deutlich, die er ebenfalls in den Reisen eines Deutschen in Italien
beschreibt:
Es ist hier allezeit ein Fest für uns, wenn eine Gesellschaft sich vereinigt, um
die Statüen in Belvedere des Abends bei Fackelschein zu betrachten. – Man ver-
säumt diese Gelegenheit nie, weil einem jede dieser Betrachtungen ein sichrer
Gewinn und Erwerb für den Geist ist, der einem nachher durch nichts geraubt
werden kann.
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Der Begriff der lebendigen Darstellung stellt eine Herausforderung dar.1 Ein
alltägliches Wort wie Darstellung ist nicht ohne Weiteres terminologisch zu
fassen, seine Kombination mit dem Begriff des Lebendigen befördert die
Klarheit mitnichten. Denn ‚Leben‘ eröffnet vielleicht mehr noch als ‚Dar-
stellung‘ so zahlreiche wie unterschiedliche systematische und historische
Kontexte, sodass sich die Möglichkeiten zur Deutung nur zu vervielfältigen
scheinen. Mit Blick auf den Begriff der Darstellung stellt sich die Lage um
1800 jedoch etwas anders dar. Denn die Semantik des ‚Darstellens‘, die uns
heute so unauffällig wie unscharf vorkommt, hatte sich gerade erst heraus-
gebildet, und der Begriff der Darstellung stellte eine theoretische Innovation
dar, deren systematischer Einsatz heute noch verständlich zu machen ist. In
seinem bahnbrechenden Aufsatz zu „Klopstocks Eröffnung eines neuen Para-
digmas“ von 1994 deutet Winfried Menninghaus den Begriff der Darstellung
so als Zeichen einer „theoriegeschichtlichen Umwälzung“.2 Das Denken der
Repräsentation, das von Vorstellungen mitsamt ihren Gegenständen ausging,
um zugleich ihre mehr oder minder transparente Kommunikation durch
Zeichen zu reflektieren, wurde demnach abgelöst durch das Interesse an Dar-
stellungsprozessen, in denen sich in der Bewegung materieller Zeichen Gegen-
stände präsentieren, die nicht unabhängig davon gegeben und bloß noch zu
bezeichnen wären.
Ich möchte mich der Frage nach der lebendigen Darstellung daher über den
Begriff der Darstellung nähern, wie er sich in Immanuel Kants kritischer Philo-
sophie ausgearbeitet findet. Dieser Darstellungsbegriff wurde vor allem in der
Literaturwissenschaft behandelt, wobei jedoch meist angenommen wurde,
dass sich die terminologische Bedeutung des Begriffs und seine theoretische
1 Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen des durch den Schweizerischen Nationalfonds ge-
förderten Projekts Begriffe und Praktiken der Darstellung in Philosophie, Chemie und Malerei
um 1800 entstanden.
2 Vgl. Winfried Menninghaus, „‚Darstellung‘. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines
neuen Paradigmas“, in: Was heißt „Darstellen“?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt
a.M., 1994, S. 205–226, hier S. 205; vgl. auch ebd., S. 205f., 209f., 212f. und, mit Bezug auf
Kant, S. 216–219.
3 Vgl. Ernst Ludwig Stahl, „Darstellung“, in: Gestaltprobleme der Dichtung, hg. von Richard
Alewyn, Hans-Egon Hass und Clemens Heselhaus, Bonn, 1957, S. 283–298; Fritz Heuer,
Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst, Köln/Wien, 1970;
Rodolphe Gasché, „Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant“, in: Was heißt „Dar-
stellen“?, hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M., 1994, S. 152–174; Martha B. Helfer,
The Retreat of Representation. The Concept of Darstellung in German Critical Discourse, Albany,
NY, 1996; Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“,
in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard
Neumann, Stuttgart/Weimar, 1997, S. 208–225; Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions.
Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München,
1998; Dieter Schlenstedt, „Darstellung“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörter-
buch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius,
Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Stuttgart/Weimar, 2000,
S. 831–875.
4 „[D]er poetische Darstellungsbegriff schmuggelt in seinem subversiven Gepäck zugleich
eine mächtige rhetorische Dimension, die an seinem Ursprung steht, in die anti-rhetorische
Philosophie ein. Nicht nur führt ein Begriff der Poetik also zu einer Reformulierung der
Philosophie, er ist sogar derart durchschlagend, daß er der Philosophie – mit nachhaltigem
Erfolg – etwas einimpft, das sie seit Platos Kritik der sophistischen Rhetorik von sich fern-
halten wollte. Fast könnte man sagen: die Philosophie hat sich an diesem ebenso unauf-
fälligen wie unverdaulichen Begriff der Poetik verschluckt, und es gibt spätestens seitdem
nur noch eine poetisch kontaminierte Philosophie, die mindestens ebensosehr Gegenstand
der Poetik und Literaturgeschichte wie der reinen Liebe zur Weisheit ist.“ (Menninghaus,
„‚Darstellung‘“, S. 222.) Es geht mir im Folgenden nicht darum, zu bestreiten, dass Philosophie
auch als Literatur zu lesen ist (was im Übrigen keinesfalls nach sich ziehen muss, ihr jeden
Anspruch auf Erkenntnis oder Wissen abzusprechen). Ich möchte lediglich zeigen, dass
Kants Begriff der Darstellung der Rhetorik kaum als Einfallstor in die Philosophie dienen
kann, weil er bei Kant im epistemischen Kontext eingeführt wird und in der dritten Kritik
ästhetische, epistemische und ethische Aspekte verbinden soll.
5 Ich werde mich dabei auf meinen Aufsatz „Kants Konzeption der geometrischen Dar-
stellung. Zum mathematischen Gebrauch der Anschauung“, in: Kant-Studien 108, 2017, S. 19–
54, stützen, in dem diese Deutung weiter ausgeführt ist und auch in Auseinandersetzung mit
der Forschungsliteratur begründet wird.
Der Rekurs der Kritik der Urteilskraft auf die Kritik der reinen Vernunft
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, bei der Kritik der Urteilskraft
handle es sich um Kants Ästhetik im Sinne einer Kunstphilosophie.6 Schon bei
rascher Lektüre wird offensichtlich, dass es hier um mehr und anderes geht
als um die schönen Künste. Daher kann es kaum überraschen, dass sich Kants
Begriff der Darstellung keineswegs vorrangig auf künstlerische Darstellungen
bezieht und er sich ebenso wenig in eine Theorie der ästhetischen Erfahrung
einhegen lässt. Vielmehr gibt Kant an vielen Stellen zu erkennen, dass der Be-
griff auch in der Kritik der Urteilskraft noch die erkenntnistheoretischen und
wissenschaftsphilosophischen Fragestellungen der ersten Kritik aufnimmt.
Bereits in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft wird die „Darstellung
(exhibitio)“ terminologisch eingeführt und erläutert als das „Geschäft“ der
Urteilskraft, „dem Begriffe eine correspondirende Anschauung zur Seite zu
stellen“.7 Dieses Geschäft erinnert insofern an die Aufgabe der Erkenntnis, als
allgemein gesprochen Begriff und Anschauung zusammenkommen müssen,
damit Erkenntnis zustande kommen kann, denn: „Gedanken ohne Inhalt sind
6 Vgl. für eine prägnante Klarstellung Wolfgang Wieland, „Die Erfahrung des Urteils. Warum
Kant keine Ästhetik begründet hat“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte 64, 1990, S. 604–623.
7 Die Werke Kants werden wie in der Forschungsliteratur üblicher nach der Ausgabe Kants ge-
sammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin,
1900ff., nachgewiesen, hier Bd. 5: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft,
Berlin, 1913, S. 192. Bei wiederholten Referenzen benutze ich die übliche Sigle ‚AA‘ mit An-
gabe des Bandes und der Seitenzahl, hier also AA 05, 192. Ergänzend gebe ich unter der Sigle
‚KU, B‘ auch die Seitenzahl der zweiten Ausgabe der Kritik der Urteilskraft von 1793 an, sodass
die zitierten Stellen in den meisten Ausgaben des Textes leicht aufzufinden sein sollten, hier
KU, B XLIX.
leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“8 Tatsächlich bezieht Kant jenes
Geschäft der Urteilskraft auch umstandslos auf den Zweck einer „Erkennt-
nis in der Darstellung (exhibitio)“.9 Jedoch ist diese Erkenntnis von einer
besonderen Struktur. Statt wie die objektive Erkenntnis eine gegebene An-
schauung unter einen Begriff zu subsumieren und dadurch den Gegenstand
begrifflich zu bestimmen, zielt die ‚Erkenntnis in der Darstellung‘ auf den Be-
griff ab, indem sie ihn veranschaulicht. Die Urteilskraft soll ihm nämlich eine
‚correspondirende Anschauung zur Seite stellen‘, wie Kant formuliert, womit
er direkt auf die Theorie der mathematischen Darstellung aus der Kritik der
reinen Vernunft zurückgreift. Dort hatte Kant den Begriff der Darstellung ein-
geführt und mit Blick auf die „Construction der Begriffe“ in der Mathematik
und Geometrie wie folgt bestimmt: „Einen Begriff aber construiren, heißt: die
ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen.“10 Dieses Verhältnis der
Korrespondenz von Begriff und Anschauung muss von der Subsumtion der
Anschauung unter den Begriff unterschieden werden, soll Kants Begriff der
Darstellung ein klares systematisches Profil erhalten.
Wie die Kritik der Urteilskraft an diesen Ausgangspunkt anschließt, um
zugleich eine entschiedene Erweiterung und Vertiefung des Begriffs der Dar-
stellung vorzunehmen, zeigt die Anmerkung I zu Paragraph 57. Im Zentrum
der dortigen Erläuterung des Darstellungsbegriffs steht erneut die Mathematik
und ihre Praxis der Demonstration. Ähnlich wie in der Kritik der reinen Vernunft
reduziert er die mathematische Praxis nicht auf den logisch-deduktiven Beweis
von Sätzen, sondern betont mit Blick auf den geometrisch-konstruktiven Be-
weis die Unverzichtbarkeit der Anschauung und erläutert die Demonstration
daher ganz im Sinne seiner früheren Überlegungen als Darstellung eines
8 K ants gesammelte Schriften, Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, hg. von
der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1911, S. 75, bzw. unter
Verwendung der Sigle AA 03, 75. Auch im Falle der Kritik der reinen Vernunft gebe ich er-
gänzend die Seitenzahl der zweiten Ausgabe von 1787 unter Verwendung der Sigle ‚KrV,
B‘ an, hier KrV, B 75. Auf die Unterschiede der ersten und zweiten Auflage kommt es im
Zusammenhang des vorliegenden Beitrags nicht an, da die „Transzendentale Methoden-
lehre“ keine Überarbeitung erfahren hat.
9 A A 05, 192/KU, B XLIX.
10 A A 03, 469/KrV, B 741. Wie das Zitat andeutet, bleibt diese Form der Darstellung und
Konstruktion der Philosophie verwehrt. Auch dies wird in der diskutierten Passage aus
der Kritik der Urteilskraft wiederholt: „Man bedient sich in der Logik der Ausdrücke des
Demonstrabeln oder Indemonstrabeln gemeiniglich nur in Ansehung der Sätze: da die
ersteren besser durch die Benennung der nur mittelbar, die zweiten der unmittelbar-
gewissen Sätze könnten bezeichnet werden; denn die reine Philosophie hat auch Sätze
von beiden Arten, wenn darunter beweisfähige und beweisunfähige Sätze verstanden
werden. Allein aus Gründen a priori kann sie als Philosophie zwar beweisen, aber nicht
demonstrieren […]“ (AA 05, 343/KU, B 241).
Begriffs. Diesen Rückgriff verbindet Kant aber sogleich mit einer Erweiterung.
Denn neben der mathematisch-konstruktiven Darstellung führt Kant nun
zugleich empirische Formen der Darstellung an und nennt als Beispiel die
Präparation von Organen in der Anatomie:
[W]enn man nicht ganz und gar von der Wortbedeutung abgehen will, nach
welcher demonstriren (ostendere, exhibere) so viel heißt, als […] seinen Begriff
zugleich in der Anschauung darstellen: welche, wenn sie Anschauung a priori
ist, das Construiren desselben heißt, wenn sie aber auch empirisch ist, gleich-
wohl die Vorzeigung des Objects bleibt, durch welche dem Begriffe die objective
Realität gesichert wird. So sagt man von einem Anatomiker: er demonstrire das
menschliche Auge, wenn er den Begriff, den er vorher discursiv vorgetragen hat,
vermittelst der Zergliederung dieses Organs anschaulich macht.11
Kant greift hier somit auf seinen eigenen, an der Geometrie orientierten Be-
griff der Darstellung zurück, um ihn zunächst innerhalb des epistemischen
Kontextes durch empirische Formen der Darstellung zu erweitern, in denen
die ‚korrespondierende Anschauung‘ nicht durch Konstruktion, sondern durch
die ‚Vorzeigung des Objekts‘ bereitgestellt werden soll.
Diese Erörterung von Darstellungen zum Zwecke des Erkennens steht im
Kontext der Anmerkung I zu Paragraph 57 der Kritik der Urteilskraft jedoch
unter den Vorzeichen einer sehr viel radikaleren Erweiterung und Vertiefung
des Begriffs der Darstellung.12 Denn gleich in den ersten Zeilen dieser An-
merkung führt Kant einen Begriff ein, der nach der Terminologie der ersten
Kritik von vornherein auf die Grenzen der Erkenntnis und eine Sphäre jenseits
der Erkenntnis bezogen ist, den Begriff der Idee: „Ideen in der allgemeinsten
Bedeutung sind […] auf einen Gegenstand bezogene Vorstellungen, sofern
sie doch nie eine Erkenntnis desselben werden können.“13 Ideen ermöglichen
keine Erkenntnis, weil Begriff und Anschauung in ihnen nicht zusammen-
finden. Insbesondere gilt für die „Vernunftidee“, dass sie einen „Begriff (vom
Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben
werden kann“.14 Da die Formen der Darstellung, die wir bislang erwähnt
haben, sich stets einer Anschauung bedienen, die dem darzustellenden Begriff
‚korrespondiert‘, liegt also der Schluss nah, dass Ideen auch keiner Darstellung
fähig sind. Die Pointe von Kants Überlegung weist aber genau in die entgegen-
gesetzte Richtung: Wir müssen die Konzeption der Darstellung so erweitern,
dass Darstellungen auch dort möglich sind, wo Begriff und Anschauung nicht
mehr – wie bislang angenommen – einander korrespondieren, aber doch so
aufeinander bezogen werden können, dass wir – wenn auch jenseits der Er-
kenntnis – durch die Anschauung Aufschluss erhalten über den Begriff.
Nach Paragraph 57 der Kritik der Urteilskraft haben wir es also mit zwei unter-
schiedlichen Formen der Darstellung zu tun. Die erste Form der Darstellung in
Mathematik und empirischen Wissenschaften beruht auf der Korrespondenz
von Begriffen und Anschauungen. Wie ich noch an der mathematischen
Darstellung zeigen werde, kommen als korrespondierende Anschauungen
dabei nur solche Anschauungen in Frage, deren Gegenstände durch den dar-
zustellenden Begriff bestimmt sind, sodass beispielsweise die Anschauung
eines Dreiecks den allgemeinen Begriff des Dreiecks darstellen kann. Die Dar-
stellung eines Begriffs vermittels korrespondierender Anschauung setzt daher
voraus, dass der Begriff zwar allgemein ist, aber doch einzelne Anschauungen
bestimmen kann.15 Diese Voraussetzung ist in der zweiten und neuen Form
der Darstellung von Ideen jedoch nicht gewährleistet. Denn Ideen können wie
die ‚Vernunftideen‘ zwar auch Begriffe sein, vermögen aber keine einzelnen
16 „So wie an einer Vernunftidee die Einbildungskraft mit ihren Anschauungen den ge-
gebenen Begriff nicht erreicht: so erreicht bei einer ästhetischen Idee der Verstand durch
seine Begriffe nie die ganz innere Anschauung der Einbildungskraft, welche sie mit einer
gegebenen Vorstellung verbindet.“ (AA 05, 343/KU, B 242)
17 Diese Unterscheidung von Vernunft- und ästhetischer Idee hatte Kant ganz ähnlich, aber
eher beiläufig bereits in §49 der Kritik der Urteilskraft eingeführt, vgl. AA 05, 313f./KU,
B 192f. Ich werde darauf zurückkommen.
Kants Überlegungen zur Mathematik in der Kritik der reinen Vernunft und
damit auch sein Herangehen an den Begriff der Darstellung sind in dreier-
lei Hinsicht zu rahmen. Erstens ist eine textuelle Rahmung vorzunehmen:
Im Zusammenhang der die erste Kritik beschließenden Transzendentalen
Methodenlehre geht es Kant nicht primär um die Mathematik, sondern um
die Philosophie. Er bestreitet nämlich den alten Anspruch der Philosophie,
ihre Behauptungen im Stile der Mathematik beweisen zu können, und ver-
sucht daher das Vorgehen der Philosophie von dem der Mathematik abzu-
grenzen. Er geht so zwar davon aus, dass die Mathematik wie die Philosophie
auf die Erkenntnis von Begriffen abziele, billigt aber allein der Mathematik das
Privileg zu, ihre Begriffe zu diesem Zweck in der Anschauung ‚darzustellen‘:
„Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die
mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren,
heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen.“18 Zweitens
müssen wir eine ideengeschichtliche Rahmung in Rechnung stellen: Kant
geht hier – wie bei der bereits zitierten Überlegung zur Demonstration in
der Mathematik aus der dritten Kritik – davon aus, dass die mathematische
Praxis sich nicht auf die formal-logische Deduktion reduziert, sondern wesent-
lich auf der Konstruktion ihrer Begriffe in der Anschauung beruht. Offenbar
bezieht er sich paradigmatisch auf die geometrische Tradition, die mit dem
Namen Euklids verbunden ist und in der Frühen Neuzeit gegenüber dem
aristotelischen Syllogismus eine Aufwertung erfahren hat.19 Es ist also die geo-
metrische Praxis des mathematischen Beweisens vermittels anschaulicher
20 Das von Kant gewählte Beispiel des Beweises des Satzes von der Winkelsumme im Drei-
eck zeigt, dass es ihm im Grunde um eine Theorie des material-anschaulichen Schließens
im reflektierenden Vollzug der Konstruktion geht, das von der formal-logischen Form der
Deduktion zu unterscheiden wäre. Daher betont Kant auch, dass sich in der Konstruktion
„eine Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden
und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage“ (AA 03, 471/KrV, B 744f.) ergebe, vgl. in
der Kritik der Urteilskraft auch AA 05, 343/KU, B 241. Diese These plane ich in einem aus-
führlichen Essay zum philosophischen Beispiel des Dreiecks von Descartes bis Hegel
auszuführen.
21 Vgl. die klassische Definition in Kants Logik, in: Kants gesammelte Schriften, Bd. 9: Logik.
Physische Geographie. Pädagogik, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Berlin/Leipzig, 1923, S. 91. Neben der Singularität führt Kant an anderen
Stellen auch die Unmittelbarkeit als Charakteristikum der Anschauung an, vgl. AA 03, 49/
KrV, B 33. Ich gehe auf die Unmittelbarkeit, die sich auf die Gebung des Gegenstands der
Anschauung bezieht, hier nicht weiter ein, weil die Darstellung nicht so sehr auf diesem
Bezug auf den Gegenstand, sondern auf der Reflexion und Vermittlung der Anschauung
beruht.
22 Scheinbar behauptet Kant im sogenannten Schematismus-Kapitel genau dies: „Dem Be-
griffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein.
Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser
für alle, recht- oder schiefwinklichte ec., gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser
Sphäre eingeschränkt sein.“ (AA 03, 136/KrV, B 180). Die Forschungsliteratur hat darin
Locke und George Berkeley folgern müssen, dass der Mathematiker zuallererst
Erkenntnisse über einzelne anschauliche Gegenstände wie dieses eine Dreieck
gewinnt, die in einem zweiten Schritt zu verallgemeinern wären.23 Ganz im
Gegenteil behauptet Kant jedoch, dass der Mathematiker insofern allgemeine
Aussagen in der Anschauung beweisen kann, als er sich zu seinen Begriffen
‚korrespondierende Anschauungen‘ verschaffen kann, indem er sie kurzer-
hand selbst konstruiert. Dem Mathematiker soll es so gelingen, zwischen dem
allgemeinen Begriff und der einzelnen Anschauung zu vermitteln. Und zwar
nicht in dem Sinne, dass ein allgemeiner Begriff auf eine einzelne Anschauung
angewandt und beispielsweise eine geometrische Figur als Dreieck bestimmt
wird. Vielmehr muss die Allgemeinheit des Begriffs veranschaulicht und in
einer einzelnen Anschauung gleichsam greifbar werden:
Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung er-
fordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Objekt ist, aber nichts desto-
weniger, als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung)
Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Be-
griff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.24
Dem Mathematiker soll damit gelingen, was nach den Voraussetzungen von
Kants kritischer Philosophie prima facie unmöglich scheint, „das Allgemeine
im Besonderen, ja gar im Einzelnen“25 zu sehen.
Um zu erklären, wie dies möglich ist, führt Kant den Begriff der Darstellung
ein, der in der Kritik der reinen Vernunft noch weitgehend mit der Konstruktion
gleichgesetzt wird. Der für Kants Konzeption der Darstellung zentrale Satz
lautet – verkürzt zitiert – wie folgt: „Die einzelne hingezeichnete Figur ist
immer wieder einen Widerspruch zu Kants Konzeption der Darstellung des Begriffs des
Dreiecks gesehen. Jedoch löst sich dieser vermeintliche Widerspruch auf, wenn die Dar-
stellung des Begriffs in der Anschauung unterschieden wird von der Bestimmung der An-
schauung durch den Begriff, von der das Schematismus-Kapitel handelt.
23 Locke nimmt einen Prozess der ‚Habitualisierung‘ der Erkenntnis durch die faktische
Wiederholung und eine schließlich eintretende Erwartung der Evidenz im Einzelfall an,
um die Allgemeinheit der mathematischen Erkenntnis zu erklären, wohingegen Berkeley
zu diesem Zweck auf einen Zeichenbegriff setzt, der die Abstraktion von den singulären
Eigenschaften dieses einen Dreiecks begründen soll, vgl. John Locke, An Essay Concerning
Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford, 1975, S. 527–530 bzw. Book IV,
Chapter 1, Section 8–9 und The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, Bd. 2: The
Principles of Human Knowledge […], hg. von A.A. Luce und T. E. Jessop, London/New York,
1949, S. 33–35 bzw. Introduction, §15–16. Ich werde diesen Argumentationen in dem ge-
planten Essay zum philosophischen Beispiel des Dreiecks detaillierter nachgehen.
24 A A 03, 469/KrV, B 741.
25 Ebd., KrV, B 742.
von einer ausgesprochen engen Verzahnung des Allgemeinen und des Be-
sonderen aus. Es ist diese Annahme, die die Kritik der Urteilskraft, wie wir im
ersten Abschnitt gesehen haben, nicht mehr teilt und teilen kann, wenn es ihr
um Begriffe und Ideen geht, die keinen ähnlich engen Bezug zur einzelnen An-
schauung haben. Woran Kant aber festhalten wird, ist der Grundgedanke, dass
„das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen“31 angeschaut werden
kann, wenn wir die einzelne Anschauung in einem reflektierten Vollzug ins
Verhältnis setzen zu allgemeinen Begriffen.
Im Folgenden möchte ich also zeigen, wie Kant den Begriff der Darstellung in
der Kritik der Urteilskraft ausgehend von den Grundbestimmungen der Kritik
der reinen Vernunft entfaltet. Ich werde daher nachweisen, wie die ästhetischen
Formen der Darstellung an den älteren Begriff zum einen anschließen und ihn
zum anderen erweitern und vertiefen. Der gemeinsame Zug aller Formen der
Darstellung wird dabei stets der reflektierte Vollzug sein, durch den die An-
schauung etwas Allgemeines oder einen Begriff darstellen kann. Ein erster
Unterschied wird dagegen sein, dass die Formen der Darstellung, die die Kritik
der Urteilskraft analysiert, nicht mehr wie die mathematische Darstellung
von einem Begriff ausgehen, der zugleich die Konstruktion der im Zentrum
stehenden Anschauung anleitet, sondern von Anschauungen, die zualler-
erst eine „reflectirte Wahrnehmung“32 anregen und so auf einen Begriff hin-
führen sollen, als dessen Darstellung sie schließlich erfahren werden. Kant
konzipiert dabei Formen der Reflexion, die nicht nur keinen ‚konstruktiven
Begriff‘ voraussetzen, sondern auch hinführen können auf Ideen, bei denen
jede ‚Korrespondenz‘ zu einer Anschauung per se unmöglich ist. In diesem
Sinne hatte Kant in Anmerkung I zu Paragraph 57 die Erweiterung des Begriffs
der Darstellung vorgezeichnet, diese systematische Perspektive prägt aber
auch schon die vorangehenden Analytiken des Schönen und des Erhabenen,
die Kant daher auch so zusammenfasst, dass „das Schöne für die Darstellung
eines unbestimmten Verstandesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen
Vernunftbegriffs genommen“33 werden kann.
Diese Formulierung ist aus dem Zusammenhang gerissen kaum verständlich
zu machen. Sie weist aber doch auf einige Grundzüge des Darstellungsbegriffs
in der Kritik der Urteilskraft voraus, die ich zur Orientierung über das Folgende
kurz benennen möchte. Der erste wichtige Aspekt ist nochmals darin zu
sehen, dass die Darstellung hier über die Grenzen der Erkenntnis hinausgeht.
Denn ein ‚unbestimmter‘ Begriff ermöglicht offenbar keine Erkenntnis, da er –
selbst unbestimmt – weder eine Anschauung zu bestimmen vermag, noch
in Korrespondenz zu einer Anschauung stehen kann. Diese Ausweitung des
Darstellungsbegriffs über die Erkenntnis hinaus ist jedoch mit Bedacht zu
verstehen. Denn Kant behauptet keineswegs, diese Formen der Darstellung
hätten nichts mehr mit Erkenntnis zu tun. Die Beschreibung, dass sich im
Schönen und Erhaben, wenn auch unbestimmte, Verstandes- und Vernunft-
begriffe darstellen, deutet doch vielmehr darauf hin, dass diese Darstellungen
einen Bezug zwischen den Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit, Verstand und
Vernunft herstellen, und nimmt vorweg, dass das Schöne und das Erhabene
zwar zu keiner Erkenntnis führen, deshalb aber noch keineswegs ohne jeden
Bezug zur Erkenntnis überhaupt sind. Bei genauerer Betrachtung wird sich
sogar zeigen lassen, dass sie eine recht enge Verbindung zur Erkenntnis haben.
Der zweite wichtige Aspekt ist darin zu sehen, dass diese Verbindung gerade
darauf beruht, dass das Schöne und das Erhabene nicht die Struktur der
objektiven Erkenntnis, sondern die eines reflektierenden Urteils haben. Kant
betont immer wieder, dass das ästhetische Urteil über das Schöne oder das Er-
habene nicht wie ein Erkenntnisurteil zuallererst ein Urteil über ein Objekt ist,
das wir wahrnehmen oder imaginieren. Wie die mathematische Darstellung
ist das ästhetische Urteil in seinem Kern vielmehr ein reflektierter Vollzug auf
die Tätigkeit des Erkenntnissubjekts. Die Reflexion auf die „Handlung“34, von
der Kant schon mit Bezug auf die mathematische Darstellung sprach, kann
im Falle der ästhetischen Formen der Darstellung jedoch keiner Handlung
gelten, die wie die ‚Konstruktion des Begriffs‘ durch einen bestimmten Begriff
angeleitet ist. Vielmehr kann die Anschauung in Ermangelung eines voraus-
gesetzten Begriffs reflektierend lediglich in Bezug zur allgemeinen Tätigkeits-
form von Verstand und Vernunft gesetzt werden, die Kant in der zitierten
Formulierung als unbestimmten Verstandes- respektive Vernunftbegriff fasst.35
Das ästhetische Urteil begründet sich nur im Bezug einer Anschauung auf die
allgemeine Tätigkeitsform der Erkenntniskräfte sowie ihre wechselseitigen
Verhältnisse untereinander. Im Schönen als Darstellung eines unbestimmten
Verstandesbegriffs erfahren wir insbesondere, dass Anschauung und Verstand
zusammenpassen, was natürlich jede empirische Erkenntnis voraussetzen
muss. Insofern belehrt uns das Schöne nach Kants Analyse über eine wesent-
liche subjektive Bedingung der Erkenntnis.36
Schieben wir die Frage auf, warum eine solche Belehrung vor dem Hinter-
grund der Kritik der reinen Vernunft überhaupt nötig sein sollte, dann sind
wir bei einem leitenden Gedanken der Kritik der Urteilskraft angelangt, der
insbesondere für die Definition der ästhetischen Formen der Darstellung ent-
scheidend ist. Als ‚ästhetisch‘ kennzeichnet Kant ganz allgemein dasjenige an
Vorstellungen, das wir auf das Subjekt und seine Vermögen beziehen können,
das aber nichts zur objektiven Erkenntnis des Gegenstands der Vorstellungen
beizutragen vermag:
Was an der Vorstellung eines Objects bloß subjectiv ist, d.i. ihre Beziehung auf
das Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Beschaffen-
heit derselben; was aber an ihr zur Bestimmung des Gegenstandes (zum Er-
kenntnisse) dient oder gebraucht werden kann, ist ihre logische Gültigkeit.37
36 Mit Blick auf die mathematische bzw. geometrische Darstellung sei angemerkt, dass auch
sie auf eine Bedingung der Erkenntnis abzielt, insofern im Vollzuge der Konstruktion
von Figuren nicht nur auf deren spezifische Regel, sondern auch auf das ‚Medium‘ ihrer
Ausführung reflektiert werden kann. Nur in dieser Form können wir also den Raum, der
selbst weder Begriff noch Gegenstand, sondern eine Form der Anschauung und als solche
eine Bedingung aller Erkenntnis ist, fassen, vgl. Schubbach, „Kants Konzeption der geo-
metrischen Darstellung“, S. 52f.
37 A A 05, 188f./KU, B XLII, vgl. auch AA 05, 203/KU, B 4. Bereits in der Kritik der reinen
Vernunft spricht Kant von „Transzendentaler Ästhetik“, wo er die Beziehung des Gegen-
stands auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit behandelt. Jedoch versteht er die Formen
der Anschauungen, Raum und Zeit, als Bedingungen der empirischen Erkenntnis und
ihrer Gegenstände, sodass hier nicht – wie in der Kritik der Urteilskraft – als ‚ästhetisch‘
bezeichnet wird, was nichts zur Bestimmung des Gegenstands der Erkenntnis beitragen
kann. Vgl. zu diesen „two senses of ‚aesthetic‘“ auch Paul Guyer, Kant and the Claims of
Taste, Cambridge, MA/London, 1979, S. 71f.
letztlich Aufschluss geben über unsere Vermögen und das wechselseitige Ver-
hältnis ihrer Tätigkeiten.
Die Erweiterung des Darstellungsbegriffs in der Kritik der Urteilskraft hat
daher wenig zu tun mit einem inhaltlichen Übergang von den Wissenschaften
zu den schönen Künsten, wobei die Struktur der gegenständlichen Erfahrung
beibehalten würde und ästhetische Erfahrung als solche von schönen Gegen-
ständen zu spezifizieren wäre. Aus Kants Sicht ist vielmehr entscheidend, dass
es sich bei Darstellungen um Formen der Erfahrung handelt, die – im Unter-
schied zur objektiven Erkenntnis – durch ihren reflektierenden Grundzug
ausgezeichnet sind und sich dadurch auf das Subjekt der Erfahrung und seine
Vermögen beziehen. Mit den ästhetischen Formen der Darstellung handelt
Kant also nicht von äußeren, öffentlich wahrnehmbaren Repräsentations-
formen der schönen Künste, wie theatralen Aufführungen, gemalten Bildern
oder literarischen Texten, sondern von selbstbezüglichen Formen der Er-
fahrung, die zwar von der Wahrnehmung ihren Ausgang nehmen, die uns aber
letztlich mit uns selbst konfrontieren.
Das Schöne
38 Die viel zitierte Formulierung Kants lautet: „[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Er-
fahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Er-
fahrung und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori“
(AA 03, 145/KrV, B 197).
oder eine „Maxime“44, als es – wie erläutert – eine Bedingung der Tätigkeit
der reflektierenden Urteilskraft ist, aber keine notwendige Bedingung der
Gegenstände der Erkenntnis. Letztere könnten sich daher prinzipiell dem be-
grifflichen Verständnis entziehen und dadurch eine Kluft zwischen der An-
schauung empirischer Gegenstände und dem Verstand sowie seinen Begriffen
aufreißen. Es ist diese drohende Kluft, die Kant in der Analytik des Schönen
überbrücken will. Programmatisch erklärt er daher bereits in der Einleitung zur
Kritik der Urteilskraft, dass „wir die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs
der formalen (bloß subjectiven) […] Zweckmäßigkeit ansehen“45 können, also
als Darstellung desjenigen Begriffs, den die reflektierende Urteilskraft in ihren
Bemühungen um die Erkenntnis empirischer Gegenstände annehmen muss.
Die Aufgabe der Analytik des Schönen ist damit umrissen, es muss nun
jedoch dargelegt werden, wie sich die Darstellung des Schönen vollzieht und
wie sie den Begriff der Darstellung aus der Kritik der reinen Vernunft aufgreift
und weiter entfaltet. Der reflektierende Grundzug der Darstellung lässt sich
dabei unschwer als Dreh- und Angelpunkt von Kants Analyse des „Reflexions-
Geschmacks“46 erkennen. Der Ausgangspunkt ist die „reflectirte Wahr-
nehmung“47, die zunächst die Einbildungskraft, die alle wahrgenommenen
Formen synthetisiert, dann aber auch den Verstand involviert.48 Der Verstand
übernimmt jedoch nicht die Federführung. Er enthält sich der Anwendung
von bestimmten Begriffen auf die Anschauung, sodass diese Erfahrung nicht
die Struktur einer auf Gegenstände gerichteten Erkenntnis annimmt. Statt-
dessen bleibt die Reflexion vorherrschend, und es kommt zu einem „freien
Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie unter einander, wie
es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen)“.49
Das „ästhetische Urtheil über die Zweckmäßigkeit des Objects“50 bezieht sich
daher auch nicht zuallererst auf das Objekt als solches, da es vielmehr „eine
Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie sich
nach unserer Art sie aufzunehmen richtet“.51
Diese rasche Skizze bestätigt, dass die Erfahrung des Schönen wesent-
lich auf einem reflektierenden Vollzug beruht und das mit ihr verbundene
ästhetische Urteil als ein „Reflexionsurtheil“52 zu begreifen ist. Dies zeigt sich
negativ darin, dass der geschilderte Prozess gerade nicht in eine Vorstellung
münden soll, die zuallererst auf ihren Gegenstand bezogen wäre: Weder ist
die Erfahrung des Schönen eine Anschauung von etwas Schönem noch eine
Erkenntnis von einem Schönen. Positiv gesprochen ist die Erfahrung des
Schönen ein reflektierender Vollzug auf das Verhältnis der Tätigkeiten von
Einbildungskraft und Verstand, das „vermittelst des Anlasses der gegebenen
Vorstellung“53 zwar auf die Wahrnehmung bezogen, in ihr allerdings nicht
mehr, wenn auch nicht weniger als ihren Anlass haben kann.54 An Stelle einer
Vorstellung von Gegenständen kann so ein Wohlgefallen erlebt werden, das
allein im fruchtbaren Zusammenspiel der Erkenntniskräfte ihren Grund hat
und wiederum zur Aufrechterhaltung dieses Spiels der Kräfte motivieren wird.
Auch dieses Wohlgefallen ist somit vom reflektierenden Grundzug dieser Er-
fahrung gekennzeichnet. Es wird von Kant daher scharf vom Wohlgefallen am
Angenehmen unterschieden, dem etwas – wie im sinnlichen Genuss – „un-
mittelbar gefällt“55. Das Wohlgefallen am Schönen ist „nicht eine Lust des
Genusses aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion“.56
Trotz ihres grundsätzlich reflektierenden Charakters führt diese Lust
jedoch nicht in einen rein selbstzweckhaften Genuss der eigenen Tätigkeit.
Vielmehr eröffnet sich gerade in der Reflexion eine Beziehung zur Erkenntnis.
Da die Lust darauf beruht, dass die Tätigkeiten der Einbildungskraft und des
Kants Analyse des Schönen nimmt somit die Grundzüge des Darstellungs-
begriffs aus der Kritik der reinen Vernunft auf, um diesen Begriff zugleich zu
erweitern und zu vertiefen. Es stellt sich im Zusammenhang des vorliegenden
Bandes jedoch die Frage, inwiefern es diese Deutung erlaubt, das Schöne als
eine lebendige Darstellung zu verstehen. Zur Beantwortung dieser Frage ist
zuallererst festzustellen, dass Kant in der Analytik des Schönen nur an einigen
wenigen Stellen die Semantik des ‚Lebens‘ bemüht. Dennoch erwecken seine
Beschreibungen immer wieder den Eindruck, dass das zentrale Zusammen-
spiel von Verstand und Einbildungskraft als ein lebendiges geschildert wird.
Und zwar in dem Sinne, dass der reflektierende Vollzug der Darstellung hier
gerade nicht auf einer engen Verzahnung eines bestimmten Begriffs und
einer einzelnen Anschauung beruht, was in Kants Text oft eher mechanische
Assoziationen nahelegt, sondern vielmehr auf einem „freien Spiele der
gesagt: „[I]ch muß unmittelbar an der Vorstellung desselben die Lust empfinden, und
sie kann mir durch keine Beweisgründe angeschwatzt werden.“ (AA 05, 285/KU, B 143)
Wenn Kant in beiden Zitaten nicht nur den Vollzug der Erfahrung, sondern auch die
Unmittelbarkeit des Bezugs auf den Gegenstand betont, dann ist damit gemeint, dass
dieser Bezug durch keinen Begriff vermittelt ist. Dies widerspricht nicht der Analyse,
dass die Erfahrung des Schönen und die Lust am Gegenstand wie in jeder Darstellung
reflektierend sind.
61
A A 05, 244/KU, B 75.
62
A A 05, 193/KU, B L.
Einbildungskraft und des Verstandes“63, das von Kant mit dem Leben und
dem Lebendigen assoziiert wird. Denn dieses ‚Spiel‘ ist nicht nur durch die
Freiheit von den Vorgaben eines Begriffs und der Absicht auf die Produktion
einer gegenständlichen Vorstellung gekennzeichnet. Es eröffnet den Vermögen
auch die Freiheit zur Betätigung in einem offenen Verhältnis gegen- und mit-
einander, die Kant zufolge eine „Belebung der Erkenntnißkräfte“64 nach sich
zieht und mit einem „Gefühl der Beförderung des Lebens“65 einhergeht. Die
Darstellung ist für Kant also, wenn vielleicht nicht lebendig, so doch be-
lebend, was sich wiederum in ihrem reflexiven Vollzug begründet und zugleich
auch das Bestreben um dessen Aufrechterhaltung motiviert: „Wir weilen bei
der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und
reproducirt“.66
Diese belebende, sich selbst erhaltende Darstellung mag dem heutigen Leser
die Vorstellung einer kontemplativen, sich selbst vertiefenden ästhetischen Er-
fahrung aufdrängen. Man sollte sich jedoch davor hüten, dieser Assoziation
in der Deutung Kants zu folgen. Kant bezieht das Schöne, wie schon mehr-
mals betont, nicht nur paradigmatisch auf die Natur statt auf die Kunst.67 Die
Erfahrung des Schönen führt trotz ihres strikt reflektierenden Vollzugs auch
über die selbstzweckhafte Kontemplation eines Kunstwerks hinaus. Denn
sie wird sich in Kants Sicht nicht zuletzt für die Erkenntnis selbst als förder-
lich erweisen, insofern sie mit einer ‚Belebung der Erkenntniskräfte‘ einher-
geht, genauer mit der „Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und
des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der ge-
gebenen Vorstellung einhelliger Thätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem
Erkenntniß überhaupt gehört“.68 Das Schöne ist somit zum einen nur mög-
lich, sofern das Ziel der Erkenntnis vorläufig ausgesetzt wird und die Freiheit
vom Begriff ein offenes Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand
erlaubt. Es ist der Erkenntnis zum anderen aber auch förderlich, weil es nicht
nur die Annahme der reflektierenden Urteilskraft am Einzelfall bekräftigt,
sondern auch eine ‚Belebung der Erkenntniskräfte‘ mit sich bringt. Der Be-
griff des Lebens verbindet so die ästhetische Form der Darstellung mit der
epistemischen Dimension der Erfahrung.
Das Erhabene
Kants schon zitierte Formulierung, derzufolge „das Schöne für die Darstellung
eines unbestimmten Verstandesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen
Vernunftbegriffs genommen“69 werden könne, legt nah, das Erhabene weit-
gehend parallel zum Schönen zu deuten. Tatsächlich bestätigt sich rasch, dass
die Erfahrung des Erhabenen wiederum auf einem reflektierten Vollzug be-
ruht, der zunächst von Anschauung und Einbildungskraft ausgeht und sodann
eines der höheren Erkenntnisvermögen involviert, dessen Tätigkeitsform sich
schließlich in Gestalt eines unbestimmten Begriffs darzustellen vermag. Vor
dem Hintergrund dieser gemeinsamen Struktur müssen die verschiedenen
Momente der Darstellung des Erhabenen jedoch zugleich scharf vom Schönen
unterschieden werden.
Bereits die ‚reflektierte Wahrnehmung‘ nimmt im Falle des Erhabenen eine
andere Form an als beim Schönen. Genauer nimmt die Wahrnehmung keine
bestimmte Form an, weil die Einbildungskraft es im Falle des Erhabenen mit
Gegenständen zu tun hat, die „schlechthin groß“70 sind, sodass sie bei ihrem
Versuch, die Gestalt des Wahrgenommenen zu synthetisieren, an Grenzen ge-
rät: „[E]s ist hier ein Gefühl der Unangemessenheit seiner Einbildungskraft
für die Idee eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft
ihr Maximum erreicht“.71 Anders als im Schönen scheitert die Einbildungs-
kraft letztlich, da sich zu große Gegenstände für ihre synthetische Tätigkeit als
‚zweckwidrig‘ erweisen, sodass auch kein Zusammenspiel mit dem Verstand
zustande kommen kann, das die Form des angeschauten Gegenstands voraus-
setzen würde.
Das Scheitern der Einbildungskraft wäre jedoch eine bloße Sackgasse,
würde es nicht ein anderes Erkenntnisvermögen involvieren und also
wiederum Teil eines reflektierenden Vollzugs über die bloße Wahrnehmung
hinaus sein. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die ‚Idee eines Ganzen‘. Denn die
Einbildungskraft scheitert daran, einen Gegenstand der Wahrnehmung im
Ganzen zu synthetisieren und anzuschauen, den die Vernunft unter Maßgabe
ihrer eigenen Ideen aber doch als Ganzes denken kann. So erweist sich die
69
A A 05, 244/KU, B 75. Wie Kant auch erläutert, liegt in beiden somit ein „Reflexionsurtheil“
vor, in dem das Wohlgefallen „auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche, bezogen wird;
mithin das Wohlgefallen an der bloßen Darstellung oder dem Vermögen derselben ge-
knüpft ist, wodurch das Vermögen der Darstellung oder die Einbildungskraft bei einer
gegebenen Anschauung mit dem Vermögen der Begriffe des Verstandes oder der Vernunft,
als Beförderung der letztern, in Einstimmung betrachtet wird.“ (AA 05, 244/KU, B 74)
70 A A 05, 248/KU, B 80.
71 A A 05, 252/KU, B 88.
72 A A 05, 260/KU, B 101. Ausführlich schildert Kant: „[S]o wie die Einbildungskraft und
Verstand in der Beurtheilung des Schönen durch ihre Einhelligkeit, so bringen Ein-
bildungskraft und Vernunft hier durch ihren Widerstreit subjective Zweckmäßigkeit der
Gemüthskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben,
oder ein Vermögen der Größenschätzung, dessen Vorzüglichkeit durch nichts anschaulich
gemacht werden kann, als durch die Unzulänglichkeit desjenigen Vermögens, welches in
Darstellung der Größen (sinnlicher Gegenstände) selbst unbegränzt ist“ (AA 05, 258/KU,
B 99).
73 A A 05, 280/KU, B 133. Dass die Anschauung als Mittel ‚gebraucht‘ wird, spiegelt sich auch
darin wider, dass ihr Gegenstand für die Aufgabe der Darstellung geeignet sein muss,
dass in Kants Worten „der Gegenstand zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die
im Gemüthe angetroffen werden kann“ (AA 05, 245/KU, B 76). Dass Darstellungen von
einer geeigneten Anschauung Gebrauch machen, ist ein durchgängiges Charakteristikum
der Darstellung bei Kant. Ich habe dies bereits für die geometrische Darstellung in der
Kritik der reinen Vernunft zu zeigen versucht, vgl. Schubbach, „Kants Konzeption der
geometrischen Darstellung“, S. 30f. Und Kant selbst deutet für das Schöne – im Unter-
schied zum Angenehmen – an, „daß es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst
mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme,
um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack“ (AA 05, 205/KU, B 6).
Insofern setzt das Schöne die „Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der
Lust zu machen“ (AA 05, 210/KU, B 15), voraus.
74
A A 05, 245/KU, B 77. Anders gesagt müssen „unsere Einbildungskraft in ihrer ganzen
Gränzlosigkeit und mit ihr die Natur als gegen die Ideen der Vernunft, wenn sie eine
ihnen angemessene Darstellung verschaffen soll, verschwindend vor[ge]stellt“ (AA 05,
257/KU, B 96) werden.
die als solche selbst niemals unmittelbare Gegenstände der Anschauung sein
können.
Der reflektierende Aspekt des Erhabenen ist wie beim Schönen aber auch
dahingehend zu verstehen, dass es letztlich die Vermögen und deren Be-
ziehungen sind, über die das Subjekt in einer solchen Darstellung Aufschluss
erhält. Im Falle des Schönen steht das in jeder Erkenntnis vorausgesetzte
Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand im Zentrum und damit
letztlich der Bezug des Subjekts zu den empirischen Gegenständen seiner Er-
kenntnis, was Kant im Nachlass in folgenden Worten fasst: „Die Schöne Dinge
zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der
Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.“75 Im Erhabenen findet
sich der Mensch dagegen noch stärker auf sich selbst und seine Vermögen ver-
wiesen, genauer auf die Vernunft als dasjenige Vermögen, das den Menschen
traditionell als nicht bloß sinnliches Wesen auszeichnet: „Erhaben ist, was auch
nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab
der Sinne übertrifft. [Hvh. i. O.]“76 Es geht im Erhabenen daher weniger um die
Erkenntnis und das Verhältnis des Menschen zur Natur als um seine Fähigkeit,
sich nicht durch das Sinnliche bestimmen zu lassen, sondern über das Sinn-
liche hinauszugreifen. Die Vernunft kommt damit vor allem im ‚mathematisch
Erhabenen‘ als theoretisches Vermögen ins Spiel, das über das Erkennbare
hinaus auf die Totalität und das Unbedingte abzielt.77 Vor allem im ‚dynamisch
Erhabenen‘ rückt die Vernunft dagegen als praktisches Vermögen und damit
als Fähigkeit zur Selbstbestimmung unseres Handelns ins Zentrum.78 Es ist
letztlich also die traditionell mit der Vernunft verbundene Alleinstellung oder
Würde des Menschen gegenüber der Natur, auf die die „erhabene Darstellung“79
zurückführt.
Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, das ‚Erhabene‘ würde
dazu führen, dass der Mensch sich von der Natur abwende. Vielmehr erschließt
es ein neues Verständnis der Natur: „Man kann das Erhabene so beschreiben:
es ist ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüth bestimmt,
sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken.
75 ants gesammelte Schriften, Bd. 16: Logik (= Dritte Abtheilung: Handschriftlicher Nachlaß,
K
Bd. 3), hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/Leipzig,
1924, S. 127.
76 A A 05, 250/KU, B 85.
77 Vgl. AA 05, 255–260/KU, B 93–102.
78 Vgl. AA 05, 261f./KU, B 104f.
79 A A 05, 273/KU, B 123.
[Hvh. i. O.]“80 Weil das Erhabene eine Form der Darstellung ist, führt sein
reflektierender Vollzug somit nicht auf ein rein subjektives Vermögen zurück,
sondern rückt das sinnliche Medium der Darstellung unter die Vorzeichen
der Vernunft. Anders als die Kritik der reinen Vernunft überführt die Kritik der
Urteilskraft die transzendenten Ansprüche der Vernunft also nicht in deren
regulativ-hypothetischen Gebrauch zum Zwecke der Systematisierung der Er-
kenntnisse. Vielmehr kann sie aufgrund ihrer Theorie der Darstellung darauf
beharren, dass wir uns im ‚Erhabenen‘ nicht nur der Größe unserer eigenen
theoretischen oder praktischen Vernunft bewusst werden, sondern uns diese
Größe auch in einer neuen Auffassung der Natur anschaulich machen.
Die Pointe dieser ästhetischen Form der Darstellung ist daher die Öffnung des
Sinnlichen gegenüber der praktischen Dimension der menschlichen Existenz,
was noch deutlicher wird, wenn wir auch die ‚erhabene Darstellung‘ auf ihre
Beziehung zum Begriff des Lebens hin befragen. Kant begreift sie wie schon
das Schöne eher als belebend denn als lebendig, wobei er jedoch verschiedene
Lebensbegriffe entwirft. Ein erster Aspekt betrifft wie beim Schönen eine ge-
wisse Vitalität des ‚Gemüts‘ und seiner Vermögen. Gegenüber der Belebung der
Erkenntniskräfte im harmonischen Zusammenspiel von Einbildungskraft und
Verstand erweist sich die ‚erhabene Darstellung‘ jedoch als wechselhaft und
daher heftiger. Im Umschlag von der Zweckwidrigkeit der Wahrnehmung für
die Einbildungskraft zu ihrer Zweckmäßigkeit für die Vernunft schlägt nämlich
die Unlust, die mit dem Scheitern der Einbildungskraft einhergeht, in die Lust
um, die das Übertreffen der Sinnlichkeit durch die Vernunftideen erregt.81 Es
80 A A 05, 268/KU, B 115. An anderer Stelle heißt es: „Buchstäblich genommen und logisch
betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden. Aber wenn wir unser empirisches Vor-
stellungsvermögen […] für die Anschauung der Natur erweitern: so tritt unausbleiblich
die Vernunft hinzu, als Vermögen der Independenz der absoluten Totalität, und bringt
die, obzwar vergebliche, Bestrebung des Gemüths hervor, die Vorstellung der Sinne
diesen angemessen zu machen. Diese Bestrebung und das Gefühl der Unerreichbarkeit
der Idee durch die Einbildungskraft ist selbst eine Darstellung der subjectiven Zweck-
mäßigkeit unseres Gemüths im Gebrauche der Einbildungskraft für dessen übersinnliche
Bestimmung und nöthigt uns, subjectiv die Natur selbst in ihrer Totalität, als Darstellung
von etwas Übersinnlichem, zu denken, ohne diese Darstellung objectiv zu Stande bringen
zu können.“ (AA 05, 268/KU, B 115f.)
81 „Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit
der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die
Vernunft und eine dabei zugleich erweckte Lust aus der Übereinstimmung eben dieses
Philosophie – also die Sicht auf ein Leben, das auf Moralität in Kants Sinne
beruht und in der Selbstbestimmung des Menschen besteht.85 Ein solches
praktisches Leben der Moralität kann sich jedoch nur Geltung verschaffen,
wenn es sich gegen die Sinnlichkeit durchsetzt, indem es sich die Sinnlichkeit
zu Nutze macht, sie kultiviert und damit gegen ihre eigenen Bedürfnisse neu
ausrichtet auf die Absicht der Vernunft, sich aus Freiheit selbst zu bestimmen.
Dieses Leben ist es, auf das uns die ‚erhabene Darstellung‘ letztlich hinführen
soll, indem sie die Einbildungskraft dazu anleitet, ‚die Natur als Schema für die
Ideen‘ zu nehmen.
In der ‚erhabenen Darstellung‘ wird die Natur also zum Medium der Dar-
stellung von Ideen und letztlich der Selbstbestimmung durch die Vernunft.
Eine solche Darstellung darf jedoch nicht selbstverständlich oder gar als dem
Menschen natürlich vorausgesetzt werden, wie Kant betont, sondern bedarf
einer Kultivierung, die die „Empfänglichkeit desselben [des Gemüths, Anm.
d. A.] für Ideen“86 befördert. Sie ist aber zugleich Treibmittel einer solchen
Kultivierung, zu der der Mensch prinzipiell in der Lage ist, ohne dass sie
schlechthin angenommen werden kann.87 Die ‚erhabene Darstellung‘ ist folg-
lich im Zusammenhang eines Prozesses der Kultivierung zu begreifen, die an
der Sinnlichkeit oder Animalität des Menschen ansetzt, um sie zum Mittel und
Medium seiner Moralität und Selbstbestimmung zu machen.88
In diesem Zusammenhang können Formulierungen Kants, die den Be-
griff der Darstellung prima facie unscharf fassen, bei genauerer Betrachtung
auch dahingehend gedeutet werden, dass sie die Konsequenzen einer solchen
85 In der Kritik der praktischen Vernunft wird Leben in der Perspektive der praktischen
Philosophie wie folgt definiert: „Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen
des Begehrungsvermögens zu handeln.“ (AA 05, 9, Anm.) Vgl. auch Kants gesammelte
Schriften, Bd. 6: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik
der Sitten, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1914,
S. 211.
86 A A 05, 265/KU, B 110.
87 Vgl. den ganzen Paragraphen 29 in der Kritik der Urteilskraft AA 05, 264–266/KU, B 110–
113, besonders AA 05, 265/KU, B 111f.: „Darum aber, weil das Urtheil über das Erhabene der
Natur Cultur bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von
der Cultur zuerst erzeugt und etwa bloß conventionsmäßig in der Gesellschaft eingeführt;
sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur und zwar demjenigen, was
man mit dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen und von ihm fordern
kann, nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen.“
88 Der Kulturbegriff Kants ist geradezu definiert als ein solcher Prozess der Kultivierung
des Animalischen, durch das es geeignet gemacht wird zur Moralität, vgl. dazu Wolfgang
Bartuschat, „Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit“, in: Naturplan und Verfalls-
kritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer,
Frankfurt a.M., 1984, S. 69–93.
Schluss
Unter dem Begriff der Darstellung analysiert Kant Formen von Erfahrung, in
denen nicht der Bezug auf den Gegenstand der Erfahrung dominant ist, sondern
ihr reflektierender Vollzug, der von der Anschauung ausgeht und zugleich Ver-
stand oder Vernunft involviert. Dadurch kann sich in der Anschauung im Falle
des Schönen ein unbestimmter Verstandesbegriff, im Falle des Erhabenen da-
gegen ein unbestimmter Vernunftbegriff darstellen. Diese ästhetischen Formen
der Darstellung eröffnen damit aber zugleich unterschiedliche Beziehungen zu
epistemischen und ethischen Dimensionen der Erfahrung: Im Schönen zeigt
sich die Zweckmäßigkeit der natürlichen Dinge für die Erkenntnisvermögen
des Subjekts – und stellt sich der Begriff der subjektiven Zweckmäßigkeit der
89
A A 05, 244/KU, B 74.
Natur dar; im Erhabenen erfahren wir gegenüber der Natur die Größe unserer
eigenen Vernunft – und werden dazu ermuntert, ‚die Natur als ein Schema‘
zur Darstellung der Ideen und letztlich unserer Freiheit zu betrachten. Für
diese Verbindungen der ästhetischen Formen der Darstellung zur Erkenntnis
und zur Selbstbestimmung des Handelns hat sich als bedeutsam erwiesen,
dass ästhetische Darstellungen eine Belebung mit sich bringen, die das vitale,
praktische und kulturelle Leben des Gemüts gleichermaßen einschließt.
Dreh- und Angelpunkt dieser Formen der Darstellung ist aber nicht der
Gegenstand, sondern der reflektierende Vollzug der Anschauung. Die Gegen-
stände der Anschauung erfahren daher nur insofern Aufmerksamkeit, als sie
zum Zwecke der jeweiligen Form der Darstellung geeignet sein müssen. Im
Zusammenhang der Analytiken des Schönen und des Erhabenen scheint der
Begriff der Darstellung daher geradezu systematisch auszuschließen, ins-
besondere künstlerische Werke nicht nur als Anlässe für ihre Erfahrung zu
verstehen, die die Form einer Darstellung annimmt, sondern sie selbst als
Darstellungen zu verstehen, deren inhärente und konkrete Verfasstheit von
prägender Bedeutung ist für ihre Erfahrung. Kants Beitrag zur Reflexion auf
die lebendige Darstellung, insofern sie sich auf die schönen Künste und die
ästhetische Erfahrung bezieht, scheint daher zumindest in dieser Hinsicht von
durchaus begrenzter Reichweite.
Diese Vermutung stützt sich allerdings allein auf die behandelten
Analytiken des Schönen und des Erhabenen. Es muss daher abschließend
geprüft werden, inwieweit die zwei Formen der Darstellung, die Kant mit
Bezug auf die Literatur und ihre „lebhafte Darstellung in Beispielen“90, die
„malerische Darstellung“91 oder die „körperliche Darstellung“92 in der Plastik
einführt, einen anderen Befund ergeben. Auf die schönen Künste geht Kant
erst in der „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“ sowie in der „Dialektik
der ästhetischen Urteilskraft“ ein und diskutiert in diesem Zusammenhang die
„Darstellung ästhetischer Ideen“93 sowie die „Hypotypose (Darstellung, subiecto
sub adspectum)“94. Mit diesen beiden Formen der Darstellung verbindet Kant
90
A A 05, 327/KU, B 217. Wo Kant meines Wissens das einzige Mal von ‚lebendiger Dar-
stellung‘ spricht, handelt es sich wohl um keine trennscharfe Formulierung. Denn die
„lebendige Darstellung der moralischen Gesinnung an Beispielen“ (AA 05, 160) meint
wohl nichts anderes als die gerade zitierte ‚lebhafte Darstellung in Beispielen‘. Letztlich
scheinen mir beide Stellen im Sinne meiner obigen Ausführung eher eine ‚belebende
Darstellung‘ denn eine ‚lebendige Darstellung‘ zu bezeichnen.
91
A A 05, 325/KU, B 213.
92
A A 05, 322/KU, B 208.
93
A A 05, 314/KU, B 192. Die schönen Künste spielen jedoch auch bereits in Paragraph 17
„Vom Ideale der Schönheit“ eine zentrale Rolle, vgl. AA 05, 231–236/KU, B 53–61.
94 A A 05, 351/KU, B 255.
übergehe ich daher die Hypotypose, auch wenn sie vor allem in der literatur-
wissenschaftlichen Forschung so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Die ‚ästhetische Idee‘, wie sie in Paragraph 49 eingeführt und in dem
bereits behandelten Paragraphen 57 nochmals diskutiert wird, ist zunächst
in Analogie und als Komplement zur ‚Vernunft-‘ oder „intellectuellen Idee“97
definiert: Beide sind als Ideen nicht der Erkenntnis zugänglich, weil sie eine
Synthese von Begriff und Anschauung unmöglich machen, was im Falle der
‚intellektuellen Idee‘ jedoch daran liegt, dass sie ein Begriff ist, dem keine An-
schauung korrespondieren kann, während wir es im Falle der ‚ästhetischen
Idee‘ mit einer Anschauung zu tun haben, die durch keinen Begriff gefasst
werden kann. Kant versteht sie so als „Vorstellung der Einbildungskraft, die
viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke,
d.i. Begriff, adäquat sein kann“.98 Wo eine unmittelbare Korrespondenz von
Begriff und Anschauung nicht möglich ist, setzt auch hier der Begriff der
Darstellung ein. Es geht Kant jedoch nicht darum, zu der ästhetischen Idee,
der kein Begriff angemessen sein kann, doch wieder einen Begriff zu finden,
der die Anschauung in irgendeinem Sinne darstellen würde. Vielmehr hält
er an der Konzeption der Darstellung fest, derzufolge sie Begriffe anschau-
lich macht, und betrachtet den Umstand, dass der ästhetischen Idee kein
Begriff angemessen sein kann, als mögliches Mittel für eine neue Form der
„Darstellung eines gegebenen Begriffs“.99 Es geht ihm dabei nicht wie in der
Mathematik um Begriffe, die qua Konstruktion durch korrespondierende An-
schauungen dargestellt werden können, sondern vielmehr um solche Begriffe,
die wie die ‚Vernunftideen‘ selbst unbestimmt sind und daher „nicht adäquat
dargestellt werden“100 können. Indem sie mit einer Anschauung verbunden
werden, die über jeden Begriff hinausgeht, wird ihnen durch die „Nebenvor-
stellungen der Einbildungskraft“101 ein ganzes Feld von sinnlichen Attributen
hinzugefügt, durch die jene Ideen veranschaulicht werden sollen. Die Unmög-
lichkeit, die ästhetische Idee durch einen Begriff zu fassen, erscheint so als die
Möglichkeit, einen Begriff respektive eine ‚Vernunftidee‘ „ästhetisch erweitert“
Regel gebunden ist und daher ein freies Zusammenspiel von Anschauung, Verstand und
Vernunft zustande kommen kann.
97 A A 05, 314/KU, B 193.
98 A A 05, 314/KU, B 192f.
99 Wie sehr Kant die ästhetische Idee von der ‚Darstellung eines gegebenen Begriffs‘ her
fasst, wird in den Beispielen und Schilderungen von Paragraph 49 deutlich, vgl. AA 05,
314–318/KU, B 194–200.
100
A A 05, 315/KU, B 195.
101
A A 05, 315/KU, B 194f.
darzustellen.102 Eine solche Darstellung wird aber kaum möglich sein ohne
den reflektierenden Vollzug im Ausgang von der Anschauung. Die ‚ästhetische
Idee‘ muss eine Reflektion in Gang setzen, die auf einen zumindest teilweise
unbestimmten Begriff abzielt und Aspekte der ‚Nebenvorstellungen der Ein-
bildungskraft‘ auf ihn überträgt. Um welchen Begriff oder welche ‚Vernunftidee‘
es sich dabei handelt, wird letztlich nicht wie im Schönen oder Erhabenen aus
einer Konstellation der Erkenntnisvermögen, sondern aus dem Zusammen-
hang eines Kunstwerks oder einer Dichtung zu bestimmen sein.
Diese Form der Darstellung versteht Kant wiederum als belebend, weil sie
die Vermögen ohne Voraussetzung eines bestimmten Begriffs miteinander
in Beziehung setzt. Statt Begriffe und Anschauungen miteinander zu ver-
zahnen und zu einer gegenständlichen Vorstellung zu verbinden, setzt die
‚Darstellung ästhetischer Ideen‘ – wie das Schöne und das Erhabene – einen
vom Begriff freien und in diesem Sinne offeneren reflektierenden Vollzug
von Einbildungskraft, Verstand und Vernunft voraus, der letztlich wiederum
zur Tätigkeit anregen soll. Diese Darstellung zielt vielleicht mehr noch als auf
eine ‚Vernunftidee‘ auf die Belebung der Erkenntnisvermögen ab, bezieht sich
Kant doch auf „eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer
Darstellung dient, eigentlich aber um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm
die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“.103
Diese Belebung schließt wie schon beim Schönen die Erkenntniskräfte ein und
befördert daher mittelbar auch die Erkenntnis: Die ästhetische Idee dient in
diesem Sinne „nicht sowohl objectiv zum Erkenntnisse, als subjectiv zur Be-
lebung der Erkenntnißkräfte, indirect also doch auch zu Erkenntnissen“.104
Der Begriff des Lebens beziehungsweise die Charakterisierung der be-
lebenden Darstellung schlägt somit erneut eine Verbindung vom Ästhetischen
und genauer vom Künstlerischen zum Epistemischen. Die Belebung verdankt
sich also nicht mehr einem Zusammenspiel der Erkenntniskräfte, das in der
Wahrnehmung lediglich seinen Anlass hätte. Vielmehr ist es nun eine künst-
lerische Praxis, die eine solche Belebung hervorruft, indem sie einen freien
102 Im Zusammenhang zitiert: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungs-
kraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu
denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt,
mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungs-
kraft hiebei schöpferisch und bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft)
in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu
dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden
kann.“ (AA 05, 314f./KU, B 194f.)
103 A A 05, 315/KU, B 195.
104 A A 05, 317/KU, B 198.
Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe bei-
gesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltig-
keit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist,
daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden
werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt,
dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem
Buchstaben, Geist verbindet.105
Die Belebung durch die Darstellung mit Hilfe einer ‚ästhetischen Idee‘ geht also
vom Kunstwerk aus und hängt von seinem ‚freien Gebrauche‘ einer ‚Mannig-
faltigkeit‘ von ‚Teilvorstellungen‘ ab, unterhält als Belebung der Erkenntnis-
kräfte aber doch eine mittelbare Beziehung auf die epistemische Dimension
der Erfahrung.
Die Darstellung ästhetischer Ideen nähert sich so einer lebendigen Dar-
stellung an. Nicht nur bringt sie den reflektierenden Vollzug der Darstellung
eng mit dem Leben der Erkenntniskräfte zusammen. Sie bezieht sich auch
anders als das Schöne oder das Erhabene auf die schönen Künste und weist
die mit ihr einhergehende Belebung zumindest teilweise auch dem Kunstwerk
zu, das nicht nur als Anlass eines freien Zusammenspiels der Erkenntniskräfte
fungiert, sondern durch den ‚freien Gebrauche‘ einer ‚Mannigfaltigkeit‘ von
‚Teilvorstellungen‘ auch einen konkreten Raum zur Belebung der Erkenntnis-
kräfte aufzuspannen vermag, ohne sie gleich an einen bestimmten Begriff oder
durch eine Regel zu binden. Die ‚Darstellung ästhetischer Ideen‘ weist so einen
Weg auf, der eigenen Verfasstheit des Kunstwerks und ihrer Bedeutung für die
Erfahrung zumindest insofern Rechnung zu tragen, als sie das semantische
‚Feld verwandter Vorstellungen‘ im Kunstwerk einbezieht.
Dennoch stellt sich die Frage, ob der Versuch, Kants Konzeption der Dar-
stellung auf die Frage der lebendigen Darstellung zu beziehen, nicht doch auf
Grenzen stößt. Insbesondere scheint Kants durchgängige Annahme, der Zu-
sammenhang von Darstellung und Leben sei letztlich dahingehend zu fassen,
dass Darstellungen in ihrem reflektierenden Vollzug belebend auf die Erkennt-
niskräfte wirken, zumindest einen scharfen Unterschied zu einer Pointe des
Begriffs der lebendigen Darstellung zu markieren. Denn die Belebung, von der
Kant spricht, geht stets vom Leben des Gemüts aus und bezieht sich auf das in
sich vielfältige Leben der Erkenntniskräfte. Alle Darstellung könnte demnach
105
A A 05, 316/KU, B 197.
nur ein Leben freisetzen und anregen, das letztlich in der Tätigkeit der Ver-
mögen und in der Empfindung des Gemüts wurzelt. Der Begriff der lebendigen
Darstellung um 1800 kann jedoch gerade auch dahingehend zugespitzt werden,
dass der Darstellung ein Eigenleben zukommt, das nicht zurückzubinden
ist an die Tätigkeit der Vermögen.106 In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts
wird diese Thematik – folgt man Inka Mülder-Bach – exemplarisch an der
Geschichte des Bildhauers Pygmalion diskutiert, dessen Statue mit der Fertig-
stellung lebendig wird und selbst von ihrem Piedestal herabsteigt: Diese Ver-
lebendigung verdanke sich gerade nicht der Einbildungskraft und Imagination
Pygmalions, sondern dem Eigenleben seiner Darstellung.107 Anders formuliert
hat die Darstellung ein eigenes Leben, insofern sie aus sich hervortreten lässt,
was sie darstellt, statt auf die Tätigkeiten der Vermögen und insbesondere die
Einbildungskraft angewiesen zu sein, die sich in ihrem reflektierenden Vollzug
etwas anschaulich darstellen.
Eine lebendige Darstellung in diesem Sinne kennt Kant meines Erachtens
nicht, da er jede Darstellung als einen reflektierenden Vollzug der Vermögen
versteht, der idealiter wiederum dieselben Vermögen beleben wird. Es ist
innerhalb der Philosophiegeschichte vielmehr Hegel, der nicht zuletzt in der
gleichzeitigen Kritik und Fortentwicklung von Kants Konzeption der Dar-
stellung für die Philosophie selbst eine Form der lebendigen Darstellung in
Anspruch nimmt. Die „speculative Darstellung“108 soll in dem Sinne tatsäch-
lich lebendig sein, dass sie ein Leben zum Ausdruck bringt, das nicht auf das
Bewusstsein zurückgeht, sondern es in seiner historischen Entwicklung um-
greift. Für Hegel handelt es sich dabei um das „eigne Leben des Begriffs“109,
der zwar wie im Wissen auch in der Kunst und der Religion seinen Ausdruck
findet, aber letztlich doch das Begreifen und die Erkenntnis privilegiert.
Darstellung und Leben gehen in der Philosophie um 1800 so eine enge Ver-
bindung ein und beziehen sich dabei immer wieder auch auf die schönen
Künste. Es liegt jedoch die Vermutung nah, dass die Philosophie sich selbst
dann, wenn sie wie bei Hegel eine Konzeption lebendiger Darstellung im
Literatur
Arndt, Hans Werner, Methodo scientifica pertractum. Mos geometricus und Kalkülbe-
griff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New
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und Fritz Wefelmeyer, Frankfurt a.M., 1984, S. 69–93.
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demie der Wissenschaften, Berlin, 1900ff.
Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hg. von Peter H. Nidditch,
Oxford, 1975.
Das Sonnenmikroskop erzeugt sein Bild anders als das klassische Mikroskop
nicht im Auge eines einzelnen Betrachters, sondern auf der Wand eines ab-
gedunkelten Raumes. Das Licht der Sonne bringt im Dunkeln das stark ver-
größerte Abbild kleinster oder mit bloßem Auge unsichtbarer Objekte im
eigentlichen Wortsinne zum Leuchten. Zahlreiche noch erhaltene Exemplare
in europäischen Sammlungen zeugen von der enormen Verbreitung und Be-
liebtheit des Instruments im 18. Jahrhundert.1 In der Zeit der Aufklärung
erfüllten Sonnenmikroskope das Ideal von nützlichem Zeitvertreib und
gentleman science, von gelehrter Unterhaltung und kunstvoller Wissenschaft
in besonderer Weise, da sie mikroskopisches Wissen öffentlich demonstrierten
und einem Publikum zur Diskussion stellten.2 Sie sind Teil einer ,sozialen
Geschichte‘ der Mikroskopie3 ebenso wie der Zeit des Rokoko, einer Epoche,
in der Geselligkeit, höfisches Leben und kultivierte Sinnlichkeit Signum der
Kultur, aber nicht weniger ihrer Wissenschaft waren. Unzählige Mikroskopier-
bücher, populäre Schriften und wissenschaftliche Traktate berichten von
dem Instrument und seinem Gebrauch. Zu den bekanntesten, mehrfach auf-
gelegten und in viele Sprachen übersetzten Werken dieser Zeit gehören die
Mikroskopischen Gemüths- und Augen-Ergötzung von Martin Frobenius Leder-
müller (1719–1769), die Insecten-Belustigungen Johann Rösel von Rosenhofs
1 Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in Luisa Feiersinger (Hg.), Scientific Fiction. In-
szenierungen der Wissenschaft zwischen Film, Fakt und Fiktion, Berlin, 2018 (= Bildwelten
des Wissens 14), S. 10–20. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des De
Gruyter Verlages. Peter Heering, „The Enlightened Microscope: Re-enactment and Analysis
of Projections with Eighteenth-Century Solar Microscopes“, in: The British Journal for the
History of Science 41/3, 2008, S. 345–367. Heering zählt allein 83 Exemplare in den großen
europäischen Sammlungen und Museen.
2 Vgl. zur Wissenschaft der Aufklärung: William Clark, Jan Golinski und Simon Schaffer (Hg.),
The Sciences in Enlightened Europe, Chicago/London, 1999; Roy Porter (Hg.), The Cambridge
History of Science, Bd. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge, 2003; Ulrich Johannes
Schneider, Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Göttingen, 2008; Barbara Maria Stafford,
Artful Science. Enlightenment, Entertainment, and the Eclipse of Visual Education, Cambridge,
1994.
3 Jim Bennett, „The Social History of the Microscope“, in: Journal of Microscopy 155/3, 1989,
S. 267–280.
(1705–1759) und Das Neueste aus dem Reich der Pflanzen des Wilhelm Friedrich
von Gleichen-Rußworm (1717–1783).4
Die folgenden Überlegungen widmen sich einer unbeachtet gebliebenen
Seite der Sonnenmikroskopie, die gleichwohl in ihrem Zentrum steht: Auf-
führungen mit dem Sonnenmikroskop waren performative Handlungen.
Sie waren Akte des Zeigens und Sichtbarmachens unter der besonderen Be-
dingung der Darstellung auf einer illuminierten Bildfläche.5 Zur Zeit der
Aufklärung entfalteten optische Instrumente erstmals eine breite, vielfältige
wissenschaftliche und soziale Wirkmächtigkeit. Mit ihnen erwuchs ein neues
‚Bildungsideal‘, das sich an der Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit des
Menschen orientierte.6 Die Instrumente waren gleichermaßen die ‚optische
Ergänzung‘ zu den gelehrten Bibliotheken: Sie führten das „trockene und dia-
grammatische“ Wissen aus Handbüchern und Lexika in „theatralischen Auf-
führungen“ schwungvoll vor Augen.7 Worum es im Folgenden geht, sind indes
weder die gelehrten Diskussionen, die das gemeinsame Schauen begleiteten,8
9 Vgl. Stafford, Body Criticism; vgl. auch dies., Artful Science; sowie dies. und Frances Terpak,
Devices of Wonder. From the World in a Box to Images on a Screen, Los Angeles, 2001.
10 Vgl. Fischel, „Optik und Utopie“; vgl. auch dies. (Hg.), Instrumente des Sehens, Berlin, 2004
(= Bildwelten des Wissens, Bd. 2/2); Friedrich Klemm, „Martin Frobenius Ledermüller. Aus
der Zeit der Salon-Mikroskopie des Rokoko“, in: Optische Rundschau 45–48, 1927, S. 535–
537, 552–554, 568–569, 580–582; zum Kontext der Buchtradition der Stadt Nürnberg, die
im 18. Jahrhundert das deutsche Zentrum und neben London der bedeutendste Verlagsort
des naturwissenschaftlichen Buchhandels und der naturgeschichtlichen Buchillustration
war und in der namhafte Künstlerfamilien und Wissenschaftler wirkten, vgl. Heidrun
Ludwig, Nürnberger naturhistorische Malerei im 17. und 18. Jahrhundert, Diss., Berlin, 1993;
Wilhelm Schwemmer, Nürnberger Kunst im 18. Jahrhundert, Nürnberg, 1974; Claus Nissen,
Die botanische Buchillustration, 3 Bde., Stuttgart, 1966; Thomas Schnalke, Natur im Bild.
Anatomie und Botanik in der Sammlung des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew, Aus-
stellungskatalog, Erlangen, 1995; Richard Wegner, „Christoph Jacob Trew (1695–1769). Ein
Führer zur Blütezeit naturwissenschaftlicher Abbildungswerke in Nürnberg im 18. Jahr-
hundert“, in: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin, der Naturwissenschaften und der
Technik 39, 1940, S. 218–228.
11 Vgl. Fischel, „Optik und Utopie“, S. 257 u. 259.
Abb. 11.1
Tab. I „Das Cuffsche
Sonnenmikroskop, nebst der
finsteren Kammer“ (1762),
Kupferstich von A. W.
Winterschmidt
Abb. 11.2
Tab. XXI „Ein besonderes
Kästchen zum
Sonnenmikroskop“ (1762),
Kupferstich von A.W.
Winterschmidt
Der Floh gehört seit Robert Hookes Abbildung in der Micrographia von 1665
zu den vermutlich bekanntesten mikroskopischen Bildsujets überhaupt. Seine
Darstellung ist ein Sinnbild für die Macht der Vergrößerung. Auch Martin
Frobenius Ledermüller illustriert die Leistung seines Sonnenmikroskops an
diesem Beispiel.15 Obwohl „die weiße Wand, woran ich die Objecta zu werfen
pflege, […] über vier und eine halbe Ele hoch“ sei, „langt sie nicht hin […], den
Floh aufrecht […] dahin zu bringen“. Mit den entsprechenden Linsengrößen
jedoch lässt er sich „nach allen seinen äußerlichen und innerlichen Theilen,
vollkommen hell, klar und durchsichtig, betrachten“.16 Die Größe eines zu
15 Zu Ledermüller vgl. Karl Wilhelm Naumann, Ledermüller und von Gleichen-Russworm.
Zwei deutsche Mikroskopisten der Zopfzeit, Leipzig, 1926; Klemm, „Ledermüller“; Emil
Reicke (Hg.), Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius
Ledermüller und dessen seltsame Lebensschicksale, Leipzig, 1923; Ratcliff, Quest for the
Invisible, S. 184–188; ders., Genèse d’une découverte. La division des infusoires (1765–1766),
Paris, 2016.
16 Martin Frobenius Ledermüller, Physicalische Beobachtungen derer Saamenthiergens,
durch die allerbesten Vergrößerungs-Gläser und bequemlichsten Microscope betrachtet; und
kaum vorstellbaren Maßen angewachsenen Insekts ist jedoch nur eine Wahr-
nehmung; seine Bewegung eine andere. Bewegung aber gehört zu den hervor-
stechendsten Merkmalen von Insekten:
Ein Blick in den Saal verriet dem jungen Pepusch sogleich die Ursache des
fürchterlichen Entsetzens, daß die Leute fortgetrieben. Alles lebte darin, ein
ekelhaftes Gewirr der scheußlichsten Kreaturen erfüllte den ganzen Raum.
Das Geschlecht der Pucerons, der Käfer, der Spinnen, der Schlammtiere bis
zum Übermaß vergrößert, streckte seine Rüssel aus, schritt daher auf hohen
haarichten Beinen, und die greulichen Ameisenräuber faßten, zerquetschten
mit ihren zackichten Zangen die Schnacken, die sich wehrten und um sich
schlugen mit den langen Flügeln, und dazwischen wanden sich Essigschlangen,
Kleisteraale, hundertarmichte Polypen durcheinander und aus allen Zwischen-
räumen kuckten Infusionstiere mit verzerrten menschlichen Gesichtern. Ab-
scheulicheres hatte Pepusch nie geschaut.17
Der Aufruhr im Saal ist das Werk eines Sonnenmikroskops, die Darstellung
wiederum eine literarische Imagination, erzählt 1822 von E.T.A. Hoffmann
in seiner Geschichte Meister Floh. Das Bild des Schreckens, erzeugt durch
Vergrößerung und Bewegung, wird in der Metaphorik des Schauspiels in
Worte gefasst. Der winzige Floh erscheint nicht nur monströs vergrößert,
verschiedenste Insekten strecken und schreiten, winden und schlagen sich
durch den Bildraum, alles ist Gewirr und Durcheinander, alles ist verzerrt und
lebendig.18
Tafel LXXV (Abb. 11.3) der Gemüths- und Augen-Ergötzung zeigt als „Fig. 1“
ebenfalls ein Insekt, den „Arlequin“, ein „Schlammwasser Inseckt“. Das Tier ist
fein und präzise gezeichnet. Die obere Bildhälfte zeigt seine Anatomie und Er-
scheinung in hoher Vergrößerung und markanter Farbigkeit. Zugleich zeigt sie
in Figur 1a entlang des oberen Bildrandes in einer Folge von kleinsten Bildern
das natürliche Insekt, einer roten Schleife gleich, sich krümmen und winden,
schlängeln und aufrollen. Sternchen dienen zur Markierung der Bewegungen.
Abb. 11.3
Tab. LXXV „Der Arlequin, ein
Schlammwasser Inseckt“ (1761),
Kupferstich von G. P. Nußbiegel
Gleichwohl gibt die Folge nur ein schwaches Bild dessen, was Ledermüller
beobachtete:
Fläche und dem Grunde des Wassers, im Gleichgewichte, wie ein Fisch, zu er-
halten weiß.19
Lebensvolle Bewegung
Abb. 11.4
Tab. LV „Die Menschenhaut und
deren Schweißlöcher“ (1761),
Kupferstich von G. P. Nußbiegel
26 Zur Geschichte der Spermien vgl. Francis Joseph Cole, Early Theories of Sexual Generation,
Oxford, 1930; Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française du XVIIIe siècle.
La génération des animaux de Descartes à l’Encyclopédie, Paris, 1963; Florence Vienne,
„Organic Molecules, Parasites, ‚Urthiere‘: the Contested Nature of Spermatic Animalcules,
1749–1841“, in: Gender, Race and Reproduction. Philosophy and the Early Life Sciences in
Context, hg. von Susanne Lettow, Albany, 2014, S. 45–64.
27 Ledermüller, Physicalische Beobachtungen, S. 21–22.
28 Ebd., S. 11, vgl. auch ebd., S. 22; siehe auch ders., Versuch einer gründlichen Vertheidigung
derer Saamengethiergen: nebst einer kurzen Beschreibung der Leeuwenhoeckischen
Mikroskopien und einem Entwurf zu einer vollständigern Geschichte des Sonnenmikroskops
als der besten Rechtfertigung der Leeuwenhoeckischen Beobachtungen, Nürnberg, 1758,
S. 21.
entweder das von ihm benutzte Sperma bereits „zu alt und zu glutinos […]
gewesen seyn“. Zu trockenes Sperma sei wie eine „klebrige Masse“, die „ihre
Schwänzgen [der Spermien, Anm. d. A.] wie angeleimt“ festhielte.29 Oder aber
Buffon könne schlicht kein Sonnenmikroskop benutzt haben.30
Spermien waren nur eine Erscheinung innerhalb einer ganzen Gruppe
schwer zu deutender Phänomene, die in Aufgüssen unter dem Mikroskop
sichtbar wurden und für die es so zahlreiche Namen wie animalcula, dierken,
fish, protozoa, infusoria, Urtierchen und andere gab.31 Das Sonnenmikro-
skop erlaubte es Ledermüller, in allen möglichen „kleinen Waßer-Insecten“,
„Regenwasser-Würme[n]“, „Wasserflöhe[n], Boucerons, Radthiere[n]“ und
„Schlänglein“ „die Bewegung der innersten Eingeweyde, den Pulsschlag, das
Auf- und Absteigen derer Lebens-Säffte und des Geblütes, das Absterben aller
Glieder etc. sehr groß und deutlich [zu] zeigen“.32
Inspiriert von Ledermüllers Gemüths- und Augen-Ergötzung wandte sich der
adelige Wilhelm Friedrich von Gleichen gen. Rußworm ebenfalls der Mikro-
skopie zu.33 Nach dem Neuesten aus dem Reich der Pflanzen veröffentlichte er
1778 die Abhandlung über die Saamen- und Infusionsthierchen. Immer wieder
vergleicht auch er darin den Samen mit den Fröschen. So wie schlüpfende
Kaulquappen, „die das wahre Schauspiel im Großen vorstellen“, sind es die
Samen „im Kleinen“, die „unter dem Vergrößerungsglase“ nicht „einen Augen-
blick“ Anlass zum Zweifel gäben, „daß diese Thierchen eine selbständige (aus
ihnen selbst herkommende) oder freiwillige Bewegung haben“ (vgl. Abb. 11.5).34
Abb. 11.5
Tab. XXVI „Infusionen von
Hanfsaamen“ (1778),
Kupferstich von A. W.
Winterschmidt
Sie haben die Kraft, mitten in ihrer Fahrt Halt zu machen, sich um, und von
einer Seite zur anderen, zu werfen und zu wenden […]; einen anderen Weg zu
nehmen; das Vermögen sich den hindernden Schleimtheilchen zu widersetzen,
sie zu bewegen und fortzustoßen; Ueberlegung, ihren Körper zusammen zu
ziehen; […] sich zu krümmen […] endlich Leidenschaften zu erkennen zu geben,
wenn sie sich Truppenweis versammeln, gesellschaftlich miteinander fortgehen,
und sich wieder trennen […] oder sich paarweis vereinigen.38
Fazit
Literatur
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Breidbach, Olaf, Kerrin Klinger und André Karliczek (Hg.), Natur im Kasten. Lichtbild,
Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck um 1800, Jena, 2010.
38 Ebd., S. 98–99.
Clark, William, Jan Golinski und Simon Schaffer (Hg.), The Sciences in Enlightened Eu-
rope, Chicago/London, 1999.
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Farley, John, The Spontaneous Generation Controversy from Descartes to Oparin, Balti-
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Gleichen-Rußworm, Wilhelm Friedrich von, Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen,
oder Mikroskopische Untersuchungen und Beobachtungen der geheimen Zeugungs-
theile der Pflanzen in ihren Blüten, und der in denselben befindlichen Insekten […];
herausgegeben, verlegt und mit den nöthigen in Kupfer gestochenen und illuminirten
Abbildungen versehen, von Johann Christoph Keller, Maler in Nürnberg, Nürnberg,
1764.
Gleichen-Rußworm, Wilhelm Friedrich von, Abhandlung ueber die Samen- und Infu-
sionstierchen und ueber die Erzeugung. Nebst mikroskopischen Beobachtungen des
Samens der Tiere und verschiedener Infusionen, Nürnberg, 1778.
Gottdenker, Paula, „Three Clerics in Pursuit of ‚Little Animals‘“, in: Clio medica 14/3/4,
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Hoffmann, E.T.A., Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde,
Zürich/Düsseldorf, 1998.
Klemm, Friedrich, „Martin Frobenius Ledermüller. Aus der Zeit der Salon-Mikroskopie
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Lauper, Anja, „‚Der Lebensproceß im Blute‘. Zu Carl Heinrich Schultz’ Mikroskop-
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Lauper, Zürich, 2005, S. 139–155.
Ledermüller, Martin Frobenius, Physicalische Beobachtungen derer Saamenthiergens,
durch die allerbesten Vergrößerungs-Gläser und bequemlichsten Microscope betrach-
tet; und mit einer unpartheyischen Untersuchung und Gegeneinanderhaltung derer
Abbildungen
Abb. 11.4: Nußbiegel, G. P., „Die Menschenhaut und deren Schweißlöcher“, in:
Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung, Tab. LV.
Digitale Bibliothek der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 4 NVE 38,
urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220259-3.
Abb. 11.5: Winterschmidt, A. W., „Infusionen und Hanfsaamen“, in: Gleichen-
Rußworm, Abhandlung ueber die Samen- und Infusionsthierchen,
Tab. XXVI. Digitale Bibliothek der Bayerischen Staatsbibliothek, 4 Zool.
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